Psychische Mikrowelten - Neuere Aufsätze 9783666451652, 3525451652, 9783525451656

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Psychische Mikrowelten - Neuere Aufsätze
 9783666451652, 3525451652, 9783525451656

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Ulrich Moser

Psychische Mikrowelten Neuere Aufsätze

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Ilka von Zeppelin

Mit 10 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-45165-2 Umschlagabbildung: Ulrich Moser vor einer Berghütte in den Schweizer Alpen. Privatphoto: Ilka von Zeppelin. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Therapeutische »Mikrowelten« in frühen Störungen Ulrich Moser: »What is a Bongaloo, Daddy?«. Übertragung, Gegenübertragung, therapeutische Situation. Allgemein und am Beispiel »früher Störungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin: »borderline« im Traumalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin: Borderline: Mentale Prozesse in der therapeutischen »Mikrowelt« . . . . .

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Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin: Die Regulierung der Beziehung bei »frühen Störungen« (»Borderline«-Fällen) 102 Affekt: Regulierung und Entwicklung Ulrich Moser: Affektsignal und aggressives Verhalten. Zwei verbal formulierte Modelle der Aggression . . . . . . . . . . 128 Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin: Die Entwicklung des Affektsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Konzeptforschung Ulrich Moser: Was ist ein Wunsch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

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Inhalt

Ulrich Moser: Selbstmodelle und Selbstaffekte im Traum . . . 243 Traumtheorien und Traumkulturen Ulrich Moser, Rolf Pfeifer, Werner Schneider, Ilka von Zeppelin: Experiences with Computer Simulation of Dream Processes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Ulrich Moser: Traumtheorien und Traumkultur in der psychoanalytischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Poesie und Traum Ulrich Moser: »Wunderangstmacht« und »Abschiedsgrat« – Lyrische Mikrowelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Ulrich Moser: Heftklammern und schwarze Kühe – Zu Poesie und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Ulrich Moser: Vom Traum zur Poesie: Versuch einer kognitiven Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Psychoanalytische »Essays« Ulrich Moser: Bindungen, Beziehung und Dazugehören. Von Wasseramseln, Kindern, Soldaten, Großvätern und alten Leuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Ulrich Moser: Die Geschichte einer »Deckerinnerung« . . . . . 482

du brauchst keinen Faden auch nicht den Trost der Sprünge beide verhängen sich in den Wipfeln ein Nebel versilbert die trügenden Dolden im Hof die frierende Distel (Ulrich Moser)

Vorwort der Herausgeberinnen

»… eine phantasierte Mikrowelt, sei es ein literarischer oder ein wissenschaftlicher Text, ist vom Subjekt her gesehen ein Erkundungsprozess, eine neue Art, ein Stück Welt zu sehen und auftauchende Bilder in Worte zu fassen …« (Moser: Geschichte einer »Deckerinnerung«, S. 482 in diesem Band)

Auch die folgende Zusammenstellung einiger wichtiger Publikationen von Ulrich Moser betrachten wir als einen Einblick in »wissenschaftliche Mikrowelten«, die er in den beiden vergangenen Jahrzehnten seines Forscherlebens erkundet und in Worte gefasst hat. Er feiert im September 2005 seinen 80. Geburtstag, für uns ein Anlass, verstreut publizierte und noch nicht erschienene Arbeiten dieses Vor-Denkers einer auf breiter Bildung basierenden und wissenschaftlich vernetzten Psychoanalyse in einem eigenen Band vorzulegen. So hat Ulrich Moser, um nur einige Beispiele herauszugreifen, schon in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Theoriekrise der Psychoanalyse erkannt, zwanzig Jahre bevor – vor allem ausgehend von amerikanischen Autoren – dieses Thema einen breiten Diskurs innerhalb der International Psychoanalytical Association (IPA) auslöste (vgl. dazu u. a. Merton M. Gill, Philip S. Holzman und Robert S. Wallerstein). Ein zweites Beispiel ist die psychoanalytische Affekttheorie, lange ein Stiefkind der Psychoanalyse, die in den letzten Jahren endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfährt. Ulrich Moser hat als einer der ersten psychoanalytischen Theoretiker die entscheidende Rolle der Affekte als regulierende Faktoren in Psychoanalysen und menschlichen Interaktionen ganz allgemein beschrieben. Er integrierte in

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Vorwort der Herausgeberinnen

seine Modelle affektiver Regulierungen Forschungsergebnisse zur mimischen, nonverbalen Kommunikation (aus empirischen Studien mit FACS), der empirischen Säuglingsforschung und der akademischen sowie der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Ein weiteres Beispiel ist die psychoanalytische Konzeptforschung, ein neuer Fokus wissenschaftstheoretischer und -methodischer Auseinandersetzungen innerhalb der psychoanalytischen Community. Erst 2001 initiierte der jetzige Präsident der IPA, Daniel Widlöcher, am internationalen Kongress in Nizza ein eigenes Research Committee for Conceptual Research.1 Die Arbeiten von Ulrich Moser in diesem Band illustrieren, dass er, lange bevor Joseph Sandler und Anna Ursula Dreher von Konzeptforschung sprachen, viele seiner Arbeiten der logischen und begrifflichen Klärung psychoanalytischer Konzepte widmete und immer schon postulierte, dass innovative und kreative Entwicklungen der Psychoanalyse wesentlich von der konzeptuellen Potenz sowie der Erklärungskraft, der terminologischer Schärfe und der intellektuellen Originalität ihrer Modelle bestimmt sein werden. Daher benutzte er in den Sechziger- und Siebzigerjahren in seiner Forschungsgruppe (vor allem zusammen mit Ilka von Zeppelin, Werner Schneider und Rolf Pfeifer) neue und unkonventionelle Forschungsmethoden wie die Computersimulation, um die logische und begriffliche Konsistenz komplexer psychoanalytischer Theorien, zum Beispiel der psychoanalytischen Abwehrlehre oder der Traumtheorie, »wissenschaftlich« zu testen. Dieses Computersimulationsmodell der Abwehrmechanismen, ein erster wichtiger Beitrag in diesem Kontext, wurde beim IPA-Kongress in Rom 1968 in einem Wettbewerb als Arbeit ausgezeichnet, die innovative Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse fördert.2 Als zweite Arbeit entstand ein Computermodell, das die Entstehung von Schlafträumen nachgeneriert.3 1 Vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, M.; Dreher, A. U.; Canestri, J. (Hg.) (2003): Pluralism and Unity? Research Methods in Psychoanalysis. London. 2 Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W. (1969): Computersimulation of a model of neurotic defence processes. Int. J. Psycho-Anal. 50: 53-64. 3 Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W.; Pfeifer, R. (1980): Computersimulation of dream processes. Berichte aus der interdisziplinären Konfliktforschungsstelle, 6. Universität Zürich.

Vorwort der Herausgeberinnen

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Darauf folgte eine Reihe von Arbeiten, die in englischer Sprache publiziert sind.4 Dabei betonte Moser, im Unterschied zu anderen Autoren, immer wieder, dass Konzeptforschung nur produktiv und fruchtbar wird, wenn sie möglichst alle verfügbaren empirischen (experimentellen und klinischen) Ergebnisse in das Netz der Konzepte einfügt und aus den Konzepten neue, bisher nicht bekannte Modelle ableitet. Diese können daraufhin sowohl für die klinische Praxis als auch für die Theoriebildung bereichernd sein. Ein Beispiel dafür ist die weitgehend neue Traumtheorie, die Ulrich Moser zusammen mit Ilka von Zeppelin entwickelte und die die Grundlage für ein faszinierendes Codiersystem bildete.5 Der eben geschilderte Versuch, psychoanalytische Konzepte mit dem Wissensstand anderer Disziplinen kritisch in Verbindung zu bringen, garantiert ein »cracking up«, eine Revitalisierung und eine Weiterentwicklung dieser Konzepte, eine Voraussetzung, dass sie ihre Elastizität, ihre Schärfe und ihr kreatives Erklärungspotential klinischer Beobachtungen behalten beziehungsweise erweitern und weiterentwickeln. In diesem Sinne lebte Ulrich Moser sowohl seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch seinen Studierenden als Professor für Empirische und Klinische Psychologie an der Universität Zürich schon früh vor, dass sich der intensive interdisziplinäre Dialog zum Beispiel mit der Cognitive Science, der Affektforschung, der Entwicklungspsychologie6, aber auch mit den Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaften, als existentielle Herausforderung für die Psychoanalyse erweist und die damit verbundenen, immer wieder grundlegenden Verunsicherungen gerade einer Disziplin wie der Psychoanalyse, mit ihrem Anspruch der radikalen Selbst- und Fremdaufklärung, gut anstehen. Schließlich verlangte Ulrich Moser von seinen Studierenden schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren eigene empirische Diplomarbeiten und Dissertationen zu psychoanalytischen Themen zu verfassen, und dies zu einer Zeit, in der Jürgen Habermas’ These vom »szientistischen Selbstmissverständnis« der Psychoanalyse eine Hinwendung zur empirischen Erforschung psychoanalytischer 4 Moser, U.; Zeppelin, I. v. (Hg.) (1991): Cognitive-Affective Processes. New Ways of Psychoanalytic Modeling. Heidelberg. 5 Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996): Der geträumte Traum. Stuttgart. 6 Wichtig waren ihm vor allem der Arbeiten von Jean Piaget.

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Vorwort der Herausgeberinnen

Prozesse oft ideologisch tabuisierte. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Nach Auffassung vieler Psychoanalytiker und Außenstehender wird die Psychoanalyse sowohl als klinische als auch als wissenschaftliche Disziplin nur überleben, wenn sie sich auch der empirischen Untersuchung ihrer Behandlungen sowie der damit verbundenen Konzepte stellt (vgl. dazu u. a. Äußerungen von Robert S. Wallerstein, Otto Kernberg, Peter Fonagy, Rolf Sandell, Eric Kandell, Dietrich Lehmann, Christian Mundt, Horst Kächele). Allerdings war es wiederum Ulrich Moser, der unermüdlich vor einer naiven Unterwerfung unter ein verkürztes empiristisches Forschungsverständnis warnte und sowohl die Relevanz einer breiten, akademischen und psychoanalytischen Bildung als Voraussetzung für adäquate theoriegeleitete Studien als auch die Unverzichtbarkeit anspruchsvoller und für psychoanalytische Fragestellungen geeigneter empirischer Methoden betonte. So zeigt Ulrich Moser in vielen der hier publizierten Arbeiten konkret auf, wie kreativ und fruchtbar sich eine offene und fundierte Auseinandersetzung mit Konzepten anderer wissenschaftlicher Disziplinen sowie mit Ergebnissen einer breit und intelligent angelegten empirischen Forschung für psychoanalytisches Denken erweisen. Auch den für ihn zentralen und empirisch gut abgestützten Begriff der Mikrowelten entlieh er aus einer anderen Wissenschaft: »Das Konzept der Mikrowelt stammt aus der künstlichen Intelligenzforschung (Papert 1980; Lawler 1981). Mikrowelten bündeln spezifische Strategien für spezifische Probleme. Sie arbeiten parallel und miteinander vernetzt … Mikrowelten sind aktive Problemlösungsstrukturen, Strukturen, die Probleme suchen, an denen sie sich anwenden können- Sie ergänzen ihren Satz an Wissen ständig und gründen auf diese Weise eine dezentralisierte und parallele Verteilung von Gedächtnis. Es ist erstaunlich, dass dieses Konzept bisher kaum Verbreitung gefunden hat. Es mag sein, dass die viel benützten Raummetaphern auf ein Konzept von Mikrowelt hinweisen, Bündelungen von Strategien und Entwürfe für neue Lösungen finden sich nicht nur in Arbeits- und Denkbereichen, sondern auch in den Mikrowelten der Phantasien, der Spiele und der Interaktionssituationen in verschiedensten intersubjektiven Beziehungen. Auch die Psychotherapie kann als eine Mikrowelt betrachtet werden, die von zwei Personen entwickelt wurde. Auch der Schlaftraum ist eine Mikrowelt« (Moser 1999, S. 224f.).

Die Leserin und der Leser werden selbst nachvollziehen bezie-

Vorwort der Herausgeberinnen

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hungsweise kritisch prüfen können, ob und in welcher Weise sich Begriffe wie »psychische Mikrowelten« als inspirierend erweisen. Sie bereichern und schärfen zum einen die Wahrnehmung komplexer klinischer Phänomene wie zum Beispiel von Manifestationen der Übertragung und Gegenübertragung sowie von Träumen und deren therapeutische Veränderungen. Darüber hinaus regen sie zu eigenen Versuchen an, solche komplexen klinischen Beobachtungen theoretisch zu durchdringen und »auftauchende Bilder (und Ideen) in Worte zu fassen«. Ulrich Moser steht für den Mut zu eigenem Denken in einer eigenen Sprache und kann auch in dieser Hinsicht als Vordenker bezeichnet werden. Schon früh sprach er von der Gefahr einer Entleerung oder Verflachung sowie der inkorporierender Popularisierung psychoanalytischer Konzepte und Modelle, die heute vermutlich einer der vielen Gründe darstellt, warum die Psychoanalyse gerade für die originellen Köpfe der kommenden Generation an Attraktivität eingebüßt hat. In für uns beunruhigender Weise wird sie zuweilen, wie dies kürzlich ein Studierender in einem Interview ausdrückte, als »repetitiv«, »sowieso schon bekannt« und »wenig aufregend« erlebt. So hoffen wir, dass durch die erneute Veröffentlichung zentraler Aufsätze sowie einiger neuer Manuskripte von Ulrich Moser Psychoanalytiker und Nichtpsychoanalytiker verschiedener Generationen angesprochen werden, die nach neuen und originellen Gedanken zur Psychoanalyse suchen. Allerdings ist und bleibt Ulrich Moser nicht nur ein Vor-Denker, sondern wird auch immer wieder in die Rolle eines Quer-Denkers gedrängt: Heute stellt er sich einem Zeitgeist des Schnellen, Stromlinienförmigen, Leicht-Verdaulichen und medial und ökonomisch gut Verwertbaren entgegen. Seine Arbeiten bieten keine intellektuelle Schnell- und Fertigkost, sondern fordern von ihren Leserinnen und Lesern jene Zeit, Sorgfalt und Muße ein, die oft in heutigen intellektuellen – und leider auch in so manchen psychoanalytischen – Diskursen fehlen, sich aber für die Zukunft einer wissenschaftlichen Disziplin wie auch für eine Kultur kritisch-produktiver Auseinandersetzungen in »heißen Gesellschaften« (Lévy-Strauss) als unverzichtbar erweisen. Marianne Leuzinger-Bohleber und Ilka von Zeppelin

■ Therapeutische »Mikrowelten« in frühen Störungen

■ Ulrich Moser

»What is a Bongaloo, Daddy?« Übertragung, Gegenübertragung, therapeutische Situation. Allgemein und am Beispiel »früher Störungen«

»Die Luft des Verses ist das Unerwartete. Wenn wir uns an das Bekannte wenden, können wir nur Bekanntes sagen.« Osip Mandelstam

»DRACHE (mit der Forelle verkuppelt zeugt er den Elephanten).« Jose Angel Valente

■ Vorbemerkung »Eine Psychoanalyse oder mehrere?« Diese Frage stellt sich A. Moser (1997) in einer Arbeit, die eingehend theoretisch und praktisch technisch die Erfahrungen wiedergibt, die mit dem Einbezug von Borderlinefällen und regressiven Störungen in die analytische Praxis notwendig wurden. Braucht es neue Modelle, aus denen auch eine andere Technik abgeleitet wird, oder muß von Fall zu Fall pragmatisch entschieden werden, in welchem Ausmaß Theorie

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Therapeutische »Mikrowelten« in frühen Störungen

wie Praxis der psychoanalytischen Therapie individuell verändert werden muß? Die Gruppe der »frühen Störungen«, wie ich sie im folgenden definiere und beschreibe, ist diagnostisch ebenso vielfältig wie die sogenannten »ödipalen« Neurosenformen, an denen die klassische Technik entwickelt wurde. Die therapeutischen Erfahrungen zwingen zu einer erneuten Reflexion über die analytische Beziehung. Ich werde dazu einen etwas unüblichen Weg beschreiten. Ausgehend von einer Theorie der analytischen Beziehung wird zu zeigen sein, was »frühe Störungen« sind und wie sie sich auf die Regulierung der Beziehung Analytiker – Analysand auswirken. Der Akzent liegt einzig und allein auf dem Studium dieser Regulierungen. Es werden keine ursächlichen Hypothesen gebildet. Die Ziele der psychoanalytischen Therapie werden nicht erörtert (Sandler u. Dreher 1996), ebenso bleibt die Frage des Arbeitsbündnisses außer Diskussion (vgl. Deserno 1990; Fetscher 1998). »Frühe Störungen« und Übertragungsneurosen bedingen verschiedenartige Strategien der aktuellen analytischen Beziehung, vielleicht in ähnlicher Weise, wie das de M’Uzan (1994) vorgeschlagen hat. Eine gute Taktik wissenschaftlichen Arbeitens behandelt althergebrachte Konzepte als »Bongaloos«. Als fremde, unbekannte Wesen werden sie in den vorbewußten Bereich geschoben. Im Rahmen neuer Überlegungen tauchen sie wieder auf, neu plaziert, vielleicht mit neuer Bedeutung versehen.

■ 1. Die Phasen der psychoanalytischen Situation1

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Die Regeln des analytischen Settings bestimmen drei Phasen der Beziehung Analytiker – Analysand. Eine vierte betrifft das Geschehen nach und außerhalb dieser Beziehung. Ich beschränke mich auf die Liegeanordnung. Daß diese bei bestimmten »frühen Störungen« selbst zum Problem wird, soll später erörtert werden. Es 1 Analytische Situation bezeichnet das Geschehen in einer Therapiestunde. Mit analytischer Beziehung ist ein längerer Ablauf der Psychoanalyse gemeint.

Übertragung, Gegenübertragung, therapeutische Situation

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bleibt dem Leser überlassen, die Unterschiede zur Sitzanordnung (sofern sie gewichtig sind) abzuleiten. 1) Die Eröffnung beginnt mit dem Eintreten des Analysanden und der Begrüßung der beiden Partner, Analysand und Analytiker. Sie endet mit der Positionierung der beiden gemäß den Regeln des psychoanalytischen Settings: »Sitzen« des Analytikers, »Liegen« des Analysanden. Beide Beteiligten haben auf den Beginn der Sitzung Erwartungsphantasien mit begleitenden affektiven Reaktionen. Diese haben entscheidenden Anteil an der Gestaltung der Eröffnung. Sie werden im folgenden nicht näher berücksichtigt. 2) In der zweiten Phase bildet sich – wiederum durch die Regeln des Settings gesteuert – ein globales, interaktives Arbeitsfeld. Ich nenne es im folgenden psychoanalytische Mikrowelt. In diesen Bereich fallen die Prozesse von Übertragung, Gegenübertragung, Interpretation, Erinnern und so weiter. Die psychoanalytische Mikrowelt wird die ganze Zeit hindurch von der realen Beziehung zwischen Analytiker undAnalysand getragen. Sie setzt die Beziehung der Eröffnungsphase fort und geht anschließend bei Ende der Sitzung wieder in einen veränderten Zustand der Beziehung über. Die direkte Beziehung, wie sie auch genannt werden kann, muß wie jede Beziehung reguliert werden. Die Beziehungsregulierung enthält zu diesem Zwecke eine ganze Reihe von Prozeduren, die sich im Laufe der Entwicklung ausgebildet haben (Beziehungsregeln). 3) Am Ende der Sitzung löst sich die psychoanalytische Mikrowelt als konkreter Teil der Beziehung auf. Sie bleibt bis zur nächsten Analysestunde »suspendiert«. Eine Art affektiver Bilanz erscheint, als inneres Erleben, teilweise auch nichtverbal kommuniziert. Es entwickeln sich nachträglich Phantasien, die aus der Analysestunde hinausgetragen werden. 4) Das führt zur Frage, wie die Beziehung zum Therapeuten außerhalb der Analysenstunde beschaffen ist. Eine direkte Kommunikation fällt ja weg. Manchmal führen bewußte Phantasien, die direkt oder indirekt mit dem Analytiker zu tun haben, auf die Spur. (Dasselbe gilt natürlich auch für den Analytiker und dessen Phantasien.) Die Interaktionsstruktur kann bei beiden Partnern dann bestehen bleiben, wenn die beiden Subjekte zu Bestandteilen innerer Repräsentanzen werden. Den affektiven Anteil dieser Struktur

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nenne ich im folgenden Beziehungsgefühl (Moser u. von Zeppelin 1996). Es konserviert eine konstante emotionale Bindung. Es wird in späteren Ausführungen unterschieden, ob dieses Beziehungsgefühl nur durch das Auftauchen eines konkreten Objekts und der konkreten Beziehung zu diesem Objekt hergestellt und aufrechterhalten werden kann (wie in der konkretistischen Phase der Entwicklung von Beziehungen) oder ob die implizite Verbundenheit auch in Abwesenheit des Objekts erlebt und aktualisiert wird (wie in der repräsentationalen Stufe der Entwicklung). Die Annahme eines Beziehungsgefühls stützt sich auf die Ideen von Piaget (1950, 1959), Mahler (1975), Guex (1950, 1973) und Odier (1950). Schneider (1981) unterscheidet bei diesem Konzept verschiedene Entwicklungsstufen. So fällt zum Beispiel das Fehlen eines Beziehungsgefühls zusammen mit dem Nicht-Aufbau einer entsprechenden Regulierungsstruktur der Beziehung. Verlassenheitsgefühle können nur durch das Suchen nach Zuneigung eines konkret anwesenden Objekts kompensiert werden.

■ 2. Die affektive Übertragung in der Beziehungsregulierung Die Eröffnungsphase der analytischen Stunde ist stark ritualisiert. Sie unterscheidet sich kaum von einer außeranalytischen Beziehung. Die Abfolge von Reden, Schweigen und nichtverbalen Phänomenen dient der Dämpfung affektiver Reaktionen und der Zurückhaltung des emotionalen Involvements und damit dem Selbstschutz des Analysanden und des Analytikers. Mit einer gewissen Verzögerung kommt es zu affektiven Übertragungen beider Beziehungspartner. Sie verlaufen nichtverbal über die Mimik, über die nichtverbalen Anteile des Redens und/oder »innere« Gefühle. Bei einem Erstinterview sind diese Übertragungen besonders stark (s. Krause 1998; Steimer-Krause 1996). Vom Träger der Übertragung werden diese Prozesse kaum registriert. Übertragen werden affektive Erfahrungen in früheren Beziehungen. In den Schematheorien wurden deshalb spezifische emotionale Schemata postuliert. Die mit den Affekten verknüpften Erwartungsphantasien

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bleiben zunächst aus der Beziehung ausgeschaltet, sie werden auch nicht reflexiv erlebt. Auch wenn diese Übertragungsaffekte für den Analysanden diffus bleiben, liegt in ihnen ein dominanter Affekt, eine Art Leitaffekt, der kommende Themen und Einfälle ankündigt. Der Kommunikationszyklus von Kodieren, Dekodieren und inneren Verarbeitungsschlaufen verläuft bei beiden Beziehungspartnern. Der Analytiker hat jedoch Vorteile: Er kann die affektive Übertragung viel besser entschlüsseln. Er verfügt über bessere Empathien, sowohl über die direkte affektive Resonanz in der nichtverbalen Kommunikation als auch über die kognitive Wahrnehmung der Situation, die den Affekten zugeordnet ist (direkte und situative Empathie, s. Bischof-Köhler 1998). Dies gelingt nicht immer, und der Analytiker gerät wie sein Analysand in einen diffusen, affektiven Zustand, zum Beispiel in eine Befürchtung, der kommenden Stunde nicht gewachsen zu sein, weil er den Analysanden nicht zu verstehen glaubt. Für den Analytiker hingegen ist es schwierig, seine eigene affektive Übertragung zu reflektieren. Zumeist wird er versuchen, den inneren Anteil des enkodierten Affekts in seinen Erlebnisbereich zu bekommen. Das bedingt aber bereits eine gute Verknüpfung kommunikativer Affekte mit jenen des inneren Erlebens. Diese Problematik möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Die affektiven Übertragungen prägen die Beziehungsregulierung der gesamten Stunde, wenn auch die Regulierung sich in den drei Phasen verändert. Die Intensität der Beziehung, als emotionales Involvement bezeichnet, wird gesetzt. Das gewünschte Sicherheitsgefühl in der Beziehung wird beidseitig eingependelt. Dieses Maß an Sicherheit entscheidet über die Zulassung von Problemen und über den Gebrauch von Abwehrstrategien. Es wird getestet, inwieweit Hoffnungen zugelassen oder aus Vorsicht zurückgewiesen werden oder ob antizipierte Ängste zu umfangreichen defensiven Aktionen führen (French 1954, 1958). Weiss und Sampson (1986) würden ihre Theorie der pathogenen Beliefs und des ständigen Testens des Analytikers auf die Ebene der direkten Beziehungsregulierung beziehen. Praktisch alle Modelle über die Verhältnisse in der analytischen Beziehung, die sich in der Literatur finden, lassen diese Gliederung in drei Phasen vermissen. Das interaktive Arbeitsfeld wird immer

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wieder anders beschrieben. Baranger (1993) spricht von einem interaktiven Beziehungsfeld. Dann gibt es Versuche, den therapeutischen Prozeß als »Spiel« zu sehen, als eine intermediäre Gestaltung zwischen Analysand und Analytiker, aber auch zwischen der spezifischen Beziehungsrealität der analytischen Situation und jener der Außenwelt. Ich erinnere an die bekannten Konzepte, die von Winnicotts potentiellem Raum (Winnicott 1971) ausgehen. Bei späteren Autoren wird der potentielle Raum oft »Übergangsraum« oder »Spielraum« genannt (s. Ogden 1997; Tenbrink 1997; Streeck-Fischer 1997; u. a.). Das könnten Bezeichnungen für die analytische Mikrowelt sein, sofern sie fähig wären, die Parallelität der direkten Beziehung zur Mikrowelt genauer zu erklären. Die Beziehungsregulierung (mit affektiver Übertragung) ist nicht identisch mit Übertragung und Gegenübertragung im Arbeitsfeld der Mikrowelt. Es wird am Beispiel der »frühen Störungen« zu zeigen sein, wie bedeutsam dieses Modell der »Überlagerung« ist. Vor kurzem haben Stern et al. (1998) eine ähnliche Theorie vorgelegt. Sie betonen, daß der Analytiker in der Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung eine »analytische Rolle« einnimmt, die durch den analytischen Prozeß ausgelöst wird. Parallel dazu gäbe es Analytiker-/Analysandenbegegnungen in der Beziehung selbst, die Veränderungen im impliziten Beziehungswissen erzeugen. Dabei verschwinden in diesen Momenten Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekte. In der Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung dominiere die Arbeit der Einsicht und der Interpretation. Die hier verlaufenden affektiven Prozesse (»emotionale Einsicht«) hätten geringere Intensität und dienten nicht unmittelbar der direkten Beziehungsregulierung.

■ 3. Die direkte Beziehung Analytiker – Analysand Die Regulierung der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand hat die Struktur eines autonomen Moduls für diese spezifische Aufgabe. »Direkt« kann die Beziehung genannt werden, weil sie unter der Bedingung steht, die Aufgabe sofort und unter Mitbeteiligung des Objekts zu lösen. Sie ist deshalb nicht simulativ, wie es

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die Prozesse des Schlaftraums oder der zu besprechenden psychoanalytischen Mikrowelt sind. Gemäß der Annahme paralleler Prozesse können gleichzeitig simulative Mikrowelten ablaufen. Doch zunächst: Wie kann man sich eine solche Regulierung vorstellen, die zu einer Vernetzung zweier Personen führt? Moser, von Zeppelin und Schneider (1991) sprechen von einem Regulierungsbereich, Relationskontext genannt. Dieser bekommt Vorgaben aus der intrapsychischen Regulierung, eine Form von verfügbarem Beziehungswissen wird bereitgestellt. Diese »inneren« Bedingungen können als Modell beschrieben werden. Dazu kommen die in jeder Situation wichtigen aktuellen Bedingungen, die über Wahrnehmung und Kommunikation (nichtverbal affektiv, verbal) gewonnen werden. Alle Informationen führen zum Entwurf eines Modells der beiden Subjekte und deren Interaktionen, der erwarteten und der de facto bereits geschehenen. Die Beziehungserfahrung wird über den Relationskontext in die innere Regulierung der mentalen Organisation zurückgemeldet. Dort wird sie zu Transformationen der neuen Vorgaben an den Relationskontext führen. Das Modell hat ein Gedächtnis für intersubjektive Prozesse. Es produziert ad hoc Ausgaben, die von Situation zu Situation neu justiert werden. Die psychoanalytische Mikrowelt, die im nächsten Abschnitt beschrieben wird, liegt in der zweiten Phase der Stunde parallel zur Beziehungsregulierung. Sie wird ständig von der Beziehung getragen. Ziel des therapeutischen Vorgehens ist es, die intersubjektiven impliziten Modelle, die vom Analysand benützt werden, explizit in die psychoanalytische Mikrowelt zu überführen. Dort werden sie bewußt, erkannt und verändert. Das ist der Bereich der emotionalen Einsicht und der Interpretation. Die Überführung der simulativen Veränderungen in die Beziehungsregulierung Analytiker – Analysand ist dann das Ergebnis der Übertragungsund Gegenübertragungsprozesse. In diesem Zusammenhang ist das Konzept einer »traumatisierenden Übertragung« von Holderegger (1993) zu diskutieren. Er postuliert eine Form der Übertragung, die Elemente der direkten Beziehungsregulierung, die primär affektiv ist, mit Elementen der Mikrowelt einschließt. Traumata der frühen Kindheit werden zunächst auf der Ebene des primären Affektsystems verarbeitet.

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Therapeutische »Mikrowelten« in frühen Störungen

Nicht integrierbare Affekte und diffuse Angst-/Unlustzustände sind zunächst einer Kognifizierung (s. zu diesem Konzept Moser u. von Zeppelin 1996) nicht zugänglich. Die Wiederholung (des frühen Traumas) verläuft zunächst, so würde ich formulieren, im Bereich der direkten Beziehung. Der Analytiker, meint Holderegger, muß als Vorgänger die Arbeit leisten, die Wiederholung der traumatischen Situation in eine gemeinsame Mikrowelt zu bringen. Erst dort wird das Trauma dem Analysanden einer affektiven und kognitiven Verarbeitung zugänglich.

■ 4. Die psychoanalytische Mikrowelt. Übertragung und Gegenübertragung Wie soll man sich eine parallel zur direkten Beziehung funktionierende Mikrowelt vorstellen? Auf ihren simulativen Charakter wurde bereits hingewiesen. Sie ist offenbar ein spätes Produkt der affektivkognitiven Entwicklung. Die Vorstufen liegen in der Ausbildung des »pretending« im Kind und in den daraus entstehenden Möglichkeiten des »Spielens« (vgl. dazu Leslie 1987 sowie Literatur zur »theory of mind« beim Kind). Die analytische Mikrowelt entsteht nur beim Vorliegen gewisser Bedingungen, auf die ich in Abschnitt 7 zu sprechen komme. Das Konzept der Mikrowelt wurde in das Verständnis des Schlaftraumes von Moser und von Zeppelin (1996), in Anlehnung an das Konzept von Lawler (1981), eingeführt. Was ist mit simulativen Prozessen gemeint? Die Mikrowelt besteht nicht aus bloßen »Abbildungen« von Teilen der Innen- und Außenwelt, die im Sinne rein kognitiver Beziehungen interagieren. Die ablaufenden Prozesse haben gleichzeitig eine verringerte Affektintensität. Das beruht auf der Vermeidung der affektiven Auslösung von Handlungen im Bereich der Real-Beziehung. Die beiden Bereiche dürfen nicht vermischt werden. Lawler (1981) spricht von einer »do not confound« Beziehung zwischen den beiden Mikrowelten. Seine Auffassung hat Ähnlichkeiten mit Ideen von Stern et al. (1998), die in bezug auf Veränderungen in der Psychotherapie von zwei mutativen Agenten sprechen: Im einen Fall gibt es einen Wechsel in der Qualität der Relation durch authentische

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Person zu Person Erlebnissen (»moments of meeting«). Im anderen Fall sind es Veränderungen der Innenwelten durch die Einsicht über Interpretationen. Die ersteren schaffen erst das Vertrauen, in dem die Interpretationen verändernd wirksam werden. Zu Recht schließen die Autoren, daß der Analytiker in zwei Versionen anwesend ist: als direkte Bezugsperson der therapeutischen Beziehung und als Träger einer Rolle, die evoziert wurde. Letztere wird unter anderen Übertragungsdeutungen sichtbar gemacht. Dasselbe gilt auch für den Analysanden. Offenbar ist es so, daß eine Erfahrung im Beziehungsbereich erst die Zulassung in der Mikrowelt (als Übertragungsfigur) ermöglicht. Parallelität der Regulierungen bedeutet nicht Unabhängigkeit voneinander. Die Art der Verschachtelung der beiden Bereiche muß noch diskutiert werden. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse, wie sie in der klassischen Psychoanalyse umschrieben worden sind, liegen in der psychoanalytischen Mikrowelt. Sie bilden die Basis (oder eine Basis) der Interpretationen. Viele Psychoanalytiker neigen zur gelegentlich dogmatisch formulierten Einsicht, daß nur Übertragungsinterpretationen therapeutisch wirksam seien und Veränderungen erzeugen würden. Ob das wirklich der Fall ist, sei dahingestellt. Es gibt viele nichtanalytische Psychotherapien, die nachweisbare Erfolge haben. (Natürlich kann diesen unterstellt werden, daß nichterkannte Übertragungen und Gegenübertragungen solche ermöglichen.) Bleiben wir aber bei der Psychoanalyse als Therapie. Zumindest ist es deren Intention, eine psychoanalytische Mikrowelt zustande zu bringen und mit dieser zu arbeiten. Dazu bedarf es einer spezifischen Regulierung der direkten Beziehung, die sich ihrerseits auch in der psychoanalytischen Mikrowelt abbilden kann. Dabei wird versucht, »unbewußte Phantasien« in Übertragungen umzuformen, das heißt, sie in einer spezifischen Wiederholung in der therapeutischen Beziehung bewußt werden zu lassen.2 Dazu bedarf die psychoanalytische Mikrowelt eines Kommunikationssystems, das diese Phantasien erst im Dialog verhandelbar macht. Man kann es auch anders for2 Die immense Literatur zum Thema Übertragungen und deren Formen zusammenzufassen, ist in dieser Arbeit nicht geplant (vgl. dazu z. B. Denzler 1991).

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mulieren: Die Mikrowelt der Psychoanalyse verläuft in einem Symbolraum. Die abgebildeten Inhalte entspringen den Repräsentanzenräumen der Beteiligten (z. B. aus den Erinnerungen des Analysanden). Das primäre Kommunikationsmittel ist die verbale Sprache. (Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Sprache auch nichtverbale Anteile hat, die der Dialogregelung dienen.) In den Aktualisierungen von Phantasien in der psychoanalytischen Mikrowelt werden unter Umständen auch Handlungen benützt, die Informationsträger sind. Im »Symbolraum« der psychoanalytischen Mikrowelt pendelt sich ein Verhältnis Wort/Handlung ein, wird dabei der Handlungsanteil sehr groß oder dominiert er ausschließlich, spricht man von einer Inszenierung (im Gegensatz zur verbalen Symbolisierung). Dazu gehören Fehlleistungen (es sei an ein erstes Beispiel, Doras Handtasche, erinnert [Freud 1905e]). Klüwer (1983) postulierte eine Form von Handlungsdialog, eine Verschränkung kaum wahrnehmbaren, nichtsprachlichen Verhaltens, das unterschwellig und unbemerkt bei Analytiker und Analysand mitläuft. Vermutlich ist diese kontinuierliche Handlungsspur ein Anteil der affektiven Komponente, die Übertragungsphantasien simulativ begleitet. Zwischen diesem affektiven Anteil der Phantasien und der nichtverbalen, sensomotorischen Enkodierung von Information (Bucci 1997) muß unterschieden werden. Beide zusammen sind Bestandteil der psychoanalytischen Mikrowelt und nicht der Regulierung der direkten Beziehung, die natürlich weiterläuft, wenn auch nicht mit bewußter Aufmerksamkeit wahrgenommen. Eine gewisse Automatisierung dieser Regulierung schafft erst die Priorität der Aufmerksamkeit für die Prozesse der psychoanalytischen Mikrowelt. Die affektiv am schwächsten dotierte Form der Übertragung ist die Übertragungsphantasie, in der dem Analytiker Attribute zugeschrieben werden, die eigenen Objekt- oder Subjektrepräsentanzen entstammen (das entspricht in etwa einer Wahrnehmungstäuschung mittels Selektivität oder Verfälschung und Zuschreibung). Diese Phantasien sind affektiv getönt (vgl. das Konzept der Simulation in der Mikrowelt). Sie führen auch zu affektiven Erlebnissen in beiden Partnern (Beispiele und theoretische Erörterungen bei Streeck 1998, 1999). Kommt es zu vorübergehend primären oder zu einem vermehr-

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ten Anteil von sensomotorischen Ereignissen, dann ist der Begriff Enactment zutreffend. Herzog (1995) unterscheidet (allerdings auf die Formen des Spieles in Kinderpsychotherapien bezogen) ein Enactment, bei dem das Subjekt motorisch auf die Umwelt einwirkt, von einem interaktiven Enactment, das die Teilnahme des anderen, also des Analytikers, erfordert. Bei Erwachsenen dürften diese Formen nicht so leicht zu trennen sein. Enactment verläuft im Setting, zum Beispiel im Raum und in der Beziehung zum Analytiker. Beim Enactment wird das »Wort« durch eine »Darstellung« ersetzt. Ein Enactment taucht dann auf, wenn Reaktivierungsprozesse noch nicht eine verbalisierbare Form gefunden haben, möglicherweise sind sie auch mit einer noch zu großen Affektintensität versehen. In Therapien mit Kindern wird das Spiel in seinen verschiedenen Varianten (Herzog 1995) zum symbolischen Raum und zur dominanten Kommunikation in der psychoanalytischen Mikrowelt. Leider beruhen neuerdings die meisten Definitionen von Enactment auf Vorgängen, die der Regulierung der direkten Beziehung zum Analytiker zukommen. Es sind Störungen und Regressionen dieser Beziehung, die nichtverbal und sensomotorisch verlaufen. Bei der Beschreibung der »frühen Störungen« (siehe Abschnitte 8 und 9) werden wir darauf zu sprechen kommen. Acting out3 würde meiner Ansicht nach als Bezeichnung gut zu Inszenierungen passen, die sich außerhalb der analytischen Situation ereignen, aber deutlichen Bezug zu dieser haben. Inhalte eines solchen acting out sind der psychoanalytischen Mikrowelt nicht oder noch nicht zugänglich. Manchmal ist die Verknüpfung mit einer Nebenübertragungsbeziehung deutlich erkennbar. Nun noch ein Nachtrag zur Bedeutung der Sprache in der psychoanalytischen Situation. In der Regulierung der Beziehung Analysand – Analytiker ist die Sprache direktes Kommunikationsmittel, teilweise parallel verknüpft mit nichtverbal affektivem Geschehen. In der psychoanalytischen Mikrowelt dient die Spra3

Enactment hat die alten Konzepte von Agieren, acting in und acting out ersetzt, vor allem unter dem Einfluß der Intersubjektivitätsdiskussion. Siehe dazu: Chused (1991), Mc Laughlin (1991), Stolorow u. Atwood (1992), Natterson u. Friedman (1995), Jacobs (1999), Friedman u. Natterson (1999), Feinsilver (1999) u. a.

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che der Formulierung innerer und interaktiver Prozesse, die kommunikativ dargestellt werden müssen, um gemeinsames »Denken« zu ermöglichen. Die psychoanalytische Mikrowelt hat wie alle Mikrowelten Auslöser, Unterbrechungen und Ausgänge. Auslöser sind (durch die Regeln des analytischen Settings bedingt) zumeist Ereignisse oder Einfälle des Analysanden. Oft werden Einfälle nicht erzählt, sondern durch »small talk« ersetzt, der vorerst ein Aufkommen von Affekten verhindert. Auch ein erzählter Traum – um ein anderes Beispiel zu nennen – kann die Mikrowelt eröffnen. Die ersten Einfälle können auch versuchen, in Abwehr einer reaktivierten Phantasie oder Erinnerung, einen Pfad »weg vom Problem« zu legen. Ist hingegen genügend Sicherheit gegeben und sind die defensiven Tendenzen nicht zu stark, dann erzeugt ein Einfall beim Analytiker wie beim Analysanden Neugier auf das noch unbekannte, bevorstehende Geschehnis der kommenden Stunde. Der Prozeß der Entfaltung der Mikrowelt hat begonnen, ohne daß die beiden Träger der Mikrowelt wissen können, was in ihr erscheinen wird und wie sie endet. Das Unbekannte kann aber auch die Sicherheit bedrohen und eine gegenläufige Tendenz der Abwehr (Reaktivierungsabwehr: French 1958) auslösen. Sie führt zu Versuchen, den Gang des Denkens im Bekannten kreisen zu lassen. Oft spielt der Analytiker mit, indem auch er mit seinen Interpretationen im Bekannten bleibt. Doch: »Die Luft des Verses ist das Unerwartete. Wenn wir uns an das Bekannte wenden, können wir nur Bekanntes sagen« (Osip Mandelstam). Das gilt für die Poesie wie für die Psychoanalyse. Von Bion (1963) kommt die Regel, daß der Analytiker sein Wissen aus früheren Stunden in der neuen Stunde (vorübergehend) vergessen soll, in der Annahme, Phantasie könne sich nur entfalten, wenn sie nicht auf ein Ziel fixiert wird. In der Regulierung einer direkten Beziehung, so wurde bereits gesagt, ist dies nicht möglich. Dort gilt der Zwang des unmittelbaren Reagierens. Es würde jetzt einer weiteren Schlaufe bedürfen, um alle möglichen Verläufe der psychoanalytischen Mikrowelt zu beschreiben. Unterbrechungen tauchen auf, wenn die Mikrowelt eine zu große affektive Intensität in bezug auf das entfaltete Material erhält. Sie nehmen verschiedene Formen an: Schweigen, Einfallsleere, un-

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angenehme affektive Zustände, die durch innere Blockaden des Phantasierens erzeugt werden, erneuter »small talk«, Wechsel des Themas mit Übergang zum Erzählen weniger affektiv getönten Materials, somatische Beschwerden und so weiter. Für den Analytiker sind diese Unterbrecher besonders wichtige Informationsquellen. Gegen Ende der Stunde wird die gegenseitig und gemeinsam entwickelte Mikrowelt aufgehoben und in die inneren Welten der beiden Beteiligten überführt. Die direkte Beziehung wird dominant. Somit tauchen zum Schluß auch wieder affektive Übertragungen auf. Sie sind Resultat und Bilanz der Mikrowelt. Eine ähnliche Auffassung haben Streeck und Dally (1995), Streeck (1998). Analytiker und Analysand wickeln »am Rande« der Therapie etwas ab, was als Übertragung und Gegenübertragung sich angebahnt hat und nun mit Hilfe der Gestik und Mimik weiter ausgehandelt wird. Die erste Überführung von der psychoanalytischen Mikrowelt in die direkte Beziehungsregulierung betrifft die Beziehung zum Analytiker. Auch hier kann der »small talk« mit den Verabschiedungsritualen die affektive Übertragung vertuschen. Diese in Beziehung zum Analytiker affektive Übertragung zu Ende der Stunde ist eine Form der »affektiven Bilanz« der Stunde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rückmeldungen in die direkte Beziehung auch während der Phase der psychoanalytischen Mikrowelt auftreten, und zwar als Folgen der zu beobachtenden Unterbrechungen. Diese Prozesse wurden bisher kaum untersucht. Eine erste »Rückmeldung« in die psychoanalytische Mikrowelt ändert den simulativen Teil der eigenen psychischen Organisation, das Selbstmodell. In einem zweiten Schritt wird diese Veränderung an die psychische Organisation weitergeleitet. Erst dann kommt es zu einer Veränderung der Beziehung, inklusive der Beziehung zu sich selbst. Dies geschieht vermutlich dann, wenn die beschriebenen Rückmeldungen mit jenen konkordant sind, die aus der direkten Beziehungsregulierung stammen.

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■ 5. Theoretischer Exkurs 1: »Bindung«, »emotionales Involvement«, Gefühl der Beziehung (»Beziehungsgefühl«) Im Zentrum des bisher entwickelten Modells der analytischen Situation steht das Konzept der Beziehung und deren Regulierung. Diese muß bestimmte Bedingungen entwickeln, die sie fähig machen, eine therapeutische Mikrowelt entstehen zu lassen und diese stabil zu halten. Eine wesentliche Größe dieses Modells ist das emotionale Involvement (French 1958; Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Es bezeichnet die Intensität der Bindung. Diese kann zu- und abnehmen und in verschiedenen Beziehungen unterschiedliche Grade annehmen. Die Unterschiedlichkeit des emotionalen Involvements wird besonders deutlich, wenn man sich klar macht, daß jeder Mensch verschiedene Beziehungen (gleichzeitig) ausbildet und ihnen auch unterschiedliche Werte und Konstanz zuweist. In einer Beziehung müssen Wechselwirkungen zwischen zwei Personen reguliert werden. Dazu dienen emotionale Systeme.4 Ist eine Wechselwirkung noch nicht eingeleitet, stehen die Subjekte in einer räumlichen Distanz. Nähe und Ferne sind die einfachsten Methoden der affektiven Regulierung. (Darum sind Distanz und Abgrenzung beliebte Konzepte der Populärpsychologie.) Kann die Beziehung nicht verlassen werden, so treten an die Stelle des räumlichen Distanznehmens Prozesse einer verinnerlichten Distanzregulierung. Eine Beziehung kann bekanntermaßen nicht ohne weiteres verlassen werden, weil sie Trägerin der Aktualisierung eigener Wünsche ist. Auch kommt hinzu, daß unter Umständen ein Partner aus eigenen Motiven heraus die Beziehung aufrechterhalten will. Auf einen Prozeß der Verminderung des emotionalen Involvements (des sozialen Bandes) hat Bowlby (1980) hingewiesen: »… durch den mehr oder weniger vollständigen im Dienst der Abwehr stehenden Ausschluß sensorischen Inputs jeglicher Art, die Bindungsverhalten und -fühlen aktivieren könnte« (Bowlby 1980, S. 97). 4 Affekt und Emotion werden im Rahmen dieser Arbeit synonym verwendet.

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Es gibt Techniken, die reale Bindungsrelation über die emotionalen Anteile zu beeinflussen. Eine Verminderung zum Beispiel zeigt sich in einer Reduktion der affektiven Kommunikation (Einschränkung der Enkodier- und Dekodierprozesse) sowie in der Abnahme sensomotorischer interaktiver Handlungen sowie des Sprechens. Im Grenzfall kann diese Drosselung zu kommunikationslosen Zuständen führen (Modell 1980, 1984) oder gar zu einem Abbruch oder einer Unterbrechung der Beziehung. Folgen davon sind das Verlassen des Feldes und die Umlagerung des emotionalen Involvements auf eine phantasierte Relation. In der klinischen Wirklichkeit gibt es eine ganze Palette feinerer Vorgänge, die einzelne Informationskanäle betreffen, die ausgeschaltet oder überladen werden (siehe dazu Krause 1998). Die Liegesituation der psychoanalytischen Therapie gibt ein Beispiel: Betont sind der verbale Kanal und die nichtverbalen Begleitphänomene. Der Sichtkanal ist durch die Sitzanordnung eingeschränkt. Die Reduktion des emotionalen Involvements kann durch die Abnahme des motivationalen Interesses gesteuert sein oder defensiv eingeschränkt werden, um keine zu große Intensität schlecht ertragbarer Affekte in einer Beziehung zuzulassen (»Besetzungsabwehr«: Moser, von Zeppelin u. Schneider 1969). Der unangenehme Affekt wird nicht zum Verschwinden gebracht (im Unterschied zur Affektabwehr), sondern in seiner Intensität vermindert. Dadurch verliert die affektive Rückmeldung an Bedeutsamkeit, nicht aber an Informationsgehalt. Auch wird die Aktualisierung eines Wunsches nicht mehr als dringlich und wichtig erlebt. Aus dem Beispiel wird klar, daß das emotionale Involvement als ein Beziehungsgefühl umschrieben werden kann, in dem die einzelnen affektiven Rückmeldungen (der Affekt) eingebettet sind. Bei »frühen Störungen« ist das Beziehungsgefühl nicht internalisiert, sondern muß immer wieder über eine konkrete Beziehung zu einem Objekt wiederbelebt werden (Moser u. von Zeppelin 1996). Erst auf der Stufe einer repräsentationalen Welt kommt es zu einer kontinuierlich erhaltenen Repräsentanz, auch in Abwesenheit eines Objekts. Die Beziehung kann dann in all ihren emotionalen Schattierungen erlebt werden, ohne daß konkret diese Beziehung existiert. Ein inneres Erleben einer Beziehung kann man auch dadurch

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erklären, daß die kognitiven und die affektiven Anteile sowie das Beziehungsgefühl ausschließlich aktiviert werden. Das heißt noch nicht, daß die Beziehung aktualisiert werden muß, weder in der Realität noch in der Phantasie. Sobald die Repräsentanz instantiiert wird, trägt sie zur konkreten Beziehungsregulierung bei und liefert ein ad hoc Modell der Regulierung, respektive den generellen Anteil dazu.5 Eine Valorisierung der Repräsentanz »Beziehungsgefühl« tritt dann auf, wenn die Beziehung an sich als ein »Wert« für das Subjekt gewichtet wird (vgl. Odier 1950 sowie neuere, auf hirnphysiologische Grundlagen ausgerichtete Autoren wie z. B. Migone u. Liotti 1998). Die Höhe des emotionalen Involvements wird durch viele Komponenten bestimmt. Eine zentrale ist die Antizipation als Vorgabe von Hoffnungen oder Befürchtungen an die bevorstehende aktuelle Objektbeziehung. In Anlehnung an French (1958) postulieren Moser et al. (1991) eine Antizipationsregulierung. Erwartungen positiver wie negativer Art können sowohl an einzelnen Wünschen hängen als auch aus den Selbstbereichen als Einschätzungen der Effizienz der eigenen Regulierungssysteme kommen. Die Affekte aus den Bereichen werden miteinander verglichen (Moser et al. 1991). Weiter verarbeitet die Antizipationsregulierung die affektiven Rückmeldungen aus der aktualisierten Situation der Relation und zwar so, daß die Erfüllung der Hoffnung das emotionale Involvement für die Generierung der nächsten Situation verstärkt, während die Erfüllung der Befürchtung es vermindert.

■ 6. Theoretischer Exkurs 2: Affektintensität Was ist die Intensität eines Affekts? Die Frage wird meistens unter dem Konzept des emotionalen Arousal abgehandelt. Nach neurophysiologischer Auffassung gibt es aber keinen einheitlichen Arousal. Es ist zu unterscheiden zwischen sympathischem (auto5 Der Unterschied zwischen Aktivierung und Instantiierung einer Repräsentanz wird leider nie gemacht, was mit der Vernachlässigung des Studiums realer Regulierungsprozesse zu tun hat.

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nomem) Arousal, »attentional arousal« (increased capacity for perceptual analysis: Broadbent 1971), »behavioral activation« und allgemeinem »cortical arousal« (Friida 1986). Dennoch kann man es nicht lassen, das Konzept eines emotionalen Arousals zu verwenden (Panksepp 1998; Ledoux 1996; u. a.). Im biochemischen Denken wird den fundamentalen emotionalen Systemen (s. Panksepp 1998) durchaus eine Arousalfunktion zugeschrieben. Es wird betont, daß dieser basale Arousal eine ganze Varietät von höheren Hirnfunktionen energetisiert (Panksepp 1998, S. 315). Die Annahme geht dahin, daß über Reverberationsprozesse neuronale Netzwerke der kortikalen Bereiche erregt werden. Psychologisch formuliert würde dies heißen, daß die Emotionen mit den kognitiven Strukturen von emotionalen Ereignissen verbunden werden. Auch haben sich im Laufe der Entwicklung die emotionalen Systeme mit Stimuli konditioniert, die direkt den Arousal auslösen. Man vermutet also ein primäres Affektsystem, das einer kognitiven Analyse einer Episode vorangeht. Andererseits ist die Annahme plausibel, daß es Grundgefühlssysteme gibt, die sich auch im kortikalen Bereich nachweisen lassen (s. Machleidt 1997; u. a.). Die Umwandlung der Affekte in erlebte Gefühle zum Beispiel soll in den Ganglienschichten des Kortex vor sich gehen. Arousal hat mit jener Erregung zu tun, die vom Affekt als Informationsträger ausgeht und zur Handlungsbereitschaft führt. »Autonome Reaktionen begleiten diese Veränderungen der Handlungsbereitschaft, an denen die eigentliche Reaktionsvorbereitung beteiligt ist« (Frijda 1986, S. 173). Auch andere physiologische Reaktionen scheinen diese Funktion zu haben. Der Erregungsanteil der Aktivierung der Handlungsbereitschaft darf seinerseits nicht einfach davonlaufen, sondern muß kontrolliert werden. Das subjektive Erleben der Intensität eines Affekts geht offenbar von dieser Erregung aus. Die oft vagen Interpretationen der Forschungsergebnisse machen nicht eben glücklich. In bezug auf die kommunikativen Affekte bei Kleinkindern ist allerdings bekannt, daß sie an ein mittleres Maß an Erregung gebunden sind (Kaufmann-Hayoz 1991; Clark 1982; Frijda et al. 1992). Es gibt Gründe anzunehmen, daß im limbischen System negative Verstärkerstrukturen zu hohe Erregung dämpfen, positive Verstärker hingegen schwache erhöhen (vgl. Moser u. von Zeppelin

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1996). In den ersten Stufen der Affektentwicklung ist die Regulierung an die Reaktion der Pflegeperson gekoppelt. Fehlt dieser Einfluß (durch und über die Aktivitäten der Pflegeperson) kann es beim Kind zu Erschöpfungszuständen kommen. Die Dämpfung erfolgt durch die Veränderung der Situation, die im Kind den Affekt erzeugt hat. Dann verschwinden die affektauslösenden Stimuli. Anstelle der direkten Aktion kann auch die Ankündigung einer solchen treten (s. die Funktion der »indices«, Piaget 1959). Ob hohe Erregung als lustvoll oder als quälend erlebt wird, entscheidet sich vermutlich bereits in der Entwicklungsphase der Differenzierungen im »arousal seeking« und »arousal avoiding«. Auch wird später die Frage auftauchen, ob ein Objekt zur Regulierung zugelassen oder als bedrohlich ferngehalten wird. Bei allen Unklarheiten soll in den weiteren Abschnitten das Konzept der Affektintensität beibehalten werden.

■ 7. Was sind die Bedingungen für die Entfaltung der psychoanalytischen Mikrowelt? Es wurde bereits ausgeführt, daß in der direkten Beziehung Analytiker – Analysand sich beiderseits ein mittleres Maß an emotionalem Involvement ausbilden muß, bei gleichzeitiger Vermeidung zu großer Affektintensität. Nur so kann ein hinreichendes Sicherheitsgefühl im Analysanden entstehen. Bei zu intensiver Affektentwicklung wird die Regulierung der Affektintensität in der direkten Beziehung vordringlich. Eine analytische Mikrowelt kann sich in diesem Fall nicht entwickeln. Wie frühere Pflegepersonen beim Kind, wird der Analytiker Erregungen des Analysanden dämpfen. Ist der resonante Teil der Beziehung gut entwickelt, dann kann die Dämpfung vom Analysanden übernommen werden. Das Sicherheitsgefühl, um diesen Aspekt hervorzuheben, ist eine wichtige Voraussetzung und Begrenzung dessen, was an Problemen in die Mikrowelt eingeführt werden wird. Die affektiven Übertragungen von Analysand und Analytiker bestimmen diesen Bereich. Der Prozeß verläuft wohl ähnlich wie bei der Bildung der Mikrowelt Schlaftraum (Moser u. von Zeppelin 1996). Dieser ist zunächst

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Produkt einer ersten Regulierung: der Gestaltung eines statischen Positionsfeldes. Die eingeführten Elemente (Personen, Dinge, Objekte, Interaktionen, Umfelder etc.) bestimmen die späteren Interaktionen. Allerdings nicht restlos, denn weitere Schritte können Veränderungen lokomotorischer Art bewirken, die näher an ein Interaktionsfeld heranführen. Erst dort werden Transformationen eingeführt und in simulierte Interaktionen umgesetzt. In der Mikrowelt erweitert sich die emotionale Einsicht, ohne gleich der Belastung einer direkten Beziehung ausgesetzt zu werden. Im Unterschied zum Traum ist der Analytiker direkter Partner in dieser Welt, Mitakteur von affektiv kognitiven Modellen dieser Beziehung und der beiden beteiligten Partner. Eingaben in dieses Feld sind, wie schon erwähnt (Abschnitt 4), Ereignisse und Personen der inneren und äußeren Welt des Analysanden, seine Erinnerungen und seine Träume, soweit er diese berichtet. Die psychoanalytische Mikrowelt wird als eine »pretended«, aber doch präsente Realität erlebt, deren Bedeutsamkeit genau so groß ist wie jene der direkten Beziehung. Fonagy und Target (1996) haben dies einen »pretended mode of experiencing psychic reality« genannt, im Unterschied zu jener Entwicklungsstufe beim Kind, die durch den »modus of psychic equivalence« dominiert wird. In diesem Modus sind Ideen und Gedanken nicht Repräsentationen (about something), sondern direkte Replikas der Realität und deshalb immer »wahr« (not pretended). Autoren, die sich besonders mit den »frühen Störungen«, mit Borderlinefällen, Psychosen und mit Fällen des »psychischen Rückzugs« (Steiner 1993) befaßt haben, sehen in Anlehnung an Bion Denkstörungen oder Denkunfähigkeiten als zentrales Syndrom (Bion 1965; Green 1999; Steiner 1993; Pontamianou 1997; Grinberg 1977; Correale u. Berti Ceroni 1997). Bei allen Patienten, bei denen das psychische Gleichgewicht nur über eine Form des partiellen Rückzugs aus der Beziehungsrealität gefunden wird, bei denen nur auf diesem Weg Sicherheit in einer Beziehung gefunden werden kann, findet sich – in den Gedanken von Joseph (1983) formuliert – ein fehlendes Interesse am Verstehen. Die Analyse wird für eine Reihe von Zwecken benützt, nur nicht für das Gewinnen an Einsicht in die Probleme. Man möchte Erleichterung und Sicherheit. Der Analysand will von nicht gewünschten mentalen Inhalten befreit werden. Er hat weder Zeit

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noch Raum zu »denken«. Die eigenen mentalen Prozesse zu beobachten, führt zu großer Angst. Worte sind in der therapeutischen Beziehung eher Aktionen, um auf den Analytiker einzuwirken. Worte des Analytikers geben primär Aufschluß über den Zustand des Analytikers in bezug auf die Erwartungen und Befürchtungen des Analysanden. Green (1999) betont die begrenzte Fähigkeit des Repräsentierens. Jedenfalls muß diese immer über einen perzeptuellen Kontakt vom Objekt her fundiert werden. Psychotische Patienten können nach Bion (1965) nicht in Abwesenheit eines Objekts Worte und Gedanken manipulieren, die eine Beziehung zu diesem Objekt beinhalten. Man kann somit sagen, daß es in vielen Fällen nicht gelingt, ein Objekt in einer Mikrowelt zu positionieren (sei es in einer therapeutischen Mikrowelt oder in einem Schlaftraum). Erinnerungen sind ewig unverdaute Fakten. Ereignisse werden ständig wiedererzählt. Das ist die einzige Art der Objektivierung des Analysanden. Sie muß genügen, um zu erklären, was im Innern abläuft und was gefühlt wird. Das Objekt »Analytiker« kann nicht als Träger des »analytischen Spiels« (Winnicott 1965) benützt werden. Die Mikrowelten von Traum und Therapie sind beide in gleicher Weise gestört. Auch kann bei diesen »frühen Störungen« beobachtet werden, daß Träume sehr selten sind. Die Inhalte sind sehr kurz, wenig interaktiv und vor allem anonymisiert. »Ich komme in einen Raum. Da stehen Leute, ich kenne sie nicht, ich weiß auch nicht, was geschieht, ich glaube, es ist ein Vortrag, oder eine Versammlung.« Eine Phantasie wird wohl zugelassen, aber ohne Integration von Affekten in die Traumdynamik. Die Anonymisierung verhindert eine konkrete Positionierung von Objekten und Tätigkeiten, die näher an eine Problemstellung führen könnten. Konsequenterweise sind auch Assoziationen kaum möglich. Der Traum verschließt sich einer Interpretation. Oft werden sie lange Zeit nicht erzählt, um sie nicht in eine therapeutische Mikrowelt einführen zu müssen. Assoziationen erfolgen nicht oder brechen gleich ab. Irgendwie dienen Träume nicht der Bedeutungsfindung (Green 1999). Die Eröffnung einer therapeutischen Mikrowelt erfordert paralleles Denken. Alternative Beziehungsmöglichkeiten werden simuliert. Dies ist nur möglich, wenn Lernprozesse zu neuen Verknüpfungen führen, die zunächst potentiellen Charakter haben. Das erinnert an den K-Raum in der

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Theorie Bions, in dem neue Verbindungen aufgeworfen werden (Produkte der »Alpha-Funktionen«). Emotionales Lernen (Einsicht) findet in der therapeutischen Mikrowelt statt (Moser 1962). Im Grunde genommen müssen in der analytischen Situation mit Mikrowelt zwei verschiedenartige Beziehungsregulierungen gleichzeitig praktiziert werden, die eine in der direkten Beziehung, die andere in der simulierten. Die therapeutische Mikrowelt ist Ort der Veränderungen, die in einem zweiten Schritt auf die Dauer auf reale Beziehungen zurückgeführt werden können. Es gibt eine Reihe von »letzten« Widerständen und Verhinderungen, die alle den Sinn haben, alles beim Alten zu lassen und die eigenen Selbsttheoretisierungen aufrechtzuerhalten. Im letzten Moment kann der Analytiker getäuscht werden, indem eine gefundene Alternative wohl akzeptiert wird, aber nur als eine auch denkbare, für die der Analytiker verantwortlich ist. Eine Deutung wird oft im Kleid einer Übereinstimmung mit dem Analytiker unauffällig zurückgewiesen. Jede Weiterentwicklung (d. h. jede Übernahme in das Repertoire der eigenen Beziehungsregulierung) wird verhindert. Eine Dekonstruktionsarbeit in bezug auf die praktizierten Schemata der Beziehung erfordert streckenweise die Fähigkeit, einen neuen, leeren Raum zu schaffen, der mit Einsichten »gefüllt« werden kann. Das bedarf wiederum der Fähigkeit, im Ungewissen und Rätselhaften zu sein, ohne vorschnell und angstvoll nach Tatsachen und Erklärungen zu greifen. Veränderungen verlaufen fragmentiert und in einer Sequenz sich annähernder Lösungen (vgl. Laplanche 1992, 1997; Wellendorf 1999), dies ist wiederum nicht anders als im Schlaftraum. Viele Analysanden fordern von sich und vom Analytiker, daß ein Verstehen immer total, abschließend und sofort sein müsse. Die Ursache liegt in einem immensen Kontrollanspruch, der die beiden Denkbereiche von Analytiker und Analysand trifft und jedes »noch nicht Wissen« zur Gefährdung der eigenen Sicherheit macht. In solchen Situationen dominiert ein unbewußter Machtkampf die analytische Beziehung. Dieser wird in der direkten Beziehung ausgefochten. Das spezifisch analytische Arbeiten in Annäherungen und an einzelnen Fragmenten, die unabdingbare Teilschritte der analytischen Mikrowelt sind, kann vom Analysanden nicht mitvollzogen werden.

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Bions (1962) Konzept eines K-Raumes hilft uns zu verstehen, wie die kognitiven Fähigkeiten zu einem rigiden, egozentrischen Modell des Analysanden werden können. Dieses Modell wird zum Bestandteil einer immer richtigen Selbsttheorie. Was immer der Analytiker in die Einsicht beider verändernd einzubringen versucht, wird abgelehnt, ja vernichtet. Das geschieht oft in Form von entstellenden Extrahierungen aus den Deutungen des Analytikers. Oft werden diese Vorbehalte, Fragmentierungen und Einstellungen vor dem Analytiker geheimgehalten. Das Schweigen des Analysanden täuscht Einverständnis mit den Interpretationen vor. Das Überlegenheitsgefühl bleibt dem Analysanden erhalten. Die Arbeit im K-Raum löst sofort Ängste, Schuldgefühle und Neid aus. Man will besser nichts über die Realität wissen. Hinter dieser K-Reaktion kann oft ein destruktives Über-Ich stecken, das sich auf die Einsichtsversuche des Analytikers ausdehnt. O’Shaughnessys Arbeiten dazu (1994) bringen eindrückliche Beispiele. Es wird klar: K-Erkenntnis steht der Entwicklung einer analytischen Mikrowelt entgegen. »Wissen ist schädlich«, das Motto Bions zum K-Konzept, weist auf die stete Zersetzung einer gemeinsamen, analytischen Mikrowelt hin. Die Nähe zu den Splitting-Phantasien (s. folgenden Abschnitt 8 »frühe Störungen«) ist evident.

■ 8. Die sogenannte »frühe Störung« Es soll im folgenden ein Syndrom der »frühen Störung« beschrieben werden, das sich durch die Unfähigkeit, eine psychoanalytische Mikrowelt auszubilden, auszeichnet. Diagnostisch handelt es sich bei den »frühen Störungem keineswegs um eine einheitliche Gruppe. Die Diagnose »Borderline« taucht zwar häufig auf. Immer wieder findet sich eine ursächliche Ableitung auf Defizite und/oder Traumatisierungen der Beziehung zum »Primärobjekt«. Im folgenden sollen genetische Ableitungen vermieden werden. Eine mehr funktionale Bestimmung des Syndroms führt zur Persistenz einer bestimmten Beziehungsregulierung, jener der Entwicklungsstufe der Situationstheorie und des präkonzeptuellen Denkens. Doch zunächst einige Vorbemerkungen:

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(1) Dem Analytiker erwachsen große Schwierigkeiten im Umgang mit »frühen Störungen«. Konfusionen tauchen auf, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, Reaktionen der Ablehnung des Analysanden, Gefühle der Insuffizienz, der Kontrollunfähigkeit und so weiter (vgl. dazu Green 1999; Kernberg 1967, 1984; Grinberg 1977; Winnicott 1965; Akhtar 1998; Searles 1965, 1979; Kohon 1999; Volkan 1976; u. a.). Eine beliebte Hypothese dazu lautet, daß der Analytiker auf dem Wege der projektiven Identifizierung die chaotischen Zustände des Analysanden gemäß der Metapher »Container« in sich aufnehme. Ohne die Existenz dieser Prozesse bestreiten zu wollen (siehe unten), geht ein Gutteil dieser Übertragungsreaktionen auf die anfängliche Unfähigkeit des Analytikers zurück, die andersartige Regulierung der Beziehung durch den Analysanden zu verstehen und sich darauf einzustellen. Gemäß seiner Schulung erwartet er, daß sein Modell der Übertragung-Gegenübertragung, der emotionalen Einsicht und der Aufarbeitung innerer Konflikte »greifen« sollte. Er muß dann erfahren, daß die psychoanalytische Mikrowelt eine Fata Morgana ist. Wenn sie in einer Stunde erscheint, verschwindet sie wieder in der nächsten. (2) Der Analysand scheint sich aus der Beziehung zum Analytiker Erleichterungen zu erhoffen. Sobald aber – was zwangsläufig kommen muß – durch Reaktivierungen von Konflikten Ängste und Depressionen entstehen oder sich verstärken, tauchen Zweifel auf, ja, die psychoanalytische Situation kann schließlich als »gefährlich« erlebt werden (Krejci 1999). Die affektiven Übertragungen des Analysanden sind intensiv und kaum änderbar, weil die affektive Sicherheit Priorität hat. Für Veränderungen ist kein Platz, weil sie die Unsicherheit erhöhen. Denkräume für Alternativen (Bions K-Raum) haben nur beschränkt Platz. (3) Die Situationstheorie prägt die Grundprinzipien der Beziehungsregulierung, die jener der repräsentationalen Theorie vorangeht. Für genauere Beschreibungen dieser Regulierungsstufen siehe Fonagy und Target (1996) sowie Moser und von Zeppelin (1996). Jede Situation wird konkret präsentisch erlebt. Repräsentanzen gibt es, doch sind sie immer der erlebten Realität äquivalent. Sie können nicht durch innere Manipulationen – unabhängig von der Beziehung (als Außenweltfaktor) – umgewandelt

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werden, was Voraussetzung für eine simulierte Mikrowelt wäre. Beziehungen werden durch direkte Transformationen reguliert. Zu diesen gehören vor allem Imitation und Modellierung. Im ersten Fall wird ein Objekt oder werden Teile desselben nachgeahmt und zu Teilen respektive zu Attributen des Selbst gemacht. Im Unterschied zu einer Identifizierung ist Imitation an die konkrete Beziehung gebunden. Sie führt nicht zu einer dauerhaften Veränderung im Subjekt. Die Modellierung ist ebenfalls auf die Existenz der entsprechenden Beziehung beschränkt. Das Objekt wird gemäß Teilen des eigenen Selbst »umgestaltet«. Projektive Identifizierungen sind solche Modellierprozesse (vgl. Feldman 1997). Dazu gehören, wie in der Literatur über projektive Identifizierung beschrieben, mannigfache Techniken der Beeinflussung des Objekts (um es in der gewünschten Form zu halten). Werden in dieser Modellierung Bestandteile der Innenwelt in das Objekt verschoben, dann kommt es zur oft beschriebenen ContainerBeziehung (Bion 1962, 1970; Joseph 1983). Eine weitere Transformation verläuft nicht zwischen Analysand und Analytiker, sondern zwischen Situation und Situation ein und derselben Beziehung. Die affektiven und kognitiven Attribute der beiden verändern sich, ohne daß vom Subjekt eine Diskrepanz zwischen den Situationen bemerkt wird. Nach diesen Vorbemerkungen zurück zum Syndrom der »frühen Störung«. Es soll nach vier Gesichtspunkten beschrieben werden: 1) Emotionales Involvement und affektive Erregung, 2) Das Objekt der Beziehung (der Analytiker), 3) Entleerung des Selbstgefühls, 4) Dementalisierung und Splitting-Phantasien. 1) Emotionales Involvement und affektive Erregung: Das emotionale Involvement bleibt defensiv gesteuert. Wird es zu sehr erhöht, tauchen die bereits genannten defensiven Manipulationen auf. Die Tendenz zu einer schnellen Erhöhung ist gerade bei der »frühen Störung« groß, zum einen, weil durch die therapeutische Beziehung Wünsche geweckt werden, zum zweiten, weil der Analytiker Träger einer diffusen Hoffnung auf Besserung ist (Potamianou 1997a, b), wenn auch ohne konkrete Erwartungen, und zum dritten, weil der Zwang besteht, die affektiven Informationen, die vom Analytiker ausgehen, genau beobachten zu müssen (ob sie Nutzen oder Schaden anzeigen). Ein hohes emotionales Involvement er-

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höht die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten starker affektiver Erregungen. Da die Dekodierung der Affekte bei sich selbst und andererseits am Analytiker Schwierigkeiten bereitet, werden affektive Erregungen nicht interpretierbar. Die Affekte können lediglich der therapeutischen Situation global zugeschrieben werden. Die Verwirrung wird rasch gegenseitig, weil auch die affektiven Botschaften des Analysanden verschleiert sind und vom Analytiker nur schlecht dekodiert werden können. (Die Liegeanordnung wird vom Analysanden oft abgelehnt, weil sie die Unkontrollierbarkeit der Kommunikation erhöht. Dies gilt allerdings nicht durchwegs für alle Situationen. Die Liegeanordnung kann auch mithelfen, sich aus der Beziehung zurückzuziehen.) In einem Modell von Moser, von Zeppelin und Schneider (1969) wurde die Hypothese formuliert, daß die Intensität des emotionalen Involvements die Quantität der affektiven Erregung verstärkt. Das heißt zum Beispiel, daß in einer intensiven Beziehung Ängste stärker wirken als in einer Beziehung mit geringem emotionalen Involvement. Wird das emotionale Involvement vermindert, ist die affektive Erregung besser kontrollierbar und erträglicher. Die Verminderung des emotionalen Involvements macht Affektverschiebungen zwischen Subjekt und Objekt möglich. Entleerungen und Amplifizierungen von Affekten sollen helfen, die verwirrende Beziehung wieder kontrollierbar zu machen und zu stabilisieren. Manchmal wird die Beziehung ganz abgebrochen oder unterbrochen, sei es in Form des Weglaufens aus der Stunde oder in Form von negativistischen Haltungen (z. B. nicht zuhören). Es wird immer wieder berichtet, daß bereits erreichbare Veränderungen der Beziehungsregulierung wieder rückgängig gemacht werden, und wie bereits vorhandenes Wissen über die Beziehung und über deren Träger einfach verschwindet. Britton (1996) definiert in seiner Arbeit Regression genau in diesem Sinne. Er beschreibt, wie in der therapeutischen Situation eine pathogene Organisation von Sicherheit aufgebaut wird, in deren Rahmen man sich besser verteidigen kann (»Glaubenssysteme der Sicherheit«: Britton 1996). 2) Das Objekt der Beziehung: Mit dem Analytiker wiederholen sich die Konflikte aus der Zeit des »Primärobjekts«. Aus der therapeutischen Optik heraus spürt der Analytiker insbesonders die

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Verschiebung negativer Affekte6, die vom Analysanden ausgehen. Der Analytiker muß zum Beispiel unabdingbar dasein, auch wenn er ein »negatives« Objekt ist. Oft ist er geradezu ein Verfolger, ein Vergifter der Situation, ein Objekt, dem man nie trauen kann. Das Objekt ist repräsentiert durch die negativen Affekte und durch das Chaos, das es erzeugt (Bollas 1996). »Der Analytiker muß sich gefaßt machen, daß er systematisch für unzuverlässig und gefährlich gehalten wird« (Correale u. Berti Ceroni 1997, S. 89). jedenfalls geht dem Analytiker die Funktion der Erregungsdämpfung ab, die der Analysand dringend bräuchte. 3) Regulierung des Selbstgefühls, Entleerung: Die Regulierung des Selbstgefühls geschieht auf dem Niveau der Situationstheorie direkt in der konkreten Situation. Eine Abkoppelung in Form der Bildung einer inneren Regulierung des Selbstgefühls ist nur schwach entwickelt. Der Analysand kann deshalb nicht reflexiv (in sich) die Vorgänge der Situation werten und verarbeiten. Eine Repräsentanz »Selbst« gibt es. Sie bleibt jedoch ein direktes Abbild des Selbst als Bestandteil der Beziehung. Mit den Situationen wechseln somit auch die Selbstgefühle. Deren Stabilisierung kann nur über die Beeinflussung der jeweiligen konkreten Situation geschehen. Der Zustand wird wie das in ihm verwickelte Selbst als nicht entzifferbar erlebt. Verdichtet sich dieser Zustand, so wird das Selbstgefühl entleert. Diese Entleerung dehnt sich auf Körpergefühle (fehlende oder beschädigte Vitalität) aus. Aber auch die Umwelt wird als fade und ereignislos erlebt. Correale und Berti Ceroni (1997) betrachten die Leere als Folge der Entfernung negativer Selbstgefühle, vor allem von Scham und Groll. Das emotionale Involvement hängt mit den Affekten des Seins (»Being«, De Rivera 1977) und jenen der Identität zusammen (Moser 1999). Wird es reduziert, kann man sozusagen sich selbst nicht mehr erleben. Es gibt Ersatzverhalten, das ein schwaches Selbstgefühl zur 6 In der Traumtheorie von Moser und von Zeppelin (1996) wird diese Form der Affektverschiebung als eine Transformation beschrieben, die eine affektive Qualität der Interaktion zum Attribut des an dieser Beziehung beteiligten Objekts macht. Ihm zugeschrieben, wird der Affekt besser kontrollierbar und kann (unter dieser Bedingung) länger in der Situation repräsentiert werden.

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Steigerung verwendet (Drogenkonsum, Impulsivität, Promiskuität, Zustände der Ekstase u. a.). Die Leere des Selbstgefühls kann auch über die Imitation eines Objekts vorübergehend behoben werden. Sie macht die Person erlebnisfähiger und gibt ein spezifisches Identitätsgefühl. Allerdings werden nur jene Affekte »ausgeborgt«, die nicht zu unerträglichen Erregungen führen. Imitationen brechen sofort zusammen, wenn sich herausstellt, daß man nicht mehr die Person ist, die man gerade imitierend ist (Fonagy u. Target 1996). Manchmal kommt es zu verschiedenartigen Identitäten, die immer vom gegenwärtigen Funktionieren abhängig sind. Sie sind nur schwach untereinander vernetzt, und die Erinnerungsfähigkeit an frühere Identitäten bleibt eingeschränkt. Wird aus der Imitation heraus eine Identifizierung mit dem Objekt versucht, so führt das dazu, »daß man ausreichend existiert, um zu fühlen, daß man nicht existiert« (Bion 1963, S. 134). 4) Dementalisterung der Affekte und Splitting-Phantasie: Auch die psychosomatische Schule der französischen Psychoanalyse beschäftigt sich mit dem Schicksal der affektiven Erfahrung. Es wird von einer Dementalisierung des Affekts gesprochen (Marty 1976; Fain 1991; Smadja 1993; Szwec 1993; Nicolaides 1993; Press 1997). Die Hauptabwehr wird – und das dürfte auch auf die »frühen Störungen« zutreffen (nicht aber die anderen Komponenten, die ein »operatives Leben« mit Somatisierung schaffen) – in der Erregungsbekämpfung gesehen. Die zu große Erregung desintegriert den Affekt. Die Folgen sind: »Überbesetzung der Wahrnehmung«, direkte Formen der Affektabfuhr, die nicht durch ein inneres repräsentatives Geschehen gesteuert sind (Marty 1976). Diese direkten, perzeptiv gesteuerten Abfuhren werden nicht in die innere mentale Organisation integriert. Der Affekt ist nicht in das psychische Geschehen eingeschrieben. Marty nennt die Abfuhrvorgänge parallele Dynamismen, die eine Rolle bei der Auslösung von Somatisierungen spielen könnten. Das bedeutet aber auch, daß sich keine Phantasien bilden können, die Affekte integrieren. Das unterscheidet sie auch von Übertragungsphantasien. Die auftretenden Phantasien in den »frühen Störungen« sind nicht Träger von Affekten, sondern nachträgliche Folgen von Manipulationen. Es sind aus direkten Perzeptionen zusammengestük-

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kelte Konstruktionen, Darstellungen einer nicht veränderbaren Realität, über die ständig nachgedacht wird. Der Affekt selbst ist die Sache (Bollas 1996), er verliert seine Qualität als Information über das äußere und innere Geschehen. Es wird nicht mit fiktiven, alternativen Entwürfen einer Beziehungsgestaltung umgegangen. Vor allem sind diese Phantasien vor jeglicher Veränderung abgeschirmt, gleichgültig ob der Analytiker Einblick bekommt oder nicht. Es sind weniger Phantasien, die Wünsche enthalten, als Phantasien, die Verhältnisse immer wieder festnageln und klare Ansichten über die Erinnerung formulieren. So dienen sie schließlich auch defensiven Zwecken. Im Sinne des Modells von Moser, von Zeppelin und Schneider (1991) gehören sie zu den defensiven, imaginären Relationen vom Typus Splitting. Diese Splitting-Phantasien können im Unterschied zu Übertragungsphantasien der psychoanalytischen Mikrowelt nicht mittels Interpretationen fruchtbar gemacht werden. Sind die Prozeduren der Tiefhaltung des emotionalen Involvements, der Affektverschiebungen, der Splitting-Phantasien und der Errichtung von Selbstschutzorganisationen nicht hinreichend, dann vermehren sich Phantasien über die Selbstregulierung. Sie kreisen um die Thematik der Kontrolle, um Kontrollverlust und um Größenideen.

■ 9. Unterschiedliche Formen der therapeutischen Beziehung bei »frühen Störungen« Im Abschnitt 8 wurden die generellen Faktoren der Beziehungsregulierung bei »frühen Störungen« umschrieben. Etwas vereinfachend wurden sie um die Konzepte der Situationstheorie und des konkretistischen Denkens gebündelt. In allen Fällen wird der Analytiker in die dem Analysanden eigene Struktur der Beziehungsregulierung einbezogen. Vom Analysanden geht ein assimilativer Sog aus, den Analytiker so zu benützen und zu formen, daß die Beziehung möglichst frei von Konflikten, Erregungen und Spannungen wird. Die Beziehung wird immer wieder auf eine gewünschte und gleichzeitig notwendige Beziehungsstruktur zurückgeführt. Ver-

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suchte Veränderungen stoßen auf Widerstand. (Diese Beziehungsformen sind nicht mit Wünschen bewußter oder unbewußter Art zu verwechseln. Vielmehr bestimmt die gewünschte Beziehungsregulierung den Rahmen, in dem Wünsche allenfalls geäußert und befriedigt werden könnten.) Die Regulierung soll eine für die Beziehung notwendige Sicherheit hervorbringen. Die Vorlage dazu wird auch in der therapeutischen Beziehung zu positionieren versucht. Wie muß man sich die Struktur dieser Regulierung vorstellen? Es sind kognitiv-affektive Gebilde. Wie bereits erwähnt, läßt sich das affektive Kommunikationsnetz nicht von inneren Affekten der Selbstregulierung abkoppeln. Vielleicht könnte man von unbewußten Phantasmen sprechen, um sie von den bewußten Splitting-Phantasien und den bewußten Übertragungsphantasien der Mikrowelt Psychoanalyse abzuheben. Diese Phantasmen bestimmen direkt über Kommunikation und die Sensomotorik die Beziehung. Sie werden somit instantiiert, sie bestimmen die Regulierung. Der Analytiker wird so modelliert, daß er dem Objekt des tragenden Phantasmas entspricht. Es bleibt im Rahmen dieser Arbeit nur Platz für die Anführung einiger dieser Beziehungsstrukturen. In der Beziehung des Containing wird eine Relation gestaltet, in der das eine Subjekt im Inneren des anderen aufgehoben ist. Auch einzelne Teile eines Subjektes können in das Innere des Anderen wechseln (z. B. nicht erträgliche, als negativ und gefährlich erachtete Affekte). Dann kommt es nicht zu einem Gefühl des Aufgehobenseins, sondern des Gefangenseins. Die »tote Mutter« (Green 1983) erscheint als ein schwarzes Loch. Wer hineingerät, ist tot oder wird petrifiziert, am Rande des Lochs stehend. Vereinigung wird zur Falle oder gar zur drohenden Vernichtung. Für das Subjekt ist es dann lebenswichtig, Wege (psychische Trajektorien) zu suchen, die keine Interaktionen mit einem schwarzen Loch enthalten. Der Begriff des Containers (containing und contained) ist im Laufe der Zeit als Container-Funktion auf das psychoanalytische Setting angewendet worden (Quinodoz 1992). Der Container Analytiker wird in dieser Sicht zu einem aktiven Container (Anzieu 1985; Kaès u. Missenard 1979), der dynamisch mit seinem Inhalt kreativ interagiert und etwas Neues gebiert. Ob diese Ausdehnung des Konzeptes sinnvoll ist, bleibt offen. jedenfalls hat sie

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nichts mit der eben beschriebenen Container-Beziehung »frühe Störungen« zu tun. Außer man sehe die Aufgabe der Psychoanalyse in diesem Fall gerade darin, die Container-Beziehung in der therapeutischen Situation zu einer kreativen umzuwandeln. Eine noch frühere Beziehung ist die adhesive Identifizierung (Bick 1968; Meltzer 1974, 1975). In dieser Beziehung »klebt das Objekt wie eine Briefmarke an der Haut des Subjekts«. Sich wegreißen würde bedeuten, daß auch die eigene Haut weggerissen wird. Hier hat die Haut noch keine Containerbedeutung für den eigenen Innenraum. Die Beziehung ist nach dem Muster des osmotischen Austauschs strukturiert. Das Innere der adhesiven Partner geht durch die Häute. Eine narzißtische Organisation ist nach Ansicht der Autoren noch nicht ausgebildet. In anderen Fällen wird das Objekt (nach dem Muster der Beziehung zum Primärob)ekt) wie in einerKrypta im eigenen Selbst begraben und eingeschlossen (Abraham u. Torok 1978). Es ist gefangen, Träger einer verrückten Liebe und eines schrecklichen Hasses gleichzeitig. Man verliert es nicht und wird es auch nicht los. Das begrabene Objekt frißt das Subjekt von innen auf. Es ist ein Phagozyt. Auf diese Weise kann auch in der Analyse der Analytiker beseitigt werden. Die Folgen dieses Introjektionsprozesses sind Selbstdestruktionen. In der therapeutischen Beziehung gibt es keine aggressiven Regungen mehr. Feldman (1996) beschreibt eine Beziehungsregulierung der »Compliance«. Der Analysand und der Analytiker verformen sich gegenseitig in der Weise, daß die Beziehung weniger schmerzgeladen und angsterzeugend wird. Er sieht in diesem Prozeß eine Verkoppelung beidseitiger Abwehrbedürfnisse. Des weiteren gibt es die vielen Varianten der »affective nonrelatedness«, die Modell (1984) beschrieben hat. Um eine herauszugreifen: In der Kokon-Beziehung verharrt der Analysand zunächst völlig unerreichbar. Er kommuniziert auch nicht, sondern speichert und verarbeitet die affektiven Botschaften des Analytikers. Nach Aufgabe dieser Regulierung wird die Beziehung zum Analytiker aggressiv. Die klinischen Beschreibungen – es wären noch viele anzuführen – machen deutlich, daß in ihnen Metaphern gewählt werden, die mit räumlichen Verhältnissen, mit Nähe, Ferne, Innen, Außen

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und anderem, zu tun haben. Es ist deshalb zu vermuten, daß sie auf Präkonzepten beruhen (Johnson 1987; Lakoff 1987). Sie weisen darauf hin, daß ein bestimmtes Niveau der affektiven und kognitiven Regulierung in der Beziehung tätig ist, das, wie bereits formuliert, den Modellen der repräsentativen Theorie vorangeht. Lapidar formuliert, verläuft die Regulierung nach ganz einfachen Prinzipien: durch Nähe und Distanz, durch Existenz und NichtExistenz von Objekten und Subjekten, durch Anwesenheit und Nicht-Anwesenheit, durch räumliche Konfigurationen. Die Verhältnisse erinnern an Bion (1965), der die depressive Position als eine geometrische umschrieben hat (im Unterschied zur schizoiden, in denen Fragmentierungen vorkommen, eine Position, die er arithmetisch nennt). Eine präzise Lösung des Problems kann in Anlehnung an das Konzept des Positionsfeldes im Traum (Moser u. von Zeppelin 1996) versucht werden. Das psychische Geschehen im Traum beginnt (nicht immer) mit der Einführung von Elementen, Personenobjekten und deammierten Elementen sowie eines »Place«. Die Personenobjekte sind durch Distanzverhältnisse geregelt. Oft sind sie aber in Relationen geordnet, die in etwa den klinischen Bildern entsprechen, die soeben beschrieben wurden. In bezug auf diese zunächst statischen Relationen wird die Hypothese geäußert, daß sie eingeführt werden, weil sie das Sicherheitsprinzip nicht verletzen und Veränderungen aufschieben. Die Träume bei »frühen Störungen« (Träume während der Therapiezeit) zeigen im Positionsfeld relativ selten Relationen. Ist das als Zeichen zu werten, daß es dem Träumenden schwerfällt, in der Mikrowelt Traum diese als sicher erlebten Beziehungen zu entwerfen? Um zum Schluß zu kommen: Die Beziehungsformen der »frühen Störungen« sind wenig interaktiv und wenig kooperativ zwischen den Partnern. Sie zeigen statische Muster. Es wird versucht, diese durchzusetzen und zu bewahren. Änderungen auf dem Wege interaktiver Vorgänge werden vermieden. Es wäre reizvoll und von großer Bedeutung, den Katalog dieser in Metaphern beschriebenen Beziehungsregulierungen zu vervollständigen.

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■ 10. Der Traum in der psychoanalytischen Situation Das Verhältnis von Übertragungs- und Traumprozessen und das Suchen nach Analogien (z. B. Lewin 1955; Hartmann 1995; u. a.) ist für unsere Fragestellung von besonderem Interesse. Deserno (1993, 1995) hat darüber ausführlich empirisch wie theoretisch gearbeitet. »Der aktuelle Übertragungskontext wirkt sowohl darauf ein, was im Traum geträumt wird, als auch darauf, was von diesem Traum erinnert und erzählt, und letztlich auch, was von ihm interpretiert wird« (Deserno 1992, S. 936). Übertragung wie Traum sind simulative Mikrowelten, die auf den Kontext der therapeutischen Situation bezogen sind. Beide verfügen über affektive Beziehungsregulierungen, jeweils unter besonderen Bedingungen. Bei solchen Vergleichen muß allerdings darauf geachtet werden, welche Teile des Traums herangezogen werden. Im Licht der Traumtheorie von Moser und von Zeppelin (1996) könnten dies nur die interaktiven Situationen des jeweiligen Traumgeschehens sein, die affektive Beteiligung in integrierter Form zulassen. (Siehe dort zur Unterscheidung von verschiedenen Ebenen der Kontrolle im Traum.) Die Theorie der emotionalen Einsicht (French 1958; Kris 1956) hat sehr detailliert herausgearbeitet, wie diese Einsicht sukzessive (und immer zunächst fragmentarisch) in den beiden Mikrowelten Therapie und Traum geschaffen wird.7 Neuere Ansichten zu diesem Thema bleiben hingegen zu sehr im Generellen stecken. Palombo (1999) schreibt zum Beispiel dem Traum einen »stufen7 Nach dieser Theorie hat die therapeutische Beziehung zwei konfliktreaktivierende Wirkungen: die eine liegt in der Frustrierung, die andere in der Erzeugung von Hoffnung auf die Erfüllung von Wünschen. Hoffnung wird dann zurückgewiesen, wenn es nicht gelungen ist, das für die therapeutische Beziehung notwendige Sicherheitsgefühl im Analysanden zu erzeugen (French u. Wheeler 1963; French 1970). Dieselben Prinzipien sind auch im Traum zu finden. Hoffnung erweitert die Kapazität, Angst und affektbetonte Aspekte des Konflikts in den Traum einzubeziehen. Zu intensive Frustrierung führt zu einer »Schrumpfung des Traumfeldes«, dies bei »frühen Störungen« noch viel eingehender (vgl. die Ausführungen zur Hoffnung bei Borderline-Patienten von Potamianou 1997). Elemente der Frenchschen Einsichtstheorie finden sich in veränderter Form im Ansatz von Weiss und Sampson (1986).

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weisen Übergangseffekt« zu, der die interpretative Arbeit der Analysestunden konsolidiert. »Diese durch den Traum erzeugte und gefestigte innerpsychische Reorganisation entspricht der Reorganisation, die in Realzeit während der analytischen Stunde statfindet« (Palombo 1999, S. 263). Bei den »frühen Störungen« werden zunächst kaum Träume erzählt. Es dominieren jene Splitting-Phantasien, die auch in der Stunde erzählt werden. Sie gleichen einem stabilen Modell der Beziehung, an das die Ereignisse in der Beziehung assimiliert werden. Sie verstärken das Sicherheitsgefühl, tragen aber im Unterschied zu den Träumen de facto nichts zur Veränderung der Beziehung bei. Ob überhaupt geträumt wird, wissen wir nicht. Bion (1962) und andere Autoren (Grinberg 1997; Meltzer 1984) vertreten die Hypothese, daß – wie auch bei psychotischen Patienten – die Beziehung zum Primärobjekt so gestört ist, daß über die »Träumerei der Mutter« so etwas wie Traumaktivität (eine Alpha-Aktivität im Sinne Bions) nicht entstehen kann. Da ich mich im Rahmen dieser Arbeit bewußt genetischer Ableitungen enthalte, bleibt die Hypothese undiskutiert. Die erzählten Träume zeigen eine magere Mikrowelt. Es werden nur wenige Personen positioniert, die oft anonym sind (»irgendein Mann, kenne ihn nicht«). Interaktionen sind selten da, es finden sich höchstens Aktivitäten des Positionierens (z. B. »da kommt ein Kind«). Vielleicht gehören auch die »Negativbildungen« Ermanns (1995) in dieses Bild. Verknüpfungen zwischen den Agenten, das Entwerfen von immer neuen Situationen, ist selten zu sehen. Dasselbe gilt für die psychoanalytische Mikrowelt. Die affektive Übertragung enthält zwar ein Bild des Analytikers, aber dieses Modell bleibt assimilativ und starr. Übertragungen in einer psychoanalytischen Mikrowelt, gekoppelt mit der Fähigkeit, Übertragungsdeutungen zu verstehen, gehen parallel mit der Entfaltung des Interaktionsfeldes des Traums (Moser u. von Zeppelin 1996). Die Elemente der rudimentären Träume haben aber durchaus den Charakter von »Emergents«. Sie sind Bausteine möglicher Mikrowelten, haben aber für sich genommen noch keinen großen Bedeutungsgehalt, können ihn aber in späteren Anläufen durchaus gewinnen, indem sie mehr Attribute bekommen, interaktiv

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verknüpft und Bestandteil eines Narrativs werden. Es gibt auch Zeiten von Überlappungen. Splitting-Phantasien werden noch beibehalten und elaboriertere Träume tauchen bereits auf. Doch sind deren Interpretationen erst beschränkt der Einsicht des Analysanden zugänglich. Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich in Psychosen. Hier bilden sich delustonäre imaginäre Relationen (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991), die direkte Bestandteile der Beziehungs- und Selbstregulierung sind (analog der Splitting-Phantasien bei »frühen Störungen«). Bei den schizophrenen Wahnbildungen ist zusätzlich auch die kognitive Struktur der Wahnbildungen in dieser Phantasie instabil. Attribute wechseln zum Beispiel die Agenten einer Beziehung. Dies erzeugt immer wieder wechselnde affektive Rückmeldungen. Eine verläßliche Regulierung von Beziehungen ist nicht mehr da. In immer wieder neuen Versuchen wird in inneren Prozessen ohne perzeptive Kontrolle die Stabilität reorganisiert. Die These des Wahnes als steter Reorganisationsprozeß, der nie ein Ende findet, hat Tradition (Freuds Restitutionshypothese, 1924e; Katan 1951; Szalita 1958; Fried u. Agassi 1976; Schneider 1981; u. a.). Der Traum bei schizophrenen Menschen muß im Dienste dieser Reorganisation stehen. Es wird im allgemeinen angenommen, daß bei Dominanz von Wahnbildungen Träume nicht zu finden sind oder nicht erzählt werden. Tauchen Träume auf und lassen sie sich in die therapeutische Beziehung einfügen, so ist dies ein prognostisch gutes Zeichen (Böker 1992). Zur Erklärung dieser Phänomene zieht Böker die Theorien von Bion (1962, 1963, 1965) und Meltzer (1984) und anderen heran.

■ 11. Einige Folgerungen für die psychoanalytische Therapie Das klassische Modell der psychoanalytischen Therapie – dies sei nochmals wiederholt – beruht auf der Voraussetzung, daß beim Analysanden in der Beziehungsregulierung die repräsentationale Theorie voll entwickelt ist. In dieser Entwicklungsstufe der kognitiv-affektiven Prozesse gibt es ein inneres Repräsentanzensystem

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und eine besondere, von der Kommunikation abkoppelbare Regulierung der Innenwelt (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996). Das Beziehungsgefühl kann von innen her generiert werden, auch wenn das Objekt der Objektbeziehung fehlt. Diese Entwicklungsstufe erlaubt Antizipation (Bildung eines Möglichkeitsraumes), Erinnerung (Bildung eines Vergangenheitsraumes – vgl. Deserno 1995) sowie die Bildung affektabsorbierender, simulierter Mikrowelten, analog jener des Traums. Die affektiven Übertragungen sind Phänomene der direkten Beziehung Analysand – Analytiker. Die Art der Regulierung benützt Elemente und Fähigkeiten präkonzeptuell-konkretistischer Prozesse und der Situationstheorie. Da die affektive Übertragung ubiquitär ist und nicht ausschließlich ein therapeutisches Phänomen, kann sie gut empirisch untersucht werden (außerhalb des analytischen Settings). Das führt zu einer Aufwertung der Beachtung nichtverbaler Phänomene. Für die Situation des frontalen Settings wurde zum Beispiel herausgefunden, daß es unter Umständen besser möglich ist, Affekte des Analysanden mimisch am Analytiker abzulesen (Merten 1996; Steimer-Krause 1996; Krause 1998). Der Analytiker kann seine affektiven Übertragungen nur schwer anhand seiner Mimik und Gestik dekodieren. Er ist vielmehr auf die Registrierung seiner inneren, affektiven Reaktionen und Zustände angewiesen, die zu den kommunikativen Affekten parallel laufen. Der Analytiker muß darauf achten, daß sich die Regulierung der Beziehung so einpendelt, daß sie zum Träger der analytischen Mikrowelt werden kann. Dazu muß das emotionale Involvement auf beiden Seiten ein erträgliches Maß an Intensität einnehmen. Zu große Empathie des Analytikers führt zu großer affektiver Erregung im Analysanden und löst Abwehren aus (Angst vor dem »Eindringen«). Verringert der Analytiker hingegen sein emotionales Involvement, dann fühlt sich der Analysand verloren und nicht aufgehoben. Er kann dann in eine »Zone des Rückzugs« (Steiner 1993) gehen und nicht mehr »auffindbar« sein. Der Analytiker darf seine Funktion als Erregungsdämpfer nicht verlieren, sonst geht die beständige, affektive Plattform für die Mikrowelt verloren. Es ist ferner von großer Wichtigkeit, daß der Analytiker die in-

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dividuelle Struktur der Beziehung erkennt, die vom Analysanden in die Beziehung eingeführt wird. Aus den affektiven Gegenübertragungen des Analytikers wird der Analysand spüren, ob ihn diese Zuweisung bedroht und ob er sich als für den Analytiker geeignetes Objekt fühlen kann. Bei den primären Störungen ist die Fähigkeit zur Affektwahrnehmung sehr schlecht einzuschätzen. Vor allem ist kaum etwas über Lernprozesse in diesem Bereich bekannt. Analysanden mit primärer Störung sind zur Kontrolle ihres Sicherheitsgefühles auf die Dekodierung der Affekte des Analytikers angewiesen. Reduziert der Analytiker seinen Reichtum an affektiven Signalen, droht eine Krise. Oft muß, um eine solche zu vermeiden, auf eine Sitzanordnung übergegangen werden. Sie erlaubt die direkte Beobachtung der Mimik und Gestik des Analytikers. Es ist zu vermuten, daß das diskriminierende Lernen von affektiven Informationen am Analytiker verläuft. Noch weiß man wenig über die Veränderungen in der Differenzierung der eigenen Gefühlszustände im Analysanden und über die Fähigkeit, differenzielle Affekte zu enkodieren. (Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß im Syndrom der »frühen Störung« die situativen Zustandsgefühle-Unbehagen, Ablehnung, Erleichterung u. a. – dominieren. Haß, Neid, Ärger und andere differenzielle Affekte sind nur schwer im affektiven Erleben zu verstehen.) Die bekannte Tricolore analytischer Tugenden gilt für alle Situationen einer Psychoanalyse, mit oder ohne Ausbildung einer analytischen Mikrowelt: Gleichschwebende Aufmerksamkeit, emotionale Sensibilität in der Gegenübertragung und »frei flottierende Bereitschaft zur Rollenübernahme«. Der Analytiker generiert offenbar ständig zwei Modelle in seinem Repräsentanzenbereich: eines für die direkte Beziehung und eines für die analytische Mikrowelt. Im Fall der »frühen Störung« wird er sich auf das erstere konzentrieren müssen, denn er braucht es unmittelbar zur Regulierung der direkten analytischen Beziehung.

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■ 12. Zusammenfassung: Von Drachen, Mikrowelten, Forellen und allerlei psychoanalytischen Weisheiten Im I Ging, dem Buch der Wandlungen, wird mittels Schafgarbenstengeln jenes Zeichen gefunden, das eine Antwort auf das präsentierte Problem gibt. Es enthält jeweils eine »Instruktion«, was zu tun wäre, um die Lage aufgrund dieses Zeichens im positiven Sinne zu wandeln. Die Suche nach der Wahrheit gelingt aber nur dann, so wird gewarnt, wenn zusätzlich zur inneren Ernsthaftigkeit das Setting genau eingehalten wird. Dieselbe Prozedur kann auch in Sammlungen von Gedichten durchgeführt werden. Freilich ist dieses Surfen durch Bücherseiten nicht prozedural geregelt, es fehlen beispielsweise die Schafgarbenstengel. Die beiden Gedichte von Mandelstam und von Jose Angel Valente, die der Arbeit vorangestellt sind, wurden auf diese Weise gefunden. Der Bezug von Mandelstams Gedicht zur Psychoanalyse ist unmittelbar evident. Es mahnt mich auch, darauf zu achten, daß die eben geschriebene Arbeit nicht lauter Bekanntes enthält. Die Relevanz des Gedichts von Valente mag zunächst im Dunkeln liegen. Das uns nie verlassende magische Denken zwingt uns jedoch zu einer Auslegung und Zuordnung. Es geht um die Verkoppelung zweier lebendiger Systeme, jenes des Drachens und jenes der Forelle. Gelingt dies, so kann ein Drittes entstehen: der Elefant. Über Verkoppelungen von Analysand und Analytiker gibt es viele Theorien mit oft reichlich abstrakten Prinzipien: mit neuronalen Netzwerken, konnexionistischen Modellen, Rekategorisierungen in neuralen Systemen oder gar mit Prozessen der Chaostheorie, die zu Attraktoren hinführen oder sie auflösen. Bleiben wir hingegen auf dem Boden einer »klinischen Theorie«, so erzeugt die Koppelung der beiden Partner Analytiker und Analysand eine psychoanalytische Mikrowelt. Die beiden Subjekte konstruieren über diese Mikrowelt ein »Drittes«. Dieser Gedanke der Triangulierung oder auch der Geburt ist heute vielen Psychoanalytikern sehr lieb. Nur: Wer ist wer in diesem Bild? Sehen Analytiker im Drachen den Analysanden? Fühlen sie sich als Drachenkämpfer, die den Drachen (die Neurose) aus dem Analysanden austreiben wollen? Jedenfalls wird in Falldarstellungen oft beschrieben, wie heroisch Stunden verlaufen, wie wuchtige Affekte

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entstehen, die dann schwer zu meistern sind. Es gibt Blessuren, narzißtische und andere. Der Analytiker muß jenes Trauma erleiden, das der Analysand früher erlitten hat und jetzt auf den Analytiker überträgt. Auch ist aus der Drachologie bekannt, daß anstelle der abgeschlagenen Köpfe immer wieder an unerwarteter Stelle neue Köpfe nachwachsen. Immerhin gibt es keine Symptomverschiebungen: Der Kopf des Drachen ist auch bei Nachwuchs immer derselbe. Das spricht für den Formalismus der Fraktalität. Im nächsten Schritt der Auslegung muß angenommen werden, daß die Forelle eine Transformation des Analytikers ist. Sie schwimmt wachen Auges in ihrem Biotop wie der Analytiker in der Welt seiner Praxis. Sie sucht nach Beute, nach dem zu Deutenden. Sie werden heutzutage in Instituten gezüchtet, nach einheitlichen Maßstäben und viel gedrucktem Futter. Im Unterschied zum Drachen, der faucht und sich manchmal in Feuer und Dämpfe hüllt, ist die Forelle schweigsam. (Biologen würden sagen, das sei eine Laienauffassung, Fische hätten durchaus eine Sprache, zumindest eine nichtverbale.) Gibt es bei den beiden überhaupt ein emotionales Involvement und wie intensiv ist es? Haben die beiden Beziehungsgefühle? Nähe und Distanz sind primäre Prozeduren der Regulierung des emotionalen Involvements. Beide sind je einzeln in einer Containerbeziehung, der Drache lebt gerne in seiner Höhle, der Fisch in seinem Gewässer. Die Beziehung zwischen den beiden enthält kaum Container-Funktionen. Mit dem Beziehungsgefühl ist es so eine Sache. Es ist aber sicher an die Präsenz des Objekts gebunden und eng an Motivationen geknüpft, an das Fressen und Gefressenwerden, an die Paarung, an die Verteidigung des Territoriums. Die Affektsysteme der beiden sind ganz unterschiedlich, das betrifft sowohl kommunikative als auch innere, strukturelle Affekte. Das Dekodieren braucht viel Übung, denn die beiden sind nicht Artgenossen. Der Drache und die Forelle stehen für restringierte Affektsysteme von Analytiker und Analysand. Auch die geschilderte Interaktion kann aufgrund der im Gedicht gesetzten Klammern (nichts ist zufällig) nicht präsentisch, sondern eher als eine potentielle gemeint sein. Durch die Koppelung wird der Elefant »gezeugt«. Ist dies die gewünschte Mikrowelt der Psychoanalyse oder die Split-

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ting-Phantasie, zum Beispiel die Größenphantasie der »frühen Störung«? Dem Elefanten sind keine Attribute verliehen. Wir wissen nicht, ob er furchteinflößend oder gutmütig ist. So sind wohl beide Versionen denkbar. Im ersten Fall würde plausibel, wie viele Phantasien, »Übertragungen« und »Gegenübertragungen« er schlukken kann. Auch Traummikrowelten haben da Platz. Er kann auch Modelle von Drachen und Forellen enthalten, die gegenseitig in den mentalen Welten laufend entstehen. Aber wie kommt der Elefant respektive sein Inhalt in die direkte Beziehungsregulierung, und wie soll man sich eine Veränderung vorstellen? Der EinsichtsElefant geht über in Beziehungswissen. An dieser Stelle kommen doch Zweifel und die alternative Hypothese der Splitting-Phantasie gewinnt an Überzeugung. Ein Elefant erscheint dann als Container unverdauter Fakten, aber nicht von Erinnerungen. Er ist ein Ballon aufgeblasener Phantasien. Es bleibt ein mentaler Nebel über dieser lyrischen Mikrowelt von Jose Angel Valente. In psychoanalytischen Schriften ist die andersartige Interpretation eines bereits interpretierten Fallberichts ein häufiges und lehrreiches Verfahren (vgl. z. B. Kernberg 1998; Bohleber 1998). Könnte es sein, daß die Auslegung des Drachens als Neurose des Analysanden auch schon die Form der Deutung bestimmt hat? »Drache«, als Symbol benützt, ist in unserem Kulturraum eine verschlingende Mutter, der man nicht entrinnen kann. Das stünde nicht im Widerspruch zum bereits Gesagten. Im Kulturbereich des I Ging bedeutet der Drache beweglich-starke, anregende Kraft, Kiän, der Schöpferische. Dieser Drache kann entweder verdeckt sein oder auf dem Felde erscheinen oder am Himmel fliegen. Bei lauter »Neunen« im Zeichen erscheint eine ganze Schar, »ohne Haupt«. Das Starke ist durch die Drachen angedeutet, »ohne Haupt« ist die Milde des Empfangenden. Der Drache ist ein großer Mann, der sich durch seinen Ernst, seine unbedingte Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit auszeichnet. Aber auch hier gibt es Gefahren, Ehrgeiz verdirbt die innere Reinheit. Ist er verdeckt, so ist er noch nicht in dieser Welt, er macht sich keinen Namen. Er wird nicht anerkannt, aber er ist nicht traurig darüber. Hat er Glück, so führt er seine Grundsätze aus, hat er Unglück, so zieht er sich mit ihnen zurück. Es sei nicht weiter gelesen. Wer hätte nicht gerne einen schöpferischen Menschen in Analyse, der sich beharrlich in

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der Analyse »auf dem Feld zeigt« und sich in die Lüfte erhebt? (Er wäre ein Analysand, der eine Analyse gar nicht braucht, diese aber dem Analytiker zuliebe macht.) Das Deutungsmuster ist mit dieser Überlegung gerade noch gerettet. Aber ist nicht vielmehr der Analytiker der Drache und der Analysand die Forelle? Doch aufgepaßt: Fische und Schweine gehören nach dem I Ging zu den dümmsten Tieren und sind schwer beeinflußbar. Analysanden so einzuschätzen, wäre besonders schlimm. Auch dürfte sich das I Ging zumindest in bezug auf Wildschweine gründlich irren. Aber stimmt diese Aussage für die Forellen? Muß die Sache nicht nochmals anders gesehen werden? Könnten Analytiker und Analysand im gleichen Drachen stecken, verdichtet als schöpferisches Prinzip des Kiän? Wird nicht neuerdings (insbesondere in den Theorien der Intersubjektivität) die analytische Beziehung als ein schöpferisches Geschehen aufgefaßt, das Bedeutungen konstruiert und die Koautoren Analytiker und Analysand verändert? Auch Elefanten, Gedichte und theoretische Texte sind Mikrowelten mit multipler Bedeutung. Meine Überlegungen wurden mit einer Frage eröffnet: »What is a Bongaloo, Daddy?« Hier die Antwort, sie war bereits in der Frage eingepackt: »A Bongaloo, Son, said I, Is a tall bag of cheese plus a Chinaman’s Knees and the leg of a nanny Goat’s eye.« (The Bongaloo, Spike Milligan)

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■ Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin

»borderline« im Traumalltag

■ 1. Unsere Arbeit hatte zunächst zum Ziel, Träume von Borderline-Störungen zu untersuchen. Literatur und Sichtung der Träume eigener Therapien bei Borderline-Störungen ergaben in keinerlei Hinsicht ein klares Bild (Abschnitt 2). Die Untersuchung hätte mit diesem Ergebnis enden können, mit dem Vorschlag, es sei zunächst eine systematische und umfassende Sammlung von Träumen durchzuführen. Unser Wissen über Träume im allgemeinen (Moser u. von Zeppelin 1996) und eine erneute Lektüre der Theorie von Green (1986) über die »Desobjektalisierungsfunktion« führten zur Entdeckung von Borderline-Prozessen in den Alltagspassagen des Traumgeschehens, dies unabhängig von der Persönlichkeit und der Diagnose. Kann es also sein, daß die Desobjektalisierung eine Form des mentalen Denkens zur Affektabwehr oder Vermeidung ist, die ubiquitär einer bestimmten Entwicklungsstufe angehört, die im Traum praktiziert, aber auch im Wachzustand bei der Borderline-Störung benutzt wird? Warum aber ist sie in den Träumen von BorderlinePatienten nicht häufiger zu finden? Neigen wir bei einer Hypothese dieser Art dazu, Prinzipien der Regulierungen von Objektbeziehung und Selbstregulierung im Wachzustand und im Traum als gleichartig zu betrachten? Die von Green beschriebene Funktion des Besetzungsentzugs (auch Besetzungsabwehr genannt) führt im Wachzustand und in dessen nachträglicher Verarbeitung zu imponierenden Bildern massiver, von Fall zu Fall unterschiedlicher Störungen. Im Traum hingegen finden sich bei diesen Borderline-Passagen aufgrund des Fehlens des konkret realen Objekts der Beziehung im Vergleich noch elegante, intensive Affekte vermeidende Lösungen.

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Der nun folgende »Werkstattbericht« führt über mehrere Schlaufen in relevante Theorien zu fruchtbaren Hypothesen über das Verhältnis zweier Mikrowelten1 der Traumaktivität allgemein und der Psychologie der Borderline-Störung (die bisher immer als eine »generelle«, d. h. Wachzustand und Traum umfassende und übergreifende Modellvorstellung gesehen wurde).

■ 2. In vielen Arbeiten über Borderline-Störungen finden sich Berichte einzelner Träume (Grinberg 1966, 1997; Oremland 1987; Blechner 1983, 2001; Fonagy 2000). Sie haben zumeist den Charakter von Vignetten, illustrativ für Ereignisse in der Therapie, die affektiv besonders berührend und bedeutungsvoll für den Therapeuten waren. Über die restlichen Träume einer Therapie erfahren wir nichts. Es gibt wenige Arbeiten, die versucht haben, systematischer über mehrere Träume einzelner Fälle zu berichten. Ansatzweise ist dies in der Arbeit von Fonagy (2000) verwirklicht. Samples, die definierten Auswahlkriterien genügen, gibt es hingegen nicht. Psychosennahe Phasen von Borderline-Störungen bringen häufig Träume mit negativen Selbstveränderungen und Untergangsphantasien (Grinberg 1997). Bei allen Arbeiten fällt auf, daß Interpretationen gemäß einer bereits vorbestehenden Theorie formuliert werden. Grinberg zum Beispiel behauptet, diese Patienten seien kaum fähig, zu träumen, und wenn sie es täten, seien es evakuative Träume. Evakuation meint Abfuhr von Angst, die von bedrohlichen internalisierten Objektbeziehungen ausgeht. Deshalb versuche der Träumer auch, nach dem Bericht in der Therapiestunde eine »Reintrojektion« zu vermeiden. Das führe zu Techniken, den Analytiker von der Interpretation abzuhalten. Andere Analytiker berichten von sehr vielen Träumen, ja von einer typischen Traumüberflutung (Segal 1991). Blechner kommt zur Hypothese, Borderline-Persönlichkeiten hätten Träume mit Realitätsnähe. Es 1 Das Konzept parallel funktionierender Mikrowelten wurde in mehreren Arbeiten der Autoren eingeführt (Moser u. von Zeppelin 1996, 2001, u. a.).

»borderline« im Traumalltag

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könnte sein, daß sich das Realitätsbewußtsein in den Traum zurückgezogen hat (vgl. die Formulierung »Die Weisheit hat sich in den Traum zurückgezogen«, Moser 2003). Moser wie auch Fonagy (2000) nehmen an, daß eine wenn auch kindliche implizite Reflexivität bei den Borderline-Patienten im Traumprozeß vorhanden ist. Das ist aber nicht spezifisch für Borderline-Fälle, denn Träume enthalten immer implizite Reflexionen über den Zustand, in dem sich der Träumer bezüglich der aktivierten Probleme befindet (Moser u. von Zeppelin 1996; Moser 2003). Andere Autoren berichten über Häufungen von nichtmenschlichen Objekten ohne Intentionalität, von bizarren Bildern, die von einer mangelnden Fähigkeit zur Symbolisierung zeugen sollen. Diesem Befund widersprechen viele gegenteilige Aussagen. Träume sind auch bei Borderline-Persönlichkeiten hochgradig individuell und stark vom augenblicklichen Zustand der Beziehung Analysand-Analytiker abhängig. Fonagy sucht in den Träumen Belege für seine spezifische Theorie der Borderline-Störung, die annimmt, daß eine dysfunktionale Realität des mentalen Funktionierens vorliegt. Zu beachten ist der massive Konkretismus. Träume haben allein dadurch, daß sie geträumt werden, »realen« Charakter. Der Traum stehe nicht für etwas anderes (vgl. ausführlicher Fonagy 2000, S. 78f.). Was einigermaßen feststeht, ist die Einstellung zu den Träumen. Der Traum bleibt ein Bild. Was in einem Bild ist, kann vorübergehend von Affekten abgeschottet werden. Der »Bild-Traum« hat nur oberflächlich mit der gelebten, konfliktuellen Wirklichkeit zu tun. In einem gewissen Sinne wird er als »wertlos« erklärt. Aus diesem Grunde werden Träume darum oft zurückbehalten und leicht vergessen. Die Affektaktualisierung im interaktiven Teil des Traumes ist restringiert, fehlt aber nicht ganz. Auch der Analytiker hat Mühe, den roten Faden des Träumers zu finden. Die »affektiven Widerhaken« (Meltzer 1984) fehlen. Die Abschottung der Mikrowelt Traum durch den Entzug von Bedeutung und der affektiven Lebendigkeit sind nur ein Aspekt der ausgesprochenen Neigung, Erlebniswelten auch im Wachleben voneinander zu trennen und Verbindungen, die beispielsweise in der Analyse herzustellen versucht werden, zu zerstören. Werden Träume als ein Teil der mentalen Innenwelt akzeptiert, dann würden Wege zu trau-

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matischen Erinnerungen geöffnet, die zu unerträglichen Affekten führen könnten. Wir könnten diesen kurzen Bericht mit Träumen unserer Borderline-Therapien anreichern. Wir würden damit ziemlich sicher in eine voreilige Generalisierung verfallen. Das ist in auffällig vielen psychoanalytischen Forschungsberichten mit klinischen Daten üblich. Die nun folgenden Abschnitte sind gleichsam Stationen des Reflektierens oder Schlaufen, die notwendiges Wissen einfangen und heranführen. Das Vorgehen mag gelegentlich sprunghaft erscheinen. Das Verfahren bildet vielleicht ein Charakteristikum des Gegenstands »Traum« ab, dessen innere Logik des Prozesses von Situation zu Situation über Transformationen führt. Die Sprunghaftigkeit verschwindet für den Zuhörer/Leser, sobald der innere Faden affektiv und kognitiv »erwischt« worden ist. Der Einstieg ist die Funktion der Objektalisierung und der Desobjektalisierung. Der Ausstieg führt über die Konsequenzen für das Verständnis der Traumprozesse einerseits, der Borderline-Störung andererseits.

■ 3. Ein zentrales Merkmal der Borderline-Störung ist nach Green (1986) die Desobjektalisierung. Sie beruht seiner Ansicht nach auf einem Besetzungsabzug vom »Objekt«. Ist das äußere oder ein inneres Objekt (als eine Form einer Repräsentanz) gemeint? Die Theorie ist in diesem Bereich nicht immer präzise. Wird ein »inneres Objekt« in der Weise manipuliert, daß nur wenige (im Extremfall keine) Aspekte für die Herstellung einer Beziehung aus dem inneren Repräsentanzenraum zum äußeren Objekt noch zugelassen sind? Ist es die Beziehung zu einem »äußeren« Objekt, die teilweise zerstört worden ist? Soll das als Folge aggressiver Impulse, die der Verbindung von Selbst und Objekt gelten, konzipiert werden? (Angriff auf Verbindungen: Bion 1959). Wird jeweils die gewünschte Besetzung abgewehrt? Ist die Besetzung in einer Hic-etnunc-Situation der aktuellen Beziehung zu einem Objekt gemeint oder eine generelle Begrenzung der Besetzung im Sinne der Set-

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zung einer Möglichkeit, die erträglich ist? Soll diese Besetzungsmanipulation total (quasi energetisch) verstanden werden oder qualitativ unterschiedliche Aspekte (Attribute) des inneren Objekts betreffen? Um nicht in eine Diskussion der Theorien zu geraten, die dann zusätzlich historisch betrachtet werden müßten, versuchen wir die Objektalisierungsfunktion neu zu beschreiben, ohne das Greensche »Kernwissen« aufzugeben.2 Neu wird vor allem sein, daß wir das Funktionieren dieser Objektalisierung in den Bereichen der interaktiven Beziehungssituation mit einem konkret realen Objekt einerseits und dem Objekt im Traum andererseits beschreiben und vergleichen. Wir bezeichnen die zwei Bereiche als zwei verschiedene Mikrowelten.

■ 4. Die Funktion der Objektalisierung beschreibt die Aktualisierung (Realisierung) einer Repräsentanz in einer Mikrowelt von Beziehungen. Sie stiftet eine Beziehung, die gewünscht wird. Dies auf zwei Ebenen: als eine Objektbeziehung, die Träger einer Wunscherfüllung sein könnte (1), und als eine Objektbeziehung, die Sicherheit in der Beziehung verspricht und ein positives Beziehungsgefühl vermittelt (2). Die Objektalisierung ist also ein Beziehungsgenerierungsprozeß, der aus »inneren Objekten« »äußere« schafft. In der Mikrowelt Traum wird die Realbeziehung zu einem Objekt simuliert (aber durchaus real erlebt), in der Mikrowelt Interaktivität (in gewissen Theorien »Intersubjektivität« genannt) wird sie »real« in eine Beziehung umgesetzt. Sie muß dann mit der Struktur und dem Beziehungswissen des anderen Subjekts koordiniert werden. Mit anderen Worten, die Partner müssen eine gemeinsame Regulierung finden, auf die hin die eigenen Regulierungsgewohnheiten abgeändert werden. Damit die Objektalisierung in Gang kommt, braucht es die Aktivierung bereits bestehender Repräsentanzen. Wie in unserer 2 Es ist nicht beabsichtigt, die Theorie von Green in seinen vielschichtigen Dimensionen darzustellen, noch sie weiter zu entwickeln.

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Traumtheorie dargelegt, folgen wir einem weiterentwickelten Modell von Stern (1985) mit den drei Typen: RIG (Representation, Interaction, Generalized), Selbstmodell und Objektmodell. Alle sind in komplexen Netzwerken verknüpft. Die Verbindungen werden im Laufe der Entwicklung valorisiert und differenziert. Ein solches Netzwerk muß aktiviert werden (was einer moderneren Formulierung von Besetzung gleichkommt). Diese Aktivierung kann zunächst zu »undynamischen« Bildern führen, (ob sie als innere Bilder auch erlebbar sind, muß offen gelassen werden). Soll es zu einer Beziehung kommen, braucht es einen zweiten Schritt: jenen der Instantiierung. Damit ist gemeint, daß die aktivierte Konstellation auch eine regulierende Funktion bekommt und zur Gestaltung der Beziehung, sei es real, sei es imaginär im Traum, benützt wird. Aktivierung wie Instantiierung können gestört sein, wenn diese Prozesse Ängste auslösen. Unter gewissen Bedingungen werden sie als eine Bedrohung des Selbst erlebt. Eine Aktualisierung geschieht dann nur in eingeschränktem Sinne. Es kann sein, daß parallel dazu das Objekt (respektive die gesamte Beziehung) idealisiert wird. Dann läuft im Fall einer realen Beziehung alles über die Phantasie ab, die gerade noch durch eine lockere Verknüpfung mit einem gewählten Objekt zusammenhängen mag. Die Wechselseitigkeit ist ausgeklammert, die Idealisierung zeigt sich noch im phantasierten Wunsch, bedingungslos geliebt und im eigenen Verlangen narzißtisch gewürdigt zu werden.

■ 5. Chronifizierte Desobjektalisierungen sind im Rahmen einer Symptomatik von Borderline-Störungen oft beschrieben worden (Bollas 1995, 1996; Green 1986; Moser 2001 u. a.). Interpersonale Regulierungen bleiben in diesen Fällen auf eher assimilatorischen Stufen der Beziehung stehen. Beziehungsregulierungen differenzieren und entwickeln sich nicht. Das Beziehungsgefühl (das Gefühl, in einer Beziehung mit dem Objekt zu sein) bleibt an die Präsenz des Objekts gebunden, verliert sich aber bei dessen Abwesenheit. An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß ein konkretes Objekt

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gemäß einzelner Attribute gewählt wird, die dem Subjekt unabdingbar erscheinen. Es sind die Funktionen des Objekts, die wichtig sind. Schon Odier (1948) hat in seiner Arbeit über die Verlassenheitsneurose (»nevrose d’abandon«), die zweifelsohne zu den frühen Störungen gerechnet werden muß, angenommen, daß nicht der Verlust des realen Objekts gefürchtet werde, sondern der Verlust der Verbindung zu ihm. Was befürchtet wird, was den Kern der Angst ausmacht, seien die Konsequenzen des Verlusts: der Abbau der Sicherheit und die Devalorisierung des Subjekts. Das Objekt ist austauschbar, sofern die Illusion besteht, ein neues Objekt erfülle die Funktionen, die es für das Subjekt ausüben sollte, viel besser. Es mag dem Außenstehenden erscheinen, Objekte würden bei Borderline-Patienten durchaus gewechselt. Das stimmt tatsächlich für den Bereich nicht wesentlicher Eigenschaften eines Objekts. Das mit einem neu gefundenen Objekt wieder errichtete präsentische Beziehungsgefühl hat erneut illusorischen Charakter. Das Objekt ist nicht das »Primärobjekt«, sondern Ersatz als Träger von dessen Funktionen. Green hat Rückwirkungen auf das »Selbst, angenommen. Es versiegen jene Quellen des Selbstgefühls, die aus objektalen wie aus narzißtischen Objektbeziehungen stammen. Ein Gefühl der Kompetenz in der Beziehungsregulierung kann sich nur kompensatorisch und irreal entwickeln. In vielen Fällen wird das Selbst idealisiert (Größenideen). In anderen Fällen ist die Kohärenz und die Reparaturfähigkeit der Selbstregulierung gestört. Das Selbst wird dann (um in der Sprache des Beziehungsmodells zu reden) »entleert«.3 Viele dieser Störungen werden im Syndrom der Identitätsdiffusion zusammengefaßt (s. z. B. Clarkin, Yeomans u. Kernberg 1999). Die Bezeichnung erscheint uns nicht sehr glücklich. Gemeint ist das Fehlen eines integrierten Konzepts des Selbst und wichtiger Bezugspersonen. Der Sache näher kommt Stern (1985), wenn er eine Störung der Selbstempfindung (sense of self) annimmt, definiert als subjektive Realität, die uns meldet, wie wir uns in Bezie3 Ob die Entleerung des Selbst oder die Idealisierung des Selbst sekundäre Prozesse sind oder ob es direkte Manipulationen des Selbstgefühls gibt, wie Moser, von Zeppelin u. Schneider (1991) angenommen haben, sei offen gelassen.

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hung zu anderen erleben (oder auch uns selbst in der Situation des Alleinseins). Diese Störungen sind aber nicht immer da, sondern nur dann, wenn in einer Beziehung zu große Affektintensität des Beziehungs- oder Bedürfniswunsches entsteht. Der Eindruck einer »Diffusion« mag dadurch hervorgerufen werden, daß eine Borderline-Persönlichkeit immer nur situativ ein Selbstmodell für eine spezifische Mikrowelt entwirft. Sie ist deshalb in jeder Situation nicht wirklich eine andere Person, hingegen ein anderes Selbst. Und ebenso sind auch die Objekte andere, nur für diese Situation angesiedelte. Ein Reflexivitätsdefizit macht es schwer, zeitlos und situationsübergreifend immer dasselbe Selbst zu sein. (Ein unitäres Selbst gibt es nur in Phantasien über sich selbst, die unangenehme Selbstgefühle abzuwehren haben.) Der Therapeut erlebt das sehr direkt in den sprunghaft wechselnden, unterschiedlichen Rollen, in die er gerät. »Statt daß er/sie ersehnt wird als allerdings unerreichbarer Vater oder nährende Mutter, kann er/ sie eine Leiche, eine übernatürliche Kraft oder ein unbelebter Behälter für unerwünschte Affekte und Phantasien sein. Er/Sie kann auch eher als Teil des Patienten oder sogar als anatomischer Teil gesehen werden denn als gesonderte Identität« (Minde u. Frayn 1992; Übers. von U. M. u. I. v. Z.). Die Symptome streuen sehr weit, immer aber ist ein restliches, kohärentes Alltagsselbst noch vorhanden. Man kann es in Situationen mit geringer Wunsch- und Beziehungsanspruchsbelastung finden.

■ 6. Ein weiterer Ansatz befaßt sich mit der »theory of mind«, die Borderline-Patienten eigen ist. Die Mentalisierung ist eine essentielle Komponente der Affekt-Regulierung (Fonagy 1991; Fonagy u. Higgitt 1990; Moser u. von Zeppelin 1996b). Die Fähigkeit, sich vorzustellen, daß andere Personen über eine andere Konstruktion von Wirklichkeit verfügen und damit auch ein anderes »Bild« von Objekten haben können, als es im eigenen Selbstmodell verankert ist, bleibt schwach entwickelt. Es können deshalb auch keine vorläufigen Hypothesen entworfen werden bezüglich andersartigen Ver-

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haltens andersartiger Personen. Borderline-Patienten haben eine »theory of mind« auf dem Niveau der Situationstheorie, die noch keine explizite Reflexivität über eine Objektbeziehung kennt. Diese Annahmen beruhen zur Hauptsache auf den Theorien von Wellman (1990) und Perner (1991). Beide unterscheiden zwei Stufen der Repräsentation: zunächst die Stufe der Situationstheorie. Sie enthält ein einziges Modell eines Ausschnitts der realen Welt als äquivalente Abbildung (»stand in«). Dann folgt die Stufe der repräsentationalen Theorie (»representational theory of mind«), bei Perner »Metarepräsentation« genannt. Auf dieser Stufe sind multiple Modelle über Situationen und andere Personen sowie über deren Innenwelten möglich. In der Situationstheorie werden Situationen direkt abgebildet, als eine Karte der Orientierung, in der die bereits erlebten und deshalb wieder erwarteten physischen und psychischen Gefahren nachgezeichnet sind. Die Situation wird aufgrund von einfachen Wahrnehmungseinheiten beurteilt und affektiv beantwortet. Das alte Konzept der »Anzeichen«, »indices«, von Piaget (1959) kann hier gut angeführt werden. Ein »Anzeichen« ist ein Teil des Verhaltens selbst, eine Anzeige für etwas, das geschehen wird oder in der Form schon einmal geschehen ist. Es hat noch keine intentionale Bedeutung. Ferner: Die Kreativität der Selbstveränderung und die Differenzierung der Objektwelt ist zurückgeblieben (Buchheim, Strauss u. Kächele 2002). Da Objekte dem Selbst gleich betrachtet werden, führen Wechselwirkungen der Objektbeziehung oft zur Resonanz als Regulierungsprinzip (was sich in Imitierungen und Parallelisierungen zeigt). Daß das Modell des psychischen Geschehens nicht erweitert werden kann, weil jedes Erfahrungslernen zu panikartigen Zuständen führt, wurde bereits von Bion erkannt. Die generelle Abwehrstrategie geht dahin, nichts Neues zu entdekken, sondern Angriffe auf ihre Omnipotenz – und alle Versagungen sind für diese Personen Angriffe – abzuwehren. Das Lernen (insbesondere in der Therapie) führt zur Entwertung und Zerstörung möglicher Ergebnisse. Es ist nur darauf angelegt, einen inneren Status quo aufrechtzuerhalten. Porret (2000) beschreibt das Faktum der Unveränderbarkeit bei Borderline-Störung als einen Versuch, objektive und subjektive Zeit aufzuheben (ohne Störung des Zeitbewußtseins). Die Zeit wird angehalten, diese Personen le-

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ben wie ein Phantom. Die Zeitlosigkeit vermeidet präventiv die Konsequenzen von Traumata, von psychischem Schmerz, von Attacken der automatischen Angst. »Nichts ist geschehen und nichts wird geschehen.«

■ 7. Wir sind gewohnt, die Symptome einer Borderline-Störung im Wacherleben und Wachverhalten zu lokalisieren. Was in dieser Welt als pathologisch anmutet, gehört zu ganz natürlichen – auch von nicht gestörten Menschen produzierten – Vorgängen des Traumalltags. Wir meinen damit jenen Alltag, der für eine Mikrowelt Traum typisch ist (Moser 2001; Moser u. von Zeppelin 1996b). Da in dieser Theorie ein Traum als eine Sequenz von Situationen betrachtet wird, sind die nachfolgenden Ausführungen immer auf eine Situation bezogen beziehungsweise auf Transformationen von Elementen von einer Situation auf die nächste. Auch wird zwischen zwei Regulierungen unterschieden, die gekoppelt sind: Es gibt eine Regulierung des Positionierens von Personen und Dingen, die einem Sicherheitsprinzip folgt, und eine zweite, die auf den möglichen Interaktionen dieser positionierten Elemente beruht. Zunächst ein Traum eines Mannes: »Ich komme in einen merkwürdigen Raum. Da sitzen am Boden viele Leute. Ein Mann steht da und betrachtet die Leute. Es könnte vielleicht mein Onkel sein. Der Boden ist schmutzig, voller Dreck.«

Dieser Traum zeigt ausgesprochene Desobjektalisierungserscheinungen. Die Person-Objekte sind anonymisiert. Der »Mann« hat keine Attribute, jedoch einen gewissen assoziativen Bezug zu einem »Onkel«, der aber keine direkte Rolle im präsentischen Umfeld spielt. »Viele Leute« bringt eine Anonymisierung in Form von einer Mengenbezeichnung. (Eine alte Interpretationsregel lautet: Hinter einer unbekannten Menge »steckt« eine bestimmte, emotional sehr relevante Person, z. B. der Analytiker.) Ein nichtanimiertes Objekt, der »Boden«, bringt ein Attribut: »schmutzig«. Ein Boden hat, gemäß verbreiteter Annahme, keine Innenwelt und

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keine Affekte. Die einzige Interaktion, diejenige zwischen »Boden« und »Leute«, ist physikalisch und demzufolge nicht durch Affekte reguliert. »Viele Leute« sind parallel geschaltete kognitive Elemente. Sie tun alle dasselbe: »am Boden sitzen«. Die Parallelität führt nicht zu einer Interaktion der Resonanz, in der beide Objekte dasselbe tun und/oder dasselbe fühlen und erleben. Haben konkret anwesende Menschen Attribute, so erhöht das deren Individualität (»eine Frau, sie ist blond und sie hat einen stechenden Blick«). Auch eine Benennung (»es ist ein Gemüsehändler«, »es ist meine Freundin Heidi«) hat denselben Effekt. Die Aufmerksamkeit drückt sich in einer komplexeren Wahrnehmung aus. Eine interaktive Wechselwirkung wäre als Folge ebenfalls komplexer und für eine differenziertere Regulierung der Beziehung notwendig. Es gibt eine ganze Skala von Anonymisierungen mit unterschiedlicher Intensität. »Multiples« zum Beispiel, die statisch positioniert werden, bedürfen keiner individualisierten Beziehungsregulierung (vgl. die Zusammenstellung der Code-Kategorien in Moser u. von Zeppelin 1996b). Anonymisierungen von Personen sind somit Restriktionen des mentalen Bildes über eine Personenbeziehung. Die Objektalisierung generiert zwar ein Objekt oder Objekte, läßt deren Eigenheiten aber offen. Wie in einer Desobjektalisierung im Wachzustand kann das Objekt aber dennoch physikalisch präsent sein. Die Anonymisierung kann durch eine Deammierung verstärkt werden. (»auf einer Wiese stehen leblose Gestalten aus Stein verstreut«). Sie kann auch direkt an deanimierten Objekten auftreten (»eine Steinwüste, alles Geröll«). Gegenstände haben keine Innenwelt und keine Gefühle. Sie kommunizieren auch nicht. Was möglich ist, liegt im Bereich physikalischer »Kommunikation« (»ein wuchtiger Stein strahlt Hitze aus«). Attribute bleiben kognitiv (»wuchtig«, »heiß«), sind aber ohne Gefühlsgehalt. Häufig sind es magische Attribute, die ein Ding dann doch beleben. Kommt es zu Interaktionen mit dem Subjekt des Traums, so sind diese besonders auffällig, weil die Wechselwirkung asymmetrisch ist. Die Anonymisierungen in Träumen haben eine präventive Funktion, insofern sie Affekte aus der Beziehung fernhalten. Genauer gesagt: Es kommt nicht zu einer Affektaktualisierung der Beziehung. Dem entsprechen in der Wachwelt der Borderline-Pa-

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tienten »objektlose« Beziehungen, die Affekte nur abstrakt zulassen, im Sinne einer zukünftig gewünschten Form. Das erinnert an die Theorie von Potamianou (1997): »Die Besetzung des Prozesses des Hoffens ersetzt das Objekt [die Generierung einer Objektbeziehung]. Dieses Hoffen ist nicht länger Hoffen auf etwas, es kennt seine Objekte nicht mehr. Die Patienten hoffen weiterhin, ohne zu wissen, worauf sie hoffen« (S. 86; Übers. von U. M. u. I. v. Z.).

Eine weitere Folge ist nach Bollas (1996), daß Wünsche nicht als solche erkannt, geschweige denn einem Partner kommuniziert werden können. (Wünsche werden als Anwesenheit eines frustrierenden, bösen Objekts erlebt, das wie der Wunsch beseitigt werden muß.) In diesen Präventivstrategien werden im Traum angstauslösende Interaktionen von einem interpersonalen Feld (French 1958) ferngehalten beziehungsweise höchstens so dargestellt, daß sie Potentialitäten bleiben. Die Wechselwirkungen beschränken sich, wie gesagt, auf räumliche Distanzen oder räumliche Konfigurationen, die keine Unsicherheit auslösen. Der Träumer (in der Folge auch Subjektprozessor oder Selbstmodell genannt) hat ein intaktes Selbstgefühl. Er ist so, wie er ist, jedoch ohne nähere Ausdifferenzierung. Der Preis wird durch die Vermeidung einer Affektaktualisierung in der Objektbeziehung bezahlt. Zum Vergleich jetzt ein Traum, der dem bereits beschriebenen sehr ähnlich ist, sich jedoch in bezug auf die praktizierte Affektabwehr unterscheidet. Er stammt von einem 27jährigen BorderlinePatienten (Fonagy 2000, S. 82)4: »Ich bin in einer Kunstgalerie. Ich habe irgendwie das Gefühl (vage), daß der Analytiker auch da ist. Die Leute, die ich kenne, hängen hier als ausgestellte Photographien.«

Der Subjektprozessor positioniert sich in eine Kunstgalerie. Vage, heißt es, hat er das Gefühl, der Analytiker sei auch da. Dessen Präsenz wird relativiert. Ist er ein »paralleler« Besucher? Ist die (ja nicht voll präsente) Relation eine resonante? Der Träumer betrachtet ausgestellte Photographien von Leuten, die er kennt. Zwei 4 Der Traumtext ist von uns in die Gegenwartsform transformiert worden (gemäß Anleitung, Manual A, S. 161-164, Moser u. von Zeppelin 1996b).

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Fakten sind hier kennzeichnend: 1) Die Leute sind nicht lebendig anwesend, sondern abgebildet, und 2) die Beziehung zu diesen deanimierten Leuten (gleichzeitig multipel anonymisiert, jedoch nicht ganz, da sie assoziativ mit verschiedenartigen Leuten verbunden sind) ist diejenige einer Zuschauerkonstellation. Diese gehört zu der Gruppe der Displacement-Relationen (Verschiebungsrelationen). In dieser Konstellation bleibt der Subjektprozessor außerhalb des Geschehens. Er kreiert aber eine Welt von Relationen, die er beobachtet (ein sekundäres interpersonales Feld). Mit anderen Worten: Es werden Beziehungen eingeführt, der Verlauf der Empathie mit den beobachteten Personen wird aber durch die Deanimierung (Photos!) gebremst.5 Photos können nicht Träger präsentisch-konkreter Interaktionen untereinander und mit dem Träumer sein. Die Gefahr, über die Empathie in das Geschehen affektiv einbezogen zu werden, ist auch hier abgewehrt (French 1958). Die Objekte selbst, die Photographien der Ausstellung sind aber Bestandteile eines mentalen Modells der Beziehung, wenn auch eines ohne große Differenzierung. Der vage anwesende Analytiker hätte beinahe zu einer Beziehungsdarstellung geführt (ein Ansatz zu einer Übertragung). Das ist zu gefährlich. Der Analytiker als Objekt fällt deshalb aus dem Interaktionsfeld des Traums und wird ersetzt durch die Photographien von Leuten. Der Traumalltag ist in diesem Fall schon nicht mehr »rein borderline«, sondern nähert sich Affektabwehren an, wie sie bei neurotischen Patienten im Wachzustand üblich sind. Die weiteren Daten, die Fonagy über diesen Träumer berichtet, lassen übrigens keinen Zweifel zu, daß es sich um einen Borderline-Patienten handelt. Vergleicht man die beiden Träume, so zeigt der erste typische Anonymisierungen, der zweite hingegen Deanimierungen. Der erste Traum ist ein Beispiel für die Desobjektalisierung, der zweite für ein bei neurotischen Verläufen häufiges Displacement. Der erste Traum zeigt keine Interaktivitäten, der zweite (wenn auch minim) Ansätze dazu. Die deanimierten Personen sind bestimmte Personen, ebenso der assoziativ eingeführte 5 Erinnerungen an photographierte Leute fehlen in Träumen. Die Deanimierung ist ja gerade ein Mittel, Erinnerungen zu verhindern, die Affekte auslösen würden.

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Analytiker. Der Traum des Patienten zeigt keine Borderline-Phänomene. Wie ist dies zu interpretieren? Sind solche Träume prognostisch ein Indiz für den guten Verlauf einer Therapie? Sind sie bereits ein Zeichen beginnender Neurotisierung? Diese Fragen können zur Zeit nur soweit beantwortet werden, als sich die beiden Träume bezüglich der Affektabwehr unterscheiden: die erste ist objektbezogen, die zweite relationsbezogen, das heißt an ein versuchtes emotionales Involvement einer Beziehung geknüpft. Der Verlauf von Borderline-Therapien zeigt bekanntermaßen Phasen von Stunden, die den Anschein erwecken, es sei gelungen, im Analysanden eine reifere, quasi neurotische Beziehung herzustellen, die zumindest auf der Stufe der »repräsentativen Theorie« verläuft. Der Analytiker verfällt in den Glauben, der Analysand verstünde plötzlich Trauminterpretationen. Das endet fast immer in Rückfällen. Es kann durchaus sein, daß das Auftreten einer reiferen Affektabwehr, die relationsbezogen ist, in ihrer Bedeutung und Wirksamkeit zeitlich beschränkt bleibt.

■ 8. Im »allgemeinen borderline«-Traumalltag werden die präventiven Strategien in späteren Situationen des Traums verlassen. Mehrere Faktoren sind dabei im Spiel: Ein Problem wird im Positionsfeld nicht gelöst, denn Potentialitäten sind keine Wunscherfüllung, und der Raum gewünschter und möglicher Bedingungen der Subjekt-Objekt-Beziehung wird nicht verändert, weder im positiven noch im negativen Sinn (was in alter Terminologie eine intensivere und strukturreichere aktuelle Besetzung in einer neuen Situation heißen würde: Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Es muß zu neuen Objektalisierungen und Subjektalisierungen kommen. Welche Mittel hat das Traumdenken, die »borderline«-Prozeduren zu verlassen? Die Traumsituation wird abgebrochen. Das Interruptprinzip besagt, daß aufgrund von Rückmeldungen über die erlebte und positionierte Situation ein neues Positionsfeld gesetzt wird. Es ermöglicht andere Interaktionen, Affekte und Erlebnisse. Mit anderen Worten, es kommt zur Transformation einer Situation in ei-

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ne nächste. Wie diese Transformationen im Detail vor sich gehen, sei hier nicht ausgeführt. Die Theorie von Moser u. von Zeppelin (1996b) bietet ein Modell an, das Rückkoppelungen aus einem Interaktionsfeld in ein Sicherheitsfeld postuliert, wobei ein gesetztes Sicherheitsfeld (Positionsfeld genannt) wiederum unter neuen Beschränkungen ein neues Interaktionsfeld ermöglicht.6 Wir befinden uns jetzt in einer Situation des Traums, die durch Einführung von Interaktionen gekennzeichnet ist. Der Träumer hat sich vermehrt involviert und ist auf eine Veränderung (nicht auf eine Stabilisierung) einer Situation bedacht. Der Träumer führt zum Beispiel neue Objekte ein, mit denen auch eine Aktualisierung von Affekten in dieser Beziehung zum Objekt gegeben ist (neue Objektalisierungen). Diese Objekte sind nicht mehr anonym (es gibt diesen Fall der Beibehaltung der Anonymisierung auch), sondern individualisiert. Anonymisierungen der vorangegangenen Situation sind in »personalisierte« Objekte übergeführt worden. Ein Interrupt kann auch eine einschränkende Transformation zur nächsten Situation erzeugen. Dies wird dann der Fall sein, wenn negative Affekte (im Traum) entstanden sind, die die Sicherheit des Subjektprozessors in der Mikrowelt bedrohen. Diese Gruppe von negativen, einschränkenden Transformationen bilden eine zweite Gruppe der »alltags-borderline«-Prozeduren: die Abwehren (wiederum in alter Terminologie: Besetzungsabwehren, s. Green 1986; Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). In den letztgenannten Arbeiten werden diese Einschränkungen »mögliche Besetzungen« genannt. Der Interrupt kann so total sein, daß der Traum gesamthaft abgebrochen wird (Aufwachen). Die Mikrowelt wird gelöscht. Anstelle dessen kann sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Affekt konzentrieren, der durch dieses Ereignis ausgelöst wurde.7 6 Die genauen Bezeichnungen sind Sicherheits- und Involvementsystem. Die Wechselwirkungen der beiden Regulierungen sind kybernetisch formuliert. 7 In der Affektpsychologie wird auf die Ungelöstheit der Abfolge der Geschehnisse hingewiesen: Ist es die gesteigerte Affektivität, die den Abbruch erzeugt, oder ist die gesteigerte Affektivität nachträglich einer Verschiebung der Besetzung vom bedrohlichen Ereignis auf den dadurch ausgelösten Affekt zuzuschreiben?

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Das Phänomen heißt »explizite Affekt Reaktion« (z. B. nachträgliche Realisierung eines Panikzustandes). Bei Beschreibungen der Symptomatik von Borderline-Fällen wird auf parallele Ereignisse hingewiesen: das Gefühl des Chaos, des totalen Aufgewühltseins steht anstelle der Mutter [des Objekts] (Bollas 1996); Gefühle der »leeren« Hoffnung bei völliger Ohnmacht (Potamianou 1997), der Panik (Green 1986). Freilich werden in diesen Theorien die expliziten Gefühle mehr auf den Zustand des Selbstgefühls bezogen und nicht auf den Zustand der Situation, die vermieden werden möchte. Situationsgefühle und Selbstgefühle sind aber in einer Selbstorganisation, auf der Stufe der Situationstheorie (Moser u. von Zeppelin 1996a), nicht trennbar. Darüber später. Das Löschen der Mikrowelt gleicht im Wachzustand des Borderline-Patienten dem Verlassen des Feldes unter heftigen Affektentwicklungen. Der Patient läuft mitten in der Therapiestunde davon, oder er kommt erst gar nicht. Kann er der Therapiesitzung nicht entrinnen, kommt es zum Beispiel zur Kokonisierung (Modell 1984) und/oder zu Reaktionen des Negativismus (s. dazu Greens Unterscheidung von aktivem und passivem Negativismus [1986]). Im ersten Fall wird die Aktivität kommunikativ unterbunden. »Ich kann nichts von dem hören, was Sie sagen.« Im zweiten Fall wird das Zuhören gestoppt. »Von einem bestimmten Punkt an habe ich aufgehört, Ihnen zuzuhören.« Jetzt sind wir in die Beschreibung von Prozeduren geraten, die im Traumalltag nicht vorkommen, dies deshalb, weil sie auf eine Situation mit einem konkret realen Objekt bezogen sind, im Traum hingegen kann ein Objekt in der Transformation fallengelassen werden. Dann sind auch potentielle Interaktionen mit diesem Objekt nicht mehr möglich, und explizite Affekte werden nicht auftreten. Das für Wunscherfüllung und Sicherheitsgefühl relevante Objekt verschwindet aber nicht völlig. Es wird vielmehr umgewandelt, im einen Fall in ein Personobjekt mit verstärkter Anonymisierung (im Vergleich zu seiner Präsenz in der vorangegangenen Situation des Traums), im anderen Fall in ein deanimiertes Element, zum Beispiel in eine Traumkulisse (»Ich laufe durch ein breites, felsiges Tal«). Dieses Element enthält, in die Kulisse unerkannt eingebaut, das verschwundene Objekt respektive jene affektiv wichtigen Attribute, die zum früheren Konflikt mit

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diesem Objekt beigetragen haben mögen. Auch die Borderline-Patienten verlangen à fond die ständige, konkrete Präsenz des Objekts, sei es des Therapeuten, sei es letztlich des »Primärobjekts«, der Mutter. Angst vor dem Alleinsein wird ja auch als primärer Affekt bei Borderline-Patienten angenommen. Auch die Wechselwirkung kann von einer Situation zur andern transformiert werden. Eine affektiv getönte Interaktion (»mein Bruder schießt auf eine Frau«, »sie blickt mich liebevoll aufreizend an«), kann durch eine physikalische ersetzt werden (»aus Versehen stoße ich mich an der Ecke der Analysencouch«). In diesem Beispiel ist deutlich zu sehen, wie eine Situation entaffektualisiert und mental vereinfacht wird (inklusive der Desobjektalisierung). Die Regulierung der Beziehung zwischen Subjektprozessor und Couch ist einfacher geworden. Es ist nachzutragen, daß Transformationen vermieden werden können, wenn zu Beginn des Traums Figuren des Alltagslebens (Familienmitglieder, Spielkameraden, Freunde, Nachbarn, Haustiere) positioniert werden. Das tun zum Beispiel Kinder vom fünften bis zum neunten Lebensjahr (Foulkes 1982, 1999; Strauch u. Meier 1992). Diese Objekte sind »bekannt«, das heißt, es hat sich mit ihnen ein Setting von erwarteten Reaktionen und Interaktionen herausgebildet, die sich wiederholen. Die Sicherheit bleibt gewährt durch das Ausbleiben von noch nicht bekannten Interaktionssituationen, die Überraschung, Perplexität, Konfusion, Mißtrauen und Panik erzeugen würden (Searles 1952). Man muß auch daran erinnern, daß Borderline-Patienten in nicht emotional involvierten Objektbeziehungen keineswegs die typischen Borderline-Symptome zeigen, insbesondere wenn Objekte und Interaktionen einer Situation bekannt sind und Regulierungsprozeduren bereits vorliegen. Die Motivation, diesen Zustand herzustellen, erzeugt einen der hartnäckigsten, gegen jede Veränderung gerichteten Widerstand in der Psychotherapie.

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■ 9. Wir haben die Hypothese aufgestellt, daß »borderline«-Prozeduren zur Alltagspraxis aller Träume gehören. In bezug auf die Borderline-Störungen muß also erwartet werden, daß die Besonderheiten nur im Wachzustand, in den Regulierungen konkret realer Objektbeziehungen und ihren Rückwirkungen auf die Selbststruktur zu finden sind. Was sind diese Besonderheiten? Die Fähigkeit, die anonymisierten, manchmal zusätzlich deanimierten Objekte in mit Attributen angereicherte Objekte in einem Interaktionsfeld des Traums zu transformieren, erlaubt es dem Träumer, die »borderline«-Prozeduren zwar zu benützen, teils präventiv, teils in direkter Abwehr der Besetzung, dann aber doch die kreativen Möglichkeiten der Transformation auszuprobieren. Das führt (via Rückmeldungen) zu einer Ausweitung der Sicherheitszone. Einschränkungen werden durchaus praktiziert, aber nicht definitiv als absolute Begrenzungen gesetzt. Das gilt natürlich nur für den konkret-sensuellen Kern des Traums ohne Denkprozesse und Verbalisierungen. Das Geschehen folgt einer affektiv gesteuerten Situationslogik, die durch Interrupts immer wieder neue Situationen mit veränderten Bedingungen des Positionierens und der Interaktion erzeugt. Die Beweglichkeit in der Mikrowelt Traum wird somit zentral durch die Abwesenheit konkret realer Objekte begründet. Eine Objektalisierung und auch ihr Abbau können in der Mikrowelt Traum leichter praktiziert werden. Ein konkret reales Objekt zwingt (abhängig von der Intensität des emotionalen Involvement) das Subjekt zu einer gemeinsamen Regulierung der Beziehung, die auch ein Modell der inneren Welt des Objektes umfaßt. Mit anderen Worten, die Objektalisierung verknüpft sich mit einer Objektbeziehung, wobei die Erfahrungen in der Beziehungsregulierung wiederum den Anteil der Objektalisierung verändern. In der Mikrowelt Traum muß ein solcher Schritt zur Beziehungsregulierung nur simulativ und tentativ getan werden. Es ist vermutlich so, daß die Anteile der präobjektalen Objektalisierung dominieren, das heißt auf alle Fälle in die Objektbeziehungen des Traums eingebaut werden. Gemeint ist die Charakterisierung eines gewünschten Objekts mittels unbedingt notwendiger (bezüg-

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lich der Beziehungsregulierung) und gewünschter (bezüglich des aktivierten Wunsches) Attribute (Moser 2001, 2002). Das führt natürlich dazu, daß sich die Fähigkeit, ein Objekt mit seinem spezifischen Beziehungsangebot zu benützen (Winnicott 1971), schlecht entwickelt. Ein konkret reales Objekt muß etwas anderes sein als ein Bündel von Projektionen. Sonst bleibt es ein Container, der lediglich projektive Identifizierungen enthält (Bollas 1995). Ein integrales Objekt (Bollas) hingegen ist andersartig, es hat seine eigene Struktur. Es liegt auch bereits außerhalb der vermeintlichen Kontrolle durch die eigene Omnipotenz, und es ist nicht durch eigene Aggressionen destruierbar. Bollas meint, ein integrales Objekt, das in eine Objektbeziehung eingeht, nähre das Subjekt und erlaube eine Art »single minded devotion«. Wird es benutzt, so entsteht eine »passionate relation«. Eine solche Relation verändert das Subjekt (resp. sein Selbst) nicht durch den mutuellen Effekt von Introjektion und Einsicht, sondern eher durch eine Veränderung des Seins (being) des Subjekts, die durch das immense gefühlsmäßige Engagement zum Objekt und dessen Eigenart in Gang kommt. Mit anderen Worten: Das intensivierte emotionale Involvement kann durch die umfassende Benützung aller Aspekte eines Objekts vielfältig bereichert werden. »Meinem Selbst ist durch den anderen eine neue Gestalt gegeben worden« (Bollas 1995, S. 25; Übers. von U. M. u. I. v. Z.). Die Schaffung der eigenen Form aus einer Matrix von Potentialitäten ist an sich tief lustvoll. Die Objektalisierung läuft über die Beziehung zu einem realen Objekt rückwärts und verändert das Selbstmodell (Moser 1999). Gerade das ist in den realen Beziehungen einer Borderline-Störung nicht möglich. Imitative Selbstverwandlungen sind hingegen sehr häufig zu finden. Nie jedoch sind sie von Dauer.

■ 10. Es folgen zwei Zusammenfassungen unserer Überlegungen. Die eine (1) betrifft die Träume von Borderline-Störungen, die zweite (2) die Struktur der Borderline-Störung allgemein (im Wachzustand).

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1) Über die Träume von Borderline-Fällen gibt es kaum gesichertes Wissen, hingegen viele Aussagen aus einzelnen Fällen, die voreilig generalisiert werden. Die Interaktionsregulierung ist relativ besser als im Wachzustand der Interaktion. Die Träume sind stark situationsbestimmt. Ausmaß und Güte der präreflexiven Einsicht, die sich in Form und Inhalt des Traums ausdrückt, ist von der Intensität der entstandenen Affekte abhängig, sowie vom Grade der Realisierung der gewünschten affektiven Relation zum Objekt. Es wäre genau zu untersuchen, ob die beschriebenen Desobjektalisierungsphänomene bei der Borderline-Störung häufiger sind als bei neurotischen oder bei normalen Menschen. Die zwei Kategorien Anonymisierung (mit gelegentlich zusätzlicher Deanimierung) und Deammierung kennzeichnen zwei Affektabwehren: die erste ist auf das Objekt gerichtet, die zweite auf die Beziehung zum Objekt. Weiter wäre die Häufigkeit von präventiven und defensiven Desobjektalisierungen in Träumen zu untersuchen. Die allgemeine Regel, daß Träume kreativer sein können (Simulation, im Unterschied zu de facto Beziehungsregulierung) gilt auch für Borderline-Träume. Die Eigenheiten des Positionsfeldes sind besonders zu beachten. Werden bekannte Objekte aus der nahen Umwelt im interpersonalen Feld bevorzugt? Es wird schwierig sein, ein gutes Sample von vergleichbaren Träumen zu finden. Was sind zum Beispiel vergleichbare Situationen in Therapien, die Träume auslösen? Borderline-Störung hat vermutlich ein »Kernsyndrom« sowie eine zusätzliche individuelle Geschichte (Moser 2001). Es steht einigermaßen fest, daß Borderline-Persönlichkeiten ihre Träume abkapseln. Sie betrachten den Traum wie ein Bild, nicht aber als erlebten Prozeß ihres Innenlebens (Tableauisierung, Moser 2003). Assoziationen werden vermieden und Interpretationen nicht verstanden, manchmal zurückgewiesen oder akzeptiert »als ob« und damit entwertet. Das Selbstmodell, Träger des Selbsterlebens im Traumbewußtsein, wird im Traum zunächst nicht von Störungen betroffen. Die Objektbeziehung kann sehr rasch präventiv und defensiv manipuliert werden. Das verhindert Konflikte in der Objektbeziehung und hält die Affektintensität (sowohl Lust wie Angst) auf einem niedrigen Niveau. Regulierungsprozesse sind in der Regel nur sichtbar, wenn sie versagen oder repariert werden. Dann werden

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sie selbst zum Problem und führen zu Veränderungen im Selbstmodell. Zum Beispiel können dem Selbstprozessor Attribute angefügt werden (»ich habe Flügel«, »plötzlich wachsen mir Brüste«). Solche Vorgänge finden sich aber auch in den Träumen aller Neurosenformen mit narzißtischem Einschlag. Explizite negative Selbstveränderungen, zusammen mit Katastrophengefühlen, Panikanfällen, Gefühle der Leere, der Starre, der Verwirrung tauchen nur in psychoseähnlichen Phasen auf, die für eine Weile zu nicht reparierbaren Dekompensationen führen.8 2) Borderline-Patienten versuchen in der affektiven Beziehung zu einem konkret realen Objekt sich vor unerträglichen Affekten mit Desobjektalisierungen zu schützen. Die Borderline-Prozesse im Traum, seien sie präventiv oder defensiv, sind durchaus wirksam in bezug auf die Affektabwehr, weniger hingegen im Schaffen eines interaktiven Feldes, das auch eine Wunscherfüllung ermöglicht. Die Ausgänge dieser Borderline-Prozesse sind in Traum- und Wachzuständen verschieden. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie in einer Beziehung zu anonymisierten oder vorerst anonymen Menschen ohne Attribute oder mit sehr schwachen Attributen im Wachzustand eine Wunscherfüllung möglich wäre. Die präventive Desobjektalisierung setzt sich um in eine Tendenz, einem konkreten Objekt aus dem Wege zu gehen, sobald in dieser Beziehung Probleme entstehen. Die Kategorien der Nähe und Ferne, der Distanz, der »räumlichen Beziehungsgeometrie« (die der Situationstheorie entsprechen) werden de facto praktiziert. Aus dem Wege gehen widerspricht natürlich der Gegentendenz des Erhaltens einer Beziehung zu einem »notwendigen« Objekt. Konkret können auch Objekte nicht einfach fallengelassen (wie im Traum in einer neuen Situation der Interaktion) oder zu Ding-Objekten deanimiert werden. Entscheidend ist ja, ob 1) dadurch eine Wunscherfüllung nicht selbst verhindert wird, und 2) ob ein Objekt ein solches Verhalten erlaubt. Ist das konkret reale Objekt (z. B. der Therapeut) ebenfalls Träger einer Borderline-Störung, sind also die Partner bezüglich praktiziertem Beziehungswissen äquivalent, so mag eine Bezie8 Zur Frage der psychosenahen, aber doch nicht psychotischen Störungen, siehe Mentzos (2001).

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hung mit geringem Zuneigungsaffekt und heftigen negativen Affektausbrüchen eine Chance auf Beständigkeit ohne Veränderung haben. Nicht allzu lange, denn ein Objektwechsel ist, wie bereits erwähnt, durchaus möglich. Was aber geschieht, wenn die Partner ungleich reagieren, weil sie unterschiedliches Beziehungswissen anwenden? Das wird in einer therapeutischen Beziehung sicher der Fall sein, wobei anzunehmen ist, daß der Therapeut in sein Beziehungsmodell die innere Struktur des Borderline-Patienten einzubeziehen versucht. Das Objekt hat ein differenzierteres Modell der Innenwelten, die Borderline-Persönlichkeit reagiert situativ (gemäß der Situationstheorie). Sie beurteilt das Verhalten des Objekts als Teil der Situation, die das Objekt schafft, und schreibt ihm gleichzeitig projektiv Intentionen zu. Dabei hat die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Sicherheit in der Beziehungsregulierung Priorität. Das defiziente und/oder rudimentäre Appraisalsystem führt zu einem Informationsmangel. Dieser wiederum erzeugt ein Chaos in Form von offenen »affektiven Zuständen«, die wiederum (anstelle des Objekts, Bollas 1996) bekämpft werden müssen. Die direkte Abhängigkeit des Selbstgefühls vom Zustandsaffekt der entstandenen Situation ist für die oft krassen Symptome der Störung der Selbstregulation verantwortlich. Änderungen nicht erträglicher Situationen werden konkretistisch in Handlungen versucht. Wut setzt sich zum Beispiel in aggressives Verhalten um. Entwürfe alternativer Modelle, losgekoppelt vom konkret realen Zustand der Beziehung, wären nur auf der Stufe des »representational mind« (Perner 1991) möglich. Wer eine umfassende Darstellung der Borderline-Störung als Ergebnis unseres Werkstattberichts erwartet hat, wird vielleicht enttäuscht sein. In weiteren Arbeiten muß der Frage nachgegangen werden, wie Beziehungswissen auf der situationstheoretischen Stufe der Entwicklung ausgebildet ist und praktiziert wird. Ferner sind das Appraisalsystem und dessen Beschränkungen zu untersuchen. Nachwort: Der Leser wird sich fragen, wo die Probleme der projektiven Identifizierung, der Ichspaltung, der Projektion und der Identifizierung geblieben sind. Die projektive Identifizierung, treffe sie das »Objekt« oder das »Subjekt«, beschreibt einen Vorgang,

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der die Regulierung einer realen Objektbeziehung (z. B. der Beziehung Analytiker – Analysand) betrifft. Im Traumgeschehen existiert sie nicht. Die Ichspaltung, als Konzept sehr beliebt, bleibt ein zweifelhaftes Konzept. Sie ist möglicherweise ein Sonderfall der Besetzungsabwehr (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991) und bezeichnet die Fähigkeit, parallele Phantasien mit nicht zugelassenen Selbst- und/oder Objektanteilen auszubilden. Diese können in anderen Objektbeziehungen »agiert« in Erscheinung treten. Die Pluralität von Selbstmodellen, die situativ gebunden und nicht immer zentral zusammengefaßt sind, sollen nicht einer Ichspaltung zugeschrieben werden. Identifizierung und Projektion sind im Rahmen der Traumprozesse Transformationen: von Objekt zu Objekt, von Subjekt zu Subjekt, von Subjekt zu Objekt. Im manifesten Traum sind sie deskriptiv nicht zu fassen. Sie bleiben Interpretationen, die der Deuter den Transformationen zugrunde legt. Zum Schluß noch ein Wort zum Konzept »Borderline«. Wir haben die Bezeichnung für diese Arbeit übernommen, vor allem auch weil die »Desobjektalisierungsfunktion« von Green in dieser Arbeit für die Bezeichnung eines Modus des psychischen Funktionierens benützt wurde. Der eine der Autoren hat in einer Arbeit von »frühen Störungen« (Moser 2001) gesprochen. »Früh« meint nicht Regressionen auf eine Stufe der Primärobjekt-Beziehung, sondern Regulierung von Objektbeziehungen und der Selbstorganisation gemäß einer frühen Stufe der kognitiv-affektiven Entwicklung. Grob formuliert folgen diese Regulierungsprozesse den Eigenheiten der mentalen Situationstheorie, eine Annahme, die auch Fonagy (1991, 2000), Fonagy und Higgitt (1990) vertreten. Zutreffend wäre auch die Bezeichnung »strukturelle Störungen«. Unter dem Einfluß der Gedankengänge von Bion ist auch die Umschreibung »patient hétèrogène« aufgetaucht (Quinodoz 2001). Das Problem liegt wohl darin, daß die Präferenz einer Diagnosebezeichnung vom theoretischen Modell abgeleitet wird, mit dem die Autoren arbeiten. Es wird deshalb auch immer wieder betont, daß die geschilderten Fälle eben nicht so genau in jene Modelle passen, die andere Autoren verwenden. Am besten beläßt man vorerst diesen Zustand. Konzepte sind oftmals heilige Kühe, die man besser weiterhin auf den Weiden der psychoanalytischen Theorien beläßt.

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■ Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin

Borderline: Mentale Prozesse in der therapeutischen »Mikrowelt«

■ 1. Im klassischen psychoanalytischen Modell der Therapie bildet sich, durch die Regeln des Settings gesteuert, ein interaktives Arbeitsfeld. In diesen Bereich fallen die Prozesse von Übertragung, Gegenübertragung, Interpretation, Erinnern usw. Diese Welt ist eine mentale, die im allgemeinen von mittleren Affektintensitäten begleitet ist. Diese »Mikrowelt« (Moser 2001) wird die ganze Zeit hindurch von der realkonkreten Beziehung zwischen Analytiker und Analysand getragen. Es entstehen im Laufe der Zeit Beziehungsregeln, Prozeduren, die sich von den alten, eingeübten und von den spezifischen, mit dem Analytiker eingespielten, ableiten. Das zentrale Element dieser Mikrowelt ist das Assoziieren (das freie Assoziieren). Einfälle aller Art, Narrative, Träume, Worte usw. bilden ein Netzwerk von Gedanken, die eine Basis für Interpretationen und anschließend für Einsichten bilden. Zu den Assoziationen werden auch nichtverbale Phänomene gezählt, die während der Dauer der Mikrowelt-Entfaltung auftauchen. Der Analytiker bildet zwei Modelle aus, eines geht in diese Mikrowelt ein, das andere versucht die Art der Beziehungsregulierung zwischen ihm und dem Analysanden zu erfassen. Bildet die Beziehungsregulierung bei Neurosenformen den Hintergrund für die mentale Mikrowelt, so kehrt sich bei den frühen Störungen das Verhältnis um: Die Regulierung der Beziehung rückt ins Zentrum, die mentale Mikrowelt wird immer wieder abgebrochen respektive nicht ausgenützt oder nicht entwickelt (siehe dazu ausführlich die Arbeit von Moser 2001). Borderline-Patienten zeigen spezifische Störungen der mentalen Aktivität der therapeutischen Mikrowelt. Green (2000) hat

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diese Symptome auf die Wirkung einer »zentralen phobischen Position« zurückgeführt. Seine Hypothese bildet deshalb einen guten Einstieg in die Problematik. Green entwickelt ein auf Freud (1900a) zurückgehendes Modell des freien Assoziierens. Es formuliert die fundamentale Methode der Psychoanalyse gleichsam als Gegenstück zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Analytikers (vgl. dazu: Seidenberg 1971; Schafer 1978; Kris 1982, 1992; Teller u. Dahl 1986; Hölzer u. Kächele 1988; Haesler 1992; Raguse 1992; Treurniet 1992; u. a.). Das freie Assoziieren bildet ein Netz von Verbindungen, gebahnt und gelenkt durch hintergründige, affektive Steuerungen. Sie sind gleichsam ein Protokoll einer Suchprozedur, die noch nicht bewußten mentalen Inhalten gilt. Verläuft die Stunde fruchtbar, so erscheinen die einzelnen Elemente der Assoziationskette auf der Bedeutungsebene zunächst zusammenhanglos. Oft sind die Assoziationsprozesse auch Umwege, die verhindern sollen, daß eine zu direkte Verbindung zu Elementen des Unbewußten entsteht. Green nimmt an, daß implizit die Assoziationen auf ein Ziel hinsteuern, zum Beispiel auf eine gewünschte Aktualisierung eines Wunsches in einer gewünschten Objektbeziehung. Dieses Ziel ist zunächst weder dem Analysanden noch dem Analytiker bekannt. Es ist dann die Absicht therapeutischer Tätigkeit, Schicht für Schicht dieses Assoziationsnetzes bloßzulegen und die mannigfachen Verbindungen in und zwischen den Schichten zu klären. Darauf soll nicht weiter eingegangen werden. Wann aber nimmt der Assoziationsverlauf ein Ende? Erschöpft er sich von selbst oder wird er durch ausgelöste affektive Prozesse abgebrochen? Wird der Ausgang gefürchtet? Und in welcher Form ist der Prozeß abhängig von der Beziehung Analytiker-Analysand? Green tastet sich langsam vor, um dann in einem gewissen Zeitpunkt der Entwicklung seines Assoziationsmodells die Art der »Scheu vor dem Ende« bei den frühen Störungen zu untersuchen, insbesondere konkret bei seinem Fall »Gabriel«.

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■ 2. Folgen wir zunächst Greens Gedankengängen. »Und da gab es keinen anderen Ausweg als den Abbruch der mentalen Aktivität aus Angst vor der wechselseitigen Resonanz der verschiedenen traumatischen Situationen, die man mit ihnen in Beziehung bringen könnte« (Green 2000, S. 427). »… was die Assoziationen an ihrer Entfaltung hinderte, war die Antizipation des Ziels, auf das sie womöglich hinausliefen. Die Assoziationen gingen genausowenig nachträglich rückwärts, wie sie eine Folge vorwegnahmen und damit eine Potentialität eröffneten … (Es war), als hätte er (der Patient) versucht, einen Ausgang zu verhindern, zu dem er unvermeidlich gekommen wäre, hätte er sich gehen lassen« (Green 2000, S. 426f., 424). Was bekämpft wird, sind die Verbindungen zwischen dem Gang der mentalen Aktivität (der präsentischen) und den ausstrahlenden traumatischen Fragmenten im untergründigen Netz der Traumen, die sich gegenseitig heraufbeschwören würden. Wie sieht Green diese Verbindungen? »Bestimmte Begriffe oder, besser, bestimmte Momente der Rede an strategisch wichtiger Stellung … sind Träger dynamischer Effekte, das heißt, kaum ausgesprochen, ja, schon vorher, wenn sie noch gar nicht gedacht oder artikuliert sind, strahlen sie etwas aus und beeinflussen die Intentionalität der Rede« (Green 2000, S. 419). »Sie nehmen also die Stellung von Hinweisen bei innerer Vibration ein« (ebd.). Greens Begrifflichkeit ist vorsichtig beschreibend. Sind diese Qualitäten: »dynamisch, vibrierend, ausstrahlend«, Äußerungen von Affekten, die kognitiven Gebilden (z. B. Phantasmen) anhaften und untergründig die Einfälle steuern (auch deren Abbrüche), die plötzlich aktualisiert werden könnten und sich in Ängste verwandeln, das heißt bedrohlich werden? Green unterscheidet in diesem Zusammenhang die neurotische Angst der Phobie von der Bedrohung durch tiefliegende Ängste, die gerade nicht in Symptombildungen aufgefangen werden können. Wir finden es schade, daß sich der Sprachgebrauch von Odier (1947) nicht eingebürgert hat. Er trennt »anxiete« von »angoisse«. Letztere entsteht bei einer Ichbedrohung, die mit Verlassenheitsangst, Selbstentwertung und Ichverlust einhergeht. Green gibt die-

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ser Form der »angoisse« folgerichtig den Zusatz »automatique«. Das Konzept der automatischen Angst findet sich bei Freud (1926d) und Fenichel (1945). Den beiden Formen von Ängsten entsprechen zwei unterschiedliche Abwehrprozesse: Im ersten Fall ist Verdrängung am Werk, die immer noch eine Form der Bewahrung des Verdrängten ist. Im zweiten Fall (die Green anvisiert und für den Fall »Gabriel« typisch hält) geschieht eine eigentliche Verwerfung. Was ist darunter zu verstehen? Üblich und ursprünglich ist eigentlich, daß schon die Existenz einer Vorstellung eine Bürgschaft für die Realität des Vorgestellten ist (vgl. Freuds Konzept der Verneinung, 1925h, S. 14). Im Fall der Verwerfung gilt: »Die Nichtexistenz der Vorstellung, ihre Unterdrückung ist die Gewähr für die Nichtrealität des Verworfenen, als reichte die Nichtvorstellung des Objekts aus, um sich der Bedrohung, die es ausübt, zu entziehen. Wenn es sein muß, schließt das Subjekt sich selbst aus, um den neuen Mord zu vermeiden, den das Wiederauftauchen des getöteten Objektes nahelegt« (Green 2000, S. 438). Der Schluß des Passus macht die Tendenz von Green deutlich, prozedurale Phänomene gleich mit einem postulierten (inhaltlichen) Phantasma zusammenzulegen, das er dem Prozeß unterlegt. Abbrechen bedeutet. Nichtexistenz von etwas, eines Objektes, einer konfiktiven Interaktionskonstellation, eines inneren Konfliktes. Nichtexistenz bedeutet eine Verleugnung der Existenz von Bedrohlichem. Es wäre auf Dorpat (1985) zu verweisen, der die zwei Arten der Verleugnung, eine Bedeutungsverleugnung und eine Existenzverleugnung, unterschieden hat. Die Verwerfung hat die Zielsetzung zu zeigen, daß nichts geschehen ist und auch nichts geschehen wird oder daß es schon geschehen ist. jedenfalls soll die »automatische Angst« vermieden werden.

■ 3. Um die Idee einer zentralen phobischen Position in Zusammenhang mit dem Assoziationsmodell zu bringen, muß es ausgebaut werden. Unter freier Assoziation wird von Green die gesamte mentale Aktivität zwischen Analysand und Analytiker in einer Stunde

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verstanden, ausgelöst durch die nichtdirektive Aufforderung des Analytikers gemäß der Grundregel. Zu dieser mentalen Aktivität gehören ganz unterschiedliche Dinge: erzählte Träume, Einfälle zu den Träumen, Ketten von Assoziationen, die Objekte oder Gefühle betreffen, fragmentierte Phantasien, Episoden aus dem Alltag außerhalb der Analyse, Gedanken zur Analyse usw. Eine Unterscheidung von Narrativen und Assoziationen in engerem Sinne wird (nicht nur von Green in dieser Arbeit) unterlassen. Mit guten Gründen müßten die rein mentalen Aktivitäten auch durch die affektiven Expressionen in Mimik, Gestik und Körperhaltung sowie durch Handlungen ergänzt werden. Nichtverbale Ereignisse, die vom Analytiker beobachtet werden, treten häufig an Endstellen von verbalen Assoziationsketten auf. Sie sind Indikatoren für den inneren Zustand des Analysanden (1) oder Indikatoren für den Zustand der Beziehung Analysand–Analytiker (2) oder Indikator für ein mentales Objekt, über das gesprochen wird (3) (Krause 1990, 1997). Viele affektive Reaktionen verlaufen aber auch parallel zu den verbalen Äußerungen. Diese paraverbalen Phänomene sind schwer von den rein affektiven abzutrennen. Die empirischen exakten Untersuchungen zwischen nichtverbalen und verbalen Äußerungen zeigen komplexe Zusammenhänge (Multikanalforschung in Psychotherapien, vgl. z. B. Krause 1987, 1997; Bänninger-Huber 1996; Benecke 2002; u. a.). Die Beschränkung auf die verbalen Phänomene in dieser Arbeit ist sowohl notwendig wie gewollt. Die verbalen Assoziationen entsprechen einer Formulierung psychischer Prozesse, die zwar nur Teile kommunizierbar macht, hingegen bewußtseinsfähiger ist, was ihre Bedeutung betrifft. Sie sind Produkte eines »Schürfprozesses« in bezug auf die affektiven Vorgänge. Geht diese Schürfung zu tief, kommt es zum Interrupt im verbalen Kanal, geht sie zuwenig tief, dann führt sie vom affektiven Erleben weg. Ähnliche Gedankengänge über den Zusammenhang von Sprache und Affekte finden sich ja auch bei Green (2000). Nur beschäftigt er sich nicht mit den aktuellen Affekten, sondern mit Irritationen, die durch die Reaktivierung von Erinnerungen ausgelöst werden. Assoziationen implizieren relationale Verknüpfungen, Vernetzungen, »Links«, um nur einige Bezeichnungen anzuführen. Im Extremfall sind die Einheiten einfach zeitlich kausal bestimmt,

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ohne daß eine inhaltliche Verknüpfung mit einer impliziten Bedeutung sichtbar wäre. Die Frage ist immer noch offen, durch welche Prozesse Auftauchen und Abfolge der Assoziationen gesteuert werden. Sind es affektive Regulierungsprozesse, die tätig sind, aber nicht in Erscheinung treten? (Also weder expressive Affektäußerungen noch – hic et nunc – erlebte Affekte.) Liegen ihnen die Gesetzmäßigkeiten des Primärprozesses zugrunde, wie sie Freud postuliert hat? Oder ist die Abfolge durch Assoziationsgesetze geregelt, wie sie in der Experimentellen Psychologie untersucht wurden? Die mentale Aktivität enthält verschiedenartige Elemente, die gemeinsame Bezeichnung »Assoziationen« bleibt reichlich diffus. Eines ist aber klar: sie sind sprachliche Konfigurationen, die eine Abfolge bilden. Die Verknüpfungen sind explizit, ihre Steuerung ist zumindest vorbewußt und erzeugt unentwegt im Analytiker Hypothesen über Bedeutungen, die »in den Abfolgen« liegen könnten. »Einfälle« können im extremen Fall ganze Geschichten über Episoden sein (aber auch Träume, die nachträglich auftauchen und erzählt werden). Es handelt sich dann um eigentliche Narrative, im anderen Extrem sind es einzelne Bilder oder gar Klangworte (z. B. ein weißer Küchentisch, eine Reihe Töne aus einer Melodie). Vielleicht wird eine Tante aus der Kinderzeit erinnert. Auch Körperempfindungen sind möglich (»Jetzt habe ich Herzschmerzen«). Für unsere Fragestellung nach den Gründen der Unfähigkeit zur Assoziation ist die Abgrenzung zwischen narrativen und nichtnarrativen Einfällen bedeutsam. Ein Narrativ (NAR) enthält als Konzept Minimalbedingungen. Es muß in ihm ein Subjekt oder Objekt auftreten, das zumindest zusammen mit einem oder mehreren kognitiven Elementen gesehen wird. Diese können animiert oder nichtanimiert sein. Eine Relation ist unabdingbar und an den Prozessor Subjekt oder Objekt gebunden. Eine zweite (engere) Definition verlangt ein interpersonales Feld mit einer Interaktion zwischen Subjekt oder Objekt mit Objekten oder mit sich selbst. (»Ich sehe meinen Bruder mit der Mutter Himbeeren pflücken.«) Die Möglichkeiten, in Beziehung zu stehen, nehmen mannigfache Formen an. Auch bloße Distanzen und Zuschauerrelationen gehören dazu (Moser u. von Zeppelin 1996a).

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Rein kognitive Elemente (KOG)1 haben hingegen keine Struktur, die eine Darstellung des Subjekts, das heißt ein Selbstmodell (Moser 1999) zwangsläufig enthält. Sie bleiben diesbezüglich anonym. Natürlich können sie mehr oder weniger direkt mit einem nichtbewußten, untergründigen Netzwerk affektiv-kognitiver Elemente verknüpft sein. Sie sind gerade deshalb therapeutisch erwünscht, weil sie, wie bereits erwähnt, von einem Suchmechanismus zeugen, der an affektiv bedeutsame, noch unbewußte Sachverhalte gelangen könnte. (Sie sollen gleichsam den Analysanden selbst überlisten.) Der fehlenden narrativen Struktur wegen sind sie auch zeitlos. NARB sind Geschichten, Erzählungen von Ereignissen und/oder Träumen. Sie haben ein »Ende«. Warum und wie enden aber Assoziationsketten aus KOGs?1 Assoziationen aus KOGs führen zu einem »sink« (Foulkes 1978), von dem aus es weder rückwärts noch vorwärts geht. Die psychoanalytische Überlegung würde hier einen Abbruch aus Bedrohlichkeit vermuten. Ein »sink« weist auf eine hochgradig affektive Umgebung hin, die nicht zu einem affektiven Erleben dieser führen soll. Es wäre aber zu untersuchen, inwiefern es bei dieser Art des »Denkens« nicht auch einen Punkt der Erschöpfung ohne mentale Bedeutung gibt. KOGs können in bezug auf ihre implizite Verflechtung einem unbewußten Netz von affektiv-kognitiven Bedeutungen sehr nahestehen. Sie bewirken dann leicht die Erweckung von Affekten aus diesen unbewußten Zonen (der gegenwärtigen wie des Erinnerungs-Unbewußten [Sandler u. Sandler 1994]). Sie können aber auch in umgekehrter Richtung davon wegführen, etwa im Sinne der assoziativen Seitenbesetzungen (Freud 1950c), die aber dennoch über Umwege mit den zentralen Assoziationen verbunden sind. Foulkes (1978) unterscheidet in ähnlicher Weise »main paths« und »side paths« in seiner Beschreibung assoziativer Netzwerke. Jedes KOG besitzt eine Art von Reaktivierungspotentialität. Dasselbe kann man natürlich auch von NARs sagen. Die Erzählungen in der Therapiesitzung (sofern frei assoziiert) sind bereits unter bewußterer Kontrolle gestaltete Mikrowelten. Sie vermögen unange1 Eine bestimmte Art der vorbewußten und bewußten Lautpoesie kann sie auch fortlaufend züchten. Dennoch dauern die Assoziationen nicht tagelang.

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nehme Affekte besser abzuschotten, etwa durch einen sehr niedrigen Affektanteil oder durch das Einführen von Interaktionen mit erträglichen (mitunter gegensätzlichen) Affekten. »Je klarer etwas ist, desto mehr muß es maskiert werden, desto unverständlicher muß es erscheinen« (Green 2000, S. 440). Das trifft auf die Geschichten zu. Sie sind auch für Verschleierungen besser geeignet. In ihrer einfachsten Struktur sind KOGs BildWort-Verknüpfungen (Moser 2002). Sie sind einerseits wie alle Wörter Klangträger, andererseits Behälter (von Bedeutung). Die Bedeutungen sind implizit, das heißt im Sinne der Theorie von Moser u. von Zeppelin (1996b) assoziative oder morphologische »features«.2 Im Zuge des Assoziierens in der Therapie haben sie eine Eigengestalt, die nicht aufgebrochen wird. Das hängt letztlich damit zusammen, daß sie den affektiv-kognitiven Eigentümlichkeiten der therapeutischen Beziehung unterliegen. KOGs sind in diesem Umfeld eine Art Marker, die eine vom Assoziierenden unerkannte Trajektorie einer Zeitreise indizieren. Raum/Zeit sind den KOGs an sich nicht gegeben. Sie sind Träger einer großen Ungewißheit und einer mangelnden Transparenz, erzeugen somit Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit. Die Verläufe sind natürlich ganz verschieden. Assoziationen können mit einem erzählten Traum beginnen oder mit einem Geschehnis des Alltags oder einer Erinnerung an eine Episode des Therapiegeschehens. Der Ausgangspunkt ist auch nicht ganz bestimmbar. Aus einem Traum kann ein einzelnes Element herausgegriffen werden (»Die Melone auf dem Tisch, dazu fällt mir ein …«). Der Einfall kann auch von einem NAR gesamthaft ausgehen. Bei einem kognitiven Element kann es ein Attribut sein, zum Beispiel der Geruch oder die Rundung, aber auch ein der Melone intrinsisches Element (ein feature: »Hohlraum mit Kernen«). Geht die Assoziationskette zu einzelnen KOGs über, sind es unter Umständen Attribute oder features dieses KOG, die die Wahl des nächsten mitbestimmen (vgl. dazu: Moser u. von Zeppelin 1996b; Moser 1999, 2001). NARB und KOGs können sich abwechseln. Irgendwann bleibt dann die mentale 2 Ein »feature« ist kein sichtbares Attribut, sondern eine innere Qualität oder eine assoziative Verknüpfung, die bereits zur Wahl des Traumelements geführt hat.

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Aktivität stehen. Der Analysand kann nicht weiter assoziieren. Er wird still oder kehrt zurück zum Ursprung und wählt aus dem Traum ein anderes kognitives Element, das neuer Ausgangspunkt wird. Wir erinnern daran, daß Assoziationen auch eine Geschichte disseminieren können. Sie werden dann »affektiv« entleert und führen vom Interaktionskern der Geschichte weg (Bollas 1995; Moser 2000). Die Enden von Assoziationsnetzen erzeugen im Analytiker intensive mentale Aktivität. Er beginnt an dieser Stelle mit seiner Suche nach einem Bedeutungsgehalt. Seine Überzeugung ist es, daß die ganze Kette auf einer speziellen Sprache beruht, daß sie zum Sprachspiel der analytischen Situation gehört (Raguse 1992). Seiner Ansicht nach sind die Assoziationen auf eine Topik bezogen, die der Abfolge einen Sinn gibt, dies im Unterschied zum Thema, das eine Abstraktion aus NARs ist.3 Assoziationen sind Bestandteil einer zweiten Sprache, die »unterhalb der konventionellen Textkohärenz« liegt. Das Verständnis dieser Sprache ergebe sich, meint Raguse, durch die spezifische Pragmatik der analytischen Beziehung, die man als Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamik bezeichnet. Der Analytiker interpretiert vom Ende her »rückwärts«, weil er spürt, daß dieses Ende affektiv gesteuerte Interruptprozesse enthält. Der Analysand hingegen ist an dieser Stelle mental erschöpft und blockiert. Mitunter reagiert er auf Deutungsversuche des Analytikers ärgerlich und wütend.

■ 4. Die schärfere Unterscheidung von KOG und NAR erlaubt nun auch eine bessere Lokalisation der Abwehrphänomene gegen die phobische Position, wie sie Green (2000) beschreibt. Die narrativen Episoden sind bei den frühen Störungen diskursiv verschwommen. »Da wurde unaufhörlich geredet, auch assoziiert, manchmal fragmentarisch, aber immer platt, flach, ohne Höhen und Tiefen, oh3 Raguse geht in seiner Theorie von der strukturellen Semantik von Greimas (1966) und zusätzlichen Annahmen von Eco (1987) aus.

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ne Zeitsprünge« (S. 428). Es kommen häufig Bemerkungen wie »weiß nicht«, »weiß nicht genau«, »erinnere mich nicht«, »ist ja nicht so spannend, was ich erzähle«. »(D)iese Formeln (haben) die Macht, jede Vorstellung zunichte zu machen. Ereignisse wurden nie so datiert, daß sie eine Chronologie ergaben, sondern mal diesem, mal jenem Alter zugeschrieben und nur ganz vage erzählt, meist ohne nennenswerte Erinnerungen, die eine ungefähre Vorstellung von der psychischen Haltung des Patienten dazu erlaubt hätten« (S. 423). Hier findet sich eine Parallele zur Desobjektalisierung, wie sie von uns in Traumprozessen beschrieben wurde (Moser u. von Zeppelin 2004). Die Vagheit, die nichtgenaue Lokalisierung, die geringe Attribuisierung gelten nicht einem konkreten Objekt, sondern der gesamten narrativen Produktion. Die Erzählung bleibt zumeist präsentisch, greift weder in die Zukunft vor noch stellt sie Verbindungen zur Vergangenheit her. Greens Formel, die Assoziationen (die mentale Aktivität) verliefen weder rückwärts noch vorwegnehmend, ließe sich auch auf den bildhaft sensuellen Kern des Traumgeschehens anwenden. Diese sind, daran sei erinnert, präsentisch konkret. Zukunft und Rückblende geschehen nur mittels Denkprozessen und Verbalisierungen. In diesen Fällen wird immer ein Teil der Affekte nicht aktualisiert, das heißt nicht zum Erleben gebracht. NARs enthalten immer ein Selbstmodell. Sie sind Mikrowelten. In diesem Modell positioniert sich das Selbst (das Ich?) gegenüber einer Umwelt, sei es im Bereiche ausschließlicher Perzeption, sei es in der Vernetzung durch eine Interaktion. Bei »Gabriel« macht Green die wichtige Beobachtung, daß er in einer Geschichte sich begnügt hatte, die Reaktion des andern, seiner Mutter, zu beschreiben, ohne dem Analytiker gegenüber auszumalen, was er hätte empfinden müssen.4 Es sind somit jene Gefühle ausgeklammert und verworfen, die den subjektiven Anteil des Erlebens in einer Situation ausmachen. Das Selbst wird nur soweit modelliert, als die eigenen Gefühle gerade noch tragbar sind und nicht jene automatischen Ängste mobilisiert werden, die mit 4 »… wobei er mich aber unbewußt dazu aufforderte, bis ans Ende seiner Gefühle zu gehen« (Green 2000, S. 427). Diese Vermutung scheint etwas zu spekulativ, als daß wir sie ohne weiteres nachvollziehen können.

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Unsicherheit, Unwert und Ohnmacht verbunden sind. In diesem Beispiel wird das Objekt gerade nicht desobjektalisiert, vielmehr als einziger Träger von Affekten (dem Erzähler gegenüber) eingesetzt. Es sind auch selten Wunschphantasien, sondern Geschehnisse, die quasi von außen gesetzt werden und die Subjektivität des Handelns (des gegenwärtigen wie des gewünschten) ausklammern. »Er phantasiert weniger, sondern behandelt die Sache, als wäre sie bereits verwirklicht, und zwar nicht im Sinne einer Verwirklichung durch das Subjekt, sondern durch ein plötzliches Eintreten in die Wirklichkeit, die ihn selbst weniger in der Position eines Begehrenden erscheinen läßt als in der eines Menschen, der schon gehandelt hat oder an dem andere gehandelt haben« (Green 200, S. 437). Diesem Verfahren liegt magisches Denken zugrunde. Auf der Ebene des magischen Realismus (Odier 1947) wird das »Nicht-Denken-von-etwas« praktiziert. Es bewirkt, daß auch der subjektiv als real erachtete und erlebte Sachverhalt nicht existiert. Damit verschwindet auch die mit ihm verknüpfte »automatische Angst«, die als Erregung übermächtig werden könnte. Die Verwerfung, wie sie Green postuliert, gehört als Abwehr zum Schatz magischer Praktiken. Ein weiterer Gesichtspunkt scheint uns wichtig: In einem NAR positioniert sich ein Selbstmodell (sowohl kognitiv als auch affektiv), wie bereits gesagt, zumindest gegenüber einer deanimierten Umwelt. Bei Assoziationen in Form der KOG gibt es diese Positionierung nicht. Diese Einfälle sind zwar kleine Mikrowelten mit Bewußtsein, die überraschend auftauchen, aber ohne ein Wissen des Assoziierenden, warum gerade dieser Inhalt verbalisiert worden ist. In einem KOG ist kein Selbstmodell positioniert. Sie enthalten deshalb keine Kohärenz und keine Kontinuität, auch keine selbst gebastelte »Identität«. Natürlich sind sie über Relationen (Links) mit unbewußten Konfigurationen (z. B. Erinnerungen in Form von ausgedehnten Episoden) verknüpft, die in ihrem Rahmen ein Selbstmodell enthalten. KOGs sind lediglich Fragmente, die man in Bedeutungszusammenhänge knüpfen kann (was der Analytiker mitlaufend versucht). Stränge von KOGs führen zu neuen episodischen Einfällen oder werden abgebrochen oder führen zu einem alten Narrativ zurück (z. B. zum erzählten Traum). Was sind die Folgen des Auftretens selbstmodelloser KOGs? Sie

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eignen sich (darin liegt die therapeutische Intention) für Suchprozesse. Sie führen von bekannten NARs weg, ohne daß der Assoziierer weiß, wohin die Reise geht. Sie sind sozusagen Bewußtseinsstationen eines unbekannten Netzwerks, dessen Umfang, Bedeutung und affektive Verankerung nicht erkennbar sind. In diesem Sinne stehen sie den Traumprozessen nahe, die sich ebenfalls (teilweise) einer Kontrolle entziehen. Ohne die Setzung eines expliziten Selbstmodells fühlen sich Borderline-Persönlichkeiten besonders bedroht. Sie stehen unter dem Zwang, in der mentalen Aktivität ein Objekt positionieren zu müssen, auf das hin sich das eigene Selbst ausrichten kann und muß. Hier spiegelt sich vermutlich die oft beschriebene Angst vor Identitätsverlust wider. Odier (1947) beschrieb die Angst früher Störungen (»angoisse«) als eine Angst vor der Dysfunktion des Ich (»dysfonction du moi«). Er beschreibt sie gemäß dreier Dimensionen der Selbstgefühle: »Ohnmacht, Unsicherheit, Ent-Wertung.« Bei Green erhält die Angst (»angoisse«) die Prägung einer Katastrophenangst und des Horrors. Nach Odier sind es Leute, die immer im Zustand des Alarms sind, mit einer Steigerung der Angst bis zur erlebten Todesgefahr, die sie wiederum mit magischen Praktiken zu beschwören versuchen. Hohe Intensität der Erregung kann zu grotesken Phantasien der Vernichtung führen (Moser 2001).

■ 5. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die »borderline«-Assoziationsprozesse kaum die Qualität der »kreativen Destruktion« (Bollas 1995) besitzen und nichts von der mentalen Freiheit enthalten, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse durch eine Kette von Ideen ohne terminalen Punkt vorerst disseminieren zu lassen. Neue Objekte, neue Intentionen, neue innere Ketten des Interesses in der eigenen Innenwelt wie im interaktiven Feld werden nicht entdeckt. Die Prozesse der mentalen Aktivität im intersubjektiven therapeutischen Feld müssen so verlaufen, daß keine Angst-Resonanz zu traumatischen Netzwerken ausgelöst wird, die nicht existieren

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dürfen (d. h. für nicht existent gehalten werden), und daß sie keine Veränderungen in den affektiven Bereich der Kommunikation zum Therapeuten bewirken. Gleichzeitig muß der basale Faden der Beziehung beibehalten werden. In der mentalen Aktivität von Analysand und Analytiker wird bereits die Bedeutung des Objekts (in diesem Fall des Analytikers) sichtbar. Das Objekt ist unabdingbar wichtig für die eigene Positionierung der Identität, wobei diese Relation zum Objektpositiv idealisierend oder destruktiv aggressiv sein kann. Die mentale Aktivität ist in die Beziehung zum Analytiker eingelagert und wird über diese Beziehung reguliert. Der Analysand positioniert sich gleichzeitig a) in dem, was er erzählt und assoziiert, und b) als Subjekt einem Objekt (dem Analytiker) gegenüber. Das Objekt (Analytiker) muß genau beobachtet werden, um so reagieren zu können, daß die eigene Sicherheit nicht bedroht ist. Nun ist der Analytiker nicht immer »derselbe«.5 Die Abwehr der phobischen Position, wie sie zum Beispiel von Green in dieser Arbeit beschrieben wird, ist eine Äußerungsform der Borderline-Störung in einer relativ friedlichen Phase der affektiven Beziehung (affective relatedness: Moser 2001; Moser u. von Zeppelin 2004). Das »Nichts ist geschehen« und »nichts wird geschehen«, oder »ist schon geschehen« im Inhalt der mentalen therapeutischen Aktivität bezieht sich auch auf die Beziehung zum Analytiker. Darüber könnte der Analytiker froh sein, wenn es ihn nicht gleichzeitig unzufrieden machen würde, weil sich in der Therapie nichts ändert. Der Analysand wiederum fühlt sich relativ sicher. Seine präventive Abwehr wirkt. Sein Territorium wird nicht verletzt. Unzufrieden ist auch er, weil seine diffusen Hoffnungen (Moser u. von Zeppelin 2004; Potamianou 1997) ja letztlich nicht erfüllt werden. Wünsche können nicht beschrieben und dem Objekt geschildert werden. In vielen Fällen kennt das Subjekt seine Wünsche nicht. In andern Fällen wird Wunsch nur negativ beschrieben in 5 Wir untersuchen zunächst die Regulierung der Beziehung zum Analytiker, so wie er hic und nunc sich verhält und wie er emotional und kognitiv dem Analysanden gegenüber sich positioniert. In der Literatur wird das häufig mit der Beziehung zu einem frühkindlichen, primären Objekt vermischt, die generell auf alle Objektbeziehungen, auch auf jene zum Analytiker, übertragen werde.

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der Form einer Aufzählung dessen, was man nicht wünscht. Ferien zum Beispiel sind nicht definierbar hinsichtlich der Gestaltung. Klar ist aber, was nicht sein darf. je klarer und positiver ein Wunsch beschrieben würde, um so größer wäre die Gefahr, daß traumatische Erinnerungen auftauchen und negative Affekte auslösen würden. Im Endeffekt wird nicht in die Ferien gefahren, und man weiß nicht einmal, wohin man hätte gehen wollen. Der Patient fühlt sich nicht erfüllt, denn er möchte vom Analytiker auch erfahren, daß er seine Eigenregulierung unterstützt. Natürlich nur auf eine Weise und partiell, damit der eigene Autonomieanspruch nicht verletzt wird6. Die Illusion einer affektiven Beziehung auf der Basis einer vermuteten Resonanz zerfällt sehr rasch, sobald der Analytiker unerwartet anders reagiert. Er erzeugt eine Veränderung der Beziehung, die vom Analysanden als Gefahr erlebt wird. Schon eine Deutung wird bekanntermaßen als Intrusion erlebt. Sie gilt nicht einer Suche nach Einsicht, sondern ist eine affektiv gesteuerte Handlung, eine Verbalaktivität. Das gilt insbesondere dann, wenn vorsichtig versucht wird, eine Beteiligung des Analysanden am Deutungsprozeß zu hinterfragen (vgl. die Schilderung von Scharff 2002). Der Analysand blockiert die Suchbewegung des Einsichtsprozesses, die Deutung wird »vernichtet«, angegriffen oder durch Umarbeitung unter Kontrolle gebracht. Der Analytiker kann darüber irritiert und gekränkt sein und defensiv reagieren. Scharff (2002): »Analytiker und Patient sind in einer Situation gefangen, die im Bild der Möbiusschlaufe anschaulich gemacht werden kann. Die beiden ineinander verwikkelten Kontrahenten behaupten jeweils vom anderen, French (1954, 1958) hat überzeugend beschrieben, wie der Analytiker in jeder Psychoanalyse dauernd durch »Frustrationen« und »Hoffnung auf Gewährung« die neurotischen Konflikte des Analysanden reaktiviert und wie der Analysand versucht, diese Reaktivierungen abzuwehren. Borderline-Störungen sind davon nicht ausgeschlossen. Die Reaktivierung betrifft die spezifischen Ängste der frühen Störungen, wie sie bereits beschrieben wurden. je wei6 Definition von Autonomieanspruch: Innere Unabhängigkeit von sozialer Unterstützung, die Schutz und Identität sichert, plus Anspruch, eigene Wünsche durchzusetzen, daß dieser etwas in ihn hineinprojiziert« (S. 610), was zur Folge hat, daß die beiden sich gegenseitig nicht verstehen.

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ter die Analyse fortschreitet, um so mehr kumulieren diese Reaktivierungen. Sie betreffen die Beziehung zum Objekt (dem Analytiker) direkt. Dieser Prozeß verläuft nicht gradlinig. Das Ausmaß ist abhängig von der Intensität der Angsterregung und vom Ausmaß der gewünschten Besetzung der Beziehung.7 Die Aufgabe der Regulierung der Beziehung zum Objekt steht dermaßen im Zentrum, daß eine gemeinsame »therapeutische Mikrowelt« kognitiv nicht zu leisten ist, deren wesentlicher Kern die Übertragungsanalyse wäre. Denn wie soll eine Beziehung gelingen, in der das Objekt eindringend, furchterregend und zugleich unverzichtbar ist (Green 2000) oder wo nach Porret (2001) »Angst vor Verlust des Objekts« und »Schrecken vor Abhängigkeit« einen ständig präsenten Engpaß der Beziehung bilden?

■ Literatur Bänninger-Huber, B. (1996): Mimik, Übertragung, Interaktion. Die Untersuchung affektiver Prozesse in der Psychotherapie. Bern. Benecke, C. (2002): Mimischer Affektausdruck und Sprachinhalt. Bern. Bollas, C. (1995): Cracking Up. London. Dorpat, T. L. (1985): Denial und Defense in the Therapeutic Situation. New York. Eco, U. (1987): Lector in fabula. München u. a. Fenichel, O. (1945): Psychoanalytische Neurosenlehre. Gießen, 1997. Foulkes, D. (1978): A Grammar of Dreams. New York. French, T. M. (1954): The Integration of Behavior. Bd. I. Chicago. French, T. M. (1958): The Integration of Behavior. Bd. II. Chicago. Freud, S. (1950c): Entwurf einer Psychologie. GW Nachtr., S. 387-477. Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung. GW II/III. Freud, S. (1925h): Die Verneinung. GW XIV, S. 11-15. Freud, S. (1926d): Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, S. 111-205. Green, A. (2000): Die zentrale phobische Position. Psyche – Z. Psychoanal. 56, 2002: 409-441. Greimas, A. J. (1966): Semantique structurale. Paris, 1986. Haesler, L. (1992): Freie Assoziation, Grundregel und die Freiheit des analytischen Prozesses. Z. psychoanal. Theorie u. Praxis 7: 268-285. Hölzer, M.; Kächele, H. (1988): Die Entwicklung der freien Assoziation durch Sigmund Freud. Jb. Psychoanal. 22: 184-217. 7 Darüber wurde in Moser (2001) ausführlich berichtet

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Krause, R. (1987): Multikanale Psychotherapie-Prozeßforschung. Forschungsantrag an die DFG. Universität des Saarlandes. Krause, R. (1990): Psychodynamik der Emotionsstörungen. In: Scherer, K. (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie. Bd. C/IV/3. Göttingen, S. 630-705. Krause, R. (1997): Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre. Bd. 1: Grundlagen. Stuttgart. Kris, A. O. (1982): Free Asssociation. Method and Process. New Haven u. a. Kris, A. O. (1992): Die Technik der freien Assoziation. Der methodische Schlüssel zu den Ergebnissen der Psychoanalyse. Z. psychoanal. Theorie u. Praxis 7: 256-267. Moser, U. (1999): Selbstmodelle und Selbstaffekte im Traum. Psyche – Z. Psychoanal. 53, 220-248. (auch in diesem Band) Moser, U. (2000): Heftklammern und schwarze Kühe. Zu Poesie und Traum. Psyche – Z. Psychoanal. 54: 28-50. (auch in diesem Band) Moser, U. (2001): »What ist a Bongaloo, Daddy?« Übertragung, Gegenübertragung und therapeutische Situation am Beispiel »früher Störungen«. Psyche – Z. Psychoanal. 55: 97-136. (auch in diesem Band) Moser, U. (2002): Traum, Poesie und kognitive Grammatik. Psyche – Z. Psychoanal. 56: 20-75. (auch in diesem Band) Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996a): Die Entwicklung des Affektsystems. Psyche – Z. Psychoanal. 50: 32-84. (auch in diesem Band) Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996b): Der geträumte Traum. Stuttgart. Moser, U.; Zeppelin, I. v. (2004): »borderline« im Traumalltag. Psyche – Z. Psychoanal. 58: 250-271. (auch in diesem Band) Odier, C. (1947): L’angoisse et la pensée magique. Neuchâtel. Porret, J. M. (2001): Temps psychique et transferts. Des structures névrotiques aux organisations limites. Paris. Potamianou, A. (1997): Hope. A Shield in the Economy of Borderline States. London. Raguse, H. (1992): »Freie« Assoziation als Sprache der Psychoanalyse. Einige linguistische Reflexionen. Z. psychoanal. Theorie u. Praxis 7: 293-305. Sandler, J.; Sandler, A. M. (1994): The past unconscious, and the present unconscious. A contribution to a technical frame or reference. Psychoanal. Study Child 49: 278-292. Schafer, R. (1978): Language and Insight. New Haven u. a. Scharff, J. M. (2002): Zur Zentrierung auf innere und äußere Faktoren als zwei Perspektiven klinischen Verstehens. Psyche – Z. Psychoanal. 56: 601-629. Seidenberg, H. (1971): The basic rule. Free association – a reconsideration. J. Am. Psychoanal. Ass. 19: 98-109. Teller, V.; Dahl, H. (1986): The microstructure of free association. J. Am. Psychoanal. Ass. 34: 763-798. Treurniet, N. (1992): Zur Theorie der freien Assoziation. Z. psychoanal. Theorie u. Praxis 7: 242-255. Erstveröffentlichung in: Psyche – Z. Psychoanal. 58, 2004, S. 634-648.

■ Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin

Die Regulierung der Beziehung bei »frühen Störungen« (»Borderline«-Fällen)

■ 1. Wie kann eine Beziehung Freude machen, wie soll sie gelingen, wenn »angoisse de la perte de l’object« und »horreur de la dépendance« (Porret 2002) einen ständig präsenten Engpaß bilden? Mit dieser Frage wurde unsere letzte Arbeit zum Thema (Moser u. von Zeppelin 2004b) beendet. Die Aufgabe der Regulierung der Beziehung steht dermaßen im Zentrum einer therapeutischen Beziehung, daß die Bildung einer gemeinsamen kognitiven therapeutischen Mikrowelt nicht zu leisten ist. Mit einer solchen Einsicht kann sich wohl niemand zufrieden geben. Also versuchen wir einen neuen Zugang. Was sind die Vorgänge der konkreten Regulierung? Was für eine Rolle spielen die Affekte? Sind sie eine Art der Information, die im Zentrum dieser Regulierung steht oder sind sie die »außer Kurs« geratenen Entitäten, die es wieder zu regulieren gilt? Wir haben immer wieder Modelle entwickelt, die, im Sinne der ersten Annahme, der informativen Funktion von Affekten nachgehen (Moser u. von Zeppelin 1996a; Moser u. von Zeppelin 1996b; Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Dazu müssen zunächst einige Konzepte der allgemeinen Affekttheorie eingeführt werden.

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■ 2. Eine erste Hypothese dieser Theorie besagt, daß das affektive Regulierungssystem aus basalen Modulen besteht. Unter Modul wird eine Funktionseinheit verstanden, die bereits im Bereiche der neuronalen und molekularen Vernetzungen angelegt ist und zur Entwicklung von eigenständigen Funktionsbereitschaften führt. Die Entwicklung von Modulen verläuft asynchron. Sie werden dann in den ersten Kinderjahren in Relation zur Umwelt zusehends synchronisiert. Modul 1, die expressiven Affekte sorgen für eine direkte Steuerung der Beziehung mittels Enkodierungen von mimischem Ausdruck, Lautqualitäten, Blickrichtungen und Gestik. Diese Enkodierprozesse müssen mit den Dekodierprozessen im Partner abgestimmt werden. Die EMFACS-Methode (Ekman 1988; Ekman u. Friesen 1982) versucht in der Mimik die Affektexpressionen zu erfassen. Mimisch definierte Affekte sind nicht immer präsent, sondern kennzeichnen eine besondere, gebündelte Art der Information. Man versieht sie mit einem verbalen Label, zum Beispiel Wut, um eine besondere Art der kommunikativen Bedeutung abzugrenzen. Scherer (2001) betrachtet den so »gelabelten« Affekt als Endzustand eines komplizierten »Appraisalprozesses«, nicht aber als primären Zustand. Er wird aus den stets oszillierenden Regulierungsprozessen im Sinne eines für eine gewisse Zeit stationären Attraktors herausgebildet. Er erlaubt es dem Organismus, rasch auf veränderte Zustände zu reagieren. Er ist ein kleines Regulierungssystem für besondere Situationen (»modaler Affekt«, Scherer 2000). Normalerweise funktioniert ein Regulierungssystem nahe an Instabilitätspunkten. Affektive Reaktionen stabilisieren und können rasch Reaktionen abrufen (Haken 1991). Die Verwendung von modalen Affekten als Konzepte setzt ein bestimmtes Level der Theorie über Regulierungsprozesse voraus (s. a. Redington u. Reidbord [1992] als ein Beispiel einer nichtlinearen Theorie). Die Enkodier- und Dekodierprozesse bilden eine direkte Kommunikation, die sich nicht immer und nicht notwendigerweise in einem inneren Erleben widerspiegelt. Die expressiven Affekte können vom Sender und vom Empfänger nicht bewußt »lokalisiert« und als eine bestimmte Art der Information kodiert werden. Es

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sind »occurent affects«, oder anders formuliert: präattentive Prozesse, die unserer Aufmerksamkeit entgehen. Ihre regulierende Wirkung ist jedoch sehr groß. Im Fall des Funktionierens führen sie dazu, den Partner der Interaktion in eine bestimmte Position zu versetzen. Die Dekodierung verrät, inwieweit dem gefolgt wird oder nicht. In der Emotionsliteratur führte dies zu den sogenannten propositionalen Modellen (De Rivera 1977; s. a. Krause 1990, 1988). Im Laufe der Entwicklung entstehen weiterverarbeitende emotionale Vorgänge, die bereits in einer mentalen Innenwelt zu lokalisieren sind. Diese Innenwelt entsteht natürlich nicht plötzlich, sondern über eine ganze Stufenleiter der Mentalisierung, die immer komplexer Kognition und Gefühl vernetzt. Man ist versucht (vielleicht ist dieser Gedanke weder zweckmäßig noch richtig), diese inneren Appraisalprozesse zu einem Modul 2 zusammenzufassen. Vereinfacht man die Dinge, so würde man von Erlebniskorrelaten des mimischen Ausdrucks sprechen und/oder von Affekten (Gefühlen, Stimmungen), die vom Träger erlebt werden, sich aber nicht expressiv abbilden.1 In diesen Appraisalprozessen werden innere Gefühle lokalisiert und kognitiven Bereichen, zum Beispiel Phantasien oder Wahrnehmungen, zugeordnet. Die affektiven Zustände können adynamische Stimmungen sein oder den Charakter affektiver Signale über innere Abläufe haben. Man kann die Frage aufwerfen, ob bei Borderline-Persönlichkeiten die beiden Module nicht voll gekoppelt sind. Das würde bedeuten, daß das Appraisalsystem nicht fähig ist, die dekodierten Affekte auf ihre Bedeutung hin richtig zu analysieren. Die innere Verarbeitung würde zwar stattfinden, aber durch Annahmen über Intentionen und Motive, sowie durch Annahmen über den Zustand der Beziehungssituation gelenkt. Wenn die Beziehung bei Borderline-Persönlichkeiten primär über eine Situationstheorie verläuft (Fonagy u. Target 2000; Perner 1991), dann muß das Modul 1 über »Wahrnehmungshinweise« (»indices perceptifs«, Piaget 1 Das Verhältnis von Erlebniskorrelaten und nichtverbalen affektiven Ausdrücken wird zur Zeit in der Psychotherapieforschung unter Benützung messbarer Grössen intensiv untersucht (Krause, 1992; Bänninger-Huber 1996; Steimer-Krause 1996; Benecke 2002; Merten 1996; u. a.).

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1959) verlaufen. Die expressiven Affekte werden sich nach der Situationswahrnehmung richten. »Indices perceptifs« sind konkrete, an die unmittelbare Präsenz gebundene Signifikanten, die einen Vorgang anzeigen im Sinne einer Voraussage von Ereignissen (z. B. eine sich öffnende Türe zeigt eine Person an) oder der Rekonstruktion eines soeben geschehenen Ereignisses. Sie sind Träger von Befürchtungen oder von Zeichen erlebter Ängste und/oder Hoffnungen (Piaget, Beth u. Mays 1957). Die Dekodierung expressiver Affekte geschieht aber nicht in Richtung des Erfassens der inneren Intentionen des Partners. Das Erkennen wird durch eigene Projektionen ersetzt, die ein kognitives Bild der Absichten des Partners generieren. Der Zustand des Partners wird über die konkrete Gestalt der Beziehungssituation eingeschätzt. Jedenfalls sind die mimischen Reaktionen des Objekts nicht zu bedeutungsträchtigen affektiven Symbolen einer differenzierten, wenn auch nichtverbalen Kommunikationssprache geworden. Nach diesen etwas spekulativ anmutenden Ausführungen gehen wir zu einem Abschnitt über, der experimentelle empirische Befunde berichtet. Werden sie aufgeworfene Hypothesen verifizieren oder nicht?

■ 3. Praktisch alle Untersuchungen zu Borderline-Patienten und Patientinnen arbeiten mit der EMFACS-Methode (Ekman u. Friesen 1982). Es handelt sich um eine Kurzfassung des FACS, die lexikalisch eine Reihe von Grundemotionen in der Mimik schneller zu erfassen erlaubt. Die Methode hat erhebliche Nachteile gegenüber der FACS-Methode. Die vielen Formen des Lächelns zum Beispiel werden auf wenige Formen reduziert (siehe dazu Bänninger-Huber (1996): Zusammenfassung bisher identifizierter »Lächeln-Typen«). Interpretationen können deshalb nur im Kontext sämtlicher Emotionsformen, die auftreten, vorgenommen werden. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß die Untersuchungen in sitzenden Therapie-Dyaden gemacht werden, um in der Videoaufnahme auch die Mimik des Interviewers, beziehungsweise Thera-

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peuten erfassen zu können. Es wurden bisher Interviews und einzelne Therapiesitzungen untersucht (Benecke 2002; Benecke u. Dammann 2002; Dreher, Mengele, Krause u. Kämmerer 2001; Krause u. Benecke 2001).2 Auf Grund von letzten Ergebnissen, die uns zugänglich waren, können mit entsprechender Vorsicht einige Aussagen oder Hypothesen gemacht werden: 1. Zunächst ein allgemeiner Befund: Es kann vermutet werden, daß sich die expressiven Affekte bei Borderline-Fällen und frühen strukturellen Störungen in Therapie und Interview ganz auf den Therapeuten richten. Es muß zwischen interaktiven Affekten, die der Beziehung selbst gelten und objektbezogenen Affekten, die sich auf das Feld des Mitgeteilten beziehen, unterschieden werden. Der Referenzpunkt ergibt sich aus dem Kontext. Dieser läßt sich unter Beibezug von Blickverhalten, Sprecherrolle und Sprachinhalt finden (Krause u. Benecke 2001). Krause (2002) sieht die Ursache darin, daß Personen mit niedrigem Strukturniveau keinen mentalen Innenraum zur Verfügung haben, in welchem affektive Situationen phantasiert und simulativ durchgespielt werden können. Sie zwingen dem Partner ihre Gefühle direkt auf. Der Therapeut bekommt den Eindruck, der Ausdruck gelte ihm und nicht dem gedanklichen Problem, über das gerade gesprochen wird. Der Therapeut wird für die Gestaltung der Situation verantwortlich gemacht. Die primäre Bewertung der Beziehungssituation (als globale affektive Antwort) wird auf das Objekt zentriert. Es wäre noch nachzutragen, daß beim Verschwinden aller Affekte aus dem Modul 1 (also nicht nur die negativen Affekte) eine schwere Störung der Selbstregulation vorliegt (nach einer Untersuchung über suizidale Personen in Heller u. Lesko 1990).

2 Im Unterschied zu anderen Arbeiten werden in der Folge die Bezeichnungen Therapeut und Patient gewählt. Die Ergebnisse vieler Untersuchungen, die wir zitieren, sind »face to face«-Therapien. Im Prozess sind sie durchaus psychoanalytisch, nicht aber im Setting. Der Einfachheit halber haben wir auf die Verwendung von »Analytiker«, »Analysand« verzichtet, auch wenn im konkreten Fall von einer psychoanalytischen Therapie gesprochen wird.

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2. Was für Affekte fließen in die Interaktion ein? Die Vermutung, Ekel sei der Leitaffekt, bestätigt sich vorläufig nur zum Teil. Nach den neuesten Ergebnissen (Benecke u. Dammann 2002) dominieren wie erwartet negative Affekte. Besonders häufig sind Verachtung (contempt) und Ekel (disgust), dazu auch Ärger (anger). Selten sind Affekte wie Angst (fear) und Überraschung (surprise). Happiness-Expressionen tauchen nur wenige auf. Bei gewissen Patienten dominiert plötzlich »social smile«. Die Häufigkeiten der Variablen schwanken zwischen den Patienten in großem Ausmaß. Der Ekelaffekt indiziert ein »schlechtes« Objekt in zu geringer Distanz zum Subjekt. Es kann auch sein (in der Phantasie), daß das schlechte Objekt sich bereits im Inneren des Subjekts befindet und es als bösartig ausgestoßen werden sollte. Verachtung impliziert Überlegenheit des Subjekts und eine Entwertung des Objekts, das klein und nichtswürdig wird. Ärger wiederum signalisiert Unzufriedenheit mit dem Objekt, enthält aber den Wunsch, doch mit ihm in Verbindung zu bleiben. Untersucht man gleichzeitig den Sprachinhalt, finden sich aber auch Abhängigkeiten: Spricht zum Beispiel ein Patient über sich selbst, so kann automatisch Ekel und Verachtung auftreten. Der Affektausdruck scheint in diesem Beispiel nicht auf das Objekt, sondern auf das Subjekt der Situation gerichtet. Das Auftreten von »smile« (Lächeln) hat sicher eine Funktion der Neutralisierung des affektiven Ausdrucks, insbesondere auch des »blending« negativer Affekte. Die Untersuchung von Benecke und Dammann trennt die Gruppe Lächeln in »social smile« und »happiness«. Letzteres ist wohl identisch mit »felt smile«, ersteres dürfte eine Bezeichnung für alle anderen Arten von Lächeln sein.3 Die Interpretation von »smile« und »happiness« ist deshalb nicht einfach. Dies um so mehr, als die Kategorie erlebtes Lächeln nicht notwendiger Weise auf ein Erleben des Glücklichseins hindeutet. Es kann offenbar im Zuge der Affektsozialisierung auch eine vorgetäuschte Botschaft sein (Bänninger-Huber 1996). Beide Kategorien sind in den Er3 Es gibt im FACS-Kodiersystem inzwischen 12-16 Lächeltypen, die aus Mischungen mit anderen Einheiten (der AU, »action units«) zustande kommen (siehe Bänninger-Huber 1996, S. 76-91).

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gebnissen eher selten, respektive auf einzelne Paare beschränkt. Was die Regulierung der Kommunikation anbetrifft, gilt wohl die Bedeutung eines Angebotes, mit dem Objekt einen Zustand affektiver Resonanz herzustellen oder zu bewahren. Lächeln kann als Resonanzfaden verstanden werden, der dem Partner trotz gleichzeitigem Ausdruck negativer Affekte immer wieder Verbundenheitswünsche signalisiert (Bänninger-Huber, Moser u. Steiner 1990). Wie weit Lächeln vom Verhalten des Therapeuten abhängig ist, bleibt offen. Die resonante Übernahme von Lächeln, zum Beispiel vom Therapeuten auf den Klienten, ist bekannt. Lächeln ist ansteckend. 3. Es besteht der Verdacht, daß Modul 1 und Modul 2 entkoppelt sind. Das würde bedeuten, daß inneres Erleben und Expression nicht parallel gehen. Empirisch ist dies schwer nachzuweisen, weil die Erfassung innerer Affektverläufe nur über eine Befragung gehen kann. Diese setzt aber eine Reflexionsfähigkeit des Subjekts voraus, die gerade bei Borderline-Persönlichkeiten als gestört erachtet wird (Fonagy, Target, Steele u. Steele 1998). Wird infolge Schwierigkeiten im Appraisalprozeß versucht, die Beziehung automatisch über die expressiven Affekte des Modul 1 zu regulieren? Das würde bedeuten, daß die innere Informationsverarbeitung (über Modul 2) infolge einer Dekodierstörung auf ein einziges Modell zurückgreift, das nur mit einfachen Parametern arbeitet: Erhaltung des Sicherheitsgefühls, Erhaltung der eigenen Identität und des konkreten Objektbezugs. Wird die Beziehungssituation zu bedrohlich und zu verunsichernd, wird die dadurch ausgelöste Affekterregung zu intensiv, so werden zwei mögliche Strategien benützt, um die Angst-Reaktionen loszuwerden: Die eine führt über die Enkodierung des Lächelns, über eine Botschaft an den Therapeuten die Situation für den Patienten so zu entschärfen, daß beidseits durch Herabsetzung des emotionalen Involvements eine Form friedlicher »Alltagsbeziehung« entsteht, die keinerlei Bedrohung enthält und eine affektive Resonanz zwischen den Partnern entstehen läßt. Dies führt zu einem Gefühl der Erleichterung (release) aber nicht zu Freude und Glück. Im Zustand der Resonanz können die expressiven Gefühle des Therapeuten direkt übernommen werden. Sie füllen dann das Gefühl der Leere und des

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Nicht-empfinden-Könnens gewissermaßen »leihweise« aus. Das bringt natürlich jede Veränderung in der Therapie zum Stillstand, dafür steigt die beidseitige Zufriedenheit von Therapeut und Patient (sofern die Aktion gelingt). Die andere Strategie ist eine defensiv-feindselige. Es werden negative Affekte enkodiert, die der Fernhaltung des bedrohlichen Objekts dienen. Die beiden Reaktionsformen können auch dahin unterschieden werden, ob in der Beziehung mehr die Komponente »Selbst mit Anderem« oder »Selbst gegen Anderer« (Stern 1985) dominiert. Im ersten Fall steht die Angst, verlassen zu werden, im Vordergrund, im zweiten die Angst vor dem Eindringen des Objekts und vor dem Verlust der Selbstkontrolle. In beiden Fällen, Resonanzerzeugung oder defensive Fernhaltung, soll die Beziehung aufrechterhalten bleiben. Das Objekt wird (wie bereits mehrfach ausgeführt) gebraucht, als wunscherfüllendes, als Sicherheit gewährendes, als Objekt, das hilft, die fremden und die eigenen Affekte zu lokalisieren, als Referenz des eigenen Selbstentwurfes. Aber: die Attribute des Objekts sollen ausschließlich jene sein, die den Bedürfnissen des Subjekts entsprechen. Dazu gehört auch die Funktion der Selbsterfahrung via Objekt. (Vgl. dazu die postulierten Funktionen des »Selbstobjekts« in der Theorie der psychoanalytischen Selbstpsychologie.) »Not being able to feel themselves from within, they are forced to experience the self from without« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target 2002, S. 386). Unversehens sind wir von der Ebene empirisch-experimenteller Untersuchungen der Affektregulation wieder im Bereiche klinischer Erfahrungen angekommen. Es ist aber nicht leicht, aus ihnen Ideen zu entwickeln, die sich quasi als Kernsyndrom bei allen Borderline-Störungen finden lassen (vgl. dazu Moser 2001). Vieles bleibt in Form plausibler Annahmen, vieles wird sicher in Zukunft als voreilige Spekulation betrachtet werden. Wir setzen im folgenden drei Akzente: Abschnitt 4 über die Feinregulation der Beziehung mit niedriger affektiver Dosierung, Abschnitt 5 über den Prozeß der affektiven Einschätzung und Bewertung (appraisal) der Situation und des Objekts. Abschnitt 6 erörtert die Rolle der aggressiven Impulse.

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■ 4. Eine Beziehung muß das Beziehungswissen der beiden Beteiligten zusammenbringen und neues Wissen ad hoc generieren. In Abschnitt 3 wurde versucht, dieses Zusammenspiel auf der Ebene kommunikativer Affekte und deren Funktionen zu erfassen. Es wurden klar erfaßbare Reaktionen im nichtverbalen Bereich beschrieben. Affektive Reaktionen werden gerne als die eigentlichen Ereignisse einer Veränderung indiziert. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Verhältnis von Mimik und Erleben trotz vieler Untersuchungen noch unklar bleibt. Die Regulierung geschieht aber auch in kleinen, affektiv nicht stark belasteten Momenten. Die Boston Change Study Group (2002) geht dieser Frage nach. Sie postuliert kleinste interaktive Einheiten (relationale Schritte), »Streifen« (stings) von verbalen und/oder nichtverbalen Intentionen in den beteiligten Subjekten.4 Hier geschieht ein Großteil der Umänderung impliziten Wissens. Es wird gesehen als Finden zu »kohärenten und inklusiveren Formen des Zusammenseins«. Das kommt zustande durch einen Prozeß des Erkennens der Spezifität der »Stimmigkeit« zwischen den Initiativen der beiden Partner. Damit werden die stilleren Phasen eines Therapieverlaufes neu gewertet.5 Es wird darauf hingewiesen, daß Aktionen wohl beobachtbar sind, Intentionen und Bedeutungen müssen aber erschlossen werden. Es sind diese erschlossenen Intentionen, die dem andern als Rohmaterial zur Planung eines relationalen Schritts und dessen Implementierung in der Beziehung dienen. Diese Beziehung zwischen »erschlossener Intention« und sichtbarer Aktion ist prinzipiell eine lockere, und darum gibt es einen steten Bereich der Unsicherheit. Das führt zu einer »slippability« (Hifstadter 1985) der Interaktionen. Das ist unvermeidlich. Die Subjekte gehen aufeinander zu, dann wieder weg, sie pausieren, indizieren, daß sie den Zustand bestehen lassen oder verändern möchten. Das Verstehen des andern kann entgleiten, schlüpft weg, gerade 4 Wie das geschieht und wie die Autoren diese Einheiten lokalisieren, ist dieser Arbeit noch nicht zu entnehmen. 5 Was einen großen Einfluß auf die Art der Bevorzugung stark affektiver Situationen in Fallbeschreibungen haben könnte.

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wenn man glaubt, eine sichere Basis zur Antwort gefunden zu haben. Dieses stete Entgleiten des Begreifenkönnens ertragen Borderline-Persönlichkeiten kaum. Sie möchten Klarheit der Beziehungssituation. Aber die unvermeidlichen Unsicherheiten eröffnen auch Möglichkeiten des Aushandelns, des Sich-anders-Verknüpfens, der Veränderung der Beziehung. Darauf hat die Boston Change Study Group (2002) in Bezug auf das Konzept der »slippability« hingewiesen. Von dieser Perspektive her ist ein solcher Zustand auch generativ. Wenn von beiden Seiten immer wieder Versuche gestartet werden, sich mit dem anderen zu engagieren, entstehen neue Möglichkeiten des Interagierens. Giannino und Tronick (1988) haben diese Prozedur als »realigning« beschrieben. Das Ziel der Stimmigkeit kann gut durch Fragen umschrieben werden: Sind wir zusammen? Ist es der Punkt, wo ich in der Beziehung sein möchte? Ist das eine kollaborative Situation, in der ich mich wohl fühle? Haken (1991) hat angenommen, daß gemäß nichtlinearen Modellen Systeme in ihrem normalen Funktionieren nahe an Instabilitätspunkten sind. Das erlaubt es dem System, sich schnell an neue Situationen zu adaptieren (durch Übergänge zu mehr synchronisierten Attraktorzuständen). Affekte wären im Rahmen dieser Denkweise herausgenerierte Regulierungszustände (Attraktoren), die innerlich erträglich sind, aber auch bei Starrheit »constraints« mit sich bringen. Es braucht dann wieder emergente Prozesse, um bei veränderter Situation der Beziehung aus dieser Affektsteuerung herauszukommen. Es besteht die Vermutung, daß das Erschließen von Inferenzen aus Zuständen von »slippability« bei frühen Störungen zu großen Unsicherheiten führen kann, die nicht lange ertragen werden. Es tritt sofort eine affektive Reaktion ein, die nur aus der früheren Erfahrung schöpft und Eindeutigkeit verspricht. Die Umwandlung der »joint attention« im Beziehungsraum gelingt schlecht. Kann es sein, daß der Partner in eine bereits bekannte (erwünschte oder unerwünschte) Reaktion manipuliert wird, die zum Beziehungswissen des Borderline-Patienten paßt? Nun taucht natürlich die Frage auf, wie in den Träumen mit dieser emergenten Eigenschaft umgegangen wird und ob nicht in unserer Traumtheorie diese Feinregulierung vergessen gegangen ist.

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Auch der Traum hat mit dem Konzept der Situationen kleinste Einheiten geschaffen (analog des relational move). Der Träumer ist aber nicht gezwungen, die Intentionen eines Interaktionspartners zu erschließen, um eigene Reaktionen zu generieren. Der Partner ist imaginär in der Mikrowelt des Traums. »Slippability« kann es nur auf Seiten des träumenden Subjekts geben. Emergentes Verhalten wird dadurch erleichtert und zeigt sich im kreativen Teil des Traumentwurfes, der in Richtung Wunscherfüllung und/oder Problemlösung führt. Affektive Interrupts tauchen gemäß unserer Theorie dann auf, wenn der Prozeß gefährlich wird (zu viele negative Emotionen auslöst) oder wenn eine Situation als ungenügend bezüglich der Annäherung an das »Gewünschte« erlebt wird. Die Freiheit des Imaginierens im Traum gründet somit in der Asymmetrie der Beziehung. Affektive Regulierungsprozeduren werden auch viel schneller eingesetzt, um den Gang der Dinge zu beeinflussen. Deshalb kann auch die Beziehung zu einem Objekt von Situation zu Situation drastisch wechseln, wie dies in einer länger dauernden Beziehung zwischen Subjekten nicht der Fall sein kann.

■ 5. Um die bisherigen Erörterungen nochmals zusammenzufassen: Jeder Affekt (als modaler Affekt, Scherer 2001) ist ein ausgebildetes Regulationssystem, für besondere Situationen entwickelt und auf Grund von zugeordneten Auslösern ad hoc generiert. Er springt sofort an, wenn über das Appraisalsystem (verdeutscht: ein System das Einschätzung und Bewertung, von den Orientierungsleistungen bis zu den vielen persönlichen oder sozialen Valorisierungen umfaßt) das ganze mentale System in Schwingung gerät und sich dann auf eine Affektorganisation einpendelt. Die beschriebenen Module 1 und 2 sind zwei Etappen dieser Prozesse. Die mangelnde Feinregulierung führt dazu, daß der Entwurf mehrerer Versionen über die möglichen Intentionen des Partners nicht funktioniert. Nur eine Version ist richtig und es besteht eine Intoleranz gegenüber alternativen Perspektiven. Das ist ein Merkmal der situationstheoretischen Regulierung. Was ich glaube oder

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sehe, ist so. Es besteht eine direkte Korrespondenz zwischen Annahme und Realität. Deshalb fehlt die kreative Fähigkeit im sozialen Bereich. Affektive Reaktionen pendeln sich deshalb schnell ein und haften an den wahrnehmbaren Indizien (»indices perceptifs«) der Situation. Zweifeln an den Schlüssen ist nicht akzeptierbar. Falsche Annahmen liegen auf der Hand. Das deckt sich mit der These eines »kognitiven Egozentrismus« (Migone u. Liotti 1997), auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen werden. Borderline-Persönlichkeiten beziehen alles auf sich selbst. Sie können zum Beispiel einen gespielten Affektausdruck von einem tatsächlichen nicht unterscheiden. Gergely (2002) hat in seiner Hypothese der referentiellen Entkoppelung darauf hingewiesen, daß im Zuge der normalen Entwicklung Eltern Gefühlsausdrücke des Kindes spiegeln, aber gleichzeitig Marker setzen, die dem Kinde zeigen, daß es nicht die echten Affekte der Eltern sind.6 Das Kind ist fähig, solche Marker zu erkennen. Haben Borderline-Persönlichkeiten eine Schwäche in der Identifizierung von Markern? Es ist zu vermuten. Es gibt eine Parallele zur therapeutischen Situation. Oft zeigt ein Therapeut mimische Affekte, die objektorientiert sind, sich somit auf den ausgehandelten Inhalt der Therapie beziehen. Sie befindet sich dann in ihrem eigenen Umweltsimulator (Benecke 2002), in welchem sie das Erzählte des Klienten abbildet. Der Therapeut denkt dann »affektlaut«. Mimisch definierter Ekel ist dann simulierter, dargestellter Ekel (insofern der Patient Teil der Erzählung ist, wird sie möglicherweise indirekt im Umweltsimulator des Therapeuten abgebildet). Borderline-Persönlichkeiten können dies nicht unterscheiden. Der Ekel wird als direkte Reaktion des Therapeuten auf den Patienten erlebt. Ein weiteres Problem: Denkt der Therapeut (wieder im Umweltsimulator) über die Beziehung Therapeut – Patient nach, so kann er auch mimisch stumm bleiben. Dann wird er von der Borderline-Persönlichkeit als abwesend erlebt. Die nach innen gewendete Zentrierung des Therapeuten kann der Borderline-Patient nur aushalten, wenn die dyadische 6 Eine konzise Darstellung der Theorie von Gergely findet sich in Dornes (2000). Andere wichtige Aspekte von Gergelys Theorie, insbesondere zum Aufbau der ersten primären Repräsentanzen über die Verinnerlichung des »gespiegelten« Bildes in der Mimik der Mutter, lassen wir an dieser Stelle weg.

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Regulierung so gestaltet ist, daß ein Verständnis dafür besteht, daß das Schweigen des Therapeuten nicht eine Abwesenheit in der Beziehung, sondern eine intensive Anwesenheit über sein Modellieren bedeutet. Die Borderline-Persönlichkeit ist sensorisch empfindlich auf Ereignisse der Beziehungssituation. Die Dekodierung wird zunächst nur affektiv, aber nicht kognitiv verarbeitet (im Sinne von Hypothesen). Es ist wie wenn alle Informationen in einen Sammeltopf »zur Situation« oder »zur Situation der Beziehung« geraten. Von einer Feinregulierung kann nicht die Rede sein. Das Objekt wird dabei als alleiniger Verursacher erlebt. Das führt zu einem »offenen affektiven Zustand«, dessen Kennzeichen Verwirrung und Chaos sind, mit einem Verlust jener Informationen, die üblicherweise mit den Affekten verbunden sind. Die Erregung summiert sich und wird an sich zum Problem. Bollas (1996) hat in seiner Arbeit über Borderline-Persönlichkeiten davon gesprochen, daß affektives chaotisches Aufgewühltsein anstelle des Primärobjekts steht. Green (2002) bezeichnet diesen offenen Zustand als »innere Panik«. Hocherregte offene Zustände sind auch bei anderen psychischen Störungen bekannt.7 Sie alle bedrohen die eigene Sicherheit, erzeugen eine hochgradige Vulnerabilität und verhindern eine Regulierung der Beziehungssituationen, die Auslöser des Zustandes sind. Der offene Zustand kann unterschiedlich lange dauern. Man hat den Eindruck, daß die Zerfallsfunktion der Affekte außer Kraft gesetzt worden ist. Das Subjekt gerät in einen Zustand der Beziehung, die affektives Erleben nicht mehr eindeutig lokalisieren läßt. Es wird dann als erstes versucht, wenigstens im Bereich des Modul 2 die Affekte zu entleeren (Green 2000: »extravasation«). Auf einer ersten Stufe führt das dazu, daß das Subjekt sich leer fühlt (»blackhole«, »deadness«, »nothingness«). Die Leere kann sich auf die Körpergefühle ausdehnen (»Gefühl fehlender Vitalität«). Die Struktur 7 Zum Beispiel führt offene Furcht (open fear) zu Angstattacken (Fenichel 1945). Offener Schmerz (open pain) wurde von Joffe u. Sandler (1965) postuliert. Auch narzisstische Wut lässt sich zunächst als offener Zustand verstehen (Kohut 1971). Über frühkindliche Restabilisierungsprozesse, die in der Literatur unter verschiedenartigen Bezeichnungen beschrieben wurden, siehe Moser u. von Zeppelin (1996a, S. 35 – 41).

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dieses Vorganges bleibt vorerst unverständlich. Die Beziehungsumwelt wird als fade und ereignislos erlebt, ja: die Beziehung existiert nicht mehr. Das wiederum wird nicht ertragen und es kommt zu einer Reorganisation des Beziehungsgefühls. Das kann nur sehr konkretistisch »gemacht« werden. Selbst und Objekt müssen über die konkrete Anwesenheit des Objekts und eventuell über körperlichen Kontakt zu diesem Objekt zunächst neu lokalisiert sein. (Ein schönes Beispiel des konkretistischen Verhaltens in einer Therapie findet sich in einem Fallbericht von Stewart 2003). Jetzt kann versucht werden, die »entleerten Affekte« des Affektchaos einem der Partner anzuhängen. Mit anderen Worten: Es kommt zu einer Wiederauflage affektiver Schemata des Beziehungswissens, die aber mangels Feinanalyse nicht unbedingt zu den Intentionen der affektiven Kommunikation passen. Die Reorganisation ist möglich, weil untergründig der Resonanzanteil der Beziehung erhalten bleibt. An dieser Stelle muß erinnert werden, daß jede Beziehung zwei Aspekte enthält (Stern 1985). Es gibt eine Beziehung »mit dem Objekt« (with the object) und eine Beziehung »gegen das Objekt« (versus the object). Im ersten Fall werden Affekte imitativ vom Objekt ausgeborgt, um wieder lebendig zu werden. Das gilt aber nur für Affekte, die nicht zu unerträglichen Erregungen führen, denn dies würde nur zur Wiederherstellung des offenen Affektzustandes führen. Imitationen brechen auch sofort wieder zusammen, wenn sich herausstellt, daß man nicht mehr die Person ist, die man gerade imitiert (Fonagy u. Target 1996). Sie führen auch zu einem Verlust an gewünschter Autonomie, die ein wesentlicher Bestandteil der Beziehung »gegen das Objekt« ist. Immerhin, die Lebendigkeit ist restauriert, der Preis dafür ist eine als extrem erfahrene Objektabhängigkeit. Im zweiten Fall werden die Affekte zu Attributen des Objekts. Es wird dann zum bösen Feind und Bedroher. Das Objekt muß dann abgeschottet werden. Was in der mimischen Affektregulation als typisches Syndrom der negativen Affekte auftaucht, gehört zur Taktik der Fernhaltung und der Abstoßung des Objekts, das Syndrom des Lachens als jenes der resonanten Imitation. Eine weitere Störung des Appraisalprozesses folgt bei der Mentalisierung der Affekte. Im normalen Fall werden im kommunika-

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tiven Bereich differentielle Affekte dekodiert, die eine kognitive Feinregulierung auslösen und begleiten. Das heißt, es kommt zu einer Einschätzung der mentalen Innenwelt des Objekts, seiner Intentionen und seines affektiven Zustandes. Diese Informationen werden mit denselben Aspekten der eigenen Innenwelt in Beziehung gebracht, die wiederum über Feinregulierung und Affekte dem Objekt mitgeteilt werden. Damit ist natürlich ein Modell der Beziehungsregulierung beschrieben, das sich ad hoc immer wieder neu bildet. In diesem Zustand sind Modul 1 und Modul 2 gekoppelt. Diese differenzierenden affektiv-kognitiven Informationen können auch zu Entwürfen anderer Mikrowelten führen. Diese sind »alternativ« und simulieren, wie das in Träumen, Phantasien und Spielen der Fall ist (Moser u. von Zeppelin 1996b). In ihnen wie auch in den Wachbeziehungen werden Affekte aktualisiert. Die Erregungskomponente der Affekte wird, so nimmt man an, durch die Phantasie absorbiert. Diese Affektaktualisierungen sind immer noch irreflexiv. Werden sie explizit erlebt, dann sind sie Gefühle der Innenwelt, die gespürt, lokalisiert und benennbar sind (explizite Reflexivität). Auch die Unterschiede in den psychischen Realitäten des Subjekts und des Objekts werden erkannt und führen zu einer Verfeinerung und Differenzierung des Beziehungswissens. Im Gegensatz dazu kann zusammenfassend gesagt werden, bleibt der Appraisalprozeß bei Borderline-Patienten gestört. Die mangelnde Feinregulierung mit dem Ziel des Erkennens von Intentionen beim Objekt und auch bei sich selbst, führt zum Versuch, nur die affektive Regulation zu benützen. Das wäre an sich nicht so schlimm, wenn es nicht zu einem Affektchaos im Subjekt führen würde, weil die Dekodierung der kommunizierten Affekte nicht gelingt. Aus dem Affektchaos heraus kommt es auf konkretistischer Ebene zu einer Reorganisation, indem Affekte konkretistisch im Subjekt und Objekt lokalisiert werden. Die mentale Aufarbeitung gelingt höchstens irreflexiv und über kindliches Beziehungswissen. Alternative Entwürfe sind nicht möglich. Das Beziehungswissen wird durch ad hoc Erfahrungen nicht angereichert. Wer es vorzieht, in den Kategorien der Theorie von Bion zu denken, findet hier sein Gelände. Es wird ein Raum entwickelt, der zum Erschließen neuer Räume führt. Der ganze Appraisalprozeß

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der soeben beschrieben wurde, wird einer Alpha-Funktion zugeordnet. Bei Borderline-Störungen funktioniert das anders. Der offene affektive Zustand ist ein Topf voller Beta-Elemente, die nicht in Alfa-Elemente umgewandelt werden können. Ferro (2000, 2002) weist darauf hin, daß es auch fragmentierte, defiziente AlfaFunktionen gäbe. Bei der Borderline-Störung muß man annehmen, daß anstelle eines K-Raumes, der an eine funktionierende Alfa-Funktion gebunden ist, ein K-minus-Raum entsteht. Dieser enthält Phantasien der (illusionären) Allwissenheit und der magischen Allmacht (siehe ausführlicher bei Krejci 1999). Es wird versucht, die Affekte zu binden. Dies ohne großen Erfolg und vor allem sind die K-minus-Phantasien nicht fähig, das Beziehungswissen zu vermehren. Sie haben eine Pufferfunktion, die das Subjekt vor der realen Umwelt abschottet (vgl. auch Moser 2001). Bestenfalls ergibt sich eine »falsche Ordnung der Affekte« in einer nicht realen, der Beziehung Subjekt – Objekt zugeordneten, kognitiven Welt.

■ 6. Man könnte an dieser Stelle zu einem vorläufigen Schluß kommen, wenn nicht dem destruktiven Agieren bei der Beschreibung von Borderline-Fällen eine besondere Bedeutung zukäme. Wir beschränken uns auf jene Phänomene, die in der therapeutischen Beziehung zu beobachten sind. Da das Objekt in dieser Beziehung unabdingbar auch gebraucht wird, treten direkte Morde und/oder Selbstmorde nicht besonders häufig auf. Die Elimination eines Objekts und dessen Ersatz findet höchstens im Traum durch das »Fallenlassen« eines Objekts nach einer Traumsituation und dessen Ersatz durch ein anderes in der nächsten Traumsituation ihren Platz. Das ist aber nicht nur ein Borderline-Phänomen (Moser u. von Zeppelin 2004a). Es ist auch nicht so, daß der Therapeut die psychische und physische Existenz des Borderline-Patienten direkt bedroht. Wie bei allen Menschen muß ein basales Abwehrsystem mit den Komponenten Kampf, Flucht, Unterwerfung angenommen werden. Sie treten nur in ganz seltenen Fällen der Bedrohung

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unmodifiziert im Verhalten auf. Ein übergelagertes Regulierungssystem moduliert, einerseits im Sinne der Inaktivierung andererseits der Modulierung auf der Basis der affektiv kognitiven Analyse einer Beziehungssituation. Inaktivierung wie Umwandlung sind Funktionen der mentalen Abwehrorganisation, im weitesten Sinne der Ich-Leistungen überhaupt (in der Definition der Psychoanalyse).8 Es geht also um die Bedingungen, die ein gewalttätiges Agieren (acting in: Fonagy u. Target 1995) auslösen und begründen. Destruktiv kann solches Verhalten genannt werden, weil es aus der Sicht des Therapeuten ihn betrifft (ein Aschenbecher wird ihm an den Kopf geworfen), weil der Prozeß der Therapie unterbrochen oder entleert wird, oder weil man den Schluß zieht, der Patient schädige sich selbst (selbstschädigendes Verhalten bis zu Suizidversuchen). In jedem Fall soll das Objekt nicht vollständig böse sein, seinen positiven Wert zumindest über Hoffnungen (streng geheime oder unbewußt gebliebene) behalten. Es darf trotz Gewaltanwendung nicht zerstört werden, sondern es soll sich zu Gunsten der eigenen Regulierungsprinzipien verändern. Der häufige Wechsel der Regulierung vom Niveau der Situationstheorie auf später entwickelte Formen der Mentalisierung (vor allem der Externalisierung und Introjektbildung) führt auch zu unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für gewalttätiges Verhalten. Auf dem Niveau der Situationstheorie ist dessen Ziel die Abschaffung eines unerträglichen Affekts, der die Regulierung dominiert. Hat er, wie beschrieben, einen chaotischen Zustand angenommen, dann muß dieser unerträgliche Affekt beseitigt werden. Ein eindrückliches Beispiel (Fonagy u. Target 1995): »Der Mann wurde von Henrietta getötet, weil er genau in diesem Augenblick ihre Scham verkörperte. Ihn zu zerstören, wurde erlebt als die Zerstörung einer unerträglichen mentalen Verfassung« (S. 989). Der Analytiker von Henrietta wurde nicht getötet! Auf diesem Niveau der Regulierung sind Selbst, Objekt, Affekt Integrationsaspekte derselben unerträglichen Situation. Sie bedroht deshalb auch die Kohärenz des Selbst. Lecours und Bouchard (1997) spre8 Damit wird auch der Ansatz unserer Aggressionstheorie deutlich. Dazu ausführlich Moser (1978).

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chen zu Recht von einer disruptiven Impulsion, die den Gang der Interaktion sofort und dringlich unterbricht. Dann herrscht für kurze Zeit Ruhe, weil die gefürchtete Affektintensität (als erlebter Affekt) über sensomotorische Aktivität erniedrigt werden konnte. Eine Formulierung, die aus verschiedenen Aggressionstheorien her stammt (Moser 1978; Schmidt-Hellerau 2002; u. a.) könnte lauten: Das Versagen einer differenzierten Feinregulierung und der benutzten Affektregulierung führen zu einer »operativen Regression« der Aktivität mit mentalisierter Planung auf primitive Formen gewalttätiger Beeinflussung (sei sie motorisch oder verbal). Ein verstärkender Faktor ist die defizite Selbsteffikazität, das heißt die Rückmeldung über das eigene Verhalten und dessen Planung ist immer negativ und reaktiviert aggressives Durchsetzen (Frank 2001) wie auch andere Formen der Gegenkontrolle (wie z. B. Schmeichelverhalten bei der resonanten Spielform der Beziehung). Aus den Prinzipien der Affekttheorie könnte abgeleitet werden, daß durch das Versagen des Modul 1 (kommunikative Affekte) und des Modul 2 (mentalisiertes Erleben des Affekts) zwangsläufig die Handlungsbereitschaftskomponente der Affekte aufgeladen wird. Dies wiederum führt zu größeren Wahrscheinlichkeiten von Handlungsvollzügen »aus dem Affekt heraus«. Beide Hypothesen haben ihre Richtigkeit, doch sind sie noch zu wenig präzise. Gewalttätige Reaktionen in einer Beziehung haben auf der Eben der Situationstheorie das Ziel, einen Zustand der Interaktion, der gefährlich wird, zu unterbrechen und auf das statische Prinzip einer topologischen (geometrischen) Beziehungsrealität zurückzuführen. Hier wird die Regulierung von Beziehungen viel einfacher. Die Fragen, ob das Objekt sich dem Subjekt zu- oder abwendet, ob es überhaupt präsent ist oder sein soll, ob es verfügbar ist, wird in diesem Beziehungsraum mittels kognitiver Kategorien der Distanz, des Fernhaltens, des Containing und anderer Prinzipien zu regeln versucht. Die Beziehung zum Objekt erfolgt nicht über das Erkennen von komplexen Intentionen des Objekts. Diese bleiben nicht entzifferbar (und werden projektiv interpretiert). Die Umwelt wird auf eine Art »Rubbertopologie«9 abgebildet. Das Referenzieren 9

Die Ebene kann gummiartig »verzerrt« werden, ohne dass sich die Ordnungsprinzipien der Objekte verändern.

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von Subjekt und Objekt wird gleichsam berechenbar (vgl. wiederum Schmidt-Hellerau 2002). Diese Art der topologischen Abbildung verläuft nach dem gleichen Prinzip, wie die der Herstellung eines Positionsfeldes im Traum. In diesem Feld werden nur Beziehungen zwischen kognitiven Elementen (animierte und nichtanimiert) zugelassen, die von einem Sicherheitsprinzip her geregelt werden können. (Moser u. von Zeppelin 1996b). Das Positionsfeld bildet die Basis für die Entwicklung von Interaktionssequenzen. Es kann durchaus sein, daß Borderline-Patienten versuchen, im Wachzustand Beziehungen so zu regulieren, wie alle Menschen es im Traume streckenweise tun (Moser u. von Zeppelin 2004a). Bei der Herstellung dieser Zustandssicherheit (die eine Starrheit impliziert) werden somit auch durch die Umwandlung der Situation Affektreaktionen stabilisiert. Gewalttätige Manipulationen treten auf, wenn Objekte »anders« positioniert werden müssen (z. B. lahmgelegt werden durch Nichtzuhören, durch Fernbleiben, unvermitteltes Unterbrechen der Therapiesituation (z. B. wortloses Aufstehen und Weggehen). Solche Phänomene werden häufig fälschlicherweise vom Therapeuten als Aggression gegen ihn mißverstanden. Affekte in Form von aktualisierten Gefühlen mit Erlebnischarakter sind in einer topologischen Abbildung scheinbar verschwunden. »Occurent« sind sie natürlich da. Sie produzieren Spannungszustände, die jeweils eine spezifische Komposition von Elementen in diesem Raum bewirken. Dem Betroffenen und dem außenstehenden Beobachter zeigt sich das als eine Art Unfähigkeit, Gefühle zu haben und zu entwickeln. Wie gesagt, dieser Zustand der Beziehungswelt ist bereits Folge von gewalttätigem Handeln, im weitesten Sinne Ergebnis einer Gegenkontrolle über die Objekte, die in der »gewünschten«, nicht bedrohlichen Position gehalten werden. (Zum Phänomen der Gegenkontrolle siehe Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991; von Zeppelin 1987.) Gegenkontrolle äußert sich in der paranoid anmutenden Beobachtung des Objekts. Die Augen sind voll des potentiellen Hasses. Was gesehen wird, ist provokativ. Gelingt die Gegenkontrolle (im Erleben der Person, die sie ausübt), so entsteht ein Triumphgefühl und die Bereitschaft, ihrerseits zu attackieren, wird stärker. Die Augen invasieren das Objekt, zerstören es und lenken von der eigenen Destruktion ab (Riesenberg 2002). Es geht darum, Veränderungen im

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Verhalten und in den zugeschriebenen inneren Prozessen schnell zu erkennen, um mittels der Gegenkontrolle nur jene Verhaltensweisen im Objekt zuzulassen, die erträglich sind. Der topologische Beziehungsraum wird durch ein Sicherheitsprinzip bestimmt. Im Extremfall führt diese errungene Sicherheit zu neuem Positionieren von Subjekt und Objekt. Der Prozeß wird mit einer Einschränkung von Wunscherfüllungen bezahlt. Zudem fühlt sich das Subjekt alleine und nicht geliebt. Es ist unvermeidbar, daß von Zeit zu Zeit innere und äußere Auslöser Wünsche reaktivieren und zu Versuchen einer Wunscherfüllung führen. Diese ist aber nur durch den Aufbau einer Interaktivität mit Affektaktualisierung möglich (auch autoerotische Wünsche erzeugen ein Affekterleben). Die in der Gegenkontrolle gehaltenen »Occurent«-Affekte gleichen »Affektkonserven«. Sie haben besondere Eigenschaften: 1. sie sind potentiell, das heißt nicht in die Regulierung der Beziehung einbezogen (instantiiert); 2. sie sind zwar mit einer spezifischen Beziehungssituation verknüpft, die sie auch repräsentieren. Doch darf die Affektspannung weder mit einer Erinnerung, noch mit ähnlichen Phantasien in Zusammenhang gebracht werden; 3. das Subjekt kann anstelle des Objekts der Beziehung diesen Affekt »besetzen« und zum Kompagnon nehmen. In diesem Zusammenhang ist auf die These von Potamianou (1997) zu verweisen. Die Hoffnung ersetzt die nicht gelingende Befriedigung. Sie zu besetzen, ersetzt die sich nicht einstellende Lust. Die Hoffnung wird dauernd generiert, um das Risiko einer schmerzlichen Begegnung mit der inneren oder äußeren Realität zu vermeiden. Daraus resultiert ein Warten, eine endlose Passivierung. Hoffnung heißt also auch »Aufschieben« bis zur Unkenntnis des Wunsches. Drei solcher Affektkonserven sind besonders häufig: Zunächst der Neid. Werden nicht-erträgliche Wünsche auf das nicht-erfüllende Objekt projiziert, so folgt der Neid auf das Objekt, dem eine bessere Fähigkeit zur Erreichung des Zieles »Wunscherfüllung« zugeschrieben wird. Die »Wolke Hoffnung« vernebelt das unangenehme Erleben des Neides. Eine Aktualisierung eines Neidaffekts würde die Konserve aufbrechen und eine gewalttätige

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und/oder destruktive Komponente (als Handlungsanteil des Affekts) wahrscheinlich machen. Zum zweiten der Groll. Bei diesem Affekt (Feldman 1997; Steiner 1997) ist auffallend, daß Rache und Vergeltung die entsprechenden, aktualisierten interaktiven Affekte bezeichnen, Groll hingegen ausschließlich deren Umwandlung in eine inaktivierte Konserve. Groll bleibt und kann immer in sich getragen werden. Auch beim Groll taucht die »Wolke Hoffnung« auf. (Eines Tages gibt es doch so etwas wie Vergeltung und Rache). Als drittes Beispiel könnte Scham genannt werden. Aktualisierte Scham in einer interaktiven Situation ist von Angst begleitet (z. B. Angst, sich zu blamieren). Scham gibt es aber auch als verinnerlichte Konserve. So spricht Gilligan (1997) von einer nicht mentalisierten Scham, einer »ego distructive shame«. Diese nagt ständig und fortschreitend am Selbstgefühl, ohne daß der Träger dieser Scham die selbstdestruktive Kraft zu spüren vermeint. Diese Variante einer Affektkonserve ist bei der resonant-symbiotischen Form der Borderline-Störung zu finden. Man könnte einwenden, daß solche Affektkonserven auch bei neurotischen Störungen, vielleicht auch bei normalen Personen zu finden sind. Wenn zum Beispiel Rache als berechtigt erkannt wird, die Umwelt aber so beschaffen ist, daß sie nicht ohne fürchterliche Konsequenten vollzogen werden kann, dann bleibt nur noch der Groll. Was ist also spezifisch für Borderline-Störungen? Der konservierte Affekt10 bleibt als Spannungszustand erhalten. Er ist diffus und zeitlich (wie die Hoffnung) von einer realen Situation, von einer konkret realen Objektbeziehung abgehoben. Er ist nicht mentalisiert und deshalb nicht als spezifisches Gefühl, das man in einer spezifischen Situation hat, erlebbar. Die zugehörige Phantasie wird nicht entwickelt. Das ermöglicht aber auch, die Spannung von Zeit zu Zeit irreal an bestimmte Vorkommnisse mit irgendwelchen Objekten zu knüpfen. Kommt es zu einer Reaktivierung des Affekts in einer Beziehung, dann wandelt er sich in einen chaotischen Zustand. Dieser wiederum löst destruktive Impulse aus mit dem Ziel, den bedrohlichen chaotischen Affekt zu beseitigen. 10 Wie ein solcher Affekt-Spannungszustand im Hirn aufrechterhalten werden kann, wissen wir nicht.

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■ Schlußbemerkung Auch in dieser Arbeit über »frühe Störungen« (resp. BorderlineStörungen) wurde nicht versucht, eine allgemeine Theorie zu entwickeln. Wir gingen in drei Arbeiten von unterschiedlichen Phänomenen und Problembereichen aus. In einer ersten Arbeit (Moser u. von Zeppelin 2004a) war die Frage: Gibt es spezifische Träume? (»borderline« im Traumalltag). In der zweiten Arbeit (Moser u. von Zeppelin 2004b) war der Ausgangspunkt die mentale Affektivität zwischen Analytiker und Analysand in der Therapiestunde (Borderline: Mentale Prozesse in der therapeutischen Mikrowelt). In der vorliegenden dritten Studie beschäftigten wir uns mit der Beziehungsregulierung und dem Beziehungswissen. Man könnte unser Verfahren Theorienbildung in Fragmenten nennen. Es wird dabei von therapeutischen Erfahrungen, von Thesen der bestehenden Literatur und von intuitiven Einzelfällen ausgegangen. Die daraus entwickelten Theorien weisen auf, wie weit sie Phänomene der frühen Störung verständlich machen können. Die gewonnene Einsicht bleibt zunächst fragmentarisch. Interessanterweise geschieht im Träumen genau dasselbe, wie French (1954, 1958) es für das Problemlösen nachgewiesen hat. Kein Traum stellt das Problem des Träumers umfassend dar. Affektive Barrieren und andere Beschränkungen der Kompetenzen fragmentieren die Einsicht. Aber jedes gewonnene Fragment erzeugt in einem späteren Traum eine Ergänzung. Seiner Meinung nach verläuft der Einsichtsprozeß in der psychoanalytischen Therapie nicht anders. Vermutlich hat uns die intensive Beschäftigung mit dem Traum zu diesem Verfahren verführt.

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Therapeutische »Mikrowelten« in frühen Störungen

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■ Affekt: Regulierung und Entwicklung

■ Ulrich Moser

Affektsignal und aggressives Verhalten1 Zwei verbal formulierte Modelle der Aggression

■ Vorbemerkung

1

Man hat den Eindruck, daß in der psychoanalytischen Theorie der Aggression in den letzten Jahren das kathartische Spannungs-Entspannungs-Modell, das im wesentlichen auf dem Konzept eines »aggressiven Triebes« und einer »aggressiven Energie« beruht, aufgegeben worden ist. Die Schwierigkeiten, ein befriedigendes »Aggressions«-Konzept für die psychoanalytische Theorie zu finden, sind nicht geringer geworden. Vor allem scheint nicht klar zu sein, ob die Aggression in einer solchen Theorie als motivierende Variable dienen soll oder als beobachtbares Verhalten (Beobachtungsvariable), das unter bestimmten inneren und äußeren Bedingungen des mentalen Geschehens auftritt. Eine Entscheidung darüber kann aus der unmittelbaren Erfahrung des Analytikers auch gar nicht gefällt werden. Es ist vielmehr die Struktur des gewählten theoretischen Systems, die definiert, ob es zu motivierenden oder ausschließlich beobachtbaren Variablen kommt. Dabei gehen wir von dem Standpunkt aus, daß jede Theorie als ein nicht reales, konzeptuelles System2 verstanden werden kann, als ein Formalis1 Aus der Interdisziplinären Konfliktforschungsstelle – Soziologisches Institut der Universität Zürich; Abteilung Klinische Psychologie – Psychologisches Institut der Universität Zürich. 2 Unter »System« wird ein »Relativ« verstanden. Ein System hat einen Definitionsbereich und eine Reihe von Relationen, welche eine Einschränkung

Affektsignal und aggressives Verhalten

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mus, als »Abbildungsraum« für unvollständig bekannte »reale« Systeme dient. Diese Idee ist in der Psychoanalyse keineswegs neu, wenn sie auch nie explizit formuliert und in bezug auf ihre Konsequenzen durchdacht worden ist. Für die psychoanalytische Theorie gilt als Systembereich der »psychische Organismus« mit seinen Wechselwirkungen mit der Umwelt. Sie hat die physiologischen Prozesse ausdrücklich ausgeschlossen und kann darum physiologische Prozesse (wie z. B. »somatische Quellen von Trieben«) nur als Input-Phänomene eines psychischen Systems erfassen (vgl. Freuds Konzept der psychischen, d. h. affektiven und ideellen Repräsentanzen des Triebes). Auch die Theorie der Objektbeziehungen, die oft als Gegenbeispiel zu dieser Aussage angeführt wird, beschäftigt sich mit den Output- und Input-Prozessen des psychischen Organismus. Sie betrachtet aber nicht die Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Personen in der Weise, daß der Systembereich der Interaktion gilt und die Anteile der beteiligten Persönlichkeitssysteme3 lediglich die Inputgrößen in Form von »Erwartungen«, »Einstellungen«, »Informationseinheiten« und so weiter in dieses System liefern – unter Ausklammerung der internen mentalen Prozesse, die an der Generierung solcher Inputeinheiten beteiligt sind (vgl. dazu Watzlawick, Beavin, Jackson 1967). Die Psychoanalyse hat eine Theorie des Subjektsystems entwickelt, die reich an »inneren« Variablen ist und viele Relationen 3 der möglichen Wertkombinationen der Variablen ergeben. Ein System enthält eine Reihe von Zeitvariablen. Die Wahl dieser Variablen ist willkürlich. Die gewählten Variablen werden als die relevanten Variablen angesehen. Ein System enthält Relationen zweierlei Arten: synchronische Relationen (Simultaneinschränkungen) und diachronische Relationen (Prozeßeinschränkungen). Es wird unterschieden zwischen Input-Variablen, OutputVariablen und »inneren« Variablen. Ein System kann mit Hilfe von Übergangsregeln dargestellt werden. Die Input-Variablen definieren die für das System relevante Umgebung. Die Output-Variablen sind als solche beobachtbar, beeinflussen aber das weitere Schicksal des Systems nicht mehr. Wird im psychologischen Sinne als Output eines Systems alles für den außerhalb des Systems liegenden Bereich Relevante des Systemgeschehens betrachtet, so umfaßt der relevante Output die Output-Variablen und die »inneren« Variablen. 3 Der Systembereich ist der gleiche wie bei den Persönlichkeitstheorien. Es wird in der Folge gelegentlich der Terminus Persönlichkeitssystem übernommen, meist aber die neutrale Bezeichnung »Subjektsystem« benutzt.

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

enthält. In Gestalt der Strukturtheorie (Es-Organisation, Ich-Organisation, Über-Ich- und Selbstideal-Organisation) wurde versucht, ohne die Mittel systemtheoretischer Konzeptbildung eine Theorie der Prozesse innerhalb des Systems »Subjekt« oder »Persönlichkeit« zu geben. Das beobachtbare Verhalten einem Objekt (als gleichgeartetem Subjektsystem) gegenüber wird als der für das andere Subjektsystem relevante Verhaltensoutput des Systems gesehen, welcher als Input in das Objektsystem eingeht, dieses verändert, in ihm einen relevanten Verhaltensoutput erzeugt, der als Rückmeldung wieder zum Input des ersten Subjektsystems wird. Anders als in Interaktionstheorien wird der Kommunikationsprozeß selbst nicht untersucht; der Akzent liegt auf den Input- und Output-Aspekten des jeweils betrachteten Subjektsystems. Die Grundkonzeption der dyadischen Psychotherapie, die grundsätzlich am Verhalten des Subjekts in Abhängigkeit von den internen Verarbeitungs- und Generierungsprozessen orientiert ist, mag zur Wahl des Systembereichs geführt haben. Das Resultat ist ein komplexes, verbal vage formuliertes Systemkonzept, das viele Konstrukte für innerpsychische Prozesse und deren Störungen enthält. Die in der Psychoanalyse unterschiedenen »Aspekte der Theorie« (genetischer, ökonomischer, dynamischer, struktureller, topischer, adaptiver Aspekt usw.) kann man als Skizze zu unterschiedlichen theoretischen Modellen über denselben Systembereich betrachten, wobei in jedem Modell andere Variablensätze eingeführt werden. Ein solches Vorgehen ist durchaus legitim, ja sogar sehr fruchtbar, sofern nicht die generierten Theorien ständig vermischt oder im Laufe einer Arbeit fortwährend gewechselt werden. Mit der Wahl einer Theorie ist der Systembereich und sind die zugehörigen Variablen (Input-, Output-, »intrinsic«- oder Transformator-Variablen) gewählt. Das hat zur Folge, daß nur ein begrenzter realer Phänomenbereich (respektive Aspektbereich) von der Theorie abgedeckt wird. Es ist ferner zu beachten, daß die entwickelte Theorie der Zustände und Prozesse in ihren Aussagen von dem implizit oder explizit definierten Systembereich abhängig ist. Die Wahl relevanter Variablen entscheidet über die Möglichkeiten der Vorhersage innerhalb des betrachteten Systems, aber auch über die Arten der Aussagen, die gemacht werden können. Es erscheint uns deshalb als vernünftig – dies besonders angesichts

Affektsignal und aggressives Verhalten

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der großen theoretischen Verunsicherung in der Psychoanalyse –, das Phänomen der Aggression im Rahmen desselben Systembereichs, aber unter verschiedenen Variablensätzen zu konzeptualisieren. Dies bedingt notwendigerweise einen Verzicht auf eine generelle »Aggressionstheorie«. Wir werden in der Folge zwei mögliche Wege zu solchen »Teiltheorien« der Aggression vorschlagen. Dabei stoßen wir zunächst auf ein weiteres Problem: Es besteht bei einem solchen Unternehmen kein Grund, die auffällige Isolierung der Psychoanalyse von andern Wissenschaftsgebieten mitzumachen. In Bezug auf das Aggressivitätsproblem hat Mitscherlich (1961) mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß es die Psychoanalyse versäumt hat, dessen sozialpsychologische Aspekte zu bearbeiten. Das gleiche gilt auch für die neurophysiologische und die ethologische Aggressionsforschung. Man kann auch kaum Brenners (1971) Schlußfolgerung unterschreiben, die für einen Großteil der psychoanalytischen Literatur noch Gültigkeit zu haben scheint und besagt: »Supporting evidence from other branches of biology although it would be welcomed ist not essential nor is it available at present« (S. 143). Es gibt solche Ergebnisse, und sie sind sowohl »essential« wie »available«. Wenn nun aber Ergebnisse anderer Theorien und anderer Forschungen für die theoretische Formulierung psychoanalytischer Erfahrungen nutzbar gemacht werden sollen, so müssen die Systembereiche dieser Theorien genau beachtet und mit demjenigen der psychoanalytischen Theorie verglichen werden. Es soll also kein »level jumping« betrieben werden, etwa in der Weise, daß neurophysiologische Formulierungen für die kognitiven Konzepte der Psychoanalyse versucht werden oder daß durch eine soziologische Betrachtung des Aggressionsproblems der Systembereich des Subjekts mit seinen »innern« Variablen in sich zusammenfällt. Wie fruchtbar eine Integration der außerpsychoanalytischen Aggressionsforschung werden könnte, zeigt der Integrationsversuch von Michaelis (1976). Wir werden in der Folge nun jene Ansätze außeranalytischer Theorien über die Aggressivität bringen, die in den nachfolgenden zwei Versuchen eine unmittelbare und entscheidende Rolle spielen und von denen man sagen kann, daß sie sich in die beiden psychoanalytischen Theorien integrieren lassen. Es wird dabei bewußt

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

auf eine vollständige Darstellung dieser Theoriengebiete und der ihnen zugrundeliegenden Forschungsergebnisse verzichtet.

■ 1. Neurophysiologische Forschung Die neurophysiologischen Forschungen betrachten aggressive Verhaltenssequenzen als Bestandteil einer komplexen Regulation der Anpassung des Organismus: die verschiedenen Modi des aggressiven Verhaltens werden gleichzeitig durch Hemmungs- und Aktivierungsstrukturen gesteuert. Nach Kaada (1967), der versucht hat, den Stand der Forschung auf diesem Gebiet zusammenzufassen, gibt es für die Theorie der neurophysiologischen Steuerung zwei Alternativen: (1) Kampf- und Fluchtsequenzen beruhen auf zwei separaten Programmsystemen der Hirnorganisation, die aufgrund entsprechender Cues (Signale) an- und ausgeschaltet werden. Sind sie aktiviert, so erzeugen sie über das zentrale Nervensystem relativ stereotype Aktivitätsmuster. Bei elektrischer Stimulation ohne entsprechende Umwelt-Cues wird im Grenzfall das eine oder andere Aktivitätsmuster ausgelöst. (2) Beide Verhaltenssequenzen sind fundamental von ein und demselben »Abwehr«-Programm abhängig. Aufgrund der präsentierten Signale, bei denen es sich um hereditär fixierte oder erlernte handeln kann, werden die produzierten Verhaltensweisen unterschiedlich ausfallen. Die bei Tieren oft beobachtete Mischung beider Sequenzen könnte ein – wenn auch nicht hinreichender – Beleg für die letzterwähnte Möglichkeit sein. Kampf und Fluchtverhalten würden somit erst aufgrund höherer Cortexfunktionen differenziert. Ein solches »Abwehr«-Programm könnte in Form eines physiologischen Subsystems vorgegeben sein. Der Input bestünde in Form von Cue-Informationen, die eine generelle Aktivierung des Abwehrsystems bewirken und über höhere Cortexfunktionen einer Situationsanalyse unterzogen werden. Der Verhaltensoutput »Kampfverhalten« oder »Fluchtverhalten« kann auch durch interne Störungen (im Bereiche der »innern Variablen des Systems«) ausgelöst werden. Dieses Subsystem hat eine Regelung, derart, daß direkt Effektorsysteme aktiviert werden, dies aber nur unter der Vorbedingung des Vorhandenseins von Cues, die ex-

Affektsignal und aggressives Verhalten

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treme Bedrohung induzieren und es notwendig machen, komplexere Anpassungssysteme nicht zu betätigen. Die komplexere Verhaltensregulierung im menschlichen Subjektsystem bringt eine Modulation der relativ starr gesteuerten physiologischen Basisregelung mit sich: Transformationsregeln, die dazu führen, die Abwehrprogramme zu inaktivieren, wobei aber deren Informationen aufgenommen und die Programmziele durch komplexere Verhaltensprozesse angestrebt werden. Nur im Grenzfall akuter Bedrohung; werden bereits in Gang befindliche Verhaltenssequenzen abgebrochen und durch Verwirklichung der Kampf- oder Fluchtprogramme ersetzt.

Abbildung 1

Abbildung 2

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

■ 2. Ein sozialpsychologisches Modell Als »revidierte Frustrations-Aggressions-Hypothese« hat Berkowitz (1969) eine Aggressionstheorie eingeführt, die den Bereich dieser Transformationsregeln des Subjektbereiches näher bestimmt. Von besonderer Wichtigkeit ist die Trennung von »aggressivem Verhalten« und Erzeugung eines »inneren« affektiven Zustandes des Ärgers oder der Wut (anger) sowie die Einführung lernpsychologischer Aspekte. Die Kernelemente des Modells sind in Abbildung 3 zusammengefaßt.

Abbildung 3

Eine Frustration wird definiert als Verhinderung der Realisierung einer Zielreaktion zu der adäquaten Zeit des Auftauchens des Ziels in einer andauernden Response-Sequenz. Sie erzeugt einerseits eine Aktivierung von Wut/Arger (emotional arousal of anger), andernseits eine Bereitschaft zu aggressiven Verhaltensweisen. Parallel dazu geht eine Verstärkung der Aktivierung der bereits andau-

Affektsignal und aggressives Verhalten

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ernden Verhaltenssequenz, die frustriert worden ist. Unter Cues sind Stimuli zu verstehen, die assoziativ verknüpft sind mit Stimuli, die gegenwärtig oder früher Wut/Ärger ausgelöst haben. Sie werden im Cue Analyser untersucht und mit Speicherinhalten verglichen. Man kann zwei Arten Information unterscheiden: eine einfache »emotionale« Information, die auf Grund einer Ähnlichkeitsrelation den Zustand von Wut/Arger auslöst, und eine differenzierte, kognitive Information, die die strukturellen Gegebenheiten der Situation analysiert, in der die Cues auftreten. Ohne das Vorhandensein dieser Cues wird sich eine Bereitschaft nicht in aggressives Verhalten umsetzen. Ebenso ist die Intensität des emotionalen Zustands von Wut/Ärger nicht für die Auslösung hinreichend. Geeignete Cues können ohne Vorliegen eines Frustrationszustandes die Bereitschaft aktivieren, sofern diese in Form von »Habits« erlernt worden sind. Diese Gewohnheiten können durch imitatives Lernen am Vorbild (Bandura 1969) und über die Verstärkerprozesse (Reinforcement) im Falle erfolgreichen aggressiven Verhaltens aufgebaut werden. Für die psychoanalytische Sichtweise erscheint wichtig, daß in dieser Theorie Stimuli nur dann auslösenden Charakter bekommen, wenn sie mit früherer oder gegenwärtiger Erfahrung assoziativ in Verbindung stehen (Cue Analyser). Ferner wird ein emotionaler Zustand postuliert, der die Bedeutung eines inneren Signals besitzt, das eine Aggressionsbereitschaft aktiviert.

■ 3. Ein psychoanalytisches Signalmodell der Aggression In der therapeutischen Beziehung der psychoanalytischen Situation findet sich offen aggressives Verhalten äußerst selten. Es wird eher als ein Versagen in der Fähigkeit des Patienten gewertet, seine aggressiven Impulse (ohne motorische oder verbale Umsetzung) als Signale zu werten und sie für Verstehensprozesse fruchtbar zu machen. Ein wichtiges therapeutisches Agens wird vielmehr im Erfahren- und Erleben-Können aggressiver Impulse gesehen. Das kann aber nur über die Registrierung der aggressiven Emotionen

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

wie Ärger, Zorn, Wut, Haß etc. vor sich gehen. Diese Affekte werden in derselben Weise wie Angst als innere Signale verwendet – immer vorausgesetzt, das affektive Erleben hat überhaupt den Entwicklungsstand eines inneren Meldesystems (Signalsystems) erreicht. Bei vielen neurotischen Entwicklungen (z. B. bei neurotischen Depressionen, Zwangsneurosen, charakterneurotischen Störungen) ist das aggressive Signalsystem ganz verkümmert oder schlecht ausgebildet. Es sind dies Patienten, die ihre aggressiven Impulse nicht spüren, sie infolgedessen auch nicht erkennen und in einen situativen Kontext einordnen können. Entweder zeigen sie aggressives Verhalten und bemerken es nicht (und vermögen es auch nachträglich nicht als solches zu sehen), oder sie reagieren auf Aggression auslösende Umweltstimuli mit einer emotionalen Aktivierung, analysieren sie andersartig und interpretieren sie zum Beispiel als Angstsignale. Es vollzieht sich in diesem Falle ein »shifting« vom aggressiven in das Angst-Signalsystem. Anstelle eines aggressiven Verhaltensprogramms wird dann auf der Bereitschaftsebene ein Fluchtverhalten gewählt. Werden die aggressiven Signale (Ärger/Wut-Affekte) nicht beachtet, und werden durch sie keine Verhaltensaktivitäten zur Veränderung der auslösenden Situation eingeleitet, so schreitet die emotionale Aktivierung fort. (Das entspricht der These der Signalsummation bei S. Freud.) Die Überaktivierung schließlich zeigt sich in einem Zorn- oder Wutzustand, in dem offensichtlich nur ungesteuertes aggressives Verhalten möglich ist, dessen Zielsetzung in der Hemmung der Überaktivierung besteht und nicht mehr primär auf eine Änderung der auslösenden Situation gerichtet ist. Da die analytische Situation motorisch-aggressive Handlungen durch eine systematische Konditionierung unterbindet, die das Nichthandeln – gekoppelt mit Einsicht – operant verstärkt, besteht die Neigung, affektive Ausbrüche zu somatisieren, sofern sie nicht interaktiv durch eine Deutung des Analytikers aufgefangen werden können. Im Grenzfall einer emotionalen Überaktivierung wird eine Hemmung notwendig, die das ursprünglich intendierte Verhalten unterbricht und Verhaltenssequenzen auslöst, welche die Überaktivierung direkt unterbrechen. Dazu eignen sich vorzüglich Aggressions- und Flucht-Programme. Aus analytischer Erfahrung muß man annehmen, daß dabei eine erwartete, auf aggressive Si-

Affektsignal und aggressives Verhalten

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gnale bezogene Verhaltensweise auch durch ein Angst-Fluchtverhalten ersetzt werden kann, sofern dieses bessere Möglichkeiten der Hemmung der Überaktivierung bietet. Genau dasselbe läßt sich auch umgekehrt sagen. In der Neurosenlehre sind diese Substitutionsprozesse unter den Bezeichnungen »Aggression als Angstabwehr« und »Angst als Aggressionsabwehr« als typische Affektabwehrmechanismen beschrieben worden. Es bestehen also gute Gründe, der Angstsignaltheorie eine »Aggressions-Signal-Theorie« zur Seite zu stellen. In beiden Fällen handelt es sich um je eine Gruppe von Affekten, welche je nach dem kognitiven Kontext, in dem sie auftreten, sprachlich anders bezeichnet werden. Wir wählen deshalb die Gruppenbezeichnungen »Angst« und »Ärger/Wut«. Epstein (1967) hat in seiner allgemeinen Angsttheorie eine solche »homöostatische Regelung des Aktivierungsniveaus« postuliert. jeder Arousalgradient erzeugt – Epstein zufolge – einen Inhibitionsgradienten, der steiler ist und ein gewisses Maß an Aktivierung nicht überschreiten läßt. Das Inhibitionssystem erzeugt eine Reihe von »cutoff«-Mechanismen, welche Verhaltenssequenzen auslösen, die primär der Arousal-Erniedrigung dienen. Dies geschieht durch eine Beeinflussung der Umweltbedingungen derart, daß der sensorische Input (die Rückmeldung) sich ändert, bis ein Gefühl besserer Meisterung der Situation entsteht. Solche »cut-off«-Aktivierungsdämpfungsprozesse sind in den angeborenen und erlernten Angstflucht- und Aggressions-Programmen zu suchen, sofern sie die ursprünglich intendierte Verhaltenssequenz ablösen. Diese Verhaltensweisen haben den Charakter von Dringlichkeitshandlungen, die nur im Zustand einer Unterbrechung der intendierten Verhaltenssequenz auftreten. Im Prozeß der Aktivierungserniedrigung sind auch experimentell die bereits erwähnten Verschiebungsprozesse innerhalb der »cut-off«-Mechanismen gefunden worden (Hokanson u. Burgess 1962; Hokanson u. Edelman 1966; Hokanson u. Shetler 1961). Es soll nun im folgenden versucht werden, eine Signaltheorie der Aggressivität zu entwickeln, die mit der Angstsignaltheorie der Psychoanalyse direkt verknüpft ist. Die Beschreibung folgt dabei der Abbildung 4. Diese graphische Darstellung ist rein deskriptiv und darf nicht als kybernetische Formulierung betrachtet werden. Externe und/oder interne Stimuli werden im Verlauf einer Ver-

Affekt: Regulierung und Entwicklung

Abbildung 4

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haltenssequenz (wobei es sich um sensomotorisches oder kognitives Verhalten handeln kann) analysiert. Die internen Stimuli sind hauptsächlich Informationen über den Stand der »coping«-Mechanismen, das heißt. über die Strategien, mit denen der beste-

Affektsignal und aggressives Verhalten

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henden Situation begegnet werden kann. Die externen Stimuli kennzeichnen die zu bewältigende Situation: Der Analysenprozeß wird gemäß einem einfachen informationspsychologischen Modell von Simonov (1970) gesehen. Er unterscheidet für die Steuerung eines Verhaltensschritts eine notwendige Informationsmenge und eine mit dieser nicht immer identischen Menge zugänglicher Informationen. (»Notwendig« und »vorhanden« werden im Hinblick auf die für die Realisierung einer bestimmten Zielsetzung als notwendig erachteten Information definiert.) Ein postulierter Analyser stellt laufend fest, ob eine Informationsdefizienz vorliegt. Dieser sind Emotionen der Unsicherheit, definiert als negative Emotionen, zugeordnet. Sie bilden ein Gefahr-Unlust-Signal mit geringer kognitiver Differenzierung. Im Fall des Informationsüberschusses entstehen positive Emotionen, die Begleiterscheinungen verstärkter explorativer Tendenzen sind (Freude, Funktionslust). Soweit Simonov. Die Informationsdefizienz kann sich auf externe wie auch auf interne Informationen beziehen. Intern wird abgefragt, ob Lösungsprogramme, zum Beispiel für KonfliktSituationen vorliegen oder ob (andernfalls) als vorläufige Maßnahme Abwehrprogramme (im Sinne der Abwehrmechanismen der psychoanalytischen Theorie) notwendig und auch vorhanden sind. Im Sinne einer Streß-Theorie würde man vom Abtasten der Coping-Techniken sprechen. Von einer Konfliktlösungstheorie aus gesehen, würde man »Information« als jene Information definieren, die für einen Konfliktlösungsschritt minimal und unabdingbar notwendig ist. Der neurotische Konflikt ist gerade durch eine chronische Informationsdefizienz in bezug auf Gedächtnisinhalte und »innere« mentale Prozesse charakterisiert, weil durch Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse ein Teil der notwendigen »inneren« Information dem Zugriff entzogen worden ist. Das kann auch die Wirkung haben, daß nicht alle externen Daten als Informationen aufgenommen werden können. Das Auftauchen eines negativen emotionalen Signals spielt in der therapeutischen Situation eine große Rolle. Der Analytiker registriert die Begleiterscheinungen solcher Signale (seien sie verbaler oder nichtverbaler Natur) genau. Er versucht, das affektive Signal kontextuell einzuordnen, um auf diese Weise den gerade aktualisierten, aber noch nicht der Einsicht zugänglich geworde-

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nen Konfliktanteil zu finden. Der Analytiker hilft dem Analysanden, dessen Informationsinsuffizienz aufzuheben, indem er zusammen mit dem Analysanden spezifische Suchstrategien (z. B. das Assoziieren) anwendet und Hypothesen aufstellt, die er aus einem sehr viel breiteren, generellen Informationsschatz bezieht. Das negative emotionale Signal (-Emot.) führt über die Einschaltung eines Sicherheitssystems zu einer Neueinstellung der Parameterwerte a) der physiologischen Systeme ANS, ZNS im Sinne einer Aktivierungssteigerung, b) zu einer Aktivierung und Veränderung der Parameter der mentalen Defensivorganisationen (des Systems der Abwehrmechanismen). Die Aktivierung steigert ferner die Motivationsintensität der laufenden Verhaltenssequenz. Auf der anderen Seite werden in Abhängigkeit von der Höhe der -Emot. und der dadurch ausgelösten Aktivierungssteigerung die ausschließlich der Sicherheit dienenden Abwehrprogramme AngstFlucht und Aggressions-Kampf in Bereitschaft gesetzt. Die Theorie von Berkowitz (1969) und die Arbeiten von Schachter (1964) und Schachter, Singer (1962) legen nahe, einen zweiten Analyser anzunehmen, welcher nun die -Emot. einer Grobanalyse unterwirft. Dazu müssen die Informationen daraufhin geprüft werden, ob sie assoziativ mit unmittelbar gegenwärtigen oder früher erlebten Situationen (Speicher) in Zusammenhang stehen. Diese Analyse wird soweit geführt, bis die Emotion ein differenzierteres Affektsignal umgewandelt werden kann. In den extremen Fällen entsteht entweder ein Angstsignal oder ein Arger/Wutsignal. In vielen Fällen gelingt diese Analyse nicht oder nur unvollkommen. Es entsteht dann ein Mischeffekt oder es bleibt bei der diffusen Empfindung einer negativen Emotion. Das Defensivsystem hat mit zunehmender Aktivierung die Tendenz, in der einen oder anderen Version sich über die Effektorsysteme direkt in Verhalten umzusetzen. Dies wird aber nur dann geschehen können, wenn die Stimulusanalyse ein stark negatives emotionales Signal mit Dringlichkeitscharakter auslöst. Es entsteht dann eine »Feed forward«-Situation, die rasch in eine Überaktivierung mündet. Dabei wird die laufende Verhaltenssequenz unterbrochen (Interrupt zwischen Verhaltensprogramm und Effektorsystemen). Das produzierte Angst/Flucht- oder Aggressionsverhalten redu-

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ziert die Überaktivierung und verändert den die externen Cues liefernden Umweltausschnitt so weit wie möglich in der Richtung auf andere Information, die -Emot. zu reduzieren vermag. Die Zielrichtung ist in diesem Falle auf die »Cut-off«-Funktion (Epstein 1967) beschränkt, die ursprünglich intendierte Verhaltenssequenz kann erst nach erfolgter Rückführung der Aktivierung auf ein »normales« Maß wieder aufgenommen werden. Die beiden vom Defensivsystem gesteuerten Verhaltensweisen sind zugleich von entsprechenden affektiven Ausbrüchen begleitet. Angst beziehungsweise Ärger/Wut treten als manifeste Affektanfälle zutage. Sie haben damit den ausschließlichen Signalcharakter in bezug auf die innere Steuerung verloren. Im interaktiven Verhalten können sie, wie jeder Affekt, einen kommunikativen Charakter bewahren (z. B. Drohhaltung, Angst etc.). Die hier entwickelte Theorie differenziert jedenfalls zwischen kommunikativem Affekt und Verhalten in einer Interaktion nicht. Zustände dieser Art sind in der psychoanalytischen Situation außerordentlich selten zu beobachten. Sie zu erzeugen, ist zum mindesten nicht das Ziel der Therapie, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß unter Umständen das »Erleben« von Affekten und der Aufbau eines innern Signalsystems zunächst über affektive Ausbrüche gehen kann. Es ist ferner eine ungelöste Frage, was im Falle einer Unteraktivierung eintritt, deren Auftretens-Bedingungen freilich noch untersucht werden müßten. Es wird aber oft angenommen und erscheint auch plausibel, daß in solchen Fällen (z. B. bei Kindern im Zustand der Langeweile) aggressives Verhalten auftritt, mit dem Ziel, die Aktivierung zu erhöhen, wodurch ein intendiertes Verhalten verstärkt oder ein solches mit aggressiver Zielsetzung generiert wird (Zegans 1971). Das würde im vorliegenden Modellentwurf bedeuten, daß die Höhe der Aktivierung rückwirkend die negative Emotion mitbestimmt. In der Inhibitionstheorie von Epstein kommt zum Ausdruck, daß ein solcher »run away« ohne negativen Feedback im Organismus vermieden wird. Das physiologisch angelegte Defensivsystem wird überlagert durch komplexere Funktionen, die einem inhibierenden Servosystem gleichkommen. Die Funktion dieses Systems liegt in der sukzessiven internen Programmänderung der intendierten (und durch die Aktivierungserhöhung verstärkten) Verhal-

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tenssequenz. Diese Modifikationen geschehen in einem Integratorsystem, das ein entsprechend modifiziertes Verhalten generiert. Wir umschreiben damit die Abwehrmechanismen in der psychoanalytischen Theorie. Sie sind Hilfsprogramme mit defensiver Funktion, die eine interne Änderung des Verhaltensprogramms (z. B. Bedürfnisbefriedigung) bewirken, die dann als Output des Selbstsystems verändertes Verhalten ergeben, welches weniger negative Emotion (in Form von Angst oder Ärger/Wut) auslöst und den Inhibitionsgradienten der Aktivierung verstärkt. Der Integrator hingegen ist identisch mit dem psychoanalytischen Konzept der Ich-Organisation. Analysiert man modifiziertes Verhalten näher, so kann man beobachten, daß unter weitgehender Aufrechterhaltung der ursprünglich intendierten Zielsetzung (Teilziel oder terminale Handlung) »Aggressions-« oder »Angst-Flucht«-Komponenten sich einflechten. Im Falle des neurotischen Konflikts, dem zentralen Studienobjekt der psychoanalytischen Therapie, wird dieser Kompromißcharakter des Verhaltens besonders deutlich. In der Psychoanalyse werden solche »partiell integrierte« Aggressionsformen in verschiedenen Dimensionen beschrieben, die hier nur grundsätzlich genannt werden sollen: Regression der Aktivitätsmuster auf genetisch frühere Stufen aggressiven Verhaltens (genitale, phallische, anale, orale Aggressivität); Regression in bezug auf das operative Niveau der Steuerung der Verhaltenssequenz. Dieses letztere ist abhängig vom Ausmaß der noch erhaltenen proaktiven Meisterung und der kognitiven Strukturierung (ziellose Aggressivität im Zustand eigener Ohnmacht bis zum Interrupt, operativ geplante Aggressivität zum Erreichen des Ziels). Ob die Abwehrmechanismen mehr nach dem Muster von Angst/Flucht- oder Aggression/Kampf-Programmen angelegt worden sind, hängt von der spezifischen Sozialisation zusammen, die ein Individuum erfahren hat. Die sozio-kulturellen Unterschiede sind beträchtlich. Man muß sich beispielsweise fragen, ob nicht die große Erschwerung des Praktizierens aggressiven Verhaltens zu einer Präferenz von Angst-Fluchtkomponenten geführt hat und sich diese Tatsache in einer Einseitigkeit der Abwehrlehre der Psychoanalyse niederschlägt. Bei chronisch starker Außenhemmung aggressiven Verhaltens, in welcher Form es auch auftritt, sei es als »Cut-Off«-Prozeß, als von Abwehrmechanismen bestimmtes Verhalten oder als zieladäquates Verhalten (z. B. in ei-

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ner Situation der Bedrohung), wird mit der Zeit ein Individuum im Falle »aggressiver« Cues die negative Emotion immer als Angstsignal analysieren und dazu neigen, mit Angst-Fluchtreaktionen die Situation zu bewältigen.

■ 4. Objektbeziehung und aggressives Verhalten In den neueren ethologischen Theorien wird aggressives Verhalten im Kontext der Regulierung der sozialen Organisation dargestellt. Zu diesem Zweck wird aggressives Verhalten durch Aktivierungsund Hemmungsprozesse gesteuert. Es ist entweder Bestandteil der sozialen Organisation selbst oder es richtet sich gegen Objekte außerhalb dieser Sozialorganisation. Durch erlernte distinkte, die Aggression hemmende Verhaltensweisen wird anderseits die soziale Organisation vor deren Zerstörung geschützt. So ist bei den verschiedenen Primatenarten bereits eine erstaunliche Fülle von sozialen Mechanismen zu beobachten. Die soziale Entwicklung scheint die funktionale Zielsetzung zu haben, die Entwicklung unkontrollierbarer Konflikte zu verhindern. Durch die Aktivierung aggressiven Verhaltens in partieller und durch soziale Signale kontrollierter Form übernimmt dieses Funktionen der Steuerung des sozialen Verhaltens. Diese Erkenntnisse sind sicher auf die menschliche soziale Organisation übertragbar, wenn auch der Komplexitätsgrad menschlicher Verhaltensorganisation die Verhältnisse schwer durchschaubar macht. So können kurze Impulse und geringe Aktivierung aggressiver Programme in eine Objektbeziehung so eingebaut werden, daß sie als eine mehr oder minder subtile Gewaltanwendung erscheinen, bei der sich höchstens ein entsprechender emotionaler Arousal (Wut/Ärger) nachweisen läßt, das Verhaltensmuster sich aber nur durch die funktionale Bedeutung in der Objektbeziehung zu erkennen gibt. Es liegt daher nahe, im Rahmen einer Theorie der Objektbeziehungen jene Bedingungen festzulegen, welche »offenes« aggressives Verhalten als Folge einer mißglückten sozialen Beziehungsregulation von den integrierten »aggressiven« Programmbestandteilen unterscheidet. Die psychoanalytische Theorie der Objektbeziehung

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wird sich mit der Zeit den ethologischen Theorien über soziale Organisation annähern. Zur Zeit ist eine Integration der beiden Ansätze noch kaum möglich. In den meisten Fällen ist mit »Objekt« ein zweites Subjektsystem gemeint, mit welchem das erste Subjektsystem in einer interaktiven (dyadischen) Beziehung steht. Das Verhalten des einen Systems wird zum Input des andern Systems und umgekehrt. Der verhaltensrelevante Output heißt Objektbeziehung. Da die Psychoanalyse in ihrer Grundkonzeption eine Psychologie der Motivation ist, gilt es den Zusammenhang zwischen den motivationalen Konzepten und jenem der Objektbeziehung zu klären und so zu präsentieren, wie er in den nachfolgenden Modellentwurf eingeht. Man wird kaum behaupten, daß in der Psychoanalyse in dieser Beziehung ein Konsens über die Theorie besteht. Die Psychoanalyse besitzt eine Theorie der zweifachen Motivation für das Eingehen oder Aufrechterhalten einer Objektbeziehung4. Die erste Motivationsebene wird in der Bedürfnisstruktur gesehen, die in Form von Objektbeziehungen zu terminalen Befriedigungshandlungen gebracht wird. Die autoerotische Form der Befriedigung wird als selbstreflexiver Sonderfall der Objektbeziehung betrachtet. Die zweite, übergelagerte Motivationsform wird in den Besetzungsprozessen gesehen, die die Intensität der Beziehung, deren Dauer und deren Auflösbarkeit bestimmen. Das Konzept ist durch seine Verwendung in einer ökonomischen Libidotheorie zusammen mit dieser in Mißkredit geraten. Besetzung entsteht durch die Überführung anfänglich neutraler Eigenschaften des Objekts, des Selbst oder der Situation, die ursprünglich nur Signalbedeutung in bezug auf die Befriedigung von Bedürfnis4 »Objektbeziehung« ist ein Konzept der psychoanalytischen Theorie. »Interaktion« wird in den sozialpsychologischen Theorien verwendet. Im letzteren Fall wird der Systembereich in den Interaktionen selbst, unter Ausklammerung »innerer Variablen« in den interagierenden Subjekten, gesehen. Im Falle der Objektbeziehungstheorie stehen die Outputphänomene von Subjektsystemen in ihrer Abhängigkeit von inneren Prozessen des betrachteten Subjekts im Zentrum. Der Output des einen Subjektsystems wird zum Input des anderen Subjektsystems und umgekehrt. Unter Ausklammerung der Herkunft der beiden Konzepte können sie synonym gebraucht werden.

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sen in der Beziehung zu diesem Objekt hatten, in sekundäre Ziele. Dadurch wird die Beziehung zu einem Objekt an sich als Bedürfnis etabliert. Diese sekundäre Motivation bleibt unabhängig von der primären Bedürfnismotivation bestehen. Ihr Anteil im Verhaltensoutput eines Subjekts in einem bestimmten Zeitpunkt der Betrachtung wird »aktuelle Besetzung« genannt. Sie ist limitiert durch die bereits in früheren Erfahrungen entwickelte Besetzungsintensität (als Resultat der sozialen Lernprozesse). Sie kann, sofern durch die Interaktion ein innerer Konflikt entsteht, reduziert werden. Im einen Falle führt dies zu einer Vermeidung der Interaktion, sofern diese Möglichkeit angesichts der Machtverteilung innerhalb der Interaktion besteht, im andern Fall bewirkt die Reduktion eine Herabsetzung des emotionalen »Engagements«. (Beispiel: Bedürfnisbefriedigung ohne wesentliche emotionale Beteiligung mit Reduktion des Eingehens auf die Wünsche des Partners bei geringer Dauer der Objektbeziehung.) Die infolge der Reduktion wohl gewünschte, aber nicht verwirklichte Besetzung führt zum Aufbau begleitender Phantasien, die als Erwartungsvorstellungen auf dasselbe oder auf andere Objekte, mit denen zur Zeit keine Interaktion besteht, gerichtet werden. Die innere Thematik einer Objektbeziehung variiert gemäß den an ihr beteiligten Bedürfnissen und der in ihr realisierten Besetzung. Im allgemeinen wird die Besetzung maximiert, weil sie zur Wiederholung bereits erlebter Sicherheits- und Wohlbefindenserlebnisse führt. Erniedrigt kann sie dann werden, wenn durch ihre Realisierung in der Objektbeziehung konfliktive Spannungen entstehen, die sich in negativen Emotionen äußern (vgl. dazu Moser, von Zeppelin u. Schneider 1969, 1970). Mit der Entwicklung einer psychoanalytischen Repräsentanzenlehre ist es möglich geworden, das Konzept Besetzung als ein Aktivierungsmaß zu definieren, dem keine energetischen Qualitäten mehr zukommen. In dieser Repräsentanzenlehre wird angenommen (die Parallelen zur Lehre von J. Piaget 1946, 1966, sind unverkennbar), daß die erfahrenen Objektbeziehungen sich im Subjektsystem in kognitiven Repräsentanzen niederschlagen. Dies führt zum Aufbau einer inneren Welt, die wiederum für die Entwicklung neuer Objektbeziehungen bedeutsam ist und neue Erfahrungen auf dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen filtert. Eine erste, grobe Einteilung unterscheidet

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Selbst- und Objektrepräsentanzen (S.-R., O.-R.). Die weitere Ausgliederung in Ideal- und Realrepräsentanzen sei bewußt vernachlässigt. S.-R. und O.-R. sind miteinander verknüpft, weil alle Erfahrungen mit sich selbst und mit einem Objekt immer gleichzeitig im Rahmen einer Interaktion erfolgen: Die Besetzung kommt einer Repräsentanz – »Interaktion« oder »Objektbeziehung« – als Aktivierungsmaß zu. Es ist aber möglich und auch wichtig, Gewichtsverteilungen in den beiden Repräsentanzanteilen in Form von Aspekten einzuführen. In einer gewünschten Objektbeziehung (die zunächst in Form eines groben Aktionsprogramines in der kognitiven Struktur des Subjektsystems vorliegt) kann das potentielle Verhalten des Subjekts im Vordergrund stehen. In diesem Falle wird von einer narzißtischen Objektbeziehung gesprochen. Ist die Besetzung der O.-R. stärker ausgeprägt, so wird eine objektale Objektbeziehung resultieren, bei der das potentielle Verhalten des Objekts im Vordergrund steht. In gleicher Weise können auch – Spiegel (1966) folgend – die Affekte eingeteilt werden. Das Verhältnis der Besetzungsintensitäten zwischen S.-R. und O.-R. bestimmen somit zwei Anteile jeder Objektbeziehung in Form von Erwartungen. Die Objektbeziehung kann in Kategorien der Assimilation und der Akkommodation dargestellt werden: Eine Objektbeziehung entsteht dann, wenn (von einem Subjekt her gesehen) ein reales Objekt den Repräsentanzen assimiliert wird. Geschieht die Assimilation primär in Richtung auf die aktuell besetzte Objektrepräsentanz, so entsteht eine objektale Objektbeziehung und das Objekt repräsentiert gewünschte Anteile dieser Objektrepräsentanz. Verläuft die Assimilation in Richtung auf die Selbstrepräsentanz, so entsteht eine narzißtische Objektbeziehung, in der das Objekt Teile des gewünschten Selbst repräsentiert. In gleicher Weise kann auch eine reale Selbstkonfiguration (wie ich mich in meiner Selbstevaluation in einer Objektbeziehung gerade erlebe und beurteile) entweder einer S.-R. oder einer O.-R. assimiliert werden. In den gegenläufigen Akkommodationsprozessen werden die bestehenden Repräsentanzen auf Grund der erfahrenen Objektbeziehung verändert. Ein bekannter Fall solcher Veränderungen sind die Identifikationsprozesse, in welchen die beteiligten S.-R.-Anteile des beobachteten Verhaltens des Objekts

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oder von vermuteten Repräsentanzen dieses Objekts aufnehmen. Um diese Gedankengänge zusammenzufassen: Die Repräsentanzenstruktur bildet ein kognitives Feld, das die gewünschte Art der Objektbeziehung absteckt. In ihr ist im Moment der aktuellen Besetzung auch bereits ein bestimmtes Bedürfnismuster abgebildet. Die Besetzung bildet ein Aktivierungsmaß dieser kognitiven Informationseinheiten der Repräsentanzen. Dieses Maß geht motivierend in die Realisierung der Objektbeziehung ein. Dort wird es als Intensität der Objektbeziehung in Erscheinung treten. Dieser Umsetzungsprozeß von aktivierter Repräsentanz in reale Objektbeziehung geht nicht gradlinig vor sich: aus Gründen der (inneren) Konfliktabwehr kann die Besetzungsintensität manipuliert, zum Beispiel reduziert werden. Die in der Intensität der Objektbeziehung zutage tretende Aktivierung entspricht dann nicht mehr der ursprünglich gewünschten. Diese und weitere, eher inhaltlich strukturierte Manipulationen der Besetzung sind im Simulationsmodell von Moser, von Zeppelin, Schneider (1969, 1970) eingeführt worden. Bevor der Modellentwurf beschrieben werden kann, müssen noch einige terminologische Klärungen erfolgen. Die objektale Art der Objektbeziehung gleicht strukturell dem sogenannten Anlehnungstypus der Objektwahl, der auch »anaklitischer Typus« (S. Freud) genannt wird. Auch trifft eine Gleichsetzung mit dem Konzept »libidinöse« (objektlibidinöse) Objektbeziehung zu, sofern man all diese Konzepte, der narzißtischen Objektbeziehung gegenüberstellt. Vermutlich gehen die beiden Aspekte auf Typen der sozialen Relation zurück, die auch bei höheren Primaten zu finden sind: die objektale Objektbeziehung findet ihre Vorläufer im Attachment-Verhalten, im Flucht-Verhalten, in der Schutzsuche bei einem Objekt und (im späteren Transfer) in Anteilen des Sexualverhaltens. Der narzißtische Aspekt dürfte auf jene sozialen Relationen zurückgehen, die die Dominanzordnung regeln. Es wird hier wie bei Eisnitz (1969) klar zwischen der Art der Objektbeziehung und der Art des Zustandekommens einer Objektrepräsentanz unterschieden. Dies wurde bislang mit dem Konzept der »narzißtischen Objektwahl« in ein und denselben Topf geworfen. Eine aktuell vorliegende Objektrepräsentanz kann »anaklitisch« nach dem Vorbild infantiler Objekte einer Beziehung oder »nar-

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zißtisch« nach dem Vorbild frühkindlicher Selbstrepräsentanzen entstanden sein. So gesehen, werden die beiden Termini als Hypothesen über zwei unterschiedliche Wege des Entstehens von Repräsentanzen benutzt. Die Besetzungsverteilung zwischen S.-R. und O.-R. im Zeitpunkt einer aktuellen Besetzung generiert objektale und narzißtische Anteile der Objektbeziehung, unabhängig von der Art, wie diese S.-R. und O.-R. entstanden sind. Auf die Stellung der Aggression im Rahmen einer Objektbeziehungstheorie soll erst im folgenden Abschnitt eingegangen werden. Es wird darauf verzichtet, Aggression als dritte motivationale Komponente einzuführen. Aggressives Verhalten wird gemäß dieser Auffassung dann beobachtet, wenn im Interaktionsgeschehen und in dessen Steuerung im Subjektsystem Regulierungen nur unter Mithilfe besonderer Maßnahmen noch erreicht werden können oder. zumindest mit ihnen angestrebt werden.

■ 5. Aggression im Rahmen eines Modells der Objektbeziehungen Die nun folgenden Gedanken nehmen das bereits erwähnte Modell der Abwehrprozesse (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1969, 1970) zum Ausgangspunkt, das nun in eine Theorie der Objektbeziehung mit erheblich erweitertem Systembereich einbezogen werden soll. Die Darstellung folgt der Abbildung 5. Die Felder 1 (Bedürfnismuster), 2 (gewünschte aktuelle Besetzung), 3 (Abwehrprozesse), 4 (modifizierte aktuelle Besetzung, Verhältnis von Besetzung der S.-R. und O.-R., Autonomiewert) sowie deren Wechselwirkungen sind übernommene Bestandteile des Simulations-Modells der Abwehrprozesse. Das Modell wird an dieser Stelle nicht beschrieben. Ein spezifisches Bedürfnismuster (Feld 1) sowie eine gewünschte aktuelle Besetzung aktivieren Verhaltensprogramme, die nach Umsetzung in Objektbeziehungen (Interaktionen) streben und zwar mit einer gewissen, durch das Besetzungsmaß gegebenen Intensität und gemäß einem Verteilungsmuster der Besetzung zwischen S.-R. und O.-R. In einer »neurotischen« Situation entsteht

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Abbildung 5

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durch diese Aktivierung ein innerer Konflikt, der nur mit Hilfe der Abwehrprozesse (Feld 3) partiell gemeistert werden kann. In diesem Falle werden durch die Abwehrprozesse die gewünschten Verhaltensprogramme verändert (»Servo-Funktion« der Abwehrmechanismen; siehe Signalmodell der Aggression, Abschnitt 3). Das

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Repräsentanzen-Besetzungsmuster wird so umgeformt, daß Angst sowie Wut/Ärger minimiert und Befriedigung maximiert wird, ohne das Sicherheitsgefühl der Person zu gefährden. Im Falle des Mißlingens wird die aktuelle Besetzung abgebrochen. Im Falle des Gelingens resultiert eine modifizierte aktuelle Besetzung (Feld 4), an der drei Aspekte unterschieden werden: die resultierende Verhaltensbereitschaft objektaler und narzißtischer Art sowie ein Autonomie/Abhängigkeitswert. Sie repräsentiert zunächst eine intendierte Objektbeziehung mit einem Partner (wir verfolgen der Einfachheit halber nur den Fall einer Beziehung mit einem zweiten Subjektsystem), der den erwarteten Bedürfnisbefriedigungen und den gesetzten Bedingungen des Repräsentanzenmusters entsprechen soll. Eine solche Objektbeziehung hat immer reziproken Charakter, insofern das Subjekt sich gleichzeitig einem Partner als mögliches Objekt für dessen Bedürfnisse und dessen Besetzungsbedingungen darbieten möchte. Dieser zweite Aspekt der Objektbeziehung ist hier nur durch die Unterscheidung von Cues ausgeführt, die einem möglichen Partner angeboten werden, wobei wiederum zwischen narzißtischen und objektalen Cues unterschieden werden muß (Feld 5). Diese Cues bilden die Grundlage für die Abklärung der Eignung als Objekt im Objektbeziehungsbereich des anderen. Der Autonomiewert wird parallel zur modifizierten aktuellen Besetzung vom Subjektsystem her generiert. Autonomie bezieht sich zunächst (in Feld 4) auf das Maß an Unabhängigkeit respektive an freier Verfügbarkeit über die möglichen aktuellen Besetzungen von S.-R. und O.-R. sowie über deren Intensität. Es wird angenommen, daß der Gebrauch von Abwehrprozessen, insbesondere der Besetzungsmanipulation zu Abwehrzwecken, die Autonomie einschränkt. (In psychotischen Zuständen erreicht die Autonomie minimale Werte: eine Folge davon ist, daß die Bereitschaft zum Eingehen von Objektbeziehungen – bei sehr hohem Besetzungswunsch – nur mehr gering ist und auch die Variabilität nicht sehr groß bleibt. Bei neurotischen Störungen zeigt sich dieser Autonomieverlust in einer Erstarrung der Verhaltensmuster Objekten gegenüber, die auf einen Verlust der Akkommodationsfähigkeit zurückzuführen ist.) Diese Autonomie muß als »innere Autonomie« präzisiert werden. Sie bildet einen wichtigen Bestandteil der

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»äußeren Autonomie«, die einer Objektbeziehung zukommt und das Maß an Unabhängigkeit respektive Abhängigkeit vom Objektbeziehungspartner ausdrückt. Durch die Selbstevaluation der Person erfährt der innere Autonomiewert eine ständige Gewichtung. Während die innere Autonomie sich nur sehr langfristig verändert, ist die Selbsteinschätzung ein kontinuierlicher Prozeß, der zu kurzfristigen Änderungen der Autonomie führt. Die Grundstruktur des an dieser Stelle eingeführten Evaluationsprozesses findet sich in den sozialpsychologischen Theorien von Secord und Backman (1965) und von Bem (1967). Die Selbsteinschätzung erhält vom Persönlichkeitssystem her (das hier als Wohlbefindens- und Sicherheitssystem [Feld 11 ] bezeichnet wird) einen Grundwert. In der Selbstbeobachtung (Selbst n-Cues [Feld 9]), wird dauernd geprüft, ob das so gewonnene Bild den Kriterien der bereits vorhandenen Repräsentanz entspricht. Eine zweite Überprüfung erfolgt über die Beobachtung des Partners (Obj. S.n-Cues, [Feld 10]), um aus dessen Verhalten und Äußerungen zu erschließen, wie das Objekt das beobachtende Subjekt einschätzt. Aus dem Vergleich dieser drei Selbsteinschätzungswerte erfolgt eine positive oder negative Gewichtung: der neue Wert geht als eine Verhaltensdisposition in die Interaktion ein (Feld 14). Über die Weise dieser Selbsteinschätzung sowie über die daraus resultierenden Gewichtungsprozesse machen die sozialpsychologischen Theorien keine präzisierten Angaben, die bereits eine Formalisierung erlauben würden. Betrachten wir nun die Prozesse – zunächst in der kommunikativen, dann in der eigentlichen Interaktionsphase. Das Subjekt prüft die vorfindbaren Objekte daraufhin, ob sie den objektalen und/oder den narzißtischen Cues entsprechen. Alle Objekte – seien es neue, die erst für eine Interaktion gewählt werden können, seien es solche, mit denen bereits interagiert wird – lassen sich in zwei Objektmengen (Menge der Objekte mit narzißtischen Cues und Menge der Objekte mit objektalen Cues) einteilen. Den Durchschnitt dieser Menge bilden Objekte mit beiden Arten von Cues. Eine nicht geklärte Frage ist, ob die Eigenstruktur eines Objekts es in besonderer Weise als Cuesträger für bestimmte Subjekte geeignet macht. Aus psychoanalytischer Erfahrung würde man dem zustimmen. Es gibt sicher Menschen, die sich primär als narzißtische Bezugsobjekte eignen und auch immer wieder solche

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Beziehungen eingehen. Gemäß der hier. vorgetragenen Theorie werden Objekte, die keine positive Rückmeldung in bezug auf die Eignung geben, die somit außerhalb einer »narzißtischen Grenze« oder außerhalb einer »objektalen Grenze« liegen, nicht für eine Interaktion in Betracht gezogen. Solche Objekte können der gewünschten Cues ermangeln. Es kann aber auch sein, daß sie vom Subjekt nicht wahrgenommen werden können (etwa aus der Verleugnung und der Vermeidung befürchteter Abhängigkeit). Es gibt demzufolge auch zwei Klassen aggressiven Verhaltens: eine Klasse bezieht sich auf Interaktionsstörungen innerhalb der Objektbeziehungen, die andere auf Aggressionen, die sich auf Objekte außerhalb dieser Grenzen richten. Verliert in einer laufenden Interaktion ein Objekt die Cues, so entsteht im Subjekt eine Tendenz, die Interaktion abzubrechen. Ob dies tatsächlich geschehen kann, hängt aber vom Autonomiegrad und von der Reaktion des Interaktionspartners auf diesen Versuch ab. Es gibt also innere und äußere, im Partner hegende Gründe, die eine gewünschte Interaktionsunterbrechung nicht gestatten. In diesen Fällen bleibt nur eine weitgehende Reduktion der aktuellen Besetzung im nächsten Interaktionsablauf übrig. Im allgemeinen werden n-Cues und oCues gemäß dem gewünschten Verhältnis in ein und demselben Objekt gesucht. Es wäre zu untersuchen, was einer Trennung der beiden Objektbeziehungs-Aspekte auf verschiedene Objekte als Problem zugrunde liegt. Eine andere Möglichkeit, die bereits erwähnt wurde, liegt in der Umsetzung nicht realisierbarer objektaler oder narzißtischer Anteile in phantasierte Objektbeziehungen. Parallel zur Prüfung der Assimilierbarkeit des Objekts werden die eigenen Cues für ein mögliches Objekt entwickelt (Feld 5), das auf ähnliche Weise das die Cues repräsentierende Subjekt auf seine Eignung als Objekt an seinen Erwartungen testet. Erweist sich ein Objekt als geeignet, so wird auf die Interaktion eingegangen oder sie wird – im Falle einer bereits laufenden – fortgesetzt. Das Verhalten in der Interaktion wird durch drei Verhaltensbereitschaften beider Subjektsysteme bestimmt: die erste besteht in der erwarteten narzißtischen Befriedigung, die zweite in der erwarteten objektalen Befriedigung, die dritte in einer Abhängigkeits-/Autonomiebereitschaft. Objektale und narzißtische Befriedigungserwartungen sind in sich wieder nach den entsprechenden Bedürf-

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nismustern gegliedert, die bei beiden Partnern nie übereinstimmen. Ferner muß daran gedacht werden, daß beispielsweise eine narzißtische Befriedigung wiederum zwei Aspekte hat: in der einen Richtung soll das Objekt Teile des eigenen Selbst oder ein Spiegelbild des eigenen Selbst repräsentieren und dessen Funktionen übernehmen, in der anderen Richtung kann der Wunsch im Vordergrund stehen, dem Interaktionspartner das gewünschte narzißtische Objekt zu verkörpern. Dasselbe gilt für die objektale Beziehung. Wie sollen diese Interaktionsprozesse formal dargestellt werden? Thibaut und Kelley (1959), später wiederum Carson (1969), haben Interaktionsmatrizen vorgeschlagen. Es wäre durchaus möglich, diese Matrizen multidimensional zu gestalten. je mehr Eingangswerte miteinander interagieren, um so schwerer wird aber die formale Darstellung. Vereinfacht genügen aber für eine Objektbeziehungstheorie (mit dem Systembereich des Subjektsystems) bestimmte Befriedigungswerte der Interaktionsausgänge, die jeweils an ein Wohlbefindens-/ Sicherheitssystem (Feld 11) rückgemeldet werden und nach inneren Transformationsprozessen zu einer neuen Festsetzung der modifizierten aktuellen Besetzung führen. Im neuen Interaktionsdurchlauf werden die Eingangswerte verändert. Verschiebungen ergeben sich auch in den n-Cues und o-Cues, die vom Subjekt präsentiert werden. Und ferner wird die aktuelle Selbstevaluation durch die Interaktionsausgänge im positiven oder im negativen Sinne beeinflußt. Diese Annahme kann sofort vereinfacht werden, wenn man annimmt, daß bei positiven Befriedigungswerten der Versuch gemacht wird, diese in den nächsten Interaktionen bis zu den gewünschten Werten zu erhöhen. Die Rückmeldung aus der Interaktion führt dann zu einer Erhöhung der aktuellen Besetzung. Diese wird im Abwehrsystem dahin geprüft, ob die inneren Systembedingungen diese Erhöhung erlauben, ohne einen inneren Konflikt auszulösen. Eine besondere Bedeutung kommt dem Autonomie-/Abhängigkeitsniveau zu. Es ist klinisch evident, daß es Objektbeziehungen gibt, die kaum mehr befriedigende Rückmeldungen ergeben und trotzdem nicht aufgegeben werden können. Dies ist zum Beispiel bei schweren narzißtischen Störungen sehr deutlich zu sehen (Kohut 1971; Kernberg 1975). Sinken die Befriedigungswerte in der objektalen und in der narzißtischen Dimension gleichzeitig

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unter einen noch als positiv empfundenen Rückmeldewert, so wird eine Bereitschaft entstehen, die Interaktion aufzugeben. Dazu müßte aber ein Transfer der Objektbeziehung auf ein anderes Objekt mit geeigneten Cues oder zumindest auf das eigene Subjektsystem (als Obj. mit n- oder o-Cues) oder auf ein geeignetes Phantasieobjekt möglich sein. Dieser Transfer ist abhängig vom Autonomiewert einer Objektbeziehung, wobei völlig ungeklärt bleibt, ob den objektalen und narzißtischen Aspekten dieser Beziehung verschiedene Autonomiewerte zukommen. Auch wäre zu untersuchen, ob und in welcher Weise die Autonomie sich mit der Höhe der aktuellen Besetzung und durch die Bildung einer substitutiven Beziehung infolge eines Transfers verändert. Der Zwang, in einer Interaktionsbeziehung zu bleiben, ungeachtet dessen, ob sie befriedigend ist oder nicht, hängt von der Autonomie des Subjekts und von der Machtdistribution in der Interaktion ab, das heißt. von den Machtmöglichkeiten des Interaktionspartners, das Subjekt zum Verbleiben in der Interaktion zu zwingen. In bezug auf den ersten Faktor wurde bereits eine Hypothese über das Entstehen dieser Abhängigkeitsbereitschaft aufgestellt. In den sozialpsychologischen Persönlichkeitstheorien (vgl. wiederum Carson 1969 u. a.) wird dieser Abhängigkeitswert über ein Ausgangsniveau (comparison level alternative; Carson) definiert. Es handelt sich um das niedrigste Ausgangsniveau, das ein Mitglied einer Dyade im Vergleich zu Ausgängen, die ihm in anderen Beziehungen möglich wären (inklusive der Variante, allein zu sein), akzeptiert. In ähnlicher Weise wird auch ein Attraktivitätsmaß postuliert (comparison level) und zum Vergleichsniveau in Beziehung gesetzt. So kann eine Beziehung ihre Anziehung verlieren, aber dennoch infolge der Unmöglichkeit, befriedigendere Beziehungen zu perzipieren und einzugehen, aufrechterhalten werden. Die konkrete Bestimmung solcher Werte bleibt offen. Die Interaktionsabhängigkeit ist ein zentrales Problem der Neurosenforschung. Bei den meisten Neurosenformen ist der Autonomiewert sehr niedrig, die Abhängigkeit vom Partner sehr hoch, und sie wird gleichzeitig in mannigfacher Weise bekämpft. Ein Transfer ist erschwert, aber nicht unmöglich. Ein anderes Beispiel: der Übertragungsprozeß kann als ein Transfer vorübergehender Art betrachtet werden. Ist dieser Transfer geglückt, bleibt der Abhängigkeitswert sehr hoch

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und erreichen beide Partner der therapeutischen Interaktion hohe Befriedigungswerte, dann sind die Bedingungen für eine schwer auflösbare »unendliche Analyse« gegeben. Wie ist aggressives Verhalten in der eben skizzierten Theorie der Objektbeziehung zu lokalisieren? Wir haben zunächst zwei Formen unterschieden: aggressives Verhalten in der definierten Form der Objektbeziehung und aggressives Verhalten in Interaktionen zu Objekten, welche nicht n-Cues oder o-Cues für das Subjekt besitzen. Interaktionen der letzteren Art gibt es außerordentlich viele. Objekte außerhalb der Obj. n-Cue- und der Obj. o-Cue-Mengen können über die Struktur sozialer Organisationen mit dem Subjekt verknüpft sein. Sie sind Mitbürger, Quartierbewohner, Straßenbenutzer, Arbeiter in derselben Fabrik, Stammesangehörige, aber auch Outsider, Feinde, fremde Staatsangehörige usw. Man hat sich kaum mit der Frage beschäftigt, wie sich im subjektiven Erleben des einzelnen Subjekts und in dessen Perspektive solche »Zugehörigkeiten« widerspiegeln. Sicher gehören zu jeder sozialen Gruppierung, in der sich ein Subjekt als Mitglied fühlt, spezifische, auch wiederum sozial geregelte Interaktionsformen mit unterschiedlicher »innerer« Beteiligung des Akteurs. Bei den primitiven Gesellschaften treten die Verhältnisse klarer zutage: Neben dem »individuellen Selbst« (das oft kaum oder gar nicht existiert) gibt es verschiedene Gruppenselbst-Anteile. Jedes Mitglied partizipiert in gleich intensiver Weise an einer Form des »Gruppenselbst«. Dabei kann es innerhalb der sozialen Gruppierungen dieser Gesellschaft große Rangordnungsdifferenzen geben. Die Varianz reicht vom ranggleichen Mitglied bis hin zu bloßen Ausbeutungsobjekten mit fehlender Dominanz, die aber immer noch als »zugehörig« und als innerhalb der Gruppierung stehend angesehen werden. Diese Interaktionen in den weiteren sozialen Bezügen eines Subjekts scheinen eher nach der Struktur der narzißtischen Objektbeziehung zu verlaufen. Man stößt auch hier wieder auf die vermutete Verwandtschaft von Dominanzbeziehung, narzißtischer Objektbeziehung und Rangordnung in sozialen Strukturen. Insofern jede soziale Struktur dem einzelnen Individuum auch gleichzeitig Schutz, Sicherheit und Geborgenheit bietet (unter Auflage gesellschaftlich festgesetzter Bedingungen), wäre zu überlegen, ob nicht auch Parallelen zur objektalen Beziehung zu ziehen wären.

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Die erste Gruppe aggressiver Verhaltensweisen bezieht sich auf Objekte außerhalb der o-Cue- und a-Cue-Grenzen. Zu diesen Formen ist die Ausstoßung eines Objekts zu zählen, die zu einer relativen Gleichgültigkeit dem ausgestoßenen Objekt gegenüber führt. Diese Ausstoßung ist allerdings nur unter gewissen Bedingungen möglich, zu deren wichtigsten ein niedriger Abhängigkeitswert auf seiten des ausstoßenden Subjekts zählt. Im Bezugsrahmen weiterer sozialer Gruppierungen sind dann wohl noch sozial kodifizierte Interaktionen möglich, sei es in Form einer Dominanzbeziehung oder einer Schutz-Anklammerungs-Beziehung. Eine solche Ausstoßung kann für ein Objekt sehr grausam sein (und wird somit subjektiv als aggressives Verhalten des anderen oder der anderen erlebt). Ausstoßungsreaktionen können auch im Bereich sozialer Strukturen kollektiv vollzogen und gerechtfertigt werden (z. B. bei rassischen Verfolgungen). Die Gleichgültigkeit dem ausgestoßenen Objekt gegenüber kann zur Vernichtung führen, wenn die gesellschaftlichen Normen eine solche Haltung sanktionieren. Das hängt von den Konditionierungstechniken einer sozialen Gruppierung ab, die aggressives Verhalten als wertvoll oder als verachtenswert einstufen. Passagere Beziehungen zwischen gleichgültiger Nichtbeachtung und Vernichtung sind häufig; es wäre an oft langfristig beibehaltenen Ausbeuterbeziehungen zu denken. Man kann schon bei primitiven Völkern beobachten, daß aggressives Verhalten (z. B. Mord) je nach den Gruppengrenzen ganz anders bewertet wird (vgl. z. B. Marlowes Studie an somalischen Stämmen 1963). Innerhalb jeder Grenze (boundary) wird aggressives Verhalten nur insoweit geduldet, als es keinen unkontrollierten Konflikt in den innerhalb der Grenze definierten sozialen Relationen erzeugt. Über diese erste Gruppe aggressiven Verhaltens, über deren Genese, die verstärkenden Faktoren und die normative Kodifizierung vermag die psychoanalytische Theorie kaum etwas auszusagen, weil sie den Systembereich der von ihr verwendeten Variablen bei einem solchen Versuch überschreiten würde. Die zweite Gruppe aggressiver Verhaltensweisen wird durch Bedingungen der Interaktion definiert und kann in Begriffen einer psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie beschrieben werden. Zunächst sind die aggressiven Verhaltensweisen zu umschreiben, die das Objekt in jene Verhaltensposition bringen sollen, die

Affektsignal und aggressives Verhalten

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die Ausgänge der Interaktion wieder befriedigend machen und/ oder die Interaktionsabhängigkeit verringern. Diese Verhaltensweisen werden in der Sozialpsychologie Machtstrategien genannt. Eine Machtausübung in einer Objektbeziehung ist nicht notwendigerweise konfliktiv, aber ein Konflikt wird durchaus in Kauf genommen. Ob er auftritt oder nicht, hängt von der Bereitschaft des Objekts ab, sich der Machtausübung zu beugen. Beispielsweise kann dies dann der Fall sein, wenn diese Beziehung infolge sehr geringer Autonomie nicht verlassen werden kann. Das Auftreten aggressiven Verhaltens ist ferner an das Verhältnis von gesuchter narzißtischer und objektaler Beziehung gebunden. In beiden Objektrelationen entsteht ein Zustand der Frustration, wenn die Befriedigung negativ wird (mit dem affektiven Korrelat der Enttäuschung). Ist der Autonomiewert zudem gering, so verstärkt sich demgemäß die Enttäuschung infolge des Gefühls der Aussichtslosigkeit, eine bessere Beziehung zu finden (affektives Korrelat der Hoffnungslosigkeit). Ist nur eine o-Cue-Objektbeziehung da, so erzeugt die Frustration ein Angstsignal. Dieses aktiviert Angst-/ Flucht-Programme, die zu Vermeidungsverhalten führen (außer das Objekt könnte aufgegeben werden). In der narzißtischen Objektrelation führt die Frustration zu einem Aggressionssignal und zur Aktivierung von Aggressionsprogrammen. Sind beide Aspekte in einer Objektbeziehung vereinigt (am gleichen Objekt mit o-Cues und n-Cues zentriert), so werden bei einer Nichtbefriedigung der objektalen Beziehung die narzißtischen Wünsche weiterhin auf das Objekt gerichtet. Ist in dieser Hinsicht der Ausgang der Interaktion sehr positiv, so wird das Objekt als n-Cue-Objekt beibehalten werden, sofern das Objekt dies durch seine Verhaltensbereitschaft ermöglicht. Erst bei der Nichtbefriedigung narzißtischer Bedürfnisse wird eine aggressive Frustrationsreaktion auftreten. Wenn auch diese Zusammenhänge in reichlich hypothetischer Form formuliert sind, so weiß man doch aus therapeutischer Erfahrung, daß das Niveau der Autonomie über die Gestaltung des aggressiven Verhaltens entscheidet. Geringe Interaktionsabhängigkeit erleichtert aggressives Verhalten, da die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges hoch ist und deshalb auch positive Verstärkung der Aggression in der Lerngeschichte vorliegen dürfte. Bei den gerade beschriebenen Machtstrategien werden die Cues, die das ausüben-

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

de Subjekt für das Objekt darbietet, nicht geändert. Es treten lediglich jene kommunikativen Cues hinzu, die eine drohende oder eine wirkliche Machtausübung anzeigen und das Objekt zur Annahme bewegen sollen. Es gibt ein Gegenstück zu den beschriebenen Machtausübungen: die Ausübung von Strategien der Selbständerung, die passive Machtausübung. Hier wird versucht, durch Änderung der eigenen Cues und der eigenen Verhaltensbereitschaft die Ausgänge der Interaktion für das Objekt befriedigender zu machen mit dem Ziel, das Objekt von einem Abbruch der Beziehung abzubringen. Diese Techniken treten vor allem im Zustand einer großen Objektabhängigkeit auf, die ja mit dem Gefühl, das Objekt um keinen Preis aufgeben zu können, verbunden ist. Um die Systembedingungen für das Auftreten dieser passiven Machtausübung näher zu bestimmen, müßte auch die Wahrnehmung der Zufriedenheit (mit der Interaktion) des Objekts durch das Subjekt eingeführt werden, eine Information, die wohl immer eingeholt, aber nicht immer bei der Überprüfung des eigenen Wohlbefindens benutzt wird. Hat die passive Machtausübung keinen Erfolg mehr, dann kommt es unweigerlich zu einer disruptiven Krise, die sich mit massiven negativen Emotionen (Ohnmachtsgefühle) ankündigt und ein kontrolliertes Interaktionsverhalten nicht mehr ermöglicht. Eine letzte, interaktionsbezogene Form der Aggression ist das disruptive Verhalten: die Gewaltanwendung zur Auflösung der Objektbeziehung. Aktive wie passive Machtstrategien haben die Tendenz, sich bei beginnender Erfolglosigkeit zu steigern. Die negativen Erfolgsmeldungen führen zu einem Gefühl der Unerträglichkeit. Wenn die Abhängigkeit vom Objekt gleichzeitig sehr hoch ist, kann die Gefahr groß werden, daß sich aggressive Impulse gegen das Objekt oder das eigene Selbst richten. Die unerträglich gewordenen Interaktionsausgänge werden durch Zerstörung eines oder beider Interaktionspartner beseitigt. Suizid oder Mordphantasien sind die Vorläufer dieser disruptiven Lösungsversuche einer zu konfliktiv gewordenen Objektbeziehung.

Affektsignal und aggressives Verhalten

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■ Schlußbemerkung An zwei Modellen wurde zu zeigen versucht, daß gemäß dem gewählten Systembereich und der als relevant gesetzten Variablen des Systems aggressive Phänomene in ganz verschiedener Art und Weise konzeptualisiert werden können. In beiden Fällen wurde das Subjektsystem gewählt. Wenn psychoanalytisches Denken in konsequenter Weise auf das empirische Datenmaterial der psychoanalytischen Therapie angewandt wird, lassen sich Aggressionstheorien entwickeln, die von den bisher gepflegten theoretischen (»metapsychologischen«) Ansätzen abweichen und die sich mühelos mit allgemeinpsychologischen, insbesondere sozialpsychologischen und neurophysiologischen Aggressionstheorien integrieren lassen.

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

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Erstveröffentlichung in: Psyche – Z. Psychoanal. 32, 1978, S. 229-258.

■ Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin

Die Entwicklung des Affektsystems

■ Einleitung: Affekte sind eine besondere Art der Information Am Beispiel der Entwicklung des Affektsystems soll verständlich gemacht werden, was das Konzept Affekt als Information bedeutet. Dieses Konzept gibt nur Sinn, wenn Information als Bestandteil von Regulierungen betrachtet wird, von interaktiven und/oder von intrapsychischen. Insofern ist eine Darstellung der Ontogenese des Affektsystems auch eine solche der Regulierungen. Dieser Entwurf systematisiert eine Reihe von Ansätzen der allgemeinen und der psychoanalytischen Affektforschung und untersucht im besonderen den Einfluß des werdenden kognitiven Systems auf das Affektsystem. Die Entwicklung verläuft von einer direkten interaktiven affektiven Regulierung zwischen Kind und Pflegeperson hin zu komplexen Affektsystemen mit Beziehungsgefühlen und intrapsychischen affektiven Prozessen und Zuständen. Ein besonderes Problem bildet in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Selbstempfindung. Die Theorie von Stern (1985) nimmt bekanntermaßen schon in den ersten Stufen der Entwicklung eine Selbstempfindung an. Zuriff (1992, 1993) kritisiert dies und meint, es sei eine Überdehnung des Konzepts auf Phänomene der ersten Lebensmonate. Die Phänomene könnten auch anders erklärt werden. Trotz der Bedenken von Zuriff werden wir (der wissenschaftstheoretisch zu rechtfertigenden Nützlichkeit eines Modells wegen) das Sternsche Modell verwenden. Selbstgefühle sind hingegen, da besteht größere Sicherheit, erst als Folge der kognitiven Strukturierung der Affekte möglich. Es ist sehr schwierig darzu-

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

stellen, wie ganz junge Kinder beginnen, Wahrnehmungen und Erfahrungen, von sich selbst oder von belebten und unbelebten Objekten herkommend, zu organisieren. Stern (1990) hat dies versucht. Es folgen nun einige Leitlinien für die weiteren Ausführungen: 1. Im Lauf der psychischen Entwicklung entstehen verschiedene Regulierungssysteme interaktiver und intrapsychischer Art, die in etwa den Freudschen Stufen der Libidoentwicklung (Freud 1905d) und den Stufen der Ichentwicklung (Erikson 1961) folgen. Diese Regulierungsformen bleiben erhalten, und jeder Mensch hat sie als Erwachsener auch zur Verfügung. Er benutzt sie, manchmal gleichzeitig, manchmal situationsbedingt, manchmal auf Grund der inneren Einschätzung der Möglichkeiten der Bewältigung des vorliegenden Problems. 2. Affekt wird auf allen Regulierungsstufen als eine Information verstanden, die Regulierungsprozesse auslöst, sie evaluiert und wieder beendet. Die Intensität eines Affekts wird unabhängig von der Bedeutung des Affekts als Information gesondert reguliert, und sie kann auch gesondert gestört sein. Zu hohe emotionale Aktivierung zerstört die Funktion der Information, wenn auch der Affekt im Zustand der Heftigkeit immer noch dieselbe Information enthält. 3. Die Regulierungen sind untereinander hierarchisch verknüpft. Das Funktionieren der direkten affektiven Kommunikation garantiert eine innere Sicherheit, zunächst notwendigerweise an das Objekt gebunden, später über ein Beziehungsgefühl immer wieder rekonstruierbar auch ohne direkten Objektkontakt. Das Gefühl der Sicherheit ist eine notwendige innere Variable für das Entstehen einer späteren Entwicklungsstufe, die Autonomie und Abhängigkeit in der Objektbeziehung regelt und Innenwelt und Außenwelt trennt. Zentrales Gefühl dieser Stufe ist ein Autonomiegefühl, das wiederum für die weitere Strukturierung, für den Aufbau der von der Beziehung abkoppelbaren Regulierungen notwendig ist. Erst auf dieser Stufe gibt es Selbstgefühle und ein Selbstwertgefühl. Defizienzen einer Stufe werden oft durch den Ausbau der Möglichkeiten einer höheren Stufe kompensiert. 4. In der nachfolgenden Darstellung der Ontogenese des Affekt-

Die Entwicklung des Affektsystems

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systems wird versucht, die normale Entwicklung zu skizzieren. jeder Mensch zeigt individuelle Ausbildungen und Restriktionen seiner Affektivität. Es ist wohl möglich, und es wurde bisher zu wenig gezeigt, daß zu jeder Form von psychischer Störung auch eine besondere Defizienz der affektiven Prozesse gehört. 5. Zur Terminologie: Affekt wird als generelle Bezeichnung verwendet. Es werden auslösende (trigger) Affekte von Zustandsaffekten unterschieden. Gefühl ist ein Affekt, der selbstreflexiv erlebt wird oder erlebt werden kann. Empfindung ist ein Vorläufer des Gefühls ohne Selbstreflexivität und ohne auf ein Objekt bezogene Intentionalität. Sie ist ein Zustandsaffekt besonderer Art, deshalb auch als Selbstempfindung im Sinne Sterns (1985) bezeichnet.

■ 1. Direkte affektive Regulierung der Beziehung zwischen Kind und Pflegeperson In den ersten sechs Lebensmonaten entwickeln sich, mimisch unterscheidbar, die Affekte Interesse (interest), Erregung (exitement), Freude (joy), Ekel, Abneigung (disgust), Traurigkeit (sadness) und Verzweiflung (distress). Die ersten drei treten von Geburt an auf, die anderen kommen im Laufe des dritten bis sechsten Monats hinzu (Izard 1978). Diese Grundaffekte werden motorisch enkodiert und subkortikal gesteuert. Sie treten als Affektausdruck in Erscheinung. Am Ende dieser Phase hat sich ein Affektsystem ausgebildet, das die Bedürfnisse des Kindes der Pflegeperson signalisiert, die Beziehung aufrechterhält und die regulierende Tätigkeit der Pflegeperson optimal beeinflußt und sichert. Nach Sander (1977) geht es um initiale rhythmisch biologische Regulierungen und um die Koordination des reziproken Austauschs. Zu den mimischen Mustern der Affekte kommen vokale auditive Signale (Schreien, Weinen). Vergleicht man das zeitliche Auftreten dieser ersten kommunikativen Affekte mit den Phasen der Selbstempfindung (sense of self) nach Stern (1985), so liegt die höchste Aktivität mimischen Austauschs in der Zeit des

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

Bereiches der Kern-Selbstentstehung (domain of core relatedness), die von Stern zwischen drei und neun Monaten vermutet wird. Das Kern-Selbst konsolidiert Selbstempfindungen im Sinne einer separaten, kohäsiven, physikalischen Einheit mit eigener Kontinuität. Die mutuelle Regulierung der Beziehung sichert offenbar die Entwicklung der Komponenten des Kern-Selbst ab. Die Selbstempfindung erlaubt noch keine (erfahrungsgemäßige) Unterscheidung der Grundaffekte, obwohl sich diese mimisch differenzieren lassen. Das Kleinkind kann wohl Signale produzieren, die damit signalisierten Ausführungshandlungen muß jedoch ein Objekt übernehmen. Die Grundaffekte lassen sich spezifischen Funktionen dieser Regulierung zuordnen. Interesse dient der Suche nach dem Objekt und der Herstellung und Sicherung der Verbindung. Erregung signalisiert Präsenz und Antwort in bezug auf das Verhalten des Objekts. Durch Freude erhält das Pflegeobjekt ein Signal der Bestätigung, daß es durch seine Präsenz und seine Aktivität die vom Kind gewünschte Regulierung richtig erfüllt. Freude hat die Funktion einer positiven Verstärkung für das Objekt. Ekel, Abneigung signalisiert dem anwesenden Objekt, daß dessen Regulierungsbeitrag und dessen Verhalten überhaupt negativen Effekt hat. Es bedeutet, »etwas, was mir nicht bekommt, stammt von dir«. Traurigkeit wiederum signalisiert eine nicht gewünschte Unterbrechung in der Beziehung. Die Verbindung soll wieder hergestellt werden, ist der Inhalt der Botschaft. Verzweiflung wird dann ausgedrückt, wenn das affektive Kommunikationssystem zu der wichtigen Bezugsperson keine Wirkung mehr hat, sei es, daß das Objekt als Empfänger fehlt, sei es, daß das Objekt nicht mehr reagiert. Verzweiflung ist ein affektives Zeichen des Zusammenbruchs, der Disruption der reziproken Regulierung, ein affektiver Vorläufer des Zustands und des Erlebnisses des psychischen Schmerzes sowie der Ohnmacht späterer Entwicklungsstufen. Es wäre eine Reihe von kontroversen Annahmen zu diskutieren. Haben die mimisch enkodierten Affekte einen inneren reflexiven Anteil (innate affect reflexes, Haviland 1978), der eine subkortikale Basis für ein Erfahren des kommunizierten Affektes bilden könnte? (vgl. dazu Chevalier-Skolnikoff 1973; Sroufe 1981). Auch wird von Beobachtungen berichtet, daß ein Kind affektive

Die Entwicklung des Affektsystems

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Ausdrücke einer Pflegeperson mimisch imitieren kann, auf diese Weise sein Ausdrucksrepertoire ausweitet und langfristig die affektive Kommunikation verändert.

■ 2. Affektive Kommunikation auf der Stufe des subjektiven Selbst und der intersubjektiven Bezogenheit (»intersubjective relatedness«) In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrs tauchen weitere Affekte auf: zum Beispiel Ärger (anger), Verachtung (contempt), Furcht (fear) und Scham (shame). Diese Affekte fallen in die Periode der Entwicklung des subjektiven Selbst. Sie setzen vermutlich die Existenz eines Kern-Selbst voraus. Was sind die Eigenheiten dieses Selbstbereichs? Die intersubjektive Bezogenheit, die sich hier rudimentär zu bilden beginnt, bedingt eine Selbstempfindung, die sich immer auf einen »erfahrenen« (nicht bildhaft modellierten) Anderen (companion) bezieht. Die Bezogenheit kann zwei Formen annehmen, die sich in zwei entsprechenden Selbstempfindungen niederschlagen: Selbst versus den Anderen (self versus other) und Selbst mit dem Anderen (self with other) (Stern 1985). Zur intersubjektiven Bezogenheit gehört ferner die Fähigkeit des Auseinanderhaltens separater Träger der Selbstempfindung. »Only when infants can sense that others distinct from themselves can hold or entertain a mental state that is similar to one they sense themselves to be holding, is the sharing of subjective experience or intersubjectivity possible« (Stern 1985, S. 124). Stern bezieht sich hier auf die Ergebnisse von Trevarthan und Hubley (1978). Weitere Fähigkeiten, die sich in dieser Stufe ausbilden sind: Gemeinsames Fokussieren von Aufmerksamkeit und »soziales Referenzieren«, Attribuierung von Intentionen, Attribuierung von Gefühlszuständen im Anderen und die Fähigkeit zu fühlen, ob sie dieselben sind wie die eigenen. Man nimmt an, daß eine erste Form eines »affektiven Gedächtnisses« für kommunikative Affekte auftaucht, deren Inhalte mit oder ohne Anwesenheit eines Objekts invariant bleiben. Die Abhebung zweier unabhängiger Kern-Selbst führt zu einer ersten Form

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

des »Erlebens« einer Beziehung (intersubjective relatedness). Damit wird die Erfahrung eines unabhängigen Kern-Selbst aber auch durch das Verhalten des Objekts störbar. Ärger ist ein Affekt, der dann kommuniziert wird, wenn die Selbstempfindung (»sense of self«) kein gestörtes Kern-Selbst aufweist. Ärger signalisiert dem Anderen Unzufriedenheit. Das Objekt soll etwas ändern, aber es soll in der Beziehung bleiben. Mit anderen Worten: Ärger ist ein Affekt der »Selbst mit dem Anderen«-Bezogenheit. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Verachtung1 um einen Affekt der »Selbst versus den Anderen«Bezogenheit, wobei das Kern-Selbst ebenfalls intakt bleibt und als nicht bedroht erfahren wird. Bei Verachtung wird signalisiert, daß eine Disruption der Beziehung kommen wird, sofern sich das Objekt (resp. sein Verhalten) nicht ändert. Scham ist ein kommunikativer Affekt der »Selbst mit dem Anderen«-Bezogenheit. Das Objekt wird zwar als überlegen und bedrohlich für die Selbstempfindung erlebt, doch soll die Beziehung aufrechterhalten bleiben. Scham signalisiert eine Selbstveränderung gemäß der vermuteten Intention des Objekts. »Ich weiß, daß etwas nicht gut ist, aber bleib bei mir, und verachte mich nicht.« Durch das Schamsignal wird das Objekt gezwungen, sein Verhalten zu ändern und zu warten, bis eine neue Form von Selbstdarstellung gefunden ist. Die andere Möglichkeit, bei einer Bedrohung der Selbstempfindung durch das Objekt zu reagieren, ist die Signalisierung von Furcht. In diesem Affekt steckt die Botschaft »geh weg, ich fühle mich von dir bedroht«. Furcht liegt also im Bereich der Reaktionen der »Selbst versus den Anderen«-Bezogenheit. Allen vier Affekten ist gemeinsam, daß ihre kommunikative Bedeutung dahin geht, das Objekt so zu beeinflussen, daß die gespürte Bedrohung der Selbstempfindung abgewendet werden kann. 1 Die Übersetzung von »contempt« mit Verachtung kann irreführend sein, wenn mit Verachtung ein kognitiver Vorgang gemeint ist: die Nichtakzeptanz des Anderen. »Contempt« hat auf dieser Kommunikationsstufe mit Zurückweisung zu tun, die mit einer Bewegung des Verschließens verbunden ist. Es ist vermutlich eine aus dem Ekel stammende Art der Information, nicht mehr auf das Körperinnere bezogen, sondern auf die Interaktion übertragen.

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Die Entwicklung des Affektsystems Selbst mit dem Anderen

Selbst versus den Anderen

Kern-Selbst intakt, Ärger nicht negativ beeinflußt

Verachtung

Kern-Selbst beeinträch- Scham tigt, negativ beeinflußt

Furcht

Auf dieser Stufe finden sich die ersten Formen der Selbstempfindung in Form von länger andauernden Zustandsaffekten, die deshalb aber nicht ihren spezifischen Informationsgehalt verlieren. Die ursprünglich kommunikative Information ist in sie eingegangen. So wird aus Verzweiflung (distress) eine erste Form der schmerzartigen Erfahrung, die von vielen Autoren (mehr im Hinblick auf spätere Stufen des Empfindens oder Erlebens) als psychischer Schmerz (pain) umschrieben wird. Schmerz indiziert eine Herabsetzung der Erfahrung der Sicherheit. Sie wäre eine empfundene Verzweiflung. Man kann auch die Vermutung äußern, daß die eben beschriebenen kommunikativen Affekte der Kern-Selbst Phase auch zu Zustandsaffekten werden können (über deren Länge keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen). In der Literatur über Erwachsene werden diesen Affekten Zustände mit massivem Display und anhaltendem Arousal zugeordnet, die offenbar darauf zurückgehen, daß Restabilisierungsprozesse fehlen oder nicht funktionieren. Es kommt zu »offenen Zuständen« (open states), deren Kenntnis für die Psychopathologie wichtig sind. Offene Scham (open shame) zeigt sich in physiologischen Erscheinungen (z. B. Erröten, erhöhte Herzschlagrate). Scham ist zudem vermischt mit Verwirrung und ausgedehntem Abbruchverhalten (z. B. Schweigen). Offene Furcht (open fear) führt zu Angstattacken und diffusen Angstzuständen. Bei Erwachsenen wurden diese als manifeste Angst (Fenichel 1945) und (bei vielen Autoren) im aktualneurotischen System beschrieben. Offener Schmerz (open pain) (Joffe u. Sandler 1965) wird (wiederum bei Erwachsenen) mit narzißtischer Kränkung, erfahren als Beeinträchtigung des positiven Selbsterlebens, gleichgesetzt. Oft wird die Metapher der irreversiblen Verletzung verwendet. Diese Zustände haben den Charakter einer Stimmung, die den ganzen Organismus ausfüllt. Beim kleinen Kind sind es schwer

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

aufzuhebende Zustände, die noch nicht durch die in späteren Stufen erworbenen Prozesse der Beendigung gestoppt werden können. Sie zerfallen nach einer gewissen Dauer. Alle Affekte scheinen eine Zerfallszeit zu haben, wobei der Höhepunkt des Affekts zu Beginn erlebt wird (Berichte von Kindern, siehe Harris 1989). Dieser Zerfall und dessen Länge werden vermutlich durch physiologische Prozesse in Form eines Hemmfaktors bestimmt, der zunehmend den Affekt bremst und ihn dann völlig aufhebt, wenn die Funktion der Informationsvermittlung gegenstandslos wird. Überträgt man das Modell der Enzymregulierung, welches Monod (1970) als Beispiel einer »microscopic cybernetics« anführt, dann würde der produzierte Affekt durch das Endprodukt der Sequenz in Form einer biochemischen Feedback-Hemmung sich selbst auflösen. Ein Affekt hätte nach dieser Analogie eine physiologische Eigenregulierung, die nach Erfüllung seiner Informationsaufgabe ihn selbst zerfallen läßt. Länger andauernde Zustandsaffekte ließen sich erklären durch parallel ablaufende Aktivierungen, die den Zerfallsprozeß verzögern oder aufheben. Offene Affekte beim Kind werden sehr schnell als Affekte von hoher Intensität interpretiert. Das mag richtig sein, wenn man realisiert, daß der Arousal erst sehr spät gedämpft wird (zur Regulierung der Intensität vgl. Abschnitt 4).

■ 3. Affektive Restabilisierungsprozesse, primäre Affektabwehr und Affektsozialisierung: Substitutionen, Verschiebungen, Übersprünge, Spiralen, Displays. Vorläufer einer kognitiven Strukturierung: Indizien (»indice«, Piaget) In dieser Stufe der Entwicklung treten erstmals Prozesse auf, die aus den offenen Zuständen hinausführen und eine Restabilisierung des Selbstempfindens erlauben. Damit ist aber noch nicht ein »inneres Erleben« der bereits entwickelten primären kommunikativen Affekte gemeint. Diese Prozesse sind bei Erwachsenen beschrieben worden, bei denen beobachtet wurde, wie sie versuchen, mit affektivem Erle-

Die Entwicklung des Affektsystems

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ben fertig zu werden. Um es genauer zu formulieren: Es scheint so zu sein, daß die Techniken der Affektmanipulation aus dieser Entwicklungsstufe stammen, beim Erwachsenen aber auf ganz verschiedene Affektzustände angewendet werden, um das Erleben dieser Affekte zu vermeiden. Sheff (1987) unterscheidet neben der offenen Schamreaktion, die Unsicherheit zurückläßt, eine sogenannte »bypass«-Reaktion, in der Scham gerade noch, aber nur als kurze schmerzhafte Reaktion erfahren wird. Auch Schmerz (pain) kann »umgangen« werden. Die affektive Spannung wird (z. B. in der Dialogsituation) durch Reden oder durch innere Überlegungen absorbiert. Das Ergebnis von »bypass«-Prozessen ist ein Spannungsübersprung in motorische oder verbale Aktivitäten, oder ein Unterbrechungsprozeß oder die Aktivierung eines anderen Affekts. Zum Beispiel kann Ärger auftreten oder Verachtung in bezug auf jene Person, die die Schamreaktion ausgelöst hat. Beide Affekte dienen dann der direkten Verteidigung der Selbstempfindung. Retzinger (1987) und Sheff (1987) beschreiben eine »shame-rage spiral«. Scham wird in dieser Spirale durch eine Wut abgelöst, die dem Objekt und/oder dem beschämten Selbst gelten kann. Die Wut kann erneut in Scham übergehen, wenn man sich unfähig fühlt, die Wut auf die aktuelle Quelle der Beschämung zu richten. Wut kann auch als Folgeaffekt von Furcht beschrieben werden. Gelingt es nämlich nicht, dem bedrohlich erscheinenden Objekt auszuweichen respektive ihm zu signalisieren, daß man ihm aus dem Wege geht, dann kann es unter Umständen unumgänglich werden, eine Kampfposition einzunehmen. Dann taucht Wut auf in Form von gerichteter (notwendiger) Wut. Sie restauriert kurzfristig die Selbstempfindung der Sicherheit. Die Objektgerichtetheit kann freilich auch verloren gehen, dann kommt es zu generalisierten Wutzuständen (fury). Schmerz kann in Wut übergehen, sofern die Wut auf das Schmerz zufügende Objekt gerichtet werden kann. Gelingt dies nicht, so entsteht eine depressive Reaktion. Depression wird von vielen Psychoanalytikern als »Grundaffekt« analog der Angst betrachtet (Bibring 1953; Sandler 1987; Hoffmann 1992). Sie entstammt dem Grundaffekt der Traurigkeit. Die depressive Reaktion kann man verstehen als eine letztmögliche Reaktion auf das Erleben

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Affekt: Regulierung und Entwicklung

der Hilflosigkeit angesichts von psychischem Schmerz (Sandler 1987). Aus Erregung, Interesse und Freude kombiniert entsteht auf dieser Stufe ein »happiness-System« mit den mimischen Hauptbestandteilen des Lächelns und Lachens. Mit diesem System können andere Affekte unterbrochen oder durchsetzt werden (etwa gleichzeitiges Lächeln mit Wut). An Interaktionen von Erwachsenen wurde das von Bänninger-Huber et al. (1990) untersucht: Es fällt an dieser Stelle auf, daß die dieser Entwicklungsstufe zugeschriebenen Affektprozesse an gestörten Erwachsenen beobachtet wurden und nicht als Ergebnisse der direkten Affektforschung an Kindern zu betrachten sind.2 Wir arbeiten hier also mit Extrapolationen »zurück in die Kindheit«. Die nun folgenden Charakteristika sind somit teilweise Vermutungen über ein affektives Kommunikationssystem, dessen Kenntnis gerade für Symptome präödipaler Neurosen und Borderline-Störungen von Wichtigkeit ist. Die Affektmanipulationen sind im Ausdrucksbereich der mimischen Kodierung sichtbar. Ein durch FACS (facial action coding system; vgl. Ekman und Friesen 1975) definierter kommunikativer Affekt geht in einen anderen Affekt über oder mischt sich mit ihm. Das »happiness syndrom« zum Beispiel überdeckt alle anderen Affektsyndrome. Affekte wie Scham, Furcht, die die Selbstempfindung beeinträchtigen, können durch Ärger und Verachtung ersetzt werden. Diese letzteren Affekte sind direkt auf ein Objekt gerichtet und bringen eine Entlastung der bedrohten Selbstempfindung. Die narzißtische Wut (narcisstic rage, Kohut 1977) ist ein typischer Nachfolgeaffekt dieser Art. Das Ausdruckssystem kann auch als Ganzes manipuliert werden. Allerdings wird dann die mimische affektive Kommunikation ganz oder teilweise unterbunden. Dies geschieht zum Beispiel durch Abwendung des Kopfes, des Blicks sowie durch völlige Ein2 Das führt auch zu einer begrifflichen Schwierigkeit. Will man die Affekte als Affekte einer kindlichen Entwicklungsstufe schildern, dann ist die Bezeichnung Selbstempfindung vorzuziehen. Betrachtet man dieselben Prozesse bei Erwachsenen, dann wird auch Selbstgefühl als Bezeichnung richtig sein, weil im allgemeinen (aber nicht unbedingt) eine Selbstempfindung in einem affektiv-kognitiven System abläuft.

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stellung von Enkodierungs- und/oder Dekodierungsprozessen. Der Ausschluß von Information führt dazu, daß diese auch nicht prozessiert werden kann. Damit werden Teile von oder alle Regelfunktionen deaktiviert und müssen durch rein kognitive ersetzt werden. Damit sind wir bei den Konzepten von Peterfreund (1971, 1980) und Bowlby (1980) angelangt. Wahrscheinlich sind in dieser Alterstufe auch die ersten Prozesse der Affektsozialisierung anzusiedeln. Das Kind lernt, expressiv affektive Prozesse zu benutzen, um eine gewünschte soziale Reaktion für sich zu produzieren (z. B. Aufmerksamkeit zu erregen, ein Lächeln zu erzeugen usw.). Das Kind beginnt, seine Affekte intentional zu gebrauchen und sie seiner Kontrolle zu unterwerfen (Übergang von der unwillkürlichen zur willkürlichen Innervation der Aktionseinheiten [AU] des Gesichts, Rinn 1984). Andererseits wird die Kommunikation von Affekten auch von den familiären und indirekt von den gesellschaftlichen Kontexten her gesteuert. Ekmann und Friesen (1975) haben diesbezüglich »display rules« beschrieben. Das Kind lernt auch, durch Vermeidung von Affektausdruck unerwünschte Reaktionen beim Bezugsobjekt nicht auszulösen. Dies ergibt einen ersten Ansatz zur Erzeugung eines (affektiven) »falschen Selbst«, das im Gegensatz zum späteren inneren Erleben des expressiv vermiedenen Affekts stehen kann. Noch völlig ungeklärt ist die Frage, ob kommunikative Affekte vom Kleinkind in diesem Entwicklungsstadium auch differentiell erlebt werden. Gemäß der Theorie von Stern müßte ein globales Selbstempfinden angenommen werden. Sehr wahrscheinlich ist es aber, daß Affekte, die aus Motivationssystemen stammen (z. B. »triebabhängig« sind), spezifisch wahrgenommen werden, ebenso organismische Zustandsaffekte, die den Zustand von körperlichen Regulierungssystemen anzeigen (Pennemaker 1982). Es finden sich erste kognitive Strukturierungen, aber noch keine Internalisierungsprozesse, die zu symbolischen Repräsentanten des Wahrgenommenen führen. Tronic (1982) hat beschrieben, daß Kinder angenehme von unangenehmen Interaktionssequenzen auf Grundfrüherer Erfahrungen unterscheiden können. Ein Distanzraum ist geschaffen, der die Lokalisation von Objekt und Selbst in diesen Interaktionssequenzen erlaubt. Offensichtlich bildet sich ein rudimentäres Gedächtnis über affektives Erleben aus,

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das an einfache »Modelle« der Beziehungsrealität geknüpft ist. Es sind primäre kognitive Muster, die einerseits auf Auslöser der Umwelt anspringen, andererseits als fragmentierte Handlungsbereitschaften des Subjekts gespeichert sind. Diese Schemata entsprechen am ehesten den »indice« der Theorie von Piaget (1959 a, 1959 b), die von ihm nicht zu den Symbolen gezählt werden: »… l’indice est un signe mobile, détaché de l’action en cours et permettant les previsions d’un futur proche ou les reconstitutions d’un passe recent« (1959 a, S. 46).

■ 4. Exkurs zum Problem der Regulierung der Affektintensität An dieser Stelle muß kurz auf das Problem der Intensität eines Affekts eingegangen werden. Die Ausbildung von affektiven Kommunikationssystemen (in und außerhalb des kindlichen Organismus) ist an ein mittleres Maß an Erregung gebunden. Dazu gibt es viele Befunde aus der Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. die Zusammenfassung in Kaufmann-Hayoz 1991, sowie der Ergebnisse aus der Arousalforschung bei Erwachsenen: Clark 1982; Frijda et al. 1992). Es gibt Gründe anzunehmen, daß es eine Intensitätsregulierung gibt, die fähig ist, durch selbstkorrektive Vorgänge das tolerable Ausmaß an Arousal in einem Referenzbereich zu halten. Das geschieht in der formatio retricularis. Ist die Erregung sehr stark, dann aktiviert diese Formation im limbischen System negative Verstärkerstrukturen, im Fall zu schwacher Erregung positive. In den bereits besprochenen Stufen der Affektentwicklung funktioniert diese Intensitätsregulierung. Sie ist aber an die Reaktion einer Pflegeperson gekoppelt, die durch ihre Aktivitäten dem Kind gegenüber erregungsdämpfend oder -schwächend sein kann. Fehlt dieser Einfluß, so kommt es zu Erschöpfungszuständen, die möglicherweise auf die Dauer für den Aufbau von affektiven Informationssystemen im Kind schädlich sind. Wenn affektive Information nicht beantwortet wird, fehlt die Möglichkeit adäquater Beeinflussung von Objekten. Die Affektin-

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tensität steigt und wird ihrer Unerträglichkeit wegen zum Problem. Die Fähigkeit, Affekte bei anderen Personen wahrzunehmen, ist damit nicht beeinträchtigt. Das hat bei erwachsenen Patienten Green (1977) richtig gesehen. »One of the paradoxes in these complex affective structures is, that whilst they are themselves under the influence of the most massive primitive and archaic reactions, they remain most extremely sensitive to the nuances of the most subtle and differentiated qualities of affect in other people« (1977, S. 153). Die Dämpfung der Affektintensität durch das Pflegeobjekt erfolgt durch die Veränderung der Situation, welche im Kind den Affekt erzeugt hat. Die affektauslösenden »indices« (als kognitive Entitäten der Affektauslösung) verschwinden. Dem Affekt wird der Boden entzogen. Anstelle der direkten Veränderung der Situation durch die Pflegeperson kann auch die Ankündigung einer solchen treten. Das ist ja die Funktion eines »indice«, das immer noch an die direkte Perzeption des Objektes oder der eigenen Körperprozesse gebunden ist (Piaget 1959b). Fehlt im Interaktionsfeld Kind-Pflegeobjekt der regulierende Einfluß des letzteren, so fällt die Regulierung der Erregung ausschließlich dem Kind zu. Dies ist in dieser Stufe der Affektentwicklung aber abhängig von den eigenen Möglichkeiten, die Umwelt und die Objekte innerhalb einer Objektbeziehung zu beeinflussen. Schon vom neunten Monat an beginnt nach Sander (1975) das Kind aktiv und unabhängig Situationen mit oder außerhalb der Mutter zu organisieren. Gelegentlich führt dies auch zu zerstörerischen Handlungen (Spielzeug), die von der Mutter oder vom Beobachter als »destruktive Aggressivität« bezeichnet werden. Es geht um das reziproke Aushandeln von Grenzen. Das Verhalten ist in vielen Situationen als »gegen die Mutter« gerichtet oder als »mit der Mutter« zu beschreiben. Wird keine reziproke Übereinkunft ausgehandelt, entsteht auch keine Regulierung der Affektintensität in einer Beziehung. Ob hohe Erregung (arousal) als lustvoll oder als quälend erlebt wird, entscheidet sich vermutlich in dieser Zeit, dies auch in Bezug auf Situationen, die mit dem einen oder anderen verbunden sind. Von diesen Erlebnissen wird abhängig sein, ob in Zukunft Erregung gesucht (»arousal seeking«) oder vermieden (»arousal avoid-

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ing«) wird. Dazu wird später die Frage zu diskutieren sein, ob ein Objekt zur Regulierung zugelassen oder als bedrohlich von ihm ferngehalten wird. In den nächsten Entwicklungsstufen wird das affektive Regulierungssystem (das kommunikative wie auch das motivational organismische) zusehends mit Systemen kognitiver Information verknüpft. Das führt zu einer »situativen« Einbettung der affektiven Reaktionen; Affekt dient als erstes, schnelles und wenig differenziertes Signal (im Freudschen Sinne der Signaltheorie, Freud 1926), das nachfolgend durch kognitive Erfassung des Umfelds ausgedehnt wird. Affektive Reaktion mobilisiert somit ein zugehöriges, relevantes Modell von sich selbst und des Objekts respektive erlebter und erwarteter Interaktionen. Affekt hat dann mehr auslösende Funktion für die kognitiven Prozesse, die somit gemeinsam Verhalten regulieren. Nun gibt es in der Psychoanalyse einige Annahmen, daß eine solche »Kognifizierung« affektdämpfend wirkt: Das Modell tritt an die Stelle der Pflegeperson früherer Entwicklungsstufen, wobei erfahrene Reaktionen dieser Pflegeperson modelliert worden sind. Fehlende Affektbeherrschung, heftige Affektausbrüche werden dann auf eine fehlende kognitive Strukturierung zurückgeführt (Impulsneurosen, Borderline-Störungen usw.), die es dem Subjekt unmöglich machen, situationsadäquat zu handeln. Heftig ist aber nicht der anfänglich kommunizierte Affekt, sondern es sind jene Aktivitäten, die Versuche darstellen, durch Veränderung der Situation (der Beziehung) den Affekt zum Erlöschen zu bringen (z. B. aggressives Verhalten, Zustände des Nicht-Daseins, des Rückzugs usw.), sowie die affektive Evaluation dieser Versuche, zum Beispiel als Ohnmacht und Unfähigkeit oder im Gegensatz dazu als Triumph. Die Intensitätsregulierung scheint so zu funktionieren, daß Untererregungs- und Übererregungszustände an sich zu affektiven Informationen führen, die neben den physiologischen Feedbackprozessen auch mentale Reaktionen auslösen. Es gibt eine Reihe solcher Theorien, die hier aber nicht besprochen werden können (opponent process theory of motivation, Solomon und Corbit 1973, 1974; Solomon 1980; Streß Theorie des »cut off«, Epstein 1979; Reversal theory, Apter 1982; vgl. auch Moser 1983).

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■ 5. Veränderung des Affektsystems durch die kognitive Entwicklung Die bisher beschriebene Periode der Entwicklung einer affektiven Regulierung der Selbst-Objekt (»self-other«)-Beziehung wird in der Phase der Entwicklung kognitiver Strukturen ergänzt durch immer differenziertere Modelle dieser Beziehung. Diese Modelle werden gleichzeitig oder an Stelle der affektiven Regulierung benützt. Die Vernetzung von affektiver Information mit kognitiver Information wird Kognifizierung genannt (über den Unterschied der beiden Informationsarten vgl. Moser 1985; Moser, Schneider u. von Zeppelin 1991). Sie ergibt, wie später gezeigt wird, eine neue, wirksame Form der Kontrolle der Affektintensität. Die Setzung von »Räumen«, einer Innenwelt und einer Außenwelt, und von Innen- und Außenwelten von Objekten führt zu Affekten, die intrapsychisch und nicht mehr direkt in einer Interaktion verlaufen. Die beiden Gruppen von Affekten sind jedoch miteinander verbunden. Infolge großer Lücken, die hier noch in der Entwicklungspsychologie an Ergebnissen bestehen, werden vorläufig nur zwei Stufen unterschieden. Es wird zunächst eine Stufe der Situationstheorie beschrieben, die allmählich zu einem konkretistisch präkonzeptuellen Denken führt (5 a). Als nächste Stufe folgt die Ausbildung von repräsentationalen Theorien (auch »theories of mind« genannt). Diese arbeiten mit Prozessen, die simulativ Modelle oder Teilmodelle von Innen- und Außenwelten benutzen (5 b). Diese simulativen Abläufe können erstmals auch in Abkoppelung von der direkten Objektbeziehung auftreten. Virtuelle Phantasie und konkrete Aktualisierung treten parallel oder je einzeln auf. Affekte können als strukturelle Affekte der Innenwelt oder als kommunikative Affekte der realen Interaktion auftreten. Die Evaluation des Geschehens kann affektiv und/oder kognitiv verlaufen. Die affektive Evaluation gehört zu den Dekodierprozessen und wird deshalb bereits zu den strukturellen Affekten gezählt. Es werden zunächst beide Schritte der kognitiven Entwicklung kurz beschrieben. Anschließend werden die Konsequenzen für die Entfaltung des Affektsystems sichtbar gemacht.

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■ 5.1 Situationstheorie und konkretistisches,

präkonzeptuelles Denken Der Entwicklung der affektiven Kommunikation und der Evaluation der Beziehung geht jene aller Wahrnehmungsprozesse parallel. Die affektiven Konstellationen, die im Gesicht zu lokalisieren sind und letztlich auf Muskelspannungen beruhen, sind über Wahrnehmungsleistungen dekodierbar. Die Enkodierung geht über motorische Muster. Über die Erlebniskomponente kommunikativer Affekte weiß man konkret kaum etwas. Es gibt Theorien, die »Empfindungen« annehmen, andere nicht. Es scheint hingegen plausibel, daß die kognitive Entwicklung in den bereits beschriebenen Stufen der affektiven Entwicklung an die Wahrnehmung gebunden ist und nicht an verinnerlichte Repräsentanzen. Um den Übergang zu der symbolischen Funktion zu verstehen, die oft an den Beginn der kognitiven Entwicklung (im engeren Sinn, unter Ausschluß der primären Wahrnehmung) gesetzt wird, mag die von Piaget benutzte Theorie der zunehmenden Ausbildung von Signifikationssystemen dienen. Sie unterscheidet (Piaget, Beth und Mays 1957) folgende Systeme: (a) les signaux sensorimoteurs, (b) les indices perceptifs, (c) les symboles images, (d) les symboles linguistiques. Die Signale sind Auslöser von sensomotorischen Reaktionen. Sie sind starr an diese gebunden und funktionieren quasi automatisch. Die Indizien (»indices«) sind direkt an die Perzeption gebundene, konkrete Signifikanten, die für ein Objekt oder ein Ereignis stehen. Sie sind aber noch nicht an eine Repräsentation gebunden (die Tür, die sich öffnet und eine Person anzeigt). Von der Aktion losgelöst, erlauben sie die Voraussage eines Ereignisses (sofern dieses an eine Aktivität des Objekts gebunden war) oder die Rekonstitution eines soeben geschehenen Ereignisses. Sie setzen bereits eine Lokalisation »außen« voraus. Der Übergang von der Stufe des Indiziensystems zur symbolischen Signifikation verläuft über die Imitation. Diese definiert sich zunächst durch eine Assimilation von Bewegungen, ohne daß diese an sich selbst wahrgenommen werden müssen. Ein Kind kann zum Beispiel noch nicht seinen eigenen Mund repräsentieren, aber durch ein »indice« versteht es (z. B. das Geräusch des Speichels ei-

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nes Hundes), daß die visuell-auditiv perzipierten Bewegungen des Hundes mit einer bestimmten taktil-kinästhetischen Wahrnehmung des eigenen Mundes einhergeht (Piaget 1957 b). So kann es dieselbe Bewegung imitieren. Die Wahrnehmung eines Indizes ist noch unabdingbar notwendig. Erst nach erfolgter Ausbildung der Fähigkeit einer Repräsentation kann auch diese »imitiert« werden. (Nach der Theorie von Piaget entstehen Repräsentationen aus internalisierten Imitationen.) »Il y a représentation lorsque 1’on imite un modèle absent« (Piaget 1959 a, S. 8). Über die verschiedenen Arten der symbolischen Signifikation (imaginierte, konzeptuelle, sprachlich individualisierte [»symbole«] und generalisierte [»signe«]) wird, soweit notwendig, später berichtet. Situationstheorien des Kindes (Wellmann 1990; Perner 1991) sind wohl die ersten Modelle des Verhaltens in einer bestimmten Situation. Das Konzept ist nicht in der Theorie von Piaget zu finden, und es ist auch nicht ganz klar, ob es gerechtfertigt ist, dieses Konzept mit einer präkonzeptuellen, bildhaften Repräsentation gleichzusetzen. Situationen entstehen aus Indizien, die zu ganzen Netzen angereichert und situationsspezifisch organisiert sind. Man kann diese »Abbilder« mit sensuellem Charakter zumindest theoretisch auch zu Episoden bündeln. Insofern ist eine Situationstheorie dann bereits eine präsymbolische Repräsentation. Den Episoden kommt ein »episodisches Gedächtnis« zu, dessen Inhalte bildartig evoziert werden können. Abstraktionen der Erfahrung sind gleichzeitig schon möglich, wohl am ehesten im Sinne der repräsentativen, generalisierten Interaktionen (»representative interaction generalized«, RIG, Stern 1985). Wie bildhaftes, episodisches Gedächtnis und abstrahierte Speicherung in dieser Entwicklung zueinander stehen, ist weder gelöst noch kann die Problematik an dieser Stelle beschrieben werden. Die Abstraktion ist erst möglich auf Grund aktueller Änderungen der Situationstheorie durch praktische Anwendung. Die Fluktuationen in den Anwendungen (ad-hoc-Lernen) ermöglichen erst Abstraktionen über verschiedene Situationen hinweg. Es ist noch nachzutragen, daß der Körper, soweit er jeweils benutzt wird, nun auch zur Welt der Objekte dieser Situationstheorie gehört. Ferner werden »innere Gegebenheiten« angenommen. Es

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sind aber nur solche, die auf Äußeres, das heißt auf das Äußere eines Objekts einwirken. Auch den Objekten kann ein Inneres zugeschrieben werden, insofern dieses kausal auf das Verhalten des Objektes Einfluß hat und es bestimmt. Diese mentalistiscbe Theorie des Verhaltens und deren kausalen Bewirkungen (»mentalistic theory of behavior«, Perner,1991) ist somit konkretistisch an die Situation der Beziehung gebunden, in der gerade gehandelt werden muß. Nach Piaget ist auf dem Boden der Situationstheorie der Beginn symbolischer Funktionen zu suchen. »C’est la capacité d’évoquer par un seine ou une image symbolique 1’object absent ou 1’action non encore accomplie« (1959b, S. 214). Die Signifikationsysteme auf der symbolischen Stufe teilt er bekanntlich ein in präkonzeptuelle und konzeptuelle (Piaget 1959a). Die »signifiants« der ersteren Systeme sind die repräsentativen imaginierten Symbole (symboles representatives images). Die späteren Systeme enthalten Symbole im Sinne von »signes«, die typisch sind für konzeptuelles Denken und für das Sprechen (»signes linguistiques et conceptuels«). Die ersteren sind hochindividuell, die letzteren sozial organisiert. Beschäftigen wir uns zuerst mit dem präkonzeptuellen Denken, soweit es für unsere Zielsetzung relevant ist. Die in ihm verwendeten Modelle sind nicht mehr einfache »stand ins« für einen Ausschnitt der realen Welt, sie können nun operativ manipuliert werden, dies aber nur in Prozessen, die eine Regulierung zu einem Objekt betreffen, das heißt unter konkreten Umständen. Dazu können auch Phantasien aus dem Gedächtnis bezogen werden. Es gibt aber noch nicht die Vorstellung einer hypothetischen Situation. Die zentrale Operation dieser Phase ist der Transfer eines Modells von einem Objekt zu einem Subjekt und umgekehrt. Es kommt eine dritte hinzu, die wir vernachlässigen, der Transfer eines Modells von einem Objekt zu einem anderen Objekt. In der ersten Form wird der Körper modelliert und zum Abbild seiner selbst oder des anderen benutzt. Das Kind kann seine Handlungen anderen Objekten verleihen oder Handlungen des Objektes imitieren. Dazu finden sich Beispiele bei Piaget (1959 a): (Obs. 75, 1, 6, 30) J. sagt »pleure, pleure« zu ihrem Hund und imitiert selbst das Weinen. Später läßt sie ihren Bären, eine Ente, ihren Hut weinen. (Obs. 76, 1, 9, 20) J. reibt am Boden mit einer Schale, dann mit

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einem Pappdeckel und sagt dazu: »Brosser-Abebert«, wie die Hausmeisterin es tut. Die Prozesse sind assimilativ, ein Objekt kann an ein anderes assimiliert werden, das Subjekt an ein Objekt und ein Objekt an ein Subjekt. Diese Prozesse sind im symbolischen Spiel an konkret präsente Träger der Situation gebunden. Modellieren und Imitieren des Objekts sind die basalen Funktionen dieser Transferierung. Werden imitierte oder modellierte Attribute unabhängig von der Präsenz des Modells beibehalten und in die Selbstrepräsentanz oder in eine Objektrepräsentanz eingegliedert, dann handelt es sich um Identifizierung und Projektion (beides sind intrapsychische Prozesse der Repräsentanzenveränderung). Modellieren und Imitieren scheinen mit den in der psychoanalytischen Literatur beschriebenen Prozessen der projektiven Identifizierung und der idenfikatorischen Projektion identisch zu sein. In der zweiten Form der Transferierung erfolgt ein Transfer von Inhalten der einen Innenwelt in die Innenwelt des anderen Modells. Das bedingt natürlich eine Lokalisationsfunktion »Innen-Außen«. Inhalt kann sein, was dem Objekt oder sich selbst als »fühlt«, »wünscht«, »glaubt« oder »denkt« zugeschrieben wird (vgl. Harris 1989; Wellmann 1990). Die Affektinduktion (siehe unten) ist ein typischer Transferprozeß dieser Art. Die Fähigkeit der Separierung3 entscheidet dann darüber, wo ein Affekt lokalisiert wird (richtiger- oder fälschlicherweise) (vgl. Grinberg 1962). Eine heute sehr beliebte Formulierung dieses Transfers ist die Metapher des Containing. Subjekt oder Objekt enthält (contains) etwas, was »hineinprojiziert« worden ist. Zum Beispiel wird ein Objekt vom Subjekt her benutzt, um etwas (einen Affekt, eine Phantasie) zu übernehmen. Das Übergebene kann entweder verändert wieder zurückgenommen oder definitiv abgewehrt dort belassen bleiben, ohne als Teil des Subjektes zurückkehren zu können (Bion 1962,1970; Joseph 1989). Durch eine solche Container3 Eine einfache Art der kognitiven Separiertheit ist die Fähigkeit der Zuordnung eines Affektes zu einem Ort (Lokalisation). »Es ist seine Wut«, »es ist meine Trauer« (Über die Entwicklung dieser Fähigkeit siehe Demos, 1984). Die komplexere kognitive Separiertheit hängt mit dem Erleben des Subjektes als Prozessor mit Identitätsgefühl zusammen. Er erlebt individuelle Erfahrungen, die ihn mit einem Netz von Bedeutungen mit Objekten verknüpfen.

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funktion werden Innenwelten von Subjekten und Objekten verknüpft. Containing ist eine der vielen magischen Praktiken des präkonzeptuellen Denkens. Bei der Containerfunktion sind die Grenzen von Selbst und Objekt nicht beschädigt (außer der anfänglichen Durchlässigkeit für die Inhalte des »contained«). Ist die Boundary-Funktion gestört, dann gelingt die Lokalisation nicht mehr. Die Selbstfunktionen werden dann zusätzlich gestört. Benedetti (1983) berichtet, wie sich ein Patient zeitweise als »äußeres« Objekt erlebt, zum Beispiel als das Zimmer, in dem die Sitzung mit dem Therapeuten stattfindet oder als Objekt der Vergangenheit, zum Beispiel als die Wärmflasche der Großmutter. Konkretistisches Denken hat auch keine Schwierigkeiten, kognitive Einheiten zu bilden, die zugleich Subjekt, Objekt und Situation enthalten (Verdichtungen). Deshalb ist der Schlaftraum in seinem Kerngeschehen konkretistisch und präkonzeptuell (Moser u. von Zeppelin 1996). Gerade dieser Tatbestand weist darauf hin, daß die konkretistisch präkonzeptuelle Ebene der Regulierung von Beziehungen und des Selbstempfindens auch beim Erwachsenen bestehen bleibt und unter gewissen Bedingungen als alleinige funktioniert.

■ 5.2 Repräsentationale Theorie (»representational

mind«), konzeptuelle Modelle, inneres Simulieren Auf der Stufe des konzeptuellen Denkens beginnt das Kind zwei Arten von Objekten deutlich auseinanderzuhalten. Es gibt Objekte mit Gegenstands- und andere mit Vorstellungscharakter. Erstere gehören einer äußeren Realität an, die anderen sind Elemente einer »inneren«, »mentalen« Welt der Gedanken, Vorstellungen und Gefühle. jetzt können Vorstellungsbilder durch Signifikationssysteme mit anderen Vorstellungsbildern verknüpft sein. Mit der Zeit bilden sich innere Prozesse mit Modellen, die das Subjekt oder Objekt in unterschiedlichen Situationen vorzustellen vermögen, die nicht mehr an das unmittelbare konkrete Erleben gebunden sind. Damit ist die repräsentationale Theorie da (theory of representational world, Perner 1991). In den kognitiven Theorien wird leider die Theorie des Kindes, daß es eine repräsentationa-

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le Welt gebe, nicht unterschieden von der faktisch repräsentationalen Welt als mentale Organisation. Das erste ist eine naive Theorie, das zweite eine de facto regulierende Organisation. Letztere muß sich nicht adäquat in der ersteren abbilden. Angaben über die Zeit, wann was sich entwickelt, sind deshalb mit Vorsicht aufzunehmen. Was sind die neuen Errungenschaften? Antizipation und nachträgliche Verarbeitung von Erfahrungen entstehen. Es gibt eine Regulierung unter Abkoppelung vom Objekt. Dem Objekt kann auch weiterhin eine Funktion der Regulierung zukommen oder auch nicht. Der Organismus wird fähig, sein Funktionieren selbst zum Gegenstand der inneren Regulierung zu machen (Stadium der Selbstregulierung, Kopp 1982). Die Repräsentanzen werden Bestandteil der Regulierung der Objektbeziehung einerseits und der Selbstregulierung andererseits. All das kann mit dem Konzept des inneren Simulierens verstanden werden. Die mentale Organisation gliedert sich in Mikrowelten (Lawler 1981; Moser 1992; Moser u. von Zeppelin 1996), die parallel existieren und funktionieren. Man kann sie als operationale, unbewußte Phantasiebereiche definieren, die sich unter gewissen Umständen in verschiedener Weise aktualisieren. Entscheidend ist ferner, daß in ihnen die Regulierung der Objektbeziehung von der inneren Regulierung abgekoppelt werden kann. Sie ist nicht mehr wie im präkonzeptuellen Bereich mit ihr identisch. Eine zentrale Selbstregulation differenziert sich von einzelnen »Selbstprozessoren«, die spezifischen Mikrowelten zugehören (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Die Selbstwertregulierung zum Beispiel ist nicht mehr von interaktiven Erfahrungen ausschließlich abhängig, sondern kann aus Rekonstruktionen dieser Interaktionen generiert werden. Sie stützt sich auf innere, objektunabhängige Bezugssysteme. Bei vielen narzißtischen »präödipalen« Neurosen ist dies nicht möglich. Bestes Beispiel dafür ist die Verlassenheitsneurose, die durch Erhöhung der Abhängigkeit vom Objekt zu einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls gelangen muß (Guex 1950; Odier 1950). Die innere Differenzierung der mentalen Welt geht jetzt rasch vor sich in Richtung verschiedener Regulierungskontexte, die unter sich verknüpft sind und Informationen affektiver wie kognitiver Art austauschen. Es gibt darüber eine ganze Reihe von Entwürfen,

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angefangen von der klassischen Strukturtheorie der Psychoanalyse (Ich, Selbst, Selbstideal, Über-Ich und Es) bis zu distributiv parallelen Modellen von Regulierungskontexten (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1987, 1991). Das Konzept der strukturellen Affekte umfaßt den Bereich der internen affektiven Informationen, die der Handlungsvorbereitung und der Denkregulierung dienen. Abwehrmechanismen treten erst in dieser Stufe der Strukturalisierung auf. Sie sind durch affektive Informationen ausgelöste und geleitete Strategien der Beeinflussung der Regulierungstätigkeit. Sie arbeiten antizipatorisch oder nachträglich und verändern die Eingangsgrößen der Regulierung der Objektbeziehung. Auch diese ändert sich in verschiedener Hinsicht: Es kommt zur Ausbildung sogenannter Ad-hoc-Modelle, die kurzfristig variierbar auf die laufenden Erfahrungen der Objektbeziehungen anspringen. Die Regulierungskontexte der »Innenwelt« generieren eine Vorgabe für dieses Ad-hoc-Modell, das jeweils einen Subjektprozessor, einen Objektprozessor, Beziehungsregeln der Interaktion und für die Interaktionen modifizierte Wünsche enthält. Die Rückmeldungen aus der Objektbeziehung sind ebenfalls zweistufig. Im ersten Schritt erfolgt eine unmittelbare Evaluation in jenem Regulierungskontext, der die Beziehung leitet und ad hoc-Modelle ausgebildet hat (kurzfristige Adaptionen). Im zweiten Schritt gelangt die Evaluation in die »inneren« Kontexte und wird dort langfristig verarbeitet.

■ 6. Kognitive Strukturierung des Affektsystems (1. Stufe): Situationstheorie und konkretistisches Denken In der Situationstheorie ist ein Modell der Situation mit Einschluß eines Modell des Selbst und des Objekts möglich. Das reale Objekt ist noch für die Regulierung der Bedürfnisse des Subjekts unabdingbar notwendig. Es muß deshalb präsent sein und so manipulierbar, daß es den gewünschten Bedingungen des Subjekts entspricht. Dazu gehört vor allem die Erfüllung der Bedingungen des Sicherheitsgefühls. Die Möglichkeiten eines Erlebens ohne Objekt

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sind vermutlich beschränkt auf den Umgang mit Dingobjekten. Die Situation ist Träger der erlebnismäßigen Einheit. Deshalb sind Situationsgefühl und Selbstgefühl noch nicht auseinanderzuhalten. Ist die Situation unsicher, zum Beispiel angstbesetzt, dann auch das Selbst. Ein invariantes internalisiertes Beziehungsgefühl gibt es noch nicht. Es kennzeichnet erst die nächste Stufe der repräsentationalen Welt. Das Objekt ist weg, wenn es weg ist oder affektive Signale nicht beantwortet oder keine solchen an das Subjekt richtet. Deshalb kann das Gefühl einer Beziehung nur durch Wiederherstellung der direkten Interaktion erreicht werden (Schneider 1981). Das bedeutet aber nicht, daß nicht gleichzeitig ein Bedürfnis nach Autonomie wächst (»autonomic claim«). Würde man es in englischen Termini ausdrücken, so wäre eine Balance von »autonomic claim« und »attachment« für diese Phase die typische Formulierung, nicht aber für eine affektive Beziehung mit Invarianz. Eine Objektkonstanz im Sinne eines internalisierten Abbildes ist hingegen vorhanden. Objektkonstanz ergibt nicht automatisch ein konstantes Beziehungsgefühl. Die zentrale Angst dieser Stufe betrifft den Verlust (jede Abwesenheit ist Verlust) des Objekts. Als sekundäre Angst kann es zur Angst vor dem »Ichverlust« kommen, die später beschrieben wird. Angst vor dem Verlust des Objekts ist identisch mit der Angst vor dem Verlust der Beziehung, die durch den Affekt des Beziehungsgefühls angezeigt wird. Um diese Angst vermeiden zu können, entwickelt sich im Subjekt ein immenses Kontrollbedürfnis. Das Objekt muß in der gewünschten Form da sein. Es darf nicht zu einschränkend sein, wenn das Bedürfnis nach Autonomie stark ist, und es muß als regulierend zugelassen werden können, wenn das Subjekt ein Selbsterleben »mit dem Anderen« haben möchte. Im ersten Fall einer Störung entsteht die Angst vor Abhängigkeit, im zweiten Fall die Angst vor Verlassenheit. Alleinsein kann für kurze Zeit gewünscht sein oder sich in einer Beziehung ergeben. Dauert dieser Zustand zu lange, wird aus der Angst ein »dreadful state«, ein panikartiger Zustand, aus dem man sich dann befreien muß. In diesem ersten Schritt der Kognifizierung entstehen neue Prozeduren, darunter auch die Fähigkeit des Phantasierens. Die Funktion dieser Phantasie ist eine konkretistische, das heißt sie dient als Korrektur der Wahrnehmung (primär der affektiven); sie korrigiert

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und verwandelt Bilder von Selbst und Objekt zu erträglichen Formen. Eine Größenphantasie oder deren Verschiebung auf ein Objekt (Modellierung des Objekts gemäß dem Vorbild des gewünschten Selbst) erzeugt anstelle von Ängsten der oben genannten Art erträgliche, positiv erlebte Affekte. Die Phantasien haben die Funktion, unerwünschte Affekte durch Umgestaltung der kognitiven Modelle zum Verschwinden zu bringen, indem sie ihnen den Boden zu entziehen versuchen. Diese Phantasien haben keine spannungsabsorbierende Kraft, sie vermögen nicht, Ängste in Phantasmen einzubauen. Diese Fähigkeit ist erst in der Stufe der repräsentationalen Theorie mit der Ausgestaltung von phantasierten Mikrowelten gegeben (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Das gewünschte Autonomiegefühl, das Sicherheitsgefühl und das Wohlbefinden muß dauernd evaluiert werden. Es sind dabei zwei Quellen unterscheidbar: einmal das Objekt und dessen Zufriedenheit mit dem Verhalten des Subjekts, zum anderen der Körper und das Körperinnere, das wie ein Objekt als Bestandteil der Evaluation der Situation erlebt wird. (Auch der Körper hat ein Abbild als Modell.) Auch in dieser Beziehung haben die Phantasien die Funktion, Unsicherheiten im Körpererleben und damit verknüpfte Ängste zu korrigieren. Ein spezielles evaluatives Gefühl in der Beziehung zum Objekt oder zum eigenen Körper ist das Schamgefühl (Roiphe u. Galenson 1981; Wurmser 1981, 1986; Block-Lewis 1987; Eicke-Spengler 1988). Am Beispiel des Schamgefühls lassen sich besonders gut die Eigenheiten des Affektsystems dieser Stufe zeigen. Die Information »Scham« führt dazu, sich in Richtung der vermuteten Vorstellungen des Objekts über das Selbst zu verändern (hier wäre der Einfluß mütterlicher Phantasien auf das Kind zu diskutieren, vgl. Cramer 1982; Fonagy et al. 1993). Diese Veränderung kann nur über eine Verminderung des Autonomieanspruchs und des Autonomiegefühls gehen. Was aber ist in diesem Affektsystem die Information »Scham«? Wurmser (1986) macht eine wichtige Unterscheidung in diesem Bereich. Eine erste Form des Schamaffekts nennt er Schamangst, es ist dies eine Angst, welche vor der Beschämung besteht. Nachdem die Bloßstellung eingetreten ist und eine Demütigung erlebt wird, manifestiert sich Scham in Form eines komplexen Affekts, der sich

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nach Wurmser um einen depressiven Kern gruppiert. Er beinhaltet Verachtung (gegen sich selbst) und den Wunsch, sich zu verstekken, zu verschwinden, oder den Wunsch, die Beschämung ungeschehen zu machen. Eine dritte Form der Scham manifestiert sich dann in Reaktionsbildungen, als Bescheidenheit, als Diskretion und als sexuelle Scham. Wir würden annehmen, daß diese Möglichkeit des Verlaufs erst beim Affektsystem der repräsentationalen Modelle und der strukturellen Affekte auftreten. Schamangst ist vorher nicht vorhanden. Sie impliziert eine Signalfunktion, die einerseits präventiven Vermeidungsversuchen der schamauslösenden Situation (des Objekts) führt, andererseits intrapsychische Abwehrprozesse auslöst, zu denen auch die von Wurmser genannten Erscheinungen gehören. Typisch ist hingegen für die Affektorganisation der Situationstheorie eine direkte Schamauslösung in der Objektbeziehung, die unmittelbar das Selbstempfinden infiziert und das Selbsterleben empfindlich stört respektive geradezu aufzufressen droht. Bleibt es bei diesem Zustandsaffekt, so liegt die beschriebene »offene Scham« vor. Oder es kann zu den Restabilisierungsprozessen der primären Affektabwehr kommen, die in Abschnitt 3 beschrieben worden sind. Das Erlebnis einer affektiven Beziehung zum Objekt kann nicht von innen her generiert werden, wenn eine Störung dieses Erleben bedroht oder wenn es aufgelöst wurde. Eine Rekonstruktion kann nur über eine neue konkrete Interaktion mit einem präsenten Objekt erfolgen. Der Grund liegt darin, daß das Subjekt keine von der Beziehung ablösbare Repräsentanz hat. Das Subjekt erlebt sich noch nicht als abkoppelbares Untersystem der Beziehung, sondern immer nur als Teil der Beziehung selbst (Schneider 1981). Es gibt deshalb keine Veränderung des Subjektes ohne gleichzeitige Veränderung der Beziehung. Auch hat sich – dies ist ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Stufe – eine Veränderung des emotionalen Involvement, das heißt der Intensität der affektiven Beziehung zum Objekt, noch nicht entwickelt. Das Involvement ist unabdingbar da oder nicht. Eine Konfliktentschärfung durch Minderung des emotionalen Involvement oder ein zögerndes Einlassen auf die affektive Beziehung werden erst in einer späteren Entwicklungsstufe als Mittel der Konfliktvermeidung und -entschärfung gefunden. Dem kogniti-

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ven Abbild einer Situation kommt eine Gesamtaffektivität zu, die sich innerhalb des Abbildes der Situation und durch dieses geleitet verschieben läßt. Mit anderen Worten: Die Situation ist Trägerin eines Zustandsaffekts. Nach konnexionistischen Modellen der Informationsverarbeitung (vgl. z. B. Gernert 1985) kann Information an bestimmten Stellen eines Netzes agglutinieren und zur gerichteten Information werden. Auf die Affektivität übertragen (Moser u. Zeppelin 1996) würde das heißen, daß durch die kognitive Ausdifferenzierung von Repräsentanzen des Subjekts, des Objekts und der Beziehung zwischen beiden Teile der Affektivität umgewandelt und als Affekte der kognitiven Enitäten gebunden in Erscheinung treten. Es sind dann Affekte des Subjekts, des Objekts und der Beziehung. Als Zwischenbemerkung sei festgehalten, daß die vor der Situationstheorie ausgebildeten affektiven Systeme beibehalten und auch stets benutzt werden. Es gibt in jenen Systemen Defizite, vielleicht auch Defekte, deren Folgeerscheinungen Krause (1988, 1990, 1993) beschrieben hat. Wie diese Defizienten die kognifizierten Stufen des Affektsystems im einzelnen beeinflussen, ist nicht bekannt. Das konkretistische Denken dieser Stufe unterscheidet nicht zwischen Abbild der Beziehung und der konkreten Beziehung. Es ist wohl durch die Phantasie das Abbild modifizierbar, die Beziehung wird aber anschließend konkret dem Abbild assimiliert. Die Regulierung der Beziehung hingegen wird sozusagen auf Verhaltensbasis vollzogen und geht über Veränderungen des Objekts wie des Subjekts. Es wird an dieser Stelle klar, daß die als projektive Identifizierung beschriebenen Vorgänge dieser Stufe der affektiven Beziehung zuzuordnen sind. Grinberg (1962) gibt eine Definition, die das Zusammengehen von kognitiven und affektiven Vorgängen bei diesem Phänomen sehr deutlich macht. »The Patient has a need to use projektive identification with the purpose of converting the analyst into a container depository of his anxiety and of his other painful affects that he cannot tolerate. On occasions, the analysands unconcious fantasy in that interaction is to manipulate and control the analyst, making him play certain roles and experiencing certain emotions without his being able to avoid it … As a result he is sometimes unconciously and passively ›carried along‹ to

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play roles and feel the affects which the Patient unconciously ›forces‹ onto him and wants him to feel and play« (1962, S. 436; vgl. auch Sandler 1976; Ogden 1979, 1982; Langs 1983). An dieser Stelle interessiert uns der affektive Anteil dieser Prozesse. Dieser ist in der Affektinduktion zu suchen, die Transfers von Affekten vom Subjekt ins Objekt und vom Objekt ins Subjekt ermöglicht. Der Effekt kann verschieden sein, je nachdem, ob der im anderen induzierte Affekt beibehalten oder ob nach der Verschiebung die eigene Innenwelt vom Affekt geleert wird. Im ersten Fall bleibt es bei einer resonanten, sogenannten symbiotischen Beziehung, in welcher beide Träger den gleichen Zustandsaffekt haben (was andere Affekte ausschließt). Im zweiten Fall ist die Affektinduktion mit einer Affektabwehr der »Abschottung« verknüpft, die eine Wiederkehr des evakuierten Affekts verhindert. Der Empfänger des induzierten Affekts weiß oft nicht, wie ihm geschieht. Er reagiert mit einer inneren Verwirrung, oft mit agitiertem und emotionalem Durcheinander, was zu einer Unfähigkeit des Dekodierens und Akzeptierens der »dumping message« (Langs 1983) führt. Der Impuls, das eigene innere Affektsystem abzukoppeln und die Beziehung zu unterbrechen, taucht auf. (Vorausgesetzt, der Partner reagiert auf der Stufe der repräsentationalen Welt und der strukturellen Affekte.) In der Beziehung »Selbst mit dem Anderen« werden verschobene Affekte übernommen, lösen Signale des Verstehens aus und/oder führen zu Veränderungen der Beziehung durch den anderen. In dieser Beziehung wird erstens das Objekt zur Regulierung der gemeinsamen affektiven Beziehung zugelassen und zweitens, wenn erwünscht und als notwendig erachtet, auch zur Regulierung eigener Bedürfnisse. In der Beziehung »Selbst versus den Anderen« wird das Objekt »auf Distanz« gehalten. Eine Affektinduktion wird gefürchtet und als Bedrohung abgelehnt. Im Phänomen des empathischen Walles (»empathic wall«) führt das zu einer Generalisierung der Abwehr und zur Nichtwahrnehmung der Affekte im Anderen. Werden vom Objekt aggressive Affekte verschoben und tritt in der Evaluation Haß anstelle der »liebevollen Träumerei der Mutter« (Bion 1970), dann wird das Selbsterleben gestört. Das Bedürfnis, geliebt zu werden als eine Quelle des Selbstgefühls, erhält keine Befriedigung. Die Haßaffekte müssen entleert

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werden. Green (1977) hat sich darüber Gedanken gemacht. Der im Selbst sitzende Affekt bedroht den Narzißmus des Ichs, der auch notwendig ist für die Aufrechterhaltung der Selbstbeobachtung. Die Lösung ist dann – wiederum nach den Ausführungen Greens – die »Extravasation« des Affekts. Impotenzgefühle und Distreß führen zu einer inneren Panik, die das Individuum dazu treibt, die Begrenzungen des psychischen Raums mit verschiedenen Mechanismen zu überschreiten: Dissemination und Dilution der Konfliktspannung, kathartische Aktionen in Form massiver Affektstürme, Somatisierung, perverser Exitationen und andere Im Herzen des Subjekts installiert sich ein »toter« Raum. Mit anderen Worten: Die Entleerung ist typisch für den Endzustand einer Affektinduktion, die Autonomie und Intaktheit des Selbstempfindens beinahe auf hebt. Dann werden Wege der primären Affektabwehr (Stufe 3) praktiziert. Die selbstkorrektiven Vorgänge auf kortikaler Ebene fehlen.4 Die Konfusion und die Heftigkeit der Phänomene sind um so dramatischer, je größer die affektive Erregung (arousal) wird und je geringer die Fähigkeit und Lust, Erregung zu erleben, ist. In den Beispielen von Green wirkt das Objekt nicht mehr Arousal dämpfend und das Subjekt nicht mehr Arousal vermeidend. Hat die Situation mehr den Charakter einer Beziehung »Selbst mit dem Anderen«, steht das Bedürfnis, begehrt zu werden vom Objekt, und das Begehren nach dem Objekt im Vordergrund, dann wird bei Störungen die affektive Beziehung an sich und/oder das Objekt als nicht anwesend erlebt. Das ist ein bedrohlicher Zustand, denn in diesem Fall wird eine unerträgliche Angst vor Objekt- und Beziehungsverlust auftreten. (Es wurde schon darauf hingewiesen, daß dies ein Charakteristikum der Verlassenheitsneurosen ist.) Leere ist dann das Erleben der Abwesenheit der Relation. In diesem Fall kann sich das Selbstempfinden noch mit Hilfe kognitiver Prozesse schützen. Einige, aber nicht alle sind in den Beschreibungen von Neurosenformen enthalten. Die generierten Phantasien formen im Erleben auf magische Weise die entleerte Be4 Die beiden von Green genannten Vorgänge im Zusammenhang mit der Entleerung, Somatisierung und perverse Exitation, sind damit nicht hinreichend erklärt.

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ziehung so um, daß die angstbesetzten Affekte verschwinden. Symbolische Phantasien der Verschmelzung erzeugen unmittelbar positive Affekte (vielleicht müßte man sie »fiktive« nennen). Der Horror der Beziehungsabwesenheit, der das Empfinden der Leere im Selbst lokalisiert, entbehrt in dieser Phantasie der Grundlage. Die symbiotische Phantasie kann oft durch nicht »reale« Objektrepräsentanzen ersetzt werden: durch unbelebte Elemente und magische Personifikationen (Landschaft, Kosmos, Gott usw.), mit denen man sich vereinigt und eins fühlt. Auch die Gefahr der Einsamkeit, des Alleinsein-Müssens, ist gebannt. Es ist an dieser Stelle wieder darauf hinzuweisen, daß im Erleben des Subjekts keine Trennung zwischen »Phantasie« als Inhalt des Selbst und Interaktion als »Verhalten« gemacht wird. Phantasie ist eine Veränderung des Abbildes der Wirklichkeit, die sofort das Verhalten bestimmt. Dies muß auch bei Phantasien der Destruktion berücksichtigt werden. Diese führen dazu, daß die Beziehung und das »schlecht« gewordene Objekt tatsächlich zerstört werden: Dabei geht die Fähigkeit, eine Beziehung zu setzen, verloren (Kernberg 1992). »The object is at bottom both needed an desired.« Aber: »Its destruction is equally needed and desired« (Kernberg, S. 23). Alle potentiell möglichen Beziehungen werden ebenfalls zerstört, weil nur jene zum unabdingbar notwendigen Objekt gewünscht wird. Kernberg betont den magischen Charakter des ganzen Geschehens: »The revengeful destruction of this bad object is intended to magically restore the all good one« (S. 27). Ob das Ziel der Destruktion der affektiven Beziehung (das Nichtbesetzen des Objekts) letztlich der Herstellung eines Zustands des Nicht-Seins gilt, weil dieser Zustand Ruhe bedeutet, wie Green (1977) meint, wäre zu klären.5 Im magischen Denken des konkretistischen Prozesses wird das Ergebnis einer beruhigenden affektiven Beziehung zum Objekt letztlich über die Leere zu verwirklichen versucht. Der Zustand des 5 Green beschreibt eine negative narzißtische Besetzung. Um den Zustand der Ruhe, der üblicherweise der Befriedigung durch das Objekt folgt, zu erreichen, sucht das Objekt in den Fällen, wo die Befriedigung nicht stattgefunden hat, diesen Zustand, als ob die Befriedigung stattgefunden hätte, indem es jede Hoffnung auf Befriedigung fahren läßt und einen »Zustand des Todes« herbeiführt.

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»Todes« rückt nahe an eine fiktive, magisch herbeigeführte symbiotische Beziehung. Die Leere ist jene eines Theaters, in dem nichts gespielt wird. Es ist nur alles weghalluziniert, meint Green, und setzt für diesen Zustand den Begriff »negative Halluzination«. Die Affektverschiebungen dieser Stufe können nicht nur zwischen Subjekt und Objekt (innerhalb der situativ strukturierten Welt) verlaufen, sondern auch von Objekt zu Objekt und von Objekt zu einem Teilobjekt gehen. Solche Prozesse bilden die Basis des Traumgeschehens. Dort können auch zusätzlich Subjekt und Objekt gemeinsam in andere Objekte oder in nichtanimierte kognitive Elemente transferiert werden (Moser u. von Zeppelin 1996). Die typischen kognitiven Prozesse dieser Stufe sind Modellierungen eines Objekts auf Grund der Vorlage des Subjekts oder Teile desselben sowie Imitation, die Nachahmung eines Objekts durch das Subjekt. Beide Prozesse werden tatsächlich vollzogen, sind also konkret und nicht ohne Affektinduktion und -verschiebung denkbar.

■ 7. Kognitive Strukturierung des Affektsystems (2. Stufe): Innere Prozesse: Introjektion, Spaltung des Selbst, narzißtische und symbiotische Phantasien Der Aufbau der repräsentationalen Welt enthält eine Vorphase, in der als Folge von Internalisierungen »innere« Prozesse und »innere Zustände« entstehen, die nicht mehr als konkretistisch an die affektive Beziehung zum Objekt gebunden sind. Ein erstes Beispiel ist die Introjektion (des Objekts, besser: der Beziehung zum Objekt), ein zweites die Grandiosität, die durch eine Spaltung in der inneren Repräsentanz des Selbst zustande kommt. Diese Prozesse setzen voraus, daß Repräsentanzen von Objekt und Subjekt gebildet worden sind. In beiden Fällen wird die Objektbeziehung verinnerlicht. Die sie begründenden Affekte werden zu strukturellen Affekten, das heißt zu einer inneren Information, die nicht mehr direkt eine Verbindung zwischen dem eigenen und dem fremden, dem Objekt zugehörigen Erlebnisbereich stiftet.

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Bei der Introjektion wird betont (vgl. Thähkä 1993), daß ein unabdingbar notwendiges Objekt (resp. die Beziehung zu ihm) internalisiert wird, das funktionale Bedeutung hat. Es ist ein Objekt, das Funktionen des Subjekts übernommen, es beschützt oder getröstet hat. Im positiven Fall der Entwicklung erfolgt die Introjektion der guten tröstenden Funktionen eines »guten« Objekts (»containing«, Bion 1962, 1970); »fonction de portance«, Quinodoz 1991). Vorübergehender oder dauernder Verlust dieses realen Objekts kann damit überwunden werden; als interner Prozeß über die Identifikation können nun diese Funktionen des Introjektes zu eigenen werden (funktionale Identifikation, Thähkä,1993). Die Introjektion ist andererseits auch ein Mittel, unangenehme Affekte der affektiven Beziehung zum Objekt zum Verschwinden zu bringen. Die Introjektion des verlorenen Objekts führt dazu, daß die Gefühle diesem Objekt gegenüber, zum Beispiel der Haß auf den Analytiker wegen einer Unterbrechung der Analyse (vgl. Quinodoz 1991, S. 63), nicht mehr erfahren werden. Es bleibt weiterhin offen, ob die gesamte affektive Beziehung über den Weg der Introjektion aufgelöst wird (wie das bei der psychotischen Depression vermutet wird; Freud 1916-17g; Abraham 1924) oder ob nur einzelne Aspekte der Beziehungsgefühle (z. B. Haß) davon betroffen sind, das Beziehungsgefühl aber aufrecht erhalten wird. Dann müßte von einer selektiven Introjektion gesprochen werden. Die kognitive Strukturierung umfaßt in diesem Beispiel eine Beziehung zweier Akteure: eines Objekts und eines Selbst, die affektiv verknüpft sind. Es ist die Bildung einer ersten Mikrowelt, die aber mehr der Aufrechterhaltung einer ganz oder teilweise aufgelösten affektiven Beziehung dient und nicht der kreativen Simulation neuer Beziehungen zwischen den beiden Beteiligten. Die Nähe zum konkretistischen Denken zeigt sich auch daran, daß introjizierte Beziehungen leicht auf reale Beziehungen übertragen werden, sofern es gelingt, funktional-positive Aspekte in dieser Beziehung zu erleben (z. B. Externalisierung von Introjektionen in der psychotherapeutischen Beziehung). Die Folgen der Introjektion sind strukturelle Affekte (selbsttröstende Affekte, Haß auf sich selbst u. a.). Zudem werden die Autonomie durch diese Strukturierung erhöht und Gefühle der Abhängigkeit vermieden. Eine zweite, häufig unter verschiedenartigsten Bezeichnungen

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beschriebene Strukturierung ist die Bildung einer Grandiosität, die unserer Ansicht nach nur als ein Spaltungsprozeß der rudimentären Selbstrepräsentanz in zwei Selbstakteure verstanden werden kann. Ein hilfloses, sich unterlegen fühlendes Selbst fürchtet sich vor einem Selbst der Grandiosität, das das andere Selbst verachtet, beschämt und demütigt. Das schwache, abhängige Kind der Objektbeziehung ist durch die Dominanz des grandiosen Selbst inaktiviert. Der grandiose Akteur kann, sofern die Spaltung hält, sein inneres Erleben immer so gestalten, daß die Überlegenheit gewährleistet ist. Es bestimmt, welche Gefühle in der Objektbeziehung zugelassen werden. Die Beschämung und die Selbsteinschätzung, kurzum das Selbstwertgefühl ist ein struktureller Affekt. Die Bewertung darf nicht vom »äußeren« Objekt her kommen. Diese Art der Strukturierung ist zweifelsohne ein Vorläufer der Ausdifferenzierung zweier innerer Regulierungskontexte, des Bereiches der »Selbstideale« und des »Selbst«, deren zentrale Information der (verinnerlichte) Schamaffekt ist. Die Spaltung in ein infantiles und ein grandioses Selbst ist eine starre Verinnerlichung einer bestimmten Art der affektiven Relation, die mit Beschämung und Abwertung durch das Objekt zu tun hat. Man wird unschwer diese Konstellation, sofern sie sich generalisiert, den narzißtischen Störungen zuordnen (Khan 1969; Kohut 1977; Balzer 1993). Es gibt bestimmt noch weitere Formen von früher Strukturierung, die unter andersartigen Aspekten als typische Prozesse psychischer Störungen beschrieben worden sind. Gemeinsam ist allen die Festigung und Ausdifferenzierung einer Innenwelt, die mit Internalisierung von affektiven Beziehungen »gefüllt« wird. Das bedingt eine Fähigkeit der Annahme gleichzeitiger Innenwelten von Objekten. Die Internalisierung von Beziehungen führt noch zu einer frühzeitigen Abkoppelung innerer von äußeren Prozessen, obwohl – wie schon gesagt wurde – die Notwendigkeit einer funktionalen Beziehung zu einem Objekt bestehen bleibt. Dies führt wiederum unter bestimmten Bedingungen zur Externalisierung, das heißt zur Rekonkretisierung von verinnerlichten Beziehungen.

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■ 8. Kognitive Strukturierung des Affektsystems (3. Stufe): Repräsentationale Theorie Die grundlegenden Charakteristika der kognitiven Strukturierung sind in Abschnitt 5.2 dargelegt worden. Die für die Differenzierung der affektiven Reaktionen wichtigsten seien nochmals angeführt: Es entsteht eine Repräsentanz der Beziehung, die jederzeit ein Beziehungsgefühl wachrufen kann. Die affektive Beziehung hat deshalb Konstanz. Das Beziehungsgefühl muß nicht über konkrete Erlebnisse des Geliebtwerdens und der Selbstbestätigung ausschließlich genährt werden. Es ist ferner eine Theorie entstanden, die Vorstellungen über die Innenwelt einer Person zusammenfaßt. Aus dieser »theory of mind« entstammen Vorstellungen über sich selbst und andere, die gleichzeitig in verschiedenen Kontexten auftreten. Diese »Agenten« genannten Repräsentanzen werden in Mikrowelten eingesetzt und manipuliert. Mikrowelten können in Phantasien und in Objektbeziehungen umgesetzt werden. Die gebildeten Phantasien können im Unterschied zu den Phantasien der konkretistischen Phase affektualistert sein, das heißt unangenehme Affekte binden (Moser u. von Zeppelin 1996) und dadurch eventuelle Lösungen generieren. Ein Beispiel einer solchen Mikrowelt ist der Schlaftraum. Im psychoanalytischen Jargon spricht man von Angstbindung oder von Spannungsabsorption der Phantasie (French 1952). Eine innere Regulierung hat sich ausgebildet mit spezialisierten Kontexten. Ein Modell über diese Kontextbildung liegt bereits in der psychoanalytischen Strukturtheorie vor (Über-Ich, Selbstideal, Regulationen des Es und des Ich usw.). Die kognitive Separierung erlaubt eine Abkoppelung der Innenprozesse von der affektiven Beziehung. Ein besonderer Regulierungskontext der Objektbeziehung taucht auf, der andauernd ad-hoc-Modelle über die beteiligten Selbst- und Objektrepräsentanzen bildet (als inneres Korrelat der Vernetzung der Regulierungen von Subjekt und Objekt in der realen Interaktion). Die Regulierung kann von Objektbeziehung zu Objektbeziehung verschieden sein, je nachdem, welche Attribute der Prozessoren (Agenten, Akteure) eine Rolle spielen. Ein inneres strukturelles affektives System läßt sich von den kommunikativen Affekten der affektiven Beziehung

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zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden. Die verschiedenen Regulierungskontexte sind durch affektive Informationen verknüpft. Ein Schuldgefühl zum Beispiel ist eine (unter Umständen im Selbstbereich erlebte) Information, die von regulierenden, aktiv gewordenen Über-Ich-Regeln ausgeht. Ein Schamgefühl kann entstehen, wenn in einer Eigenbewertung das Verhalten nicht den Selbstidealen entspricht. Innere strukturelle Affekte sind nicht immer dem Erleben zugänglich, so daß zwischen »occurent« (ablaufenden) und »experienced« (erlebten) Affekten unterschieden werden muß.6 Das expressive Affektsystem (Mimik, Gestik) kann weitgehend von den inneren Affekten abgekoppelt werden. Es ist zwar nicht sicher, inwiefern bei inneren Affektabläufen (Schämen, Schuldgefühle, Befürchtungen, Selbstabwertungen) auch Ausdrucksmuster belebt werden, die vom Kommunikationspartner dekodiert werden können. Jedoch ist es fraglich, ob diese Rudimente, falls sie auftreten, eine Intention der Kommunikation beinhalten. Möglicherweise hängt ihr Auftreten auch von der Intensität der affektiven Erregung ab. Die Alltagserfahrung spricht dafür, daß bei großer Erregung innere Affekte schlecht verborgen bleiben können. Diesen Fragen müßte nachgegangen werden (vgl. Bänninger-Huber u. Widmer 1994). Die kognitive Strukturierung bringt ferner (zwischen zwei und fünf Jahren) die Fähigkeit, Veränderungen und Repräsentanzen über die Zeit zu erkennen (state of representational change [RC], Forguson u. Gopnik 1988). Aus diesem ergibt sich einerseits die Fähigkeit zur Antizipation und andererseits die Möglichkeit der nachträglichen Verarbeitung von Erfahrungen ohne direkte, konkret situative Bezogenheit. Die Antizipation führt zu neuen Affekten der Hoffnung und der Befürchtung, die mögliche künftige Ereignisse ankündigen. Diese Affekte spielen in verschiedenen Theorien des Psychotherapieverlaufs eine zentrale Rolle (explizit bei French 1952, 1954; implizit bei Weiss u. Sampson 1986). Die 6 Affektabwehr im engeren Sinn versucht die Umwandlung eines ablaufenden Affekts (»occurent«) in einen erlebten zu verhindern. Die Löschung eines Affekts kann nicht als Affektabwehr bezeichnet werden. Sie ist eine rückmeldende Information, die den Erfolg eines Abwehrmechanismus anzeigt. Dieser ist seiner Struktur nach ein kognitiver Prozeß.

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nachträgliche Verarbeitung affektiver und kognitiver Information aus den Interaktionen (aber auch die der gleichzeitigen während einer Objektbeziehung) erlaubt eine ständige Modifikation von Erfahrungen, die wiederum zu Bereitstellungen für neue Interaktionen führen. Insofern sind die Affektsysteme der strukturellen und jene der affektiven Beziehung auch immer eng verknüpft. Man muß annehmen, daß mit der Zeit ein komplexes Affektsystem entsteht, in welchem einzelne affektive Reaktionen schwer isolierbar zu beschreiben sind. Die kognitive Strukturierung führt auch zu einer neuen Art der Evaluation, die nicht mehr unabdingbar Objekte selbstreferentiell benutzt, um Eigenwirkungen auf dieses sowie Valorisierungen durch dieses (»Geliebtwerden«) zur Bestimmung des Selbstwertgefühls zu beziehen. Die Abkoppelung bringt große adaptive Vorteile, indem sie die de-facto-Autonomie des Subjekts erhöht. Die Relation »Selbst versus den Anderen« ist durch ein inneres Regulierungssystem des Selbstwerts ersetzt worden, das sich auf innere, objektunabhängige Bezugssysteme stützen kann. Zerfällt diese Möglichkeit oder ist sie nie fest etabliert worden, wird die Valorisierung konkretistisch, wie das Odier (1950) und Guex (1950) am Beispiel der Verlassenheitsneurose gezeigt haben. Valorisierung des Subjekts und des Objekts sind dann verknüpft. Hohe Valorisierung des Objekts führt zur Unterbewertung des Selbst. Bei narzißtischen Charakteren läuft die Beziehung genau umgekehrt: Das Objekt wird entwertet und lediglich auf die Funktion der Evaluation des eigenen Selbst valorisiert. Die Selbstregulierung enthält zwei Regulierungskontexte. Der erste enthält als affektive Information Selbstaffekte, die Evaluationen der komplexen inneren Regulierung widerspiegeln. (Die meisten Selbsttheorien bleiben in diesem Bereich deskriptiv und beschreiben Affekte wie Sicherheit, Wohlbefinden, Individualität, Abgegrenztheit, Identität, Kohärenz.) Treten Disruptionen dieser Selbstregulierung auf, so erscheinen negative Affekte: speziell Affekte des Zerfalls, der Destruktion und des Selbstverlustes, der Leere, der Panik und so weiter. Der zweite Kontext der Selbstregulierung enthält Funktionen der Modifikation und der Reparatur des ersten Selbstkontextes sowie weiterer Kontexte (sofern ausgebildet). Die Reflexivität der Selbstaffekte entsteht durch die Interaktion der

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beiden Kontexte. Das ergibt eine innere Struktur der Selbstorganisation (Brocher und Sies 1986; Tschacher 1990; Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Die affektiven Informationen des zweiten Kontextes sind die eigentlichen Selbstwertaffekte.7 Inwieweit die selbstreflexiven Gefühle der Selbstwertregulierung mit der generellen »prise de conscience« von eigenen Fähigkeiten in Zusammenhang stehen, wäre zu prüfen. Ist Bewußtsein Monitorieren jener Prozesse in uns, die wir zur Kenntnis nehmen können und wollen (Edelmann 1992)? Bei der nun folgenden Darstellung des affektiven Systems wird zunächst eine isolierende »lokale« Betrachtung der Affekte sich als notwendig erweisen. Es wird anschließend versucht, an zwei Beispielen, Scham und Neid, teilweise auch Schuld, die Vernetzung im gesamten Affektsystem aufzuweisen. Diese ist, um es vorweg zu nehmen, zweifach. Affekte können erstens direkt weitere Affekte auslösen. Kommunikative Affekte werden von inneren Affekten beantwortet. Man kann sich seines Neids schämen, den Affekt Scham wiederum auch nicht ertragen, weil er ein negatives Selbstwertgefühl auslöst, und darauf mit Haß auf ein (nicht mit dem Neidobjekt identisches) Objekt reagieren, von dem man sich oftmals beschämt gefühlt hat. Zum zweiten löst jeder Affekt, der nicht ertragen wird, entweder innere Abwehren aus oder Veränderungen der affektiven Kommunikation mit Objekten. Hier verläuft die Vernetzung von Affekten intermediär über ein andersartiges »verändertes« Verhalten oder über andersartige innere kognitive Operationen, deren Wirkung auch wieder andere affektive Information erzeugt. Affekte gehören zu einem Informationssystem, das ursprünglich vor der Bildung kognitiver Strukturen ausgebildet wurde und prinzipiell auch ohne diese auskommt. Sie haben auch eine andersartige physiologische hormonale Trägerschaft als die im Neokortex lokalisierten kognitiven Strukturen. Auf der jetzt zu be7 Die Literatur neigt dazu, affektive Information der Selbstorganisation automatisch als Selbstgefühle und Selbstwertgefühle zu bezeichnen. Dies dürfte eine Folge der Annahme sein, daß diese Affekte selbstreflexiv sind, das heißt erlebt werden. Inkonsequenzen der Benennung mit Affekt oder Gefühl werden in der Folge nicht zu vermeiden sein.

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schreibenden Stufe ist eine Kognifizierung der Innenwelt so weit fortgeschritten, daß Affekte und zugehörige kognitive Struktur eng verknüpft sind. Beide bestimmen dann gemeinsam Verhaltensweisen. Unterwürfigkeit kann sowohl als ein Gemisch von Affekten oder als Phantasie definiert werden oder als beides zusammen. In Bezug auf das Erleben von Situationen postulierte Moser (1985) den Affekt als eine Kurzkodierung für die kognitive Struktur dieser Situation. Ein Affekt ist leichter abrufbar (und schneller) als eine komplizierte kognitive Struktur. Der Subjektbereich wird in Regulierungsbereiche und Repräsentanzbereiche (Mikrowelten) gegliedert. In den Repräsentanzbereichen sind Objektbeziehungen ausgebildet. Sie sind kognitive Strukturen, die eine Selbst-, eine Objekt- und eine Interaktionsrepräsentanz sowie eine affektive Repräsentanz in Form eines Beziehungsgefühls enthalten. Regulierungsbereiche und Repräsentanzenbereiche sind durch affektive Information verknüpft. So betrachtet, verlaufen alle Affekte im Bereich eines Subjektsystems (Basch 1983). Eine Objektbeziehung kann als Beziehung zweier Subjektsysteme betrachtet werden, die durch Interaktionen und Informationskanäle verknüpft sind. Kommunikative Affekte (unter der Sammelbezeichnung affektive Beziehung) brauchen als Träger kommunikative Strukturen nichtverbaler und verbaler Art. Jedes Subjektsystem hat an diesen Kanälen mit Enkodier- und Dekodierprozessen Anteil. Abstrakt formuliert sind dies Input- und Outputprozesse, das heißt Evaluationen von Wahrnehmungen und Kommunikationen von Handlungsbereitschaften beziehungsweise -wünschen. Zu Zwecken eines nur therapeutisch verwendbaren Modells wird die Objektbeziehung oft verkürzt zu einer Verbindung zweier »Erlebnisräume«, in denen die beiden Träger jeweils in beiden Trägern abgebildet sind. Die Kommunikation als Prozeßstruktur wird dann nicht mehr in das Modell einbezogen.

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■ 8.1 Die Ausdifferenzierung der affektiven Beziehung Das Beziehungsgefühl ist die affektive Repräsentanz einer Beziehung zu einem Objekt. In der konkretistischen Phase der Entwicklung kann dieses Beziehungsgefühl nur immer über eine Interaktion mit dem entsprechenden Objekt (d. h. durch eine konkrete Beziehung) wieder hergestellt und aufrechterhalten werden. Auf der Stufe der repräsentationalen Welt hingegen ist es die basale, innere, kontinuierliche Basis der Beziehung, die auch in Abwesenheit des Objekts repräsentiert bleibt. Neu ist hingegen die Fähigkeit, das konkrete Involvement in der Objektbeziehung in seiner Intensität zu variieren. (Involvement kommt natürlich nicht der Repräsentanz zu, sondern deren Umsetzung in eine Beziehung.) Aus defensiven Gründen wird ein unangenehmer Affekt nicht zum Verschwinden gebracht, sondern in seiner Intensität vermindert. Dadurch verliert die affektive Rückmeldung an Bedeutsamkeit. Mit dem Verlassen rein dyadischer Beziehungen entsteht ein ganzes Netz von Objektbeziehungen mit ganz unterschiedlicher Intensität des Involvement. Parallel dazu wird auch das ganze Netz an Repräsentanzen differenzierter. In diesem Zusammenhang entsteht auch eine neue Form der Abwehr, die sich auf das emotionale Involvement konzentriert. Das eigentlich gewünschte Involvement wird gedrosselt. Die Aktualisierung eines Wunsches wird dann weniger bedeutsam erlebt. Diese defensive Form des Involvement wurde in einem Abwehrmodell von Moser, von Zeppelin und Schneider (1969) Besetzungsabwehr genannt. Das Beziehungsgefühl hat drei unterschiedliche Aspekte. Welcher dominiert, welcher ganz fehlt, ist das Ergebnis der spezifischen Entwicklung der affektiven Beziehungen eines Individuums. Im normalen Fall wird es eine Gemeinsamkeit der drei Anteile geben, abgestimmt aber auf die Bedürfnisse des Subjekts und die Möglichkeiten der Beantwortung durch das Objekt. Es ist für eine normal funktionierende Beziehung wichtig, daß die drei Aspekte auch zu unterschiedlichen Zeiten in ihren Anteilen ganz anders gewichtet werden. Das ist schon für die gegenseitige Abstimmung zweier Personen notwendig. jeder dieser Aspekte, in der Folge

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Relation genannt, ist mit besonderen Affekten verbunden. Es sind dies a) die funktionale Relation (narzißtische) b) die resonante Relation (symbiotische) c) die responsive Relation (objektale). Die drei Bezeichnungen sind psychologisch eindeutig und stringent. Sie können auf Aspekte der Repräsentanz »Beziehungsgefühl« wie auch auf deren Aktualisierungen in einer Beziehung angewendet werden, um deren Eigenheiten zu beschreiben. In Klammern sind jene Bezeichnungen hinzugefügt, die, wenn auch mehrdeutig und an pathologische Syndrome angelehnt, sich eher durchsetzen werden, da sie der heutigen psychoanalytischen Begrifflichkeit naheliegen. Die Bezeichnung »funktional« stammt von Thähkä (1993), sie ist von ihm ausführlich untersucht worden. Für das Verständnis von Störungen ist der völlige Ausfall einer dieser Komponenten der Relation bedeutsam. Angst vor symbiotischer Verschmelzung zum Beispiel erzeugt den Ausfall der Resonanz und der auf ihr basierenden Empathie oder des gemeinsamen Erlebens von Affekten (»sharing of affects«). Den drei Aspekten der Objektbeziehung können auch besondere Formen von kognitiven Modellen des Objekts und der Beziehung zu ihm zugeordnet werden. Bei den Affekten der drei Relationen muß ferner unterschieden werden, ob Affekte gemeint sind, die den gewünschten Zustand als erfüllt signalisieren, oder ob jene Affekte beschrieben werden, die bei Nichterfüllung dieser Bedingungen als Indikatoren von Störung in der Objektbeziehung auftauchen. Narzißtische Wut zum Beispiel ist ein Affekt, der durch eine Enttäuschung am Objekt ausgelöst wird, das die Bedingungen eines funktionalen Objekts nicht erfüllt. ■ a) Affekte der funktionalen (narzißtischen) affektiven Beziehung Ein Objekt ist »funktional«, wenn es in der affektiven Beziehung nur über jene Attribute erlebt wird, die das Subjekt von ihm für die Stützung des Selbstgefühls und für die Erfüllung der ge-

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wünschten Autonomie als notwendig präsent erachtet. Pathologisch und im eigentlichen Sinne narzißtisch, wie das Kohut (1971) definiert hat, ist eine funktionale Relation nur dann, wenn diese »Stützung« durch ein »Hilfsobjekt« für die Selbstregulierung des Subjekts unabdingbar notwendig ist. Diese Art »narzißtischer« Objektbeziehung ist typisch für die konkretistische Stufe der Affektentwicklung sowie für die frühen Formen der Kognifizierung. Die funktionale Relation (im Sinne von Thähkä 1993) ist jedoch eine normale Form narzißtischer Beziehung. Sie enthält auch die Fähigkeit, von einem Objekt Hilfe anzunehmen, ohne in eine parasitäre Haltung zu verfallen. Der Stand der kognitiv-affektiven Eigenregulierung des Subjekts entscheidet über die Normalität der funktionalen Relation. Die narzißtischen Affekte sind wiederum andere, wenn sich das Subjekt als Objekt narzißtischer Art einem Objekt anbietet oder die Wahl durch dieses Objekt annimmt, oder wenn das Subjekt aktiv ein funktionales Objekt wählt respektive es gemäß den gewünschten Attributen zum Beziehungsobjekt macht. ■ b) Die Affekte der resonanten (symbiotischen) affektiven Beziehung Das gemeinsame Erleben von Gefühlen, verknüpft mit jenem von gemeinsamen Phantasien ist die Basis für empathische Erlebnisse. »Sharing the current affective state of the other person’s self is essential in empathy.« Hier wird sehr schön die Verknüpfung mit der kognitiven Strukturierung von Objekt und Subjekt gezeigt. »Empathy is possible only, when there exists a differentiated self of the object for informative identifications« (Thähkä 1993, S. 197). Die Resonanz ermöglicht Verständnis und führt zu parallelen Verhaltensweisen, die als positiver Zustand der »togetherness«, der Gemeinsamkeit und der Intimität empfunden werden. Ist das begleitende kognitive Modell der Beziehung so ausdifferenziert, daß die Verschiedenheiten der Beteiligten deutlich sind und ertragen werden (was der individuellen Relation entspricht), dann ist die symbiotische Relation ein positives Erlebnis. Wird die Resonanz zur einseitigen oder ausschließlichen Relation, dann ist die Frage, ob der Andere dies erträgt oder aber vor diesen Wünschen flüchtet. Es kann auch sein, daß das Subjekt die eigenen resonanten Wünsche als Gefahr empfindet. Die Unfähigkeit, sich gegen die

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Affektinduktion des Anderen zu schützen, kann als Bedrohung der eigenen gewünschten Autonomie erlebt werden. Auf der Ebene des konkretistischen Denkens werden eigene symbiotische Wünsche deshalb abgewehrt, weil sie die Möglichkeit der Abgrenzung und der Separiertheit bedrohen. Eine Form dieser Abwehr wurde bereits umschrieben: die Affektinduktion mit Abschottung, die defensive Affektinduktion. Das Objekt wird dabei zum Container eines unerwünschten oder eines gleichzeitig erwünschten und nicht ertragbaren Affekts. Resonanz in der repräsentativen Welt ist hingegen wunschbasiert, durch das Subjekt induziert und kontrolliert. Die Beziehung konflikualisiert nach längerer Stabilität sehr rasch, weil sie keine Veränderungen sowohl des Objekts wie seiner selbst zuläßt. Im normalen Fall hat die resonante Komponente die Funktionen der Aufrechterhaltung der Beständigkeit und Harmonie in der Beziehung. Die responsive, objektale Komponente hingegen ist Garant der Veränderung und des Austauschs. ■ c) Die Affekte der responsiven (objektalen) affektiven Beziehung In der narzißtischen Relation ist das Objekt noch nicht eine individuelle Person, sondern eine Gruppe von Funktionen, die wirklichen Attributen des Objekts entsprechen können oder dem Objekt zugesprochen werden. In der resonanten Relation wird ein Teil der Welten von Subjekt und Objekt, die affektiv zusammenfallen, gemeinsam erlebt. Das umfaßt aber nur selten alle Attribute des Objekts. Eine responsive Relation umfaßt ein Affektsystem der Kommunikation zwischen »individuellen« Personen, das verknüpft mit einem Modell der Selbstobjekt-Interaktion einhergeht. Es enthält die Fähigkeit, affektive Signale des Objekts, die seine Wünsche, Absichten, die Inhalte seiner inneren Welt ausdrücken, wahrzunehmen und zu dekodieren. je mehr das Objekt in seiner Individualität erkannt wird (»individual object«, Thähkä 1993), um so besser kann das Subjekt reagieren. Die andere Hälfte der Responsivität umfaßt die eigene Kommunikation derselben Inhalte. Dazu gehört eine gute Fähigkeit der Enkodierung affektiver Signale. Im Enkodieren wie auch im Dekodieren können Lücken in Bezug auf spezifische Affekte (z. B. Ärger,

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Wut) bestehen, seien dies Folgen von Defiziten oder von Abwehrprozessen. Krause (1988) hat dies an verschiedenen Neurosenformen zu zeigen versucht. Eine responsive affektive Beziehung enthält alle Affekte, die im Laufe der Entwicklung ausgebildet worden sind. Sie sind jetzt mit den Repräsentanzen des Selbst und des Objekts verknüpft. Die Responsivität ist nicht etwa die jüngste Errungenschaft der Affektentwicklung, sie ist von Anfang an zur Regulierung der Interaktion dagewesen. Neu ist die Koppelung des Affektsystems mit den kognitiven Systemen der Repräsentation. Das Konzept der »complementary response«, das in Schattierungen besonders in der Literatur zur Übertragung aufgetaucht ist (»complementary attitude«, Deutsch 1926; »complementary identification«, Racker 1968; »role responsiveness«, Sandler 1976), ist eine eigentlich nicht zutreffende Bezeichnung für responsives Verhalten (vgl. die Kritik von Thähkä 1993). Die affektiven Signale des Objekts (die objektbedürftigen und die objektsuchenden oder die objektablehnenden) werden differenziert und nicht komplementär beantwortet. »Individual object« nennt Thähkä das Objekt einer responsiven Beziehung. Das ist insofern richtig, als im zugehörigen kognitiven Modell alle Attribute und vor allem die individualisierten Attribute des Objekts eingebaut sind. Die Beziehung zu diesem Objekt kann damit auch differenzierter die Eigenarten und Wünsche des Objekts berücksichtigen. Nur dann ist die affektive Beziehung objektal. Die beiden Systeme Selbst und Objekt werden vernetzt. (Konnexionistische affektive Relation, Moser u. von Zeppelin 1996.) In vielen Fällen finden sich Pseudoobjektualisierungen, in denen zwar das Objekt objektal behandelt wird, die responsive Beziehung aber nur mehr ein geringes bis kein emotionales Involvement mehr besitzt (aus Angst vor der eigenen Affektivität oder vor jener des Objekts). Ein Zustand responsiver Vernetzung kann als Zustand zu einem Wohlbefinden führen, das Meltzer (1984) »prise de connaissance« genannt hat. Kenntnis und die Möglichkeit, auf sie zu reagieren führt zu einer kognitiv-affektiven Form der Sicherheit, zu einer »Wir-Autonomie«. Die Problematik der responsiven affektiven Beziehung ist von einem anderen Aspekt aus durch Green (1990) beschrieben worden. Das Objekt ist als individuelles andersartig.

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Es sind Unterschiede zum Selbst da, die man nicht beeinflussen kann. Das Objekt leistet Umformungs- und Angleichungsversuchen unter Umständen Widerstand. Sind symbiotische Bedürfnisse nach Gleichheit da, kann dieser Widerstand Haß hervorrufen. Wird das Objekt hingegen angenommen, kann das Ich sich als Quelle der Lust des Objekts, von dem es selber welche empfängt, erkennen. Die drei Komponenten der affektiven Beziehung lassen sich besser verstehen, wenn man unter diesem Aspekt die Reaktion auf einen Objektverlust anschaut. In der funktionalen Beziehung wird der Verlust eines Teilselbst erlebt. Die Folgen davon sind narzißtische Symptome im Bereich des Selbst: Selbstunwertgefühle, Entwertungen des Objekts und narzißtische Wut auf das Objekt. In der resonanten symbiotischen Beziehung ist die Gemeinsamkeit zerstört: Das Verschwinden des Objektes führt zum Verschwinden des Selbst und des Beziehungsgefühls. In letzter Konsequenz führt das zur Suizidalität, mindestens aber zu allen Formen der Selbstaufgabe in einem chronifizierenden Zustand der Verlassenheit. Die Reaktion auf die responsive Beziehung ist die Trauer (nicht die Depression). Aus der »remembrance of the object« (Thähkä 1993), aus der Erinnerung wird es möglich, ein neues Objekt mit neuen Attributen zu suchen.

■ 8.2 Die strukturellen Affekte Die kognitive Strukturierung hat verschiedene Regulierungskontexte geschaffen, die kognitive und affektive Information austauschen. Typische Affekte dieser Art sind Schuld und Scham, Hoffnung und antizipierende Angst. Der Zustand des regulierenden Systems wird von affektiven Größen gelenkt. Das Ergebnis der Regulierung sind die Selbstgefühle. Die sogenannten affektiven Signale gehören direkt zu den Regulierungsprozessen. Die Mikrowelten, die aus der repräsentationalen Welt ständig geschaffen werden, enthalten ebenfalls Affekte. Es sind aber die gleichen, die auch in den Objektbeziehungen (einschließlich der Beziehung zu sich selbst) auftreten. Die Simulation arbeitet mit affektiv-kognitiven Einheiten, wie sie auch in der Lenkung des Verhaltens in der

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Objektbeziehung vorkommen. Natürlich sind in der repräsentationalen Welt (als Wissensbasis der Erfahrung definiert) auch Affekte abgebildet. Das Beziehungsgefühl zum Beispiel ist eine solche affektive Information. Im Rahmen dieser Arbeit wird auf die Darstellung eines affektiven Gedächtnisses verzichtet, vor allem deshalb, weil dies vernünftigerweise nur im Rahmen einer umfassenden Theorie der mentalen Welt geschehen könnte. Wir beginnen mit der Untersuchung der beiden strukturellen Affekte Schuld und Scham, um an ihnen die essentiellen Charakteristika der affektiven Information der Innenwelt aufzuzeigen. Schuld ist eine affektive Information, die zwischen Regulierungskontexten abläuft. Das folgende Beispiel beschränkt sich auf jenen Typus von Schuldaffekt, der mit dem Versuch von Wunschaktualisierung verbunden ist.8 Ein Wunsch ist eine kognitiv-affektive Konstellation, die nach Realisierung (Aktualisierung) in einer Objektbeziehung drängt. Es gibt einen Kontext von Übe-Ich-Regeln, die prüfen, ob und inwiefern Anteile des Wunsches in Widerspruch zu Regeln stehen. Bei Widerspruch geht eine affektive Information an jene Strategien, die den inneren Konflikt durch eine Umwandlung des Wunsches zu lösen versuchen (primärer Schuldaffekt). Diese Strategien bilden den Kontext der Abwehrmechanismen. Kann der Wunsch nicht entsprechend umgewandelt werden, kommt es trotzdem zur Aktualisierung, entsteht ein nachträglicher Schuldaffekt (sekundärer Schuldaffekt). Der Schuldaffekt wird mit der Wunschstruktur vernetzt und immer gleichzeitig mit diesem Wunsch respektive mit bestimmten Formen dieses Wunsches aktiviert. Schuld wird zum Signal, das eine Konfliktaktivierung meldet. Die Abwehr gilt dann dem inneren Konflikt als Ganzes, der weder durch innere Wunschvorstellungen noch durch äußere Verführungen reaktiviert werden darf (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Diese Annahmen gehen auf das Konzept der Reaktivierungsabwehr von French (1958) zurück. In dieser Theorie gilt die Abwehr 8 Die Überlebensschuld (Weiss und Sampson, 1986) umschreibt eine andere Form von Schuldaffekt. An dessen Funktion ändert sich dadurch nichts. Ähnliches gilt für den Schamaffekt. Er muß nicht an einen Wunsch gebunden, sondern kann auch an generalisierte, im Selbstideal gespeicherte Beziehungsregeln geknüpft sein.

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der Vermeidung der Auslösung eine Wiederholung einer Konfliktsituation, die mit negativen Affekten verknüpft war und nicht direkt dem Wunsch, der konfliktive Wirkung hat und ein Bestandteil des Konflikts geworden ist. Scham in der Gestalt eines strukturellen Affekts ist eine Information der Selbstbewertung, die ebenfalls einem inneren Referenzsystem entstammt. Letzteres besteht aus den Selbstidealen. Hier wird man weniger von Regeln, sondern eher von »Vorbildern« sprechen, die mit dem aktuellen oder mit phantasiertem Verhalten, sei es in der Objektbeziehung, sei es in einer inneren Beziehung zu sich selbst, verglichen werden. Bei Differenzen entsteht ein Schamaffekt, der wiederum Transformationen auslösen kann. Bei Erfüllung hingegen entsteht eine positive Information im Sinne der Selbstwertschätzung. Scham und Schuld sind Affekte, die zum Bereich der Selbstwertregelung gehören. In beiden Fällen ist typisch, daß diese Affekte auch als vom Objektbereich herkommend dekodiert werden können, dies als Beschuldigung oder Beschämung. Dies wird in jedem Fall geschehen, wenn die Regulierung der Objektbeziehung auf der Stufe der Situationstheorie und des konkretistischen Denkens verläuft, denn dort ist die Mitwirkung des Objekts bei der Selbstregulierung unabdingbar. Das Objekt wird in diesen Fällen selbstreferentiell zur Evaluation benutzt. Führen Schuld und Schamaffekte zu einer Störung, ja Disruption der Selbststabilisierung (Beeinträchtigung von Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Kompetenzgefühl), kann es zu regressiven Praktiken der Selbststabilisierung kommen, die der konkretistischen Stufe angehören. Absurde Selbsterniedrigungen und Selbstbestrafungen können dann in der Objektbeziehung inszeniert werden. Im anderen Fall werden durch Umwandlung von Phantasmen affektive Informationen, die in der Innenwelt ablaufen, externalisiert und in die Außenwelt verlegt. Das hat den Vorteil, daß durch Vermeidung oder Destruktion des Objekts der innere Konflikt nicht mehr erlebt wird. Scham gehört ferner zu den primären kommunikativen Affekten, die in der ungestörten Kommunikation verwendet werden (siehe Abschnitt 2). Man muß somit unterscheiden:

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1. Scham als kommunikativer Affekt 2. Scham aus indirekter Selbstevaluation vom Objekt herkommend 3. Scham als struktureller Affekt 4. externalisierter Schamaffekt. Bei den Schuldaffekten reichen die Kenntnisse nicht aus, um eine parallele Gliederung zu machen. Gibt es Schuld als primär kommunikativen Affekt? Die Stufen zwei, drei und vier lassen sich in bezug auf den Schuldaffekt in analoger Weise verifizieren. Die lokalisierte Betrachtung der strukturellen Affekte Scham und Schuld ist wenig befriedigend, wenn deren Vernetzung im gesamten affektiven System nicht mitberücksichtigt wird. Beide sind Affekte der Selbstorganisation, die das Funktionieren und das Interagieren der Kontexte dieser Organisation indizieren. Es sind zumeist Zustandsgefühle9, die im allgemeinen nur dann erlebt werden, wenn sie sich verändern, im positiven wie im negativen Sinne, oder wenn sie, falls dies möglich ist, bewußt fokussiert und reflektiert werden. Beispiele von Selbstgefühlen finden sich im Abschnitt 8, der sich mit der Selbstorganisation befaßt. Narzißtische Gefühle sind jene, die im Fall einer Disruption der Selbstregulierung entstehen und regressive Prozesse auf die konkretistische und/oder frühere Stufen der Affektentwicklung auslösen. Zu den strukturellen Affekten gehören auch die Affektsignal-Systeme, die im Umgang mit inneren (intrapsychischen) Konflikten entstanden sind. Die Angstsignaltheorie von Freud (1926d) kann als Paradigma dienen. Mit den Regulierungskontexten der Selbstorganisation stehen sie nur insofern in Verbindung, als letztere prüfen, ob die Geschehnisse der Konfliktbewältigung jeweils den Zustand der Selbstorganisation tangieren und dort Störungen auszulösen vermögen. Affektsignale sind – um eine Unterscheidung der Affektpsychologie anzuwenden – »trigger«-Affekte, das heißt sie lösen als zunächst kurzfristig präsente Information Prozesse aus, sei es ein Verhalten, sei es eine Bereitschaft dazu, sei es ein innerer operativer Ablauf einer kognitiven Struktur (z. B. eine Transformation, eine 9 In der Folge wird die gebräuchlichere Formulierung »Gefühl« verwendet.

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Abwehr). Genau diese Funktion haben natürlich alle kommunikativen Affekte jener Systeme, die vor der Kognifizierung bereits vorlagen. Der Einfluß der Kognifizierung ist wohl darin zu sehen, daß anstelle einer direkten Verknüpfung dekodierter Handlungsaffektbereitschaft sowie der Enkodierung einer affektiven Antwort der Affekt zusätzlich eine komplexere Evaluation auslöst, die sich im Inneren des Organismus fortsetzt. Diese Evaluation umfaßt die Aktivierung und Tätigkeit besonderer Regulierungskontexte, wie etwa des Über-Ich oder der Selbstideale unter Verwertung alter Erfahrungen. Unter Umständen wird auch die Selbstorganisation betroffen, sofern nicht dezentralisierte Regulierungen diese Arbeit zur Zufriedenheit leisten. Es bilden sich eigentliche Signalsysteme aus, die »defensiv« zu nennende Prozesse auslösen. Diese führen entweder zu direkten Manipulationen der Objektbeziehung oder zu inneren Transformationen von Wünschen, wenn ein verinnerlichter Konflikt reaktiviert worden ist oder eine Repetition traumatischer Erfahrungen droht. Auch bei Freud findet sich die Auffassung, daß dieses Angstsignal eine »äußere« Gefahr oder eine innere als Resultat eines inneren Konflikts indizieren kann. Es wurde auch versucht, neben der Angst weitere Affekte zu Signaltheorien zu verwenden (Haß, Scham, Schuld, aber auch Depression sind genannt worden; Bibring 1953; Moser 1978; Kernberg 1992). Haß als aggressives Signal hat große Chancen, in die Theorien Eingang zu finden, weil auch, ähnlich wie zur Angst, ein Vermeidungs-/Fluchtsystem und ein Angriffssystem zum Haß als Affekt gehört. Affektsignale können als Auslöser Bestandteile von Abwehrprozessen werden. Man kann diese als Untersysteme betrachten, die der Lösung intrapsychischer Konflikte respektive der Vermeidung und Abwehr dienen. Bei gutem Funktionieren stützen sie die Selbstorganisation. Man kann sie in klassischer Manier einteilen in: 1. Vermeidung der Reaktivierung eines inneren Konflikts 2. Herabsetzung des emotionalen Involvement 3. Wechsel des Typus der affektiven Beziehung (z. B. von objektal auf narzißtisch) 4. Löschung des Affektsignals durch innere Transformationen eines konfliktauslösenden Wunsches.

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Eine Beschreibung dieser grundlegenden Abwehrprozesse ist im Rahmen dieser Arbeit nicht geplant. Wenn diese Abwehren nicht gelingen und andererseits die Selbststabilisation sehr brüchig ist und leicht gestört werden kann, reguliert die Selbstorganisation. Eine Folge davon ist, daß die Affekte zwar ihre Signalfunktion nicht verlieren, aber zu offenen Affektzuständen werden oder direkte Affektabwehren bewirken (siehe Abschnitt 3).

■ 8.3 Ein Beispiel: Neid Neid ist vor allem im Bereich der Kleinschen Schule zu einem zentralen Thema geworden (Klein 1957; Segal 1964; Joffe 1969; Joseph 1986; Etchegoyen et al. 1987; Bott-Spillius 1993; Sandell 1993). In der Emotionspsychologie hingegen wird Neid kaum als Phänomen aufgelistet, zu den Grundaffekten gehört er nicht. Einzig de Rivera (1977) beschäftigt sich mit der Bewunderung (admiration) und teilweise auch mit seinem Gegenpart, dem Neid. Nach seiner Theorie wäre Neid wie Bewunderung der emotionalen Dimension der Rekognition (»recognition«) zuzuordnen. Gemeinsam ist wohl beiden Ansätzen, daß Neid als sozialer Affekt gesehen wird, der einen Vergleich von Subjekt und Objekt impliziert. Neid ist selbstreferentiell, das Objekt ist Vergleichsobjekt. Bei der Bewunderung gelingt es, das Objekt so zu erleben, daß identifikatorisch mit ihm gelebt werden kann, das eigene SelbstIdeal ist in ihm verwirklicht. Das geht, wenn die Möglichkeit der Teilhabe (wenigstens in der Phantasie) besteht. Beim Neid gelingt das nicht. »Envy aims as being good as the object, but, when this is felt so impossible, it aims at spoiling the goodness of the object to remove the source of envious feelings« (Segal 1964, S. 40). Eine wesentliche Komponente ist deshalb die Nichterreichbarkeit dessen, was man vom anderen begehrt, um sich gleichwertig zu fühlen. Bott Spillius (1993) sieht den Neid im Rahmen einer Geber-Empfänger (»giver-receiver«)-Beziehung. Es wird ein Objekt um eine Eigenschaft beneidet, das dieser hat, aber für das Subjekt unerreichbar erscheint. Das Attribut ist isoliert, es ist etwas, das im Besitz von jemandem ist, es ist in der Formulierung von Sandell (1993) ein »trait-object«. Der Grundzug des

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Neids ist die Formel, daß etwas (das Objekt des Neids) vom Träger oder Besitzer an das Subjekt übergehen sollte. Geschieht dies nicht, so erfährt das Subjekt eine Devalorisierung. Auch der »Geberneid« (»Ich habe nichts zu geben, der andere schon«) macht keine Ausnahme, Neidobjekt ist dann die Fähigkeit, etwas geben zu können. Neid ist ein narzißtischer Affekt (Etchegoyen et al. 1987) und gehört somit zur funktionalen affektiven Beziehung. Das Objekt wird als Geber funktionalisiert, als Träger des Attributs oder Objekts, das so wertvoll ist, daß man es besitzen möchte, aber nicht kann. Neid ist somit eng verknüpft mit der kognitiven Funktion »Trans« (vgl. Schank 1972). Es wird eine Verschiebung der Valorisierung vom Objekt auf das Subjekt gewünscht. Der auf die bisher beschriebene Weise dargestellte Affekt Neid ist ein Affektsignal, das zwar aus der Objektbeziehung stammt, nicht kommunikativ ist, aber das Objekt und was von ihm wahrgenommen wird, selbstreferentiell benutzt. Es vernetzt sich in unterschiedlicher Weise mit anderen strukturellen Affekten. In der klassischen Auffassung von Neid (Klein 1957) löst dieser als Folge ein Haßsignal aus, das aggressives Verhalten gegenüber dem beneideten Objekt auslöst. Das wiederum muß bekämpft werden, weil die Haßbereitschaft zum Schuldaffekt führt. Nach Bott-Spillius (1993) ist darum Neid und Schuld als Affektsignal gekoppelt, wobei in diesen Beschreibungen sichtbar wird, daß zwischen Affekt und zugeordneter Verhaltensbereitschaft oder Einstellung nicht deutlich getrennt wird. Die Autorin definiert eine andere Art von Neid: »impertinent envy«. Die Verantwortung für den Neid wird nicht übernommen, Schuldgefühle sind beim Subjekt nicht zu sehen. Für den Träger dieser Art von offenem Neid ist der Beneidete selber Schuld an seinem Unglück, verachtet zu werden. Der Besitz ist ungerechtfertigt schief verteilt. Das kann zu einem chronischen Zug einer antisozialen Persönlichkeit werden (Kernberg 1984, 1992). Ein Neidaffekt kann auch einen Schamaffekt auslösen, der seinerseits wiederum Prozesse bewirkt, die zum Ziel haben, den Neid zum Verschwinden zu bringen. Scham kann zum Beispiel eine Abwehr auslösen, die eine dem beneideten Objekt geltende positive Zuwendung generiert. Die affektive Beziehung wird dann durch Bewunderung gekennzeichnet sein. Bewunderung als Abwehr von

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Neid haben Klein (1957), Joffe (1969) und Joseph (1986) beschrieben. Ehrgeiz ist ferner ein Mittel, durch Erreichen eines eigenen Erfolgs, das als Attribut oder als Besitz oder als Besitz eines Objekts dokumentiert wird, im Anderen Neid und Bewunderung auszulösen. Das Gefühl, in der Beziehung zum beneideten Objekt so benachteiligt und dadurch so gedemütigt zu sein, kann zu einem Zustandsaffekt negativer Art (als Beziehungsaffekt) führen. Nach unserer Hypothese wirkt sich die Übernahme dieses Zustandsaffekts auf die Zustandsgefühle des Selbst besonders negativ aus, wenn die Selbstbewertung generell schlecht ist, und umgekehrt wirkt sich eine solche bereits vorliegende Devalorisierung seiner selbst auf die Wahrscheinlichkeit aus, mit Neid in der affektiven Beziehung zu reagieren. Ist die Abhängigkeit von diesem Objekt so groß, daß es dringend gebraucht wird und konkret für die Selbstregulierung notwendig ist, kann Neid nicht nur heftig, sondern auch unlösbar werden. Die resultierenden depressiven Stimmungen der Hoffnungslosigkeit und der Wertlosigkeit sind bereits Zeichen eines Erlebens von Neid auf der konkretistischen Ebene der Affektivität. Der Neid ist aber kein typischer Affekt dieser Entwicklungsstufe. Beim eben skizzierten Regressionsphänomen zerfällt Neid und geht in seine begleitenden Affekte über. Auf spezifisch regressive, neurotische Neidphantasien wird an dieser Stelle nicht eingegangen (vgl. dazu die ausführliche Darstellung der Uterusneidproblematik und deren Abwehren in Barth 1990).

■ 9. Anwendung auf Psychopathologie, Psychoanalyse und Psychotherapie Das Affektsystem ist in den vorangegangenen Abschnitten in seiner normalen Entwicklung geschildert worden. Eine Erfahrung der Autoren ist die Tatsache, daß es oft schwierig ist, die »normale« Version eines emotionalen Prozesses darzustellen. Es scheint viel einfacher zu sein, Affekte im Kontext einer Störung zu beschreiben. Es werden darum einige Vorschläge gemacht, wie psychische

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Störungen, die aus der Psychotherapie bekannt sind, aus diesem Entwicklungsmodell abgeleitet werden können. Eine systematische Darstellung ist einer weiteren Arbeit vorbehalten. Die ersten Stufen einer direkten affektiven Kommunikation (ohne kognitive Strukturierung der Affekte) bilden eine Form basaler Sicherheit für das Subjekt, ohne die das Kleinkind schwer mit der Pflegeperson kommunizieren kann. Eine ungestörte Enkodierung und Dekodierung von Affekten bleibt auch bei Erwachsenen wichtig. Das Sicherheitsgefühl im Umgang mit Objekten (eine Art inneres Sicherheitsgefühl) ist zentral für die Selbstentwicklung in den beiden Formen des »Selbst versus den Anderen« und »Selbst mit dem Anderen«. Krause (1988, 1990) spricht von Störungen der frühen Affektmatrix, die einen besonderen Affekt (z. B. Wut) oder das ganze affektive Kommunikationssystem betreffen können. Er weist einerseits auf mögliche Ursachen hin und umreißt mögliche Folgen. Die Fähigkeit, Affekte zu enkodieren, ist reduziert mit dem Ergebnis, daß diese Menschen schwer verstanden werden. Sie wirken unecht und hölzern. Die differenzierten Primäraffekte sind durch simulierte Gefühle ersetzt worden. Die Unechtheit dieser Affekte wird in der Gegenübertragung erlebt und als »Syndrom des falschen Selbst« interpretiert. Andererseits kann es Dekodierungsunfähigkeiten geben, das heißt die Gefühle sind beim Partner nicht direkt ablesbar. Es sind im Lauf der Entwicklungen Kompensationen möglich. Die kognitive Erkennung von Affekten tritt anstelle der direkten Kommunikation. Es wird erlernt, was für ein Affekt eine kognitiv erkennbar Situation üblicherweise enthält. In vielen Fällen wird die Verbalisierung zur einzigen Trägerin der Kommunikation. Krause (1990, 1993) beschreibt im weiteren, welcher Zusammenhang zwischen Ausfall eines bestimmten Affekts und neurotischer Symptomatik bestehen könnte (z. B. Ekel und Perversion). Es gibt hingegen keine Kenntnisse darüber, wie Ausfälle einzelner Affekte mit der gesamthaften Entwicklung des Affektsystems in Zusammenhang stehen. Nach Modell (1985) löst eine mangelnde primäre Sicherheit eine »verfrühte« Entwicklung aus, die zu späteren Phantasien von Omnipotenz und Grandiosität führt und als Illusion der Selbstgenügsamkeit zu einem psychotherapeutischen Problem wird (Angst, sich dem Analytiker und dem analytischen

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Prozeß anzuvertrauen). Die primäre Sicherheit ist durch das gute Funktionieren der resonanten und responsiven Kommunikation beim Kind gewährleistet, inklusive der sozialen Referenz, wie Modell (1985) betont. Eine weitere Folge ist die Erzeugung eines Zustands der emotionalen Beziehungslosigkeit. Es muß also ein Verhältnis der Rückkoppelung von direkter affektiver Sicherheit zu emotionalem Involvement in einer Beziehung ergeben. Zustände geringer Sicherheit führen zu einer Erniedrigung; das niedrige emotionale Involvement andererseits begrenzt die Fähigkeit, Unsicherheit in einer konkreten Situation zu ertragen. Ein affektives Angebot ist schwer zu bewältigen und erzeugt ablehnende Affekte und defensive Aggression. Es ist zu vermuten, daß auf der Ebene der allerersten kognitiven Strukturierungen ein mangelndes Sicherheitsgefühl zu übermäßigen Kontrollstrukturen führt, die die Abhängigkeit vom Objekt und von der eigenen Unsicherheit kompensieren sollen. Mit anderen Worten: Es bilden sich Syndrome aus, die bereits beschrieben worden sind: narzißtische Grandiosität auf der Basis einer Spaltung des Selbst, andererseits das Abhängigkeits- und Verlassenheitssyndrom (Odier 1947; Guex 1950). Dominiert in ersterer Form das Autonomiegefühl in Form einer illusionären Unabhängigkeit vom Objekt, führt das letztere zu einer starken Abhängigkeit von einem als Sicherheitsgarant auserlesenen Objekt. In beiden Fällen stagniert die Entwicklung zu einem invarianten Beziehungsgefühl. Es müßte dann genauer untersucht werden, was die Folgen für die Phase des Aufbaus des strukturellen Affektsystems sein werden. Vermutlich fehlt die innere Regulierung des Selbstwertgefühls als alleinige Stütze des Selbstvertrauens und der anderen Selbstgefühle. Anstelle der normalen Komponenten des Beziehungsgefühls (funktionale, narzißtische, objektale und symbiotische) treten die konkretistischen Phantasien. Irritationen und Ärger – sofern sie nicht ausgelöscht sind – entwickeln sich nicht als Signal an das Objekt, einen gewünschten Befriedigungszustand zu restaurieren oder einen Zustand des Alleinseins zu respektieren. Sie werden in Form von Wut zu Reaktionen, die eine Verletzung des gewünschten Zustands der Autonomie an das Objekt indizieren und aggressive Verhaltensweisen in der Objektbeziehung auslösen (vgl. auch Kernberg 1992). In diesem Beispiel einer Defizit

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aufweisenden Progression wird affektive Unsicherheit ersetzt durch die Möglichkeiten der frühen Kognition, die Phantasien bildet und die affektive Kommunikation teilweise oder umfassend durch kognitive Evaluation der Beziehung ersetzt, um so die verloren gegangene Unsicherheit wiederzugewinnen. Steiner, um ein zweites Beispiel zu nehmen, hat unlängst versucht (1993), mit dem Konzept des »psychic retreat« unter Benutzung eines Modells der Kleinschen Schule einen einheitlichen Nenner für eine Reihe von Störungen zu finden, die von der Psychose und den Borderline-Störungen sowie den Perversionen bis zu Neurosen mit ausgesprochenen Kommunikationsstörungen gehen. »Psychic retreats are states of mind into which patients can withdraw to evade anxiety and mental pain. When this happens patients become restricted in their lives and stuck in their treatment.« Die Objektbeziehung wird defensiv. Steiner sieht die Sicherung des Rückzugs im Aufbau von narzißtischen Organisationen innerer Beziehungen, in der Bildung eines inneren Systems, in dem vor allem Selbstanteile in die Objekte und Objektanteile auf das agierende Selbst verlegt worden sind. Die Interaktionen werden deshalb irreal und »pervers«, jedenfalls beengend und destruktiv für das Subjekt. Diese Welt kann unter starker Reduktion der affektiven Kommunikation in der Phantasie bleiben. In vielen Fällen wird sie auf eine de facto soziale Organisation projiziert, die dann Träger der eigenen Selbstanteile, insbesondere der destruktiven, wird (mafiaähnliche Organisation mit schwer aufhebbarer Mitgliedschaft). Diese Rückzugsorte werden oft mit räumlichen Metaphern oder eben Organisationen bezeichnet, die beide Träger des Schutzes sind. Manchmal gelingt es dennoch, positiv erlebte, aber letztlich illusionäre harmonisierte Beziehungen einzugehen. Das kann zum Beispiel nach Steiner auch in der therapeutischen Beziehung geschehen, wenn über eine ausschließliche Technik der ÜbertragungGegenübertragungsdeutungen ein »enclaving« (O’Shaughnessy 1992) geschieht, was die Therapie selbst zum Ort des Rückzugs macht. Zweifelsohne wird in diesem Konzept zuviel gebündelt. In den zentralen Fällen nicht klassischer neurotischer Störungen sind Gemeinsamkeiten da. Rückzug meint den Aufbau einer Sicherheitszone, die in eine konkretistische Welt führt und deren Affektsystem wiederbelebt. Einmal bilden sich Symptome der Kömmunikations-

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störung, die mit einer Einschränkung des emotionalen Involvement einhergehen. Es bilden sich Syndrome der aktiven Nicht-Kommunikation (»active non communication«, Modell 1980; Winnicott 1963), des »disaffected patient« (McDougall 1984) oder der »Alsob«-Persönlichkeit (Deutsch 1926), die allerdings auch in einem vollausgebildeten Affektsystem bei Neurosen auftreten können. Diese Kommunikationsstörungen sind automatische Folgen von Rückzugspraktiken. Die affektive Beziehung wird defensiv. Versuche, den Patienten aus der Schutzzone herauszuführen, lösen gerade jene aversiven Affekte aus, die das Subjekt zu vermeiden trachtet: Panik, Horror, Angst vor Selbstverlust, Wut und Zorn. Für die konkretistische Ebene des psychischen Funktionierens ist typisch, daß für eine Problemsituation nur noch eine und nur eine Mikrowelt entworfen wird, die starr ist, schlecht veränderbar und irreal in dem Sinn, daß normale soziale Beziehungen mit ihr unvereinbar sind. Es bleibt eine Welt mit Dominanz der narzißtischen und/oder symbiotischen Phantasien. Wünsche können nicht mehr in Beziehungen aktualisiert werden, außer es gelänge, ein Objekt zu bewegen, sich unter Verzicht auf die Aktualisierung eigene Wünsche einseitig assimilieren zu lassen. Eine weitere Folge ist eine stete Irritation, die zu hoher aggressiver Bereitschaft führt (Frustrations- und defensive Aggression). Diese Mikrowelt darf auch nicht zu sehr affektualisiert werden. Sie muß von den unerwünschten Affekten freibleiben (vgl. das Problem der Affektualisierung im Schlaftraum, Moser 1992). Ein »freier Raum« für therapeutische Entwicklungen ist damit nicht gegeben. Kommunikationsstörungen sind nicht zwingend Zeichen einer »frühen« (»präödipalen«) Störung, sie können auch im Bereich eines strukturellen Affektsystems auftreten. jeder psychische Rückzug wird aber die Kommunikation beeinflussen, wobei zumindest die wahrnehmende Dekodierfähigkeit bezüglich der Affekte erhalten bleibt, die Enkodierungen und Beantwortungen von Affekten des Objekts jedoch verwischen und defensive Bedeutung bekommen. Modell (1980) beschreibt anhand eines Rückzugzustands, den er Kokon-Zustand nennt, diesen Konnex sehr eindrücklich. »In active non communication one does not communicate because of the fear of loosing the sense of omnipotent self sufficiency. Finally, the communications of feigned or false affects intended

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to manipulate the other represents a quest for omnipotent control of the other, a control that protects against a dissolution of the other, a control that protects against a dissolution of the self by the other« (1980, S. 264). Gefürchtet wird affektive Kommunikation eben deshalb, weil das Risiko als zu groß eingeschätzt wird, infolge des eigenen »schlechten«, hilflosen Zustands ausgenutzt zu werden, die Kontrolle über das Objekt zu verlieren und Allmachtsphantasien aufgeben zu müssen. Modell beschreibt auch, wie in der Therapie bei narzißtischen Patienten das Stadium der NichtKommunikation abgelöst wird durch das Auftauchen direkter negativer und intensiver Affekte, die dann einen beidseitigen Interaktionszwang setzen. Die wenigen Beispiele mögen gezeigt haben, daß eine Theorie des Affektsystems fähig wäre, eine neue, den therapeutischen Problemen nähere Klassifikation der psychischen Störungen zu bringen. Jeder Mensch kann auf verschiedenen Niveaus des in ihm entwickelten Affektsystems kommunizieren und reagieren und mit sich selbst umgehen. Personen mit psychischen Störungen zeichnen sich lediglich und vor allem dadurch aus, daß sie bei einem höheren Grad an emotionalem Involvement und beim Versuch einer Wunschaktualisierung häufig auf dieselbe Art in Schwierigkeiten geraten und dann Eigenheiten der Manipulation affektiver Information zeigen. Wird in oder außerhalb der therapeutischen Situation die affektive Beziehung auf die Benutzung sogenannter sozietaler Frames (»societal scenes«, Schank 1982) reduziert, bei denen die Beziehung allein über automatische Verhaltenssequenzen geregelt wird, das emotionale Involvement gering ist und die affektiven Reaktionen jedem bekannt sind (z. B. bei »Über den Gartenhag«-Beziehungen), dann werden die Möglichkeiten des affektiven Systems gar nicht beansprucht.

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■ Konzeptforschung

■ Ulrich Moser

Was ist ein Wunsch?

■ Wunsch ist ein Konzept des Alltagswissens Wunsch als Konzept des Alltagswissens taucht beim Kind etwa mit vier Jahren auf. Dieses Wissen ist vorsprachlich erworben und wird erst später formulierbar. Vor dem vierten Lebensjahr besitzen Kinder noch eine situative Theorie. Innen und Aussen können zwar lokalisiert werden und die primär affektiven Kriterien einer Situation werden auch äquivalent abgebildet im Innern (Fonagy u. Target 1996). Es wird aber noch nicht zwischen möglich und wirklich unterschieden. Ein Wunsch könnte hier höchstens definiert werden als ein Wunsch, einen inneren und/oder äußeren Zustand wiederzuerleben oder einen als negativ empfundenen Zustand in einen positiven zu überführen. Zum Beispiel werden mit zweieinhalb Jahren Puppen mit Handlungs- und Erlebnisfähigkeit ausgestattet (Leslie 1987). Sie sprechen, und es werden ihnen auch »Wünsche« zugeschrieben. Wunsch heißt hier schlicht: Ich möchte, daß dies und dies geschieht. Man kann diesen Vorgang auch als »intentional causation« bezeichnen, als eine Art Absicht. Die Forschung in diesem Frühbereich des Entstehens von Konzepten ist gezwungen, mit trügerischen Formen der Information umzugehen, vor allem wenn mit Sprache gearbeitet wird (vgl. Bretherton, McNew u. Beegly-Smith 1981; Leslie 1987; Wellman 1990, 1991; Perner 1991; Harris 1992; Astington 1994 u. a.). Wunsch ist mehr als bloßes Erkennen einer Intention. Er ist Bestandteil einer

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frühen repräsentationalen Welt (theory of mind). Es gibt nun eine Innenwelt, die Inhalte hat, etwa Wünsche und Überzeugungen. Wunsch setzt voraus, dass die Erfüllung von etwas möglich oder nicht möglich ist, aber nicht erfolgen muß. Diese inneren Konzepte werden als verhaltensbestimmend erlebt, sei es durch sich selbst oder durch andere bewirkt. Die innere Welt ist nicht mehr äquivalentes Abbild der Situation. Ein Gewahrwerden von Wunsch ist möglich, weil sich ein Erleben von Emotionen entwickelt hat. Kognitive Aspekte des Wunsches existieren rudimentär in Form von (möglichen) Bildern und Phantasien einer Wunscherfüllung. Dieses Gewahrwerden kann als Form primären Bewußtseins bezeichnet werden. Es ist noch nicht im Sinne eines sekundären Bewußtseins ein Gewahrwerden des Erlebnisses der Gesamtstruktur des Wunsches. Mit der Trennung von möglich und wirklich, von innen und außen wird Wunsch mit einem Konzept der Wunscherfüllung verbunden, die als vorgestellt oder durchgeführt aktualisiert wird. Es lässt sich hier schon ableiten, daß letztlich ein Wunsch immer nur über die Erfüllungsprozesse beschrieben werden kann. Jeder Wunsch wird in eine Intention-Ziel-Organisation umgesetzt, wobei nochmals zu beachten ist, daß diese Wunscherfüllung von innen wie von außen oder von allen Beteiligten bewirkt wird. Aus dem kindlichen Wissen um psychische Vorgänge wird mit der Zeit eine Wissenschaft, die versucht, alltagspsychologische Annahmen zu beschreiben, genauer zu definieren und in Modellen zu formulieren. Eine solche Alltagswissenschaft ist beispielsweise die Psychoanalyse. Sie sammelt Beobachtungen (vor allem in ihrem Anwendungsgebiet, der Psychotherapie) und extrahiert aus ihnen Annahmen, Konzepte und Modelle von Verhalten und inneren Prozessen. Dies hat den Vorteil, daß ihre Annahmen für jedermann gut kommunizierbar sind, weil sie ihrer kognitiven Struktur nach dem Alltagswissen der Patienten ähnlich bleiben. Eine Alltagswissenschaft vollendet und differenziert somit eine Wissensbank, die sich im Kindesalter spontan als Überlebenspsychologie entwickelt hat. Es gibt auch wesentliche Nachteile: Die Konzepte können erstens beliebig banalisiert werden (auf Populärpsychologie reduziert), zweitens können spekulative Modelle blühen, die nicht widerlegbar sind, und drittens führt die Anwendung wissen-

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Konzeptforschung

schaftstheoretischer Kriterien der Naturwissenschaft zum Nachweis der Unwissenschaftlichkeit. Eine Common-sense-Annahme wie Wunsch entzieht sich experimenteller Überprüfung. Sie kann aber auch immer wieder neu formuliert und ausgelegt werden, was die Sache mühsam macht, gelegentlich aber als besondere Tugend hervorgehoben wird. French (1952) hat eine in diesem Sinne »naive« psychoanalytische Konzeptualisierung geliefert: Wunsch ist ein innerer, als potentiell erlebter Zustand. Er hat einen Bedürfnispol (need pole) und einen Erfüllungspol (hope pole). Der Bedürfnispol enthält einen motivationalen Druck (motivating pressure). Dieser äußert sich in spezifischen Affekten der Unzufriedenheit, des Mangelgefühls, der Unrast und in Empfindungen der Dringlichkeit und der Unerfülltheit. Der Erfüllungspol andererseits repräsentiert sich in den antizipatorischen Affekten, schwach ausgeprägt in einer Sehnsucht, stärker als Hoffnung und schließlich als Erwartung. Die vermittelnde Klammer zwischen diesen Gefühlszuständen ist eine Phantasie. Sie enthält die Strukturen früherer Wunscherfüllungen sowie deren Behinderungen und wird zur Struktur des jetzt gewünschten Erfüllungszustands. Sie ist fähig, den motivationalen Druck zu kanalisieren, dies aber nur insoweit, als eine Plan-ZielOrganisation der Wunscherfüllung in die Phantasie des Wunsches integriert worden ist. Doch jetzt ergibt sich eine Komplikation: Die integrative Struktur des Wunsches kann nämlich sehr einfach sein (Wunsch, einen Apfel zu essen) oder sehr komplex (Wunsch, mit einer Blondine in der Antarktis auf einem Eisbärenfell Earl-Grey-Tee aus feinstem Porzellan zu trinken und gleichzeitig ihre Beine zu streicheln), oder kaum beschreibbar (eine diffuse Sehnsucht nach Glück mit der Erwartung einer tiefen Traurigkeit). Und schließlich gibt es neben beschreibbaren Wünschen noch den Status eines »unbewußten« Wunsches, der den Psychoanalytikern so sehr am Herzen liegt. Ziehen wir eine vorläufige Bilanz: Ein Wunsch wird als eine kleine Mikrowelt mit affektiv kognitiver Struktur und eigenem Gedächtnis gesehen. Er enthält einen Teil von Erfüllungsbedingungen, die fest mit ihm verknüpft sind und eine Struktur antizipatorischer Affekte von Hoffnungen und Befürchtungen, die eine mögliche Aktualisierung1 betreffen.

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Mit der Formulierung »affektiv kognitive Struktur« kann man nicht zufrieden sein. Wie soll das Zusammenspiel dieser beiden Arten von Information verstanden werden? Die Mikrowelt Wunsch ist ein Abkömmling vieler früherer interpersonaler Situationen, die abstrahiert zu einer Struktur gebündelt wurden. Diese Situationen umfassen auch die begleitenden Beziehungserlebnisse. Wie werden diese gespeichert? Stern (1985, 1996) hat dafür eine sprachlich elegante Formel gefunden. Er meint, daß diese Erlebnisse, die er »in Gemeinschaft mit dem anderen sein« nennt, eine spezifische Ablaufstruktur hätten. Er nennt sie vorsprachlich protonarrativ. Eine solche Repräsentation hat eine Zeithülle und eine Erlebnishülle, die sich aus dem Spannungsverlauf und der Dramatik motivationaler Ereignisse (schon in den ersten Lebensjahren) ergeben. In diese Hülle werden im Lauf der kognitiven Entwicklung, zunächst über die Wahrnehmungsorganisation, »Augenblikke« figuriert, die zusammen einen »Horizont der Gegenwart« bilden. Es lagern sich mit der Zeit in die emotionale Repräsentation kognitive Strukturen ein: Agenten, Aktionen, Instrumentalitäten, Ziele und so weiter. Sie weisen je nach Altersstufe unterschiedliche Komplexität auf. Wie aber affektive Prozesse und Zustände gespeichert werden, ist bis heute nur spekulativ faßbar geblieben (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996). Wenn Wünsche auf diese Weise definierte Mikrosysteme sind, so sind es umweltstabile Entitäten (Bowlby 1973), die in einem Aktualisierungsprozeß die Vorbedingungen für die Wunscherfüllung setzen (im Sinne eines dezentralisierten Gedächtnisses). Auf der anderen Seite, darauf werden wir später zu sprechen kommen, ist die Aktualisierung in einer externen Welt (sei diese imaginär oder real) an eine Organisation gekoppelt, die versucht, den Wunsch zu erfüllen. Es ist eine ad hoc gebildete, durch die Zielsetzung gesteuerte Organisation, die zusätzlich die inneren Bedin1 Aktualisierung wird den Konzepten Realisierung und Inszenierung vorgezogen. Sie bezeichnet das Einfügen eines Wunsches in eine laufende Beziehung unter den spezifischen Bedingungen der gegenseitigen Regulierung durch ein Subjekt und ein Objekt. Diese Beziehung kann real oder imaginär sein. Die Unterscheidung wird gemacht aufgrund der Rückmeldeprozesse (perzeptuelle Rückmeldung vs. simuliert perzeptuelle Rückmeldung auf affektiver Basis).

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gungen der psychischen Gesamtorganisation und die hindernden oder fördernden Bedingungen der Umwelt analysiert und in die Wunscherfüllung einbezieht.

■ Was ist ein unbewußter Wunsch? Man könnte zunächst vermuten – und damit das Problem aus der Welt schaffen –, daß ein unbewußter Wunsch einfach in seinen aktualisierten Gestalten vom Träger weder wahrgenommen noch erlebt werden kann. Er wäre auf der intentionalen Ebene des Trägers ein leerer Wunsch, den man, mit Pessoa (1982) formuliert, als etwas wünscht, das man sich nicht vorstellen kann. Kann aber die motivationale Komponente des Wunsches ebenfalls unbewußt bleiben? Und was heißt das? Was unbewußt ist, kann nach der psychoanalytischen Theorie nur die gespeicherte Mikrowelt »Wunsch« sein, die Bowlby als umweltstabile Entität bezeichnet hat. Diese kann man als eine vom Rest der psychischen Organisation abgekoppelte, dezentralisierte, autonome Einheit betrachten, die in sich selbst die Bedingungen ihrer Erfüllung (Befriedigung) enthält. Dazu die »schöne« Formulierung eines französischen Analytikers: »La réalité psychique qui crée l’acte psychique inconscient est comme la création divine avant celle de l’homme: toute chose y existe pour soi même et rien ne se fait par autre chose« (Widlöcher 1986, S. 99). Als Bestandteile dieser Mikrowelt wird auch eine hedonistische Halluzination postuliert. Für eine wirkliche Wunscherfüllung hingegen muß die Motivation sich in eine Intention umsetzen, die sich in Programme der mentalen Organisation einfügt. Der sogenannte unbewußte Wunsch setzt sich dann in fragmentierter Form in Phantasien und in Inszenierungen um. Gerade ein abgewehrter, an der Erfüllung gehinderter Wunsch erzeugt infolge der Unbefriedigtheit eine stete motivationale Spannung, die zu Ketten von realen und phantasierten Substitutionen führt. Dem Träger ist allerdings in den meisten Fällen nicht bewußt, daß diese Wunschabkömmlinge Bestandteile ein und desselben Wunsches sind. Aber auch der wissenschaftliche Beobachter muß Suchstrategien entwickeln, wie er

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in Phantasien, Texten und Verhaltensprotokollen Abkömmlinge des Wunsches findet. Ohne ein Modell über die Wunscherfüllungsorganisation ist diese Strategie nicht zu schaffen.

■ Suchstrategie: Wo steckt der Wunsch? Um die Prinzipien dieser Strategie zu illustrieren, soll der Wunsch in einer relativ kleinen imaginären Domäne gesucht werden. Die Methode entstammt der Traumanalyse und ist von Moser und von Zeppelin (1996) entwickelt worden. Ein Gedicht ist eine kleine sprachlich formulierte Mikrowelt, die einen inneren Ablauf zeigt und eine Aussage und/oder einen Wunsch als zentrales Prinzip enthält. Es ist eine relativ autonome, geschaffene Welt, wenn auch nicht frei von assoziativen und affektiven Verknüpfungen mit der Innen- und Außenwelt des Autors. In einem Gedicht werden affektive und kognitive Prozesse derart komponiert, daß die sich im Gedicht entwickelnden Gefühle (sie sind an Wechselwirkungen gebundene Affekte) immer wieder auf die emotionale Tönung des Grundtextes »zurückgebunden« werden. Dieser Grundtext besteht aus einem Ort, oder einer Kette von Orten, und auf diesen bezogenen Elemente. Diese sind, ob Personen, Tiere oder leblose Dinge, immer Träger von Interaktionen und von inneren Prozessen. Sie enthalten in Form von gespeicherten Affekten schon jene potentiellen Gefühle, die sich im Verlauf der Entfaltung dieser Mikrowelt zeigen werden. Das Gedicht stammt von Sarah Kirsch: Anziehung Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich. Komm über den See.

Bis auf die letzte Zeile hat die Autorin die Position einer Zuschauerin. Die eingeführten Personen bilden ein sogenanntes in-

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terpersonales Feld. Dort zeigen sich Wünsche und die zum Wunsch gehörenden Affekte am deutlichsten (manchmal auch am bedrohlichsten). Ein Feld dieser Art wird erst in der letzten Zeile geschaffen mit der Aussage »Komm über den See«. Das Feld enthält eine Verknüpfung in Form einer potentiellen Beziehung: »Über den See kommen«. Das Objekt dieses interpersonalen Feldes ist erstens anonym und zweitens nur assoziativ genannt und nicht im Bild anwesend. Das ganze Feld ist über ein Element außerhalb mit einer Relation der Verhinderung (See) verknüpft. In dieser Zeile erfahren wir nur gerade die Sehnsucht. Ist sie ein Teil der prototypischen Hülle des Wunsches? Was aber an affektiven Erlebnismöglichkeiten, an Gefühlen im Wunsch liegt, wird nicht konkret bildhaft entwickelt. Von der kognitiven Struktur des Wunsches ist vorerst nur eine potentielle Wechselwirkung der »Annäherung« zu finden. Der See ist nicht nur Hinderer, sondern auch Ort des Geheimnisses. In ihm und um ihn spielt sich alles ab. Er ist der Platz, der Ort, der Grund des Ganzen. Im Hörer, Leser und Interpreten löst eine solche Situation ganz spezifische Reaktionen aus: Er kann das Gedicht banal finden. Er kann aber auch den Affekt, der den Inhalt wie auch den Zustand (vor allem letzteren) des Wunsches ausdrückt, übernehmen. Dann regt das Gefühl des verborgenen Gehalts auch die Interpretationslust an. See als Element hat mannigfache morphologische und assoziative Bezüge, die sich bei Bachelard (1942) in seiner Arbeit »L’eau et les rêves« finden. Seine Wege der »imagination materielle« wollen wir nicht verfolgen, sondern festhalten, daß der Wunsch sich in dieser letzten Zeile des Gedichts in Zustandsaffekten präsentiert: als Sehnsucht und als Hoffnung auf eine verändernde Annäherung. Das offen Dargestellte dient immer gleichzeitig dem Verschweigen. Aus der Psychologie des Schlaftraums weiß man, daß dem interpersonalen Feld ein weiteres Feld teils vorangeht, teils zugrunde liegt. Es wird als Positionsfeld bezeichnet und umfaßt alle Elemente und Prozesse, die eingeführt wurden. Erfahren wir aus diesem Positionsfeld mehr über die Struktur des Wunsches? Die Interaktionen zwischen den Elementen sind physikalischer Natur: »Der Mond versammelt Wolken im Kreis«. Hier findet sich wiederum

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die Thematik der Anziehung. Die Risse sind ein Attribut des Eises. Attribute enthalten potentielle Interaktionen. In der nächsten Szene taucht eine auf. »und reibt sich«. Eis, das sich reibt, enthält eigenphysikalische Aktivität der Selbstveränderung. Wechselwirkungen physikalischer Art mit deanimierten Agenten sind zumeist (vom Autor) delegierte Wechselwirkungen. Sie mögen zwar Affekte darstellen, der Subjektprozessor ist aber weder Träger noch Empfänger entsprechender Gefühle. Es steckt eine Art von Beziehungsgefühl in diesen Wechselwirkungen, die nur eine geringe Intensität und geringe Resonanz erzeugt. Auch die Sequenz der Interaktionen: Aufziehen, Umschlagen, Versammeln, Reiben, Herüberkommen (potentiell) bleibt noch im Vorfeld eines geahnten und gewünschten Geschehnisses. Sie ist eine Trajektorie möglicher Gefühle, mehr nicht. Die vielen unbestimmten kognitiven Elemente, die starke Betonung des Ortes (See) erlauben es, Affekte in starker Verdichtung mit kognitiven Elementen implizit im Bild festzuhalten. Es sind nur die allgemeinen affektiven Qualitäten des Zustands eines Wunsches zugelassen, der Rest ist nicht im Text zu identifizieren (außer man beginnt jetzt die Möglichkeiten der Imagination der Materie auszuschöpfen). Die Kunst der Poesie ist es, jenen Grad an expliziter Affektentwicklung mit sprachlichen Mitteln darzustellen, die im Bereich der geschaffenen Mikrowelt erträglich erscheinen. Die Suchstrategie nach einem Wunsch benützt, grob gesprochen, ein Drei-Phasen-System: Was ist an Erfüllung im interpersonalen Feld zu entdekken, was im Positionsfeld, und was müßte über die Imagination der Materie symbolisch erschlossen werden?

■ Über Wunschmaschinen Eine Wunschmaschine könnte definiert werden als eine Maschine, die Wünsche erzeugt. Gemeint ist in diesem Rahmen aber ein Maschine, in die Wünsche eingegeben werden können. Output ist dann ein ganz oder teilweise aktualisierter Wunsch. Es sind Wunscherfüllungsmaschinen. Wir beschreiben zwei Typen.

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Die erste Maschine (s. Abb. 1) ist die Samsmaschine, konstruiert von Paul Maar 1973. Sie steht in einer Geschichte, die ich meinen Kindern immer wieder vorlesen mußte. Sams ist ein kleines häßliches Wesen. Es erscheint unter gewissen Bedingungen, die wir zu schildern auslassen, für eine ganze Woche. Am Samstag muß er wieder verschwinden. Er wählt sich auf der Straße Herrn Taschenbier (einen scheuen Junggesellen) zum Vater. Dessen ruhige Welt bringt er völlig durcheinander, insbesondere durch seine Gefräßigkeit. Am liebsten ißt er Eisen. In seinem Gesicht hat er blaue Flecken. Herr Taschenbier darf sich für jeden Fleck etwas wünschen. Der Fleck verschwindet, sobald der Wunsch erfüllt ist. Mit der Zeit kommt Herrn Taschenbier die Idee, sich eine Wunschmaschine zu wünschen, damit er unabhängig vom Sams immer etwas wünschen kann. Er spricht diesen Wunsch aus, und die Maschine steht tatsächlich da.

Abbildung 1: Samsmaschine

Die Maschine ist – man ahnt es – der Vorläufer eines Computers, der Sprache versteht. Oben muß der Wunsch sprachlich in den Trichter eingegeben werden. Zunächst läuft die Maschine nicht, sie hat keinen Anlasser. Taschenbier ist verzweifelt. Sams erklärt ihm, er hätte eben nicht gesagt, ob er die Version mit Schalthebel oder die Version mit rotem Druckknopf gewollt hätte. Es sei ihm

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nur übriggeblieben, die Maschine pur herzubringen. Leider war mit diesem Wunsch der letzte Punkt in Sams Gesicht aufgebraucht, Sams mußte wieder verschwinden. Erst in der Fortsetzung der Geschichte, in der es gelingt, Sams wieder erscheinen zu lassen, funktioniert die Maschine (Maar 1980). Wir können uns nun nicht weiter mit der tragikomischen Geschichte der Maschine befassen, sonst wird daraus eine lange Gutenachtgeschichte. Versuchen wir nun eine Systemanalyse. (1) Erstens fällt auf, daß schon der Wunsch nach einer Wunschmaschine ganz genau und konkret formuliert sein muß. Werden nicht bestimmte Details gesagt, dann fehlen diese Details auch in der Aktualisierung. Es genügt zum Beispiel nicht zu wünschen, die Maschine möge auf dem Estrich stehen. Es muß formuliert werden: »auf dem Estrich des Hauses, in dem wir uns befinden«. Herr Taschenbier vergaß das natürlich. So steht die Maschine auf dem Estrich eines ganz fremden Hausbesitzers, der sich wundert. Es bedarf eines weiteren Wunsches (was nur mit einem Samsflecken möglich ist), um die Maschine zurückzuholen. Ein typisches Merkmal dieser Konstruktion ist der Konkretismus. Die Maschine verwirklicht nur ganze Wünsche. Objekte müssen attributreich formuliert werden. Die Maschine versteht deshalb auch »leere Wünsche« nicht. Leere Wünsche repräsentieren sich nur in einem (motivationalen) Drängen und/oder in einem noch diffusen Affektzustand, etwa der Sehnsucht, des Unbehagens, der vergeblichen Hoffnung. An konkreten kognitiven Eigenheiten ist kaum etwas da, vielleicht gerade noch ein diffuses Objekt, aber nicht eine konkrete Person, mit und an der ein Wunsch sich erfüllen soll. (2) Die Maschine ist eine Black box. Das Innere mit seinen Prozeduren und Funktionen ist unbekannt. Der Benutzer weiß nur das, was er möchte und erhofft. Er glaubt gleichzeitig, daß die Maschine es erfüllen kann. Solche Maschinen entstammen der Vorstellungswelt des Kindes, in der es zwar Repräsentationen über mentale Dinge der Innenwelt gibt (Wünsche, Annahmen etc.), aber noch nicht Repräsentationen über die Prozeduren, die Abläufe regeln, zu finden sind. Astington (1994), Perner (1991) und andere unterscheiden beim Kind »mind representation« und »mind activity representation«. Die letztere betrifft Vorstellungen von

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Prozessen und Abläufen innerhalb des mentalen Bereiches. Diese Repräsentationen von innerer Aktivität sind erst im fünften Lebensjahr möglich. Die Wunschmaschine ist einer Vorstellung über psychische Prozesse nachgebildet, die ein Kind unter fünf Jahren von Menschen auf Maschinen überträgt. Wer das Innere der Maschine nicht kennt, kann Defekte nicht beheben. Eingriffe in die Maschine fördern nur ein chaotisches Verhalten. Dies wird von Maar bei der Samsmaschine ausführlich erzählt. (3) Die Samsmaschine ist eine magische Maschine, insofern man die innere Struktur, die Regulierung, die Rekrutierung der Ressourcen (woher nimmt die Maschine die Dinge, die sie produziert? Woher kommt die Blutwurst, dann wieder das viele Geld? Wie verwandelt sie Menschen?) nicht kennt und auch nicht kennen will. Was klar erscheint: die Maschine ist der Metawunsch der Wünsche, die sie erfüllen soll. Es gibt viele Arten magischer Maschinen: gute Feen, verwunschene Menschen, Teufel, Spielautomaten, Spielsysteme und eigene Größenphantasien, die aus den frühen Formen des noch magisch geprägten Wirklichkeitssinns entstammen (vgl. Ferenczi 1913). (4) Ein weiteres Merkmal dieser Maschine ist die direkte unmittelbare Aktualisierung. Es fehlt die Alternative einer Warteschlaufe und einer einfachen Selbstkontrolle wenigstens in Form eines Aufschubs und Wartens. Sie wurde beim Bau der Maschine vergessen. Bei Kindern findet sie sich erstmals etwa um das fünfte Altersjahr herum. Astington definiert sie als: »Being able to distinguish between desire and intention: even though you warnt something you cannot have, you do not intend to do any thing to try to get it« (1994, S. 97). Selbstkontrolle in Form einer Bestrafung findet sich hingegen sehr wohl, wenn auch versteckt in den bereits erwähnten, nicht erwünschten Fehlleistungen der Maschine, die den Genuß an der Sache verderben. Bestrafung ist ja auch bekannt in Märchen, etwa in dem mit den drei Wünschen (Perrault 1695), das in vielen Versionen existiert und schließlich von Freud gedeutet wurde (1900a, S. 586, 587).2 Ob diese Bestrafungstendenz bereits 2 Die gute Fee verspricht einem armen Menschenpaar die Erfüllung ihrer drei ersten Wünsche. Sie nehmen sich vor, diese Wünsche sorgfältig auszuwählen (was eine Warteschlaufe und eine Kategorisierung hinsichtlich Wünschbarkeit bedingen würde). Die Frau wird vom Duft feiner Bratwürste verleitet, solche herbeizuwünschen. Sie sind da. Der Mann wird

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zum System der Samsmaschine gehört, quasi schon an den Wunsch gebunden, oder ob sie erst über den Maschinenbediener, gelegentlich unbewußt, eingegeben wird, lassen wir vorerst offen. Die zweite Wunschmaschine kann ihre Abstammung von der Samsmaschine nicht leugnen. Jedenfalls wurden Maschinen dieser Art zur gleichen Zeit ausgedacht und benützt, als die Samsgeschichte Kindern vorgelesen wurde. Die damals benutzten Maschinen stehen inzwischen so verstaubt herum wie die Samsmaschine. Es sei verraten: Die Maschine 2 ist ein Computer. Dieser eignet sich zur Implementierung von funktionalistischen Theorien psychischer Abläufe. Die Hardware erlaubt es, Sprachen zu entwickeln, die von ihr unabhängig sind. Da die Maschine nur Eingaben in Form einer ihr geläufigen Sprache aufnimmt, muß die Struktur des Konzepts Wunsch auf eine Computersprache hin aufgebrochen werden. Es war zur damaligen Zeit eine LISP-Sprache. Die Maschine 2 erfüllt in zweifacher Hinsicht einen Wunsch: Zum einen liefert sie in Form eines Programms eine Theorie des Wunsches und der Wunscherfüllung (für den Autor), zum andern können mittels dieser Theorie Wünsche verschiedenster Art unter verschiedensten Bedingungen aktualisiert werden. Dies mit der Beschränkung allerdings, daß der ganze Prozeß simuliert wird. Zwei solcher Maschinenprodukte sind in Projekten geschaffen worden, die nicht ausschließlich der Wunscherfüllung gelten: eines ist eine Generierung von Schlafträumen mittels Computersimulation (Moser, Pfeifer, Schneider u. von Zeppelin 1983), ein anderes gilt dem Tagträumen (Mueller 1990). Magische Black boxes gibt es in diesen Maschinen (hoffentlich) nicht. Aus dem Märchen mit den drei Wünschen hat Anne Dorset (1809) die Moral gezogen: »Think before you speak«. Dieser Ratschlag ist in der Maschine 2 gründlich berücksichtigt worden. In Projekten dieser Art vermag die Alltagswissenschaft Psycho-

wütend und wünscht sich, daß die Würste an der Nase der Frau hängen bleiben. Das tun sie. Da die beiden sich doch lieb haben, muß der dritte Wunsch benützt werden, um die Würste wieder von der Nase wegzubringen. Freuds Kommentar: »Die Würstchen an ihrer Nase sind die Wunscherfüllung der zweiten Person, des Mannes, aber gleichzeitig auch die Strafe für den törichten Wunsch der Frau.«

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Abbildung 2: Vernetzung von Wunschelementen

logie nicht mehr allein zu genügen. Ihre Erkenntnisse werden deshalb mit Konzepten der Kognitionswissenschaften, der Informationsverarbeitung und der Affektpsychologie liiert. Das verläuft nach zwei zentralen Prinzipien der kognitiven Wissenschaft: das Aufbrechen eines Konzepts zur Differenzierung der inneren Struk-

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tur der Mikrowelt Wunsch und die Vernetzung des Konzepts Wunsch mit einer Umgebung. Das gilt insbesondere für die Eingliederung in die Regulierungs-, Kontroll- und Transformationsbereiche, die verantwortlich sind, was für ein Resultat die Wunscherfüllung letztlich erzeugt. Die Erfahrungen mit den Wunschmaschinen 1 und 2 sollen nun zu einer allgemeinen Theorie des Wunsches und der Wunscherfüllung führen. Vergessen wir die Maschinen und ihre Probleme, und versuchen wir, eine gerade noch verständliche Wunschtheorie in verbaler Form zu formulieren. Der nächste Abschnitt behandelt die Struktur des Wunsches, der darauffolgende seine kontextuelle Vernetzung.

■ Die Struktur des Wunsches Versucht man einmal, die vielen in psychoanalytischen Schriften vorliegenden Einsichten über den Wunsch in eine Definition zu bringen, so könnte das Produkt so aussehen: Ich möchte mich selbst in einer von mir gewünschten Weise mit einem von mir gewünschten idealen Objekt in eine Relation bringen, derart, daß ich die von mir gewünschten Aktivitäten in dieser Beziehung verwirklichen (aktualisieren) kann und daß auch das Objekt Aktivitäten entfaltet, die ich als gewünscht erwarte. Die Struktur des Wunsches ist nie identisch mit der schlußendlich produzierten Aktualisierung, denn sie wird durch verschiedene Regulierungsbereiche bearbeitet und verändert. Das Resultat dieser Transformation geht dann in ein Modell ein, das von jenem Regulierungskontext verwendet wird, der die Interaktionsprozesse reguliert. Liest man diese Formulierung, so wird klar, daß mit Wunsch eine Entität gemeint ist, die den Charakter eines Modells hat. Erst die reale oder imaginäre Aktualisierung dieses Modells und deren Regulierung macht ihn zum Prozeß. Bei der Wunschmaschine 1 wird der Wunsch so eingegeben, wie er am Schluß in der Aktualisierung wiederum erscheint. Man braucht deswegen nicht weiter zu denken und nur die oben erwähnte Definition konkret aufzufüllen.

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Bei der Wunschmaschine 2 hingegen muß die Struktur des Wunsches genauer definiert werden, sonst läßt sich die Maschine nicht benutzen. Die kognitive Psychologie sucht dafür nach sogenannten Primitiva statischer (Entität, Relation, Prozessor, Prozedur usw.) und dynamischer Natur (Set, Funktion, Prozeß, Operator usw.). Das ist nicht nur theoretische Spielerei um mehr konzeptuelle Klarheit, sondern notwendig für das tiefere Verständnis kognitiver Prozesse, wie zum Beispiel der Umwandlungen von Phantasien. In dieser jetzt abstrakteren Sprache soll Wunsch als Wunschelement bezeichnet werden. Dieses enthält Prozessoren, definiert als Systeme, die Prozesse tragen und ausführen. Es werden Subjektprozessoren und Objektprozessoren unterschieden. Prozessoren bestehen aus Attributenkonfigurationen. Die Identität wird durch ein Grenzfunktion (boundary) und identitätsspezifische Funktionen aufrechterhalten. Die Prozessoren, in der Literatur häufig Agenten genannt, sind mit Interaktionseinheiten (Wechselwirkungen) verknüpft. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, je nach der präferierten psychologischen Theorie, diese Mikrowelt Wunsch zu modellieren. Für die Traumsimulation wurde zum Beispiel postuliert, daß einem Wunschelement ein Pattern zukäme, über das der gesamte Wunsch direkt abgerufen werden kann. Sein Inhalt ist eine affektive Qualität, etwa die globale affektive Gestimmtheit des Wunsches oder dessen spezifische Ablaufsform des Erlebnisses. Im weiteren enthält ein Wunschelement eine Reihe von Prozeduren. Das sind Prozeßanleitungen wie: Suche nach einer Selbstkonfiguration derart, daß folgende Bedingung »blonde Haare« (explizites Attribut) oder »erinnert an den Vater« (implizite Eigenheit, feature, aktiviert über Pointer zu Erinnerungen) erfüllt ist. Wechselwirkungseinheiten andererseits haben Attribute, die aussagen, wie ein Objekt aussehen muß, damit es für die gewünschte Aktivität überhaupt geeignet ist. Die Einbindung von Affekten in diese primär kognitiv formulierten Netze ist bisher nicht überzeugend gelungen. Zumeist werden sie als emotionale Attribute formuliert, zum Beispiel als eine negative Emotion, die bei früheren Wunschaktualisierungen ausgelöst wurde und in einer Aktualisierung wieder erwartet wird. Wie wäre etwa die prototypische Erlebnishülle (Stern 1996) einzuführen?

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Das Wunschelement definiert die gewünschten Aktualisierungen, die für die Suche, Interpretation und Gestaltung einer Situation benutzt werden. Diese Struktur kann mehr oder minder detailliert, dem Träger bewußt oder unbewußt sein. Ist diese Information quasi bildhaft eindeutig, so würde nur gerade ein bestimmtes Objekt für die Wunscherfüllung in Frage kommen. Sind hingegen in den Prozessoren nur wenige Attribute gegeben, kommen sehr viele Objekte in Frage (z. B. die gesamte Menge jener Objekte, die blond sind und leicht lispeln). Was bisher als Mikrowelt bezeichnet wurde, kann auch als Frame oder Schema dargestellt werden. Allerdings ist die Konzeption von Prozedur geeigneter, weil sie miteinbezieht, daß aus dem Modell heraus auch eine Suchstrategie für die Aktualisierung generiert wird. Die Prozedur tritt zum Beispiel als vorbewußte Wahrnehmungsorganisation in Erscheinung. Sie generiert aber auch Erinnerungen an frühere Szenen mit bildhaftem Charakter. Das Aufbrechen des Konzepts Wunsch soll nicht weiter getrieben werden, denn dann müßte in einem nächsten Schritt der Feinstruktur von kognitiven Elementen nachgegangen werden, ebenso den vielen assoziativen Vernetzungen, die sie erzeugt. Definitionen von Wünschen als Frames oder Schemata sind in der Psychotherapieforschung zur Identifizierung von Wünschen aus Texten geläufig. In diesen Methoden wird aber von Aktualisierungen von Wünschen ausgegangen, die in den Bildern und Texten versteckt sind. Ich nenne als Beispiele die Methoden von Luborsky (s. Luborsky et al. 1994), Teller und Dahl (1986), Schacht und Henry (1994). Für Übersichten und Weiterentwicklungen siehe Dahl und Teller (1994), Hölzer und Dahl (1996).

■ Die Vernetzung des Wunsches Ein Wunsch kann nur über die mentale und physische Organisation in eine reale und/oder imaginäre Aktualisierung überführt werden. In der intrapsychischen Welt wird die Kompatibilität des Wunsches mit inneren Vorbedingungen getestet. Gleichzeitig oder anschließend wird in der Realisierungsregulierung der jetzt bereits

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veränderte Wunsch mit den Bedingungen der Realität konfrontiert (Realitätsprüfung). Solche Überlegungen müssen sich auf ein Modell der mentalen Organisation abstützen, zumindest insofern es den Ablauf der Wunscherfüllung erfaßt. Es soll deshalb ein kurzer Einblick in ein Modell gegeben werden, das psychoanalytische, kognitive und emotionale Konzepte und Theorien vereinigt (Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Anstelle der bekannten Strukturtheorie der Psychoanalyse (mit den Bereichen des Ich, des Selbstideals, des Über-Ich und der Objektbeziehungsregulierung) tritt ein System von Regulierungskontexten, die gleichzeitig operieren und den Wunsch auf Kompatibilität mit ihren Bedingungen überprüfen. (Die Idee von Regulierungskontexten stammt von Clippinger 1977.) Ein Kontext dieser Art enthält Monitor- und Kontrollfunktionen in Form eines Pakets von Prozeduren, die den Wunsch zur Modifikation weiterleiten oder ihn mit Regeln für die Aktualisierung versehen. Diese Multi-Prozeß-Kontexte sind durch ein affektives Informationssystem verbunden. Affekte melden sehr rasch Inkompatibilitäten, die von Kontexten festgestellt wurden. Sie geben aber auch Informationen über das Funktionieren des ganzen Regulierungssystems und Rückmeldungen über die Geschehnisse in der Aktualisierung. Man kann diese Bearbeitungsund Transformationsprozesse als eine Form von innerer Simulation sehen. Die Beziehung, in welcher der Wunsch sich erfüllen soll, muß so reguliert werden, daß die Bedingungen des Partners zu den eigenen in ein Modell gebracht werden. Es ist im Unterschied zum Wunschelement ein Ad-hoc-Modell zur Regulierung, das mit demjenigen des Objekts verbunden werden muß. In der imaginären Aktualisierung wird auch dieser Partner simuliert. Deshalb sind die Rückmeldungen über die Wunscherfüllung im phantasierten Verhalten nicht in der Wahrnehmung zu suchen, sondern in von innen geleiteten emotionalen Rückmeldungen über vorgestellte Geschehnisse in der Beziehung. Der Bereich der inneren Simulation führt zusätzlich über den Kontext der Beziehungsregulierung zu einer Festsetzung der Intensität des emotionalen Involvements. Eine geringe Intensität einer Beziehung erlaubt unter Abschwächung des emotionalen Erlebnisses (der hedonistischen, der positiven wie der negativen Affekte)

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unter Umständen eine direkte Wunscherfüllung ohne inhaltliche Modifikationen. Um nicht ganz in einer theoretischen Beschreibung steckenzubleiben nun zwei Beispiele, die den Psychotherapeuten wohlbekannt sind (vgl. von Zeppelin 1991). Ein Wunsch kann, wenn aktiviert, direkt und ausschließlich vom Kontext »Beziehungsregulierung« übernommen werden. Dann erleidet er keine inneren Einschränkungen und erhält auch keine Zusatzbedingungen für die Wunscherfüllung. Auch die langfristigen Antizipationen, Hoffnungen und Befürchtungen mischen sich nicht ein. Es kommt dann zu einer direkten Aktualisierung. Es kann aber sein, daß die Kontrolle durch die Kontexte erst im Verlauf der Aktualisierung oder gar nachträglich einsetzt. Von Freud (1916d) wurde einer dieser Mechanismen »Scheitern am Erfolg« genannt. Die Abwehr oder gar die Vereitelung der Wunscherfüllung geht in diesem Fall dann über die Störung und Konfliktivierung der Beziehung vor sich, solange sie als Trägerin der Erfüllung benutzt wird. In einem anderen Fall wird von einem Kontext »Regel« der aktivierte Wunsch in seiner gewünschten Form nicht akzeptiert. »Das Über-Ich erhebt Einspruch«, und zwar auf verschiedenartige Weise. Es gibt Regeln von der Form »wenn – dann« oder: »das überhaupt nicht« oder: »nur mit Objekten, die nicht so aussehen« (die andere Attribute haben als jene des Objektprozessors im Wunschelement). Inkompatibilität von Wunsch und Regel erzeugt eine affektive Reaktion »Schuldgefühl«, die in einem anderen Regelkontext Transformationsprozeduren auslöst, die den Wunsch solange transformieren, bis er eine Form erhält, die als realisierbar erachtet wird. Die Prozeduren dieses Kontextes enthalten die klassischen Abwehrmechanismen der psychoanalytischen Theorie. Andere Kontexte wiederum untersuchen, ob die Wunscherfüllung nicht ein Selbstideal verletzt oder ob gar die Stabilität der ganzen mentalen Organisation bedroht würde. Dann hätte ein aktivierter Wunsch eine Selbstproblematik ausgelöst. Ein Wunsch kann aber auch nach der Aktivierung in eine Warteschlaufe geraten und – sofern die Selbstreflexion erhalten geblieben ist – dem Bewußtsein zugänglich sein. Dieser Zustand ist natürlich in der Psychotherapie erwünscht, wenn es darum geht, die konflikterzeugenden Wünsche kennenzulernen, ohne sie gleichzeitig in Erfüllung gehen

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lassen zu müssen. Die emotional protonarrative Hülle bleibt nicht mehr allein Anteil der Repräsentanz eines Wunsches und seiner Bestandteile, sondern aktualisiert sich im Gesamtbereich der Vernetzung. Theoretisch formuliert: Die Affekte werden zu Informationsanteilen der Regulierungsprozesse.

■ Bildschirm, füll dich! – Der Wunsch nach einem simulierten Huhn Nun ist die Mikrowelt (oder Mikrodomäne, wie ein analoges Konzept der kognitiven Wissenschaften lautet) Wunsch genügend aufgebrochen und vernetzt, daß alle möglichen Phantasien auf allen möglichen Entwicklungsstufen in diesen Kategorien Platz haben. Es ist auch klar geworden, daß Mikrowelt Wunsch und Makrowelt mentale Organisation sich in ihrer Struktur entsprechen. Auch kann die Wunschmaschine 1 in der Maschine 2 dargestellt werden. In der Tat: Hinter der Trockenheit des wissenschaftlichen Verfahrens lebt die Magie ein wenig weiter, nur viel raffinierter und zugleich faßbarer. Der Wunsch wird umgewandelt, ein Objekt verändert oder durch ein anderes ausgetauscht. Attribute gehen über in Wechselwirkungen, Subjekte werden gespalten und Prozesse auf verschiedene Agenten verteilt. Ich kann mir auch ein Nilpferd wünschen, das Schach spielt, oder nur das Unvorstellbare, wie Pessoa meint. Alle Aktualisierungen haben Platz. Ein weiterer Grundsatz der wissenschaftlichen Strategie besagt, daß das Aufbrechen von Konzepten und Vernetzungen nur bis auf jenes Niveau getrieben werden sollte, das für die Entwicklung einer Theorie mit hoher Nützlichkeit notwendig und geeignet ist. Das Konzept Wunsch ist, wie sicher bemerkt, nur auf einem »symbolischen« Level behandelt worden. Tiefer in die Mikromaterie gehende Aufbrechungen in ein subsymbolisches Niveau, etwa durch Einführung konnektionistischer Verfahren oder Slippability-Modelle von Konzepten oder Vorschlägen neurophysiologischer Definitionen gibt es zwar; vorerst sind es mehr oder minder plausible Spekulationen. Sobald ich mir aber wünsche, mit einem Computerprogramm ein Huhn zu konstruieren, das Pfeife raucht und

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goldenes Gefieder hat, herumläuft und singt und mit diesen Eigenschaften auf dem Bildschirm erscheint (Maschine 2!), dann müßte das Huhn weiter aufgebrochen werden, immer noch unter Hinzuziehung unseres Alltagswissens über das Huhn, der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der technischen Möglichkeiten.

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■ Ulrich Moser

Selbstmodelle und Selbstaffekte im Traum

■ 1. »Poetische« Theorien des »Selbst« In dieser Arbeit wird das Ziel verfolgt, im Schlaftraum das Verhältnis von Selbstmodellen und Selbstaffekten aufzuzeigen und abzuleiten, was sich daraus für eine generelle Theorie des »Selbst« ergäbe. Die Literatur zum Thema Selbst ist immens, verwirrend, aber auch äußerst redundant, jedenfalls in diesem Rahmen nicht darzustellen. Da eine Zeit der literarischen und philosophischen Theorien angebrochen ist, wähle ich eine solche Theorie, der man die Herkunft aus der Literaturwissenschaft deutlich anmerkt. Sie soll als Einführung in das Thema dienen, aber auch die Frage aufwerfen, ob man nicht besser in dieser Art des Denkens verbleiben könnte, anstatt mittels Kognitionskonzepten und Affekttheorien alles weiter aufzubrechen. Bollas (1995), ein poetischer Autor dieser Art unter den Psychoanalytikern, nennt das Selbst kurzerhand ein »Idiom«. Dieses Idiom ist das Zentrum der Einzigartigkeit und gleichzeitig Träger des »sense of being«. Dieses Gefühl kann nicht repräsentiert werden, verlangt aber nach einem Zeichen für sich selbst. Das Wort Selbst, so meint er, ist selbst ein Zeichen für generative Ignoranz. Es ist auch eine Frage, »denn mit dem Wort Selbst haben wir das Wort gefunden, das den höchsten Grad des Ungedachten enthält« (Bollas 1995, S. 176; Übers. von U. M.). Neben dem Sein liegt auch das Nichtsein (nothingness). Dieses Nichtwissen um das Idiom führt neben dem Wissen um das Sein zu Phantasien über Sein und Nichtsein, zu Phantasien über das Warum des Seins und über die Möglichkeit der Strukturierung des Seins durch das Nichtsein. Nun liegt es nahe, hier an die Weisheit des »wesentlichen Nicht-

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seins« (Blanchot 1969) zu denken. Neben den Phantasien über Sein und Nichtsein gibt es auch Theorien wie jene über Todestrieb und Lebenstrieb, die auf diese Weise aufeinander bezogen werden. Von diesem Idiom aus und über es hinaus macht der Mensch ununterbrochen Entwürfe. Es gibt eine ständige ästhetische Bewegung, die Ausformulierung einer Form: »… eine Form, eine Gestalt aus einer Matrix von potentiell unendlichen, nicht genau definierten Entitäten zu schaffen ist an sich intensiv lustvoll« (Bollas 1995, S. 43; Übers. von U. M.). Das Selbst ist also eine Ausformung, eine Ästhetik der Einzigartigkeit, die die Form betrifft und nicht die mentalen Inhalte. Immer bleibt aber das Idiom das Zentrum. Das kann zu recht komplexen Gebilden führen, zu einer Polisemie von Selbsten. »… wie ein Dichter, der unbewußt Material für ein Gedicht zusammenträgt, von dem er noch gar nichts weiß, seine Wahrnehmung auf einen inneren Raum richtet: »zu schreibendes Gedicht«. Aus dem psychischen instress, der der Logik unseres eigenen Seins entspringt, aus dem Gefühl der inneren Objekte, die wir in unserem Leben sammeln, und aus dem Gesamtgefüge der Selbsterfahrung erschaffen wir ein neues Objekt: das Selbst – ein Gedicht über die Beschaffenheit des Ganzen« (Bollas 1995, S.173 f.; Übers. von U. M.).

Bollas Ausführungen gründen hier stark auf dem Werk des Poeten G. M. Hopkins (1959). Von diesem stammt das Konzept einer »inscape«, einer inneren subjektiven Landschaft und inneren Elaboration der Welt eines andern (»an inner map of others experience«). Parallel dazu wird eine »inscape« seiner selbst entwickelt, eine Landschaft der subjektiven Einzigartigkeit, die sich um den organisierenden Punkt des Idioms bildet. Beide »inscapes« sind durch intersubjektive Ereignisse, durch »nodale« Punkte der Veränderung verknüpft. Das »self inscape« kann auch auf ein Objekt oder in die Umgebung des Subjektes verlegt werden, ein Vorgang, der zentral in der Poesie benutzt wird. Der Schluß liegt nahe – und wird bei Bollas auch gezogen –, daß der Traum ein Selbst ist, eine dieser ästhetischen und kreativen Bewegungen, verbunden durch die Einzigartigkeit und durch den »sense of being«. Hält man sich diese einnehmende Theorie des Selbst vor Augen, so fällt auf, daß sie von Aussagen geprägt ist, die erst auf der Stufe eines Selbsterlebens möglich sind, in dem sich

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affektive wie kognitive Vorgänge reflexiv dem Reflektierenden begegnen. Dabei bleibt das Wissen, daß dieses Selbst (als Selbsterfahrung) auch den höchsten Grad an Nichtgedachtem enthält (Bollas 1995). Literarische Theorien, wie man sie auch nennen kann, vermögen deshalb zu faszinieren, weil sie mit ihren Aussagen immer auch ein Nichtwissen formulieren, derart, daß es essentiell für das Verständnis des Wissens ist. Es wird zu einer fundierenden Größe, die nur umkreist, aber nicht aufgebrochen werden kann und soll. Damit ist auch das Unerklärliche, das Göttliche gerettet. Wenn wir in der Folge Selbstprozessen und Selbstdarstellungen im Traum nachgehen wollen, kann es nicht schaden, zunächst einige nüchterne Unterscheidungen einzuführen beziehungsweise an sie zu erinnern. Die an sich zutreffende Formulierung, daß jeder Traum eine ästhetische Formulierung (mit dem spezifischen Merkmal der Einzigartigkeit) eines »Selbst« ist, eine Ausstülpung eines (vermuteten) generellen Selbst, das alle Gestaltungen verknüpft und dessen Ausgangspunkt ist, führt letztlich zu jener Bestimmung des Traums, wie sie in der Theorie von Fiss (1986, 1996) vorliegt: Ein Traum hat die Funktion einer Selbstkonsolidierung, der Erleichterung der Selbstentwicklung, der Aufrechterhaltung und Restauration (vgl. auch Fosshage 1988). Diese Theorie enthält zutreffende, aber zu generelle funktionale Bestimmungen, die alle mit der Tatsache zu tun haben, daß Träumen ein klassisches Beispiel ist für ein Systemgeschehen, das die Fähigkeit hat, sich selbst zu repräsentieren. Man nennt diesen Umstand Selbstreferentialität (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996). Sie beruht auf der Fähigkeit, eine Art Mikrowelt simulativer Art aufzubauen, die wohl partiell autonom, aber doch, über Rückmeldungen gesteuert, zur psychischen Organisation gehört. Diese Art simulierter Abbildung kann ganz verschieden verlaufen, je nachdem welche kognitiven Elemente verwendet werden (vom statischen Bild, auf das sich das träumende Subjekt bezieht, bis zu komplexen Wechselwirkungen zwischen animierten und nicht animierten Elementen). Durch das Studium der möglichen Prozesse in den Mikrowelten kann eine differenziertere Theorie des »Selbst« entwickelt werden. Eine solche Theorie muß die Tatsache enthalten, daß das Selbst sich stets auch »anderswo« befindet, denn »die Seelenwanderung findet nicht nach, sondern während des Lebens statt« (Noteboom 1993,

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S. 7). Selbstdarstellungen – mit und ohne Selbsterleben – finden sich in unseren Träumen zuhauf, immer wieder in unterschiedlichen Mikrowelten entworfen, als »riesige Käfer mit leergeraubten, abgenagten Gesichtern«, als »roter Staub«, der vom Himmel fällt, als »Menge, die aussah wie Felsen«, als ein »Traum« »zu seinen Füßen«, um einige von Notebooms Bildern anzuführen (Noteboom, S. 35, 70f.). Selbstdarstellungen können sich transformieren, in andere übergehen, sich körperlich verändern. Manchmal sind sie distinkte Figuren, von anwesenden oder abwesenden Attributen gezeichnet, manchmal stecken sie in medialen grenzenlosen Wüsten und Plätzen, die höchstens noch sinnliche und affektive Qualitäten ausstrahlen. Im Unterschied zum Traum sind wir im Alltagsleben in Mikrowelten verstrickt, die unsere Selbstaffekte besser faßbar machen. Goffman (1959) sieht das Selbst als das Endprodukt einer Inszenierung, das in jeder Alltagssituation gemäß deren Bedingungen wieder anders aussieht. Der Akteur entwickelt spezifische Aktivitäten, baut eine Kontrolle über das Geschehen auf, er evaluiert auf eine bestimmte Weise. Das Bild seiner selbst wird über die Reaktionen der anderen Beteiligten erschaffen. Das Selbst ist interaktiv generiert. »Insofern man dieses Bild von dem Einzelnen gemacht und ihm somit ein Selbst zugeschrieben hat, entspringt dieses Selbst nicht seinem Besitzer, sondern der Gesamtszene seiner Handlungen … dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache … der springende Punkt, die entscheidende Frage, ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist« (Goffman, S. 231). Goffman kommt bei dieser Beschreibung »sozialer«, »interaktiver« Ad-hoc-Selbstdarstellungen nicht darum herum, einen quasi ständigen Kern von Selbst im Individuum anzunehmen, den er »character« nennt. Dieses Konzept mag dem »Idiom« der Theorie von Bollas entsprechen. Ein eigentliches Defizit der poetischen Theorie liegt in der vereinfachten Theorie der Selbstaffekte. Sie geht zu sehr von Selbsterfahrungen aus, die bereits den Charakter eines Selbsterlebens haben. Über die Struktur der erlebten Affekte (Gefühle) weiß man sehr wenig. Frijda (1986), der die psychologischen Untersuchungen und Modelle zu dieser Frage ausgiebig dargestellt und kommentiert hat, betont, daß »emotionales Erleben ein Output von

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verschiedenen Phasen des emotionalen Prozesses ist. Es besteht aus dem Gewahrwerden von situationalen Bedeutungsstrukturen, Gewahrwerden von autonomen Arousal oder Desarousal und Gewahrwerden des Standes der Handlungsbereitschaft: beide als Impuls und Verhaltensrückmeldung … Außerdem beinhaltet es Gewahrwerden von Kontrollvorrang oder seine Ergänzung, das Gefühl, überwältigt worden zu sein« (Frijda, S. 463; Übers. von U. M.). Man nimmt in der Affektforschung an, daß affektive Prozesse nicht automatisch auch erlebte Affekte sind. In vielen Fällen verlaufen sie im Subjekt nicht wahrnehmbar und nicht identifizierbar. Angst zum Beispiel kann sich, was am besten empirisch untersucht worden ist, auch nur physiologisch äußern, ohne erlebt zu werden. Solche Affekte gehören zu den prä-attentiven Prozessen. Aus der Untersuchung mimisch kodierter Affekte weiß man, daß diese kurz sein können, manchmal dauern sie nur wenige Sekunden, im Fall der »micro momentary expressions« nur Bruchteile von Sekunden (Haggard u. Isaacs 1966; Ekman u. Friesen 1975; Bänninger-Huber, Moser u. Steiner 1988; Bänninger-Huber 1996). Dennoch werden sie dekodiert und wirken als Auslöser für Evaluationen und Reaktionen beim Interaktionspartner. Man unterscheidet deshalb »occurent affects« (on going affects) von »experienced affects«. Es ist also anzunehmen, daß auch Selbstaffekte occurent sein können und nicht erlebt verlaufen. Damit sind weitere Differenzierungen zwischen Erleben und Bewußtsein eines Affektes noch gar nicht eingeführt. Diese sind deshalb wichtig, weil zum Beispiel die Bildung eines falschen Selbst über die rein kognitive Beobachtung von Affekten am anderen verläuft. Diese erschlossenen und »kopierten« Affekte sind bewußt, aber ohne autonomen Arousal und ohne affektives Erleben (vgl. Moser 1983, 1985). In ähnlicher Richtung geht auch die Unterscheidung von reflexiven und irreflexiven Affekten. Die letzteren sind mit primärem Bewußtsein verknüpft, erstere sind Affekte, die mit einer intentionalen Ausrichtung auf innere Prozesse (auch auf die eigenen Affekte) auftreten und erlebt werden (Lloyd 1989; Edelman 1992).

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■ 2. Traum als simulierte Mikrowelt Das Konzept der Mikrowelt stammt aus der künstlichen Intelligenzforschung (Papert 1980; Lawler 1981). Mikrowelten bündeln spezifische Strategien für spezifische Probleme. Sie arbeiten parallel und miteinander vernetzt. Die Verknüpfungen haben zwei Formen: »must not confound links« und »explicit relational links« (Lawler 1981). Die ersten grenzen Mikrowelten ab (boundary), die zweiten ermöglichen einen Transfer von Strategien und Wissen. Mikrowelten sind aktive Problemlösungsstrukturen, Strukturen, die Probleme suchen, an denen sie sich anwenden können. Sie ergänzen ihren Satz an Wissen ständig und gründen auf diese Weise eine dezentralisierte und parallele Verteilung von Gedächtnis. Es ist erstaunlich, daß dieses Konzept bisher kaum Verbreitung gefunden hat. Es mag sein, daß die viel benützten Raummetaphern auf ein Konzept von Mikrowelt hinweisen. Bündelungen von Strategien und Entwürfe für neue Lösungen finden sich nicht nur in Arbeitsund Denkbereichen, sondern auch in den Mikrowelten der Phantasien, der Spiele und der Interaktionssituationen in verschiedensten intersubjektiven Beziehungen. Auch die Psychotherapie kann als eine Mikrowelt betrachtet werden, die von zwei Personen entwickelt wird. Auch der Schlaftraum ist eine Mikrowelt. Diese entsteht erst dann, wenn ein Kind einen phantasierten Raum generieren kann und wenn es in dieser Welt zu simulativen Vorgängen kommt. Dazu braucht es eine Vorstellungsorganisation mit bestimmten Eigenheiten: Man muß sich selbst wie eine andere Entität, wie ein Ding unter andern sehen können. Diese Phantasie ist belebt und bevölkert durch Dinge, unbelebte und belebte, mit denen man interagieren kann. Mentale (kognitive und emotionale) Zustände können attribuiert werden, sowohl an die Modelle von Selbst als auch an jene von andern. Voll ausgebildet ist diese Art innerer Wirklichkeitssimulator (Bischof 1996) dann, wenn das Kind »theories of mind« über andere und sich selbst ausbilden kann. Dieser Prozeß scheint im Alter von sechs Jahren abgeschlossen (Foulkes 1982). Der Inhalt einer solchen Theorie über psychisches Geschehen ist zu Beginn aber recht beschränkt. Wenn von Simulieren gesprochen wird, hat das seine Bedeutung. Szenen, Prozesse und Beziehungen, innen und/oder außen

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lokalisiert, sind nicht Abbildungen, sondern Abläufe, die affektives Erleben in unterschiedlichem Ausmaß mitenthalten. Sie benützen auch dieselbe neurophysiologische Struktur wie nicht phantasiertes Geschehen mit Realcharakter, »Träume imitieren Erfahrung machen, nicht Erfahrung« (States 1989). Die Abkoppelung von Mikrowelten in der Form von Phantasien erlaubt das Erleben von Situationen und Problemen unter besonderen Bedingungen und unter Ausschaltung von der gerade wirksamen Antriebslage und den direkt wahrgenommenen Umweltgegebenheiten. Entwicklungspsychologisch sind zwei verschiedene Arten der Abkoppelung und der Bildung von phantasierten Mikrowelten zu unterscheiden. Das Kind hat vom zweiten Lebensjahr an eine Theorie der Situation. In der Zeit zwischen fünf und sieben Jahren bildet sich zusätzlich eine repräsentationale Theorie des »mind« (vgl. u. a. Wellman 1990; Perner 1991). Die Unterscheidung deckt sich mit jener von Bischof (1996), der von zweierlei Phantasien spricht. In der ersten Phantasie (mit Primärzeit) gibt es mental entworfene Handlungen, die vorweggenommen werden. Das geschieht aber nur gerade im Bezugssystem der aktuellen Antriebslage. Die Phantasie ist an die Situation der Befriedigung gebunden, und die Rückmeldungen kommen aus einer Art Gesamterleben der vorgestellten Situation. In der zweiten Form der Phantasie (mit Sekundärzeit) werden nicht einfach zukünftige Erledigungszustände simuliert, sondern eine Phantasie, in der auf »Metaebene« Zustände generiert werden, die Variationen von Wünschen, Umweltgegebenheiten und Abläufen erlauben. In diesem Bereich kann zum Beispiel auch ein Selbstmodell simuliert werden, das nicht mit jenem der ursprünglichen Antriebslage übereinstimmt, ja ihm geradezu widersprechen kann. Dazu müssen aktuelle Antriebe unter Hemmung gesetzt werden. Die Zeitskala ist unabhängig von der Wirklichkeit, und das Bezugssystem bleibt von ihr abgeschottet. Die Unterscheidung dieser beiden Arten von Phantasie hat große Bedeutung für die Art der affektiven Rückmeldungen aus der Mikrowelt Traum in die Selbstorganisation. Darüber später. Die Grundeinheit eines Traumes ist die Situation. Dieses Konzept ist in verschiedenen Wissenschaften definiert worden (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996), manchmal unter anderer Bezeichnung (z. B. Szene, Episode, Setting usw.). Edelman (1992) hat eine

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Struktur postuliert, die in ihrer Abstraktheit allen Definitionsversuchen inhärent ist: »Mit Szene meine ich eine raumzeitlich geordnete Menge von Kategorisierungen vertrauter und nichtvertrauter Ereignisse, von denen einige notwendige physikalische oder kausale Verbindungen zu anderen Ereignissen der Szene haben und andere nicht« (S.172).

Für die Segmentierung eines Traumes in eine Situationssequenz gibt es bei Moser und von Zeppelin (1996) eine zuverlässige Handanweisung. Inzwischen ist auch eine »Situationslogik« entwickelt worden (Devlin 1991; Tin u. Akman 1997). jeder Traum besteht aus einer Abfolge von Situationen (mindestens aus einer Situation). Die Situationssequenz hat bildhaften Charakter (in den meisten Fällen sind es visuelle). Das beruht wohl darauf, daß im Traum ein präkonzeptuelles und präoperatives Denken vorliegt. Darum verfährt der Traum präsentisch und konkretistisch. In Bildern kann Information verschiedenster Herkunft, affektive wie kognitive, »zusammengepackt« werden (Bartlett 1932). Subjekt- und Objektmodelle können eher medial oder eher figural dargestellt werden (siehe nächsten Abschnitt). Von daher kann die Situation als eine Informationsagglutination betrachtet werden, die für den Träumer alles enthält, was für ihn präsentisch ist, im Sinne einer »ongoing experience«. Das paßt wiederum zum schon erwähnten primären Bewußtsein. »Das Primäre Bewußtsein ist eine Art ›erinnerte Gegenwart‹« (Edelman 1992, S. 174). Bei Stern (1996) tauchen ähnliche Formulierungen auf: »… der Gegenwartsmoment (stellt) einen Zeitraum (dar), in dem die Form dessen, was jetzt geschieht, erfaßt werden kann« (S. 123). Sobald in einer Situation Informationsverarbeitungsprozesse auftauchen, die ein höheres Kontrollniveau im Traum einführen, verschwindet das präsentische konkrete Prozessieren in Bildern. Es sind dann explizite kognitive Prozesse (Denken im Traum, Traum im Traum) und verbale Dialoge und Monologe dominant. Diese Prozesse, auf die nicht weiter eingegangen werden soll, zeigen auch Nachträglichkeit und Bezüge zur Vergangenheit und Zukunft. Wie aber wird die Abfolge der Situationen gesteuert? Der Abschluß einer Situation, der als Interrupt bezeichnet wird, erfolgt durch eine doppelte Regulierung, die sich der simulierten Affekte

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im Traum und der kontextuellen Regulierung durch Affekte bedient. Affekte sind bei dieser Sicht als Informationen definiert. Die Grundelemente, die zu Beginn eingeführt werden, sind durch die Sicherheitsregulierung ausgelesen (Positionieren von Elementen). Aus ihnen entwickelt sich ein simulativer Prozeß. Um nach einer Problemlösung zu suchen, müssen die alten, konflikterzeugenden Affekte (die positiven wie die negativen) nachsimuliert werden. Das ist der Prozeß der Affektualisterung im Traum. Es braucht dazu gewisse Voraussetzungen. Die affektive Intensität, die wachgerufen wird, darf nicht zu gering sein und nicht zu hoch werden. Schießen die Affekte über, kommt es zu einer Unterbrechung des Traumprozesses. Ist sie zu gering, so bleibt die Entwicklung möglicher und neuer Selbst- und Objektmodelle und entsprechender Wechselwirkungen aus. In diesem Fall muß die Grundstruktur für die nächste Situation neu gesetzt werden. Die beiden Interruptformen, die einen Wechsel und eine Veränderung erzeugen, haben für das weitere Involvement des Träumers unterschiedliche Folgen. Das Sicherheitsprinzip bestimmt also immer den Beginn einer Situation. Es läßt Elemente wegfallen oder setzt neue ein. Das Involvementprinzip, die zweite Form der Regulierung, kontrolliert hingegen die Affektentwicklung innerhalb des Traums. Auf den Vorgang der Produktion der Mikrowelt aus dem sogenannten Traumkomplex und dessen Ableitung aus Gedächtnisinhalten und auslösenden Tagesstimuli wird nicht eingegangen. Eine detaillierte Theorie der Generierung ist bei Moser und von Zeppelin (1996) formuliert.

■ 3. Wo steckt das »Selbst« im Traum? Mediale und figurale Selbstmodelle In jedem Traum, so wurde ausgeführt, steckt ein »Selbst«, das auf Mikroweltzeit entworfen worden ist. Aber wie erscheint dieses Selbst, wie ist es positioniert, wie modelliert? Es findet sich in zwei Formen: als mediales Selbst und als figurales Selbst, die oft, aber nicht immer gleichzeitig auftreten. Beides sind informationstheoretisch betrachtet Selbstmodelle, insofern in ihnen Informationen

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kognitiver und affektiver Art gebündelt werden. Modelle sind informationsverarbeitende Systeme mit »lokaler« Autonomie. Sie können Informationen aufnehmen und weitergeben und in sich selbst speichern. Für den Träumer ist natürlich jenes Selbst, das ihn selbst abbildet wie ein Ding (was in der Literatur Selbstobjektivierung genannt wird), klar erkennbar, sei es als Zuschauer der Traumszenerie, sei es als ein in Wechselwirkungen verstrickter Agent. In der Traumtheorie von Moser und von Zeppelin (1996) wird diese Konfiguration Subjektprozessor genannt. Dieser hat Traumbewußtsein und erzeugt eine Rückmeldung: »So bin ich«. Er bestimmt in seiner Ausprägung potentiell Hoffnungen auf Interaktionen mit Objekten (die ebenfalls eine Prozessorstruktur haben) und mit sich selbst. Dieses Selbstmodell hat zeitliche und situative Begrenztheit. Es ist eine Repräsentation, die für den Träumer für den simulativen Ablauf in dieser Mikrowelt zugelassen wird (sie ist nicht unbedingt akzeptabel und wünschenswert). Selbsterfahrungen sind damit in Umfang und Tragweite vorgegeben, ebenso die affektiven Beziehungen. Dieses Selbstmodell ist eine figurale Entität, definiert durch Attribute, durch eine erkennbare Grenze und durch mögliche Funktionen, die sie ausüben kann. Die Grenzbildung (boundary) ist nur eine der Zugehörigkeitsfunktionen (s. Moser u. von Zeppelin 1996). Falls die figurale Entität auch Objekten mit Subjektcharakter zukommt, finden sich auch analog zum Subjektprozessor Objektprozessoren. Schon hier ist ersichtlich, daß unter bestimmten Umständen ein Objektprozessor ebenfalls ein Selbstmodell ist, der Selbstanteile enthält, die vom Träumer nicht akzeptiert werden oder die man wohl wünscht, aber noch nicht realisieren kann. Man unterscheidet ferner zwischen Person-Prozessoren, Tier-Prozessoren und nicht animierten kognitiven Elementen. Figurale Prozessoren können ganz abstrakt geschildert werden, die alltäglichen Attribute des Selbst sind dann in implizitem Zustand, »default«, da. Im anderen Fall erfolgt die Objektivierung sehr differenziert über viele (oft fremdartige) Attribute (»seltsamerweise sind meine Beine ganz dünn wie Buchseiten«). Die meisten Träume beginnen mit einem Subjektprozessor »Zuschauer« (»ich stehe an einem See und sehe ein am Ufer angelegtes Boot. Niemand ist drin«). In diesem Fall steht neben dem

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Prozessor ein umfassendes kognitives Element, für das nur schwer eine passende allgemeingültige Bezeichnung gefunden werden kann. Es kann eine Landschaft sein, ein Park, eine Straße. Oft mischen sich bereits figurale Elemente hinein (»ein Treppenhaus«, »ein Schloßhof«). Solche Gebilde werden »Place« genannt (Ort, Platz, Situation etc.). Place ist primär medial, als Ganzes nie ein Ding (also keine figurale Objektivierung). In diesem Place stecken Urerfahrungen medialer Art, die mit dem globalen Erleben einer Situation zu tun haben. Eine spezifische affektive Färbung ist darüber gegossen. Place ist Träger von hintergründigen Affekten, von Grundgestimmtheiten, von verdichteten Emotionen, die aus erlebten und phantasierten Situationen stammen. Diese Situationen enthalten ein Selbst wie auch Objekte und Beziehungen zwischen denselben. Es gibt im Place keine figuralen Prozessoren, die Träger von intentionalen Affekten sind, und keine Affekte, die Wechselwirkungen zwischen Prozessoren begleiten oder die in den Prozessoren selbst ablaufen. Die bereits vorhandenen (zumeist architektonischen) figuralen Elemente zentrieren bereits den medialen Charakter, sie verdichten Bedeutsamkeit, Wesen und Gehalt des Wahrgenommenen. Der Traumprozeß kann hier stehenbleiben oder weitere – zunächst adynamische – Kognitive Elemente (CE) einführen. Diese stehen dann lediglich in einer räumlichen Relation zum Subjektprozessor. Je mehr in der Folge Wechselwirkungen auftauchen, um so mehr verblaßt der Place im Traumgeschehen. Was wir im Place vorfinden, ist ein mediales Selbstmodell. Bischof (1990, 1996) und Doris Bischof-Köhler (1989) haben die beinahe in Vergessenheit geratene Unterscheidung von Medialität und Figuralität von Metzger (1954) wieder aufgegriffen. Der Betrachter kann innerhalb eines Bezugssystems die Umgebung als Grund erleben, als »Angetroffenes«, oder ein Element als »Vergegenwärtigtes« intentional fokussieren. Das mediale Selbst ist ein emotionales, nicht abgegrenztes, verdinglichtes Selbst ohne Traumbewußtsein. Place ist ein Ort potentieller Erlebnisse, der zugleich auch frühere Szenen enthält. Man kann es auch anders formulieren: Im medial erlebten Place ist primär eine Grundstimmung enthalten, ein Zustandsaffekt situationalen Ursprungs. Solche Affekte erfahren nur eine geringe Kognifizierung durch Phantasien, die im Place einen Ort repräsentieren. Nebenbei: Eine medial er-

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lebte Situation kann eine affektive Evaluation sowohl von extern zentrierten Wahrnehmungen als auch von Wahrnehmungen von Körpersensationen oder inneren Affekten enthalten. Aus der medialen Präsenz eines Selbst ist keine Ortung möglich. Das erinnert an »Tat vam asi«: Du bist in allem, was es auf dieser Welt gibt, auch in allen Dingen. Die Entfaltung geht in der Medialität nicht über Prozesse der Interaktivität zwischen figural ausartikulierten Prozessoren, sondern bleibt in den Dingen selbst. Im Idealzustand der Meditation soll das Selbst ganz verschwinden. In Place-artigen Situationen findet sich eine Zweiteilung und Parallelisierung zweier Selbstmodelle in einen figural objektivierten Subjektprozessor und in ein medial eingebettetes, nicht identifizierbares mediales Selbst. Demgemäß werden die Rückmeldungen an die Selbstorganisation auch ganz verschieden sein. Selbstaffekte sind Informationen über den Zustand der Selbsterfahrung. Es gibt Rückmeldungen, wie die globale Situation erlebt wird (was Selbstaffekte einschließt, die nicht zu differenzieren sind), und Rückmeldungen über den Subjektprozessor, der gleich einem »Interface« Selbstaffekte aus Wechselwirkungen aufnimmt, als Rückmeldungen aus dem Traumprozeß, und sie in einem zweiten Schritt an die Selbstorganisation weiterleitet.

■ 4. Kognitive Elemente (CE) Features, Attribute, Wechselwirkungen, Grenzfunktionen, Identität Kognitive Elemente (CE) sind Vorstellungsentitäten. Wir definieren sie etwas genauer als Modelle, die den Charakter von Prozeßsystemen haben. Sie sind Träger von Prozessen, die sie miteinander verknüpfen und diese Beziehungen aufrechterhalten oder verändern. Andere Prozesse sind intrinsischer Art und erhalten und/ oder verändern die eigene Struktur. Affektive und kognitive Information ist in spezifischer Weise gebündelt. Insofern sind sie Gedächtniseinheiten. Im Rahmen der »multiple code theory« von Bucci (1997a, b) sind sie auf der nichtverbalen, symbolischen Ebene

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kodiert, mit Referenzen zu sensomotorischen Informationsverarbeitungsprozessen einerseits und Referenzen zu verbal symbolischen Kodiersystemen andererseits. Auf letzterer Ebene erhalten die CE ein verbales Label oder eine verbale Beschreibung. CE sind in ihrer Aktivität unabhängig von Sprache und vor dem Spracherwerb entstanden. Die CE von Träumen sind dem präkonzeptuellen Denken unterworfen (Piaget 1926, 1946). Ein Objekt ist in dieser Theorie eine Konfiguration, deren Eigenschaften direkt abhängig sind von den Aktionen, an denen es beteiligt war oder in die es einbezogen wurde. Darum können CE auch Wechselwirkungen repräsentieren (und nicht nur ein Ergebnis, eine Folge davon). Objekte sind Endprodukte von Präkonzepten, die erst sekundär eine Wahrnehmungsidentität erhalten. Sie repräsentieren auch immer affektive Ereignisse, die Bestandteile der Situation waren, aus der das Objekt sich abgeleitet hat. Ein einziges Attribut eines CE kann dessen Identität für eine gewisse Zeit an einem gewissen Ort bestimmen (vgl. auch Mounoud 1988). Jeannine, die Tochter von Piaget, ist im neuen Badeanzug ein anderes Kind als Jeannine in einem neuen Kleid (Piaget 1946). Um diese etwas komplex gewordenen Eigenheiten eines CE zu klären, folgt nun eine explizite Darstellung der Struktur des CE. Jedes CE hat eine Reihe von teils intrinsischen, teils extrinsischen Properties (Eigenschaften). Zu den intrinsischen gehören die morphologischen und die assoziativen Features. Zu den extrinsischen werden die Attribute und die Wechselwirkungen gezählt. Ein CE ist ferner durch Zugehörigkeitsfunktionen definiert, die sein System abgrenzen und dessen Identität definieren. 1) Assoziative Features sind Verknüpfungen mit Bestandteilen von persönlichen Episoden der Vergangenheit oder des im Traum dargestellten Konflikts. Taucht zum Beispiel als CE eine Kuh auf, so kann es sein, daß die Verbindung einer Episode gilt, in der die Träumerin als Kind zugeschaut hat, wie der Tierarzt im Stall mit seinem Arm in den Darm einer Kuh eingedrungen ist. Oder es könnte auch eine Episode denkbar sein, in der das Kind große Angst vor den Hörnern einer Kuh hatte, die auf es zukam. Assoziative Features sind dem Träumer nur als implizites, nicht im Traum ausformuliertes Wissen bekannt. Sie tragen allemal eine affektive

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Information, die nicht voll im Traumgeschehen erlebt werden kann, außer es kommt zu einem interaktiven Geschehen, in das der Subjektprozessor oder ein Tier (vielleicht sogar eine Kuh) verwickelt ist. Die Assoziationstechnik der Psychoanalyse versucht, diese Features zugänglich zu machen. 2) Morphologische Features sind Eigenschaften, die im allgemeinen einem CE zugeschrieben werden. Für eine Kuh sind es zum Beispiel Milch, Gras, Kauen, »Schwanz herumwerfen«, Geruch, »hinten etwas herauslassen«, Horn und so weiter. Morphologische Features sind intrinsisch. Der Träumer versteht nicht, daß sie die Wahl des betreffenden CE bestimmt haben. Der funktionale Symbolismus (French 1954) geht von diesen morphologischen Features aus. Wasser zum Beispiel kann verschiedene Funktionen aus verschiedenen Erfahrungskontexten haben. Man kann darin ertrinken, man kann es trinken, man kann urinieren, man reinigt damit usw. Nur der Kontext der Wechselwirkungen, in die das im Traum generierte CE Wasser verknüpft ist, kann entscheiden, welche dieser Features vom Träumer benützt worden sind. Der funktionale Symbolismus erinnert an die Ausführungen Bachelards (1942) über die poetische Imagination (»la poesie de la matière«). Sie sucht nach den Bedeutungen, die in einer Materie liegen können, und setzt sie in Sprache um. Aus Features werden poetische Bilder, die natürlich gleichzeitig auch aus assoziativen Features gespeist werden können. Die affektiven Qualitäten dieser Features verleihen der Poesie auch jene Ausstrahlung, die vom Leser aufgenommen wird. 3) Attribute sind externalisierte, objektivierte Features eines CE, die explizit wahrnehmungsmäßig fokussiert werden. Für die Struktur des Traumprozesses sind die Liste von »default« Attributen nicht von Bedeutung (Stuhl z. B. hat die Attribute: Beine, Sitzfläche usw.). Diese werden in der Traumerzählung auch nicht erwähnt, obwohl sie Bestandteil der Wahrnehmungsidentität »Stuhl« sind. Hingegen werden für den Träumer bedeutungsvolle Attribute genannt. Sie reichern die Identität eines CE durch spezifizierende Attribute an. Attribute weisen auf zukünftige Interaktionen in späteren Situationen des Traums hin. Sie indizieren aber auch Veränderungswünsche, die an einem Subjektprozessor oder stellvertretend an einem Objektprozessor plaziert werden. Zur Attribuierung gibt

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es den gegenläufigen Prozeß der Anonymisierung (ein Mensch, viele Badende, eine Gruppe von Menschen). Träume mit anonymisierten Prozessoren sind zumeist an Interaktionen ärmer. 4) Wechselwirkungen sind Verknüpfungen mindestens zweier figuraler CE oder eines CE mit sich selbst oder mit Teilen seiner selbst. Wechselwirkung ist die allgemeinste Bezeichnung für Verknüpfungen, die unterschiedliche Qualitäten haben können. Mit Interaktion werden physikalische, kinästhetische und intentionale Vorgänge bezeichnet. Gewisse Interaktionen sind nur zwischen personalen CE möglich (»Intersubjektivität«). Die Wechselwirkungen sind Folgen von Features und Attributen der beteiligten CE, wobei den Attributen eine viel größere Potentialität für eine bevorstehende Interaktion zukommt. Eine Kuh zum Beispiel besitzt eine Reihe möglicher Wechselwirkungen, die üblicherweise von einer Kuh prozessiert werden. Sie kann eine Blume fressen, sie kann sie auch zertreten, sie kann muhen und mitten auf den Fußweg einen Fladen setzen. Die Kuh kann aber auch in gewissen Mikrowelten mit einer Blume reden oder Schlittschuhfahren (was inzwischen bereits die Werbung benützt). Die Varianz ist groß, wird aber nur selten voll ausgenützt, weil ein großer Teil der Wechselwirkungen nicht zur üblichen Wahrnehmung einer Kuh paßt und deren Wahrnehmungsidentität verletzen würde. 5) Die Identität eines CE wird erst am Ende seiner Generierung für die Traumsituation vollständig. Eine erste wichtige Bedingung (im präkonzeptuellen Denken des Traums) ist wohl die, daß alle Features eines CE dieselbe Herkunft aus den affektiven Komponenten eines Traumkomplexes haben. Affektiv unterschiedlich gefärbte Features führen zu Widersprüchen und erzeugen mitunter unterschiedliche, nicht zusammenpassende Präkonzepte und erschweren die Identitätsbestimmung des CE. Das kann umgangen werden, indem Features mit gleicher affektiver Qualität in nur ein CE eingehen, widersprüchliche auf verschiedene CE verteilt werden. Bleiben widersprüchliche Features in einem CE bestehen, so gelingt am Schluß die Herstellung einer Identität mit Wahrnehmungserfahrung nicht. Hier ein Beispiel eines solchen CE:

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»Herziges Pelztier wie ein Känguruh, aber nur so groß wie ein Hase. Es ist Hagenbach. Es ist zwei Meter groß und springfliegt. Es ist zusammengesetzt aus vier Tieren, er ist hinten scheußlich und gefährlich.«

In diesem Tier sind die nicht vereinbaren affektiven Features je einzeln bis zur Attributenebene kognitiv formuliert worden, eine Wahrnehmungsidentität besteht nur zu Teilen des gesamten CE. Auf diese Weise entstehen die bizarren Traumelemente, die nicht, wie die meisten CE, mit einem verbalen Label bezeichnet werden können. Nur eine mühselige Beschreibung aller Attribute hilft. Die Identität des CE wird durch Bündelungsfunktionen (auch Zugehörigkeitsfunktionen genannt) gewährleistet. Identität kann einmal definiert werden durch die Zugehörigkeit von Eigenheiten (auf Feature- wie auf Attributebene), die eine affektive Reaktion der Einheit und Stabilität auslösen. Man kann diese Eigenheiten in »Kern-« und »Hilfseigenheiten« einteilen. Erstere sind unabdingbar (mindestens eines) notwendig, letztere sind als zusätzliche angebunden. Hilfsattribute können in Transformationen leicht das TrägerCE wechseln (das wäre eine Definition des Projektionsprozesses). Durch die Kern-Attribute bleibt die Identität gewahrt. Bei einer Identitätsverschmelzung zweier CE werden Kern-Attribute geteilt, die Grenze partiell aufgehoben. In psychotischen Störungen kann vorübergehend die Identität des Selbst völlig verlorengehen, die definierenden Kern-Attribute sind nicht mehr die eigenen. Es wird dann das Kern-Attribut eines objektalen CE ausgeliehen (Leihidentität). Identität hat man in diesem Fall nur, indem man sich als den andern, den Träger der KernAttribute, fühlt. Die Grenzfunktion (boundary function) stammt aus dem Erleben einer Körpergrenze. Sie dient als Metapher für die Zugehörigkeitsfunktion im mentalen Bereich für einzelne CE, aber auch für ganze Verbände von CE. Sie definiert innen und außen und lokalisiert Inhalte. Sie ist ein zentrales, nichtsprachliches Präkonzept (Johnson 1987; Lakoff 1987, 1993). Die Haut zum Beispiel wird als Grenzorgan erlebt und hat deshalb auch Eingang in die Beschreibung mentaler Modelle gefunden. Bei Anzieu (1985) ist die Haut überdies als Umhüllung und Einbettung zum allgemeineren »envelope« geworden. Hartmann (1991, 1996) benützt in der Beschreibung der »boundary« die Me-

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tapher der Hautgrenze eingehend. »Dichte (thickness) oder Durchlässigkeit (thinness) der Grenzen bezieht sich auf eine Dimension der Persönlichkeit, die sich auf den Grad der Abgrenzung oder Unterteilung (Dichte) versus Flüssigkeit oder Verschmelzung (Durchlässigkeit) in allen mentalen Funktionen bezieht« (1991, S. 165). »Dünnheit« korreliert hoch mit der »Offenheit für Erfahrung« (McCrae 1994). Das Bild der Grenze steht dem Erleben der Identität näher, die Zugehörigkeitsfunktion beschreibt mehr einen Prozeß der kognitiven Kategorisierung. Die Grenzfunktion regelt das Verhältnis zu andern CE. Sie schließt zum Beispiel Vermischungen und Verwechslungen aus. Damit sind wir wieder bei der »do not confound« Funktion von Lawler (1981) angelangt. Alle Wechselwirkungen sind auf Grenzen bezogen. Sie verlaufen von der Grenze weg, auf der Grenze selbst, über die Grenze ins Innere eines CE oder vom Innern eines CE nach außen oder ausschließlich im Innern. Es gibt andererseits Vorgänge der Durchlässigkeit, des Austausches (wiederum Lawler 1981). Bollas (1995) beschreibt mit dem Konzept der Dissemination ähnliche Prozesse. Assoziationen zu einem Traum – den er als Einheit mit Grenze (er hat einen Anfang und ein Ende) betrachtet – sind Wege, Trajektorien, auf denen die Einheit des Traums verlassen wird. Gibt es einen ähnlichen Prozeß bei einem einfachen CE? Ist er notwendig, um in einer nächsten Situation ein ganz neues CE mit anderer Identität zu bilden? Es gibt auch eine Unfähigkeit zur Dissemination, zur Veränderung von Grenzen eines CE. Bollas (1995) nennt sie »Verschließen«, »closing«. Wir kennen diese Unfähigkeit in der oft beachtlichen, hartnäckigen Stabilität eines Selbstbildes und/oder der Unfähigkeit, wahrzunehmen, daß ein Objekt sich verändert hat. Es sei kurz darauf hingewiesen, daß es noch weitere kognitive, identitätsbildende Funktionen gibt. Eine davon ist bei Moser und von Zeppelin (1996) beschrieben worden. Es ist die funktionale Funktion. Diese beruht auf der Erfahrung, daß Objekte und Teile dieser Objekte zusammen in der Eigenregulierung und in der Regulierung von Vorgängen in der Umwelt eine Funktion ausüben. Ein Auto zum Beispiel hat Attribute spezifischer Art: Motor, Räder, Bremse, Steuerrad und so weiter. Diese führen zu einer Bündelung, zu einem Gesamtmodell CE »Auto«. Dasselbe gilt auch für

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das CE »Körper«. Diese Funktion beruht auf bereits höheren kognitiven Konzepten, die in Verbänden von Organen und Funktionen denkt. Die Grenzfunktion ist ursprünglicher.

■ 5. Selbstorganisation, Selbstmodelle, Selbstaffekte Was unterscheidet ein Selbstmodell von einem Objektmodell? Was für zusätzliche Attribute und Eigenheiten hat das erste? Die Frage ist, wenn auch nicht auf den Traum bezogen, in der Literatur längst in aller Breite diskutiert worden. Es gibt eine präkognitive Selbsterfahrung, deren basale Funktionen im nichtsymbolischen, senso-motorischen Bereich liegen. Zum Teil ist sie neurophysiologisch definiert worden, zum Teil entwicklungspsychologisch. Edelman (1992) formuliert etwas lapidar: »Innen- oder Selbstsysteme entwickeln sich aus der Wechselwirkung zwischen dem Limbus und der Hirnrinde. Das unterscheidet sie von den reinen Außenweltsystemen der Rinde« (S. 176). Die Organisation einer körperlichen Identität ist bereits durch die Organisation des Nervensystems vorgebildet. Die nervöse Organisation enthält Hirnregionen, die jeweils spezifische Informationen erhalten und analysieren. Es gibt Informationen über Ereignisse an der Körperoberfläche (z. B. Schmerz), über die Position und Bewegung von Körperteilen zueinander (propriozeptive Information) und über die Orientierung des Körpers im Gravitationsfeld (vestibuläre Information). Andere Bahnen und Regionen sind für die Übermittlung und Analyse von visuellen, auditorischen und olfaktorischen Signalen, die fern von der Körperoberfläche lokalisiert werden, zuständig. Die Verarbeitung all dieser Informationen ergibt eine Form von körperlicher Identität und deren Abgrenzung. Diese Erkenntnis mag auch Freuds Aussage zugrunde liegen, daß das Ich einem Körper-Ich aufliegt. Diese präkonzeptuelle, »somatische« Identität wird auf der kognitiv-affektiven Ebene als eine kontinuierliche Körpererfahrung und als eine Körperabbildung (Körperschema) abgebildet, wobei innere Informationen von äußeren getrennt sind. Einem Objekt werden dann dieselben Qualitäten zugeschrieben.

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Die kognitiv-affektive Selbstidentität umfaßt neben der Körpererfahrung ein Bündel von affektiven Erfahrungen, die Selbstaffekte, sowie spezifische Attribute des CE-Selbstmodells. Diese Attribute machen das CE zu einem Prozessor. Das Selbstmodell hat das Attribut »lebendig« (animiert). Es besitzt die Fähigkeit, Agent zu sein, das heißt, etwas bewegen zu können, oder Objekt eines anderen Agenten zu sein. Diese Attribute können allerdings auch einem Objektmodell zugeschrieben werden. Es ist deshalb auch das Konzept Objektprozessor eingeführt worden. Objektmodelle sind sehr oft auch Tiere oder deanimierte Dingobjekte. Bei einem Selbstmodell ist dies nur äußerst selten (»ich bin eine Pflaume, die vom Baum fällt, überreif«), zum Beispiel im Traum oder in veränderten Bewußtseinszuständen. Die Verifizierung »Ich bin ich« geht über die Selbsterfahrungen. Selbstaffekte sind Rückmeldeinformationen aus den verschiedensten Wechselwirkungen, aber auch schon aus der Tatsache, daß ein Selbstmodell in einer Mikrowelt positioniert worden ist (»Dasein«, »being«). Diese Rückmeldungen können Bestandteil kommunikativer Affekte oder innerer (struktureller) Affekte sein. Jede Mikrowelt hat Selbstmodelle, die von einer Selbstorganisation aus »gesetzt« werden. Die Selbstorganisation hat eine innere Struktur und eine Repräsentation in Form eines globalen Selbstmodells. Dieses zentrale Selbstmodell ist Träger der Kontinuität, der Kohärenz, der synchronen und diachronen Identität. Eine Mikrowelt unterscheidet verschiedenartige Selbstmodelle, die nur teilweise mit dem zentralen Modell übereinstimmen. Gemäß der Simulationshypothese sind strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bereichen zu erwarten. Das muß beachtet werden, wenn in der Folge über das Verhältnis von Selbstorganisation und Subjektprozessoren Überlegungen angestellt werden. Mit Selbstorganisation wird die Regulierung der gesamten mentalen Organisation bezeichnet. Sie enthält zwei Bereiche. Ein erster überwacht und sichert die Stabilisierung des mentalen Geschehens. Moser, von Zeppelin und Schneider (1991) nennen diesen Bereich »stabilization context«. Er evaluiert ständig die inneren Regulierungen, die sich auf viele parallele Funktionsbereiche verteilen. Treten Disruptionen auf, so erscheinen negative Affekte, zum Beispiel Affektlagen des Zerfalls, der Zerstörung, des Verlu-

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stes des Selbstbewußtseins, der Leere, der Panik, der Spaltung usw. Das positive Funktionieren führt zu Rückmeldungen positiver Art: »Erleichterung, Sicherheit, Kohärenz, Identität« und so weiter. Das globale Selbstmodell, sofern es im Traum modelliert wird, kann diese Affekte darstellen. Der zweite Bereich der Selbstorganisation enthält Prozeduren der Reparatur des ersten Bereiches sowie jener Bereiche, die eine Disruption hervorgerufen haben. Dazu kommen Prozeduren der Veränderung der gesamten Organisation (»reorganisation context«, Moser, von Zeppelin u. Schneider 1991). Diese zweiteilige Selbstorganisation enthält zum einen Selbstaffekte, die intern als Informationen zwischen den beiden Bereichen verlaufen (Selbstgefühle, in Alltagssprache). Zum andern empfängt sie laufend Informationen aus anderen Regulierungsbereichen, zum Beispiel aus der Beziehungsregulierung. In den verschiedenen Mikrowelten der realen Beziehungen und der Phantasie werden ständig Subjektprozessoren »gesetzt«, in den phantasierten simulativ. Das Setzen dieser Subjektprozessoren und deren Erfahrungen in den Mikrowelten werden rückgemeldet. Das ist die zweite Gruppe von Selbstaffekten. Es wurde bereits in Abschnitt 2 gesagt, daß eine Mikrowelt, sofern sie simulativ ist, in sich auch wieder Rückmeldungen (diesmal an den Subjektprozessor) enthält. Die Selbstaffekte lassen sich am besten gemäß den im Traumprozeß unterscheidbaren Verhaltensebenen des Subjektprozessors einteilen. Es sind dies die Positionierung, das Moving, die Wechselwirkung der Selbstveränderung sowie die Wechselwirkung konnektionistischer Art mit einem anderen Kognitiven Element, sowie das Displacement (ausführliche Beschreibungen siehe Moser u. von Zeppelin 1996).1

1 Bei diesen Unterscheidungen ist es nicht leicht, zum Teil unmöglich, eindeutige sprachliche Benennungen zu finden. Alle Rückmeldungen werden Selbstaffekte genannt. Selbstaffekte sind somit der affektive Anteil jeglicher Selbsterfahrung. Präkognitive Selbstaffekte werden Selbstempfindungen genannt. Selbsterleben kommt als Bezeichnung den Selbstveränderungen und den Wechselwirkungen zu. Für weitere Differenzierungen fehlt allerdings der Wortschatz. Selbstgefühl meint eine reflexive Art des Selbsterlebens, die sich von einer irreflexiven abhebt.

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■ 1. Positionierung: Selbstaffekt »being« Jeder Subjektprozessor wird in einem »Positionsfeld« gesetzt. Neben anderen gesetzten CE gerät er in eine spezifische Umwelt, die zunächst durch rein räumliche Verhältnisse zwischen allen CE geprägt ist. Die affektive Selbsterfahrung ist die eines »Daseins in besonderer Form«. Affekte dieser Art nennt man am besten nach De Riveras Emotionstheorie (1977) being-Affekte. Wenn der Subjektprozessor nicht in auffälliger Weise verändert ist und nicht vom Alltagsmodell Selbst abweicht, werden diese Affekte im Traum kaum registriert. Hat hingegen der gesetzte Subjektprozessor einen abgetrennten Arm oder schmilzt er dahin, dann wird diese in Attributen ausgedrückte Veränderung auch gespürt (veränderte Körperempfindung, begleitet von Angst, Entsetzen, Schrecken). Was medial anwesende Selbstmodelle angeht, so sind die Selbstaffekte nicht als eigene erfahrbar. Sie sind dann Bestandteile jener affektiven Rückmeldung, die global der Situation zukommt. Diese kann, aber muß nicht Zustandsaffekte enthalten. Die Medialisierung dient oft geradezu der Abwehr eines Selbsterlebens. Die grundlegende Wechselwirkung ist die der räumlichen Distanz und der räumlichen Verhältnisse.

■ 2. Moving Der Subjektprozessor kann sich im Positionsfeld auch bewegen (räumliche Veränderung). Das erzeugt eine raum-zeitliche Trajektorie. Der Subjektprozessor schafft sich die Ausgangsbasis für eine neue Situation, ohne sich selbst zu verändern und ohne in Wechselwirkungen zu geraten. Man kann diesen Prozeß mit einer Rochade vergleichen, Verschiebungen durch Bewegung verändern die Wahrscheinlichkeit von Vermeidungen oder Annäherungen in bezug auf ein Interaktionsfeld. Die Rückmeldung aus der Bewegung ist mit dem Erleben verbunden, in Raum und Zeit immer der gleiche zu sein. Man könnte von einem Selbstaffekt sprechen, der aus der diachronischen Identität stammt. Dies ist der Selbstaffekt des Identitätserlebens.

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■ 3. Relationen der Interaktion Mit der ersten Wechselwirkung in Form einer Interaktion zwischen CE oder eines Elementes zu sich selbst oder zu einem Teil seiner selbst eröffnet sich das Interaktionsfeld. Interaktionen sind von spezifischen Regulierungen bestimmt, deren Funktion die Veränderung und/oder die Wiederherstellung eines Zustands ist. Diese Prozesse haben Verlaufscharakter. Zwischen CE entstehen Verknüpfungen verschiedenster Art, ganz unabhängig vom Inhalt dieser Interaktionen. Die Art dieser Regulierung hängt stark vom Ausmaß der Affekte ab, die als Träger der Information in dieser Regulierung gesehen werden. Wenn sich die Aufmerksamkeit des Träumers auf Interaktionen zentriert, wird Place nicht mehr beachtet. Er ist höchstens noch »default« da. Das entspricht dem Übergang der affektiven Information mit großer Verdichtung und geringer Gebundenheit zu intentionaler Affektivität in einer expliziten Relation. Die möglichen Verknüpfungen zwischen CE sind sehr groß. Die Belebtheit der beteiligten Elemente spielt eine Rolle sowie die innere Strukturiertheit der CE. Physikalische, kinästhetische und interpersonale Relationen sind zu unterscheiden. Auf die Beschreibung weiterer wird verzichtet. Es können drei Gruppen von Selbstaffekten unterschieden werden. ■ 3.1 Selbstveränderungen In dieser Interaktion verändert sich der Subjektprozessor innerhalb einer Situation. Es sind selbstbezogene Aktivitäten (»ich versuche meine große Zehe in den Mund zu nehmen«) oder Prozesse im Subjektprozessor selbst (»mein Bauch beginnt mit großem Getöse zu platzen«). Eine dritte Version zieht Objekte zur Veränderung mit ein (»ich wasche mich mit einer wohlduftenden Seife«). Eine direkte Veränderung des Körpers zeigt folgendes Beispiel (»es wachsen mir große Flügel«). Die einbezogenen Objekte sind zwar eigenständige CE, sie haben aber eine besondere Funktion. Sie setzen neue Attribute oder Fähigkeiten (oft auch magische). Die Rückmeldung des Being ist auch hier vorhanden, verstärkt sich aber durch die Selbsterfahrung Veränderung, die positive oder negative Folgen mit sich bringen kann.

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■ 3.2 Konnektionistische Interaktionen Sie bezeichnen eine Verknüpfung zweier Systeme (CE), eines Subjektprozessors mit einem personalen Objekt (Objektprozessor) (»ich stoße mit einer Frau zusammen«), (»eine Gruppe Jugendlicher umstellt mich«) oder mit einem unbelebten Objekt (»ein Stein trifft meinen Kopf«), (»ich räume einen umgestürzten Baum auf die Seife«). Das Subjekt kann sich als Zentrum einer Aktivität erfahren. Es kann aber auch Objekt von nicht selbst verursachten Ereignissen und Einwirkungen eines CE sein. Beides sind Dimensionen einer Selbstempfindung, die als aktiver oder passiver Agent umschrieben wird (vgl. Stern 1985, was die erste Form anbelangt). Das Erleben, Agent zu sein, ist eine wichtige Komponente der Selbstaffekte. Im Fall einer interpersonalen Relation, in der beide CE Prozessorencharakter haben, mit entsprechenden Innenwelten, Intentionen, Wünschen und Meinungen, kann das Subjekt sich als Subjekt oder Objekt fühlen. ■ 3.3 Verschiebung (»displacement«) In vielen Träumen wird die Verknüpfung von CE (seien sie unbelebt oder nicht) so gestaltet, daß der Subjektprozessor Zuschauer eines Geschehens ist. Dabei können alle Arten von Wechselwirkungen im beobachteten Feld auftreten. Das Selbstmodell ist in diesem Fall aufgeteilt in einen passivierten Subjektprozessor (Zuschauer) und in ein Interaktionsfeld in Form einer Szene, in der ein verstecktes Selbstmodell liegt. Interaktionen, die von einem Subjektprozessor nicht getragen werden, sind in dieses Feld verschoben worden. Auch Selbstveränderungen sind auf diese Weise verschiebbar (»ich sehe, wie ein Tier sich selbst die Pfoten abfrißt«). Bei personalen Objektprozessoren ist das plausibel. Die Rückmeldung gleicht dann einer emphatischen Identifizierung mit einem oder den Objekten der Szene. Der Selbstaffektanteil ist aber nur indirekt erlebbar. Bei nicht animierten CE wird sie ganz fehlen (»ein Geschoß durchbricht die Hausmauer«). Verschiebungen dienen der Affektabwehr, insbesondere der Selbstaffekte. Der Träumer will nicht mit der Interaktion zu tun haben. Damit sind die wesentlichen Selbstaffekte als Rückmeldungen innerhalb des Traumgeschehens beschrieben worden. Der Subjektprozessor dient als Schaltstelle. Er bündelt die Informationen und leitet

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sie an die Selbstorganisation weiter (es sei daran erinnert, daß diese Organisation als Parallelsystem verschiedener Regulierungen vorzustellen ist). Die Selbstaffekte innerhalb des Traums sind irreflexiv. Sie können »occurent« verlaufen oder im Traumbewußtsein »erlebt« werden (primäres Bewußtsein). Sobald der Träumer sich im Traum mit seinen affektiven Prozessen beschäftigt, kommt es zu expliziten, reflexiven Affekten (»ich habe dauernd Angst«), (»ich hasse ihn«), (»ich finde ihn ekelhaft«). In diesen Beispielen wird der Affekt im Traum direkt abgebildet in Form einer nachträglichen Evaluation einer Situation. Diese expliziten affektiven Reaktionen weisen auf eine höhere Kontrollebene des Traumgeschehens hin. Es kommt ihnen ein anderes Bewußtsein und somit ein anderes Erleben des Affekts zu. In sehr vorsichtiger Weise kann von einer Reflexivität, von einem sekundären Bewußtsein gesprochen werden. Dieses kann aber noch nicht einer Metareflexivität (Lloyd 1989) gleichgesetzt werden, nämlich einer sich intentional auf den Affekt beziehenden Haltung. Diese Reflexivität findet sich nicht im Traum, sondern erst in der Selbstorganisation, die selbstaffektive Rückmeldungen aus der Mikrowelt in sich verarbeitet. Hier könnte von einem »zentralen« Selbstgefühl gesprochen werden. Es bleibt damit ein Problem, das ich hier ungelöst liegen lasse: Die Sprache stellt eine Reihe von Worten zur Kennzeichnung von Selbstaffekten zur Verfügung. Es gibt Selbsterfahrung, Selbstempfindung, Selbsterleben, Selbstgefühl, Selbstwertgefühl und anderes mehr. Viele Affekte müssen bereits »umschrieben« werden (»ich bin stolz auf mich«) (»ich fühle mich voller Kraft und Energie«). Schuld- und Schamgefühle können auch zu den Selbstgefühlen gezählt werden, insoweit sie strukturelle Affekte der Selbstbewertung sind. Die verbalen Etiketten eignen sich nur bedingt für Kategorisierungen innerhalb einer Theorie der Selbstaffekte. Es ist zu vermuten, daß diese Bezeichnungen Wortlabels sind, die aus fragmentarischen Modellen der Alltagspsychologie entstammen, die sich zwar überlappen, aber im Alltagsgebrauch keine Probleme bereiten. Theorien, die »in der Sprache« bleiben, sind da entschieden im Vorteil.

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■ 6. Zusammenfassung und Übersicht 1) Der Schlaftraum ist eine Mikrowelt phantasierter Art. 2) Mikrowelten bilden sich parallel. Sie können aktiviert sein oder nicht. Sie bündeln Funktionen und Prozeduren mit gemeinsamer Zielsetzung (Problemlösung im Traum, Beziehungsregulierung in der »realen« Umwelt, Selbstveränderung usw.). Sie haben Grenzen (boundaries), die die Funktion haben, eine Verwechslung auszuschließen (do not confound), sowie gezielte Vernetzungen (explicit relational links) für Informationsübertragung. 3) Mikrowelten werden aktiviert, ausgebildet und reguliert von einer globalen mentalen Organisation, die ihrerseits wieder aus einer Gruppe paralleler Regulierungskontexte besteht. Diese wird abgebildet in einem globalen Selbstmodell, Selbstorganisation genannt. Die zwei wesentlichen Kontexte sind Selbststabilisation und Selbstreorganisation (Selbstveränderung). 4) Der Traum gehört zu den phantasierten Mikrowelten. Er simuliert Erfahrung und enthält kognitive und affektive Prozesse, die abgekoppelt von sensomotorischen Regelungen konkreter Beziehungen verlaufen. 5) Der Traum ist eine kurzfristig entworfene Mikrowelt mit eigener Zeit und einer Sequenz von Situationen. 6) Die Ergebnisse des Traumprozesses werden situationsweise an die Selbstorganisation zurückgemeldet. Diese Rückmeldung wird als affektive Information postuliert und Selbstaffekt genannt. Die Information wird verarbeitet und führt zu Veränderungen in der Positionierung der Traumelemente. 7) Der Traum enthält Kognitive Elemente (CE) und Wechselwirkungen zwischen diesen Elementen (WW). Die entsprechenden Relationen sind: Position und Distanz, Bewegung, interaktive Relation (mit Objekt oder mit sich selbst), Verschiebung. Personale Kognitive Elemente werden Subjekt- und Objektprozessoren genannt.

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Abbildung 1

8) Das simulierte Geschehen enthält Selbstmodelle sowie Selbstaffekte, die in den Selbstmodellen selbst oder in den Wechselwirkungen ablaufen können. 9) Das Geschehen in der Mikrowelt wird durch affektive Information gesteuert und enthält in sich selbst simulativ affektive Information (s. Abb. 1). Selbstaffekte sind Rückmeldeaffekte zur Evaluation des Eigenzustandes, in beiden Formen der genannten affektiven Information. 10) Es werden zwei Formen von Selbstmodellen unterschieden, medial eingebettete ohne Selbstobjektivierung und explizite figurale, objektivierte (Subjektprozessoren). Es existieren auch »semifigurale« Übergangsformen. Hat der Traum ein interaktives Feld entwickelt, spielt das mediale Selbstmodell keine Rolle

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mehr. In Place-Situationen ist der figurale Subjektprozessor passiviert. 11) Selbstaffekte bezeichnen den affektiven Anteil der Information der Selbsterfahrung im Traum, sei es bei der Positionierung der Traumelemente oder bei der Rückmeldung von Erfahrungen im Traumprozeß (nach jeder Situation). Diese Selbstaffekte können »occurent«, »irreflexiv«, gelegentlich explizit reflexiv (nachträglich) auftreten. 12) Aus der besprochenen Traumtheorie ergibt sich folgende Gruppierung der Selbstaffekte:

Selbstaffekt

occurent irreflexiv reflexiv

l.) Affekte des »Seins« (»being«) – Rückmeldung aus dem Positionsfeld – Zustand des Subjektprozessors (SP) (Kohärenz, Intaktheit, Defizienz) 2.) Affekte der Identität – Rückmeldung aus Moving – diachronische Identität – nicht interaktiv – (»Identitätsgefühl«) 3.) Affekte der Interaktivität – Rückmeldung aus Wechselwirkungen, Interaktivität (nntersubjective relatedness«) – Intentionale Bezogenheit – konkrete Beziehung des SP zu einem Objektprozessor, zu einem CE animiert, zu einem Dingobjekt – Initiierung und/oder Evaluation einer Veränderung 3.1) Agency – Gefühl des Bewirkens, Urheber zu sein einer Veränderung im andern (»active agency«)

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– Absicht, Objekt zu sein in einer Einwirkung von außen (»passive agency«) – nur bei physikalischen und kinästhetischen Interaktionen – Rückmeldung ohne affektive Kommunikation 3.2) Kommunikativer Selbstaffekt – Evaluation des SP aus einer personalen Interaktion – Selbstanteil der affektiven Beziehungsregulierung (der kommunikativen Affekte) 3.3) Selbstaffekt im Selbstbereich des SP – Evaluation von Selbstveränderungsprozessen – Selbstaffekte im engeren Sinn – Prozesse im eigenen System, ohne äußere Einwirkung aus Interaktionen – Wechselwirkung SP-Teil von SP – Evaluation von Körperveränderungen – Evaluation von unüblichen Körperlagen – Evaluation von inneren Prozessen 3.4) Selbstaffekt bei Veränderung mit Hilfe von Dingobjekten (»auxiliary objects«) – Kleider, Schmuck – orthopädische Geräte – magische Gegenstände – Selbstbewertung, Schamgefühle, narzißtische Gefühle 4.) explizite Selbstaffekte – nachträgliche Selbstevaluation – eigener Gefühle – eigenen Verhaltens – reflexive Affekte (im Traum) – höheres Kontrollniveau

Selbstmodelle und Selbstaffekte im Traum

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■ 7. Nachtrag: »Narrative« und »cracking up«Theorien Poetische Theorien haben uns in das Wesen von »Selbst« und »Traum« eingeführt. »Poesie ist eine Frage der Art, wie etwas erzählt wird«, meint Tonimo Guerra (1996). Die Fähigkeit des Erzählens ist eine tief verankerte kognitive Strategie, Dinge und Erscheinungen unseres Lebens darzustellen. Sie ist eine Form des Narrativs, zu denen als Produkt auch die Traumerzählung gehört. Was ist ein Narrativ? Kahneman und Tversky (1982) umschreiben das Narrativ als Konstruktion einer plausiblen hypothetischen Geschichte auf der Basis von wahrgenommenen und/oder erinnerten Ereignissen. Barthes (1966) weist darauf hin, daß Narrative nicht auf Sprache oder Schrift beschränkt sind. Auch fixierte und bewegte Bilder und nichtverbale Abläufe von Gesten können Träger einer Geschichte sein. Narratives Berichten ist überall präsent, in Mythen, Legenden, Fabeln, Erzählungen, Novellen, Gedichten, Malereien, Konversationen und Inszenierungen aller Art. Sie bilden die Basis für Interpretationen. Texte haben dabei eine mediierende Funktion (vgl. dazu Boothe 1994). Lloyd (1989) hat eine kognitive Theorie des Narrativs ansatzweise entwickelt. Im Narrativ wird nicht nach einem Beweis gesucht, sondern nach einem »plot« gefragt. Narrative sind durch basale präverbale Regeln »lockerer« Art bestimmt: 1) Affirmativität, 2) Zeitordnung, 3) Abhängigkeit (von mindestens zwei Elementen). Sie können ein offenes oder geschlossenes Ende haben. Das Merkmal der Affirmativität schließt im Narrativ andere Hypothesen aus. Poesie bricht die Regeln des Narrativs auf der Ebene des sprachlich präsentierten Bewußtseins und verwendet zunächst absurd erscheinende Regeln der Verknüpfung. Regeln des Narrativs werden im Traum besonders auffällig gebrochen. Insofern ist ein Traum ein poetisches Narrativ und bedarf zu seinem Verständnis auch durchaus einer poetischen Theorie. Diese hat aber ihre Beschränkungen. Da sie gern auf narrative Texte angewendet wird, repliziert sie als Theorie die Struktur des Gegenstands, auf den sie sich bezieht. Die narrative Theorie selbst kann dann wiederum Gegenstand einer narrativen Theorie werden. Man kann das als besonderen Vorteil sehen und sagen, eine

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Theorie sei gerade dann besonders gut, wenn sie Strukturen repliziert, die im Gegenstand der Theorie enthalten sind. Andererseits kann man einwenden, daß damit nur ein lockerer Ausdruck von einer »Wahrheit« gewonnen ist, die unter unserer Fähigkeit liegt, sie auf andere Weise zu erfassen (Lloyd 1989). Um diese andere Weise zu finden, bedarf es eines »cracking up«-Verfahrens, das zutage fördert, wie ein Narrativ entsteht, wie es organisiert wird und wie der Mensch diese Fähigkeit entwickelt hat. Ist die narrative Theorie eine vorwissenschaftliche Formulierung oder eine nicht hinterfragbare, adäquate Art der Interpretation, in der der Reiz des Mystischen, dem man so gern unterliegt, bestehen bleibt? Bedarf sie keiner weiteren »wissenschaftlichen« Anreicherung? Geht sonst das ästhetische Erleben verloren? Narrative Theorien lassen das Gefühl des Versteckten, des nicht Abgeschlossenen, letztlich Geheimnisvollen bestehen. Oft wird es gerade zum Angelpunkt der Theorie gemacht, der erst das Verständnis des zu Verstehenden ermöglicht. Narrative Theorien behalten, wie Mythen, mediale Repräsentationen von Selbst und Umwelt bei, mag die »Geschichte«, deren Träger der Mythos ist, auch figural strukturiert sein (Bischof 1996; Lloyd 1989). Unmittelbarkeit, Nähe zu unserem Erleben und Verbundenheit mit unserer Alltagspsychologie erlauben eine affektiv betonte resonante Rezeption. Eine cracking-up-Theorie, wie sie in dieser Arbeit praktiziert wurde, nimmt narrative Theorien zum Ausgangspunkt und beläßt sie zugleich als eine legitime, dem Gegenstand adäquate Theorie. Cracking up ist eine Prozedur wissenschaftlicher Neugier und steter Unzufriedenheit. Sie möchte auf die Hintergründe der Produktion von Narrativen kommen. Die Medialität wird dabei zurückgebunden, aber als ein wesentliches Element kognitiv affektiver Vorgänge entschlüsselt. Das Geheimnisvolle wird – was als Nachteil empfunden werden mag – zum vorläufigen Nichtwissen. Wenn man mittels »cracking up« auf nichtsprachliche Prozesse der Informationsverarbeitung geht, muß immer ein Auflösungsgrad festgesetzt werden. In dieser Arbeit wurde das Niveau affektiv kognitiver Prozesse gewählt. Deren zentrale Konzepte sind Repräsentanzen und affektive Information. Ein weiteres Aufbrechen würde zum Niveau neurophysiologischer Prozesse führen. Mit der Formulierung von Theorien ist man in diesen beiden Bereichen

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äußerst zurückhaltend, die Theorien bleiben eng an experimentell erreichte Befunde gebunden. Die Theorien autoassoziativer Netzwerke und die postulierten, simulierten konnektionistischen Systeme sind zwar grundlegend neu, aber vorerst nur auf »simple minds« (Lloyd 1989) anwendbar. Ob sie das Verständnis von Narrativen entscheidend zu ändern vermögen, bleibt ungewiß.

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■ Traumtheorien und Traumkulturen

■ Ulrich Moser, Rolf Pfeifer, Werner Schneider, Ilka von Zeppelin

Experiences with Computer Simulation of Dream Processes1

■ Introduction

1

In this paper we report on the experiences of our research group in setting up a model of the cognitive-affective processes of the sleep dream (Moser et al. 1980). We have been engaged for several years with attempts to reconceptualize certain areas of psychoanalytic theory. The models constructed in the course of this research are in the form of computer simulation models. A first model depicted the defence processes in intrapsychic conflicts (Moser et al. 1969, 1970). The idea of simulating sleep dream processes was not instigated by sleep and dream research. We were rather concerned with an examination of the cognitive-affective regulation, in particular processes which do not have such a complex structure as interactive waking behavior. Feedback processes from the outer world are considerably reduced int he sleep dream. The outer world is not perceived directly but ›simulated‹. The dream sequences are built up from stored experiences in the form of cognition of interactions with other people, cognition of one’s own behavior and of events connected with the environment. There is no immediate interactive modulation. This permits more freedom in creating 1 The work reported in this paper was supported by the Swiss National Science Foundation under Project No.1.434.70.

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dream sequences. Situations can change suddenly. Configurations vanish and others alter in a fantastic way. Plausible solutions are often found for conflicts. But every psychotherapist is fully aware that in most cases either these solutions cannot be transferred into waking behavior or only after a prolonged period. The objection might be raised that this ›detour‹ via the dream is rash because we know so little about cognitive and affective processes in the sleep dream. How can we simulate dreams when it is not yet known how they run in sleep? The generative process is compared today with the linguistic generation process (Foulkes 1981) but we do not know whether the primarily visual dream experiences are based on knowledge stored in a propositional rather than in a pictorial form. This touches an experience we shall revert to later; in many areas there were not sufficient empirical results available for us to draw on. We adopted the vehicle of computer simulation because this obliged us to formulate explicitly all the steps in the dream generation process. If the dream is taken as a sequence of situations the computer program must include instructions on how a specific beginning and a specific termination can be reached and how the next segment can be generated from the current one. Questions of whether the dream itself is at all accessible remain; also we cannot make any statement on the intended correlation of ›real generation‹ and simulated generation. But we can hope that we understand our dreams better if we can write a program which be believe does something similar to what we do in our dreams.

■ Basic Assumptions We have based our model on two assumptions attributing one to an information-processing perspective, the other to a psychoanalytic-interpretative context. In terms of theories on deferred information processing (BenAaron 1975, Dewan 1969) in the human brain, an inner system deals with information both in the waking and sleeping state. It is continuously modifying the internal (cognitive) models according

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to the changing environment. In the waking state this system is forced to react immediately (environmental pressure) because the planning and execution of the ongoing activities is of primary importance. Processes of consolidation and reprogramming of some complexity are only partially possible, due to a limited capacity of information processing. One part of the information is not processed immediately but stored in a postulated intermediate-term data base for later processing during sleep. This processing takes place ›off-line‹. In sleep states contextual conditions are favorable, external perceptive input is minimized and urgent needs are only restrictively activating. The goal of this ›deferred updating‹ in sleep is an integration of information into long-term memory and a reprogramming activity needed to adjust behavioral regulation. This reprocessing leads to dreaming which is, in part, consciously accessible. In the psychoanalytic interpretative theories we have adopted certain assumptions of French’s (French 1953) problem-solving theory where dreams are viewed as attempts to cope with unresolved problems (especially neurotic conflicts) which have – as a special case of deferred processing – been stored in the intermediate-term data base. It is assumed that the reactivation of a latent conflict is triggered by a situation experienced by the dreamer the previous day (Freuds [1900a] day residue). To ensure smooth continuation of the ongoing behavioral sequence, defense mechanisms must be initiated to deal with the reactivated conflict. This conflict constitutes the core of a subsequent dream in which an attempt is made to reduce conflict tension by searching for new behavioral patterns, using certain conflict resolution strategies. Since there is no direct interaction with the environment during sleep, there is a higher degree of freedom in manipulating cognitive elements as a result of the particular conditions of mental activity during sleep. In the case of neurotic conflict, however, there are inner constraints with respect to reprogamming possibilities. For psychotherapeutic reasons interpretative theories prefer to investigate dreams with highly conflictive content. They constitute the most complex case of information consolidation. It may be assumed that dreams without conflict do exist (e. g. dreams produced by internal or external direct sensory exitations) but they

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would be subject to quick consolidation during sleep. However, more complex problem situations tend to occur repeatedly in dreams. Several authors propose that parts of a REM dream can be a new current concern for the following REM dream the Same night.

■ Why Computer Simulation? As our primary interest was oriented to a model of the cognitive affective regulation of dream processes – and not the search for interpretative techniques – we selected a technique appropriated to the modeling of processes, namely the simulation technique of a posteriori generation. We reproduce the processes which constitute the basis of a certain dream text, whereby we are not interested in the dream text as such but in the ›cognitive deep structure‹, which, we assume, is still visible, with certain distortions, in the narrated dream. Up to now two dreams have been reproduced. Continuation of the iterative procedure which we have chosen for the construction of our model would mean the generation of other dreams. As we briefly pointed out in the introduction, we used the tool of a computer simulation because it commits one to explicitly state all concepts and processes introduced in the model, a virtue which is rarely found in the interpretative dream literature.

■ The Structure of Our Theory on Dream Formation Next we describe the basic structure of our theory underlying the computer simulation model. The dream formation process is organized in three phases: (a) the process of ›complex formation‹ and intermediate storage, (b) working off a complex by generating a dream process, (c) verbalizing of the memory of the dream experience (fig. 1). We propose that in the first phase complexes are formed which are stored in an intermediate-term data base (ITDB). The process

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Fig. 1: Outline of the dream theory. The dream formation process is organized in three phases: a) complex formation and intermediate-term storage; b) working off a complex by generating a dream process (the domain of the simulation model), and c) verbalization of the memory of the dream experience.

of complex formation has not yet been incorporated in the computer simulation. Complexes are cognitive-affective structures of not well-elaborated information whose further processing has been delayed. The formation of a complex is preceded by an ›interrupt event‹ in the waking state or parallel to the dream state. In either case the interrupt event is an indicator of a control disturbance. Interrupts emerge from interactions between current events and their interpretation based on reactivated knowledge of LTDB. Complexes are selected and processed in the second phase which comprises the actual dream processes. These dream processes entail the generation of a sequence of situations mostly of a visual-perceptual and metaphorical nature (Antrobus 1977). According to the problemsolving hypothesis of interpretative dream theories the subsequent deferred information processing consists of attempts to find a solution utilizing internal cognitive information from LTDB. The final product of this activity is the ›dream protocol‹ which can only be approached via the dreamer’s remembrance. However, dream experiments show that large parts of this ›original dream protocol‹, which we claim is again stored in the ITDB, will be forgotten either by simply being dropped or by repression mechanisms. The moment of dream reporting is precisely one of the occasions where such omissions can occur (Breznitz 1971). This leads to the question of the generation of a verbal text or protocol (phase three of the model). This part has not yet been explicitly modeled. In contrast to the theory of complex formation,

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there are very few clean conceptions about this process due to difficulties in experimentation and vagueness of the theories on interaction of cognitive processes in general and linguistic processes in particular. One question, as yet unanswered, concerns the exact moment of generation of the linguistic structures: Is the visual-cognitive information coded verbally while stored in the ITDB or only when a dream is reported? These questions obviously touch the issue of the relation between semantic and episodic memory (Tulving 1972). Antrobus (1977) presumes for instance that dream metaphors are derived from elements of episodic memory and only rarely from semantic memory. However, the problem of the relation between episodic and semantic memory is controversial. Certainly, the distinction is not clean-cut and absolute, but rather there is a sort of continuum (Norman 1979) with some information more episodic and some more semantic in character. Some further variable that should be accounted for in the process of dream reporting are effects of state-dependent memory (Koukkou and Lehmann 1980) as well as memorizing ability and verbal competence of the person reporting (Nisbett and Wilson 1977). In order to simulate the actual dream process (phase 2 of the model), the complex which constitutes the basis for the dream must be formulated first. The necessary information can only be gained by therapy dreams where the data on the conflict structure and the triggering events of the previous day are available. Complexes represent situations with conflictive content. They include memories of certain events which the dreamer experiences as unsolved. For each complex there is an urgency value indicating how urgently it has to be processed. The relative ordering of the complexes according to their urgency levels changes frequently during sleep due to the emergence of ad hoc complexes which are transferred to the ITDB with a higher priority than that in the original complex. This applies for acute internal stimuli such as urinary pressure, pain or very strong external stimuli. Triggers of this kind also form (cognitive) complexes which, as is apparent from general dream experience, mix with the processing of other complexes for a while. Processes of this kind are not included in the simulation. Interpretative dream

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theories focus on complexes including conflictive information with respect to interaction processes. The complex itself does not contain the detailed information but rather a set of pointers designating the relevant access paths. These references (represented as links in a network) are established immediately in the interrupting situation. The ongoing behavioral sequence can be optimally planned and replanned and kept clear of disturbances by means of this intermediate storage facility. The links formed in the interrupt situation permit the later reconstruction of the situation in the deferred updating processes. This also formulates the repression process: on the one hand it renders information inaccessible for the time being and, on the other hand, stores this information and makes it thus potentially accessible.

■ The ›Manure Wagon Dream‹ One of the dream texts that has been reproduced in a simulation run starting out with a complex is presented as follows. The structure of the complex has been taken from a record of psychoanalytic psychotherapy. In this example the triggering conflict originates from the current transference situation which reflects and was produced by (hypothesized) underlying unsolved conflicts. At the beginning of an analytic session the dreamer reports the following dream, later referred to as the ›manure wagon dream‹. The dream report is broken down into segments. We shall revert to this aspect later. 1. I am fleeing with my brother in a wheat field (I don’t know what I am fleeing from, I am terrified) 2. I am trying to hide 3. Suddenly I see a manure wagon with a white liquid mush coming out at the front (I have the feeling that I have to have the mush; this gets me into the conflict of being seen) 4. But finally I go to the wagon all the same and drink (then I wake up, I am depressed, but then I laugh and say: ›But the mush was good‹) () = Cognitive elaborations

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The structure of the focal events can be outlined as follows: The patient was in the habit of asking his analyst, a lady, for cigarettes and smoking them in session. For therapeutic reasons the analyst used to consent with this wish. In the analytic session the day before the patient had the dream set out above, however, the analyst refused to give the patient the usual cigarette. The patient could hardly stand being without cigarettes and he had none of his own. Our hypotheses on the underlying conflict are as follows: At the beginning of the psychoanalytic treatment the patient was terrified by the idea that something could become known about him which might lead to his being dismissed from analysis. He was afraid he would feel so ashamed of himself that he might feel the impulse to kill himself or someone else. During this phase of the analysis the ›manure wagon dream‹ was reported. At the same time he had the waking fantasy of his analyst masturbating her son. After the dream it was revealed that his brother had masturbated him up to his adolescence. The underlying fantasies which are effective as current concerns (Klinger 1971) emerge as two equivalent motives: ›sucking his brother’s penis and ingesting his semen‹ and ›sucking his mother’s breast and drinking the milk‹. As a result of the process of reactivation receiving and enjoying a cigarette in the current transference situation has focused the patient’s attention on these conflicting wishes. The current concern which arose in this transference situation and thereby activated associatively linked elements of long-term memory forms a complex to be processed in the dream.

■ Cognitive Structure of the Dreamer and Dream Formation Processes We now turn to the hypotheses on the regulation of the cognitive affective process which must be introduced to permit the dream to be generated. We propose that the dream has a sequential structure which can be taken as a sequence of situations. This segment structure is recognizable in every dream protocol. The manure wagon dream

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comprises four such segments. The segment structure in the dream report can be heavily distorted as a consequence of the recalling and verbalizing processes. Whole sequences of subsegments can be condensed into one single segment, reported verbally at a more abstract level. But the basis structure is maintained in spite of these distortions, except for these dream segments which are completely lost in the recalling process. In our model a segment is represented by a situation. A situation contains the cognition of elements of the individual’s time-space environment. Cognition is focused on the interactive structure. The situation is defined by these cognitive elements which are mentioned by the subject. A situation includes subject and object processors involved in one or several activities. They are called processors because they can either apply certain actions or processes to objects or they can be subjected to these processes. A processor is defined by a list of attributes. A subject processor is always present. The dreamer can generate processors in imaginary form from these attributes. (This image generation process has not been simulated.) Our example comprises ›I‹ (subject processor), ›brother‹ (object processor), ›fleeing‹ (activity). Moreover, in the example of the first segment certain elements of the setting (wheat field) are contextually related to the interaction of the situation. There is a special mode of interactive connection between the processors in this situation: they are doing the same thing, there is a parallel connection. The fundamental unit is the subject-object interaction. Further, we define an abstract element representing a wish according to the psychoanalytic theory of motivation. It is abstract in the sense that the processors of this element are not specific images of processors experienced in real life but sets of attributes that are used as search patterns for processors that might be used in a realization of the wish (in our model: a dream realization). Abstract elements represent the dreamer’s ideal conditions for the realization. For the construction of a dream situation suitable cognitive elements are searched for and can be extracted from the general cognitive space of the dreamer. For the simulation of the model the cognitive space was limited to elements which could potentially become involved in the dream generation.

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All elements of the cognitive structure have been represented in a semantic network technique as described, among others, by Quillian (1968), Woods (1975) and Findler (1979). The formal model consists of a set of Interlisp S-expressions (Teitelman et al. 1974) written in 370-Interlisp BBN-Uppsala (for details see Moser et al. 1980). The transitions between dream situations are caused by interrupt programs. These interrupts are frequently but not always characterized by cognitive elaborations in which the dreamer reflects both his affective state and the aspects of the situation that might have generated this state. As long as he continues to do so mental processing runs at a higher cognitive level and the direct interactive dream process is temporarily stopped. In every instance an interrupt leads to a reorganized, next situation, i. e. the cognitive processes are refocused (Mandler 1975, Simon 1967). The elaboration concerns an explicitly experienced affect which is the product of the interrupt. It is one of the rare constructive and reflexive processes in the dream. An attempt is made to localize an item of emotional information as a consequence of an interactive process in the context of already available knowledge. This attribution of an affect to the dream situation which has just been completed is a further product of the elaboration. But not every interrupt is being elaborated in the consciousness of the dreamer. The last elaboration in the manure wagon dream ›Then I wake up, I am depressed, but then I laugh and say »but that mush was good«‹, already occurs in the waking state. This type of elaboration, as all other kinds, has not been explicitly incorporated in the model although it can be of major significance psychologically. The hypothesis of a sequence of situations implies the existence of a control system controlling the cognitive processes. We have called this control system the ›dream monitor‹. An affect code, i. e. ›a condensed version‹ of the cognitive structure of the situation is generated for every situation. As long as the affect variables are kept within a tolerable range the dream activity continues without interruption. After generation of a situation the dream monitor checks a situation to see whether the margin of tolerable for dream manifest anxiety (DMA) has been complied with by the cognitive events. If not, the interrupt occurs as de-

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scribed. In the event of the interrupt, the dream monitor must change the cognitive process so that less DMA is generated. The monitor has a number of functions at its disposal. These functions constitute the cognitive mechanisms underlying the dream processes. These are, for example, the transformation processes: condensation, displacement, etc. (Freud 1900a). Other affective information is used in the model besides the DMA; the variable negative emotion (NEGEM) depends on ontogenetic development. It represents the cathexis that could not be realized with respect to a wish (abstract element) inherent to the complex. Anticipated anxiety (ANX) is a variable representing in a condensed form anxiety/displeasure experiences to be expected if a rule is not complied with (also inherent to the conflictive complex). NEGEM and ANX are aspects of the complex and constant throughout the course of the dream. These variables are not experienced by the dreamer but used by the dream monitor as information for cognitive activity. The dream monitor can move along one of three dimensions in the course of a dream, namely an approach dimension, an avoidance and a critical dimension called hold dimension. During the involvement phase, which typically occurs at the beginning of a dream, the dream activity is controlled so that it either approaches the representation of the unsolved conflict or, in the event of excessive DMA, retreats from it. Here the dream at the same time depicts the approach and avoidance strategies and the conflict to be resolved. On the other hand, in the commitment phase the conflict is represented despite the risk of more intensive affect development. The hold function hinders the development of commitment by producing a situation with the subject as spectator. Two motivations must be differentiated in dream generation: first the motivation to realize the wish element inherent to the complex (wish for simulated actualization) and secondly a motivation that drives the processing of the unresolved conflict. The more closely the conflict which has caused the formation of the complex can be realized, i. e. the fewer transformations of the actual, reactivated conflict have taken place, the greater the contribution to the resolution of the conflict should be. During this realiza-

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tion attempt the affects accompanying the process have to be kept within certain limits. This is achieved by the selection of appropriate cognitive elements.

■ A Brief Program Description We are now able to outline how the computer program carries out the dream generation process. The input is a complex as described above. The complex is actually part of the data base but it is marked as a unit to be processed. The output is a dream report. The side effects of this process are also traced, in particular how the data base is modified. The side effects consist mainly of a trace of the processes that took place during the dream generation phase (printed with each simulation run). This information is particularly important, since we are mainly interested in the processes that occur during the dream. A situation in the problem-solving process is generated from a general schema for a dream situation which contains a number of slots. There are slots for the actor, the partner of interactive, for the action itself, the interactive connection type (parallel, interactive, spectator connection etc.), for setting elements etc. This schema is then instantiated, i. e. the slots are successively filled by drawing on relevant information in the data base. The process of instantiation begins with the abstract element (desired situation). The result to be achieved is to realize this desired situation as closely as possible, while observing a set of constraints which are given by affective markers and superego rules. Thus, the intensity of NEGEM determines in what form the actor can appear in the first dream situation: whether in his everyday identity or in a changed form, for example as a plum or an animal. The type of interactive linkage is also determined by NEGEM, for example, the parallel linkage ›l am fleeing with my brother‹. (We are not yet aware of many of there instantiation conditions and rules and we will be able to formulate more of them only when other dreams are generated.) ANX determines to a certain extent the length of the involvement phase and thus the selection of the

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situations which the approach and avoidance control processes reflect (segments 1 and 2 of the manure wagon dream). Once the slots are successively filled the rules check for forbidden combinations of slot fillers by means of a pattern-matching process similar to the demon principle as used by Clippinger (1977) and Pauker et al. (1976). A rule match indicates a potential danger which is signalled by an attached emotional label (anticipated anxiety). If a rule match occurs, transformations are applied until no more rules – as, for example, shame or superego rules – are matched, which yields a new partial instantiation. If no transformation leads to an acceptable partial instantiation, the current segment is omitted. Omission is a special kind of dream process. Successful transformations of subject processors, object processors, setting elements and of activities reduce the level of dream manifest anxiety, whereas unsuccessful ones raise it. In addition there are a number of processes which leave a trace for what will become the manifest dream. This trace consists of (a) information about the partially instantiated dream situation pertinent to the underlying problem-solving process, and (b) information about the operation of the system itself. This whole cycle is repeated until the sequence of desired interaction sequences is exhausted. To illustrate this description let us take an example of a transformation from the ›manure wagon dream‹. Suppose that a rule has determined that the dreamer, the self, together with his brother in an oral kind of interaction, is not permissible. One possibility is to transform the brother. Since the relevant (superego) rule only applies when the attribute human applies to the partner of the interaction, an object is sought in the data base which lacks this attribute but which preserves most of the others. Attributes are ordered in a so-called importance hierarchy. At the top are functional attributes, in this case, the expulsion of a white liquid, and the potentially nourishing character of the liquid. Further down in the hierarchy are, for example, attributes describing shape or texture. This is akin to metaphorical language use, where good metaphors tend to preserve attributes located at the top of this hierarchy. One of the objects contained in the data base meeting these conditions, i. e. lacking the attribute human while including the relevant functional attributes, is indeed a manure wagon. Note,

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Table 1. Comparison of the original and the generated texts. This comparison is not to be taken as a validation of the model, the simulation model being the very theory which has been used to analyze the dream texts and the context of their formation processes. We can only test to what extent the generated text resembles the original one in a rather technical sense. Original text

Generated text

I am fleeing with my brother in a wheat field. I don’t know what I am fleeing from. I am in great fear. I am trying to hide. Suddenly I see a manure wagon with a white liquid mush coming out the front. I have the feeling that I absolutely have to have the mush. This gets me into the conflict of being seen. But finally I go to the wagon all the same and drink.

SUB (I) WITH (brother) PI (runaway) IN/ ON/AT (wheat field) AFF-STATE (great fear) SUB (I) ACT (trying to hide) SUB (I) PI (see) OBJ (manure wagon) OB (PROD mush)

SUB (I) OBJ (manure wagon) PI (approach) SUB (I) PI (drink) OBJ (mush)

Then I wake up, I am depressed, but then I laugh and say: ›But the mush was good‹.

however, that one attribute of the manure wagon has also been changed, namely the color of the liquid. The resulting object is acceptable since no superego rules match up to it in connection with the desired activity. Returning to the problems of output and side effects, the actual output of the program is a dream report. The emphasis was not on producing grammatically correct sentences but rather on representing the appropriate conceptual structures of the manifest dream. Therefore, the dream report consists of a sequence of symbols representing the ›deep structure‹ of the manifest content. More important, however, is the track of all activities that were taking place during the dream phase itself, since they are only represented in a rudimentary and distorted form in the report. This trace is printed automatically during the simulation run and includes the major side effects. Some of this information is also passed on to the LTDB. In table 1 the text generated for the manure wagon dream is

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shown along with the original text. The program output also includes a description of the operations which have led to the various instantiations and transformations. We think that despite a number of theoretical and technical shortcomings the program appropriately captures many important aspects of our theory.

■ Reflections After this presentation of our model we should like to give a brief review of our experience in setting up this model. In Newell’s terms we started ›with a grossly imperfect but complete model, having to improve it eventually‹ (quoted in Pylyshyn 1979). This is not the traditional procedure in cognitive psychology and implies that in many sectors we could not draw on empirical results, or that problems arose which could only be solved by means of empirical examination. Nevertheless, we feel that the artificial intelligence approach which we have followed in our project is rewarding. This approach permits the development of a complex view of the dream process. This view can be tested by means of simulation experiments and opens the way to new modes of investigation of dream processes. We have found that very little is known on the regulation of mental processes. Equally little is known of the role played by the affects in this regulation. Nor have we found an adequate model as yet for the search processes which select the appropriate cognitive elements for the dream generation. We had to make many simplifying assumptions in order to be able to construct a running program. In a new study we have developed a new model of the regulation (Moser et al. 1987, 1991). Pfeifer and Nicholas (1982) are working on the representation of emotional information, and in particular of the generation of affects. At the beginning of this paper we stated that we consider dream processes particularly suitable for the investigation of cognitive-affective processes because they can be studied isolated from interactive constraints. The concepts developed from this reduced environment are easily transferable to the study of waking behavior

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and the examination can be continued there. But this application is possibly only of secondary interest to sleep and dream researchers.

■ References Antrobus, J. S. (1977): The dream as metaphor. An information-processing and learning model. J. Ment. Imagery 2: 327-337. Ben-Aaron, M. (1975): The Pötzl effect. Corroboration of a cybernetic hypothesis. In: Trappl, R. et al. (Ed.): Progress in Cybernetics and Systems Research. Vol. 1. Washington, p. 247-252. Breznitz, S. (1971): A critical note on secondary revision. Int. J. Psycho-Anal. 52: 407-412. Clippinger, J. H., Jr. (1977): Meaning and Discourse. A Computer Model of Psychoanalytic Speech and Cognition. Baltimore. Dewan, E. M. (1969): The P-hypothesis for REMS. AFCRL-69-0298, Physical Sciences Research Papers, 388. Findler, N. V. (1979): Associative Networks. New York. Foulkes, D. (1981): A Cognitive-Psychological Model of Dream Production. Hyannis. Manuscript. French, T. M. (1953): The Integration of Behavior. Bd. 2: The Integrative Process in Dreams. Chicago. Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung. GW II/III. Klinger, E. (1971): Structure and Functions of Fantasy. New York. Koukkou, M.; Lehmann, D. (1980): Psychophysiologie des Träumens und der Neurosentherapie. Das Zustands-Wechsel-Modell, eine Synopsis. Fortschr. Neurol. Psychiat. 48: 324-350. Mandler, G. (1975): Mind and Emotion. New York. Moser, U.; Pfeifer, R.; Schneider, W. et al. (1980): Computer Simulation of Dream Processes. Technical Report. Berichte aus der interdisziplinäre Konfliktforschungsstelle, 6. Universität Zürich. Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W. (1969): Computer simulation of a model of neurotic defence processes. Int. J. Psycho-Anal. 50: 53-64. Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W. (1970): Computer simulation of a model of neurotic defence processes. Behav. Sci. 15: 194-202. Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W. (1987): A la recherche d’une théorie perdue: Ein neues psychoanalytisches Regulierungsmodell kognitiv-affektiver Prozesse. Berichte aus der interdisziplinären Konfliktforschungsstelle, 18. Universität Zürich. Moser, U.; Zeppelin, I. v.; Schneider, W. (1991): The regulation of cognitiveaffective processes. A new psychoanalytic model. In: Moser, U.; Zeppelin, I.

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Erstveröffentlichung in: Koella, W. P. (Hg.): Sleep 1982. Basel u. a., Karger, 1983, S. 30-44.

■ Ulrich Moser

Traumtheorien und Traumkultur in der psychoanalytischen Praxis

■ 1. Traumtheorien und Traumkulturen Ein »updating« aller Untersuchungen über die Anwendung der Traumanalyse in der psychotherapeutischen Situation ist in dieser Arbeit nicht vorgesehen. Ein Versuch dieser Art würde zu einer umfangreichen Monographie führen. Ich verweise auf Lehrbücher und Zusammenfassungen (z. B. Blechner 2001; Deserno 1999; Lippmann 2000; Thomä u. Kächele 1985). Zur Geschichte der psychoanalytischen Traumtheorien, die den methodischen Vorschlägen zur Deutung zugrunde liegen, verweise ich auf die kommentierte Zusammenstellung von Deserno (1999). Neuere Arbeiten zeigen einen eindeutigen Trend zur Aufwertung des manifesten Traums (was ja nicht der Absicht von Freud entsprach). Es gibt fast vergessene Pioniere wie French (1954, 1958) und mit Verzögerung geschätzte wie Erikson (1954) oder Bion (1967). Bereits French hat kognitive Theorien in die Traumforschung eingeführt. In neuester Zeit, insbesondere auf der Basis der »theory of mind« (Fonagy u. Target 1995) oder jener einer Theorie kognitivaffektiver Mikrowelten (Moser 2000; Moser u. von Zeppelin 1996) kommen neue Aspekte hinzu. Parallel dazu, vielleicht auch in Konkurrenz, entwickelten sich die narrativen Traumtheorien (Übersichten dazu siehe Boothe 1994; Hamburger 1998, 1999; States 1993; u. a.). Nachzutragen wäre noch der Einfluss der Theorien des »innern Raumes«, der »repräsentationalen Welt« und des »potentiellen Raumes« (Meltzer 1988; Ogden 1985; Sandler u. Joffe 1969, Sandler u. Rosenblatt 1962; Segal 1999; Stern 1995; Winnicott 1971; u. a.), die zum Denken in einem »Traumraum« (Khan 1962, 1972, 1976; Pontalis 1974) geführt haben. Bei aller Vielfalt

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dieser Ansätze blieb bei vielen Psychoanalytikern, was die Praxis der Traumdeutung anbetrifft, eine zwiespältige Haltung bestehen. In klinischen Falldarstellungen sind im allgemeinen nur wenig Träume zu finden. Es sind höchst selektiv gewählte Vignetten, die eine therapeutische Situation, insbesondere eine Übertragungs-/ Gegenübertragungskonstellation illustrieren sollen. Immer mehr nimmt man an, dass der manifeste Traum über den Zustand des Analysanden und über dessen Verständnismöglichkeiten der eigenen Innenwelt und der Innenwelt anderer Auskunft gibt (freilich nur in fragmentierter Form). Auf Segal (1991) geht die Annahme zurück (worauf Jimenez 1990 hingewiesen hat), dass sich auch ohne assoziative Erschlüsselungen im manifesten Traum direkt Informationen gewinnen lassen. Dazu Perelberg (2000, S. 7): »… the interpretations of dreams allow access to a theory of mind, to the way in which analysands conceive their experience of their inner world of thoughts and feelings.«

Was für eine »Sprache« benützt der Traum zu dieser Darstellung? Im Kern ist das Traumdenken konkretistisch und folgt einer kognitivaffektiven Grammatik (Moser 2002) die erst im erzählten Traum die sprachliche, auf Kommunikation ausgerichtete Grammatik benützt. Der Stellenwert der Assoziationen wird anders. Sie werden nicht gefördert, wohl aber als spontane Phänomene zur Kenntnis genommen. Sie amplifizieren nur die im manifesten Traum bereits gelegte Einsicht und bilden Pointers zu aktuellen Auslösungen, zu Reaktivierungen im therapeutischen und im außertherapeutischen Raum. (s. Abschnitt 5, Traummodelle). Damit tauchen einige Fragen auf, die nicht vergessen werden sollten. Sofern Assoziationen spontan erscheinen, an welche Teile des Traumprozesses knüpfen sie an? Ist es überhaupt zeitlich möglich und notwendig, in einer Sitzung den erzählten Traum vollumfänglich zu interpretieren? Werden nur jene Träume publiziert, die zum gerade aktivierten und »tätigen« Modell des Analytikers zum Therapieverlauf passen? Welche Teile eines Traums werden in die Interpretationen einbezogen und welche nicht? (Es gibt sicher eine Neigung, nur das interpersonale, interaktive Feld zu deuten, weniger die nichtanimierten Objekte.)

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Setzt der Analytiker eine besondere Traumkultur, die die Anzahl der Träume, ja auch seine Inhalte steuert? Werden Träume zum Beispiel Gefälligkeits- und Verführungsgeschenke? Oder werden sie als Objekte eines retentiven Widerstands gerade nicht erzählt? Kann ein Traum nicht auch als ein Medium der Täuschung und der Ablenkung von der Übertragungsanalyse benützt werden (Kohon 2000)? Ja gewiss! In der Folge werde ich primär den Einfluss kognitiv-affektiver Theorien auf den therapeutischen Umgang mit Träumen untersuchen. Das soll nicht heißen, dass andere Zugänge nicht gewürdigt würden. Man kann die Ausführungen als Erweiterungen der Theorien von French (1954, 1958) und von Moser und von Zeppelin (1996) sehen. Die Gedanken sind so formuliert, dass eine Kenntnis dieser Theorien nicht in vollem Umfang erforderlich ist. Ich beginne mit der Frage, was für Phantasien, Modelle und Theorien über den Traum Kinder, erwachsene Patienten und Psychoanalytiker haben und wie sie die Trauminterpretation beeinflussen, ja bestimmen. Ich verzichte auf eine wissenschaftstheoretische Klärung, was für Unterschiede Phantasien, Theorien und Modelle charakterisieren. Immerhin sei gesagt: Theorien sollen entsubjektiviert und einer Generalisierung zugänglich sein (als Mindestanforderung).

■ 2. Die Systeme »Where« (Wo) und »What« (Was) – Die Internalisierung des Traums Schon in den Untersuchungen über die visuelle Aufmerksamkeit bei Kindern von 1 bis 12 Monaten hat sich herausgestellt, dass sich teilweise unabhängig voneinander, ein »Wo-System« und ein »Was-System« entwickeln. (»where-system«, »what-system«; Colombo 2001). Das »Was-System« bezieht sich auf die Eigenheiten eines Objekts (je nach Theorie features, attributes oder components genannt). Neurophysiologisch steht fest, dass die einzelnen features durch unabhängige neuronale Systeme wahrgenommen und dann zusammengesetzt werden. Das »Wo-System« hat mit der räumlichen Orientierung zu tun, es lokalisiert Objekte im sensuellen

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Feld. Es liefert räumliche Koordinaten, durch welche die »WasKomponenten« gebunden werden (Corbetta et al. 1955; Posner 1995; u. a.). Nach Posner (1995) lassen sich die beiden Systeme der visuellen Aufmerksamkeit nicht scharf trennen. Im Lauf der Zeit entsteht ein räumliches System, ein topisches Feld, in welchem Objekte (Entitäten in Form von Dingen, Personen296296 usw.) angesiedelt werden. Träume sind im manifesten Teil gleich strukturiert wie Wahrnehmungsfelder, mit dem Unterschied allerdings, dass einerseits die Wahrnehmungssinne ausgetauscht werden (können) und räumliche Bezüge sich manipulieren lassen. Das »Wo-System« wird ausgedehnt durch die Bewegungen »in den Raum hinein«, »in den Raum hinaus« (Woher kommen die Objekte und wohin verschwinden sie?). Ferner kann der Raum zwei- oder dreidimensional konzipiert sein. Sobald Interaktionen beobachtet oder vorgestellt werden, erscheint das »Wo-System« desaktiviert. Ist es gleichsam in die komplexen Bezugssysteme der Objekte aufgegangen, bleibt es dabei implizit weiter bestehen? Um in Zukunft nur noch vom Traum zu reden, wird der Raum konkret möbliert? Durch eine Landschaft zum Beispiel? Die Traumtheorie Moser und von Zeppelin (1996) postuliert ein Positionsfeld als erste Regulierungsstufe. Nähe, Distanz, räumliches Zueinander, sind Auswirkungen kognitiver Grammatik (Moser 2001), die affektiv gesteuert ist und die Anordnung der Elemente in den Situationen einer Traumsequenz bestimmt. Bei Kindern, sowie bei den alten Griechen (Bergmann 1966; Dodd 1951) finden sich explizite »WoSysteme«. In den ersten Traumstadien werden Träume gedacht als Bilder aus Luft und Licht, die von außen vor die Augen gelangen (Foulkes 1999; Lippmann 2000; Piaget 1959). Jedermann, glaubt das Kind, kann sehen, wie die Träume in das Haus kommen und auch wieder gehen. Ein Haus wird zum Beispiel nicht betreten, weil es voll von Träumen ist. Träume sind außen gelagert, sie stehen da wie Tableaux, unabhängig vom Träumer, gleichzeitig wird dem Geschehen Wirklichkeit zugebilligt. Das Bild existiert objektiv, es ist nicht eine Repräsentanz von realen Ereignissen. Die homerischen Poeten sprachen nie davon, einen Traum zu haben, sondern einen zu sehen. Personalobjekte im Traum besuchen den Träumer, es kann ein Geist sein, eine Ahnenfigur, ein Gott, ein

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Botschafter einer andern Welt (Bergmann 1966). Träume gehen gesamthaft auf Wanderung. Sie gehen durch das Fenster und landen wieder im Kopf. Mit dem Traum geht auch der Träumer im Traum auf Reisen. Er kommt zwar wieder zurück (dazu muss der Träumer wieder schlafen). Die Konfigurationen des Traums (Personen, aber auch inanimierte Objekte) sind Besucher, die von außen kommen. (Daraus entwickelt sich später die Phantasie, dass sie Botschafter des Jenseits oder eines eigenen – nicht akzeptierten – Teils der Seele sind.) Die weiteren Stadien der Traumentwicklung gehen in Richtung einer Internalisierung. Die innere Herkunft hat zunächst eine körperliche Lokalisation. Der Traum kommt aus dem Kopf oder aus dem Magen. Immer noch bleibt er »außen«. Später, wenn das Kind zwischen »seiend« und »scheinend« zu trennen vermag (ab dem 7. Jahr), wird der Traum in den Augen und im Kopf lokalisiert. Nach Festigung der Unterscheidung von innen und außen wird der Traum endgültig »innen« lokalisiert (Foulkes 1999). Der Körper (resp. die Körperreize) werden zunächst noch externalisiert, insofern sie Träume auslösen. Dann folgen gemischte Zustände. Ein Beispiel aus Foulkes: »Menschen wohnen am Rande des geöffneten Bauches.« Der Bauch ist bereits ein durch features bestimmtes Objekt im »Was-Raum«, gleichzeitig aber auch im visualisierten Raum, in welchem die Personen positioniert sind. Die Untersuchungen von Kinderträumen haben zwei distinkte Entwicklungslinien aufgezeigt, die parallel aber nicht synchron verlaufen: Die erste betrifft die Internalisierung des Ortes, an welchem der Traum sich befindet, die zweite die stufenweise Veränderung des Traumbildes selbst (Foulkes 1999). Zunächst sind die Träume statisch (eine reine Position von Elementen), dann tauchen Bewegungen auf und erst überraschend spät, findet sich eine aktive Partizipation des Träumers im Traum (wobei noch die Stufen der Zuschauerrolle und der Verknüpfung in eine Interaktivität auseinanderzuhalten wären. Foulkes sieht darin einen Übergang vom Sehen des Traums zum Simulieren eines Vorganges mit Eigenbeteiligung. Er kommt damit unserer Theorie (Moser u. von Zeppelin 1996) der Simulierung in einer kognitiv-affektiven Mikrowelt ganz nahe.

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■ Anstelle einer Zusammenfassung eine Geschichte Sobald ein Kind seine visuelle Aufmerksamkeit einem Erwachsenen mitteilen will, kann es nur im vorsprachlichen Bereich mittels dem »Wo-System« auf Objekte aufmerksam machen. Es ist noch nicht fähig, Objekte über features zu beschreiben. Fanni (12 Monate alt) hat mit ihrem Großvater ein Spiel, das sie jedesmal, wenn sie auf Besuch kommt, spielen will. Sie zeigt zunächst nach oben auf eine Lampe, dann auf einen Schalter an der Wand. Dann geht sie auf den Großvater zu, breitet ihre Arme aus und will auf den Arm genommen werden. Diese drei Elemente werden nur durch den Ort bezeichnet, wo sie für das Spiel hingehören. Fanni, drückt auf dem Arm des Großvaters den Schalter, die Lampe zündet und löscht wieder aus. Die Kinderträume lassen sich leider nur über Inhalte beschreiben, eine systematische Untersuchung über die Lokalisierung im »Wo-System« ist nicht gemacht worden und erscheint beim kognitiven Entwicklungsstand der Kinder, infolge der noch geringen Selbstreflexivität kaum möglich.

■ 3. Alle haben ihre Traumtheorie: Kinder, Analysanden und Analytiker Auch Analytiker und Psychotherapeuten waren einmal Kinder und hatten Phantasien des »Wo« und des »Was« über ihre Träume. »Sie kamen und gingen wie die Vögel« (Lippmann 2000), bevor sie infolge der Ausbildung von Innenwelt und Außenwelt, von Körper und Inhalt des Körpers internalisiert wurden. Sie kommen und gehen aber nach wie vor, kommen ins Bewusstsein und verschwindet im Vergessen. Der Traum ist jetzt bei Analytiker und Analysand »innen lokalisiert«, jedoch ein unberechenbares, überraschendes Phänomen. Er gehört in eine andere Welt, die man nicht ohne weiteres versteht. Er ist im subjektiven Erleben, ein Ereignis ohne Kontinuität und von einer zwiespältigen Veridität. Jeder Analysand, aber auch jeder Analytiker entwickelt seine subjektive Theorie über den Traum, wobei in Rudimenten, wie wir sehen

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werden, das »Wo« immer noch eine Rolle spielt, etwa in Konzepten des Traumhintergrunds, des Traumraums oder der Bühne. Der Analytiker hat in seiner Ausbildung eine Menge von Phantasien bezogen, denen bereits der Status einer »Theorie« zugeschrieben wird. Diese bilden den Ausgangspunkt und die Verankerung der Interpretationen. Wirken in diesen Theorien Relikte nach, die der Erlebniswelt einer kindlichen »theory of mind« entstammen? Er muss sie zumindest kennen, wenn er das Traumverständnis seines Analysanden beurteilen will. Es treffen also in der therapeutischen Situation zwei unterschiedliche Traumtheorien aufeinander. Sie müssen aneinander justiert werden, soll die Interpretation verstanden werden. Die Angleichung geht relativ gut, wenn der Analytiker Alltagstheorien über den Traum verwendet, die nicht weit von jenen des Analysanden weg liegen. Was aber, wenn das, interpretative Modell des Analytikers sich immer neuen wissenschaftlichen Modellen zuwendet? Wie interpretiert er auf der Basis neurophysiologischer oder neuroanatomischer Traummodelle? Was geschieht am Ende – ganz neu –, wenn der Traum zum Nabel wird, zum Interface zwischen dem nichtlinearen Chaos einer triebhaften Wunschwelt und den unbewussten Gedanken mit den Eigenschaften der Fraktalität? (nach dem Modell der Chaostheorie, Scalzone u. Zontini 2001)1. Da steckt wie bei vielen neuen Theorien viel »new age«-Spekulation drin, ohne dass gezeigt wird, wie daraus eine Interpretation eines Traums im konkreten Fall einer Therapie verlaufen könnte (vgl. auch Solms 1997; Palombo 1999) Mit anderen Worten: Keinem Analytiker bleibt die Übersetzung eines sehr abstrakten Modells in eine Alltagstheorie zum Traum erspart, die vom Analysanden auf Grund seiner dominanten Traumphantasie auch verstanden werden kann. Natürlich ist zu erwarten, dass in einer Analyse (vor allem in einer Langzeitanalyse) das Traummodell des Analytikers langsam, osmotisch und ohne große Erklärungsarbeit übernommen wird. Das Ziel der Traumarbeit in der analytischen Situation ist die Übernahme des Traums in die gemeinsame interpretative Mikrowelt 1 Ob die Chaostheorie als mathematisches Modell eine geeignete Beschreibung der psychischen Vorgänge ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.

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von Analytiker und Analysand. Der Traum ist ein persönlicher Beitrag des Überdenkens der eigenen Situation in einer Sprache präverbaler Art, die nicht ohne weiteres zugänglich ist. Gressot (1979) meint zum Beispiel, dass die Interpretation des Traums zur Ergänzung des noch fehlenden Verständnisses führe. Es brauche eine Inkubation durch einen Objektivierer. Beliebt ist heute die Formulierung von Bion (1967): Der Analytiker nimmt den Traum des Analysanden auf in seine »Rêverie« und gibt angereichertes Verständnis zurück. Der Analysand übernimmt vom Analytiker damit auch die Funktion der Rêverie vis à vis des eigenen Traums. Damit wird dem Traum explizit die Auslösung einer schöpferischen Tätigkeit zugeschrieben. Das sollte eigentlich nicht nur dem Analytiker, sondern auch dem Analysanden gefallen. Leider führt der schöpferische Prozess zu einer nicht immer willkommenen Einsicht in die eigenen Probleme. So kommt es zu Distanzierungen vom Traum, zu einer Art Unwilligkeit, sich mit dessen Art des Denkens und den begleitenden Gefühlen auseinanderzusetzen. Jeder Analytiker kann berichten, wie eine Interpretation des Analysanden nur scheinbar akzeptiert und übernommen wird. Sie bleibt »in der Luft«, unkommentiert und scheint wieder zu verschwinden. Distanzierungen vom Traum sind subtile Arten des Widerstands gegen die tieferen Gänge des psychoanalytischen Prozesses. Im Extrem wird dem Traum keine Veridität zugestanden. Er wird in seine Fremdartigkeit zurückbefördert. Allerdings: Der Traum ist nicht mehr räumlich nach außen zu lagern. Es kommt zu Distanzierungen im Innenraum selbst: zu einer Verleugnung der impliziten Reflexivität des Traums. Der Analysand beraubt sich der Möglichkeit des Verständnisses der sensuell-konkreten affektiven (kindlichen) Welt, die im Erwachsenen weiterhin lebendig ist. Die Entwicklung einer Sensibilisierung für innere Prozesse und für kommunikative Vorgänge und für die Innenwelt des Andern, ein zentrales Ziel einer Psychoanalyse, bleibt rudimentär und lediglich durch negative Affekte, Ängste, Schamgefühle, Hass und andere mehr, gesteuert. Distanzierungen in bezug auf den Traumprozess, offen oder versteckt, sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass der psychoanalytische Prozess intellektualisiert verläuft oder gar zu einem »as if« Prozess wird (s. den folgenden Abschnitt 4).

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■ 4. Formen der Distanzierung Vergessen und Nichterzählen des Traums innerhalb der Therapie sind wohl die bekanntesten Prozeduren, sich von der Mikrowelt des Traums abzuheben. Die Häufigkeit des Vergessens von Träumen ist allerdings von Faktoren der Erinnerungsfähigkeit, die außerhalb des analytischen Prozesses liegen, abhängig. (Vgl. Ergebnisse der Traumforschung z. B. in Strauch u. Meier 1992, S. 58–78.) Im Nichterzählen bleibt im Analysanden das Wissen um den Inhalt des Traums zumindest teilweise erhalten. Der Traum wird aber von der analytischen Mikrowelt ferngehalten und vor dem Analytiker vorläufig versteckt. Man bekommt als Analytiker Rationalisierungen zu hören wie: »Ich dachte, der Traum sei nicht von Bedeutung.« »Er ist zu kurz.« »Er war für mich unverständlich.« Oft wird der Traum erst Stunden später erzählt, weil der Analysand annimmt, der Traum hätte jetzt an Bedeutung verloren oder weil die Bedeutsamkeit seiner Rückstellung inzwischen erkannt worden ist. Mit der Verinnerlichung der Traumprozesse in einem mentalen Raum tauchen auch neue Formen der Distanzierung auf. Was konstant bleibt, ist der Versuch, durch das »Sehen der Traumbilder« eine kontrollierbare Distanz zu wahren. In einer ersten Stufe sieht der Träumer sich selbst im Traum, später ist er Zuschauer und verschiebt den interaktiven Anteil des Traums auf andere Objekte. In der Tableauisierung wird der Traum wie ein Bild betrachtet (»Ich sehe mich auf einem Weg im Wald spazieren«). Im Traum ist es natürlich so, dass der Träumer Träger der Aktivität ist (»Ich spaziere auf einem Weg durch den Wald«). Diese Erzähltechnik führt zur irreführenden Annahme (oft vom Analytiker übernommen), der Träumer sei zweimal im Traum vertreten. Die Formulierung bedeutet aber nur: Ich betrachte ein Bild, in dem ich eine Rolle spiele. Der Nachvollzug der Simulation des Traumgeschehens wird vermieden. Die Affektaktualisierung des Geschehens bleibt aus. Eine zweite Form der Distanzierung bedient sich des Arguments der Fragmentierung. Der Analysand: »Ich weiß nur noch eine kurze Szene, ein kleines Stück, alles andere habe ich vergessen. Nur gerade

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dies ist mir geblieben.« Das ist eine durchaus richtige Erkenntnis. Der erinnerte und erzählte Traum ist immer nur fragmentarisch, ein bewusst gewordenes Stück, ein Fragment des Traumprozesses, von dem man annimmt, dass er ununterbrochen weiter geht. Der Analytiker mag in seiner Traumtheorie wohl wissen, dass der erzählte Traum ein Fragment ist, er sich aber wie eine Erzählung um ein generiertes Selbst herum darstellt und eine Mikrowelt ausbildet, die zunächst dem Traumbewusstsein, dann dem Wachbewusstsein zugänglich ist. Der Analysand argumentiert anders. Der ganze Traum sei nicht bekannt, es sei deshalb unsinnig und überflüssig, sich damit zu befassen. Diese Argumentation soll den Analytiker dazu verführen, sich nicht mit dem Traum zu befassen. Eine besonders subtile dritte Form der Distanzierung ist die Bedeutungsverleugnung (im Sinne der Veridität). Die Akzeptanz der Simulation, das »Gehen durch den Traum« würde ja die Urheberschaft der Traumphantasie in sich schließen. Damit wäre auch der Boden geebnet, einer Interpretation, wie groß auch die Anteile von Analysand und Analytiker daran sein mögen, die Veridität eines inneren Prozesses zuzugestehen. In vielen Fällen wird auf eine Interpretation eingegangen, aber nur in der Weise, dass dem Traumprozess eine »Möglichkeit« zugesprochen wird. Oft wird auf die traumtheoretische Aussage hingewiesen, der Traum habe doch mehrere Bedeutungen, somit könne jede Traumauslegung nur eine mögliche, aber nicht eine unbedingt zutreffende sein. Das Erleben in der Mikrowelt hat keine Evidenz. Träumen und Interpretieren ist nur ein (möglicherweise interessantes) Spiel. Das hat natürlich zur Folge, dass die jeweilige Rückführung der Deutungsarbeit in die Beziehungsregulierung der Beziehung Analytiker – Analysand sowie in weitere reale Beziehungswelten nicht gemacht wird (Stern et al. 1998; Moser 2001). Die Urheberschaft der Interpretation wird dem Analytiker angelastet, als ob er die Personen in den Traum gesetzt hätte. Oft wird durch Schweigen Akzeptanz einer Interpretation vorgetäuscht. In ausgeprägter Form ist dieses Verhalten, das auch anderen Interpretationen (nicht nur von Träumen) zukommen kann, mehrfach beschrieben worden.2 2 Bion (1962) definiert einen Prozess »denuding of meaning«, eine Variante dessen, was er mit »minus K Prozess« beschrieben hat. Die Bedeutungsver-

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Läuft die Bedeutungsverleugnung auf eine Dauerhaltung hinaus, dann ist in einer »as if« Analyse ein Lernen nicht möglich. Riesenberg-Malcolm (1999, S. 135) hat eine Fallstudie zum Thema publiziert. »The experience of being in analysis and not learning offers the Patient a modus vivendi.« Das subjektive Erleben des Analysanden ist nicht mehr zu fassen. In allen Fällen der Distanzierung bleibt der Traum eine Möglichkeitsphantasie, die aufrechterhalten bleibt, um Interpretationen ihrer Bedeutung zu berauben. Das kreative Potential des Traums wird nicht genutzt.

■ 5. Psychoanalytische Traummodelle Die Traumtheorien der Psychoanalyse (die als generelle Theorien kodifizierten) haben sich seit Freud unter dem Einfluss von Ergebnissen, die außerhalb des psychoanalytischen Erfahrungsbereichs liegen, stark gewandelt. Wie auch immer diese Theorien aussehen mögen, dem praktisch tätigen Psychoanalytiker bleibt eine Übersetzungsarbeit nicht erspart. Er muss die subjektive Theorie des Analysanden über Träume kennen lernen und eine Überbrückung finden. Setzt sich mit der Zeit die Theorie des Analytikers durch, bleiben immer noch Probleme zurück, die in der Struktur des Traummodells liegen. Es werden von beiden Beteiligten bestimmte Deutungen (als Phantasien oder Narrative zum Traum) bevorzugt und andere mögliche nicht gesehen. Das Problem spitzt sich zu, wenn der Analytiker zu gesättigten Interpretationen neigt, die keine Alternativen, oder nur unvollständige zulassen (Ferro 1999, 2002). Im folgenden werden nicht systematisch und auch nicht chronologisch dargestellte Theorien zur Illustration der Probleme geschildert. Bei einigen älteren Theorien wird sichtbar, dass sie nicht weit von Alltagstheorien entfernt anzusiedeln sind und im Kern kräftige Metaphern enthalten. leugnung beruht auf einem Prozess der projektiven Identifizierung. Der »primäre« Neid auf den Analytiker wird durch eine »as if« analytische Haltung verdeckt.

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■ 5.1 Der Traum als Fenster Im überlieferten Traumtagebuch eines japanischen, buddhistischen Mönchs namens Myôe (12. Jahrhundert) findet sich die Vorstellung eines Fensters zu einer andern Welt (Kawai 1997/98; Tanabe 1992). Myôe ist sich dessen wohl bewusst, dass der Traum in ihm selbst abläuft. Er stellt ihn in Parallele zu einer Vision im Wachzustand. Beide werden durch die Meditation ausgelöst. Auch wenn der Inhalt der Träume in heutiger Sicht durchaus Träume über innere Probleme sind, deutet dies Myôe nicht so. Das Fenster geht in eine andere, göttliche Welt, in die zu gelangen, höchstes Ziel ist. Der Traum ist Teil einer andern, weisen Welt, in der man gern leben möchte und die der Träumer auch im Wachzustand in seinem Leben verwirklichen will. Bei Freud (1900a) hingegen ist der (manifeste) Traum ein »Fenster zur Innenwelt des Träumers«, zum Raum des Unbewussten. Der Traum enthält eine Welt andersartiger Phänomene, die spontan und unwillkürlich auftauchen und der Kontrolle des rationalen Problemlösens entzogen sind (Rather 2001). So weit liegen die Ansichten von Myôe und Freud auch wiederum nicht auseinander, denn das Unbewusste der Psychoanalyse, jenseits des Fensters des manifesten Traums, enthält Attribute, die auch den Göttern zukommen (Bomford 1974; Widlöcher 1993). Letzterer weist darauf hin, dass in der Psychoanalyse der Glaube an diesen mysteriösen Bereich durch jenen an das Unbewusste ersetzt wurde. »Croire, à l’inconscient n’est donc pas un pre-requis théorique [religieuse?] mais une familiaritié avec un mode de penser autre que celui auquel accède notre conscience« (Wildlöcher 1993, S. 112). Von Freud stammen auch die ersten Regeln der Trauminterpretation (Freud 1900a; Greenstein 1983). Ich gehe eingehender darauf ein, weil hier deutlich wird, inwiefern und wie weit ein Interpretationsverfahren vom Traummodell des Analytikers bestimmt wird. Der Traum (der manifeste) wird als eine Plattform aus vielen vernetzten Elementen bestehend gesehen. Von jedem Element her können Assoziationsstränge gezogen werden, die in die »Tiefe«, in Richtung der wichtigen, latenten Traumgedanken gehen. Die klassische Regel besagt denn auch, vom ersten Element auszugehen und Schritt für Schritt bei allen weiteren Elementen in gleicher Weise assoziierend fortzuschreiten. Der ma-

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nifeste Traum gleicht einer sprachlich formulierten Karte über die Orte möglicher Bohrlöcher. Das Verfahren ist sehr aufwendig. Deshalb kann die Prozedur gelockert werden. Man nimmt dabei beliebige Elemente, insbesondere aber jene, die sich besonders auszeichnen, zum Beispiel vage Passagen oder anderseits deutlich konkrete, die affektiv intensiv »besetzt« erscheinen. Manchmal genügt ein einziger Assoziationsstrang, um in zentrale Bereiche der latenten Traumgedanken zu gelangen. Die Assoziationen sind aber nicht identisch mit den latenten Gedanken (Freud 1933a, S. 12): »Diese sind in den Assoziationen wie in einer »Mutterlauge«, aber doch nicht ganz vollständig enthalten. Die Assoziationen bringen einerseits viel mehr, als wir für die Formulierung der latenten Traumgedanken brauchen, nämlich all die Ausführungen, Übergänge, Verbindungen, die der Intellekt des Patienten auf dem Wege der Annäherung an die Traumgedanken produzieren musste. Anderseits hat die Assoziation oft gerade vor den eigentlichen Traumgedanken Halt gemacht, ist ihnen nur nahe gekommen, hat sie aber nur in Anspielungen berührt.«

Die Assoziationen, so wird ergänzend angenommen, folgen den Spuren derjenigen Bahnen, die zu den manifesten Traumelementen geführt haben. Assoziationen können – immer nach Freud – unter großem Druck des Widerstands weit ausholen, Ausweichschlaufen in nicht relevante Erlebnisgebiete legen und letztlich ganz von den latenten Traumgedanken wegführen. Sie »entleeren« dann in gewissem Sinne den Traum (Bollas 1995) und tauchen nicht in die eigentliche Mutterlauge ein. Da in der Regel ein einziger Traumgedanke durch mehr als ein Traumelement repräsentiert wird, kann man, insbesondere in fortgeschrittenen Analysen, wenn der Analysand sich an die Interpretationen gewöhnt hat, selbst den Ausgangspunkt der Assoziationen wählen. Es mag klar geworden sein, wie sehr das Traummodell Freuds die Art der Interpretation bestimmt, die dem Analysanden mitgegeben wird. Unschwer ist auch erkennbar, wie Freud sich im Rahmen eines topischen Modells bewegt, das sich als Darstellung des psychischen Apparats auch heute noch hält.

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■ 5.2 Der Traum als Botschaft Erwachsene Menschen unserer Kultur haben die Vorstellung, dass Träume in unseren Köpfen ablaufen, im engeren Sinne im Gehirn. Das hat zur Konsequenz, dass der Träumer sich auch als Akteur des Traums betrachtet. So einfach ist die Sache auch wieder nicht, denn es könnte ja sein, dass aussenstehende Kräfte sich der neuronalen Organisation des Gehirns bemächtigen, um Botschaften aus einem »Jenseits« im Träumer zu gestalten. Das Modell der Botschaft ist bei Therapeuten und Analysanden äußerst beliebt. Dabei ist eine »innere« Botschaft von einer »äußeren« zu unterscheiden. Die erstere ist eine Mitteilung innerhalb des Raumes, in dem sich der Traum abspielt. Der Raum ist aufgeteilt. Im einen Raum werden Dinge dargestellt, die vom anderen Teil nicht akzeptiert werden. Konzepte wie »Spaltung«, »Verleugnung«, »Abwehr« tauchen auf. Der Traum wird als eine Botschaft verstanden, die dem anderen Träumer die Aufgabe gibt, eine integrative Arbeit vorzunehmen, auf diese »innere Stimme« zu hören. Der Traum transformiert und gestaltet Inhalte: körperliche Reize wie auch unerledigte psychische Spannungszustände. Diese Annahme über die Funktion des Traums ist nicht ganz unrichtig. Die Phantasie des Analytikers liegt hier sehr nahe an einer möglichen Phantasie des Analysanden. Traumtheorien dieser Art finden sich häufig in der Jungschen Psychologie, aber auch in der Selbstpsychologie (z. B. Fiss 1999), bei Benedetti (1998) und in der Kleinschen Schule. Fiss spricht geradezu von einer therapeutischen Funktion des Traums als Selbstkorrektur. Benedetti unterscheidet zwischen Realträumen und Symbolträumen. In der ersten Version wird der Traum vom Träumer als eine Botschaft erlebt, wie er sich real zu verhalten hätte (um gesund zu werden). Therapeuten haben oft den Traum zur prospektiven Funktion gemacht, die eine Gesundung anzeigen kann (z. B. Maeder 1913). Solms (1998) hingegen lehnt diese therapeutische Funktion des Traums aus neuroanatomischen und neurophysiologischen Überlegungen strikte ab. Die »äußere« Botschaft bezeichnet den Prozess des Erzählens des Traums an eine Drittperson, zum Beispiel an den Analytiker. Der Traum im Innenraum, der geträumte Traum wird zur verbal formulierten Form einer Mitteilung. Wer seinen Traum einer Person

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erzählt, schickt ihm unbewusst eine Botschaft und benützt den Traum als Vehikel, was den Vorteil hat, dass die Botschaft dem Sender nicht bewusst werden muss (s. das Beispiel von Morgenthaler 1986, S. 72ff.) Durch das Erzählen des Traums die innere Botschaft an den Analytiker weiterzugeben, hat aber seine Gefahren, die mit den Erwartungen zusammenhängen, wie der Analytiker die Botschaft aufnehme. Vielleicht spielt man ein Geheimnis in die Hände eines potentiellen Verfolgers. Der Traum kann als erzählter Traum ausgeschmückt und wohl formuliert werden, um dem Analytiker zu gefallen. Dann erhält der Traum eine sekundäre Bearbeitung3 um mögliche Interpretationen zu beeinflussen. Bei allen Vorteilen der Botschaftsmetapher sei an Freud erinnert: »Der Traum will niemandem etwas sagen. Er ist kein Vehikel der Mitteilung.« (Freud 1940a, S. 238)

■ 5.3 Der Traum als Theater Auch unter den Psychoanalytikern gibt es begeisterte Anhänger des Theaters. Arbeiten von Morgenthaler (1986), Bollas (1987) und Meltzer (1984) arbeiten mit dieser Metapher (die allerdings von Morgenthaler einschränkend als eine »didaktische Hilfsvorstellung« bezeichnet wird). In einer Theateranordnung gibt es verschiedene Räume: einen Zuschauer-, einen Bühnenraum und eine Requisitenkammer. Das Traumgeschehen ist wiederum räumlich genau festgelegt. »Wo« und »Was« sind genau verknüpft. Mit den Worten Morgenthalers: »Im Schlaf sitzt der Träumer als Besucher in einem Theater. Der Vorhang geht auf und er sieht auf der Bühne eine Szene, zum Beispiel den Sommernachtstraum vorn Shakespeare. Hinter den Kulissen sitzen die Traumregisseure. Das sind die Instanzen der unbewussten Ichanteile, die dafür sorgen, dass auf der Bühne alles so vor sich geht, wie es geplant ist … Das Volk aber ist unzufrieden, weil im Theater nie das aufgeführt wird, was 3 Zur sekundären Bearbeitung unterscheidet Stein (1989) drei Typen, im Anschluss an Freuds Ausführungen zu diesem Thema (1900): Kritik am Traum, Edition des Traumes, Plagiate aus Geschichten, die in den Traumtext eingewoben werden.

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es wirklich will. Unzufrieden sind vor allem die ungesitteten, schwer unter Kontrolle zu haltenden Aufbegehrer, die alles immer in Unordnung bringen wollen. Während der Theateraufführung drängen diese Leute von der Strasse durch den Artisteneingang ins Theater. Einige sind betrunken, andere kommen mit einem Hund oder Ziegenbock. Eine schreiende Frau ist auch dabei und vieles mehr. Diese Leute sind Störfaktoren und drohen auf die Bühne durchzubrechen … Die Eindringlinge sind die unbewussten Triebregungen. Auf der Bühne muss alles schön und geregelt ablaufen, damit der Träumer, der im Theater sitzt, nicht erwacht … Die Traumregisseure haben einen Schatz an Requisiten und Verkleidungsmöglichkeiten für diese Eindringlinge. Nicht immer gelingt es, alles rechtzeitig zuzudecken. Es kann dann vorkommen, dass eine Prinzessin auf der Bühne noch irgendein Horn trägt, weil es der Traumregie nicht gelungen ist, den Ziegenbock ganz zu verkleiden. Geraten die Traumregisseure in allzu große Schwierigkeiten, können sie den Strom abstellen und das Theater in Dunkelheit hüllen. Szenenwechsel oder Erwachen sind dann die Folge. Es würde zuviel Angst erlebt, wenn das Stück weiterginge« (1986, S. 81ff.).

Für Morgenthaler hat das Erleben Priorität und nicht das Verstehen und Erinnern. Ist aber Theater Darstellung, mögliches Erleben oder wirkliches Erleben? Der Traum bleibt in dieser Vorstellung eine vorkomponierte, geordnete Komposition, freilich mit unkontrollierbaren Störungen. Identifizierungen mit den Figuren des Stückes sind wohl möglich, aber zugleich affektiv gebremst und jederzeit abbrechbar. Es muss ja auch vermieden werden, dass der Träumer leibhaftig auf die Bühne gerät. Bollas (1987) holt weiter aus. Der Traum verhüllt und zeigt zugleich. Indem er sich in Rätsel hüllt, reizt er auch die Neugier. Der Träumer wird von ihm als Bestandteil des Traums selbst gesehen. »Die Traumerfahrung ist die subjektive Seinserfahrung des Träumers, während er sich innerhalb des Traumtheaters befindet« (1987, S. 245). Er gerät in Widerspruch zu Freud und meint, dass man nicht nur klassisch aus dem manifesten Traum die latenten Gedanken extrahieren soll, sondern dass der Traum auch den Stil zeigt, wie das Ich mit den Wünschen umgeht und wie es mit der Traumerfahrung ein präverbales Selbst geformt hat. Damit kommt er dem Konzept des narrativen Traums sehr nahe. Die Version Traum als Theater ist aus zwei Gründen für Analy-

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tiker sehr attraktiv: Zum ersten enthalten sehr viele Träume eine Zuschauerstruktur (Foulkes 1985; French 1954, 1958). In dieser Struktur ist die Selbstkonfiguration des Träumers passiviert (wenig Selbstpartizipation). Zum zweiten wurde dass Traumtheater zu einer Darstellung der Urszenenphantasie, der Traum zu einem Mittel, zwischen drei Möglichkeiten, auf die Urszene zu reagieren, zu differenzieren: Die Urszene ist ein auf einer »Bühne« ablaufendes Drama vor dem Kind. Im Traum erscheint sie wieder, durch Abwehr der damals ausgelösten Affekte als statisches Bild eingefroren. Melanie Klein sieht die Sache etwas anders. Bei vielen Analysanden ist eine massive projektive Identifizierung da, sodass sie nie im Publikum sitzen können, wo sie sich eigentlich befinden sollten. Statt dessen phantasieren sie, auf der Bühne zu stehen. Doch sind sie in diesen Phantasien nicht sich selbst, sondern spielen die Rolle des einen oder andern Elternteils. In positiven Deutungen impliziert das Bild der Urszene eine Distanz, die mit der Zeit ein Wissen ermöglicht (ein Denken über das, was man sieht). Es können simultan die vier Positionen (Mutter, Vater, Mutter und Vater ohne mich, ich) nachvollzogen werden.

■ 5.4 Traumschirm und Traumraum Lewin entwickelte in seinen Arbeiten (1946, 1948, 1953, 1954) Theorien, die Ähnlichkeiten und Zusammenhänge zwischen Traum, Schlaf, Tod und analytischer Situation (Liegeanordnung) zum Thema hatten. Die Idee, dass es einen Traumschirm (dreamscreen) gäbe, auf dem der Schlaftraum läge, beziehungsweise projiziert werde, beruht auf der kindlichen Theorie, dass der Traum auf etwas liege oder stehe, dass es ein »Traumtableau« als Hintergrund gäbe. Unter gewissen Umständen kann dieser visuell leer sein. In diesen Leerträumen (blank dreams) kann der Träumer nur Gefühle berichten. Die übliche Visualisierung der Affekte erfolgt nicht. Das Tableau ist nach außen gekrümmt (was von Kindern nicht berichtet wird). Er wird zurückgeführt auf die Oberfläche der mütterlichen Brust, die das Kind beim Saugen im Blickwinkel

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hat. Der Traum ist somit eine Auflage der tröstenden mütterlichen Brust, die das Kind in den Schlaf wiegt. Hätte Lewin die Kleinschen Theorien berücksichtigt, dann hätte er wohl eine nach außen gewölbte Brust von einer nach innen gewölbten, abweisenden, nicht spendenden Brust unterschieden. Spitz (1955) brachte den Einwand, dass der Säugling doch eher das Gesicht, respektive eine visuelle Konfiguration (Gestalt) des Gesichtes im Blickfeld hätte. Lewin erweiterte seine Theorie. Die Leinwand ist nicht nur Projektionsort, sondern bereits eine örtliche Repräsentanz des Wunsches nach Schlaf und Ruhe, aus der Erinnerung an die mütterliche Brust geboren. Aus der hier noch konkret fassbaren sinnlichen Brust wird in späteren Theorien die mütterliche Rêverie, der mütterliche Container, der Gegenübertragungsraum, alles Vorstellungen, die als Vorläufer der Traumbildung dienen, aber ander seits auch erzählte Träume »aufnehmen« (siehe dazu Deserno 1999). Später wird in der Psychoanalyse der Traumschirm zum Traumraum. Pontalis (1974) zum Beispiel, aber auch Khan (1962, 1972, 1976), postulierten, dass jeder Traum einen Raum voraussetzt, in dem die Darstellung des Traums vollzogen werden kann. Der Traum, das »Was« muss in einem »Wo« lokalisiert sein. Dieses »Wo« ist im Innenraum. Der Traum ist jedoch jetzt eine Gesamtkonfiguration und nicht mehr ein einzelnes Element. Nach Pontalis (1974) ist er ein Objekt, nach Moser und von Zeppelin (1996) eine Mikrowelt. Der Traum hat seinerseits wiederum einen Innenraum, in welchen Elemente und Prozesse gesetzt und prozediert werden (Positionsfeld). Der Traum wird zu einem gestalteten Teil des Innenraumes. Hier liegt eine Beziehung zum »potential space« von Winnicott (1971), zu jener intermediären Zone, die zwischen Realität und Phantasie liegt. In ihm werden die Phantasien zu kreativen Imaginationen transformiert.4 Die Theorie von Bion (1967) der Transformation von Beta-Elementen in Alfa-Elemente geht in die gleiche Richtung. Der Traum ist eine Form dieser Transformation. Bedeutung erhalten setzt voraus, dass ein »Ich« Imagination oder Alfa-Elemente erlebt und 4 Winnicott trennt Phantasie von Imagination. Phantasien enthalten statische Entitäten. Sie tragen und repräsentieren noch keine Bedeutung für das Subjekt.

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ihrer gewahr wird (vgl. dazu Ogden 1985, 1989). Aber was ist ein Gewahrwerden? Der Traum hat ein Aufmerksamkeitsfeld (von Situation zu Situation wechselnd), das von einem »Ich« zentriert wird. Zentrieren heißt aber nicht unbedingt lenken oder beeinflussen. Diesem, ebenfalls simulierten »Ich« wird ein implizites Denken mit Intentionalität zugeschrieben. Erst nachträglich, im Wachzustand der Traumerinnerung, wird der Traumprozess teilweise in reflexives, explizites Denken einbezogen.5 Doch gibt es in den Träumen selbst explizite kognitive Prozesse. Oft teilt der Träumer an irgendeiner Stelle des Prozesses mit, dass er Überlegungen angestellt hätte, dass er sollte, müsste, meinte, beabsichtigte oder einen Auftrag hätte. Er verlässt dabei die Ebene des konkreten Denkens in Bildern, in welchem intendiertes bereits durch eine Instantiierung und Aktualisierung des Intendierten dargestellt wird. Die Metaebene der explizit kognitiven Prozesse enthält in bezug auf das primäre Geschehen des Traums eine Reflexivität, die durchaus Gemeinsamkeiten mit der expliziten Reflexivität des Wachzustandes hat. (Über diese Probleme wurde ausführlich diskutiert in Moser u. von Zeppelin 1996.) Es müsste möglich sein, implizites und explizites Denken im Traumbereich auf verschiedenartige Netzwerkverknüpfungen von Elementen zurückzuführen. Zieht der Traumraum sich an einem Ort zusammen und erhält er die spezifische Krümmung eines Hohlraumes, so entsteht das Konstrukt eines Containers. Der Traum kann in ihn hineingedacht werden oder er wird selbst zum Container.

■ 5.5 Der Traum als Container Ich habe zunächst die Traumtheorien von Bion (1963) und Meltzer (1988) im Auge. Das dem Container entsprechende Modell ist die Brust und aus der Identifizierung mit diesem frühesten Objekt ergibt sich eine Fähigkeit, die lose strukturierten Beta-Elemente (Sinneseindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen, »unverdaute Tatsa5 Wie stehen die Konzepte Traumbewusstsein und Wachbewusstsein zu den Begriffen implizit und explizit? Auch philosophisch ist dies nicht eindeutig beantwortet worden (Lloyd 1989; Uslar 1969; Wyss 1988).

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chen«) in sogenannte Alfa-Elemente zu transformieren. Dies sind Träume, Traumgedanken und Traumbilder, im ausgedehnten Sinne der Theorie emotionshaltiger Piktogramme, die unaufhörlich, aber nicht direkt zugänglich, unser Wachdenken ausmachen (vgl. dazu Ferro 1999). Sie sind, wie Ferro annimmt, nur in den »Rêverien« und in Flashs erkennbar6. Die mütterliche Rêverie in der Beziehung zum Kind ist eine wichtige Voraussetzung für das Träumen: Träumen kann später nur, wer denselben Vorgang von der Mutter übernommen und introjiziert hat. Der Traum wird in dieser Theorie zu einem schöpferischen Prozess (vgl. auch Ermann 2000). Wohl deshalb auch erfreut sich dieses Modell großer Beliebtheit. Es greift frühkindliche Vorläufer von Transformationskonzepten auf. Erlebendes Denken wird zum Beispiel zur »Verdauung«. Der kreative Prozess kann auch scheitern oder behindert werden durch eine nur »teilweise« Verdauung von Beta-Elementen (Ferro 2002). Die konkretistische Einfachheit macht die Theorie sehr erlebnisnahe, verdeckt aber die Vagheit der Definitionen der eingeführten Elemente. Man kann es natürlich auch positiv sehen. Dann wird dieses Modell eine Vorläuferin informationstheoretischer Konzepte, die Zustände und Transformationen affektiv-kognitiver Information innerhalb eines psychoanalytischen Bezugsrahmens zu fassen versucht.

■ 5.6 Nachtrag: Der Traum als Objekt Pontalis (1974) hat zwei Erlebnisweisen des Traums unterschieden: Traum als Raum und Traum als Objekt. Der Traum ist im zweiten Fall ein »inneres Objekt« (Objekt der Innenwelt) in Anlehnung an Winnicott ein Übergangsobjekt und/oder ein Objekt des Beziehungsfelds von Analytiker und Analysand, das von der Übertragungs-/Gegenübertragungskonstellation her seine Bedeutung bekommt. Der Traum ist ein eigenes Objekt, nur dem Träumer gehörig, das nicht ohne weiteres mit dem Analytiker geteilt werden 6 »Rêverien sind lebhafte Phantasien, wie Träume mit offenen Augen, die der Analytiker, ausgehend von den projektiven Identifizierungen – von BetaElementen des Patienten bisweilen produziert« (Ferro 2002, S.13).

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kann. Es ist ein niemals vollständig zu erreichendes Objekt, das leicht entschwindet und in der Suche nach dem geträumten Traum wiedergefunden werden möchte. Letztendlich repräsentiert er das Inzestobjekt, die Mutter. Als Übergangsobjekt hat er dieselbe Funktion wie der Zipfel der Bettdecke: er ist ein schlafversicherndes Mittel. Wird er ein Objekt der Beziehung zum Analytiker, so wird er ein potentielles oder reales »Trans«-Objekt, das dem Analytiker übergeben werden kann oder nicht. Da gibt es unzählige Versionen vom wertvollen Geschenk bis zum analen Abfallprodukt. Die Einbettung in die Übertragungsphantasie entscheidet, auf welcher Entwicklungsstufe dieses Objekt angesiedelt wird und ob ihm eine narzisstische oder eine objektale Bedeutung zukommt. Ich verfolge diese Variante des Themas Traum nicht, obwohl die Theorien und Phantasien über den Traum auch ihm als Objekt gelten können. Der Akzent ist in dieser Arbeit auf die Struktur des Traums als Prozess einer Mikrowelt gelegt worden.

■ 6. Der Einfluss neuerer Traumtheorien auf die Trauminterpretation In der vorangegangenen Darstellung beliebter Traumtheorien fehlen viele, die zu Recht auch hätten angeführt werden müssen. Ich erinnere an French (1958) und Fromm (1964), an Erikson (1954), an die informationstheoretischen Ideen Palombos (1978) sowie an seine konnexionistischen Formulierungen von einzelnen Traummechanismen (1992). Weiter erinnere ich an Reiser (1990) sowie an die neuroanatomischen und neurophysiologischen Theorien (s. Solms 1997, 1998). »Wo« der Traum stattfindet, wird in neuronale Netze, Schlaufen und Schaltkreise verlegt. Auch die Zusammenhänge zwischen Traum und Gedächtnis sind teilweise erklärt, mitunter auch modelliert worden (Palombo 1992; Koukkou u. Lehmann 1983). Solche Theorien können aber einem Analysanden höchstens rational in Form von Erklärungen geliefert werden (was für den psychoanalytischen Prozess nicht förderlich wäre) und sie würden Analytiker und Analysand in der psychoanalytischen Situation direkt nichts nützen, hätten beide auch neuroana-

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tomisches, neurophysiologisches Grundwissen und wüssten sie auch über die Techniken konnexionistischer Modellbildung Bescheid. Im »On-line«-Arbeiten der therapeutischen Situation muss deshalb der Analytiker diese komplexen und gelegentlich abstrakt formulierten Theorien, die er aus der »Off-line«-Forschung bezieht, für die interpretative Tätigkeit umwandeln. Er muss dem Analysanden diese Theorie Stück für Stück vermitteln, Erkenntnisse, die für den Analysanden neu sein werden. Das führt zu einer Konfrontation mit der subjektiven Theorie des Analysanden über den Traum. Dasselbe gilt natürlich auch für den Analytiker. Ein solcher Prozess erfolgt nicht über Erklärungen, sondern gleichsam osmotisch. Der Gewinn an Verständnis für die Traumprozesse ist groß. Das soll in den nächsten Abschnitten am Beispiel der Theorie von French (1954, 1958) und vor allem an der Generierungstheorie des Traums von Moser und von Zeppelin (1996) gezeigt werden. Ich bleibe damit im eigenen Kompetenzbereich, ohne andere Theorien auszuschließen. Zunächst werden grundlegende Annahmen formuliert, die in das reflexive Denken von Analytiker und Analysand eingehen »sollten« (Abschnitt 7). Anschließend folgen selektiv herausgegriffene Beispiele: Positionsprozesse (Abschnitt 8), Sensibilisierung für affektive Zustände und Abläufe (Abschnitt 9), verbale Relationen im Traum (Abschnitt 10). Für weitere Beispiele wird es unumgänglich sein, Originalquellen heranzuziehen (s. Moser u. von Zeppelin 1996).

■ 7. Basiswissen für den Umgang mit Träumen ■ 7.1 Träume sind Manifestationen psychischer Prozesse, die im Schlafzustand ununterbrochen vor sich gehen und infolge zu großer Erregung (motivationaler und/oder affektiver) eine Form von »Erlebbarkeit« und (nicht immer) »Erinnerbarkeit« bekommen haben (s. Solms 1997, 1998, u. a.). Diese erlebten Teile werden von einer Art »Bewusstsein« gebündelt und zentriert. Ein Traum bildet deshalb nie alle Tätigkeiten des mentalen Prozesses ab. Der ent-

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standene Ausschnitt bildet eine Mikrowelt, in welcher unerledigte Erregungszustände (körperliche, konfliktive, traumatische) probeweise, simulativ nach einem bestimmten Regulierungsmuster erlebt werden; dies unter Abkoppelung des motorischen Verhaltens im Wachzustand. Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass im Hirn der größere Teil der Verschaltungen nicht direkt an Sinneseindrücke und sensomotorische Steuerungen gebunden ist. Man muss annehmen, dass eine Unzahl von solchen Mikrowelten entstehen, parallel und im Austausch untereinander. Der Traum ist nur eine dieser Möglichkeiten. Für einen Analysanden ist es wichtig zu wissen, dass immer wieder geträumt wird und ähnliche oder verwandte Elemente auftauchen, nur neu gemischt und anders organisiert. Die Mikrowelten der Träume bleiben untereinander über die immer wieder simulierte Problemverarbeitung verbunden. Jeder Traum hat auch ein für diese Welt simuliertes eigenes Selbst. Die Konstellation eines Selbst oder Ich, ist eine notwendige Illusion (Roth 2001) für das Funktionieren mentaler Prozesse.

■ 7.2 Der Traum ist eine simulierte Mikrowelt. Da ein Verständnis für das Phänomen der »Simulation« bei Analysanden und auch bei Analytikern schwer zu wecken ist, muss ich etwas weiter ausholen. Durch die Hemmung von Mikrowelten, die motorische Reaktionen (Abfuhr oder zielgerichtete Handlungen) regulieren (vielleicht auch durch die Hemmung von reflexivem Denken, das eine Funktion des Wachzustandes ist), sowie durch die Vermeidung der vollen Affektintensität entsteht eine Welt halluzinatorischer Erlebnisse, die vom Träumer für real gehalten werden. Der Träumer erlebt sich selbst als tatsächlich beteiligter, wenn auch unter »abgeschwächter«, in unterschiedlichem Grade aber erhalten gebliebener Affektdosis. Diese Mikrowelt wird »entworfen« aber nur soweit der Träumer die entstehenden Affekte erträgt, die das Geschehen mit sich bringt. Ein Vergleich mit dem »Als-ob«-Charakter kindlicher Spiele liegt nahe. Doch sind die beiden Phänomene nicht ganz identisch. Im Traum ist der Träumer (als Modell seiner selbst) ein

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Subjekt, das Prozesse trägt, sie auslöst und von solchen betroffen wird (Subjektprozessor). Der Analysand wie auch der Analytiker müssen sich mit dem Subjektprozessor identifizieren und durch den Traum spazieren, als ob dieser ein Vorgang des Wachzustands wäre. Diese Grundregel ist nicht neu. Sie findet sich in verwandten Formulierungen bei Spanjaard (1969), Ehebald (1981), Fosshage (1983), Jimenez, (1990), implizit auch bei Erikson (1954). Eine solche Praxis beruht auf einer Neueinschätzung des manifesten Traums. Die Assoziationen verlieren an Bedeutung, respektive sie generieren lediglich einen wichtigen Kontext für den manifesten Traum, der es erlaubt, ihn auf dem Hintergrund der Gegebenheiten eines bestimmten Patienten zu untersuchen und zu interpretieren (Stolorow u. Atwood 1982). In klinischen Präsentationen der Kleinschen Schule war das schon lange üblich (vgl. z. B. Segal 1985). (Überlegungen dieser Art sind an die Analytiker gerichtet und werden kaum in den therapeutischen Diskurs eingehen.) Zurück zum Simulationsvorgang. Er impliziert, dass der Traum ein erlebter Vorgang ist, der sich mit einem Einsichtsprozess verbindet. Das andersartige Denken, benenne man es theoretisch als sensuell, konkretistisch, präkonzeptiv nach Piaget (1956), oder als bilogische Struktur nach Matt-Blanco (1975, 1988), wird nicht durch den manifesten Traum hindurch über die Erschließung latenter Traumgedanken gefunden, sondern es ist in der Gestaltung des manifesten Traums schon da. Das ist vom Analysanden schwer einzusehen, weil er durch die Sprachstruktur des erzählten Traums getäuscht wird. Das steht nicht im Widerspruch zur Tatsache, dass sich in vielen Träumen verbale Interaktionen abspielen. Diese Traumpartien sind wachbewusstseinsnäher und haben Abwehrcharakter. Sie gehören nicht zum Traumkern (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996). Im Vergleich verschiedener Träume im Lauf einer Psychoanalyse kann vom Analysanden auch erfahren werden, dass er als Träumer nicht nur immer wieder neue Mikrowelten entwirft, sondern auch, dass jeder Traum ein anderes Modell seines Selbstmodells enthält. Man ist in jedem Traum ein anderer, in einem anderen Selbstmodell (Moser 1999). Im Grenzfall kann man natürlich auch immer dasselbe Selbst bleiben, was auch wieder zum Überdenken Anlass geben kann. Dieses andere Selbst ist wie die Welt, die damit verbunden ist, unvorhersehbar und unvoraussagbar.

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■ 7.3 Die Traumprozesse enthalten ein von der verbalen Sprache unabhängiges Denken. Der Kern des Traums besteht aus einer Sequenz von Situationen, die konkretistisch-präverbal und mehrheitlich visuell »formuliert« sind. Dieses Denken gleicht jenem, das wir in der präverbalen Stufe des Kindes (vor dem zweiten Lebensjahr) voll entwickelt finden. Es geht wohl nie völlig verloren. Nur wird es uns fremd und wirkt andersartig, sobald rationales Denken entstanden ist und dominiert. Analytiker wie Analysand müssen im Traumverständnis ein ihnen vielleicht entschwundenes Denken wiederbeleben. In der Tat gibt es bereits im Traum vier Ebenen des Prozessierens: 1. die bereits genannte sensuell-konkretistisch bildhafte Ebene, 2. die Ebene von verbalen Relationen (nicht zu Verwechseln mit dem Reden im Schlaf), 3. die kognitiven Prozesse in Form von »reflexivem« auf dem Trauminhalt der Ebene 1 bezogenen Denkens, das einem Subjekt oder Objekt des Trauminhalts zugeschrieben wird, 4. explizit affektive Prozesse, die wie 3) auf Traumsituationen bezogen sind. Der Träumer wechselt diese Ebenen von Situation zu Situation. Dieser Wechsel wird durch das Bedürfnis gesteuert, größere Kontrolle über das Geschehen zu erhalten, sobald es zu intensive, unangenehme Affekte auslöst

■ 7.4 Jeder Traum besteht aus einer Sequenz von Situationen, die sich durch Übergänge (Unterbrüche genannt) definieren lassen. In jeder Situation werden die Elemente neu gesetzt seien es Objekte (Personen, Tiere), Dinge oder Interaktivitäten. Auch der Selbstprozessor kann wechseln, sich zum Beispiel durch Attribute neu einkleiden. lm psychoanalytischen Traumverständnis wurde allzu lange der Traum als eine »Einheit« genommen, die »blasenartig« aus dem Unbewussten auftaucht. Durch die Sequentialisierung ist

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es erst möglich, die Transformationen zu sehen, die das Traumgeschehen prägen. Ein Analytiker kann zum Beispiel in einer Situation präsent sein, in der nächsten Situation verschwinden und zu einem neu eingeführten Weihnachtsbaum werden. In diesen Transformationen von Situation zu Situation tauchen auch Prozesse auf, die im Wachzustand so offen nicht benützt werden und vom bewussten Denken her absurd erscheinen mögen. Es ist auch von Interesse, dem Analysanden zu zeigen, was er als träumendes Selbst nicht macht und nicht zu Ende führt, weil Ängste intervenieren, obwohl es seinem Wunsch entspräche, zu einer Befriedigung zu kommen oder aus einer bedrohlichen Lage herauszufinden (s. dazu Bollas 1987). Über diese Problemlösungsversuche wurde vor langer Zeit eine wichtige Theorie von French (1954, 1958) entwickelt, die explizit über die Sequenz von Situationen, dann aber auch über die Sequenz von Träumen im Lauf einer Psychoanalyse, diesen Versuchen nachgeht und Parallelen zu jenen im Wachverhalten zieht.7

■ 7.5 Von dieser Theorie sollen nur Grundprinzipien angeführt werden, die implizit auch in die Theorie von Moser und von Zeppelin (1996) eingegangen sind. In einer Psychoanalyse werden interpersonelle Konflikte bearbeitet. Diese sind dem Analysanden nur zugänglich in der Form genereller Ahnungen, unverständlicher Reaktionen und Verhaltensweisen. Konflikte werden immer wieder reaktiviert durch das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen, aber auch durch Ereignisse, die in der weiteren Umwelt des Analysanden ablaufen. Gegen diese Reaktivierungen werden mannigfache Abwehren aus7 Viele Analytiker ziehen poetische Formulierungen vor. Problemlösen wird dann zum Verdauen, zur Umwandlung von Beta- in Alfa-Elemente und zur Fähigkeit, Alfa-Elemente zu bilden. Die Transformationen sind eine Art »Webfähigkeit«: »Das Unbewusste unterliegt einer ständigen Transformation der Konstruktion und Dekonstruktion, die in der Begegnung mit dem anderen Gestalt annimmt und sich in der Psyche weiterentwickelt« (Ferro 2002, S. 17).

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geübt (Reaktivierungsabwehr). Die Träume, die in der Analysenzeit geträumt werden, bilden eine Kette von Versuchen, in der Mikrowelt den Konflikt kognitiv-affektiv in den Griff zu bekommen. French spricht von einer kognitiven Spannweite (cognitive grasp). Dieser Prozess ist von jenen Affekten abhängig, die das Involvement regulieren. Es geht darum, sich nur soweit in die Situation einzulassen (committment), als intensive negative Affekte vermieden werden können und die Reversibilität möglich ist. Hoffnung auf Lösung (Befriedigungen von Wünschen, Abwendung von Bedrohungen) und Angst vor der Reaktivierung traumatischer Erfahrung8 sind gegensätzliche Kräfte der Traumgestaltung. Die Mikrowelt Traum ist das »vorläufige« Produkt solcher Versuche. Eine umfassende (integrative) Spannweite aller Aspekte der beteiligten Personen, die im Konfliktpattern auseinandergehalten werden müssten, ist zunächst nicht möglich. Unerträgliche Affekte führen zu Abwehrprozessen und lassen die integrative Spannweite schrumpfen (shrinkage of integrative span). Dann wird im Traum das Problem »vereinfacht«. Anstelle des interpersonalen Feldes zum Beispiel erscheint ein wohl analoges, aber affektiv entschärftes Bild, in welchem der Träumer andere Elemente positioniert, zum Beispiel nur noch mit unlebendigen Objekten umgeht, die statisch wahrgenommen werden und mit denen er nicht interagiert. In darauf folgenden Träumen kann sich das kognitive Feld des Traums wieder weiten, sofern sich das Verhältnis von Hoffnung auf eine Lösung und Angst vor einer Wiederkehr traumatischer Erfahrung ändert (z. B. durch den Einfluss therapeutischer Einwirkungen). Aus der Organisation des Traums lässt sich die Zugänglichkeit eines Problems in der momentanen Situation des Träumers erkennen. Beides: Wissen um die Veränderungen der kognitiven Spannweite auf Grund von Abwehren, und fragmentarische Teillösungen, deren Zusammenhang zur gesamten Konfliktstruktur nicht sofort ersichtlich ist, korrigieren die Allmachtsideen des Analysanden, es gäbe in kurzer Zeit eine »ein für allemal« Lösung. 8 Traumatische Erinnerung meint Erinnerung an eine Situation, die keine Lösungsprozesse mehr zuließ und Veränderungen verhindert hat. Spätere Reaktivierungen führen zu Wiederholungen und erzeugen dieselben unerträglichen Affekte.

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Das Problem der Spannweite findet sich wieder bei Moser und von Zeppelin (1996) im Konzept des Differenzierungsniveaus des Traums. Gewisse Traumpassagen werden detailliert erzählt, und die auftauchenden kognitiven Elemente sind mit Attributen versehen. Andere Passagen werden anonymisiert (»ein Mann«, »ein Auto«) oder subtrahierend zusammengefasst (»Ich gehe von zu Hause auf den Bahnhof«). Das Auftauchen von Details spiegelt die Fokussierung der Aufmerksamkeit des geträumten Subjekts wider. Was wichtig ist und Bedeutung besitzt, wird als Information in den Traumtext gefügt. Dabei gilt: Das Differenzierungsniveau eines Traums spiegelt genau das Informationsverarbeitungsvermögen des Träumers in bezug auf den im Traume zu bearbeitendend Konflikt wider. Abstrahierende Passagen (etwa eine Traumkulisse, z. B. »hohe Berge«, »ein Platz vor einem Haus«) enthalten in verdichteter Form zusätzliche Information, die aber dem Träumer nicht differenziert und nur in dieser globalen Form zugänglich ist. Bei diesen Schrumpfungen des interpersonalen Feldes »in place« und dessen Elementen kann beobachtet werden, wie nun die beiden Aspekte des »Wo« und des »Was« wiederum zusammenfallen: Orte, Abstände, Distanzen sind genau so wichtig wie strukturelle Aspekte der Dinge. Beide, Ort und Dingobjekt, mögen für ganze interpersonale Szenen stehen, die nicht in das Interaktionsfeld des Traums geraten dürfen.

■ 8. Positionsprozesse Jede Situation der Traumsequenz besitzt eine Menge von kognitiven Elementen, die das »Positionsfeld« ausmachen. Bleibt es bei diesem Prozess der Setzung, so bestimmen Nähe, Distanz, kognitive Konfigurationen (wie z. B. oben/unten, Grenze, Container/ Contained) ausschließlich die Struktur des Feldes. Diese Elemente bilden die Ausgangsbasis der Mikrowelt. Nach welchen Prinzipien erfolgt die Auswahl dieser Elemente? (Das Subjekt ist natürlich immer dabei.) Offenbar werden durch die Augen des Träumers Objekte gesetzt, die dann potentiell gewisse interaktive Entwicklungen zwischen den Elementen ermöglichen, andererseits aber den Träu-

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mer auch in diesem gesetzten Bereich gefangen halten, solange die Situation andauert. Dieses Positionsfeld ist seiner Statik wegen gut kontrollierbar. Es wird räumlich erlebt, das »Wo« des Objekts bestimmt auch das »Was«. Zumeist sind die Elemente zusammengefasst zu einem Ort, zu einem »place« oder zu der interaktionsnäheren Form des sozialen Settings (»Ich bin in der Analysenstunde«), in welchem noch nichts geschieht9. Das Setzen mit den Augen erinnert an Aussagen Bions über die Halluzinationen (1967): »If a patient sees an object, it may mean, that an external object has been perceived by him or it may mean, that he is ejecting an object through his eyes…« (S. 67). »The consequences for the patient are that he now moves, not in a world of dreams, but in a world of objects, which are ordinarily the furniture of dreams« (S. 51).

Nach der Theorie von Moser und von Zeppelin wird die Auswahl der Elemente durch das Regulierungsprinzip der Sicherheit bestimmt. Es leitet die Positionierungen in der Weise, dass konfliktive Affekte und Interaktionen sich vorerst nicht entwickeln. Die Gefahr einer zu schnellen Eskalation soll gebannt werden. Diese droht natürlich, weil sowohl Wünsche wie unerledigte negative Affekte zu einer versuchsweisen Lösung drängen. Die eingeführten Elemente haben deshalb zumeist substitutiven Charakter. Wird eine affektiv bedeutsame Figur eingeführt, zum Beispiel der Analytiker persönlich, dann ist damit auch ein affektiv erlebtes Interaktionspotential gesetzt. Dann droht die Sicherheit des Träumers verletzt zu werden. In den nächstfolgenden Sitzungen lässt sich beobachten, wie der Träumer mit diesem Potential umgeht. Kann eine affektiv intensive Interaktion ertragen werden? (Setzt sich der Analytiker an den Bettrand? Kommt es gar zu einem erotischen oder sexuellen Kontakt? Oder verabschiedet sich der Analytiker zur großen Enttäuschung des Träumers? Oder wird der Analytiker zu einer harmlosen, deanimierten Figur transformiert, zu einem alten Transformatorenhäuschen, das in einer leeren Landschaft steht?) Hinter solchen Überlegungen steht eine exakte Theorie: 9 Es kann als soziales Schema im Sinne von Schank (1972, 1982) verstanden werden.

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Jedes Element dieses Positionsfeldes ist ein Modell, das Informationen agglutiniert hat. Das betrifft Kognitionen wie Affekte. Personen und Personenähnliche Wesen haben ein größeres Interaktionspotential, denn ihnen wird ein affektiv-kognitiver Innenraum zugeschrieben. Es sind Wesen, die fühlen und denken. Nicht animierte Objekte (Gegenstände, Dinge, Landschaften, Häuser) hingegen haben diesen Innenraum nicht. Trotzdem sind sie Träger affektiver Informationen (s. Abschnitt 9). Diese sind als eine Art Zustandsaffekte »verpackt«, als affektive Information, die aus dem Problemkreis des Träumers entstammen. Vom Träumer sind sie (noch) nicht zu erfassen oder höchstens in evaluativen Reaktionen als Gestimmtheiten (z. B. die Unheimlichkeit eines Platzes, die Friedlichkeit einer Landschaft). Besonders bedeutsam für die Interpretation sind Relationen, die von einem belebten und einem unbelebten Objekt getragen werden (»Das Wasser steigt immer höher und läuft mir in den Mund«, »Ich sehe, wie eine Schlange einen kleinen Jungen in den Fuss beißt«). Die Affektabwehr ist hier besonders intensiv, das Geheimnis, wer der Partner der interpersonalen Beziehung ist, bleibt bestehen. Enthält eine Traumsituation nur positionierte Elemente, so werden Interpretationen kaum möglich sein, respektive vom Analysanden nicht aufgenommen werden können (außer als Symbol-Interpretationen des Analytikers, die lediglich als Denkmöglichkeiten intellektuell übernommen oder auch stillschweigend bezweifelt, ja abgelehnt werden). Für den Analytiker ist auch wichtig zu erfahren, ob die positionierten Objekte durch Attribute geschmückt sind (z. B. »ein Gartentor, eisernes Gitter, die Spitzen der Stäbe vergoldet, der Knopf mit einem menschlichen Gesicht«)10, denn diese verdeutlichen ihre Identität (d. h. die Wahrnehmungsidentität im Aufmerksamkeitsfeld des Träumers). Im Gegensatz dazu stehen die Anonymisierungen (»ein unbekannter Mann«, »viele Menschen an einem Strand«, »das Gesicht ist nur undeutlich zu sehen«). In der Setzung unbelebter Objekte anstelle von konfliktrelevanten oder »nahen« Personen geht die Anonymisierung noch viel weiter. Anonymisierungen im Traum sind übliche, keineswegs patholo10 Es muss darauf geachtet werden, dass sich nicht im Erzählen des Traums literarisch motivierte Aufbauschungen von Attributen einnisten.

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gische Besetzungsmanipulationen, Desobjektalisierungen im Kleinen, die einen Großteil gewünschter Beziehungen und damit verbundene Selbsterlebnisse verhindern.11 Das Interaktionsfeld unterliegt einem zweiten Regulierungsprinzip: der Involvementregulierung. Diese bestimmt, wie weit Interaktionen gehen dürfen und können. Positionsfeld und Interaktionsfeld überlappen sich in unterschiedlichem Ausmass. Die im letzteren Feld aktualisierten Affekte (intentionale Gefühle) werden rückgekoppelt und bestimmen Änderungen im Positionsfeld, um Sicherheit wieder herzustellen. Träume, die mit einer Situation reinster Position beginnen, zeugen von großer Vorsicht und von einem Zögern, sich in das interaktive Geschehen einzulassen. Manche Träume positionieren Elemente in der ersten Situation, die gleichzeitig Interaktionen enthalten. Der Ausgang der weiteren Situationen wird zeigen, ob eine Unfähigkeit besteht, die Affekte zu bremsen, oder eine Fähigkeit, bereits Affekte der konfliktiven Situation zuzulassen und der Reflexivität zu unterziehen. Die ersteren Träume enden meist nach der ersten Situation mit einem Abbruch (Schwäche der Affektabwehr). Die Träume der zweiten Art zeugen von einem großen Verarbeitungspotential (»dreams that turn over a page«, s. Quinodoz 2001), das auch regressive Phantasien des Konflikts ohne unbewältigbare Ängste zulassen kann.

■ 9. Sensibilisierung für affektive Zustände und Verläufe Alle kognitiven Elemente des Traums bezeichnete ich als informationsverarbeitende Einheiten, die Informationen empfangen (aufgreifen) und emittieren. Es gibt zwischen allen kognitiven Elementen Wechselwirkungen. Das tönt zunächst als eine Annahme magischen Denkens. Man muss sich bei der Betrachtung des Traumdenkens daran gewöhnen, dass auch unbelebte Objekte sich plötzlich bele11 Was im interpersonalen Feld des Wachzustands zu einer immer wieder auftauchenden Prozedur bei frühen Störungen und Borderlinefällen wird (s. Green«s Konzept der »fonction désobjectalisante«, 1993, 2001).

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ben und Wechselwirkungspotentiale zu Interaktionen werden. Im allgemeinen bleibt es bei physikalischen Wechselwirkungen, die wir nicht kennen oder die wir als irrelevant erachten. Die Elemente sind vielleicht gerade ihrer fehlenden sensomotorischen, und kommunikativen Strukturen wegen gesetzt worden. Auch haben sie kein Innenleben (mit Ausnahme physikalischer Wechselwirkungen innerer Art, die zur Aufrechterhaltung der Struktur von Bedeutung sind). Sobald wir diese Elemente mit personalen Subjekten und Objekten gleich erachten, dann ist es möglich, dass sie Dinge tun und empfinden, als ob sie Menschen wären. Das kommt gelegentlich im Traum vor, ist eher selten, aber die genannten Potentiale können plötzlich auftreten oder in einer nächsten Situation »personalisiert« werden. Neben einem Kofferradio liegt in gewissem Abstand, ohne ihn zu berühren, ein rötlicher Felsbrocken. »Nicht berühren« ist bereits eine negative Form der Beziehung, die sich aus der Distanz ergibt. Die beiden Elemente könnten aufeinander zugehen oder sich verprügeln. Auch eine Umarmung mit Küssen läge im Bereich der Möglichkeiten. Wer weiß, was für ein Beziehungsproblem der Träumer in dieser verdichteten Weise dargestellt hat? Jedenfalls ist der Träumer davor geschützt, empathisch plötzlich in das Geschehen einbezogen zu werden, etwa Empfänger der Prügel oder der Küsse zu sein. Um jetzt genauer auf die affektiven Zustände zu sprechen zu kommen: Auch nichtanimierte Elemente, insbesondere place-Konfigurationen, enthalten affektive Zustände, die gesamthaft einer Situation zukommen. Es sind affektive Gestimmtheiten, aber nicht an explizit erlebbare Prozesse gebundene intentionale Affekte (die im Erlebnisbereich Gefühle genannt werden). Place-Konfigurationen enthalten auch Erinnerungen an Situationen, die zunächst als Affekte »verschlüsselt« ins Traumbewusstsein treten. Bei Örtlichkeiten ist das besser verstehbar als bei einem Felsbrocken. Es wurde bereits in Abschnitt 8 gesagt, dass manchmal diese affektive Gestimmtheit im Traum reaktiv erlebt und vermerkt werden kann (explizite affektive Reaktionen). Eine solche Reaktion unterbricht aber bereits den Traumprozess. Analysand und Analytiker können ihr »inneres affektives Ohr« für diese Zustände schulen, im Wissen darum, dass von einem Element viele Verknüpfungen zu einmal erlebten oder demnächst erlebbaren Situationen ausgehen. In die-

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sen Teilen des Traums (ohne Interaktionsfeld) gehen Interpretationen fehl. Sie sind erst dann am Platz wenn eine interpersonale Welt von Beziehungen mit Beteiligung des Analysanden sich aus dem Positionsfeld heraus entwickelt hat oder absehbar ist (French 1958). Wer zu schnell in die Affektentwicklung gerät, endet zumeist in expliziten Affekten, die eine Situation durch Interrupt beenden und die Neusetzung eines Positionsfeldes auslösen. Unter Umständen werden Elemente, die besonders affektauslösend sind, einfach fallen gelassen. Explizit erlebte Affekte im Traum (»ich habe entsetzliche Angst«, »das ist der Horror«, »Schämen befällt mich«) werden dann als die prinzipiellen Affekte des Geschehens gehalten. Sie sind es nur im Sinne der regulierenden Affekte, die Situationsänderungen aus Abwehrgründen erzwingen (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996, S. 8). Die Unterscheidung von impliziten Zustandsaffekten, intentionalen, aktualisierten Affekten im Interaktionsfeld und explizit erlebten Affekten, erlauben eine Feststellung über den Reaktivierungszustand des Konflikts, der einer Veränderung zugeführt werden soll. Indikatoren einer unmittelbar bevorstehenden Veränderung sind hingegen nur die aus der Relationsstruktur heraus abzuleitenden Gefühle. Es gilt, die Transformationen von Situation zu Situation innerhalb eines Traums sowie jene von Traum zu Traum im Lauf des psychoanalytischen Prozesses zu verfolgen. Das führt zu einer Sensibilisierung bezüglich Affektabläufen innerhalb des Traums und der affektiven Regulierung dieser Abläufe (was nicht dasselbe ist). Das Hineinschlittern in Konflikte im Wachzustand des Alltags lässt sich zum Beispiel vermeiden, wenn die Fähigkeit vom Traum übernommen wird, die affektive Qualität einer Situation zu wittern und in sich aufzunehmen. In diesen Transformationen wird der Stein zur Mutter, der Kofferradio zum plärrenden Baby mit der eingebauten Wunschvorstellung, dass er ja kein Eigenantrieb hat, sondern nur von einer andern Person anoder abgestellt werden kann. Lockert sich die präventive Affektabwehr, dann wird in einer nachfolgenden Situation der Radio verschwinden und an seine Stelle eine ununterbrochen redende Studienkollegin treten, die nicht zu stoppen ist. Ein Innenleben des Objekts ist eingeführt. Der Träumer empfindet Wut und schlägt die Studienkollegin. Wird die Wut zu intensiv, erfährt der Träumer

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sie als expliziten Affekt (»ich war so wütend, dass ich sie hätte erwürgen können«). Die Folge: Interrupt und neue Situation. Es wäre nachzutragen, dass es – nun bereits im interaktiven Feld, weitere Prozesse der Affektabwehr gibt. French (1958) hat das die Zuschauerträume genannt, in Moser und von Zeppelin (1996) heißen sie Verschiebungsrelationen (displacement relations). Das träumende Subjekt hält sich aus dem Interaktionsfeld heraus und sieht zu, wie zwischen Objekten Prozesse ablaufen. Es gelingt ihm auf diese Weise, für eine kurze Zeit, in sich die unangenehmen Affekte nicht zu aktualisieren. Die Affektabwehr kann direkt gesehen und auf eine konfliktive Struktur bezogen werden. Jetzt sind Interpretationen am Platze, aber nur verknüpft mit einer Analyse der Affektabwehr des Analysanden.

■ 10. Verbale Relationen: Warum und wann im Traumgeschehen gesprochen wird Der Kern eines Traums besteht in einer Abfolge von situativ geordneten konkret sensuellen Bildern, die sich sequentiell angeordnet, immer wieder transformieren. Doch wird die Bildhaftigkeit im Traumprozess zeitweilig verlassen. Die expliziten Affektreaktionen wurden bereits genannt, hinzuzufügen sind die Denkprozesse, die ein »Denken über« die bildhaften Vorgänge enthalten. Im Bereich des interaktiven Feldes, der Vorgänge zwischen Personen und Objekten, erscheinen recht häufig auch verbale Relationen. Gemeint sind hier »recalled verbal material« (RVM), das heißt sprachliches Verhalten, das vom Träumer in irgendeiner Form als direkte und indirekte Rede berichtet wird (Heynick 1983). Ein Wechsel von der bildhaften zur verbalen Ebene einer Situation ist bedeutsam, weil verbales Verhalten zwar eine Beziehung beinhaltet, also durchaus präsentisches Geschehen ist, aber (wie auch Denken) eine erhöhte Kontrolle in den Traum einführt. Die Darstellung von Beziehungen würde in Träumen eine verbale Relation gar nicht notwendig machen. Die de facto kommunikative Funktion der Sprache fällt im Traum weg. Es wird lediglich ein Sprecher-Hörer-Modell simuliert. Moser und von Zeppelin (1996) haben postuliert, dass die

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Verbalisierung im Traum mit einer Desaffektaktualisierung des affektiven Erlebens einhergeht. Die Benützung der Sprache fokussiert die Aufmerksamkeit plötzlich auf den Bereich des im Sprechen benannten. Sie lenkt von andersartiger Information ab. Aus der Alltagserfahrung in der Handhabung von Sprache weiß der Träumer, dass Sprechen Versuche enthält, Dominanz in der Setzung einer Kommunikation zu erlangen oder andererseits sich gegen diese Dominanz zu sträuben. Information im verbalen Kanal ist im Unterschied zur bildhaften, bereits hoch gesättigt (Bion 1965) und schließt andere Information aus (vgl. auch Stern [1985] und Ferro [1999] über den Verfremdungsaspekt der Sprache). Stern (1985) hat ferner darauf hingewiesen, dass mit dem Erwerb der Sprache beim Kind Erlebnisse in zwei verschiedenen Formen nebeneinander existieren: das Erleben von Gefühlen und Beziehungen auf einer nichtverbalen, interpersonalen Ebene und daneben ein Erleben als verbalisierte Erfahrung. Es ist darum auch aufschlussreich, einen Traum in ausschließlich bildhaft konkrete und anderseits verbale Situationssequenzen zu zerlegen. Verbalisierungen verführen Analytiker und Analysand dazu ein Deutungsfeld zu eröffnen, das sich auf diese verbalen Relationen zentriert. Das führt zu einer Umpolung auf eine intelektuelle Einsicht, die bewusstseinsnähere Aspekte des Problems enthält (z. B. in Gedanken formulierte Einstellungen und kontrollierte Überprüfung der Beziehung zum Analytiker), jedoch Affekte ausklammert. Das betrifft besonders ausgedehnte Dialoge. Der tiefer liegende Teil des Konflikts, die eigentlichen Abwehren und die Entwicklungspotentiale mit den schwer zu ertragenden Affekten und Phantasien werden ausgespart. »Zu jenen Anteilen eines Komplexes, die dem Träger zunächst zugänglich sind, gehören akzeptierte Überich-Inhalte und pathogene Überzeugungen (Weiss u. Sampson 1986) welche die Hoffnungen und Befürchtungen in bezug auf die Lösbarkeit eines Konfliktes steuern. Beide sind vermutlich ihrer Regelhaftigkeit und des Generalisierungsgrades wegen auch propositional strukturiert und gespeichert. Eine Umsetzung in verbales Material des Traumes liegt deshalb sehr nahe« (Moser u. von Zeppelin 1996, S. 105).

Die »Verbalisierungsfalle« ist aus Analysenverläufen bekannt. Der Analysand kann durch stetes Reden und Assoziieren den Analyti-

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ker dazu verführen, dasselbe zu tun und andauernd zu interpretieren. Alles ist leicht verständlich. Die Bedeutungen liegen offen da. Manchmal werden verbale Relationen verwendet, um ein Geschehen, das unangenehm wird, zu stoppen und umzuleiten. (»Jemand sagt, es wird geschossen, wirf dich sofort in diesen Graben.«) Das gelingt nicht immer: »Ich bin mit vielen Leuten auf einem Apéro mit Getränken. Ich unterhalte mich mit einem Inder. Plötzlich kommt aus seiner Oberlippe ein weisser Wurm mit schwarzem Köpfli. Es bewegt sich hin und her. Es gruust mich. Dann kommt noch ein kleiner Wurm auf der Unterlippe. Ich lasse mir nichts anmerken. Der Inder sagt: ›Wir sollten jetzt was essen.‹ Ich denke mir, er hat eine Wurmkrankheit. Ich wache auf und bin schockiert.«

Die Bemerkung des Inders bringt wieder die harmlosere Variante des Essens und Trinkens (zu Beginn des Traums) ins Spiel. Es gelingt nicht. Der Traum geht auf das Niveau des Denkens und Überlegens. Das hilft auch nicht. Der Affekt wird explizit, der Traum wird mit Aufwachen beendet.

■ 11. Die Weisheit hat sich in den Traum zurückgezogen Es gibt Analysanden, die träumen in der Weise, dass der Analytiker den Eindruck hat, einer steten Entfaltung der Innenwelt in das Traumgeschehen zusehen zu können. Die Träume sind nicht besonders gestört, manchmal geradezu, was die schöpferischen Seiten und die Abwehrstrategien anbelangt, reichhaltig. Es wäre durchaus möglich, ein Art Geschichte der neurotischen Entwicklung lediglich anhand der Träume darzulegen. Die implizite Reflexivität scheint gut entwickelt. Was vielleicht auffällt, sind die wirksamen Abwehren des affektiven Erlebnisses, nachdem es im Traumgeschehen bereits begonnnen hat. Eine Art »Taubheit« oder »Blindheit« hat den Analysanden befallen. Die Klarheit der Traumbilder führt den Analytiker in Versuchung, ständig Deutungen zu bringen. Sie werden vom Analysanden nicht verstanden. So ganz gilt das auch wieder nicht. Eine Interpretation des Inhalts

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wird als Möglichkeit der Interpretation nicht direkt abgelehnt, aber durch Vergessen oder halbes Zuhören gleich wieder bedeutungslos gemacht. Für die affektiven Anteile des Traums, für dessen Regulierung durch Affekte zum Beispiel fehlt die Einsicht. Oft findet sich eine »as if«-Akzeptanz der Deutung, oft eine direkte schlichte Entwertung. Eine solche Abschottung der Mikrowelt Traum durch Entzug der Bedeutung und der affektiven Lebendigkeit findet sich bei Analysanden, die eine ausgesprochene Neigung haben, Erlebniswelten auch im Wachzustand voneinander zu trennen und Verbindungen (die ja im psychoanalytischen Prozess herzustellen versucht werden) zu zerstören. Die Mikrowelt Traum soll nichts mit der Erlebniswelt des Wachzustands zu tun haben. Ist die Fähigkeit nicht entwickelt worden, bedeutungsvolle Konnexionen zwischen der inneren und äußeren Welten herzustellen? Ist die äußere Welt mit der innern vermischt? (Fonagy u. Higgitt 1989; Fonagy 1991; Morton u. Frith 1995). Fehlt in dieser Störung auch das Verständnis für die Innenwelt der Objekte? Bleibt das Verständnis der eigenen Innenwelt auf die narzisstisch »besetzten« Teile des Selbstmodells beschränkt? Die Träume besitzen durchaus »affektive Widerhaken« (Meltzer 1988), sodass im Analytiker ein Mitvollzug des Traums ausgelöst wird. Wird der Traum dadurch zum Traum des Analytikers? Soll dieser zum Träger der Innenwelt des Analysanden werden? Der Analysand empfindet in der Psychoanalyse keine verändernde Wirkung seines Zustands. Er versteht zum Schluss nichts bis gar nichts. Was tun? Der Analytiker wird minutiös die Vorgänge in der analytischen Situation fokussieren und gleichzeitig immer wieder deuten, dass das Verständnis seiner selbst im Analysanden unterbunden wird. Darum die Formulierung: »Die Weisheit hat sich in den Traum zurückgezogen.« Theoretische Versuche, das Phänomen zu erklären, gibt es natürlich. Ermann (2000) spricht von einer Traumstörung in der Weise, dass der Traum zu einem scheinbar bedeutungslosen Phänomen des Nachtgeschehens wird. Es liege eine unzureichende Erfahrung, im Denken verstanden zu werden und zu verstehen, zugrunde.12 Die Störung 12 Im Unterschied zu den Beispielen Ermanns ist die Kreativität des Traums nicht gestört.

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liegt auf der Ebene des reflexiven Denkens über die eigene Innenwelt, und damit auch als Folge über die Innenwelt anderer. Fruchtbar ist hier besonders die Ansicht Bions (1962) über die Zerstörung von Verbindungen in den Denkprozessen. Das soll in dieser Arbeit nicht weiter ausgeführt werden. Unterbunden werden die Konnexe von impliziter zu expliziter Reflexivität und die Fähigkeit, die Mittel der expliziten Reflexivität von Analysand und Analytiker zu verknüpfen. Es muss im Grunde genommen ein Modell eingeführt werden, das die Beziehungen der Mikrowelt Traum, respektive die Umsetzung der Erkenntnisse im Traum ins reflexive Denken, sowie die Transformation beider in die Welt der Objektbeziehungen und des Verstehens der eigenen Innenwelt umfasst (vgl. Deserno 1995). Die Beziehung Analytiker – Analysand spielt dabei eine mediative Rolle. Um das anschaulicher zu machen, möchte ich zum Schluss eine Störung darstellen, die im Katalog der Neurosenformen oft randständig ist: die pathologische Über-Ich-Bildung. Die vom Über-Ich ausgehende Aggressivität führt zu einer steten Destruktion des analytischen Verständnisses. Der Analysand versteht nicht, was in ihm vorgeht. Er erinnert sich nicht an das, was in den Stunden besprochen wurde. Teile des Über-Ich werden auf Objekte projiziert, die ihn ständig blamieren und vor Augen führen, dass er nie »hinter die Geheimnisse« kommen wird, weshalb (in Analogie zur frühkindlichen Sexualforschung), deren Schwierigkeiten und Verbote auf die Psychoanalyse übertragen werden. Die Objekte, von denen eine Beschämung erwartet wird, werden ständig attackiert um die Beschämung abzuwehren. In der Übertragung wird der Analytiker einerseits demontiert (er versteht nichts von der Sache, seine Arbeit ist in keiner Weise hilfreich), andererseits auch wieder idealisiert als derjenige, der mehr weiß als der Analysand. Die ÜberIch-Projektion auf den Analytiker oder stellvertretende Objekte verstärkt sich durch den Neid. Die Zerstörung des Verstehens in dieser Neurosenform, insbesondere der Aspekt der Neidproblematik ist mehrfach beschrieben worden (s. Bott Spillius 1993; Feldmann 2001; Moser 2001). Gelingt es, die Träume in die Stunde zu bringen (z. B. die als vergessen erklärten), so erfährt man als Analytiker erstaunt, dass

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der Angriff auf Verbindungen der innern Struktur des Traums nicht geschadet hat. Der Angriff auf das Verstehen der Prozesse der Innenwelt gilt eher der Verhinderung von Einsicht, des Bewusstwerdens eines Überblicks auf die gesamte Konfliktthematik. Nur punktuellen Aspekten kann man habhaft werden, nur sie entgehen momentan der Negativierung, »sind aber dazu verdammt, nach der Sitzung wie ausradiert zu werden« (Green 1997). Manchmal wird schlicht den Interpretationsversuchen des Analytikers nicht zugehört. Die Träume sind keineswegs »zerstückelt«, sondern durchaus lebendig. Die Originalität konzentriert sich oft auf die kindlichen Listen und Taktiken, einer Bestrafung durch das ÜberIch zu entrinnen. Was tun? Ich versuche in solchen Situationen eine Interpretation des Inhalts zu vermeiden, weil sie nur Haftpunkte der Destruktion und des mir geltenden Neides bieten würden. Hingegen zeige ich dem Analysanden, dass seine Träume jene überbleibenden Bezirke des Selbstverständnisses sind, die das Über-Ich nicht zerstört hat. Die Träume sind Rückzugsorte des (impliziten) Verständnisses. Man darf nicht vergessen, dass der Verlust des Verstehens zur panikartigen Verzweiflung im Analysanden führen kann, insbesondere dann, wenn eine auf dieses Verständnis angewiesene berufliche Tätigkeit betroffen wird. Die Realisierung, dass in den Traumprozessen affektive Lebendigkeit wie auch Reflexivität in bezug auf die Probleme da sind und zu den Zuständen des Wachlebens in auffälligem Kontrast stehen, erzeugt im Analysanden mit der Zeit ein gewisses Selbstvertrauen und lindert die panikartige Selbstabwertung. In einem zweiten Schritt (wiederum vor inhaltlichen Deutungen) kann gezeigt werden, dass die beschämende und bestrafende Wirkung des Über-Ich zur Unfähigkeit der Umsetzung des Traumdenkens in die gemeinsame analytische Mikrowelt (Moser 2001) geführt hat. Der Analytiker kann anhand der intakten Traumarbeit zeigen, dass in den Traumsequenzen ein nichtgestörter kontinuierlicher Prozess verläuft, der sich dem Negativismus entzogen hat. Es mag dann gelingen auch den beinahe halluzinativen Glauben aufzuheben, dass man selbst alles besser wisse als der Analytiker. Oder, dass die Heilserwartung an eine andere mächtigere Person geheftet bleibt.

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■ 12. Der Traum »wandert« aus. Ein Nachwort In neueren Theorien liegt der Traum des Analysanden nicht in einem Innenraum, sondern in einem bi-personalen intersubjektiven Feld, das gemeinsam von Analytiker und Analysand gebildet wird (Baranger 1993; Ferro 2002). »The dream is a narrative and relational truth about the couple, or better about the mental functioning of the couple. Borrowing from Bion we could say that it becomes a private myth of the couple« (Ferro 1999b, S. 85).

Der Traum ist in der Therapie nicht der Traum eines Einzelnen über sich, weil die beiden, Analytiker und Analysand, durch projektive Identifikationen nicht mehr unterscheidbar verknüpft sind. Ogden (1997, 2001) spricht davon, dass das Erleben generell sich in dem Raum zwischen den Partnern der psychotherapeutischen Relation lokalisiert. »Ein Traum, der im Verlauf einer Analyse entsteht, ist ein Traum, der im analytischen Traum-Raum Form annimmt und den man sich als Traum eines analytischen Dritten vorstellen kann. Die Frage, wem der Traum angehört, wäre irrelevant … « (Ogden 2001, S.100).

Der Traum wird zur visualisierten Urmatrix eines gemeinsamen Pools von Emotionen. Der Traum zeichnet das mentale Leben beider Mitglieder des Paares. Die Formulierung Ogdens über den Traum als jener eines intersubjektiven Dritten gleicht einer überspitzten und nicht für die Theorie notwendigen Personifizierung. Es ergeben sich Konsequenzen für den Umgang mit dem Traum. Er ist kein Text, der zu interpretieren ist. Dekodieren wäre eine Peepshow, die vom Analysanden verletzend und erniedrigend erlebt wird. Ferner gibt es keine »richtige« Interpretation (keine gesättigte, s. Ferro 2002). Das gemeinsame Produkt Traum hat im Sinne der Theorie von Bion aus den Beta-Elementen beider erste Alfa-Elemente entwickelt. Das führt zu einer Traumgeschichte. Über auf den Traum bezogene Rêverien und Einfälle beider Partner werden in einem offenen Prozess anstelle von Deutungen Geschichten (Narrative) entwickelt, die weiteren Alfa-Elementen gleichkommen und dann in Deutungen der Paarbeziehung umgewandelt werden. Es wird betont, dass im Unterschied zur klassi-

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schen Interpretationstechnik eine emotional ungemein lebendige Atmosphäre entstehe. Es gibt nur Geschichten über den Traum und es bleibt der Kunst des Analytikers überlassen, die derzeit emotional relevante zu finden und in den Dialog einzuführen. Assoziationen sind nicht von primärer Bedeutung. Sie werden als Bestandteile des aktuellen Feldes so weit gefasst, dass auch nicht verbalisiertes Geschehen (z. B. Gesichtsausdruck, wenn der Analytiker bei der Begrüssung gesehen wird, Körperempfindungen oder Körperbewegungen beim Erzählen des Traums, u. a. Phänomene) darunter fällt. Man kann diese Theorien als eine konsequente Überformulierung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung betrachten, die immer und in jedem Fall in der Sichtweise und Handhabung des Traums Priorität erhält. Es wird nicht geleugnet, dass andere Geschichten (aus der Erinnerung, der Vergangenheit, aus der familiären Umwelt, aus unbewussten Phantasien usw.) aus den Traumelementen heraus gebildet werden können. Zwei Vorläufer seien genannt: Meltzers (1984) oft zitierte Bemerkung, der Traum des Analysanden sei zu ergänzen durch den Traum, den der Analytiker über diesen Traum des Analysanden habe. Rosenfelds (1987) Behauptung, der Analysand habe die Fähigkeit, die abgespaltenen Teile des Analytikers zu träumen. Was ist essentiell neu an dieser Entwicklung? Der Traum ist Bestandteil einer therapeutischen Kultur zwischen zwei Personen. Das intersubjektive Geschehen selbst wird – um es wissenschaftstheoretisch zu formulieren – zum Systembereich der Betrachtung. Die Personen Analytiker und Analysand sind Inputlieferanten. Die Vorgänge in den Innenwelten der beiden Partner müssen nicht mehr wie gewohnt detailliert betrachtet werden (als Abbild der innern Prozesse ihrer Selbst). Das Modell zweier Mikrowelten, die kommunikativ, interaktiv und affektiv verknüpft sind (konnexionistische Interaktionen, Moser u. von Zeppelin 1996), der Wechselwirkungen zweier Systembereiche, wird verlassen. In alten indigenen und ozeanischen Völkern kann der Traum wandern. Er verlässt den Körper über Öffnungen des Körpers, die Aus- und Eintrittspforten sind. Im Traum (Traum-Raum) sitzen Gestalten, zum Teil fremde Dämonen, Götter und Ahnen, die den Trauminhalt bestimmen. Sie sind konkret »da«. Der eigene Traum

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ist auch der Traum des Clans. Er muss ihm mitgeteilt werden. (Das Verschweigen ist bereits ein Ansatz einer der Kultur fremden individuellen Autonomie.) Die Träume sind oft prophetische Mitteilungen kollektiver Gestalten. Die kollektiven Deutungsregeln sind starre Anweisungen für das Verhalten des Träumers. Er träumt bereits als Partner eines Clan-personalen Feldes, eines Feldes mit einer geschlossenen, definiten Kultur. Das »Wo« bestimmt auch das »Was« und umgekehrt. Wird diese Tendenz der Entpersonalisierung des Traums in den Theorien des bi-personalen Feldes wieder aufgegriffen mit der Annahme das Paar der Therapie erzeuge einen Traum? Im Unterschied zu den alten Kulturen wird der Traum nun als Urzelle (»Hologramm«) eines gemeinsamen kreativen mental-emotionalen Prozesses genommen. Damit rückt der Traum in die Nähe eines interaktiven kindlichen Spiels. Nicht zufällig kommen die meisten klinische Beispiele in Publikationen aus Kinder- und Jugendlichenanalysen (siehe z. B. Ferro 1999a, b). Ähnliche Vorstellungen finden sich in den Gruppen-Traumwerkstätten, die versuchen, die »Ströme der Unbewussten« der Mitglieder zusammenfließen zu lassen und gemeinsam poetisch zu gestalten. Vor- und Nachteile dieser Verfahren sind zu überprüfen. Die Zeit dazu ist noch nicht reif. Die Traumprozesse im einzelnen (nicht aber die amplifizierenden Einfälle und Rêverien) werden nach wie vor auf dieselbe Weise generiert und das Verständnis wird sich bei bi-personalen Theorien weiterhin auf die emotional regulierte kognitive Struktur dieser Prozesse stützen müssen.

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■ Poesie und Traum

■ Ulrich Moser

»Wunderangstmacht« und »Abschiedsgrat« – Lyrische Mikrowelten

»Trouve des fleurs qui soient des chaises!« (Arthur Rimbaud)

■ 1. Ein Gedicht ist eine sprachlich formulierte Mikrowelt Gedichte sind öfters mit Träumen verglichen worden. Beide sind imaginative Prozesse. Zu den Träumen gibt es zahlreiche Theorien über deren Entstehung und Struktur. Psychologie, Anthropologie und naturwissenschaftliche Disziplinen haben sich mit ihnen befaßt. Theorien über Poesie sind hingegen ebenso poetisch wie das Objekt ihrer Studien. Die Poesie war schon immer eine Interpretation, ja eine Theorie von Welt, Natur und Seele. Sie möchte die »unerreichbaren Stellen des Wesens« (Valéry) erschließen, jene Tiefen der Dinge, die auf anderen Wegen nicht erreichbar sind. Sie erhellt das Obskure, sucht verschollenes Wissen, ja »metaphysische Substanz«. Bachelard (1942) spricht von einem Aufbrechen der Materie, vom Erschließen der ihr innewohnenden Bedeutungen und einer Entwicklung dieser Fermente in poetische Bilder.

Lyrische Mikrowelten

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»Auf dem Grund der Materie sprießt eine obskure Vegetation, in der Nacht dieser Materie blühen schwarze Blumen. Sie haben bereits ihre samtene Gestalt und die Formel ihres Parfüms« (1942, S. 3; Übers. von U. M.).

In seiner Geschichte der Poesie beschreibt Eibl (1995) einen Raum der Poesie. Es ist der Raum des Phantastischen, des Möglichen, auch des Religiösen. Es sind Räume einer »Nichtwelt«, die belebt und erforscht wird, einer »Nichtwelt«, die neben unserer »jeweiligen Welt« besteht. Cohen (1995) stellt fest: »Die Poesie ist eine zweite Kraft der Sprache, eine Fähigkeit der Magie und der Verzauberung. Die Poesie hat die Entdeckung der Geheimnisse zum Ziel« (1995, S. 11; Übers. von U. M.).

Er sieht ein besonderes Merkmal der Poesie in ihrer Intensität. Sie allein verfüge über »le privilège de rendre aux choses et êtres leur puissance d’émotion originelle« (S. 11). Man möchte bescheiden anfügen, daß das nicht jedem Gedicht gelingt, noch weniger jedem Traum. Beide sind imaginäre Welten, reiche oder arme, beide können auch im Banalen stecken bleiben. Eine oft aufschlußreiche und fruchtbare Methode der Wissenschaft ist der Transfer einer Theorie und einer Methode auf einen neuen Bereich. Es liegt nahe, dies einmal versuchsweise vom Traum auf die Poesie zu versuchen. Moser und von Zeppelin (1996) haben den Prozeß des Träumens, so wie er sich in der Erinnerung darstellt, in einer Theorie verallgemeinert. Deren Optik kann auf die Entstehung eines Gedichts übertragen werden. Hier zunächst die Grundzüge: Der Traum ist eine von vielen parallel existierenden mentalen Mikrowelten. Unter den spezifischen physiologischen Bedingungen des Schlafzustands laufen kognitiv emotionale Prozesse ab, die zunächst als »Erinnerungen« vorliegen und dann über die erzählerische Gestaltung zu einem »mentalen« Produkt (Text) werden können. Auslöser sind aktuelle Ereignisse, die mit nicht gelösten konfliktiven und/oder traumatischen Erinnerungen verknüpft sind. Dem Traumgeschehen wird eine simulative Tätigkeit zugeschrieben, die im Vergleich zum Wachzustand mit verminderter Affektintensität verläuft. Es gibt (affektive) Rahmenbedingungen, die bestimmen, was in einem Traum an Elementen und Relationen zugelassen wird (zum Beispiel ein tolerables Sicherheitsgefühl,

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das mit der Ausgangssituation verknüpft ist), und Strategien, die bei zu hoher Affektintensität des affektiven Erlebens im Traum das Traumgeschehen unterbrechen und neue Rahmenbedingungen für die nächste Traumsituation setzen. Es werden zwei Regulierungsprinzipien postuliert, ein Sicherheitsprinzip und ein Involvementprinzip, die beide miteinander gekoppelt sind. Es ist nicht der Ort, diese Theorie hier im einzelnen darzulegen (vgl. Moser u. von Zeppelin 1996). Auch in der Theorie der Poesie interessiert die Frage, wie Affekte, Phantasien und Bilder zusammengehen und so die zwei »poetischen Bewegungen« erzeugen, wie sie Benichou (1995) in Anlehnung an Mallarmé beschreibt: »… Schritt für Schritt ein Objekt wachrufen, um einen Zustand der Seele zu zeigen, oder, umgekehrt, ein Objekt wählen und aus ihm einen Zustand der Seele herauslösen durch eine Reihe von Entzifferungen« (1995, S. 30; Übers. von U. M.).

Die Theorien der Poesie machen aber nur spärliche Angaben über die affektiven Rahmenbedingungen, die den Prozeß der Entstehung eines Gedichts ermöglichen und begleiten. (Vermutlich, weil diese Probleme psychologischer und nicht literaturwissenschaftlicher Natur sind.) Bei genauerer Beobachtung würde man annehmen müssen, daß zum Traum parallele Verhältnisse vorliegen. Zum Beispiel hat der Autor keine Einfälle. Oder es gelingt ihm nicht, Einfälle, die ihm kommen, sprachlich zu fassen. Manchmal verschwindet die Fähigkeit des Dichtens gänzlich. Eine Leere entsteht, die erst nach einiger Zeit ebenso überraschend wieder dem Schreiben Platz macht. Dann wird offenbar eine neue Episode mit anderen Elementen und Relationen gesetzt. Das bedingt Umstellungen in der affektiven Regulierung des Autors, die als Folge andersartige Phantasien zuläßt und ausdrückbar macht. Die Unterbrechung des poetischen Prozesses hängt wie beim Traum mit dem Reaktivieren persönlicher Affekte und Phantasien zusammen. Der entstandene Teil eines Gedichts wirkt dabei unterbrechend zurück auf den laufenden Generierungsprozeß. Die in den Gedichten entworfenen Mikrowelten sind wie diejenigen des Traums erlebte Mikrowelten. Sie können auch im Leser/ Hörer ein Erleben evozieren. Gedichte sind nicht gedankliche

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Kunstgebilde, in denen Aussagen über einen Zustand der Seele und/oder der Welt und der Dinge dieser Welt poetisch sprachlich abgefaßt werden. Das betont auch von Matt (1994, 1996): »Das sprechende Ich in der lyrischen Rede läßt eine andere Erfahrung vernehmen. Es verwandelt alles mitunter bis zur Unverständlichkeit. Dieses Ich hat seinen eigenen Ort und seine eigene Zeit, seinen eigenen Körper und seine eigene Seele … Indem es redet, erschafft es den Ort und die Zeit, wächst ihm sein Körper und seine Seele zu« (1996, S. 80).

»Indem es redet«, erschafft es diese Mikrowelt Gedicht. Was ist aber die Rolle der Worte und der Sprache? Die Sprache wird einem Netz gleich auf mentale Prozesse geworfen, um die Dinge, Ereignisse und Beziehungen, die Gefühle und Verhältnisse in Worte einzufangen. Sprache kann mitteilen und/oder verschleiern. Die Sprachpragmatik hingegen steht in der lyrischen Mikrowelt nicht im Vordergrund. Sie ist ein nicht immer tragendes Vehikel des Transports zum Leser/Hörer, sei es in Form gedankenartig anmutender Aussagen oder in Form eines Bildes. Die Sprache dieser Mikrowelt hat eine außengerichtete und eine innengerichtete Seite. Mitunter lassen sich diese Aspekte nicht trennen. Auf der Innenseite der Sprache liegen die präkonzeptuellen Strukturen. In diesen wird die breite amodale Welt der Wahrnehmung von Außenwelt und Körper zunächst ohne Konzepte mit repräsentativem Charakter kategorisiert. Die meisten dieser primären Kategorien, wie sie Johnson (1987) und Lakoff (1987) beschrieben haben, enthalten körperliche Schemata (kinesthetic schemas, Johnson 1987). Lakoff beschreibt eine ganze Reihe solcher Schemata: container-schema (inside-outside, boundary), partwhole Schema, link schema, center-periphery schema, up-down schema (verticality), source-path-goal schema u. a. In einem kognitiven Raum (Fauconnier 1985) entstehen Strategien der Lokalisation, der Kategorisierung und der Gruppierung. Die präkonzeptuellen Strukturen bilden die Basis von mentalen Modellen in Form von Szenen (Situationen), in denen affektive Erfahrungen und mentale Bedeutungen formuliert werden. Aus den links werden, um ein Beispiel zu nennen, Relationen zwischen kognitiven Elementen, zwischen Dingen und Akteuren.

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Metaphern sind Transformationsprozesse, die Verknüpfungen auf jeweils abstraktere Domänen abbilden, schlußendlich auf die Sprache. Das Studium der Metaphernbildung eröffnet eine etwas andere Optik, die in diesem Zusammenhang einmal nicht benutzt werden soll. Dieser »Königsweg« ist auch bereits gut gepflastert! (vgl. Corradi u. Fiumara 1995; Lakoff u. Turner 1989; Lakoff u. Johnson 1980). Ein wesentliches Merkmal dieser konkretistisch-mentalen Prozesse ist die Fluidität. Kategorisierungen werden immer wieder umgeschichtet, Grenzen zwischen Elementen immer wieder neu gebildet. Objekte sind vorerst Agglutinationen von Attributen sinnlicher Erfahrung: Aus Geräuschen und Gerüchen können Dinge und Verläufe entstehen. Im extremen Fall bilden sich Elemente allein durch Häufungen von Attributen, die sich »Attraktoren« gleich an Stellen des kognitiven Raumes verdichten. Werden diese Gebilde versprachlicht, dann erhalten sie ein Wort als Label. Das Gebilde ist jetzt bekannt. Einzelne Worte und Sätze der Sprache (»frühe Merkwortsätze«) können auftreten wie Dinge, sie sind dann noch konkrete »Objekte« und nicht Zeichen einer abstrakt linguistischen Welt. Diese vorsprachliche Welt ist tastbar. Da die poetische Sprache primär mit der »Innenseite« des Mentalen zu tun hat, geht die Tastbarkeit der Dinge in sie ein. Sprache wird zu einem zusätzlichen, abstrakten Ordnungsprinzip, das lokalisiert und nach den Regeln der präkonzeptuellen Welt kategorisiert. Sie unterliegt hingegen noch nicht zwingend anderen, nicht bildlichen Grammatiken (vgl. Werner u. Kaplan 1993). Mitunter kommt es zur Verlötung der beiden Ebenen in der Poesie. Celan (1992) spricht in einem Gedicht von »Abschiedsgrat«. Das Wort »Abschied« bezeichnet eine Kategorie von Beziehungsszenen und vereinigt sich ohne weiteres mit dem visuellen Bild eines Grats. In der Mikrowelt dieses Gedichts liegen beide in derselben konzeptuellen Bedeutungsstruktur. Die Vereinigung eines abstrakt sprachlichen Konzeptes mit einer konkret bildhaften Vorstellung hat seine besonderen Reize, vielleicht auch Hintergründe, die erst im weiteren Verlauf des Gedichts sichtbar werden. Die innengerichtete Seite der Sprache steht mit allen Prozessen und Strukturen in Verbindung, die zur »inneren« Realität zählen.

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Vom Gehirn aus gesehen, sind es einmal die Körperempfindungen und des weiteren alle affektiven Prozesse und Vorgänge, die »innen« lokalisierbar sind. Dazu gehören alle Informationsprozesse, die subjektiv nicht immer wahrnehmbar im Hirn selbst ablaufen. (Sie sind im limbischen System, insbesondere in der Amygdala lokalisiert; vgl. Solms 1996.) Affektive Prozesse können auch die Form von Zustandsaffekten annehmen. Diese haben als phänomenologische, erlebbare Korrelate Stimmungen und Gestimmtheiten. Bei höherem Stand der Entwicklung des Affektsystems werden sie zu differenzierten, die Regulation der Beziehungen bestimmenden Größen, wie zum Beispiel das Sicherheitsgefühl oder das Beziehungsgefühl. In der Psychologie werden sie als Affekt-Repräsentanzen bezeichnet (was nicht zu verwechseln ist mit kognitiven Repräsentanzen von Affekten). Solche Zustandsaffekte formulieren gerafft – »kurzkodiert« – gesamthaft eine Situation. Affektive Prozesse liegen nahe den ebenfalls »innen« lokalisierten Körperwahrnehmungen. Deshalb sind sie poetisch leicht austauschbar, eine in der Metaphernbildung der Poesie bekannte Erscheinung. In der bereits erwähnten Traumtheorie ist das Verhältnis von kognitiven Strukturen und affektiven Informationen genau untersucht worden. In Traumsituationen, die den Charakter stabiler Bilder und nicht interaktiver Szenen haben, wird postuliert, daß in den kognitiven Elementen und Relationen affektive Information in verdichteter Form im Bild selbst enthalten ist. Sie kann vom Träumer nicht oder höchstens als affektive Gestimmtheit global erlebt werden. Sobald aber ein statisches Bild in ein interaktives Geschehen übergeht, werden mit der Szene bis zu einem gewissen (tolerablen) Grad die vorher gebundenen Affekte aktualisiert. Sie sind dann zu Affekten des Interaktionsprozesses und des Selbsterlebens geworden. Nur ist der Traum primär keine sprachliche Mikrowelt, auch wenn in ihm gelegentlich sprachliche Prozesse abgebildet werden. Es gibt somit vorsprachliche Bereiche der lyrischen Mikrowelt. Die innengerichtete Sprache steht als weiteres Ordnungsprinzip im Dienste dieser Prozesse. Die außengerichtete Seite der Sprache aktualisiert die Innenwelt; »sie ist ein Netz, das über die Dinge geworfen wird« und die Innenwelt kommunizierbar macht. Die äußere Seite der Sprache hat wiederum ihre eigenen Schönheiten,

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aber auch ihre eigenen Schwierigkeiten. Es muß in der kommunikativen Vermittlung die Beziehung des Autors zum Hörer/Leser geregelt werden. Mallarmés Problem der »obscurité« wäre hier anzufügen: Poesie, ein mystischer Prozeß für den Poeten und für die Eingeweihten der Leser, mit einem simultanen Sinn für jedermann, eine Art trompe-l’œil (Trugbild), von denselben Worten gestiftet (vgl. dazu die Diskussion von Benichou 1995, S. 20ff.). Die Frage bleibt offen, ob diese »obscurité« ein sprachlich gezieltes (halbbewußtes oder unbewußtes) Gestaltungsmittel des Poeten ist oder ein Artefakt der Tatsache bleibt, daß die Ursprünge des Gedichts in seiner nichtsprachlichen Erfahrungsstruktur im Dunkeln bleiben und letztlich nicht aufschließbar sind.

■ 2. »Wunderangstmacht« – Affekt- und Wortinseln in der autistischen Welt Die Mikrowelt des Traums ist noch allen Menschen eigen. Eine lyrische Mikrowelt hingegen bilden (als Autoren) nur wenige aus (in unserer Kultur zumindest). Es ist zu vermuten, daß es weitere Mikrowelten gibt, die als unbewußte Phantasien existieren und das Objektbeziehungsgeschehen parallelgeschaltet begleiten. Die bewußten Anteile dieser Mikrowelt sind Phantasien, die, bezogen auf die Interaktion, parallel-, vor- oder nachgeschaltet erlebt werden. Über die Beziehungen und Verknüpfungen dieser Welten weiß man recht wenig, da die Optik unserer Beobachtungen meist nur gerade auf eine dieser Welten gerichtet ist oder voreilige Generalisierungen enthält. Ausbildung und Struktur der Mikrowelten hängt mit Entwicklungsprozessen zusammen, die zu vielartigen Spiel- und Phantasiewelten führen. Die meisten sind mit der Fähigkeit des Simulierens verbunden (»pretended behavior«), und die meisten werden nachträglich sprachlich formuliert. Bei autistischen Kindern und Persönlichkeiten hat man den Eindruck einer noch weitgehend einheitlichen inneren Welt. Spiele und Phantasien, soweit erschließbar, sind direkte Äußerungen dieser Welt; es sind keine Mikrowelten im Sinne der Simulation, die neben der Regulierung der Selbsterfahrung und den interpersonel-

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len Beziehungen stehen. Das betrifft in starkem Maße auch die sprachlichen Gestaltungen. Könnte es sein, da die Sprachpragmatik fehlt oder nur rudimentär vorhanden ist, daß die innengerichtete Sprache dominiert? Im autistischen Zustand fehlen die für Mikrowelten notwendigen Räume der Potentialität und der fiktiven Welt, in denen »gespielt« werden kann, ohne gleich voll involviert zu werden. Liest man die seltenen Texte von Autisten, wie etwa jene von Sellin (1993, 1995), dann wird offensichtlich, daß nicht der bewußt propositionale Gehalt einer Äußerung, das Detonat der Worte, im Vordergrund steht, sondern die emotionale Bedeutung, die affektive Seite des Erlebens, ein Versuch, Sprache zur Meisterung eines schwer kontrollierbaren inneren Problems einzusetzen. Sprache hat hier eine ähnlich Funktion wie jene der Übergangsobjekte (Winnicott 1953). Diese sind »innerpsychische Gegenstände« von spezifischer emotionaler Bedeutung, die ein situatives Erlebnis (das weder innen noch außen restlos zu lokalisieren ist) global und auf nichtverbaler Ebene zusammenfassen. Worte und Kurzsatzbildungen können dieselbe Funktion übernehmen. »Zusammenfassen« heißt aber auch kodieren und lokalisieren und damit der Kontrolle und der Erinnerung zugänglich machen. Die sprachliche Formulierung innerer affektiver Zustände macht sie überdies kommunizierbar, verknüpft mit der Hoffnung, emotionale Prozesse austauschbar zu machen. (Ein Prozeß, der bei Autisten gestört ist, den sie aber sehr wohl bei anderen Menschen beobachten, wenn auch nicht voll verstehen.) Die sprachliche Formulierung bringt mehr Ordnung in die Innenwelt. Jedes Wort lokalisiert einen Affekt, rückt solche Zustände zusammen, verknüpft und vernetzt sie zu einer lokalisierten inneren Zuständlichkeit. Das erlaubt, in einer erlebten situativen Einheit Selbstkerne zu bilden. Die inneren, diffus erfahrenen angsteinflößenden Reizzustände, die Schrecken auslösen können (darüber berichtet Sellin ausführlich), werden zu einem sich selbst zugehörigen inneren Erleben. Bei allen autistischen Menschen, so auch bei Sellin, gibt es vorsprachliche Strategien, beherrschbare und damit verständliche Systeme, die in Form von Spielwelten ausgebildet sind. Es sind Welten sensomotorischer Stereotypien, die von einem direkt handelnden

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Zentrum ausgehen. Sellin berichtet (1993) zum Beispiel von einer Welt der Murmeln. In ihr spielt er ununterbrochen. Diese Welt enthält keine animierten und nicht überschaubaren Objekte. In diesem Spiel können zum Teil auch die bereits erwähnten präkonzeptuellen Kategorisierungen (Lakoff 1987) beobachtet werden. Die Welt der Murmeln ist nicht von sozialen Agenten besiedelt. Es werden keine Personen, auch geliebte nicht, im Spiel zugelassen. Soziale Beziehungen würden immer wieder nicht durchschaubare Situationen ergeben, die chaotische Angst auslösen und zum »Schreien« führen. Diese nicht animierte Welt kann Sellin beherrschen. Er kennt alle Murmeln einzeln. Die Welt der Dinge kann physikalisch auf ihre Eigenheiten erforscht werden. Dazu ist keine Theorie über die inneren Prozesse des Dinges (wie bei Bezugspersonen) notwendig, die aufzubauen dem Autisten Mühe macht. Vollständigkeit und Überblick sind notwendig, um Sicherheit zu erzeugen. (Theorie des Positionsfeldes, siehe Abschnitt 3.) Vermutlich hat Tustin (1986) recht, wenn sie behauptet, daß für autistische Kinder nur das Berührbare »real« ist und Gefühlszustände als nicht tastbar und deshalb als gefährliche und böse Substanzen in sich erlebt werden. Die Welt solcher Spiele ist aber nicht »pretended«, das heißt, es ist keine imaginäre Situation, die sich von einer wirklichen abhebt. Im Moment der Aktivierung ist sie die Welt, in der alle Abläufe konkret wirklich sind. Sie werden deshalb auch emotional voll erlebt, alle Abläufe sind »reale« Versuche. (Vgl. die Gegenüberstellung von »pretended« und »psychic equivalent« in der Arbeit von Fonagy u. Target 1996.) Doch jetzt zurück zur Funktion von Worten und Wortsätzen. Die Sprache lokalisiert Affektinseln, die noch nicht miteinander verbunden sind. Kohäsion und Kohärenz eines affektiven »Selbst« sind hier noch nicht gegeben. Nicht nur dieses Selbst, sondern auch die kontextuelle Welt der Autisten ist »wie ein Puzzle, das sich nicht zusammensetzen läßt«. »Wenn sich auch in glücklichen Fällen immer mehr Bruchstücke aneinanderfügen, mehr und mehr Flächen zu erkennbaren Geländen ordnen lassen, bleiben doch Lücken, es bleibt das Wasser zwischen den Inseln, die Patrick so gern gezeichnet und mit punktierten Linien untereinander verbunden hat. Diese Verbindungen werden oft unterbrochen. Sie lassen sich nicht wie ein regelmäßiger Bootsverkehr ein für allemal einrichten. Gelegentlich geht in einer Überflutung durch

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Reize vorübergehend der feste Boden unter den Füßen ganz verloren« (Frey 1995, S. 18).

Dann überflutet Angst die innere Welt und die Lokalisierung der Affekte gelingt nicht mehr. »Von der Insel der Trauer laufen Fäden …« Es gibt dann weder eine benennbare Insel noch verbindende Fäden. Interessanterweise finden sich beim Aufbau dieser affektiven Welt des Selbst (und der damit beginnenden Abgrenzung von »innen« und »außen«) dieselben Gesetzmäßigkeiten, die auch beim Aufbau einer rein kognitiven, nicht sprachlichen Ordnung bei Kindern wie bei Erwachsenen vorliegen. In einem Versuch, Zahlenreihen zu ordnen, bilden die Versuchspersonen (Hofstadter et al. 1995, S. 58ff.) »islands of order«, »plateaus« (held together by sameness glue), »up runs« (held together by successorship glues), »down runs« (held together by predessessorship glues) and »plaindormes« (held together by mirror symmetry). Neben diesen vier Typen wurden auch Ordnungsprinzipien gefunden, die Regularitäten unter den Inseln explorieren. Dies betrifft zum Beispiel Beziehungen zwischen den Inseln (was den Verbindungsstrichen in den Zeichnungen von Patrick entspricht; Frey 1995), aber auch die inneren Strukturen der Inseln selbst. Viele dieser Prozesse laufen gleichzeitig ab. »Das Plazieren von Haftpunkten, das Bauen von Inseln, das Benennen dieser Inseln, die Analogien zwischen Inseln. Um diese Art eines »Mehrring-Zirkus« deutlich zu machen, muß man sich viele kleine Agenten vorstellen, wobei jeder von ihnen in seinem kleinen Gebiet Zonen einer gemeinsamen Attraktion oder anderer Verbindungen sucht. Keiner hat dabei Kenntnis von den anderen« (Hofstadter et al. 1995, S. 60; Übers. von U. M.).

Die sprachlichen Mittel – sofern vorhanden – werden zusätzlich zu den präkonzeptuellen kognitiven Strategien der Lokalisation, Kategorisierung, Gruppierung und Verbindung benutzt. Eine rudimentäre kognitive Struktur des Feldes erlaubt dann auch die Plazierung der Affekte an Objekten und am Selbst. Erst dann können konzeptuelle Schemata in Form von Szenen und von mentalen Modellen entstehen, in denen später nicht nur affektive Erlebnisse, sondern auch mentale Bedeutungen formuliert werden. Sprache ist eine wichtige (aber nicht die erste) Stufe der Kognifizierung von Affekten

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(Moser u. von Zeppelin 1996), Worte machen Affekte tastbar. Was tastbar ist, gibt Sicherheit. Die erste sprachliche Mikrowelt des autistischen Kindes tritt anstelle der Spiele mit leblosen Dingen. Sicherheit ist notwendige Basis für Beziehungen zu einer (lebendigen) Person. Erst in dieser affektiven Beziehung wird die Sprache narrativ zu einer Mikrowelt, die nachträglich den Ablauf einer Beziehung erzählt.

■ 3. Positionsfeld und Sicherheitsgefühl: »Place«, Raum, Körper Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, daß bei autistischen Kindern und Erwachsenen Bildung und Sicherung eines Sicherheitsgefühls, eines »background of safety« (Sandler 1960), Priorität hat. Alle Mikrowelten, die im Laufe des Lebens ausgebildet werden, inklusive der sprachlich formulierten, sind jedoch nach derselben Architektur gebaut: Sie enthalten immer als Ausgangspunkt und hintergründig dauernd eine Regulierung der Sicherheit. Nur wird sie im Laufe der Zeit nicht mehr beachtet, weil sie vom interaktiven Geschehen (was auch die Beziehung mit sich selbst umschließt) überlagert wird. In Bezug auf den Schlaftraum haben Moser und von Zeppelin (1996) ein Sicherheitsprinzip postuliert, das ein Positionsfeld reguliert. Dieses Positionsfeld bestimmt, was an Elementen, Objekten, Subjekten, Kulissen, Landschaften und so weiter gesetzt wird. Durch Hinzufügen und Wegnehmen kann im Verlauf des Traumgeschehens der Mikrowelt das Positionsfeld erweitert oder verkleinert werden. Diese Idee geht auf French (1954) zurück und taucht in einem ganz anderen Zusammenhang bei Green (1993) als »function desobjectalisante« wieder auf. Objekte und Subjektanteile können aus dem Bereich der inneren Welt herausfallen, wenn sie negative Affekte erzeugen und untragbar werden. Es entsteht eine Leere, die als Leerstelle ebenfalls im Repräsentanzenraum positioniert wird. (Im Traum ist dieser Prozeß üblich. Nur sind sie [beschränkt] noch erinnerungsfähig, im Unterschied zu den von Green gemeinten Objektrepräsentanzen.) In der bereits erwähnten Traumtheorie ist das Konzept eines Place eingeführt worden (Moser u. von

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Zeppelin 1996). Place meint Ort, Raum, wozu auch der Körper des Subjekts gehört. Andere Bezeichnungen sind »Umgebung«, Kontext, »environmental layout« (Gibson u. Spelke 1983). Place ist Träger einer Szenerie, eines Referenzsystems räumlicher Art, mit Innen- und Außenzonen und präkonzeptuell formulierten Distanzen (Lakoff 1987). Zur Repräsentation des Körpers im Place wäre noch nachzutragen, daß Körper im Bereich präkonzeptueller Modelle zur Außenwelt des Gehirns gehört, das Träger und Empfänger kognitiver, affektiver, sensueller und kinästhetischer Information ist (Lakoff 1987; Edelmann 1992). Körperempfindungen können unter gewissen Bedingungen wie Außenwahrnehmungen behandelt werden. Darauf wurde schon hingewiesen. In Place werden die kognitiven Elemente lokalisiert, die später Träger interaktiven Geschehens sind. Er umfaßt die stabilen Faktoren einer Situation. Diese geben vorübergehende Invarianz für das Selbst und seine affektive Umgebung. Verändert sich Place, dann werden auch die Parameterwerte der Sicherheitsregulierung neu gesetzt. Place enthält immer hochverdichtete Information, teils kognitiv ausartikuliert, teils in Form distribuierter, affektiver Information. Eine intentional gebundene Affektivität kommt ihm nicht zu, hingegen kann Place Zustandsaffekte in Form von Stimmungen enthalten. Auch der Zuhörer oder der Leser von sprachlichen Produkten solcher Mikrowelten, seien es Träume oder Gedichte, kann diesen Zustandsaffekt sehr gut erfassen. Jedes Gedicht hat, sofern wir die Hypothese der Mikrowelt annehmen, wie der Traum ein Positionsfeld, das ihm auch seine Geschlossenheit gibt. (Im Unterschied zu erzählenden Texten, die eine Phantasiewelt interaktiv und/oder gedanklich entfalten.) Es fällt auf, daß gerade die moderne Poesie möglichst dicht am Positionsfeld bleibt und damit auch viel verdichtete affektive Information enthält. Moderne Poesie ist deshalb handlungskarg. Es werden Techniken verwendet, diese Verdichtung aufrechtzuerhalten. Affektive Attribute des »Ich« wie des »Du« werden zum Beispiel oft vermieden, respektive sie werden zu nichtaffektiven, direkt erlebten Attributen intrinsischer Art von Dingen und des Place gemacht. Dadurch werden nirgends punktuell Gefühle intensiviert. Dies steigert die Spannung des Hörer/Lesers nicht über eine identifika-

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torisch ausgelöste Empathie, sondern gerade weil ihm die Möglichkeit der Partizipation, an der interaktiven Entwicklung genommen ist. Die affektiven Reaktionen des Hörers/Lesers werfen Probleme auf, die kurz am Schluß der Arbeit besprochen werden. Zunächst nur: Emotionale Spannung kann über drei Wege entstehen: 1) in der direkten empathischen Identifizierung mit dem erlebenden und handelnden Subjekt oder einem Objekt des Textes, 2) in einer resonanzartigen Erfahrung der verdichteten Information des Place, 3) in einer Bewunderung der Geschicklichkeit der Sprachbenutzung des Autors, auch dann, wenn beispielsweise die im Text auftauchenden emotionalen Reaktionen »nachgeahmt« anmuten. (Ist zum Beispiel jede Landschaftsschilderung bereits ein Gedicht, sofern sie sprachlich »schön« ist? Steckt in ihr eine verdichtete affektive Information, wie das bei einem Place der Fall wäre? Darüber später.) Das Positionsfeld eines Gedichts enthält eine implizite Aussage, die nicht als »Aussage« (als »Grundgedanke«) formuliert wird, sondern schon in ihrem ganzen kognitiv-affektiven Gehalt in ein Positionsfeld gebracht worden ist. In einem Kommentar zu der Lyrik von Eugenio Montale schreibt Helbling (1995): »Und immer wieder zieht sich das Nachdenken über menschliches Schicksal zurück in ein Landschaftsbild, und die eigentliche Aussage gerät an den Rand des Verstummens« (S. 201f.). Emotionales Wissen erhält offenbar eine Einbettung in einen Place. Die explizit gedanklich gedachte Aussage war nie als solche da, sondern sie ist die Landschaft in ihren sensuellen Attributen und Elementen und ihrer verdichteten Affektivität. »Am Rande des Verstummens« ist lediglich die sprachliche Formulierung. Landschaft als Place ist in der Lyrik sehr beliebt. Als Beispiele können Ungaretti, Montale oder Sarah Kirsch genannt werden. In der modernen Lyrik wird manchmal auch das Gedicht direkt in den Place gelegt, der dann wiederum das Gedicht »trägt«, Dabei wird auch das Setzen der Elemente thematisiert: »Auf dem Akazien Waldboden liegt also ein Gedicht …« (Waterhouse 1995, S. 60). Es kann auch in den Gerüchen liegen, in einer Berliner Baugrube: »Baustellen, Wespen, Abendgeruch« (Oleschinski 1995). Alle sensuellen Modalitäten der Wahrnehmung können sich zu einem Place

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versammeln. Das Setzen der Elemente dieses Raumes wird oft thematisiert. Brigitte Oleschinksi (1995) sagt über den Impuls zu Gedichten: »Er wendet sich allein den Dingen zu, Materialien und Prozessen, die durch oszillierende Körpergrenzen in mich einzutreten scheinen, manche durch offene Türen wie höfliche Gäste, die ihren Namen sagen und Geschenke mitbringen, andere wie ungebetene Eindringlinge, als schrille Bilder und Silben, die roh die Fenster einschlagen, verletzliche Häute zerreißen, alle Nerven bloßlegen …« (S. 33).

Gelegentlich kommt es zu Verflechtungen von sensuellen Wahrnehmungen, mit deren »Innen« Erfahrung durch die Affekte und poetisch sprachliche Formulierungen. Das Gedicht ist beinahe zu dem geworden, was es ist. Wiederum Oleschinksi (1995): »… dieser Blick über die leuchtende Grassenke, dieses tanzende Licht zwischen den Kieferstämmen, eine strahlende Bewegung aus Silben und Rhythmen und Glück, wenn darin eine einzige Zeile gelingt.« Oder: »… die Augenblicke hängen nur ihre paar Adern über den Wassergeruch, Blattrippen, die wie Gleise zwischen den Zitaten laufen, und sie kooperieren nicht …« (S. 58).

Grünbein (1996) wiederum benutzt den Körper, seine Anatomie, ja seine Neurologie als Place für Gedichte. »Das Erreichen tieferer Hirnareale, die Markierung in Form einzigartiger Engramme, das ist sein Ziel, und insofern liegt in Neurologie die Poetik der Zukunft versteckt« (Grünbein 1996, S. 5). Der programmatische Anteil dieser Aussage hingegen mag beinahe einer lyrischen Hirnmythologie nahekommen. In der Lyrik wie im Schlaftraum kann das Positionsfeld wechseln. Es entstehen dann Sequenzen von Place, die auch optisch und rhythmisch auseinandergehalten werden. Vom Schlaftraum her wissen wir, daß diese Wechsel durch Veränderungen der affektiven Dynamik entstehen. In anderen Fällen von Gedichten ist ein Place lediglich noch in den gesetzten Elementen und Relationen zu erkennen. Das Gedicht beginnt sofort mit einer Szene, die Schritt für Schritt als Geschehnis entwickelt wird. Diese Verläufe kann man narrative Gedichte nennen, die sich den prosaischen Texten annähern. Affekte sind in diesen Szenen von vorneherein intentional an Personen, Relationen und Geschehnisse gebunden.

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Poesie und Traum

Wie im Traum bewegt sich der Prozeß des Gedichts innerhalb des Positionsfeldes. Eine (emotionale) Spannung wird aufgebaut und variiert, Unruhe verbreitet sich, doch wird am Schluß die Spannung wieder auf das Niveau des gesetzten Sicherheitsgefühls abgebaut. Nur das gestörte Gefühl der Sicherheit läßt es selbst thematisiert in das Gedicht treten, etwa so, daß nach einer Unterbrechung mit neuen Elementen und einem neuen Place eine neue Episode entsteht. Unterbrechungen werden durch visuelle Leeren mitgestaltet, mitunter auch graphisch im Setzen der Zeilen verschleiert. In der poetischen Theorie eines Poeten über sein Tun (Waterhouse 1995, S. 61) heißt es dann: »… es ist nämlich immer dieselbe, erst zögernde, unruhige, dann genauer und gelassen werdende, schließlich zuversichtliche Bewegung, die an einem beliebigen Punkt beginnt, ihre Schlinge um verschiedene Umstände, Zufälle, Themen, Gegenstände und Gegenüber wirft, daraus eine Agglomeration von Worten entwickelt und sich dann wieder entspannt, um irgendwo im Nichts zu verschwinden …«

Es wird ein Netz über die Entitäten des Positionsfeldes gewoben, dessen Schnüre »emotionale Trajektorien sind. Diese Trajektorien verlassen nie das untergründige Feld der verdichteten Emotionalität. Die Sprache kann – im Unterschied zur autistischen Dichtung – benutzt werden, um die emotionalen Qualitäten zu manipulieren (siehe unten), denn das emotionale Involvement erzeugt im allgemeinen nicht bedrohliche Konflikt-Reaktivierungen im Poeten. Das mag im Vergleich zum Schlaftraum deutlich werden: Poetische Mikrowelten werden zumeist nachträglich (oft Monate später) überarbeitet. Ein Traum hingegen bleibt, vorausgesetzt, die Erinnerungsfähigkeit bleibt erhalten, unverändert. Der Träumer redigiert ihn nicht, außer im Sinne der Rekonstruktion oder der Verschleierung eines Textes, der zuletzt in seiner Struktur dem geträumten Traum doch noch weitgehend entspricht. Das Wesentliche der poetischen Arbeit liegt offenbar im Versuch, den kognitiv-affektiven Denkprozeß im verdichteten affektiven Feld zu halten und Intensitäten zu vermeiden, die zum Abbruch führen und einen Neubeginn in einem neuen Positionsfeld nicht mehr erlauben. Insofern ist ein Gedicht ähnlich einem gelungenen Traum.

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Das ist aber nur unter drei Bedingungen möglich: 1. daß die Affektualisierung gering bleibt, 2. die Phantasien nicht zu nahe an die persönlichen Affekte kommen und 3. daß keine persönlichen Konflikte zu sehr reaktiviert werden. Das alles ist natürlich am besten gesichert, wenn ein Gedicht völlig affektlos verläuft und zu einem lediglich sprachlich gesetzten Produkt wird.

■ 4. Über Stille, Schweigen und Worte »Das Schweigen durch Worte überlisten«, das Motto gilt sicher für autistische Sprachwelten. Entspricht Schweigen etwa der Formulierung eines akustisch »leeren« Positionsfeldes? Sind diese Leerräume immer noch sinnlich erfahrbar? Und enthalten sie nicht ebenso verdichtete affektive Information? Waterhouse (1995) meint, daß jedem Gegenstand eine »Leise« entspricht: »… das Geräusch endet plötzlich. Dann liegt der Kies leise. Diese Leise ist auch etwas, so spezifisch wie das Mahlgeräusch zuvor. Das Leise des Kieses ist ein anderes Leise als die des nahen Waldbodens. Die Akazie neben unserm Tisch ist anders leise als der Tisch. Das Leise singt verschieden. Der Mond, Ball von Stille, singt anders als der Ziegel und der schlafende Vogel …« (1995, S. 61).

Der Hyperraum des Leisen (eine Formulierung von Waterhouse) enthält, insofern »alle Leisen anders sind«, alle Objekte und Subjekte der hörbaren und sichtbaren Welt. In die Leerwelt der Stille sind alle Objekt als Schatten eingebrannt. Geräusche (noch nicht hingegen Worte) suggerieren Dinge und Geschehnisse, die in einem Raum irgendwo liegen, zumeist aber auch nicht sichtbar sind. Geräusche erzeugen einen Drang zur Lokalisation, in der Folge einen Drang zur Interpretation (Manganelli 1987). Nicht lokalisierbare Geräusche erzeugen Angst und Schrecken.

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»Jedes Ding hat sein Geräusch, doch der Einfachheit halber wird es als still definiert. Aber auch die absolute Stille ist autonom, unbeugsam… Das erzeugt Angst im Hörenden und erzeugt die Geräusche. (Die sind aber auch die Geräusche der Veränderung.) Absolute Stille ist kennzeichnend für einen Ort, der in jedem Fall endgültig ist, so sehr, daß er weder Vervollkommnungen noch Verbesserungen, noch Interpretationen zuläßt« (Manganelli 1987, S. 31).

Manganelli schildert in seiner unnachahmlichen Weise anhand eines Dorfes und dessen Burg, wie die Stille der Nacht durch Geräusche angesiedelt wird. Eine absolute Stille gibt es nicht, denn Stille ist unstabil, unrein, weil in ihr der Kern der Veränderung aller Dinge liegt. Unrein ist die Stille, da »ein anderes milderes und indirekteres, langsameres und schleichenderes Entsetzen sich anbietet, das ist das Entsetzen des Werdens« (1987, S. 32). Ist es so, daß die sprachliche Mikrowelt für kurze Zeit das Schreien ersetzt? Beides sind akustische Phänomene. Beides sind Reaktionen auf den affektiven Gehalt des Schweigens, aber auch auf jenen der Dinge. Dieser Gedanke findet sich bereits bei MerleauPonty (1945). Die Poesie, sagt er, … unterscheidet sich vom Schrei, weil der Schrei unseren Körper benutzt, so wie die Natur ihn uns gegeben hat, das heißt mager an Ausdrucksmitteln, während das Gedicht die Sprache benutzt« (S. 176; Übers. von U. M.).

■ 5. Vergleich von Traum und Poesie Im Gedicht werden Strategien verwendet, wie sie auch im Bereich der Mikrowelt Traum vorkommen. Doch gibt es deutliche Unterschiede: Das Gedicht ist eine sprachliche Mikrowelt, der Traum ist es nicht. Der Traum wird zwar erzählt, doch dieses Erzählen ist nachträglich, Sprache wird nicht gezielt eingesetzt. Im Traum gibt es zwar häufig sprachliche Passagen (siehe dazu Moser und von Zeppelin 1996), aber diese haben die Funktion, das Traumgeschehen unter eine stärkere Kontrolle zu bringen. Sprache selegiert, fokussiert und schließt damit gleichzeitig anderes aus. Der geträumte Traum ist in seinem Kerngeschehen konkretistisch sensuell (primär visuell) und nicht sprachlich. Er enthält kognitive Strategien, die unter spezifischen Bedingungen der affektiven Regulierung Bilder

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erzeugen. Dieses bildhafte Geschehen ist in unterschiedlichem Ausmaß von affektivem Erleben begleitet. Übersteigt das affektive Erleben das tolerable Maß an Sicherheitsgefühl, das im Positionsfeld gesetzt ist (Moser u. von Zeppelin 1996), dann wird das Traumgeschehen unterbrochen respektive dessen Elemente neu gesetzt. Ein neuer Place, ein neues soziales Setting wird beispielsweise gewählt. Im Traum entsteht eine größere Freiheit des Ausprobierens (Problemlösungsfunktion des Traums) durch die Änderung physiologischer Parameter des Schlafzustandes, die den affektiven Arousal tiefer halten als im Wachzustand. Die Mikrowelt des Traums ist eine Welt der kognitiv affektiven Simulation (man darf nicht in den Fehler verfallen, Simulation als eine »Abbildfunktion« ohne affektives Erleben zu sehen). Interessant ist, daß man bereits bei den Träumen (was im Rahmen dieser Arbeit nicht getan werden soll; vgl. wiederum Moser und von Zeppelin 1996) nachweisen kann, daß nicht nur ein Problem simuliert, sondern gleichzeitig auch das Simulieren selbst im Traum dargestellt wird. Das gilt noch vermehrt für Gedichte, die man als Aussage über etwas und gleichzeitig als Darstellung des Aussageprozesses lesen kann. In der Mikrowelt Gedicht wird Sprache gezielt eingesetzt. In einem dem Traum gegenläufigen Prozeß evozieren Worte Bilder, die wiederum mit Affekten verknüpft sind. Die Erzeugung dieser von Anfang an sprachlich geformten Welt geht dennoch von den Prämissen eines Place eines Positionsfeldes aus. Nur sind diese Bedingungen dem Poeten so wenig bewußt wie dem Träumer. Sprache erlaubt einerseits einen besser kontrollierbaren Abstand zu den Affekten, andererseits eine breitere Varianz der Manipulation, zum Beispiel in der Verwischung der Sequentialität der Bilder. Die Evokation kann wirksam sein (sie ist ja auch intendiert), sie wird aber durch die poetischen Strategien auch wieder zurückgenommen. »… in dem Hier und Jetzt des im Sprechen evozierten Vorgangs zugleich als ein Wirksames und als ein Nicht Wirkliches zu denken ist« (Frey 1987).

Die Aktualisierung des affektiven Erlebens im Gedicht (jene des Autors wie jene des Hörer/Lesers) wird spielerisch gehalten.1 1 Auf das Problem wurde von Theoretikern der Poesie durchaus hingewie-

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Dabei ist die Frage offen, wie weit jeweils ein Gedicht als Mikrowelt zu anderen im Rahmen des Parallelismus der Mikrowelten steht, etwa zum Schlaftraum oder zu einer nicht bewußt ausformulierten Mikrowelt, die Simulator und Träger affektiver Erlebnisse, von Konflikten und traumatischen Situationen ist, die etwa auf eine interpersonale Beziehung bezogen sind. Dann kann es geschehen, daß das Schreiben die Leichtigkeit verliert, daß Ausgänge nicht offen gelassen werden und die im Schreiber ausgelösten unguten Gefühle nicht mehr über die Sprache gebunden werden können. Dann blockiert das Schreiben: ein Bruch, ja ein Abbruch ist die Folge, ein Vorgang, der in der Traumpsychologie mit dem Konzept des Interrupt beschrieben worden ist (French 1954). Ich möchte das mit einem persönlichen Erlebnis illustrieren. Der unaufhörlich fallende Schnee eines Wintertages blieb in meinem Kopf sitzen, mit einem Impuls verknüpft, vom »Schnee« zu schreiben. Es gelang nicht. Der Schnee wurde weder zu einer Geschichte noch zu einem Gedicht. Auch gelang es mir zunächst nicht, die Gründe der Blockade zu finden. Also schrieb ich eines Tages: Ich glaube nicht, daß ich fähig bin aus dem Schnee eine Geschichte zu machen auch wenn ich Flußpferde auf Bäume setze und mühelos Rotkehlchen in Fischreiher verwandle

sen, es wurde aber kaum vertieft untersucht. Valéry (1959) trennt eine »émotion poétique« von einer »émotion imaginaire«. Das vom Gedicht ausgelöste emotionale Empfinden ist mit psychischer Distanz verknüpft, Produkt einer Auskoppelung (débrayage). Bachelard (1960) nennt es ein Gefühl für etwas, für das in der Imagination Dargestellte (sensibilité de l’imagination). Die Emotion hingegen ist der Affekt des Reagierens in der konkreten Situation (vgl. dazu auch Dufrenne [1953] mit seiner Unterscheidung von émotion und sentiment).

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Der Fluß ist zu tief Die Träume vergessen.

Im Schnee blieb ich stecken. Der Place war nicht aufzubrechen, die Affekte »verpackt« und nicht aktualisierbar, die Mikrowelt bereits über das Positionsfeld zu sehr gebunden an meine Probleme. Hingegen kamen später diese Zeilen aus meinem Kopf. Sie sind ein »Gedicht«, doch weit vom Schnee entfernt und für mich als Autor zunächst ein Wortzauber mit »mühelosen« Verwandlungen und Transformationen. »Schnee« ist sicher als Tagesrest in einen Schlaftraum geraten. Doch dieser blieb vergessen, der Zugang war auch so nicht möglich. Die Ebene der Abbildung des Entstehungsprozesses respektive der Situation des Nichtentstehens ist hingegen in die »poetische« Mikrowelt eingegangen. Je intensiver affektive Prozesse des Schreibers ausgelöst werden und über die Bilder in die Worte eingehen (und nicht umgekehrt), umso ähnlicher werden die Simulationen von Traum und Gedicht sein. Je weiter die Abkoppelung von der affektiven Regulierung des Autor geht, je mehr auch affektive Zustände ausschließlich durch Worte evoziert werden oder gar nicht mehr in der Sprache zu finden sind, umso mehr wird das Gedicht zum Siel mit Worten und »als ob« Affekten, das heißt mit Affekten, die ohne erlebnismäßige Aktualisierung sprachlich simuliert sind.

■ 6. »Abschiedsgrat« (Celan), Beziehungsgefühl Neben dem Sicherheitsgefühl ist wohl das Beziehungsgefühl eines der wichtigsten Themen der Poetik wie auch der Psychologie. Das Beziehungsgefühl ist eine emotionale Repräsentanz der Beziehung zu einem Objekt, die Dauerhaftigkeit und Gewißheit der Verbundenheit verinnerlicht bewahrt, unabhängig von der Präsenz des Objekts. Man weiß um die Probleme vieler Menschen, die nur konkret durch die Anwesenheit des Partners (oder eines stellvertretenden Objekts) das Gefühl, in einer Beziehung zu sein, erleben können (vgl. Odier 1947; Guex 1950; Quinodoz 1991; Moser u. von Zep-

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pelin 1996). Diese Beziehungsgefühl wird nur durch die affektiven Rückmeldungen aus »realen« Beziehungen erhalten. Es ist ein wichtiger Garant des basalen Sicherheitsgefühles (eine seiner wichtigen Quellen, neben der Selbstwertung u. a.). Ist das Sicherheitsgefühl andererseits schwach, kann die Repräsentanz »Beziehungsgefühl« sich nicht ausbilden. Die Welt der konkreten »äußeren« Beziehungen wird zur Projektionsfläche: Die innere Wahrnehmung des Gefühlszustandes »Beziehungsgefühl« kann durch Ereignisse in diesen Beziehungen und deren Wahrnehmung dargestellt werden. Im Gedicht »Abschiedsgrat« hat sich Celan damit befaßt (in: 1992, S. 275): Ich kann dich noch sehen ein Echo, ertastbar mit Fühlwörtern am Abschiedsgrat Dein Gesicht scheut leise wenn es auf einmal lampenhaft hell wird in mir an der Stelle, wo man am schmerzlichsten Nie sagt.

Das Gedicht zerfällt deutlich in zwei Episoden. Place ist im Positionsfeld des ersten Teils des Gedichts der »Abschiedsgrat«. Abschied ist ein soziales Setting, eine wohlbekannte Szene, Grat bezeichnet ein visuelles Bild. Grat hat unterschiedliche »features«. Features meint intrinsische Eigenheiten eines kognitiven Elementes, die unter zunächst nicht generalisierbaren Regeln die Benutzung des Elementes bedingen können. Im Unterschied dazu ist ein Attribut eine explizit sichtbar gemachte, durch sprachliche Nennung als solche fokussierte, zugeschriebene Eigenheit (z. B. ein Echo, ertastbar mit Fühlwörtern). Ein Grat trennt einmal in der Weise, das man nicht über ihn hinwegsehen kann. Ein Grat ist andererseits ein Ort des Schwindels und des Anklammerns. Beide features sind emotionale Themen und schildern Zustände des Beziehungsgefühls. Das Wort »Abschied« ist Label für eine Beziehungsszene, Grat ein Label für eine sensuelle Wahrnehmung eines Ortes. Er ist der konkrete Place, in dem die soziale Szene sich abspielt. Das Positionsfeld bestimmt nach unserer Annahme, was vom Prinzip der Sicherheit an

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Potentialitäten zugelassen worden ist. Es gibt damit auch vor, wieweit in der lyrischen Mikrowelt das Thema Beziehung »abgehandelt« werden kann, ohne daß ein Absturz in die Auflösung des Selbst und der basalen Ordnungen (Hauptthematik der autistischen Mikrowelt) erfolgt. Wendet man die Technik der Analyse des Traums an, so würde man nun untersuchen, was in diesem Positionsfeld sich entwickelt und in welcher Weise sich Kommunikationen und Interaktionen einstellen. Bei Celan bleibt alles dicht am exponierten Feld. Die auftauchenden Objekte sind ein anonymes Du (»ich kann dich noch sehen«) und ein Echo (»ertastbar mit Fühlwörtern«). Ein Echo enthält sowohl ein Ding wie auch die spezifische Kommunikation, die mit diesem Ding besteht. Echo ist eine akustische Information, die eine nicht beantwortete, eine nicht responsive ist und eigentlich nur mit dem Ich – nicht mit dem Du zu tun hat. Wie beim Traum kann wohl angenommen werden, daß »dich« und »Echo« zwei Repräsentanzen ein und desselben sind, wobei an ihnen je andere Attribute und je andere kommunikative Interaktionen verhängt sind. Durch die Mittel der Anonymisierung, Deanimierung und der Aufteilung des Objekts werden die Gefühle zum »dich« nicht zu sehr aktualisiert. Es sind Techniken der Zurückbindung von Affekten. Sie verhindern, daß die Bedingungen der gesetzten Sicherheit nicht grob überschritten werden. Ein Element des Positionsfeldes ist noch zu beachten: Es sind die Fühlwörter. Sie sind Mittel zur Ertastbarkeit des Echos. (Hören wird durch Tasten ersetzt, einer der üblichen Wege, die mögliche Synästhesien in der amodalen Wahrnehmung auszunutzen.) Das führt uns zu einem kurzen Exkurs über die Fühlwörter. Worte, die tasten, die an die Stelle des Tastsinnes treten, und durch den Wortlaut Präsenz des gesuchten Objekts vermitteln. Die es spürbar werden lassen. Vielleicht ist das die Grundfunktion der Poesie. Die Fernsinne Sehen, Hören, Riechen haben ursprünglich den Sinn, Objekte »nahe« zu rücken und sie tastbar zu machen. Das ist die Ansicht von Gaddini (1992). Er postuliert eine präsymbolische Aktivität des Kindes (vorsprachlich) in der Organisation des Selbst und der mentalen Welt. Die Integration der sensorischen Sinne dient zunächst dem Kontakt mit dem Objekt. Die Fernsinne rücken die Objekte so nahe, daß man sie ertasten kann (using sight not to perceive but to make

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contact, performing a contact operation and not a object relation). Die Existenz des realen Objekts wird über das Tasten erfahren und eröffnet insofern die Möglichkeit, dieses Objekt zu werden (durch Nachahmung). Gleichzeitig konserviert jedes sensorische Erlebnis etwas, ein fragmentarisches Selbst (the fragment, that stands for the self, and hence the self experienced in each fragment). Doch nun zurück zu den Fühlwörtern. Sind die Worte der Poesie nicht schlechthin Passagenmittel, stellvertretend für die sensuellen Wahrnehmungen, der Innen- und der Außenwelt, indem sie uns die primäre Welt der Entitäten: Selbte und Objekte, ertastbar machen? Sie werden dann für die Poesie wie für das präsymbolische Kind zu einer Welt des Existierens (»relation of being«) und nicht nur eine Welt der Beziehungen. Das macht auch deutlich, daß Sprache Mittel des Zugangs, aber auch des Verlassens einer präsymbolischen Welt ist. Die tastbare Relation des Seins ist jene des Positionsfeldes, die kommunikativ-interaktive jene des Geschehens. Im zweiten Teil des Gedichts wird Place anonymisiert, zu einer »Stelle in mir«. »Dein Gesicht« als Ort der sensuellen Wahrnehmungen und des affektiven Austausches ist jetzt (gerade wegen der Anonymisierung des Place) deutlicher genannt. »Nie« sagen wie »ja« sagen sind hier nicht Geschehnisse, sondern Attribute des Ortes. »Der Ort wo …«. Der Konflikt ist verinnerlicht, ein Konflikt zwischen dem lampenhaft Hell Werden und dem schmerzlichen Nie. Hier findet sich eine spezifische kognitive Transformation von einer Interaktion, die Beziehungsgefühle aktualisieren würde, zu Attribuierungen (Moser u. von Zeppelin 1996, Transformation der Potentialität, S. 127ff.). Neben dieser Attribuierung, die eine gewünschte und/oder gefürchtete Objektbeziehung nur noch als potentielle des Objekts oder Subjekts enthält, gibt es noch die Transformation des »Featuring«. In ihr wird die Potentialität einer aktualisierten Relation zu einer nicht genannten, »intrinsischem Eigenheit eines kognitiven Elementes.2 Die zweite Szene enthält innerhalb des Place Attri2 Von Transformationen kann natürlich nur gesprochen werden, wenn Übergänge von einer Szene zur anderen betrachtet werden unter der Annahme, daß immer wieder dieselbe Thematik in dieser Kette von Mikrowelten dargestellt wird (z. B. Vergleich von Teil 1 und Teil 2 dieses Gedichts). Transformationen sind innerhalb eines Veränderungsmodells postulierte Prozesse und deshalb nicht direkt sichtbar.

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butes auch noch eine Verbalisierung in Form einer Anonymisierung des Sprechers: »wo man am schmerzlichsten Nie sagt«. Man kann hier wiederum eine Parallele zum Traum ziehen: Reden fokussiert und hält zugleich Affekte gedämpft erträglich. Celan umkreist in seinem Gedicht vom Abschiedsgrat zweimal, das heißt in zwei Ansätzen, die schmerzliche Thematik des Beziehungsgefühls. In beiden Mikrowelten, die sequentiell verkettet sind, bleiben aktualisierte Beziehungen minimal. Die sprachlichen Techniken widerspiegeln kognitive Prozeduren, die ähnlich wie im Schlaftraum verlaufen. Sie haben alle das Gemeinsame des Zurückbindens der Affekte auf den verdichteten affektiven Gehalt dessen, was Place genannt wurde. Die Techniken werden gewechselt, dermaßen, daß die affektive Grundbilanz in einem vorgegebenen, erträglichen Rahmen bleibt. Die Thematik des Beziehungsgefühls wird nur soweit exponiert, als es das (nicht sichtbare) Sicherheitsprinzip erlaubt. Das macht die Eigenheit moderner Poesie verständlich, die in einem literarischen Kommentar von Frey (1987) zu Celan treffend zum Ausdruck kommt: »Solches Reden begibt sich in ein Unbestimmtes, das es in einer Bestimmung zugleich aufbauenden und aufhebenden Bewegung nie endgültig sich aneignen, sondern nur in diesem oder jenem Entwurf einmal so, einmal anders in einem Netz sprachlicher Bezüge zur Erscheinung bringen kann« (S. 29).

■ 7. Ausblick auf trompe-l’œil und Manufaktur in der Poesie. Fragen zu Schönheit, Echtheit und Ergriffenheit Mallarmé hat in seiner späteren Zeit die Auffassung vertreten, daß ein zu klarer poetischer Diskurs in doppelter Weise lüge: einmal in bezug auf den Zuhörer/Leser, dem ein Einvernehmen vorgetäuscht werde, das es niemals geben könne; zum anderen in bezug auf das Objekt, indem diesem die Dunkelheit (die ihm gehört), entzogen wird (Benichou 1995). Die wahre Geschicklichkeit des Poeten liege in der Fähigkeit, die Sprache der Mikrowelt so zu gestalten, daß ein »doppelter« Sinn, eine zweifache Botschaft zu finden ist, ein quasi profaner Sinn für alle, ein obskurer, schwer erschließbarer

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für »Eingeweihte«. Also ein – könnte man formulieren – sprachmalerisches trompe-l’œil. Gibt es sprachlich bedingte Gefälligkeiten im Gedicht? Kann die Simulation in dieser Mikrowelt zur Schauspielerei werden, die nicht nur einen zweifachen Sinn einführt, sondern auch geschlossene Tiefe vortäuscht? Wird die Klarheit dann ersetzt durch das Staunen an der Gewandtheit der Sprache, wird die »obscurité« zum Artefakt der Wortkombinationen? Dreht die Sprache durch und produziert das Gedicht selber? Laufen die Algorhythmen der poetischen Mikrowelt quasi von selbst, ohne die Affektivität in die Simulation einzubeziehen? 3 Sprache ist jedenfalls so geartet, daß sie sich von den Emotionen (der begleitenden affektiven Information) ablösen kann. Sie wird dann zur reinen Deskription oder zum denkerischen Wortspiel, zu einer Kompetenz, ebensoviel zu verschweigen, wie nicht Relevantes mitzuteilen. Echtheit wird zu einem verfänglichen Kriterium. Was läßt uns eine poetische Mikrowelt als »echt« erleben? Es gibt nur wenig Indizien: so zum Beispiel das Gefühl, festgenagelt zu werden, affektiven Widerhaken zu erliegen (wie Meltzer [1984] das in bezug auf Träume formuliert hat), ein Verstummen und Versinken, die große Nachhaltigkeit des affektiven Erlebens. Und wann wird ein Gedicht als »schön« empfunden? Ist die Echtheit eine Vorbedingung? Man könnte es so sehen, aber verfällt man dann nicht der Setzung ästhetischer Normen? Kann nicht auch ein banales Gedicht als schön empfunden werden? Hat nicht sprachliche Spielerei wiederum eine eigene, wenn auch andere, zumindest nicht ergreifende Schönheit, oder wird diese mit Bewunderung einer Kompetenz verwechselt? Sicher ist ein großer Teil der Poetikproduktion Schauspielerei, vorgetäuschtes Erlebnis auf beiden Seiten, beim Autor wie beim Zuhörer/Leser. Es ist eben so, daß auch Stimmungen und Affekte vorgespielt werden können. Unversehens ist man im Bereich falscher Affekte, auf denen sich wundervoll mit Segeln davongleiten oder entrüstet aufstampfen läßt. Doch kann man überhaupt entscheiden, ob ein Gedicht »affektleer« ist? Wenn es doch gleichwohl 3 Es wäre darüber nachzudenken, wie experimentelle Lyrik und Computerlyrik in diese Überlegungen einzubeziehen wären.

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beim Hörer/Leser eine affektive Reaktion auslösen kann? Ein trompe-1’œil kann auch gut gemalt sein. Da ihm aber »Greifräder« und »Fühlwörter« fehlen, ist damit nichts tastbar. Und damit kehren wir zur autistischen Sprachwelt zurück. In ihr gibt es kein trompe-l’œil und keine vorgespielten Affekte. Autistische Kinder können sich offenbar noch nicht zeitweise von der Realität lösen und Unwahrheiten oder Unwirklichkeiten in Erwägung ziehen. Zweideutigkeiten, die wir (gelegentlich mit Freude) sprachlich produzieren, erfassen sie nicht und lehnen sie später, wenn sie sprechen können, deutlich ab. Sie haben ihre Modelle von anderen Personen und von sich selbst äußerst mühselig erworben. Sie sind eindeutig, vielleicht allzu eindeutig und wenig wandelbar formuliert. Sie nehmen alles direkt und verstehen alles direkt. Dies ist das Ergebnis des Konkretismus ihrer affektiven Wahrnehmung. Sie haben unter dem quälenden Lärm gelebt, als die Umwelt für sie noch nicht kategorisierbar und lokalisierbar war. Patrick sagt über einen Bekannten: »Er macht so viel Lärm. Es stimmt nicht, was er sagt. Er kann nicht zuhören« (Frey 1995, S. 18). Auch Gedichte können zuviel »Lärm« machen, sprachlichen Lärm. Die Bildung von Affektinseln, eines kohärenten affektiven Selbst aus dem heftigen Geschrei einer sich stets wandelnden Umwelt in ruhige Erfahrung war eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Sellin schreit, wenn ihm dies nicht gelingt. In den Texten ist etwas von diesen Vorgängen zu spüren. Anstelle des Schreis tritt eine lyrische Mikrowelt. Dabei dominiert in beiden Fällen die »Innenseite« der Sprache. Die muß eindeutig sein. Ich vermute, daß autistische Menschen ein intensives Gefühl haben, was ein Gedicht sagt, und merken, wenn eines zuviel Lärm mit Worten macht und die Verbindung zum affektiven Grund der Innenwelt verloren hat.

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Erstveröffentlichung in: Psyche – Z. Psychoanal. 51, 1997, S. 739-762.

■ Ulrich Moser

Heftklammern und schwarze Kühe – Zu Poesie und Traum

Heftklammern und schwarze Kühe Zwei schwarze Kühe, die Bäuche parallel auf fröstelndem Grund.

Die eine träumt, die andere dichtet. Uns fehlen die Worte, ihre Gefühle zu tasten

Sphinxe, die Pfoten gerichtet an den Hälsen heilige Glockentürme

In ihren Augen spiegeln das Tal, die Wälder Harz raucht in gelben Lärchen

Heftklammern meiner Phantasie Verteilte Hälften meines Gehirns

die kleine Ziege in der Pupille wahre Hüterin der klugen Bäuche

Aus den feuchten Nüstern schnauben die Dämpfe des Hades und des Olymp Sie kauen die Thesen ihrer Welt. Flimmernde Sonne über den schwarzen Leibern.

Gras wird zu Bildern zu Welten geträumt Im nassen Gras pflück ich die Worte, im Gestrüpp, auf Regenbäumen, verteilt im Geschiebe der Bäche

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■ 1. Es beginnt mit Heftklammern Oft sind es kleine Veränderungen und Auffälligkeiten in unserer näheren Umwelt, die sich mit inneren Bildern und konkreten Erinnerungen verknüpfen. Plötzlich kreisen in uns Gedanken und Phantasien, und unwillkürlich sind wir wie in einem affektiven Sog in einer anderen Welt verschwunden. Was dort geschieht, wissen wir erst später, im nachhinein: Wir sind in einem Traum oder in einem Gedicht, in Mikrowelten sozusagen, die uns erst nach einer Weile wieder ausspucken. In diesem Zustand »läuft einfach alles ab« (Sarah Kirsch) und »(ist) man viel klüger, als man selbst zu sein vermag« (Durs Grünbein). Nicht unähnlich wird es einem Analysanden gehen, der gerade assoziiert und Einfälle sammelt, die affektive Trajektorien zu konflikthaften Spannungszonen, zu gegenwärtigen und vergangenen, legen sollen. Das gelingt auch nur, wenn kognitive Kontrollen fallen und weder Analysand noch Analytiker wissen, wohin die Reise geht. Das Fehlen reflexiver Bewußtheit ist immer mit einem ästhetischen Genuß verbunden. Gelegentlich, davon wissen Schreibende wie Analysanden zu berichten, kann dieser Prozeß ins Stocken geraten oder ganz abbrechen. Eine Unterbrechung verändert auch die Gefühlslage: Ärger, Verstimmung und Gefühle der Lähmung machen sich breit. Die Geschichte beginnt mit zwei Heftklammern. Sie fallen mir auf, weil sie parallel angeordnet an einem ungewöhnlichen Ort auf meinem Arbeitstisch liegen. Mein Kopf ist noch leer, und durch das Fenster dringt die feuchtkalte Luft eines Herbstmorgens. Noch bin ich nicht durch eine Absicht bestimmt, sei es, mich in eine Selbstanalyse zu begeben, sei es, ein Gedicht zu schreiben. Ein dritter Weg, aus dem Dilemma herauszukommen, bleibt aus. Es fehlt zum Beispiel die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht. Auch bin ich nicht fähig, gerade jetzt am Arbeitstisch einzuschlafen und ad hoc einen Traum zu generieren. Diese Erkenntnis führt später wohl dazu, die eine Kuh träumend in das Gedicht aufzunehmen. Die beiden Wege »Selbstanalyse« und »Gedicht schreiben« führen zu Assoziationen und Einfällen, die in Phantasien übergehen. Um vorschnelles Theoretisieren zu vermeiden, wählen wir das Bild von Assoziationen »links der Heftklammern« und Assoziationen »rechts der Heftklammern«. In beiden Fällen laufen die

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Assoziationen in meine inneren Landschaften hinein. Sie wecken dort Bilder und Erinnerungen, erfinden Phantasmen und rufen zugehörige Affekte und Stimmungen wach. Um einen Exkurs in den Aufbau dieser inneren Repräsentationswelten zu vermeiden, benütze ich das poetische Bild der »inner landscape« von Hopkins (1959). »Landscape« bezeichnet eine innere, subjektive Landschaft und deren Elaboration der Welt eines anderen (»an inner map of others experience«). Parallel dazu wird eine »inscape« seiner selbst entwickelt, eine Landschaft der subjektiven Einzigartigkeit, mit einem organisierenden Punkt: dem Selbst. Die beiden »inscapes« sind durch interpersonale Ereignisse, durch »nodale« Punkte der Veränderung verknüpft. Das »self inscape« kann auch auf ein Objekt oder in die Umgebung des Subjekts verlegt werden, ein Vorgang, der zentral in der Poesie benützt wird. Der selbstanalytische Prozeß führt an irgendeiner Stelle zu unangenehmen Affekten, die zum Abbruch zwingen. Es wird ein Signal »Nicht weiter« ausgelöst. Im Fall jener Assoziationen, die zur Formulierung eines Gedichts führen, taucht dieses Signal im allgemeinen viel früher auf. Ein Gedicht enthält entäußerte, explizite Phantasien, die zu einer Trajektorie von Bildern umgeformt worden sind. Das Produkt ist eine kleine Mikrowelt. »Rechts der Heftklammern« ist die Dichte der Emotionalität geringer. Sie wird laufend auf einem Maß gehalten, das kontrollierbar ist und für die Zeit der Mikrowelt bestehen bleibt. Eine vorläufige Hypothese lautet deshalb: Im Vorfeld eines Gedichts, in diesem Bereich des irreflexiven, halb bewußten oder unbewußten Prozessierens, kommt es zu einer Trennung von Assoziationen und Bildern. Ein Teil wird gestoppt, da er zu intrusiv in persönliche Gehalte mit hoher affektiver Intensität zu geraten droht. Ein anderer Teil wird in die kontrollierbare Form einer lyrischen Mikrowelt überführt.1 Wieviel an affektivem Gehalt in einem Gedicht zugelassen wird, ist natürlich von Gedicht zu Ge1 Ähnliche Probleme stellen sich beim Schlaftraum. In bezug auf die affektive Regulierung kann man den gelungenen Traum mit geringerer Dichte der Emotionalität durchaus einem Gedicht gleichsetzen. Viele Traumverläufe sind hingegen durch Affekteinbrüche gekennzeichnet, die zu einem plötzlichen Ende durch Erwachen führen oder eine völlige Neupositionierung des Trauminhalts erzwingen.

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dicht und von Autor zu Autor verschieden. jedes Gedicht enthält aber einen Bodensatz von Affekten, die Unterbrechungen der Assoziationen zum Bereich »rechts der Heftklammern« bewirkt haben. Es ist dem Adressaten des Gedichts überlassen, ob er spekulativ auf weitere Affekte und Phantasien schließen will. Das soll im folgenden am Gedicht der schwarzen Kühe aufgewiesen werden.

■ 2. Schwarze Kühe, wache Leere Aus den bereits erwähnten Heftklammern werden zwei schwarze Kühe, denen ich an einem herbstlichen Tag begegnet bin. Es sind zwei d’Hérens Kühe, »vaches belliqueuses«, wie die Walliser sie nennen. Wahrnehmung und Erinnerung verbinden sich über den Duft des heutigen und des damaligen Tages. Das Bild der Heftklammern hat sich in Kühe transformiert. Die beiden Tiere liegen ganz in Ruhe auf der Wiese, in genau gleicher Weise parallel angeordnet. Das Element der Parallelität ist wie die kühle Luft in der Transformation erhalten geblieben. Ich höre das Kauen der sphinxartigen Königinnen. Ihre unergründliche, beinahe göttliche Fremdheit fixiert mich. Lange schaue ich ihnen zu. Unsere Ruhe wird zur Leere, aber auch zu einem Bann. Was geht in meinem, was in den Köpfen der Kühe vor? Die Leere breitet sich aus. Sie ist dicht, intensiv und durchaus voller Spannung. Nach einigen Minuten gelingt es mir, mich wegzureißen, mehr den Beinen als den eigenen Gedanken gehorchend. In einer Arbeit über jugendliche Gammler beschreibt von Zeppelin (1973) Jugendliche, die unter dem Einfluß von Drogen in Gruppen kontaktlos zusammensitzen. Sie lieben es, sich Kurzfilme anzusehen, in denen sich die Bewegungen von Objekten ständig wiederholen. Als Beispiel sei ein Film genannt, in dem Kühe grasen, grasen und grasen. Die Jugendlichen schauen, schauen und schauen. Das Phänomen hat viele Wurzeln: Abwehr von Phantasien, die von Gefühlen begleitet sind, insbesondere von interpersonalen Phantasien, Abwehr der »Besetzung« des eigenen Selbst, Vermeidung von Objektbeziehungen und anderes Die geschilderte Technik erzeugt einen »waking blank stage« (Finn 1955). Dieser

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Zustand evakuiert alle Affekte zugunsten eines spannungslosen Wohlbefindens und einer »leeren« Zufriedenheit. Der Kern der Technik liegt nach Finn (1955) und von Zeppelin (1973) in der Vermeidung der Wahrnehmung von (inneren und äußeren) Veränderungen. Nun gibt es andererseits auch tröstliche Theorien über die kreative Leere, über jenes »blinde Nichts«, jene »wesentliche Einsamkeit« (Blanchot 1969), die einem schöpferischen Prozeß vorangeht. Das Sammeln und Verdichten von Gedanken und Gefühlen verläuft als reflexiver, uns nicht bewußter Prozeß, der dann, in einem weiteren Schritt, zur aktuellen Gestaltung kommt. Welche Leere habe ich beim Anblick der Kühe erlebt? Ist es so, daß in der Erinnerung an diese Leere gerade jene entsteht, die dem Schreiben eines Gedichts vorangeht? Schildert das Gedicht in den ersten Sätzen seine Entstehung gleich mit? Vieles spricht dafür, daß dies sowohl bei Gedichten als auch bei Schlafträumen so geschieht.

■ 3. Parallelität Bei allen Transformationen (die wir später als Relationen 3. Ordnung bezeichnen, s. Abschnitt 11) wird ein Element beibehalten. Das kann ein Attribut sein, ein Feature oder eine Wechselwirkung (Moser u. von Zeppelin 1996, Kühe).2 Im vorliegenden Fall ist es die Parallelität. Sie ist die kognitive Verbildlichung einer grundlegenden Beziehungsmöglichkeit: der resonanten Relation (ebd.). Beide Träger der Beziehung handeln parallel, gehen z. B. denselben Weg, tun dasselbe. Auch die Attribute können die gleichen sein (z. B. Kleider). Die inneren Zustände sind durch dieselben Affekte gekennzeichnet. Über diese Resonanz (die als besonderer Typus 2 Attribute sind Eigenheiten eines kognitiven Elements, die explizit genannt werden. Features sind dem Element intrinsische Eigenschaften. Diese können morphologisch sein (z. B. Nässe für Wasser) oder assoziativ (Kühe, die ich im Wallis gesehen habe). Beide bestimmen z. B. die Aufnahme bzw. die Verwendung von kognitiven Elementen in einem Traum oder einem Gedicht. Wechselwirkungen sind Interaktionen zwischen zwei Elementen, die als Systeme betrachtet werden.

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einer affektiven Regulierung der Beziehung gesehen wird) werden Affekte von der einen Person auf die andere übertragen und aufgenommen. Dies führt zu einer ständigen affektiven Abstimmung. Veränderungen von Handlungen und Stimmungslagen kommen in einer solchen Beziehung nur von außen, gleichzeitig und in der gleichen Art und Weise bewirkt. Parallelität schaltet auch interaktive Konflikte aus. So kommen die Kühe weder untereinander noch mit dem sie betrachtenden Autor in eine konflikthafte Auseinandersetzung, obwohl ja die »belliqueuses« sehr gern kämpfen. Der Katalog der Vermutungen ist nicht zu Ende. Sind an der Arbeit zur Resonanzrelation nicht zwei Autoren gemeinsam beteiligt gewesen? Wenn diese beiden dargestellt sind, warum tauchen dann nicht zwei Personen im Text auf, die in einer Resonanzrelation stehen? Das Phänomen der Parallelität hat schon immer die Poesie-Interpretation beschäftigt. Man ist recht hilflos damit umgegangen. Ein bekannter Deuter des Dichters Mallarmé, Bénichou (1995), kommt anhand des Textes »Prose« von Mallarmé (1885) auf eine etwas fremd anmutende Idee. In diesem Gedicht Mallarmés spazieren zwei Personen: »Wir führten unser Gesicht spazieren (wir waren zwei, ich bleib dabei)«

Bénichous (1995) Idee ist, daß diese »Dualität« mit dem römischen Recht zu tun habe, laut dem ein Zeuge allein nicht glaubwürdig sein kann: »Testis unus, testis nullus.« Es bedarf zweier Zeugen, um Wahrheit festzustellen. Natürlich sind es bei Maliarme die Zeugen für die Wahrheit und Weisheit der Worte des Gedichts. Immerhin ist die Sache nicht ganz so pontifikalisch, denn die beiden rauchen. Die Frage, warum der Begleiter eine unbekannte Person ist, bleibt ungelöst. Dazu Bénichou (1995, S. 222): »Können Profane darüber urteilen? Und ein Dichter, mit höchster Wahrheit vertraut, kann sehr wohl so viel gelten wie ein gewöhnliches Paar.« Zum Glück sind wir der Aufgabe enthoben, eine psychologische Interpretation der Anonymisierung einer Person zu geben. Die Zweierkonfiguration taucht am Ende des Gedichts wieder auf, in Form von zwei byzantinischen Namen, die keiner kennt, Anastase und Pulchérie. Das wird der Verschleierungstaktik

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(obscurité) Mallarmés zugeschrieben. Die beiden Namen passen gut zu unseren schwarzen Kühen, von denen wir auch nicht wissen, was alles an Phantasien und Affekten sie enthalten und was an solchen in sie deutend hineingestopft werden könnte.

■ 4. Poetische und gewöhnliche Emotionen Wir müssen an dieser Stelle eine Hypothese vorziehen, die erst später besprochen wird. Gedicht wie auch Traum kreieren eine aktuelle Welt der Phantasie, die alle Einfälle »links der Heftklammern« vermeidet. Beide formulieren zwar Teile eigener Probleme, aber nur jenen Anteil, den sich der Autor zur Zeit der Dichtung selbst zugesteht. Hier müssen unbewußte Prozesse der Grenzziehung wirksam sein, die vermeiden, daß vom Bild der Kühe und ihrer Parallelität Assoziationen in die »linke Seite« persönlicher Phantasien übergehen. Bei der psychoanalytischen Interpretation von Gedichten ist zwar ein solcher (spekulativer) Weg »nach links« in die Biographie der Innenwelt des Autors häufig zu finden. Ein Verfahren dieser Art ist bei den Poeten hingegen gar nicht beliebt, denn die Kunst der Poesie liegt gerade darin, die persönlichen Bezüge zu kappen, was nicht heißt, daß sie völlig unbewußt gehaltene Inspirationsquellen bleiben. Geht man von der Hypothese aus, daß auch ein Gedicht eine simulierte, affektiv-kognitive Mikrowelt ist (im Unterschied zum Traum zusätzlich sprachlich kodiert) (Moser u. von Zeppelin 1996), muß es auch möglich sein, die affektive Regulierung im Verhältnis zum Text nachzuzeichnen. Dazu gibt es in der Literatur über Poesie schon Hinweise. Valéry (1959) trennt eine »émotion poétique« von einer »émotion ordinaire«. Das von einem Gedicht ausgelöste emotionale Empfinden ist von größerer Distanz, Produkt einer gewissen Abkoppelung (»débrayage«). Das trifft sicher auch auf die Emotionalität des Autors zu. Die Affekte sind nicht jene des Reagierens in einer konkreten Situation und auch nicht jene im Traum, dessen »Bewußtsein« ja auch konkretes Erleben ist. (Vgl. dazu Bachelards Konzept der »sensibilité de l’imagination« [1960] und die Unterscheidung Dufrennes von »émotion« und »sentiment« [1953].)

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Die Affektualisierung im Gedicht wird spielerisch gehalten, die Regulierung ist variabler, sie geht nahe an Affekte, die aus persönlichen Problemen stammen, aber nie in diese hinein. Die Frage nach einem Beziehungsproblem kann man zwar stellen, aber das Gedicht beantwortet sie nicht. Die Sprache schafft eine zusätzliche Affektkontrolle. Was in Worten gesetzt ist, bildet das akzentuierte Gerüst der poetischen Welt. Was »zwischen den Worten« liegt, affiziert uns, soll es auch tun, es wird dennoch durch die Worte begrenzt, gleichsam auf die Phantasien »rechts der Heftklammer« beschränkt.

■ 5. Die Dämpfe des Hades und des Olymp. Oder: Wo bleibt der Kot der Kühe? Etwas überraschend nimmt das Gedicht eine unsensuelle Wendung: »Verteilte Hälften meines Gehirns«

Später setzt sich der Gedanke fort: »Die eine träumt, die andere dichtet«

Dies mag ein Hinweis sein, daß das Gedicht auch gleichzeitig ein Abbild seiner Entstehung bringt, damit auch die derzeit aktive »Denkwelt« des Autors, die Parallelität von Träumen und Dichten. So kauen die Kühe die Thesen ihrer Welt, und die leeren Köpfe der Kühe und des Autors beginnen sich zu füllen. Die Prozesse des Träumens und des Dichtens sind irreflexiv, sie geschehen ohne Dazutun der höheren, expliziten Kontrollprozesse. Wohl deshalb auch verwandeln sich die Gehirne etwas später in Bäuche. Was da vorgeht, ist zumindest für Kinder ein Geheimnis, ein Reduit des Unfaßbaren, ein Rätsel, eine wahre »Urszene«. Hingegen sehr sensuell sind die Dämpfe des Hades und des Olymp, die aus den feuchten Nüstern kommen. Man könnte erwarten, daß nun die Kuhfladen nicht ungenannt bleiben, die frisch gesetzt, »auf frö-

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stelndem Grund«, ihre Wärme ausstrahlen. Die Welt der Kühe ist schließlich auch die Welt des Drecks. Was die Kühe eindrücklich in die Welt setzen, ist nicht im Gedicht. Der Autor hat etwas ausgespart, was latent vorhanden ist und Phantasien erzeugt, die nicht ins Gedicht Eingang finden sollen. Im Träumen der vorangehenden oder der folgenden Nacht könnte das geschehen, dort läßt sich diese Seite der Kuhromantik nicht so leicht ausschalten. Das wird zum Beispiel in der Traumchronik des Myôe (Kawai 1997/98) geschildert. Myôe, ein berühmter buddhistischer Mönch aus dem frühen Mittelalter Japans, lebte in einer Welt, in der ihm nicht Kühe, sondern Bodysattvas, Priester, heilige Gestalten, weltliche Fürsten, Damen und göttliche Erscheinungen begegnen. Nach vielen edlen Gedichten kommt im Traum des 7. Tages des 12. Monats der Dreck: »Ich war mit sechs oder sieben Begleitern unterwegs zu einem Haus. Der Weg, der zu ihm führte, war mit zwei Schichten Kot bedeckt. Meine Begleiter stocherten mit Eßstäbchen darin herum.«

Dreck läßt sich auch im nächsten Traum nicht vermeiden: »Ein Tausendfüßler kroch vorn in die offene Falte meines Gewandes. Ein anderer haftete an der Schriftrolle und kroch weiter unter die Veranda. Dort war ein kleiner Baum, dessen Äste mit Dreck verschmiert waren.«

Myôe, so meint Kawai, blieb nicht erspart, sich mit dem Schmutz der Welt zu befassen. Auch wer religiös leben will, heißt es, darf sich nicht auf die reine und schöne Seite des Lebens verlagern.3 Dem Autors dieses Gedichts bleibt dies wohl auch nicht erspart, es gelingt aber im Gedicht besser, Dreck zu vermeiden. Das zeigt deutlich, daß die kognitive Kontrolle der Affekte in einer lyrischen Mikrowelt viel besser funktioniert.

3 Kawai ist der Jungschen Psychologie verpflichtet. Deshalb diese »Schattendeutung«. Man beachte aber, daß in diesen Träumen der Schmutz nicht in Beziehung zum Träumer kommt. Im ersten Traum ist die Verknüpfung auf Begleiter delegiert, im zweiten Traum auf einen Teil des Gartens, auf die Äste eines Baums.

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■ 6. Bäuche, amodale Welt und präkonzeptuelle Strukturen In der kindlichen Welt sind Bäuche und Köpfe Behälter (Container), im formalen Sinne kognitive Blackboxes. Inhalt, Zustand und Prozesse werden erahnt, bleiben aber doch ein Geheimnis. Aus diesem Grund blühen Phantasien, mit denen versucht wird, sich ein Bild des Inneren zu machen. Auch die anatomischen Kenntnisse des Erwachsenen vermögen nicht die Phantasien der Kindheit zu ersetzen, abgesehen davon, daß (Fachleute ausgenommen) die Wissensbasis über das Körperinnere im allgemeinen dürftig bleibt. Es gibt aber noch ein anderes Problem: Auch mein Bauch könnte von der Kuh als Projektionsort benutzt werden, vorausgesetzt, ihr Kopf wäre fähig, mit Dingen und Orten so umzugehen, daß Idee und Bild gleichzeitig in der externen Materie meines Körpers zum Ausdruck gebracht werden könnten. Das Hineinversetzen in Räume gilt auch für die Materie. Bachelard (1948) sieht darin eine der grundlegenden Bewegungen der Imagination. Bäuche gehören zur Kategorie der »abgeschlossenen« Räume, der Höhlen, Labyrinthe, Keller und Behälter aller Art. Hier läge ein Streifzug durch kosmogone Theorien, durch Mythologien und Märchen nahe. Das Konzept »container« darf heute in keiner psychoanalytischen Schrift fehlen. Über Räume hat Bachelard – vor allem anhand der Literatur – bereits in aller Breite geschrieben. Der Stoff wäre immens: Der Bauch als animalischer Behälter des Verschlingens, der verdauenden Umwandlung, der sexuellen Vorgänge, der Geburt, der Gefräßigkeit, der Gefangenschaft, der Aufgehobenheit, der Bauch als Wohnort der Drachen und als Ort geheimer Schätze. Auch wäre der Entwicklung der Vorstellung über das Körperinnere beim Kind nachzugehen. Das alles zusammenzufassen ergäbe eine Schlaufe, die weit vom Gedicht wegläuft und kaum zu erhellen vermöchte, was den Autor zur Wahl der parallelen Kühe gebracht hat. Wir lassen die Frage offen, ob der Autor, ohne es explizit zu wollen, durch sein Wissen um diese Aussagen beeinflußt worden ist. Andererseits steht fest, daß Kühe schon viel früher Bestandteil seiner konkreten, kognitiven kindlichen Welt waren. Phantasien über das Innere einer Kuh sind das eine. Von glei-

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cher Bedeutung sind die konkreten Erfahrungen aller Sinne (sofern ein Kind Kühe nicht nur vom Fernseher her visuell kennt). Die Kuh ist sichtbar, tastbar, sie ist zu riechen, und ihre Bewegungen und Laute können imitiert werden. Diese Prozesse mischen sich mit Erfahrungen des eigenen Körpers. Innere und äußere Wahrnehmung von Körpern werden miteinander verglichen, von sich selbst auf die Kuh und von der Kuh auf den eigenen Körper übertragen. All diese Vorgänge sind sprachlich schwer zu beschreiben, denn sie gehören zur nichtverbalen amodalen Welt der Erfahrung, wie sie zum Beispiel Stern (1985) bei kleinen Kindern beschrieben hat. Visuelle Eindrücke, Töne, Gerüche, Geschmack, Tastsensationen werden mit der Zeit ineinander verwoben. Zur Kuh gehören das Kauen und Rülpsen, die Feuchte der Schnauze, das Rupfen des Grases, das Urinieren, das Blasen und Scheißen. Diese ersten Eindrücke helfen auch, eine Grenze zu erfahren, die Hohlräume von außen trennt, und ein Inneres und Äußeres entstehen zu lassen. Aus der amodalen vegetativen Körperwelt entwickeln sich später sprachfreie und präkonzeptuelle Bilder über Prozesse, die im Innern, auf der Kuh, aus ihr heraus und in sie hinein verlaufen. Innen und Außen sind geortet und können gerade deshalb wieder vertauscht werden. Dann liegt das Innere des Bauches außen in der Landschaft und umgekehrt die Landschaft im Bauch, und die Kuh ist auch Bestandteil der Landschaft. Die Welt ist wie im magischen Denken beweglich. Ein Objekt ist zwar eine Einheit, aber es enthält auch die Beziehungen, in denen es erfahren wurde. Es ist »kognitiver« Bestandteil einer Phantasie und Träger »affektiver« Erfahrungen, die sich an ihm verdichten (vgl. Piaget 1946; Mounoud 1988). Imaginationen sind in dieser präkonzeptuellen Welt angesiedelt, und sie spielen auch mit den Möglichkeiten dieser Art des »Denkens«. Was in der einen Kuh abläuft, kann auch in einer anderen geschehen. Gekaut wird im Dichten wie im Träumen. Das Ausgekaute liegt später im Tal herum, in den Dingen, vor allem aber auch in den Kuhfladen. »In ihren Augen spiegeln das Tal, die Wälder …«

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Das Innere des Bauches und des Kopfes sind nicht direkt sensuell erfahrbar, der Inhalt läßt sich nicht ertasten. Oder ist er doch zugänglich? Die kleine Ziege sitzt in der Pupille. Die Hinterbeine sitzen im Gestrüpp der innen georteten Gedanken, der vordere Teil blickt heraus. Sie hütet die »Klugheit der Bäuche«. Ist sie eine Personifikation von Pluto, dem Hüter des Hades, oder vom bösen Wolf vom Val Ferret? Oder ist man Zeuge der »Geburt aus dem Auge«? Ist sie dem Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein entsprungen? Um die Wahrheit zu gestehen, sie kam als Erinnerung in das Gedicht. Sie saß mitten in einer Kuhherde auf einem großen Stein. Nichts von der Trägheit der Kühe, neugierig und beweglich kam sie auf mich zu. Im Traum würde man sagen, daß sie ein figurales, animiertes Element darstellt, eine Trägerin von Prozessen, die potentiell in Gang kommen könnten. (In Wirklichkeit kam es zu einer zärtlichen körperlichen Berührung von Ziege und Autor.) Die Ziege ist zwar noch Hüterin der unbekannten und ungeordneten Imaginationen des Körperinnern der Kuh. Sie organisiert aber bereits eine interaktive Szene: Die Phantasien werden, würde man einem Prinzip der Traumdeutung folgen, zu einem Geflecht von Relationen vernetzt. Der Autor allerdings ist nur als Zuschauer einbezogen: Alles spielt sich noch in der Verschiebung ab, die Beziehung der Berührung und der Nähe wird von der Kuh und der Ziege getragen. Dazu ein Stück Theorie. Die Kategorien der amodalen Welt werden im Lauf der Entwicklung in präkonzeptuellen Systemen angelegt und geordnet. Solche Systeme zeigen eine räumlich-zeitliche Ordnung. Edelman (1992) nennt sie situationale Ordnungen von Vorgängen. Sie enthalten Kategorisierungen von familiären und nicht familiären Ereignissen, einige mit und andere ohne die notwendigen physikalischen Verbindungen zu anderen Teilen einer Szene. Von den vielen vorliegenden Ordnungstheorien sei das Konzept von »Place« (Gibson u. Spelke 1983) genannt, das Moser und von Zeppelin (1996) in ihre Traumtheorie übernommen haben. Raum und affektive Befindlichkeit gründen einen Ort, in welchem Ereignisse ablaufen. Piaget (1946) und Lakoff (1987) haben von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus weitere kognitive Prinzipien beschrieben, in denen kognitive und affektive Information noch nicht eindeutig zu trennen sind. Stern (1985, 1995) zeigt in seinen theoretischen An-

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sätzen, wie diverse Ereignisse und »Gefühle« zusammengebunden werden zu notwendigen Elementen eines einzigen, geeinten Ereignisses (happening), das später, auf höherem Niveau der Entwicklung, eine Bedeutung übernimmt. Das vereinheitlichende Schema, das aus einer Assemblierung (Vernetzung, Verbündelung) verschiedener Prozesse besteht, nennt er eine »protonarrative Hülle. Es besteht aus einer Art Struktur, die Agenten, Interaktionen, Kontext und Instrumentalität besitzt. Eine zeitliche Dimension des Ablaufs entsteht, die rhythmisiert ist und eine affektive Tönung enthält. Man kann den Ablauf als eine verknüpfte Reihe von präsentischen Momenten sehen. Jedes Moment ist eine Zeitstrecke, in welchem das, was passiert, auch gleichzeitig erfaßt werden kann. Konzeptualisierungen von Vergangenheit, Präsenz und Zukunft gibt es noch nicht. Das protonarrative Netz kann später so rekonstrukturiert werden, daß es eine Phantasie, eine Erinnerung oder ein Bericht wird. Was in allen Theorien über diese nichtverbale, imaginäre Welt wenig deutlich gemacht wurde, ist die Tatsache, daß Objekte, sogenannte Dinge als Haftpunkte der Orientierung und Ordnung, eine zentrale Rolle spielen. Sie sind Merkpfähle des Selbstsystems und gewähren Sicherheit durch die Positionierung in Raum und Ablauf (durch ihr Auftauchen) (Moser 1999). Welche Rolle diese nichtanimierte Welt der Dinge bei psychisch gestörten Menschen und in der Entwicklung des Kindes zukommt, hat Searles (1960) eindrücklich beschrieben. Tiere werden übrigens im Kindesalter schon früh mit den animierten Eigenheiten menschlicher Wesen versehen. Sie bleiben aber Zwitterwesen. Sie sind Dinge und Menschen zugleich. Sie eignen sich besonders als Projektionsorte und als potentielle Interaktionspartner, die wie Menschen sich verhalten (oder wie Teile von Menschen). Sie eignen sich bereits weniger als Merkpfähle der Sicherheit.

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■ 7. Tasten, »Fühlworte«, innere und äußere Seite der Sprache »Uns fehlen die Worte, ihre Gefühle zu tasten« »Flimmernde Sonne über den schwarzen Leibern«

Ich erinnere mich genau an die feuchtwarme Qualität der Haut und an die kurzen gekräuselten Haare des schwarzen Fells, an den in der Herbstsonne gebrochenen Schimmer. Das Berühren der Kuh, wie das Betasten der Dinge überhaupt, ist ein unwillkürlicher Impuls. Das Tasten hat zwei Funktionen, es bestätigt das Hiersein eines Objekts, es vermittelt, ob dieses Objekt ein Ding ist oder eine lebendige Gestalt, andererseits bildet es im tastenden Subjekt ein fragmentarisches Selbst, die Selbsterfahrung geht unmittelbar aus dem Tastsinn hervor. Ich erinnere an Gaddini (1992) und an meine Ausführungen dazu (Moser 1997). Die Fernsinne Sehen, Hören, Riechen haben den Sinn, Objekte »nahe«zurücken und sie tastbar zu machen, sei es mit der Hand, dem Mund oder mit der Haut (»Sehen gebraucht nicht zum Wahrnehmen, sondern zum Kontaktherstellen, eine Kontakt-Operation auszuführen und nicht eine Objektbeziehung«). Die Existenz des Objekts wird über das Tasten erfahren und eröffnet insofern auch die Möglichkeit, durch Nachahmung dieses Objekt zu werden. Gleichzeitig konserviert das Tasten einen Selbstanteil (»das Fragment, das für das Selbst steht, und daher das Selbst in jedem Fragment erfahren«). Die Erfahrung des Tastens führt über die Imitation zur Entwicklung von Bildern (Piaget 1946), zu Repräsentationen dessen, was ertastbar geworden ist. Auf der Stufe der Imitation sind noch Verschiebungen von Selbstanteilen zu Objekten und umgekehrt möglich. Auf die Bilder übertragen wie auch auf die dazu gehörigen Affekte, wird im Gedicht das Innere der Kühe »gefüllt«. Alsbald kann die Kuh auch wieder »entleert« werden. Das Innere der Kühe wandert in die Wiesen, in das Gestrüpp und die Wälder bis in das Geschiebe der Bäche. Dort wird es vom Autor wiedergefunden. Er sieht, er riecht, er hört die Dinge, nimmt alle in sich auf und kleidet sie in seine Worte. Affektive und kognitive Anteile bleiben in diesen Pro-

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zessen ungetrennt. Was aber ist die Funktion der Worte? Bilden sie einfach das Ertastete ab, sind sie bloße Etiketten? Oder kann nicht auch die Funktion des Tastens auf die Worte übergehen, zumindest in der Phase des Suchens und Findens in der Landschaft? In einer Deutung der »Fühlwörter« Celans versuchte ich zu zeigen (Moser 1997), daß Worte wohl Prozessen einen Namen geben, darüber hinaus aber tasten, fixieren, festhalten, Affekte zusammenbinden zu »Selbstinseln« unseres Erlebens. Die Worte, die im Gedicht gepflückt werden, liegen in dieser Auffassung bereits in den Dingen. Sie werden über die Worte aufgelesen. Fühlwörter in diesem Sinne gibt es im Schlaftraum nicht. Worte fehlen.4 Der Traum bleibt in einer bildhaft konkreten Darstellung. Wohl gibt es im Traum verbale Monologe und Dialoge. Deren Bedeutung ist gerade eine umgekehrte: Worte sprechen für eine erhöhte kognitive Kontrolle über die Affekte. Sie dienen der Vermeidung des Erfühlens und Erfassens oder engen es ein auf das gerade noch Ertragbare. Wörter und Sätze schließen in dieser Sicht eng an die nicht verbalen, präkonzeptuellen Systeme an. Sie unterstützen die Lokalisierungs- und Kategorisierungsprozesse der amodalen Welt. In einer anderen Arbeit (Moser 1997) habe ich von der »inneren Seite der Sprache« gesprochen, um sie von der »äußeren Seite« abzuheben, die der Kommunikation, dem Mitteilen dient. Die innere Sprache läßt sich nicht immer nahtlos in die äußere Mitteilungsseite überführen. »Denn nicht für alles kann ein Name gefunden werden, weil es nicht für alle Dinge ein Wort gibt. So kommt es, daß Gedichte zu Recht unverständlich sind, oder höchstens für den Autor. Dennoch können sie faszinieren, eine Wirkung auf uns ausüben, wir glauben zu verstehen, ohne daß wir wissen, was die Worte bedeuten« (von Matt 1998, S. 77). Von Matt spricht von einem »archaischen Überschuß«: »… er enthält genau jenes Element der Unverständlichkeit, von Evidenz und Verschlossenheit in einem, welches die Schönheit der jeweiligen Verse erweckt und bewegt. Sie formt nun einen feinen Horizont von unbegriffener Bedeutung, der den nachweisbaren [d. h. in kommunizierbaren 4 Eine Ausnahme bilden die Worte, die auch Dinge sind und gleichartig behandelt werden.

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Worten formulierten; Einfügung vom Autor] Bedeutungszusammenhang des Textes übersteigt« (S. 77). Wir sind also, um an Derrida (1967, S. 362) zu erinnern, »am Rand des Augenblicks, wo das Wort noch nicht geboren ist, wo die Artikulation schon kein Schrei mehr, aber noch kein Diskurs ist«. Worte machen Dinge und Zustände betont figural, insofern sie Tonalität in die Welt der ordnenden Bilder bringen. Bei der Entwicklung des Affektsystems nimmt man an, daß sich zwei zunächst voneinander unabhängige Module entwickeln: Das eine, früher entwickelte, besteht aus den kommunikativen Affekten, die schon genetisch angelegt und an die Mimik und Gestik gebunden sind. Das andere Modul, so würde ich annehmen, umfaßt die Befindlichkeiten der modalen Welt, die im Laufe der kognitiven Entwicklung dann zu intentionalen Affekten werden können, die wir Veränderungsvorgängen in den Objektbeziehungen und der Selbstprozesse zuordnen. Erst später werden die beiden Module verknüpft, so daß auch innere Befindlichkeiten über ein Ausdrucksinventar kommuniziert werden, aber eben nicht immer müssen. Ich vermute, daß in der ersten Phase der Sprachentwicklung sich eine ähnliche Modulisierung (wenn auch nur für kurze Zeit) nachweisen läßt. Die Fühlworte sind deshalb funktional anders als die Mitteilungsworte. Die Fähigkeit aber, meine inneren Worte mit der Funktion der äußeren Worte zu verbinden, so daß ich über meine inneren Zustände auch reden kann, bedeutet nicht, daß die »innere« Sprache (an sich) verloren gegangen ist. Ihr Bedeutungszusammenhang und ihr Gehalt an Gefühlen ist gerade in Gedichten oft viel weiter und tiefer als ihr kommunikativer Anteil.

■ 8. Gedicht und Traum. Die reflexive Manipulation durch die Sprache »Im nassen Gras pflück ich die Worte, im Gestrüpp, auf Regenbäumen, verteilt im Geschiebe der Bäche«

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Die Landschaft ist in diesem Text Ort der Worte, die Projektionsfläche des Gedichts. Die sprachliche Aneignung der Bilder (das Pflücken der Worte) ist im Vergleich zu den bildhaften Prozessen immer selektiv. Das könnte zu einer Verarmung führen (was im Traum durch Verbalisierungen geschieht). Dem kann der sprachliche Bedeutungszusammenhang entgehen, wenn er die Kanäle zur konkreten sensuellen Welt und zum präkonzeptuellen Denken offenläßt. Das ermöglicht dem Leser, assoziativ zu den nichtverbalen Gehalten zu gelangen, die »hinter« und »zwischen« den Worten liegen. Im vorliegenden Gedicht ist die »Mikrowelt« voll von Geräuschen und Tastempfindungen. Man spürt die Nässe des Grases, die Sperrigkeit des Gestrüpps, die Kühle der Schnauzen, die Feuchtigkeit des Bodens, man hört das Wiederkauen der Kühe. Das Harz der Wälder liegt im Tal, und die Kuhfladen dampfen. Auch wenn der Flußlauf trocken ist, gurgelt das Wasser im Geschiebe des Baches. Die ganze Gestimmtheit der Szene geht in jene des Lesers über. An einigen Stellen sind diese Vorgänge auch wieder in die sprachliche Formulierung aufgenommen. Diese sekundäre Ausdehnung des Gedichts machen Lyriker oft in der Überarbeitung. Dennoch trifft Sprache immer eine Auswahl. Nichts dergleichen geschieht im Traum. Der Verlauf ist irreflexiv, außer er werde im Erzählprozeß nachträglich ausgeschmückt, verändert und verlängert. Beispiele dafür finden sich in »Kunstträumen« von Dichtern. Die Reflexivität erzeugt Abstand zu den Affekten und führt eine kontrollierte (bewußtseinsnähere) Regulierung ein (Moser 1997). Eine erste Folge führt zur Manipulation der Sequenz der Bilder und der Situationen. Die Heftklammern waren eindeutige Auslöser des Schreibprozesses. Es muß die Parallelität gewesen sein, die dazu geführt hat, meine Einfälle an dieses Objekt zu »heften«. Im Lichte der Traumtheorie (Moser u. von Zeppelin 1996) würde man sagen, daß die Heftklammern (nach der Umwandlung des Wahrnehmungsobjekts in ein kognitives Element) unbelebte Objekte sind, keine Attribute haben und ein geringes Interaktionspotential besitzen. Was die Features des Elements sind und welche Affekte verdichtet in den Heftklammern stecken, bringen wir nicht in Erfahrung. Das Nachdenken darüber, das Assoziieren vor allem, würde zu den Phantasien »links der Heftklammer« führen, die der Autor von vornherein von der entstehenden lyrischen Mikrowelt ver-

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bannt hat. Eine Affektentfaltung ist noch nicht zu sehen. Sie kommt erst über den nächsten Einfall, die »schwarzen Kühe«, einer Konkretisierung näher. Kühe sind animierte Objekte mit hohem sensomotorischem Wechselwirkungspotential in Form von interaktiven Verknüpfungen. Noch liegen die Kühe still da. Von verändernden Bewegungen ist nicht die Rede. Die beibehaltene Parallelität vermeidet eine wechselseitige, responsive Interaktion zwischen den beiden Kühen. Der Autor bleibt Zuschauer und ist nicht interaktiv einbezogen. Die eingangs dieser Arbeit aufgeworfene Möglichkeit des Einschlafens realisierte sich nicht. Es bleibt darum offen, ob die Heftklammern als kognitives Element im Traum erschienen wären und ob in der Sequenz die Transformation zu den Kühen stattgefunden hätte, zum Beispiel als hypnagoges Phänomen, was die Heftklammern anbetrifft.5 Anstelle der Kühe hätte im Traum auch der Schlafzustand selbst thematisiert werden können. Bachelard betont (1948, S. 174), daß Schlaf und Bauch ähnliche Behälter sind. Die Traumarbeit im Schlaf wäre dem Kauen und Verdauen der Kühe im Gedicht äquivalent. Manipuliert wird zum zweiten aber auch das Innehalten von Abstraktionsstufen. Es wird, in die Kühe verlegt, von Träumen und Dichten gesprochen. Alsdann werden die beiden Prozesse nicht mehr auseinander gehalten und beide als Thesenkauen bezeichnet. Was nach außen kommt, ist zum einen das Schnauben aus den Nüstern, zum anderen die aufzufindenden Worte in der Landschaft. Diese Hin- und Herbewegung auf verschiedenen Abstraktionsstufen ist für die Gestaltung einer lyrischen Mikrowelt typisch. Das mag damit zusammenhängen, daß im Unterschied zum Traumgeschehen der Autor eines Gedichts Affekte besser dosieren kann. Entwickelte Affekte werden immer wieder zurückgenommen, dann wieder entfaltet, dann wieder verdichtet. Affekte sind stärker spürbar in den sensuell geprägten Bildern, weniger zugänglich in den gedankenähnlichen Passagen. Wird die Poesie 5 Ein hypnagogisches Einschlafphänomen mit der bewußten Intention, Ordnung in die Gedanken und Einfälle zu bringen und nicht einzuschlafen. Zum Beispiel: Der Träumer muß viele Blätter im A4-Format mit zwei Heftklammern zu zwei Häufchen zusammenfassen. Es gelingt ihm aber nicht, die Kriterien ausfindig zu machen, welche Blätter zu welchem Häufchen gehören.

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gänzlich zur Sprachkunst oder zu einer Gebrauchslyrik, verschwindet der affektive Gehalt kognitiver Bilder fast völlig. Es scheint eine Tendenz vorzuliegen, die Affektivität über die ganze Mikrowelt des Gedichts in jener Intensität zu verteilen, die vom Autor bestimmt und gewünscht wird. Die Veränderungen in der Sequenz der Bilder eines Gedichts unterliegen dann einem Prozeß der affektiven Regulierung. Deren Prozesse sind dem Autor keineswegs bewußt. Es wird deshalb immer wieder zu Recht betont, daß das Entstehen und die Gestalt eines Gedichts auf einem fundamentalen Nichtwissen beruhe.

■ 9. Stille Veränderungen Es fällt in diesem Gedicht auf, daß der Autor nur selten seine Position als Zuschauer verläßt und in eine direkte, verbindende Relation gerät. Eine Relation wird als vermißte formuliert: »Gefühle zu tasten«. Eine weitere zeigt sich zu Ende des Gedichts: »pflück ich die Worte«. In der vermißten Relation wird von »uns« gesprochen, der Autor ist anonymisiert. Über das Pflücken der Worte wird das Tasten im Gestrüpp, in den Regenbäumen, im Geschiebe erst möglich. Die Kargheit der Interaktionen, an denen der Autor beteiligt ist, findet sich in vielen Gedichten. Sie ermöglicht eine Transformation der Verschiebung innerer Prozesse in die entworfene Mikrowelt. Sie tauchen dort auf als Interaktionen unter den eingeführten Objekten oder mit großer Verdichtung, als Features der Dinge selbst. Emotionales Wissen wird nicht sprachlich explizit formuliert (wie etwa in den verbalen Psychotherapien), sondern auf verschiedene Weise eingebettet. Die Kühe sind zweifelsohne zentrale Punkte der Organisation. Sie sind die Träger der Selbstveränderungen des Poeten. Sie kauen, träumen, dichten, schnauben, schimmern in der Sonne. Die heiligen Glockentürme können wir als eine attributive Beziehung betrachten, wie sie sich häufig auch in Träumen finden. Das Attribut ist nicht ein Bestandteil der Kuh selbst, sondern ein autonomes Objekt, das in einer Beziehung zur Kuh steht. Die Glocke verändert die Kuh, sie wird verschönert, exotischer ge-

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macht, in ihrer Bedeutung und Identität angereichert. Ausnahmsweise sei eine Deutung erlaubt. Der Autor ergänzt sich mit seinem Gedicht in gleicher Weise. Die lyrische Mikrowelt hängt ihm am Hals, obwohl das Gedicht auch eigenständig, ohne ihn existieren kann. Die Ziege lassen wir in Ruhe. Man muß sie gerne haben, aber sie ist ein unberechenbares Wesen. Sie sitzt in der Pupille, eine Vermittlerin der Innenwelt und Außenwelt, ein »intermediäres Wesen«. Wie gesagt: Sie hütet das Geheimnis der klugen Bäuche. Die Wechselwirkung ist eine der physikalischen Berührung der Körper. Die gesetzte Relation ist überdies eine Containerrelation, wobei es unentschieden bleibt, ob ein Austritt oder eine Fixierung dieser Position gemeint ist.

■ 10. Und nun zurück zur Frage: Wer sind diese Kühe? Durch die vielen beschriebenen Attribute sind sie sehbar, hörbar, tastbar und auch vorstellbar. An ihrer Identität kann nicht gezweifelt werden. Überattribuierungen in Träumen verdecken die wahre Identität gerade durch die Bestimmtheit der Beschreibung. Auch im Gedicht führt dies zur Täuschung des Autors wie des Zuhörers. Die Neugier bleibt. Sind es zwei »belliqueuses«, zwei kriegerische Mutterkühe? Oder »religieuses«? Sind es zwei Frauen aus dem Leben des Autors, vielleicht Mutter und Großmutter? Oder sind die beiden die Musen des Poeten? Oder ist das Gedicht ein verstecktes »blason«, die lyrische Rekonstruktion einer schönen Frau, die schlußendlich unerreichbar und unerkennbar bleibt? Poeten wollen darauf ohnehin keine Antwort wissen. Vielleicht sind es schlicht schwarze Kühe, Mallarmés Anastase und Pulchérie, meinetwegen.

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■ 11. Theoretischer Nachtrag über Imaginationen, Assoziationen und die Funktion der Ästhetisierung Es wurde verschiedene Male von Phantasien »links der Heftklammern« und »rechts der Heftklammern« gesprochen. Die Unterscheidung deckt sich in etwa mit jener von »Imaginationen, die in das Gedicht oder den Traum eingehen« und Imaginationen, die außerhalb bleiben und zu unbewußten Prozessen des Träumers oder Autors hinführen. Auf diese Art und Weise formuliert, ist die Theorie immer noch zu hausgemacht. Dazu einige weiterführende Ideen. Die Wahrnehmung der Heftklammern führt zur Aktivierung eines kognitiven Elements: »zwei Heftklammern«. Dieses Element besitzt intrinsische Relationen zwischen Features (Eigenheiten morphologischer und assoziativer Art), die das Element auch definieren. Das Element kann Assoziationen auslösen. Wir nennen diese vorläufig Relationen 1. Ordnung. Sie führen von der Heftklammer weg und gehen über Netze von Bildern, kognitiven »Elementen« und affektiven Reaktionen zu Imaginationen mit situativer Struktur. Im einen Fall (links) führen sie zu einer kreativen Dekonstruktion, die Heftklammern spielen keine Rolle mehr, das kognitive Element wird gleichsam entleert. Bollas (1995) spricht in anderem Zusammenhang von Dissemination. Es werden »inscapes« eröffnet, die zum gegenwärtigen und zum vergangenen Unbewußten führen (Sandler u. Sandler 1984). In der therapeutischen Situation wird auf diesem Wege ein Erinnerungsraum (Deserno 1995) aufgebaut, der bis zu Phantasien mit unangenehmen Affekten führt, z. B. auch zu alten traumatischen Mikrowelten, die bisher nicht zugänglich waren. Reiser (1990) hat die These aufgestellt, daß sich aus dem klinischen Material ein knotenförmiges Netzwerk der Erinnerung (enduring nodal memory network) erstellen läßt. Diese Imaginationsketten oder Netzwerke gehen unterschiedlich weit, sie sind prinzipiell offen, nie abgeschlossen, wohl aber in »klinischen« affektiven Zonen unterbrochen und abgeblockt. Kognitive Elemente, die Bestandteil eines Traumes oder einer Poesie sind, können auf diese Weise beliebig assoziativ disseminiert werden. Wird das systematisch getan, kommt es zu einer biographischen Aufschlüsselung eines Traums oder Gedichts.

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Die Assoziationen »rechts« (ebenfalls Relationen 1. Ordnung) führen direkt zur Konstruktion einer affektiv-kognitiven Mikrowelt. Ein erster Schritt ist die Transformation in schwarze Kühe. Die wiederum organisieren zentral die ganze entstehende Mikrowelt. Diese Mikrowelt simuliert nun mittels Imaginationen eine Sequenz von weiteren Bildern. Die Mikrowelt wird zu einem geschlossenen Narrativ mit Beginn und einem vorläufigen Ende. Alle Elemente bleiben präsentisch in diesem Raum. Der Aufbau verläuft über verschiedene Relationen, die ich Relationen 2. Ordnung nenne. Sie sind intrinsische Ordnungsprinzipien dieser Mikrowelten. Dazu gehören beispielsweise die Anordnung der positionierten Elemente, die Bewegungen im Raum und die interaktiven Wechselwirkungen. Diese Relationen 2. Ordnung verlaufen auf nicht bewußtem Wege mittels assoziativer Verknüpfungen und gemäß einer affektiven Regulierung, auf die bereits hingewiesen wurde. Die beteiligten Imaginationen sind durch eine Grenze gegen außen gekennzeichnet. Innerhalb dieser Grenze wird bestimmt, welche Affekte intentional interaktiv in Erscheinung treten und welche nur in hoher Verdichtung in Objekten oder im »Place« bleiben. Relationen 3. Ordnung sind Transformationen, die in der Sequenz der Mikroweltbilder Übergänge regeln, zum Beispiel vom Kopf der Kühe zum Bauch, von den Heftklammern zu den Kühen. Man kann eine Mikrowelt somit als eine geschlossene Zone im Bereich der Imagination sehen, die sich durch eine Grenze gegen disseminative Assoziationen abgrenzt, hingegen wohl Suchassoziationen erlaubt, die Imaginationen von »links« aus persönlichen Phantasieräumen als Material in die Mikrowelt einführen. Man wird an die alte These von French (1954) erinnert, der in seinen Analysen von Traumserien gezeigt hat, daß in einem Traum oft nur eine fragmentierte Teilstruktur des zugrundegenommenen Problemkomplexes zu finden ist, jener Teil nämlich, der in der Problembearbeitung affektiv zu ertragen ist. Weitere Fragmente werden erst später geträumt. Der noch nicht bearbeitbare Aspekt wird oft am Rande verdichtet dargestellt. Das »sample des Zugelassenen« wird in der Mikrowelt abgeschottet. Beim Gedicht, auf das ich mich im weiteren beschränken will, hat die Kodierung in der Sprache (sowohl durch ihre innere wie durch ihre äußere Seite) diese kontrollierende und abgrenzende

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Funktion. Was gesagt wird, grenzt das Nichtgesagte aus und fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf einen eindeutigen Bereich. (Eindeutigkeit darf nicht mit Klarheit verwechselt werden. Die Fokussierung kann als emotionale Attraktivität des Themas durch seine Unverständlichkeit geradezu intensiviert werden.) Ein Gedicht wird fortlaufend, später zusätzlich in der Überarbeitung ästhetisiert. Was aber ist Ästhetisierung? Freud (1908e) spricht von einer ästhetischen Lust, von einer Verlockungsprämie, die von der Dichtung ausgeht. Sie ist seiner Ansicht nach eine Art Vorlust, die einer eigentlichen Entbindung größerer Lust »aus tiefer reichenden Quellen« vorangeht. Die ästhetische Lust dient andererseits auch der Verhüllung und Abänderung der »egoistischen Tagträume«, die der Dichtung zugrunde liegen. Ein Gedicht soll – ganz gleich, wieviel Schrecken in ihm eingepackt ist – schön sein. Werden durch die Schönheit Gefühle gebändigt und in eine akzeptable, genußvolle Form des Erlebens umgewandelt? Von Matt (1998) schreibt der Poesie ein Bedürfnis nach Vollkommenheit, Unbedingtheit und Unvergänglichkeit zu. Das Akute, Plötzliche dieser Vollkommenheit soll durch die sprachliche Gestaltung in Dauer (der Zugänglichkeit) verwandelt werden. Die noch flüchtige Schönheit wird zur fortbestehenden Herrlichkeit der Verse destilliert (von Matt 1998). Die sprachliche Kodierung erlaubt die orale und schriftliche Weitergabe. Andernfalls würde die lyrische Mikrowelt wie jene des Traumes nur als leicht vergängliche Erinnerung im Autor bestehen und verblassen.6 Die Vorstellung der Unvergänglichkeit ist mit einer nicht ausgesprochenen, unbewußten Hoffnung verbunden, die lyrische Mikrowelt möge nicht in den Abgrund der zerstörenden Unbeachtetheit fallen, sondern in die Aufgehobenheit der warmen Kuhbäuche geraten, »in jene unterirdische, geheime Nacht, in eine höhlen6 Viele alte, insbesondere indigene Kulturen gehen mit den Träumen um, als wären sie Gedichte (Ahrens 1996). Sie werden als Botschaften aller Mitglieder genommen, entindividualisiert und als Orakel für alle und/oder den Träumer verstanden. Ein Traum geht wenigstens für eine gewisse Zeit in eine »oral history« ein. In unserer Kultur hat die Tendenz, Träume gemeinsam anzuschauen und zur Dichtung auszubauen, zugenommen. In therapeutischen Praktiken werden Träume szenisch dargestellt und zu einer Art theatralischer Dichtung gemacht.

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reiche Nacht, die im Inneren eines lebenden Körpers arbeitet« (Bachelard 1948, S. 175, Übers. von U. M.) Es wäre schön, der Dichter könnte sich mit seinem Gedicht hineinverhexen in den Leser, so, wie er sich selbst in die Materie der Dinge getan hat und wie er selbst von diesen Dingen verhext worden ist. Nüchterner formuliert: Der Leser als Container der liebevollen Aufnahme und des inneren Nachvollzugs. Oder: Das Gedicht zum »inscape« des Lesers werden lassen.

■ Literatur Ahrens, U. (1996): Fremde Träume. Eine ethno-psychologische Studie. Berlin. Bachelard, G. (1948): La terre et les rêveries du repos. Paris. Bachelard, G. (1960): Poétique de la rêverie. Paris. Benichou, P (1995): Selon Mallarmé. Paris. Blanchot, M. (1969): L’entretien infini. Paris. Bollas, C. (1995): Cracking Up. The Work of Unconscious Experience. London. Derrida, J. (1967): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M., 1972. Deserno, H. (1995): Träumen, Übertragen, Erinnern. In: Traum und Gedächtnis. Materialien aus dem Sigmund-Freud-Institut. Münster, S. 123-152. Dufrenne, M. (1953): Phénoménologie de I’expérience esthétique. Paris. Edelman, G. M. (1992): Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht. München u. a., 1995. Finn, M. H. P. (1955): A note an a waking «blank stage« analogous to Isakower’s phenomena, the dream screen, and blank dreams. Psychoanal. Rev. 42: 99-103. French, T. M. (1954): The Integration of Behavior. Bd. II. Chicago. Freud, S. (1908e): Der Dichter und das Phantasieren. GW VIII, S. 213-223. Gaddini, E. A. (1992): Psychoanalytic Theory of Infantile Experience. London u. a. Gibson, E. J.; Spelke, E. S. (1983): The development of perception. In: Mussen, P. H. (Hg.): Handbook of Child Psychology. Bd. III: Cognitive Development. Fourth edition. New York, S. 1-76. Hopkins, G. M. (1959): Journal 1863-1866, 1866-1975. Salzburg u. a., 1994. Kawai, H. (1997/98): Myôes Traumchronik. Einsiedeln. Lakoff, G. (1987): Women, Fire and Dangerous Things. Chicago. Mallarmé, S. (1885): Œuvres complètes. Paris, 1983. Matt, P. v. (1998): Die verdächtigte Pracht. Über Dichter und Gedichte. München u. a.

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Moser, U. (1997): »Wunderangstmacht« und »Abschiedsgrat« – lyrische Mikrowelten. Psyche – Z. Psychoanal. 51: 739-762. (auch in diesem Band) Moser, U. (1999): Selbstmodelle und Selbstaffekte im Traum. Psyche – Z. Psychoanal. 53: 220-248. (auch in diesem Band) Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996): Der geträumte Traum. Wie Träume entstehen und sich verändern. Stuttgart. Mounoud, P. (1988): The ontogenesis of different types of thought. Language and motor behaviors as non-specific manifestations. In: Weiskrantz, L. (Hg.): Thought Without Language. Oxford, S. 22-45. Piaget, J. (1946): Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart, 1975. Reiser, M. F. (1990): Memory in Mind and Brain. What Dream Imagery Reveals. New York. Sandler, J.; Sandler, A. M. (1984): Vergangenheits-Unbewußtes, GegenwartsUnbewußtes und die Deutung der Übertragung. Psyche – Z. Psychoanal. 39, 1985: 800-829. Searles, H. F. (1960): The Non-Human Environment in Normal Development and in Schizophrenia. New York. Stern, D. H. (1985): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart, 1992. Stern, D. H. (1995): Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart, 1998. Valéry, P (1959): Rede über die Dichtkunst. In: Werke. Bd. 5. Frankfurt a. M., 1991. Zeppelin, I. v. (1973). Social drop-outs and hippies. Fantasy, object relationship and aggressiveness. Brit. J. Med. Psychol. 46: 181-190.

Erstveröffentlichung in: Psyche – Z. Psychoanal. 54, 2000, S. 28-50.

■ Ulrich Moser

Vom Traum zur Poesie: Versuch einer kognitiven Grammatik

■ 1. Hasen, Wildschweine und bizarre Wesen bewohnen unsere Träume, gelegentlich auch ein Gedicht Bizarre Phänomene im Traum und anderswo erwecken besondere Aufmerksamkeit und Überraschung. Ein Grund liegt zunächst darin, dass sie zumindest teilweise den gewohnten Wahrnehmungen und Denkabläufen widersprechen. Im Schlaftraum ist ihre Häufigkeit untersucht worden, in eins damit wurden sie auch kategorisiert (vgl. z. B. Haas, Guitar-Amsterdamer u. Strauch 1988; Willequet 1999). Hasen und borstige Wildschweine sind als Objekte der Wahrnehmung von ähnlicher Komplexität. Sie haben aber in der kognitiven Organisation des Träumers zusätzlich eine verborgene Struktur, die der Außenstehende nicht kennt. Gelegentlich verraten sie Komponenten ihres Wesens gerade durch Attribute, die nicht zur üblichen Identität (im Sinne des common sense) passen. (Der Hase trägt eine sportliche Wollmütze, das Wildschwein hat ein rasiertes Gesicht.) Es kann auch sein, dass diese uns geläufigen Wesen Dinge tun, die nicht ins Repertoire ihres Verhaltens passen. (Der Hase fliegt.) Auch das sind Bizarrerien. Man kommt zum Schluss: Je bizarrer ein Traumwesen ist, umso mehr gibt es uns Aufschluss über sein inneres Wesen. Unsere Neugier gilt in der Folge der inneren Struktur kognitiver Elemente, die vom Träger der Phantasie geschaffen wurden. Wir bewegen uns in kognitiven Welten (die übrigens eng mit den affektiven verknüpft sind, darüber später), von denen wir viele besitzen, sie aktivieren, verändern und neu entwickeln. Die »neutralste« Bezeichnung für all diese Erscheinungen ist: »kognitive Elemente« (CE). Sie werden lebendig zu Objekten, Subjekten (Selb-

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sten), Tieren, Pflanzen, unbelebten Dingen, die Ergebnisse von Prozessen sind, selbst zu Trägern neuer Prozesse werden und durch Relationen verbunden sind. Wir beginnen zunächst mit zwei Beispielen bizarrer Elemente: »ein herziges Pelztier wie ein Känguruh, aber nur so groß wie ein Hase. Es ist Hagenbach. Es ist zwei Meter groß und springfliegt. Es ist zusammengesetzt aus vier Tieren, es ist hinten scheußlich und gefährlich«. »ein merkwürdiges Wesen mit drei Beinen und einem Kopf wie eine ungeschälte Kastanie, der Bauch gleicht dem Hängebauch meiner Katze«.

In beiden Fällen gelingt es den Träumern nicht, das konstruierte Wesen an ein gewohntes »Objekt« mit eindeutiger Wahrnehmungsidentität anzupassen. Es gelingt auch nicht, für diese Wesen ein Wort zu finden, das als Label dienen kann, das eindeutig fähig wäre, diese Vorstellung zu evozieren. Das Suchen nach einer Wahrnehmungsidentität ist eine bekannte Erscheinung. In beiden Beispielen wird es versucht. Hagenbach fällt der Träumerin ein, ein Puppenwesen aus der Kindheit, das aber gar nicht so aussieht wie dieser Traum-Hagenbach. Im zweiten Beispiel taucht der »Hängebauch meiner Katze auf«. Wenigstens in diesem Objekt gelingt der Anschluss via Erinnerung an ein bekanntes Wesen der Wachrealität. In beiden Fällen lässt sich verfolgen, wie die Träumer ein kognitives Element konstruieren. Es setzt sich aus einigen Teilelementen zusammen, ohne dass es gelingen würde, ein »totales Objekt« (Mounoud 1996, S. 24) zu finden. So entstehen im Traumgeschehen durchaus kreative Produkte, die ihre Eigenartigkeit aber gerade einem Scheitern in der Generierung eines kognitiven Elementes für den Traumprozess verdanken. (Es gibt somit auch eine Kreativität, die aus einem Scheitern entstanden ist.) Die Kreativität ist auch nicht intendiert. Das Bild erscheint nur dem Empfänger des Bildes (über die sprachliche Formulierung) als schöpferisch. Solche kognitiven Elemente, die sich nicht benennen, sondern nur mehr oder weniger umfangreich beschreiben lassen, sind instabil und nur für eine Traumsituation entworfen worden. Sie können zwar in manchen Träumen noch Träger von Interaktionen werden (sogenannte Prozessoren oder Agenten), zerfallen aber bald. Der Hagenbach wird zwei Traumsituationen später geschlachtet. Im Kontrast dazu sei erwähnt, dass profane

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kognitive Elemente, »ein Hase« oder »ein Mensch« in eine Traumgeschichte einbezogen werden, die wir originell finden in Bezug auf das, was sie tun oder was mit ihnen getan wird insbesondere, wenn es sich um unübliche Kombinationen von Prozessoren1 mit Interaktionen handelt. Die Originalität dieser Phänomene liegt dann auf narrativer Ebene. Mein Interesse gilt im Folgenden nicht weiter der Kreativität von Traumprozessen. Jeder Traum ist an sich eine einzigartige »Mikrowelt«, die sich nicht mit jenen des Wachzustands ohne weiteres vergleichen lässt. Jeder Traum ist eine individuelle Selbstrealisierung (Moser 1999; Bollas 1995; Foulkes 1999). In der Traumtheorie von Moser, von Zeppelin (1996a), wird angenommen, dass Objekte immer generierte sind, deren innere Struktur sich aus ihrer Herkunft ableiten lässt. Das erinnert an die Theorie der präoperationalen Stufe des Denkens (Piaget 1947 [1926]). Das Objekt ist eine Konfiguration, deren Eigenschaften, die zur Entstehung und zur Benützung des Objekts (immer als CE gedacht) direkt abhängig sind von den Aktionen, an denen sie beteiligt waren. Objekte sind Transformationen von Wechselwirkungen und/oder Transpositionen von früheren Präkonzepten, die sie substituieren. »Their definition will depend on the presence or absence of this or that segment to which a particular meaning is attached and where the whole is not taken into account« (Mounoud 1996, S. 27). Die präkonzeptuellen Objekte haben im Gegensatz zu den totalen Objekten nur partielle, momentane konzeptuelle Identität. In den kognitiven Mikrowelten (Traum, Phantasie, Spiel usw.) werden diese Präobjekte als »totale« Konzepte mit Wahrnehmungsidentität vorgebracht. Sie werden als Endprodukt eines Generierungsprozesses anschließend an ein Produkt angeglichen, das bereits im Gedächtnis Wahrnehmungsidentität hat. Zudem wird es mit einem Wortlabel versehen, das diese Identität sichert. Gelingt dies nicht wie in den anfangs angeführten Beispielen, dann muss das Element beschrieben werden.2 Ähnliche Ansichten sind auch in der Psychoanalyse zu finden – zum Beispiel sieht Tähkä (1984) 1 Prozessoren nennen wir animierte kognitive Elemente, die Träger von Prozessoren sind: Ein Elefant springt Seil. Ein Mensch öffnet die Tür für eine Tomate.

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die allerersten Repräsentanzen des Kindes als eine Gruppe von Funktionen und nicht als Modelle individueller Personen. Erst später werden diese Funktionen gebündelt und zu Modellen in Form von Objekt- und Selbstrepräsentanzen entwickelt. Des weitern gibt es verschiedene Theorien von Teilobjekten. Ich greife jene von Bion (1970) heraus. Teilobjekt meint jeweils eine Funktion des Objekts, das heißt das Objekt wird nur gerade als Träger einer Funktion erlebt, die für das Subjekt von primärer Wichtigkeit ist. Wird das Bild eines Wildschweins generiert, so wissen wir zunächst nicht, warum es vom Autor (z. B. dem Träumer) gewählt wurde. Uns ist gerade nur (aber auch nicht immer) die Wahrnehmungsidentität bekannt. »Ein Wildschwein ist ein Wildschwein« gilt so nicht. Es gibt nur das Wildschwein eines Autors, entworfen oder gesetzt für einen Bereich einer von ihm entworfenen Mikrowelt. Das Wildschwein ist ein kognitives Produkt (ein CE), das intrinsische Eigenschaften besitzt, die durch die persönliche Geschichte des Autors bestimmt sind. In der Traumtheorie (Moser u. von Zeppelin 1996a) haben wir diese Elemente Features genannt. Die assoziativen Features sind Verknüpfungen, die auf frühere Erlebnisse des Autors hinweisen, die morphologischen Features enthalten Eigenheiten, die allen Wildschweinen zukommen oder ihnen zugeschrieben werden (abhängig vom Wissensstand über Wildschweine). Doch welche morphologischen Features hat der Autor bei der Generierung des Bildes »Wildschwein« benützt? Das Problem ist 2 Diese kognitive Generierungstheorie von Objekten ist durchaus kompatibel mit neurophysiologischen Auffassungen (siehe Dudel, Mentzel, Schmidt 1996). »Das Zusammenfügen verteilter Information – nach welchen neuronalen Mechanismen dies erfolgen mag – steht – sofern es sich nicht um präkognitive, automatisierte Prozesse handelt, unter der Kontrolle des Gedächtnisses. Das Nervensystem organisiert sich auf der Basis räumlicher und zeitlicher Koinzidenz. Ein Objekt ist demnach die Zusammenfassung aller Einzelmerkmale, die innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite ein gemeinsames, raumzeitliches Schicksal haben. Teilinformationen der Wahrnehmung werden vom Gehirn versuchsweise zu einer Einheit zusammengesetzt und im Verhalten getestet. Das Bewertungssystem des Gehirns stellt den Erfolg oder Misserfolg dieser Hypothese fest. Im Fall der Richtigkeit wird die Wahrnehmung im Gedächtnis verankert. Alle Neuronen, die verschiedene Aspekte desselben Gegenstandes kodieren, sind synchron erregt. Die Synchronizität ist das Bindungselement zur einheitlichen Wahrnehmung« (S. 545).

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aus der Literaturinterpretation bekannt. Die morphologischen Features, die der Leser aktiviert, sind nicht unbedingt jene, die der Autor verwendet hat. Es kann zu Unterschiebungen kommen (vgl. Bachelard 1942, 1943, 1948a, 1948b, 1949). Später hat French (1954) das Problem der Features im Traum unter dem Konzept des funktionalen Symbolismus abgehandelt. In den Features stekken auch potentielle Wechselwirkungen mit Objekten, einerseits, aus denen sie hervorgegangen sind, andererseits, die später als Träger von Interaktionen im Traumgeschehen auftauchen. Die Beschreibungen der beiden seltsamen Wesen in den eingangs angeführten Beispielen enthalten explizite Attribute. Im Unterschied zu Features sind sie erwähnt, die Aufmerksamkeit des Träumers hat diese Eigenschaften speziell ins Auge gefasst. Man könnte auch die Gebilde ohne völlige Wahrnehmungsidentität »Bündel von Attributen von Präobjekten« nennen. Attribute erhöhen regelmäßig die Individualität des kognitiven Elementes. Sie stehen im Gegensatz zu den Anonymisierungen (»irgendein Tier, etwas Lebendiges«), die der Unkenntlichmachung des kognitiven Elementes dienen. Um wiederum einer These der Traumtheorie zu folgen (Moser u. von Zeppelin 1996a): Attribute sind unmittelbare Vorläufer kommender Wechselwirkungen, die noch im Zustand der Potentialität verharren. Zuletzt: der Name eines Objekts ist durch eine Namenrelation mit dem kognitiven Element verknüpft. Diese Relation dient der Aktivierung in beiden Richtungen: der Name aktiviert das kognitive Gebilde, das kognitive Gebilde den Namen. Die Relation ist bipolar. Der konzeptuelle Pol ist ein komplexes Bildschema, der sprachliche Pol besteht aus phonemischen Repräsentationen (mehr über die generelle Beziehung zwischen Sprache und kognitiven Entitäten siehe Langacker (1986, 1991, 1990) sowie Lakoff und Johnson (1999).

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■ 2. Das kognitive Untergehölz des Gedichts In der Folge zentriere ich mich auf das Gedicht, freilich in ständiger Anlehnung an Erkenntnisse, die in der Analyse des Traums gewonnen wurden. Es ist andererseits nicht beabsichtigt, den von Mauron (1963) beschriebenen Weg der psychoanalytischen Literaturanalyse zu begehen. Er nennt sie »psychocritique«. Ausgehend vom sprachlich formulierten Text sucht er nach den »réseaux associatives obsédantes« (die vorbewusst und unbewusst sind). Solche Netze sind wiederum Ausfluss eines persönlichen Mythos (»mythe personnel«), der allen Produkten eines Autors – auch als treibende Kraft des Schreibens – zugrunde liegt. Ziel meiner Arbeit ist es, ausschließlich den kognitiven Prozessen und deren affektiver Regulierung in der Poesie auf die Spur zu kommen (als Weiterführung zweier Arbeiten, Moser 1997, 2000). Dabei wende ich eine Analysenmethode an, die sich bei Träumen bewährt hat (Moser u. von Zeppelin 1996a). Es wird sich zeigen, dass dieser Versuch zu einem guten Teil gelingt. Es müssen aber zusätzliche Kriterien und Code-Einheiten eingeführt werden, die spezifisch für Gedichte sind. Unterschiede zwischen Traum und Poesie, aber auch zwischen Poem und narrativen Texten lassen sich mit dieser Methode besser beschreiben. Übergeordnetes Ziel ist die Formulierung einer Art kognitiven Grammatik, die »unter« oder »neben« der sprachlichen Grammatik liegt. Diese Grammatik hat Priorität, wenn auch klar ist, dass die zunächst unabhängige phonetische Entwicklung gerade auch in der kognitiven Grammatik verwurzelt ist (Lakoff u. Johnson 1999, u. a.). Nun ist es kaum möglich, die Schritte der Traumanalyse vollständig zu schildern. Ob es gelingen wird, nur jene Phänomene darzulegen, die für die Untersuchung des im Folgenden herausgegriffenen Poems sich als notwendig erweisen? Träume und Gedichte können als »Mikrowelten« (Moser 1997) betrachtet werden. Sie bestehen aus kognitiven Prozessen, Elementen und Relationen, die auch »simulierte« affektive Prozesse enthalten. Letztere sind generell von geringerer Intensität. Es gibt Gedichte, die infolge starker Verwurzelung in persönlichen Problemen stärkere affektive Intensität zeigen. Das prägt ihre kognitive Ausgestaltung. Am anderen Ende, das sei vorweggenommen, stehen Gedichte, mit nur gerin-

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gem affektivem Gehalt. Gerade deshalb können sie besser die weitgefächerten Beweglichkeiten sprachlicher Gestaltung benützen. Der Traum lässt sich in eine Reihe von Situationen gliedern. Die Übergänge von einer Situation zu nächsten ist interruptiv (ähnlich wie im Film). Die Sequenzialisierung ist nicht identisch mit jener, die durch die Sätze des erzählten Traumes gesetzt wird. Entscheidend sind elementare Veränderungen. Gedichte zeigen meist (bewusst gesetzt) auch eine situative Gliederung (siehe Abschnitt 7). Jede Situation ist präsentisch, das heißt sie umfasst alle Elemente, die zu einer gleichzeitigen Wahrnehmung und/oder eines Erlebnisses »geklustert« sind. Interrupte einer Situation sind affektiv gesteuert. (Ein Modell dieser affektiven Regulierung, die zu kognitiven Veränderungen führt, haben Moser und von Zeppelin [1996a] entwickelt.) Es werden drei Verlaufsfelder unterschieden. Die erste, das Positionsfeld ist in jeder Situation vorhanden. Es umfasst alle Elemente, die in der Situation eine Rolle spielen. Sie sind durch statische Verbindungen (Links) verknüpft. Die Verhältnisse der räumlichen Distanz entscheiden. Ein anderes Feld ist jenes der Trajektorien. Die Elemente bewegen sich, treten aber untereinander nicht in Interaktion. Sie verschieben sich nur in einen andern PLACE. Trajektorien führen Zeit und Raum ein. Es kommt zu einer ZeitRaum-Lokomotionsphase. In der dritten Stufe der Prozesse kommt es zu Wechselwirkungen der kognitiven Elemente. Die Verknüpfungen sind konnexionistisch, sie beinhalten Interaktionen, die Veränderungen erzeugen, seien es Interaktionen zwischen Elementen oder in einem einzelnen Element selbst. Interaktion und Wechselwirkung werden in der Folge synonym verwendet.3 Diese Phase ist mit einer (wiederum simulativen) Aktualisierung von Affekten verbunden, die unterschiedlich weit zugelassen wird. Bei der folgenden Analyse eines Textes wird es in weiteren Einschüben zu Erklärungen über die Methodik kommen. Tabelle 1 (Liste von Code Elementen) enthält nur jene Bezeichnungen, die für die Analyse des Textes verwendet werden. Der Text zum Gedicht ist so gestaltet, dass der Leser auch ohne den Code 3 Interaktion ist das weniger abstrakte Konzept, das im Allgemeinen mit jenen von Akteur, Subjekt, Objekt und Intersubjektivität besser verknüpfbar ist.

Versuch einer kognitiven Grammatik

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auskommen kann. Hinweise auf den Code werden benützt, um zu zeigen, auf welchen Voraussetzungen die Analyse beruht. Das mag auch daran erinnern, dass wir es im Folgenden mit einer kognitiven und nicht mit einer linguistischen Grammatik zu tun haben. Tabelle 1: Liste der Code Elemente Positionsfeld (PF)

Liste der in der Situation »gesetzten« Elemente und Relationen Trajektorie (LTM) Raum-Zeit-Bewegung-Spur von Elementen (Dislokation) Interaktionsfeld (IF) Interaktionen zwischen den Elementen und/oder eines Elementes mit sich selbst PLACE Platz, »Ort« in und an welchem CE positioniert werden IR.C Konnektionistische Interaktion IR.C int intentionale IR.C kin kinästhetische POS REL DIST Positionrelation Distanz POS REL CONT Positionrelation Container IR.S Selbstverändernde Interaktion IR.POS Prozess des Positionierens. Ein Element (Subjekt, Objekt) wird als in das Positionsfeld eintretend geschildert glob Global INTO kognitive Funktion: Hinein Prozessoren Träger von Prozessen (Menschen, menschen-ähnliche Wesen) Subjektprozessor (SP) Selbstmodell Objektprozessor (OP) Objektmodell OP (T) Tier als Prozessor Agenten nicht animierte kognitive Elemente Agent act aktiv (active feeling) Agent pass passiv (passiv feeling) CEU fig figural, deanimiert PFL Pflanze CEU stoff stoffartig (ohne Grenzen) CEU semifig stoffartig mit figuralen Elementen ATTR Attribut ATTR n – 1 Attribut mit Verweis auf frühere Situation ATTR bound Attribut, boundary (Grenze) ANON Anonymes Element CE MTL abstr kognitives Element, Agent eines Prozesses. Abgeleitet aus einer Trajektorie

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Die folgenden acht Zeilen bilden den Anfang eines längeren Gedichts von Celan. Die Wahl gerade dieses Textes wurde vom Umstand beeinflusst, dass Peter Waterhouse einen »poetischen« Versuch zu diesem Gedicht publiziert hat (Waterhouse 1998, S. 3439). Das ermöglicht dem Leser einen aufschlussreichen Vergleich zweier völlig verschiedener Zugänge. (1) STIMMEN, ins Grün der Wasserfläche geritzt. (2) Wenn der Eisvogel taucht, (3) sirrt die Sekunde: (4) Was zu dir stand, an jedem der Ufer, es tritt gemäht in ein anderes Bild. (Celan, GW I, S. 147)

(1)

STIMMEN, ins Grün der Wasserfläche geritzt

Das erste Bild, was einer Situation in der Traumsequenz entspricht, umfasst ausschließlich Elemente eines Positionsfeldes. Trajektorien und Interaktionen fehlen. OP part of (Stimme) ANON CEU semifig (Wasserfläche) ATTR (bound) ATTR (grün) ATTR n-1 POS REL CONT (eingeritzt) Die Stimme ist Teil eines animierten Prozessors, jedoch anonymisiert und nur Teil eines Prozessors (part of). Eine Deanimierung der Stimme ist erfolgt, sie ist »eingeritzt« und nicht mehr hörbar. Einer Stimme schreiben wir eine Quelle zu (morphologisches Feature). Die Quelle ist weder sichtbar noch anwesend. Eine Vergangenheitsbeziehung liegt vor. Die Wasserfläche ist ein weiteres Ele-

Versuch einer kognitiven Grammatik

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ment, ein weiterer Agent. Wasser ist unbelebt, generell stoffartig, in unserem Fall semifigural, da es eine Oberfläche hat, die eine Grenze bildet. Deshalb kann etwas in sie eingeritzt werden. Wäre nur Wasser im Bild, dann würden die Stimmen versinken und auflösen. In einem gewissen Sinn enthält das Attribut grün jetzt die Stimme. Stimme und grüne Wasserfläche bilden eine Positionrelation Container. Die Stimme bleibt erhalten, sie ist dem Verstummen durch ihre Konservation entzogen, wohl verstummt, aber erhalten. Die Interaktion »einritzen« ist sehr ausgeprägt. Sie ist bereits geschehen. Sie hat (als Feature) die Qualität des kräftigen, nicht leicht auslöschbaren. Aus der vergangenen Relation ergeben sich bei beiden Agenten Attribute. Die Stimme ist eingeritzt. Das ist ein Attribut mit Vergangenheitsbezug (ATTR n-1). Die Wasserfläche ist eingeritzt. Sie erhält somit ein Attribut (diese Kategorie Attribute kommt im Traum nicht vor). Der Einbezug von Vergangenheit in ein präsentisches Bild findet sich im Traumgeschehen nicht. Vergangenheit (wie auch Zukunft) muss konkret in der Abfolge von Bildern präsentiert werden. Vergangenheitsbezüge sind zwar auch zu finden, aber dann nur in abstrakter Form, zum Beispiel als ein implizites Wissen oder durch eine sprachliche Verknüpfung in verbalen Äußerungen von Prozessoren. Positionsfelder ohne aktuelle Prozesse der Interaktion sind ihrem Charakter nach bewahrend, sowohl was ihr Inhalt als auch die Affektlage betrifft. Der Aufbau dieses Feldes im Traum bringt all jene Elemente und Prozesse ins Spiel, die dem Träumer eine Sicherheit in der Präsentation seines Problems geben, eine Plattform sozusagen, von der aus Prozesse eingeleitet werden können. Das mag auch für die Poesie gelten. Alles, was sich später im Gedicht ausgliedert, ist bereits in diesen zwei Zeilen enthalten. Nur ist es so stark verdichtet, dem Autor und erst recht dem Leser oder dem Interpreten kaum zugänglich. Diese Überlegungen der Verdichtung geht von der Annahme aus, dass den Interaktionen Aktualisierungen von Affekten entsprechen, die konkret entfaltet zu Affekterlebnissen werden (erträglichen wie unerträglichen). Im Positionsfeld sind die kognitiven Elemente mit sogenannten Zustandsaffekten verknüpft, die dem gesamten Positionsfeld zukommen. Diese sind nicht an einzelnen Elementen lokalisierbar und üben auf den Leser eine ganz andere Wirkung aus. Darüber später

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mehr. Attribute von kognitiven Elementen, insbesondere von Objekten und Subjekten mit Personenstatus, enthalten Potentialitäten möglicher Prozesse, die die Szene selbst verändern. Es ist auch eine Erfahrung in Therapien, dass Assoziationen zu Träumen häufig von Attributen ausgehen. Das gilt auch für positionierte Relationen. Das kann man sehr schön bei den assoziativen »Versuchen« von Waterhouse sehen. »Die Stimmen sind nicht auf die grüne Fläche geritzt, sondern in sie hinein (Container; U. M.), sie sind im Grün eingeschlossen, sind das Grüne, verwandelt ins Grüne, in ein Grünendes, Lebhaftes, Fruchtbares. Sie sind da, vielleicht längst vergangen, unhörbar, jetzt grün überliefert« (Waterhouse 1998, S. 36). (2)

Wenn der Eisvogel taucht

Jetzt hat sich das erste Bild in ein zweites verwandelt. Es gibt auch in der Poesie »Interrupts«, die durch unsichtbare affektive Prozesse gesteuert sind. In diesem Fall ist er am Wechsel der kognitiven Elemente und am Auftauchen einer Interaktion ersichtlich. Es ist nicht ganz klar aus dem Wortlaut zu entnehmen, ob das nächste Bild, »sirrt die Sekunde«, zweifelsohne ein Prozess mit einem anderen Prozessor, in dasselbe Bild, in dieselbe Situation gehört. Das »Wenn« verknüpft die beiden Prozesse. Verlaufen sie gleichzeitig oder sequenziell? Jedenfalls sind sie parallel verknüpft, und nicht kausal. Schwierigkeiten dieser Art gibt es in Traumtexten nicht. Zumindest bei Celan tauchen solche Parallelverknüpfungen zweier scheinbar »unabhängiger« Szenen häufig auf. Die Möglichkeit, kognitive Prozesse parallel ablaufen zu lassen, wird hier poetisch umgesetzt. Das erlaubt uns auch, die beiden Bilder getrennt zu untersuchen. OP (T) (Eisvogel) IR.C kin int. (Tauchen) CEU stoff (Wasser) Agent act INTO (Eindringen) Im Positionsfeld finden sich »Eisvogel«, ein Prozessor in Gestalt eines Tiers, sowie Wasser, ein diffuses Element. Die Interaktion zwischen den beiden Elementen ist eine intendierte (int) und eine ki-

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netische (kin). Der Tierprozessor wird als ein aktiver Agent geschildert. Bei allem ist zu beachten, dass der Dichterautor nirgends als Prozessor auftritt. Er ist Beobachter des Geschehens. Subjektprozessoren, die selbst sich darstellen oder in Interaktionen verwickelt sind, bleiben in einer poetischen Mikrowelt eher selten, im Traum sind sie fast immer präsent, zumindest als Zuschauer in das Positionsfeld gesetzt. Stimme, ins »Grün der Wasserfläche geritzt« wird transformiert in »Eisvogel taucht« (ins Wasser). Zunächst aber zur Wahl des Eisvogels. Im Unterschied zur Stimme, die eingeritzt und deanimiert ist, hat der Eisvogel eine Wahrnehmungsidentität. Er ist keines jener Wunderwesen, wie sie in Traumbeispielen auftreten. Andererseits hat der Eisvogel keine besonderen, explizit genannten Attribute. Man weiß somit nicht, was Celan bewogen hat, einen Eisvogel zu wählen. Was hat er an Features des Vogels benützt und was hat er damit assoziativ verknüpft? Der Eisvogel enthält ein Geheimnis. Er verbirgt seine Herkunft und zwingt uns »zur Ahnung«. Interessant ist hier, dass ein Aspekt der Transformation zum Klingen kommt. Auch die Herkunft der Stimme bleibt im Dunkeln. Die Interaktion des Tauchens entschlüsselt ein für den Autor wesentliches Feature: das Eindringen in das Wasser. Es mögen assoziative Verbindungen zur Vergangenheit oder Zukunft von Celan eine Rolle spielen (in seine Lebensgeschichte soll von mir nicht getaucht werden). Die morphologischen Features sind zahlreich und sehr interessant, wobei man zwei Gruppen unterscheiden muss: Features des inhärenten Wissens und jene in Form von zusätzlich erworbenen Kenntnissen (vgl. dazu Eco 1997). Naturwissenschaftliche Beschreibungen von Pflanzen und Tieren in Nachschlagewerken lesen sich oft wie Poesie und sprechen für eine besondere Begabung der Autoren. Zur liebevollen Beschreibung bringe ich auszugsweise einen Text über den Eisvogel von Fehringer (1926, S. 18): »Er lebt an Gewässern, besonders gerne an steil abfallenden, mit Buschwerk bestandenen Ufern. Im Winter zieht er offenen Gewässern nach. Sein Nest befindet sich in den Steilufern, Löss- und Lehmwänder 1-3 m hoch über dem Wasser. Wie Bienenfresser und Uferschwalbe gräbt er auch eine lange Röhre, die am Ende zum Nestraum erweitert ist. Als Unterlage für die 7 Eier dienen

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die aus zerfallenen Gewöllen herrührenden Fischgräte und Insektenteile. Die Eier sind fast rund und glänzend wie weißes Porzellan. Die Jungen gleichen anfangs mehr einem Igel als einem Vogel, da die Federn sehr lange in den Blutkielen stecken … Aufrecht sitzt er scheinbar regungslos, nach Beute spähend, auf einem Pfahl oder einem vorspringenden Zweig niedrig über dem Wasser. Plötzlich schießt er ins Wasser und erscheint bald darauf mit einem kleinen Fisch im Schnabel und strebt einem andern Sitzplatz zu. … Die Stimme ist ein helles tietietietititit, das ihn verrät, noch bevor man ihn sieht. Er stößt diesen Ruf meist im Fluge, dicht über das Wasser hinstreichend, aus. Die Jungen lassen noch ein Zirpen und Schnurren hören.«

Was waren die spezifischen Features in Celans Eisvogel? Was hat ihn bewogen, gerade dieses Bild zu wählen? Wir werden es trotz intensivem Raten nie wissen. Das Geheimnis übt allerdings auf den Leser eine besondere Faszination aus. Der Name »Eisvogel« aktiviert das ganze assoziative Netzwerk des Lesers und die dazugehörigen Zustandsaffekte, das Träger des Bildes ist. Assoziationen des Lesers können morphologische Features nachzeichnen. Ob sie sich mit jenen von Celan zur Deckung bringen lassen, ist ungewiss. Das Fehlen von Attributen wird leicht übersehen, besonders dann, wenn sie im Widerspruch zur Wahrnehmungsidentität stehen würden. Der Vogel zum Beispiel hat keine Hände. Ist es in diesem Gedicht von Bedeutung? Bei Celan muss man es vermuten. Hände tasten und fühlen. »Fühlworte« sind schließlich von Celan geschaffen (vgl. Moser 1997). (3)

sirrt die Sekunde

CE MTL (Sekunde) IR.S (sirrt) abstr Ein Bild dieser Art ist traumfremd. Eine Zeit wird zum Agenten und zum Träger eines Prozesses, dem Sirren. Zeit und Raum sind Produkte einer Trajektorie. Sie sind aber weder Objekt noch Ereignis. Eine Trajektorie führt von einem Zustand A zu einem Zustand B ohne eine Veränderung der Beziehung der Prozessoren und der Agenten zu tragen. Lakoff und Johnson (1999) sagen in ihrer Theorie der Zeit: »time is segmentable, because periodic events have beginnings and

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ends« (S. 138). Es gibt deshalb »domains of time«, die wir benützen, um Ereignisse miteinander zu vergleichen »where they are located relative to other events …«. Was geschieht nun, wenn eine Zeitdomäne, die Sekunde in diesem Fall, zu einem kognitiven Element wird, das Träger von Prozessen ist und aus solchen sich ableitet? Sie ist in das Positionsfeld genommen worden und erhält eine Grenze (boundary) im Sinne von Beginn und Ende. Die Domäne ist aber nicht räumlich und nicht umfassend: Es fehlen die Grenzen auf beiden Seiten der Trajektorie, nur die Interpunktionen begrenzen. Durch die Lokalisation im Positionsfeld erhält die Sekunde auch morphologische Features. Die Sekunde ist kurz und gedrängt in Bezug auf das, was in ihr potentiell ablaufen könnte. Des weitern erhält sie als positioniertes Element einen Zustandsaffekt. Die trajektorische Zeit geht nicht mehr in Richtung einer Entwicklung des Zustandsaffekts zu aktualisierten, im veränderten Ablauf erlebten Affekts (in landläufiger Terminologie Gefühl genannt). Affekte bleiben situativ »eingepackt«. Man würde nun eine Attribuierung des kognitiven Elementes erwarten. Es hieße dann: »die sirrende Sekunde«. Sirren ist in dieser Zeile aber eine Interaktion der Selbstveränderung. Die Sekunde sirrt. Die Stimme taucht wieder auf, in großer zusammengestauter Intensität. Die Interaktion führt aber nicht zu einer Veränderung der Sekunde. Der hohe Ton ist selbsterhaltende in der genannten Zeitdomäne. Ich habe schon auf die Gleichzeitigkeit der Bilder des tauchenden Eisvogels und der sirrenden Sekunde hingewiesen. Celan setzt die Bilder nebeneinander im Sinne einer Parallelität. Das »wenn« bringt nur die Verknüpfung der parallelen Bilder (kein Prozess ohne den andern). Weder Kausalität noch Sequenzialität ist gemeint. Die beiden Bilder sind auch nicht von Celan verdichtet worden. Im Traum könnte dieses Problem nur sequenziell gelöst werden. Auf das eine erfolgt das andere.4 Es werden mit den Bildern zwei Affektdomänen nebeneinander gestellt. Wie soll man dieses poetische Prinzip benennen? Intensivierung durch Induktion, was die 4 Schuldgefühle werden im Traum als eine Folge von Situationen beschrieben: »Wenn das und das geschieht (Situation 1), wird das und das die Folge sein (Situation 2). French und Fromm (1964).

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Gefühle anbetrifft, Verknüpfung von Phantasien durch Positionierung der Zeit als Agent? (4)

Was zu dir stand, an jedem der Ufer, es tritt gemäht in ein anderes Bild.

Hier wird ein Prozessor (oder ein Agent?) mit Anonymität in zwei Ausführungen präsentiert: zunächst in die Vergangenheit gesetzt, dann, als »es«, als Träger einer gegenwärtigen Interaktion. Im Traum ist eine solche Lösung nicht zu finden, denn jede Situation ist ein Bild und deshalb präsentisch. Vergangenheit wie Zukunft erzwingt eine Veränderung des Kontrollbewusstseins des Träumenden. Dies kann durch retrospektives (im Fall der Zukunft prospektives) Denken geschehen oder durch eine verbale Relation, in der ein Prozessor erzählt. Eine weitere Möglichkeit bestünde im Benützen eines assoziativen Kommentars, etwa: »Die Figur erinnert mich an einen Bekannten aus der Kindheit« (wobei anzumerken ist, dass diese Form der Assoziation nicht zum Traumgeschehen gehört). Das »es« könnte auch weggelassen werden »Was zu dir stand an jedem Ufer«, wäre dann ein Attribut des Prozessors, der gemäht (gemäht als sein Attribut) »in ein anderes Bild tritt«. Das »es« als Wiederholung des Prozessors betont die zeitliche Achse. Hier die Codierung der Situation 4: PLACE 1 (Ufer 1, Ufer 2) ATTR (implizit Fluss) OP 1 (was zu dir stand) ANON ATTR (zu dir, zugewandt) ATTR (geteilt, getrennt) POS REL DIST PLACE 2 (Bild) ATTR (anders) ANON

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OP 1

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IR.POS (in das Bild treten) ATTR n-1 ANON ATTR (gemäht)

PLACE bezeichnet jeweils den Ort der Positionierung. Hier ist ein Übergang zu einem neuen, anonym gehaltenen PLACE (Bild) geschildert. Die Ufer 1 und 2 haben implizit ein Attribut (PLACE ATTR) »am Fluss«. Dieses wiederholt das kognitive Element (CEU semifig) Wasser des ersten Bildes des Gedichts. Wie im Traum werden auch beim Wechsel von Bildern wesentliche Elemente transformiert, wobei einzelne (seien es Features, Attribute oder ganze Konfigurationen) erhalten bleiben. »Was zu dir stand« und »es« sind Objektprozessoren, nicht der Träumer selbst (als Subjektprozessor). Dieser ist in allen acht Zeilen nicht konkret präsent, vielleicht im »dir« und im »es« versteckt. Lassen wir das offen. Im weitesten Sinn ist der Autor dauernd am Entwerfen und Schreiben anwesend. In den konkreten Teilen des Traumes hingegen wird angenommen, dass der Subjektprozessor als Prozessor oder zumindest als Zuschauer im Traumbild anwesend ist. »Es« und »zu dir stand« sind Teilobjekte, die eine Beziehungsfunktion repräsentieren. Die Anonymisierung des Restlichen potenziert diese Bedeutung. »an jedem der Ufer« impliziert eine Trennung. Es wird offen gelassen wie das in der kognitiven Grammatik möglich ist, ob der Prozessor in sich geteilt ist oder ob der potentiellen Beziehung das Merkmal »getrennt« zukommt. Eine Wahrnehmungsidentität besitzt der Prozessor nicht. Er repräsentiert aber die zentrale Funktion der Beziehung. Es wiederholt sich etwas Ähnliches, wie in der Zeile mit der Stimme. Teilobjekte haben gerade durch die Anonymisierung eine gesteigerte Dichte des ihnen zugehörigen Zustandsaffekts. Verursacht diese das Scheitern der Wahrnehmungsidentität? Ist hier in das Gedicht zu viel persönliches Erleben eingeflossen? Die Anonymisierung nimmt die Affektivität gleichzeitig zurück, verhindert jedenfalls die Aktualisierung in Interaktionen. »in ein anderes Bild treten« ist lediglich ein Positionieren in einem neuen PLACE. Der Ansatz einer Interaktion wird gleichzeitig durch massive Anonymisierung aufgehoben. Der

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Leser kann – wenn er sich genügend Zeit lässt – einer starken Affektinduktion erliegen oder auch nicht betroffen mit Unverständnis darüber weglesen. Die Positionierung »an jedem der Ufer« enthält eine Distanzrelation. Solche Relationen sind stabil und wie im Traum eine für das Sicherheitsgefühl tolerable Komposition.5 Es bleibt das Attribut »gemäht«. Die Veränderung selbst, der Prozess des Mähens, wird nicht geschildert. In den Betrachtungen zum Gedicht von Waterhouse findet sich der Einfall »vernichtet, aber Eingang in ein anderes Bild …«. Ein Attribut kann selbst wiederum Attribute und oder Features haben. Features von gemäht sind sicher: geerntet, Ende des Sommers, Verwandlung, Vernichtung der blühenden Vielfalt von Blumen und Gräsern, Ende der Wärme. Die assoziativen Features von Celan bleiben wie immer im Dunkeln und sollen nicht durch eigene ersetzt werden. PLACE 2 »ein anderes Bild« ist leer, spezifische Potentiale für kommende Prozesse sind nicht auszumachen. Was Celan hier konstruiert, ist ein leerer Prozess, eben auch ein affektleerer Prozess. Hier könnte die Geschichte enden. Viele Träume haben solche affektfreie Ausgänge in eine verschwundene Landschaft. Celans Gedicht geht weiter. In einem neuen PLACE werden die »STIMMEN« wieder positioniert: (5)

STIMMEN, vom Nesselweg her: Komm auf den Händen zu uns.

Obwohl ich nicht beabsichtige, dem Gedicht Celans weiter zu folgen, noch einige Worte zu den Stimmen und den Händen. Beide stellen Verbindungen her, die ersten über das akustische System, 5 Man kann zusätzlich argumentieren, dass eine räumliche Metapher vorliegt, die auf psychische Beziehungen übertragbar ist. Zugewandt kann heißen, in Richtung zu dir positioniert, zum Kontakt bereit, aber ohne Wechselwirkung, vor allem ohne Berührung und ohne Benennung einer gewünschten Beziehung. Auch zu jemanden Sehen kann als eine mögliche Beziehung abgeleitet werden. Die Methapher räumlicher Herkunft ist geeignet für die sprachliche Bezeichnung mehrerer ähnlicher Vorgänge oder Funktionen (Lakoff u. Johnson 1999).

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die zweiten über Berührung, Halten und Tasten (vgl. meine Ausführungen über das Tasten in Moser 1997). Die Hände sind Instrument der Annäherung, des verkörperten (interaktiven) Sehnens nach tastbarer Nähe. Die Hände erzeugen in dieser Zeile eine Trajektorie. Die Hände tragen eingekerbt die Spuren vergangener Prozesse und Erlebnisse. Sie sind lesbar für jene, die »mit der Lampe allein sind«, die kein tastbares Objekt haben, für jene, die – um eine Metapher zu wagen – das Licht der Einsicht haben. »Auf den Händen« kommen, tun jene auch, deren Beine lahm oder verwundet sind oder denen sie fehlen wie jenen Soldaten in Bierces Novelle Chickamauga, die nach der Schlacht zum Fluss hinunterkriechen (Bierce 1963). Es sei daran erinnert: Der Eisvogel hat wie alle Vögel keine Hände. Berührung und Tasten fällt von seiner Seite her weg. Die Beziehungen untereinander und zur Brut gehen andere Wege.

■ 3. Über Prozessoren und Agenten Beide sind kognitive Elemente. Im Fall der Prozessoren sind sie animiert und mit Prozessoren der Innenwelt ausgestattet, wie wir das von uns selbst annehmen. Mit anderen Worten: Sie sind letztlich Selbstmodelle. Bei den nicht personifizierten Agenten ist diese Ähnlichkeit eingeschränkt, am stärksten wohl bei den Dingobjekten. Alle aber bilden wir in der kognitiven Welt als Träger von Prozessen ab, die ihrerseits auch wieder aus Prozessen entstanden sind. Gelegentlich wird in Gedichten das sehr deutlich. Dann heißt es [...] die Bälge der Feme-Poeten lurchen und vespern und wispern und vipern episteln [...] (Celan, Hudediblu, GW I, S. 275)

Objekt, Prozess und Affekt sind zu einer Einheit geworden.6 Prozessoren und Agenten sind Entitäten einer differenzierteren kognitiven Struktur, die Selbst- und Objektmodelle enthält, sich in

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Situationen ausgliedert und sogenannte Subjekt-Objekt-Interaktionsstrukturen bildet. Die Poesie kann auch mit den Möglichkeiten dieser Entwicklungsstufe bewusst spielen. 1) Eine erste Gruppe von Prozessoren und Agenten haben, wie Celans Eisvogel, Wahrnehmungsidentität. Sie können spezifiziert sein durch die Namenrelation (Wildschwein) oder anonymisiert (ein Vogel). Wie bereits ausgeführt, herrscht keine Klarheit über die Features assoziativer oder morphologischer Art, die den Autor zur Wahl bewogen haben. Das kann zu Projektionen seitens des Lesers führen. Er trifft dann seine eigene Auswahl von Features. 2) Prozessoren mit Wahrnehmungsidentität und expliziter Nennung von Attributen. In diesem Fall würde der Eisvogel ausgeschmückt (spitzer Schnabel, besondere Stimme, Art der Farben der Federn usw.). Es könnten auch Attribute auftauchen, die nicht zum Bild des Eisvogels passen (»er hat böse Augen wie ein Raubfisch«, »er hat drei Beine«). Explizite Attribute verdeutlichen die spezifische Identität des Prozessors. Es wurde bereits erwähnt, dass solche Attribute erhöhte Interaktionspotentiale enthalten. Es ist auch möglich, dass die Nennung von Attributen gleichzeitig die Nichtnennung von andern Attributen bewirkt. Durch die Interaktion würden Affekte aktualisiert, die jetzt als Zustandsaffekte in den Attributen zurückgehalten sind (vgl. Moser 2000). Deskriptionen von Prozessoren, wie man sie oft in Gedichten findet (deskriptive Poetik) erzeugen eine affektive Sensibilisierung von besonderer Ästhetik. Der Aufschub einer Interaktion, in die der Prozessor geraten könnte, ist sehr ähnlich jenem, der durch Trajektorien (LTM) in Träumen bewirkt sind. Vermiedene, nicht genannte Attribute stehen in direktem Zusammenhang zu jenem Anteil der Geschichte, die zum nicht erzählten Teil eines Traumes oder Poems gehören.7 3) Prozessoren mit eingeschränkter oder ohne Wahrnehmungsidentität. Teilobjekte. Zwei Beispiele haben wir anhand von Träumen kennengelernt. Die Bündelung der Information gelingt infol6 Die ersten Ein- und Zwei-Wort-Sätze bei Kindern, aber auch bereits die ersten signifikanten Lautgestalten des Kindes beziehen sich auf eine Situation als Ganzes und nicht auf die Vorstellung eines Wirklichkeitsausschnitts (vgl. dazu Schmid Noerr 2000). 7 Das gilt auch für Novellen und Romane (vgl. z. B. Frey über Melville 1999).

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ge der starken affektiven Besetzung von Features nicht. In Gedichten finden sich diese Phänomene auch. Doch wird hier der Objektbildungsprozess bewusst auf ein Teilobjekt beschränkt, das sowohl Träger als auch Ergebnis einer (im Fall der Stimme) Gefühlsfunktion ist. Das kommt auch deutlich beim Prozessor »Was zu dir stand« zum Ausdruck. Das Konzept Teilobjekt spielt in der Psychoanalyse eine große Rolle. Bion (1970) zum Beispiel betont, dass Teilobjekt einfach die Funktion eines Objekts bezeichnet. Die Brust steht auch für Stillen und Gestilltwerden. Von der Wahrnehmung her betrachtet, ist sie ein Teil des weiblichen Körpers. Die Einschränkung auf eine Funktion führt auch zu einer Beschränkung auf ein Teilselbst, weil das Ich in einer bestimmten Situation nur gerade diese Funktion benützt. Die affektive Besetzung von Teilobjekten ist deshalb sehr hoch (vgl. auch Piaget u. Mounoud in Mounoud 1996). Was weniger gesehen wurde, ist die Tatsache, dass solche Prozessoren nicht fähig oder nicht willens sind, andere Möglichkeiten des Objekts zu finden und in die Objektbeziehung einzuschließen (Bollas 1995). Im Extremfall ist das Objekt lediglich Container von Projektionen. Im anderen, nicht gestörten Fall ist lediglich eine Funktion dominant ohne Abspaltung anderer Möglichkeiten.

■ 4. Rotkehlchens Kleider und Mäntelchen. Attribut, Relation, Metapher und Assoziation Ich mache nun einen Sprung in die Drôme zu den imaginären, jedoch so konkreten Kompagnons von Jaccottet, zu einem Rotschwänzchen und zu einem Rotkehlchen. Er ist ein Meister der deskriptiven Poetik im Sinne von Bachelard (1943). Seine Gedichte ermöglichen uns, eine Reihe von Phänomenen zu betrachten, die sich bei Celan eher selten finden. Die Kunst, ein Objekt zu beschreiben, soll mit den knappsten und richtigsten Worten geschehen »avec des mots plus pauvres et plus justes«, meint er. So leicht ist dies allerdings nicht. Theoretisch kann ein Gedicht natürlich nur aus dem Wort (Rotkehlchen) bestehen. Es kann auch Träger expliziter Attribute sein. Doch ist es für Jaccottet eine wahre Freu-

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de, seinen Vögeln Kleider und Mäntelchen umzuhängen und sie immer wieder anders herauszuputzen. Allerdings müssen die Kleider sehr knapp sitzen und zum Träger passen. Kleider sind Objekte unabhängig vom Träger, das heißt sie können alleine existieren. Von einem Objekt getragen, sind sie Objekte einer Attributrelation. Das Kleid erhält dann eine funktionale Bedeutung für das Objekt. Es erhöht die Schönheit, es gibt Schutz, Bewusstsein von Stärke, sagt aber auch rückwirkend etwas aus über die Identität des Trägers. Die Garderobe kann mitunter sehr umfangreich sein und in ihrer Abfolge an sich Aussagen über den Träger erlauben. Ein weiteres Mittel poetischer Ausschmückung sind die Metaphern. Diese können nur gerade ein Objekt betreffen: Das Licht senkt sich bis auf den Boden des Glases wie rötlicher Staub (Jaccottet, Die zweite Saat, S. 205)

Aus dem Licht wird Staub mit dem Attribut rötlich. Durch diese Metapher wird ein wesentliches Feature des Lichtes (ein morphologisches) zu einem materiellen. Das Objekt (ein CEU stoff) bleibt der zentrale Träger. Zumeist betrifft die Metapher nicht nur ein Objekt, sondern auch dessen Relation: Der Rotschwanz singt in der schwindenden Dämmerung, Es klingt als sänge ein Stück Kohle (Jaccottet, Oktober, S. 209)

Die Metapher enthält eine Relation zum Objekt. Das »wie« bezeichnet den Pointer eines Links von der Quelle zum Zielbereich. Licht und Staub, Rotschwanz und Kohle entfalten keine explizite Wechselwirkung im Sinne einer Interaktion. Die Metapher ist schlicht eine Wiederholung mit einem anderen Bild (mit einem anderen Kleid sozusagen). Sie ist eine Verdoppelung 8 und lässt Autor wie Leser beim Objekt verweilen. In der Denkweise der kognitiven 8 Die Verdoppelung eines Bildes ist wohl die Null-Variante der Metapher. Sie spielt weniger in Poesie als in psychotherapeutischen Techniken, dort bekannt als »Bildtechnik der Dualisierung« eine Rolle. Ein Beispiel dieser auf Benedetti (1983) zurückgehende Methode findet sich bei Peciccia (1998).

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Grammatik ist diese Relation attributiv. Das schöne Federkleid des Rotschwänzchens genügt dem Dichter nicht, um seine vorbewussten Bilder unterzubringen. Das neue Bild übernimmt Features des alten und reichert nun diese durch weitere (morphologische wie assoziative) Features an, die den neuen kognitiven Elementen inhärent sind. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten neuer Attribute und Ausgangspunkte für Assoziationen, die in das Gedicht eingebaut werden. Metaphern bilden auch »Wege vom kognitiven Element weg«. Sie können Wechselwirkungen mit anderen Objekten vorbereiten, verändern zunächst aber nichts. Im Beispiel von »Licht« und »Staub« ist zu sehen, wie eine Veränderung vorbereitet wird, aber nicht oder noch nicht stattfindet: Ich warte darauf, den Wein der Nacht unvermischt trinken zu können (Jaccottet, Die zweite Saat)

Zu den beiden Relationen (Attributrelation und Metapher) findet sich in Gedichten eine weitere, die Assoziation. Um deren Wesen zu begreifen, beobachten wir Jaccottets Rotkehlchen zwar nicht in einem eigentlichen Gedicht, sondern in einem poetischen Text. Dieser Text, den ich um den zweiten Teil verkürzt anschließend bringe, wird es zusätzlich erlauben, bereits eingeführte Phänomene zu illustrieren, neue vorwegzunehmen und vor allem auf die Assoziationen einzugehen, deren Stellenwert in Traum und Poesie so anders sind. Ein Rotkehlchen:9 »Während ich im Garten arbeite, sehe ich plötzlich, nur ein paar Schritte entfernt, ein Rotkehlchen / beinahe als wollte es mit mir sprechen, mir zumindest Gesellschaft leisten / winziger Fussgänger, auserwähltes Opfer der Katzen. Wie soll man die Farbe seiner Kehle beschreiben? Eine Farbe, die nicht so sehr rosa oder purpurn oder blutrot ist als vielmehr ziegelrot / wenn dieses Wort nicht den Gedanken an eine Mauer hervorriefe, ja sogar an Stein, an das Knirschen von zersplitterndem Stein, einen Gedanken, den man vergessen muss zugunsten von etwas anderem, etwas wie die Erinnerung an gezähmtes Feuer, an den Widerschein von Feuer / eine Farbe, die eher freundlich wirkt, ohne noch die geringste Spur von dem Brennenden, Grausamen, Kriegerischen oder Trium9 Sequenzialisierung des Textes durch Moser.

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phierenden des Roten zu besitzen. In seinem Federkleid, gefärbt wie die Erde, auf der er so gerne herumspaziert, trägt der Vogel dieses Halstuch, in der Farbe gezähmten Feuers, in der Farbe des Abendhimmels. Es ist fast nichts, so wie dieser Vogel fast nichts ist und dieser Augenblick und dieses Tagewerk und diese Worte. Gerade ein Stück Glut, das davon springt, oder ein kleiner Fahnenträger, Bote ohne richtige Botschaft, unergründliche Seltsamkeit der Farben. Fast nichts würde er wiegen, nicht einmal in der Hand des Kindes. Unterdessen dringt ab und zu das leise, irgendwie vorsichtige Rascheln der letzten Blätter des Feigenbaumes an mein Ohr / das üppigere, doch fernere der hohen Platanen eines Parks / das Murmeln des unsichtbaren Windes, das Geräusch des Unsichtbaren. In dessen Schutz das Rotkehlchen und ich unsern Geschäften nachgehen. Es, der Laternenträger, der Unvorsichtige, wenn eine Katze umherstreicht« (Jaccottet 2000, S. 197-198).

Die Überführung dieses poetischen Textes in ein Gedicht wäre durchaus machbar, der Sache aber nicht angemessen und dem Autor ins Handwerk gepfuscht. Dennoch ist es möglich, die Grammatik des kognitiv- affektiven Untergehölzes in gleicher Weise wie in einem Gedicht zu verfolgen. In der ersten Zeile wird Jaccottet und sein Kompagnon, das Rotkehlchen, eingeführt. Sie stehen zueinander in einer Distanzrelation, wie das in einem Positionsfeld häufig vorkommt. Der Parallelismus der beiden ist augenfällig: »… in dessen Schutz das Rotkehlchen und ich unseren Geschäften nachgehen«. Das Geschäft von Jaccottet ist deutlich genannt, jenes des Rotkehlchens, Nahrung zu suchen, nur als Feature da. Ein weiteres Feature taucht auf, ist aber weder als Attribut noch als Interaktion konkretisiert. Das Tier ist nicht scheu, aber wahrt genau eine gewisse Distanz. Wird die Nähe zu groß, hüpft oder fliegt es davon. »… beinahe, als wollte es mit mir sprechen, mir zumindest Gesellschaft leisten«. Hier wird eine Beziehung in Form einer Wechselwirkung ausgesagt, aber nur in der Möglichkeitsform. Dies könnte auch in einem Gedicht so stehen, hingegen vermutlich nicht im Schlaftraum. Im Märchen würde das Rotkehlchen selbstverständlich sprechen. Es wird in diesem Text aber nur ein interaktives Potential aufgeworfen und beschrieben. Der Autor phantasiert eine Möglichkeit, die er sich vorstellen könnte und verklärt die reale Distanzrelation. Dann folgt eine Attribuierung: »winziger Fussgänger, auserwähltes Opfer der Katzen«. Das Attribut, so formuliert, enthält bereits wieder einer virtuelle bleibende Interakti-

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on mit einem de facto nicht anwesenden Objekt, der Katze. In der Terminologie der kognitiven Grammatik ist die Katze ein kognitives assoziiertes Element, das nicht in der Szene anwesend ist. Dann folgt das Attribut Farbe. Über diese Farbe wird explizit gesprochen, wohl einerseits, um die richtige Farbe zu finden, andererseits, weil die verschiedenen Farbnuancen bereits ihrerseits Features assoziativer wie morphologischer Art enthalten. »Ziegelrot« ruft den Gedanken an eine Mauer hervor, an Stein, an das Knirschen von zersplittertem Stein. Aus dem Attribut wird eine Assoziation, die neue Bilder und neue Töne einführt, die kaum mehr etwas mit den Features des Vogels zu tun haben. Auch in den weiteren Attributen, die Jaccottet anführt, sind immer Elemente von Assoziationen enthalten. »eine Farbe, die eher freundlich wirkt, ohne noch die geringste Spur von dem Brennenden, Grausamen, Kriegerischen oder Triumphierenden des Roten zu besitzen«. Ein Attribut enthält ein weiteres Attribut und mutiert dann in assoziative Einfälle aus. Man sieht hier deutlich, wie deskriptive Poesie arbeiten kann, sie beschreibt das Rotkehlchen, zieht ihm gleichsam immer wieder weitere Kleidungsstücke an, zieht sie wieder aus zugunsten von besseren und verschmäht auch nicht Negativ-Attribute, die vom Traum bekannt sind (»ohne die geringste Spur von Kriegerischem …«). Assoziationen sind Produkte einer bewussten Form von Regulierung. Jaccottet verfährt hier im Gegensatz zu seiner (für Gedichte) formulierten Devise (»avec des mots plus pauvres et plus justes«) und benützt stete deskriptive und assoziative Anreicherung. In Träumen hingegen gibt es keine Assoziationen, sondern nur Sequenzen mit Transformationen von Bildern in einer affektiv gesteuerten Ordnung. Assoziationen zu den Träumen verlaufen nachträglich. Sie sind auch nicht identisch mit den impliziten Assoziationen, die zu den Features der kognitiven Elemente gehören. Durch die Assoziationen im Text verändert sich nichts. Es bleibt die Distanzrelation. Auch die Prozessoren bleiben konkret dieselben. Die Assoziationen widerspiegeln innere mentale und affektive Prozesse des Autors. So folgt nach der ersten Assoziation eine kognitive Reaktion: »einen Gedanken, den man vergessen muss zugunsten von etwas anderem«, darauf folgt wieder »Fast nichts würde er wiegen, nicht einmal in der Hand des Kindes«. Diese Assoziation produziert ein neues Attribut »leicht«. Es

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enthält eine potentielle Interaktion. Sie ist phantasiert und stützt sich wahrscheinlich auf eine Erinnerung. Ihr Inhalt: zwei Prozessoren, Kind und Vogel, eine körperlich sensuelle Interaktion mit der Zärtlichkeit einer taktilen Berührung und der Qualität eines Containment. In einem Traum wäre dieser Einfall nicht denkbar. Die Wechselwirkung müsste als konkretes Geschehen in der Sukzession der Traumbilder auftauchen. In den letzten Sätzen des Textes, die ich nicht im Detail analysieren will, kommen direkte Interaktionen des Subjektprozessors (des Autors) vor; das Rascheln der Blätter des Feigenbaumes, dann jenes der fernen Platanen, das Murmeln des unsichtbaren Windes. Blätter des Feigenbaumes, Platanen sind pflanzliche Agenten, der unsichtbare Wind ein abstrakter Agent. Sie alle haben selbst wieder explizite Attribute. Die Wechselwirkungen sind auditive Kommunikationen. Sie geben dem Autor, wohl auch dem Rotkehlchen als weiterem Partner, ein Gefühl einer gemeinsamen Geborgenheit (eine triadische Interaktion mit einer parallelen Beziehung zwischen Autor und Rotkehlchen). Zum Schluss werden alle Geräusche zusammengefasst in einen Agenten »das Geräusch des Unsichtbaren«, ein mentaler und abstrakt erfühlter und gedachter Agent. Was nicht zu sehen ist, wird gehört. In der Poesie werden oft die sensorischen Felder getauscht. Der Unsichtbarkeit entspricht die Stille. Vom letzteren weiß man, dass es sie absolut nicht gibt. Stille ist immer eine »unreine« (Manganelli 1987). Sie entwickelt Geräusche, die wir konkretisieren und lokalisieren. Absolute Stille wie absolute Unsichtbarkeit erweckt in uns Entsetzen, die unreinen hingegen vermögen uns zu trösten. Sie können uns anzeigen, »dass nichts Unwiederbringliches geschehen ist und dass man folglich in einer beruhigenden Lage ist« (Manganelli 1987). Doch dies bedeutet nur, dass etwas Unwiederbringliches notwendig noch geschehen muss. Und das ist bei Jaccottet in einer potentiellen Szene gesetzt, in einer Veränderung, die den Tod ankündigt: »Es, der Laternenträger, der Unvorsichtige, wenn eine Katze herumstreicht« (S. 33). In dieser Situation eines PLACE liegt zwischen Katze und Vogel eine Distanz, der Tod ist nicht konkret eingeführt. Er lässt sich als zukünftiger erahnen. Der Autor delegiert seine Angst und vermindert sie nochmals durch die Relation der Distanzierung.

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Zum Abschied von der Drôme ein Vergleich der Vögel der so verschiedenartigen Poeten Jaccottet und Celan. Der Eisvogel, poetische Schönheit der Verschlossenheit, die alles enthält. Das Rotkehlchen, Kaskaden von Attributen, Metaphern und Assoziationen, die sein Wesen entfalten. Beide legen Spuren in die Innenwelt der Poeten. Doch bleibt in beiden Fällen zuletzt die »unergründliche Seltsamkeit« dieser Vögel.

■ 5. Über Assoziationen Ich erinnere an die bereits erwähnte Unterscheidung von impliziten und expliziten Assoziationen. Die impliziten Assoziationen gehören zu den Features eines kognitiven Elements. Sie bilden eine Spur, die von vorbewusstem und unbewusstem Material ausgehend zur Wahl des gewählten Elementes geführt oder beigetragen hat. Die expliziten Assoziationen werden nachträglich eingeholt (z. B. auch gesteuert durch die Aufforderung des »freien Assoziierens« in der Psychotherapie). Sie gehören deshalb nicht zur Mikrowelt Traum.10 Nachträgliche Assoziationen gehen von Traumelementen aus (unter Umständen von einer ganzen Situation oder nur von einem kognitiven Element). Sie bilden »Links« zu den vielen Bereichen kognitiv-affektiven Wissens, insbesondere zu Gedächtnisinhalten, die Abkömmlinge früherer Erlebnisse sind. In der letzteren Form kann man vermuten, dass die externen Assoziationen jenen intrinsischen Assoziationen nachfolgen, die in den Features stecken, ohne sich mit ihnen voll zu decken. Die Abfolge der Assoziationen werden durch eine affektive Ladung gesteuert. Wird diese bei einem Teilelement der Assoziationskette (einem Einfall) zu intensiv, wird der Prozess abgebrochen. Er ist zu einem unerträglichen Problembereich gekommen. Endpunkte von Assoziationsketten lokalisieren einen Konflikt oder eine traumatische 10 Foulkes (1978) hat in seinem Entwurf einer »Grammar of Dreams« Raum und Assoziationen zum Traum als eine gemeinsam zu kodierende Einheit betrachtet. Das führt zu Verzerrungen in den Ergebnissen, weil die beiden Phänomene in unterschiedlichen Bewusstseinslagen geneneriert worden sind.

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Situation. Es gibt aber auch Assoziationen, die vom Ausgangspunkt wegführen in Gebiete mit geringerer oder fehlender Affektintensität. Bollas (l995) nennt diese Assoziationen disseminativ. Foulkes (1978) hat mit Hilfe der »directed graphs« (Harary, Norman u. Cartwright 1965) die Traumassoziationen zu formalisieren versucht (mittels Pfadanalysen und Matrizendarstellung). In dieser Theorie gibt es »sinks«, Endpunkte in einem Netzwerk, zu dem man nur über einseitig gerichtete Pfade gelangen kann und von denen aus es keine Verbindungen »zurück« oder »weiter« gibt. Dieses Versacken einer Assoziationskette kann einer vorbewussten Sperre entsprechen oder einfach einen Punkt der Erschöpfung markieren. Bei den Gedichten in Jaccottets Text besonders erkennbar, gibt es eine zweite Form impliziter Assoziationen. Implizit bezieht sich hier auf die Mikrowelt des Poems, in dessen Rahmen sie verläuft. Solche Assoziationen führen nicht von der affektiven Leitlinie des Gedichts weg. Sie beginnen meistens bei Attributen oder bei Metaphern. Assoziationen im Gedicht verändern zwar nichts, bewirken keine Wechselwirkungen, elaborieren aber das bereits ins Gedicht gesetzte Element. In gewissem Sinne sind sie ein Analogon zu den Trajektorien im Traum, die zu einem neuen Setting führen, ohne dass der Subjektprozessor in Interaktionen gerät (Moser 1997, 2000). Assoziationen im Gedicht benützen zeitweise ausschließlich das linguistische System. Die Theorien der Assoziation darzustellen und zu kommentieren war nicht beabsichtigt. Auch auf die Unterscheidung Freuds in Primärprozess- und Sekundärprozess Assoziationen wird nicht eingetreten (Freud 1900, siehe dazu auch Jappe 1971).

■ 6. Wortlisten Celans: Spuren vorbewusster Prozesse Die deskriptive Poetik ist nach Bachelard (1943) nur insofern imaginär, als sie durch Sichtbarmachung bisher nicht beachteter Details in der Wahrnehmung kleine Bewegungen erzeugt und damit die Wahrnehmungsbilder verändert. (Darum ist eine poetisch beschriebene Landschaft wie die Drôme in den Gedichten von Jac-

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cottet nie jene, die wir in Wirklichkeit sehen.) Die Wahrnehmung wird deformiert und in veränderte Bilder umgesetzt. Die Sensibilisierung erzeugt kleinste Eintrittspforten in eine innere, jetzt imaginär zu nennende Welt. Die äußere Welt hat damit bereits eine innere abgebildet und die innere liegt – so kann man das formulieren – auch in der äußeren. Die innere Welt besteht aus Bildern und Gedanken, die in einem vorbewusst zu nennenden Bereich schon vor der Niederschrift eines Gedichts sich gebildet haben. Man ist versucht, von einer vorbewussten Vernetzung zu sprechen, in welchem fragmentiertes Material, Bilder, Gedanken, Wahrnehmungen gleichzeitig liegen. Dieser »Raum« kann sowohl visuell als auch akustisch, taktil und olfaktorisch sein. Diese Qualitäten sind, was die Produktion des Gedichts betrifft, auch austauschbar. Eine (wiederum poetische) Umschreibung dieses »Bereichs« benützt Waterhouse (1998): »Im Genesisgelände«. Es bleibt offen, inwiefern die vorbewussten Bruchstücke gleichzeitig durch ein implizites Wissen um deren Zusammenhänge verknüpft sind. Das ist in Traumprozessen sicher der Fall. Gelegentlich wird das implizite Wissen im Traum auch formuliert, zum Beispiel als globaler Rückblick auf das Thema vorangegangener Situationen, die nicht im eigentlichen Traum erscheinen oder als Vorwegnahme des Themas der kommenden Traumsequenz (»es geht darum, dass eine Bibliothek neu geordnet werden soll«, »es ist jemand erschossen worden«). Manche Gedichte bilden auch gleichzeitig den Prozess ihrer Entstehung ab (Moser 1997). Dies geht oft wegen der Neigung, primär den Inhalt des Gedichts zu beachten, vergessen. Ein Beispiel für diese Hypothese findet sich in einem Gedicht Celans (Engführung IX). Es sei in vollem Wortlaut angeführt, weil später wieder darauf Bezug genommen wird: (die Gespräche)

(– – taggrau, der Grundwasserspuren –

Verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur:

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Gras. Gras, auseinandergeschrieben.) (Celan 1996, S. 99)

Das Verbringen in das Gelände schildert, wenn auch sehr dunkel, diesen Prozess. Die Inhalte des »Genesisgeländes« werden in das Gras geschrieben, Spuren aus der Tiefe, im Medium »der Gespräche« an den Tag gebracht. Was versickert ist, bleibt nicht verdrängt unzugänglich und es ist auch nicht ausgelöscht. Haben die Grundwasserspuren etwas mit dem Vorbewussten zu tun? Was hält sich in diesem Bereich auf und wie wird mit diesem »Material« umgegangen? Sind es Teile des persönlichen Mythos (Mauron 1963), denen der Status von »unbewussten Phantasmen« zukommt? Das Konzept vorbewusst findet sich bei Mauron nicht. Man könnte sich aber vorstellen, dass unbewusste Gehalte teilweise in dieses Vorbewusste zugelassen, dort fragmentiert werden (als eine Leistung einer durch Affekte gesteuerten Abwehr) und von dort in die Generierung von Traum und Gedicht gelangen können. Das Vorbewusste enthielte gemäss dieser Theorie Inhalte, die durch Pointers zu unbewussten (d. h. abgewehrten) Phantasmen und zu bewusst gewesenen Bildern, Gedanken und Wahrnehmungen führen. Konzepte dieser Art über »ein Vorbewusstes« sind natürlich ganz unbefriedigend. Bei Freud war zunächst vorbewusst (Freud 1900), ein räumliches Konzept im Rahmen des topischen Modells bewusst/vorbewusst/unbewusst. Später (1938) eine besondere Qualität der mentalen Prozesse. Kris (1950) und Rappaport (1951), die wieder ausführlichen Bezug auf die klassische Arbeit von Varendonck (1922) nehmen, betonen als kritisches Merkmal vorbewusster Prozesse deren Zugänglichkeit für die Rekognition »what can be mobilized in recognition, must have been preconscious« (Kris 1950). Die »recognition« (am besten mit Erkennbarkeit übersetzt) ist fragmentarisch, Erinnerung wird hingegen definiert als Abruf einer umfassenden vernetzten Gegebenheit kognitiv-affektiver Natur. Wer Arbeiten über vorbewusste Prozesse liest, wird überaus vorsichtig und verzichtet auf die Hoffnung, eine umfassende Theorie vorzufinden. Es werden ganz verschiedene Prozesse in

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diesem Bereich angesiedelt, die man am besten zunächst je einzeln untersucht. Zum Beispiel werden automatisierte kognitive Prozesse (mentale Operationen) in ein kognitives Unbewusstes verwiesen (Piaget 1973). Auch »kreative« Prozesse wie Intuition (Bastick 1982) oder die Prozesse der »sloppability«, des »knob twiddling« und »knob spotting«, der »implicospheres« (vgl. u. a. Hofstadter 1985) sind nicht bewusst zugänglich. Was wir als »bewusst« erhalten, ist bereits eine neuartige Vernetzung, die wiederum Qualitäten neuer Vernetzungen in sich trägt. Interessant ist an diesen Theorien, dass sie immer von partiellen kognitiven Elementen ausgehen (knobs, Radikale oder Fraktale genannt), die Bestandteile interelementaren Relationen sind. Sie werden immer wieder neu verteilt und kombiniert. Das deckt sich mit der bereits vorgetragenen Annahme. Vorbewusst kann lediglich als eine immer neue Art der Vernetzung (neue Qualität, Freud 1938) definiert werden. Der Vernetzungsprozess selbst ist als Prozess nicht bewusst zugänglich, vielleicht aber doch in Spuren, wie wir später sehen werden. Fragmente aus Wahrnehmungen und inneren Denkprozessen können auch zu völlig neuen Objekten und Relationen vernetzt werden. Ohne zu leugnen, wie wichtig die Entwicklung einer Theorie des kreativen Prozesses wäre, wende ich mich nur jenen Phänomenen zu, die für das Verständnis der Struktur von Traum und Poesie von Bedeutung sind. Von der experimentellen Traumforschung kommt neuerdings Hilfe in Form von Arbeiten, die »Prozesse des Vorbewussten« beschreiben (Leuschner 2000a). Als Beispiel sei ein Experiment von Leuschner angeführt. Im Traumlabor wird am Vorabend Stimulusmaterial präsentiert (Baum mit vier gelben Dreiecken). Man kann zeigen, dass dieses initiale Perzept in fragmentierter Weise in die Träume integriert wird. Es ist in kleinste kognitive Bestandteile zerlegt, die Leuschner Radikale nennt.11 Wie auch in anderen ähnlichen Experimenten bleibt unklar, warum es überhaupt zu dieser Einverleibung kommt (teils sequenzialisiert und unabhängig untereinander). Man kann annehmen, dass beim Vorlegen der Stimuli (kurze Expositionszeit) keine Wahrnehmungsidentität 11 Die Details des Experiments können in Leuschners Arbeit nachgelesen werden.

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des Gesamtbildes geschaffen wurde. Bleibt ein Zeigarnikeffekt? Wie steht es mit dem Laboreffekt? Ähnliche Phänomene kann man bei hochbeschleunigter Präsentation von Kurzgeschichten sehen. Der Text wird in Textfragmente zerlegt und diese tauchen in Bruchstücken im Traum wieder auf. Es bleibt: das Perzept wird fragmentiert und führt zu »Radikalen«, die einem bestimmten Auflösungsgrad der kognitiven Struktur entsprechen. Was Leuschner Radikale nennt, entspricht in der von uns (Moser u. von Zeppelin 1996a) entworfenen kognitiven Grammatik den Attributen und Features der kognitiven Elemente (wobei zu beachten ist, dass bei diesem Vergleich noch die Rolle von »default« Attributen abzuklären wäre). Traum und Poesie integrieren freilich nicht nur Fragmente von Perzepten, obwohl gerade bei Gedichten vorangegangene Wahrnehmungsprozesse eine große Rolle spielen, was vor allem in der deskriptiven Poetik sichtbar ist. Derselbe Prozess der Fragmentierung kann auch mit »inneren« Bildern und Gedanken geschehen, die nicht in der ursprünglichen Form in der Mikrowelt Poem auftauchen (im Grenzfall müsste man sagen, doch, ja). Die Frage taucht hier auf, ob Erinnerungen nur fragmentiert gespeichert sind und affektiven Sperrungen unterliegen. Die Wiedereingliederung wird auf eine Reassoziierungstendenz zurückgeführt, die in allen Erlebnisbereichen Entitäten mit Identität herstellen will. Hofstadter (1985) spricht von einer Reifizierung von Konzepten, die im weiteren einen eindeutigen Zugriff ermöglichen. Dieser wird (Moser) unterstützt durch die Namensgebung (sprachliches Label). Fragmentierung geht nicht ohne Sperrung. Das Fragment wird von den bisherigen Vernetzungen abgeschottet oder herausgerissen. Sperrung ist ein Prozess, der nicht mit Verdrängung identisch ist. Es ist zu vermuten, dass auch die Verdrängung sich der Sperrung bedient, aber die restlichen Radikalen und die Gesamtheit des unterdrückten Netzes in allen Bereichen des kognitiven Prozesses nicht zulässt. »Diese von den internen Eigenschaften der Fragmente erzeugte Reassoziierung ist als eine besondere Form des vorbewussten Erinnerns zu bezeichnen« (Leuschner 2000, S. 710). Beispiele kognitiver, reassoziierte Konstrukte finden sich in Gedichten zuhauf: »Rabenüberschwärmte Weizenwoge« (Celan:

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Unter ein Bild); »Fischgrätpromenade, dämmrige« (Oleschinski: Angefrorener Tang); »Maistollmütz« (Freud: Traumdeutung) und andere mehr. Die sprachliche Formulierung bleibt dabei ein großes Problem. Ein Gedicht besteht aus einer Neuschöpfung mit reassoziierten Gehalten. Der Beginn der Generierung liegt in einer Ansammlung vorbewusster fragmentarischer Elemente (Bildteile, Gedankensplitter). Diese sind nicht abschließend und kohärent formuliert. Es kann durchaus sein, dass diese Elemente bereits einmal früher verknüpft waren, ja sprachlich kodiert worden sind. Allen Elementen dieser Ansammlung ist eine vermehrte affektive Bedeutung für den Autor eigen, die zur Aktivierung beiträgt. Sie haben affektive Nabelschnüre, die zu unbewussten (nicht vorbewussten), daher unzugänglichen Phantasien führen und oder zu Wahrnehmungsbildern, die sich – wiederum ihrer affektiven Bedeutung wegen – eingenistet haben. Stehen die Fragmente ihrer affektiven Intensität und ihres Inhaltes wegen mit unbewussten Erinnerungen in steter Verbindung, enthalten sie konfliktives oder traumatisches Material des Autors, so werden die vorbewussten Mechanismen der Dissoziation und der Sperrung zur eigentlichen Abwehr und zur Blockierung von assoziativen Bahnen. Anders formuliert: Elemente unbewusster Konstellationen gelangen fragmentiert ins Vorbewusste und werden dann partiell reassoziiert in das Gedicht eingelassen. Von dieser Sicht aus kommen Gedichten wie den Träumen auch eine Funktion der Problemlösung zu. Sind die Fragmente weitgehend affektfrei, so können im Grenzfall Konstruktionen resultieren, die völlig beliebig sind, mitunter ins Banale abgleiten, mitunter surrealistisch werden. Kommt eine ausgiebige und ungebremste Verwendung der Möglichkeiten der linguistischen Grammatik dank der Entkoppelung von Affekt und Sprache hinzu, kommt es zu Wort- und Satzkaskaden, die sich nur durch Selbsterschöpfung zu beenden scheinen. Gelegentlich finden sich in den Notizen von Autoren Protokolle von Zwischenstufen des Generierungsprozesses, die teilweise vorbewusste Fragmente festhalten, die zum Teil bereits in sprachlich formulierte Elemente eines Poems gebracht wurden. Dazu gehören zum Beispiel die Wortlisten, die in »Sprachgitter« (Celan 1996,

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S. 113ff.) publiziert worden sind.12 In ihnen tauchen Worte auf und werden abgewandelt. »Himmelswand mit dem Nachfries, pusteln, Himmelsfrieseln, Zahnfries, Rautenfries, Schuppenfries, Blattfries, Würfelfries, Himmelswand mit dem Nachfries, Leuchtassel klettert«, und so weiter. Celan hat hier, übrigens in einer nicht zufälligen räumlichen Anordnung, Objekte ausgelegt und zugleich immer neu variiert und kombiniert. Protokolle innerer Prozesse müssen bildlich oder sprachlich verfasst sein. So würde ich behaupten, dass die phonetische Wortbezeichnung hier die Funktion einer Namenrelation haben, die das Finden von kognitiv-affektiven Elementen ermöglichen. Die Worte für Objekte und Prozesse, so kann man es anders formulieren, haben ganz im Sinne der »innern Sprache« (Moser 1997) Hinweis- und Lokalisationsfunktion. Die Dinge gehen über die Namenrelation weniger verloren. Wie bei den ersten sprachlichen Versuchen des Kindes klebt die Sprache an den kognitiven Entitäten, die sie bezeichnen. Die Struktur der kognitiven Grammatik wird noch voll übernommen. Benennen ist eine Folgeerscheinung des sensomotorischen Tastens, begleitende erste affektive Reaktionen Folge taktil-sensueller Erfahrungen. Allerdings zeigen diese Wortlisten bereits erste kreative Ansätze der Variation und der Reassoziation. Ein Element erhält immer neue Attribute (z. B. Fries) oder es sind Attribute (z. B. bei Rautenfries) so in die Struktur eines Elementes hineingenommen, dass es – weil zentrales Attribut geworden – zu einem Doppelelement wird. Erste Verknüpfungen sind in Form von Konnektionen gesetzt (»mein Herz ruht in deiner Kanope«). Koppelungen von Elementen haben dank der Zusammenlegung ihrer Features ganz neue Potentiale, Attribute zu bilden und Agenten neuer Interaktionen zu werden, die ihnen je einzeln nicht möglich wären (vgl. dazu auch Hofstadters Kriterien der Kreativität, Hofstadter 1985). Das führt letztendlich im fertigen Gedicht zu Selbst- und Objektbeziehungsveränderungen, die nicht mehr mit jenen der ursprünglichen Phantasien (seien sie vorbewusst oder unbewusst) 12 Da diese Wortlisten von rein sprachlichen Anmerkungen durchsetzt sind, die mehr zum nachträglichen Ästhetisierungsprozess gehören, der schon auf dieser »visuell fassbaren« Stufe eingesetzt hat, kann eingewendet werden, dass die These eines »nicht-sprachlichen« Gitters auf schwachen Füßen steht.

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identisch sind. Dasselbe gilt auch für die Beschreibung anderer Wirklichkeiten, seien es Landschaften, Personen, Dinge oder physikalische Vorgänge. Die Wortlisten entstammen verschiedenen Stufen kognitiv-affektiver Prozesse, aus Vorstufen eines »Denkens«, das in einer spezifischen psychischen Realität verläuft. Zum Schluss soll deshalb kurz erörtert werden, ob das Rahmenkonzept der Psychischen Realität (von der Psychoanalyse häufig verwendet) ein anderes Licht auf den Generierungsprozess des Poems zu werfen vermag. In der psychischen Realität, so die Psychoanalyse, sei Innen- und Außenwelt nicht primär unterschieden. Der psychoanalytisch-therapeutische Prozess verlaufe primär in diesem Bereich und führe zur Einsicht in Außen- wie Innenwelten, sowie zur Neuformulierung dessen, was innen und außen ist. Es sei auf zwei Autoren hingewiesen. Wildlöcher (1996, S. 13) definiert die Substanz der psychischen Realität als eine »modélisation de l’activité psychique inconsciente indépendante de tout traitement linguistique«. Eine sprachliche Kodierung erfolge erst nachträglich, denn sie könne sonst nicht zur Botschaft werden. Diese muss aber nicht unbedingt sprachlich sein. Laplanche (1991) unterscheidet eine perzeptive von einer psychischen Realität. Die erstere trägt Züge des Wahrnehmungsapparates (so wie sich die Wahrnehmung genetisch aufbaut), die letztere umfasst die Modellierung äußerer Vorgänge (Objekte wie Prozesse) und innerer Gegebenheiten (Repräsentanten) »un objet, qui n’est pas seule une chose, mais renferme en lui des temps de construction, les affects, qu’il a évoqués et sans doute d’avantage encore …« (S. 402). Dazu kommen im Besonderen jene Inhalte, meist szenischer Art, die den Charakter einer Botschaft haben (»réalité du message signifiant, adressé par quelqu’un à quelqu’un«). Dabei weiß der Sender, insbesondere das Kind, den größten Teil dessen, was er/es sagen will, gar nicht. Der Sender ist häufig ein »émetteur des messages énigmatiques«.13 Solche Botschaften sind an Konnotationen geheftet, die lediglich ein Teilverständnis erlauben, ohne das Rätselhafte ganz aufzulösen. Gedichte können als Botschaften an den Leser 13 Diese Rätselhaftigkeit der Botschaft findet natürlich das besondere Interesse der Psychoanalytiker.

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gesehen werden. Dann gilt das, was beim Kind auffällt, auch für den Autor eines Gedichts.

■ 7. Das Gedicht von »außen« und von »innen« ■ 7.1 Schweigen, Stille, Leere, Geräusche, Stimmen und

Wind Literaturwissenschaftliche Aussagen über die innere Struktur der Poesie führen immer zurück zu denselben, nicht weiter ergründbaren Urworten: zum Schweigen, zur Stille, zur Leere. So zum Beispiel Bollack (2000, S. 311); »Das Schweigen legt sich nicht als eine Sphäre des Unaussprechlichen über die Sprache […]. Es hat nichts Verborgenes an sich und steht auch nicht für blockierte Ausdrucksmöglichkeiten […] das Schweigen ist die Sprache in ihrer angemessensten Form […]. Ein Wort ist gerecht im weißen Feld des Schweigens.«

Diese Folgerungen mögen dem Leser wohl gefallen, weil sie ihm einen ästhetischen Genuss vermitteln. Mich jedenfalls haben sie bewogen, einen tiefer gehenden Text von Manganelli (1989) über »Geräusche und Stimmen« erneut zu lesen und ihn zum Ausgangspunkt meiner Analyse zu nehmen. Die absolute Stille ist autonom, selbstgenügsam. Sie ist unerträglich und Sitz der Angst und des Entsetzens. Sie wird deshalb für den Hörer der Stille in eine unreine Stille verwandelt, die wenigstens zugänglich ist, wiewohl sie instabil bleibt. In diese unreine Stille flieht man, um der stillen Angst zu entkommen. Doch bietet sich dann ein anderes, »milderes und indirektes und schleichendes Entsetzen an, das ist das Entsetzen des Werdens« (Manganelli 1989, S. 10 f.). Er schildert im Folgenden wie dem Lauscher in der nächtlichen Stille sich alles mit Geräuschen belebt und mit der Zeit sich zu Stimmen konkretisiert. Die Dinge »beleben« sich. Wir wissen nicht, ob es Erzeugnisse unserer Angst sind oder genuine Töne der Außenwelt. Das alles kann sich zum Lärm steigern

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»Was ist es, dieser Lärm? Dieses plötzliche Tosen, wie du es nie gehört hast? Dieses Schreien der Nacht, zerborsten in zahllose Nächte, Nachtperlen, Tropfen der Nacht? Was ist dieses rasende Sausen, dieses Gebraus? Welcher Krawall regiert die Welt und weitet den Raum? Ja was kann es denn sein, dieses Gegröhl und Gejohl, dieses Zetern und Poltern, dieses Pfeifen in der Luft, dieses Erschauern des Klangs? Was mein lieber Nachtwandler, mein lieber Finsternishocker, kann es denn anderes sein als dieses, ja dieses genau – die Auferstehung der Toten?« (Manganelli, S. 140).

Ja – es könnte auch ein Stück Musik sein oder ein Gedicht, ist man versucht zu sagen. Die Geräusche der unreinen Stille sind die Worte des Schweigens. Nicht immer entfaltet sich diese Welt zu einem wahren Getöse. Manchmal sind die Geräusche wie die Worte sehr leise, vielleicht nur angedeutet, doch in beiden Fällen nicht die ganz »gemässen«. Aus der Stille, aus dem Schweigen, aus der Angst vor der Leere wird eine Mikrowelt.14 Zu den »Urdingen« Manganellis wäre auch noch der Wind zu zählen. Er ist der Erzeuger der Bewegung. Doch verlassen wir die Betrachtungen Manganellis. Die Mikrowelt Gedicht hat eine Struktur, die sich aus dem Zusammenwirken aller Elemente ergibt. Bisher gingen wir von der intrinsischen Struktur einzelner kognitiver Elemente aus. Sie entfaltet sich in Attributen, attributiven Relationen, verbreitet und entleert sich in Assoziationen und verknüpft sich schließlich mit anderen Elementen. Man könnte die Struktur des Gedichts von jedem einzelnen Element ausgehend verfolgen. Die Mikrowelt bildet Relationen, zunächst räumlicher, dann auch interaktiver Natur. Es bilden sich Trajektorien der Elemente, Szenen und Situationen, die sequenzialisiert und irgendwann wieder abgebrochen werden. Die Mikrowelt hat auch eine Grenze. Diese ist nicht immer geschlossen, sondern kann, wie wir sehen, offen gelassen werden. De facto ist die Art der Öffnung aber auch wieder eine Begrenzung durch das Ungewisse. Und diese ganze Mikrowelt, dieses kognitiv-affektive, virtuelle Bezugssystem wird durch Agenten zentriert. Ein Ich tritt auf, es wird ein Du angesprochen. Diese Subjektivität und Intersubjekti14 Es wäre daran zu erinnern, dass in der psychoanalytischen Traumforschung Theorien formuliert wurden, die einen »leeren« Traumhintergrund postulieren und demgemäss von »Leerträumen« und einem »dream screen« reden (Lewin 1948, 1946).

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vität begründende kognitiven Elemente können passive Beobachter bleiben oder als aktive Agenten in Veränderungsprozesse einbezogen sein. In dieser Hinsicht ist kein Unterschied zum Traum auszumachen. Auch Dinge können lebendig sein und Agenten werden. Das ausgebildete Netz der Relationen enthält neue Prinzipien der kognitiven Grammatik, die intrinsische Potentialitäten der beteiligten Elemente aufnehmen und entfalten oder sie gerade daran hindern. Im Kontext der Mikrowelt tauchen diese Agenten als kognitive Modelle auf. Das Selbstmodell – mit dem sich der Leser identifizieren kann – erlebt seine Mikrowelt als seine Außenwelt. Das eigentliche Selbst (das »Gesicht« des Autors?) sieht die Mikrowelt von »innen«. Mit einigen dieser Aspekte werde ich mich in der Folge beschäftigen. Als Orientierungsfaden und Illustration soll (für Abschnitt 7.2–7.5) ein Gedicht von Brigitte Oleschinski dienen: Immer führen die Reifenspuren solchen Brachpfaden nach, im zirpenden Mittag zu den Rastplätzen zerknüllter Taubenflügel, zwischen Scherben und Blech, an dem noch die Dichtungen kleben wie aufgeblasene Finger. Reglos ballt sich die Stunde unter der Hitze, durchflochten von Ziegelgesträuch. Rundum nur das Nicken der Grannen, über das auf und ab flimmernde Käfer hasten. Einmal war hier eine Kuh vergraben. Eingenäht in den Rippenkorb fand sich ein Sack. In diesem Sack ein Gesicht – (Oleschinski, Schandfleck, 1990, S. 59)

■ 7.2 Trajektorie, Raum und Zeit Das Gedicht fängt die Sensualität eines sommerlich warmen, duftenden Zerfallplatzes einer Großstadt ein. Ein Brachpfad mit Reifenspuren führt an diesen »Rastplatz«. Es ist eine Trajektorie geschildert, die aber nicht einem konkret anwesenden Agenten zukommt. Es sind nur Spuren gewesener Agenten. In Trajetorien vereinen sich räumliche und zeitliche Verhältnisse (Abschnitt 2). An den kognitiven Elementen »Brachpfad« und »Reifenspuren«

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haften Attribute und Features der Vergangenheit (was im dritten Teil des Gedichts über die vergrabene Kuh) erneut thematisiert ist. Trajektorien sind Zeitreisen, wie sie Kinder vom vierten Lebensjahr an zu machen fähig sind (Suddendorf u. Corballis 1997; Bischof 2000). Diese Zeitreisen liegen in einem Zeit-Raum.15 Es ist kein Zufall, dass Schlafträume (inhaltlich gefüllte) erst im vierten und fünften Lebensjahr auftauchen (Foulkes 1999). Ich habe schon mehrfach betont, dass Gedichte die kognitive Grammatik jener Alterszeit in ähnlicher Weise benützen wie die Träume. Die Trajektorie ändert nichts am Geschehen. Sie führen nur zu einem PLACE hin oder von einem PLACE weiter zu einem anderen, der dann zum Kontext eines Geschehens wird (was später Prozesse der Veränderung impliziert). Damit sind wir am »Rastplatz«, im »zirpenden Mittag«. Das raum-zeitliche Bezugssystem ist aufgespannt. In diesem Raum werden die Objekte plaziert: »zerknüllte Taubenflügel zwischen Scherben und Blech, an dem noch die Dichtungen kleben« wie »aufgeblasene Finger«. »Bahndämme«, »Wegränder«, »Ödplätze«, »Schutt« wurden auch von Celan geliebt (z. B. Celan, Sprachgitter, 1996, S. 84,85). Es sind Orte der Versammlung von Gegenständen, die durch den raum-zeitlichen Bezug miteinander verbunden werden. Es sind auch immer Orte von Trajektorien, die primär aus einer Vergangenheit kommen (Spuren), gelegentlich auch in die Zukunft führen. Im zweiten Abschnitt wird der Platz weiter beschrieben: »Ziegelgesträuch, Grannen, Käfer, Stunde und Hitze.« Elemente sind in einem PLACE-Arrangement nicht nur durch räumliche Verhältnisse lokalisiert, sondern manchmal auch verflochten. Ein Beispiel dafür ist das »Ziegelgesträuch«. Ein Strauch wächst im Schutt um Ziegel herum, aber auch durch ihn hindurch (durch die Löcher). Er vermag ihn auch zu sprengen. Auf der Ebene des Tastens entstehen gleichzeitige sensorische Empfindungen: weiche Rauheit des Ziegels und Borstigkeit des Gestrüpps. Die Wortverbindung Ziegelgesträuch verflicht die morphologischen und assoziativen Feature der beiden kognitiven Einheiten, lässt sie aber auf der Ebenen der Wahrnehmungs15 In der Entwicklungspsychologie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Konzept Zeit in der konkretistischen Phase des Kindes (und auch später) mit räumlichen Metaphern beschrieben wird (Bischof 2000).

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zuordnung durchaus separat. Ziegelgesträuch ist deshalb kein völlig neues durch Verdichtung entstandenes kognitives Element. Bei genauem Lesen des Textes ist es jedoch so, dass die Hitze durchflochten ist vom Ziegelgesträuch. Ein Attribut der gesamten Situation sowie eines der geballten Sonne ist zum kognitiven Element Hitze geworden. Bei »Ziegelgesträuch« sind die Namen der beiden kognitiven Elemente zusammengehängt worden, die »Hitze« hingegen bleibt bei ihrem separaten Namen. Solche Phänomene, die nur auf der Ebene des raum-zeitlichen Bezugssystems der Mikrowelt möglich sind, nenne ich Verflechtung. Von einer Verdichtung kann dann gesprochen werden, wenn ein kognitives Element im Text erscheint, das gleichzeitig Feature verschiedener »realer« Objekte enthält, die affektiv sehr stark besetzt sind. Ob es dann gelingt, die Wahrnehmungsidentität des Elementes herzustellen oder nicht, bleibt eine zweite Frage. Im Traum ist es sicher so, dass Verdichtungen deutlich durch Interpretationen der affektiven Vernetzungen definiert werden. Bei Gedichten werden Verdichtungen aber auch konstruiert, um gleichzeitig affektiv besetzte kognitive Anteile auszudrücken. Bei Objekten, bei denen die Wahrnehmungsidentität nicht hergestellt werden kann (siehe Beispiele Abschnitt 1) ist der Verdichtungsprozess in der Absicht deutlich, gleichzeitig bleibt die Verdichtung aber unvollständig und defizitär.16 Ich lasse viele Bemerkungen zu diesem zweiten Teil des Gedichts beiseite. Es wären Wiederholungen. Doch ist auffällig, dass hier die einzigen Wechselwirkungen (Interaktionen) von Elementen auftauchen: das Ballen der Stunde (1), das Nicken der Grannen (2), das Auf und Ab Hasten der flimmernden Käfer (3). Das präsentische Interaktionsfeld, das aus dem PLACE erwächst, ist an Agenten gebunden, die der physikalischen Welt, der Pflanzenwelt und der Tierwelt entstammen. Personen sind nicht eingeführt. Der Betrachter schildert, was er von »außen« sieht. Bevor ich zu den Phänomenen des dritten Teils komme, seien weitere Phänomene des raum-zeitlichen Bezugssystems der Mikrowelt Poem vorgestellt, wenn auch nicht erschöpfend behandelt. 16 Verdichtung und Verflechtung, wie ich sie hier definiert habe, wären zwei Spielformen der von Freud umschriebenen Verdichtungen. Die Problematik wird von Palombo (1992) und Leuschner (2000b) eingehend geschildert.

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Im Traum wird gemäss einem Sicherheitsprinzip Art und Menge der Elemente bestimmt und in einem Raum angeordnet (Moser u. von Zeppelin 1996a). Nähe und Distanz und Beziehungen räumlicher Art sind durch affektive Prozesse bestimmt, die im Text nicht in Erscheinung treten. Solange die Elemente nicht in Wechselwirkungen aufeinander bezogen sind, sind alle sensuellaffketiven Qualitäten an Grundstimmungen, Zustandsaffekte angeheftet. Diese Zustandsaffekte können selbst wie kognitive Elemente benützt werden oder sich zu Attributen formen: Die Hitze zum Beispiel oder der zirpende Mittag. Räumliche Verhältnisse werden beschrieben: zum Beispiel zwischen Scherben und Blech, klebende Dichtungen, Stunde unter der Hitze, durchflochten von Ziegelgesträuch. Am Rastplatz dieses Gedichts sind alle Zustandsaffekte wiederum in einer gemeinsamen Gestimmtheit vereint. Es könnte sein, dass die Verstreuung und Auflistung vieler Gegenstände die Grundstimmung des Rast- und Schuttplatzes durch diese »Objektivierung« intensiviert, das heißt geradezu summiert. Im Unterschied zum Traum werden insbesondere in der neueren Lyrik, die räumlichen Relationen nicht nur im Text geschildert, sondern in der Anordnung des Textes zusätzlich verankert. Den aufgetauchten Fragmenten des »Vorbewussten« werden auf dem Blatt konkrete Plätze zugewiesen. Abstände, Gruppierungen, Klammern, Interpunktionen sind »Setzzeichen« der kognitiven Grammatik. Diese ikonographischen Darstellungen sind ebenfalls Ausdruck der kognitiven Grammatik.17 Nänny (1985) hat in der englischsprachigen Poesie verschiedene Formen dieser Ikonizität beschrieben. Diese betreffen, was nicht erstaunt, auch zeitlich sequenzielle Phänomene. Ein amüsantes und extremes Beispiel zeigt Nänny (1985) an einem Gedicht über eine Heuschrecke von e.e. cummings. Dieser hat den Text seines Gedichts so gesetzt, dass wie in einem Vexierbild tatsächlich aus der Verteilung des Textes eine Heuschrecke erscheint. Auf der Basis der zwei Formen raum-zeitlicher Relationen kann in der Poesie spielerisch ikonographische Signifikation gesetzt werden. 17 Auf die Bedeutung der Ikonizität in literarischen Texten hat vor allem Jakobson (1971) hingewiesen. Er hält diese Ausdrucksart aber den linguistischen Strukturen untergeordnet.

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Nach Nänny finden sich zwei Gruppen: 1) räumlich-zeitliche Konfigurationen. Diese können ein konkretes Objekt, eine Form, ein Muster betreffen. Über analoge Extensionen kann ein Ikon Notionen von Größe, Distanz, Balance, Proportion, Ablösung, Dissoziation, Fragmentation, Präsenz, Latenz bedeuten. 2) lineare Sequenz von topographischen Zeichen. Es sind Ikone, die eine Sukzession in der Zeit oder im Raum darstellen. Diese Sequenz kann Kontinuität, Wechsel, Zerfall und Wachstum, Bewegung (zirkulär, horizontal, vertikal, hin und zurück usw.) ausdrücken. Ikonographische Setzungen verlaufen vorbewusst und mit einer intuitiv anmutenden Sicherheit und Eindeutigkeit. Text und Anordnung des Textes sind kompatibel. Der Prozess der Angleichung geht über längere Zeit der Textgenerierung. Man kann das am Beispiel von Typoskripten der Vorstufen verfolgen (Celan 1996, Sprachgitter: Vorstufen, Textgenese, Endfassung). Als Beispiel habe ich bereits das Gedicht Engführung IX von Celan angeführt. In diesem Gedicht wird besonders deutlich, dass mit den räumlichen Lücken Zonen des Nicht-Gesehenen oder des NichtGezeigten ikonisiert sind. Das Gedicht taucht in diesen Lücken ab in den vorbewussten Bereich impliziten Wissens. Im Gedicht von Celan verschwindet »untrügliche Spur« nach dem Zeichen »;«, erscheint erneut in »Gras, Gras«, »auseinandergeschrieben«. Oder: »(Die Gespräche)«, vorher in den anderen Entwürfen der Engführung genannt (Passagen), sind zuletzt ersetzt durch das Zeichen »– –«.

■ 7.3 Grenzen, Anfang und Ende Ein Gedicht hat einen Anfang und ein Ende. Insofern besitzt es eine Grenze die man sich räumlich oder mehr sequenziell zeitlich denken kann. In geschriebener Version gehören Anfang und Ende auch zu den ikonographischen Signifikationen. Im vorbewussten Bereich der poetischen Spur gibt es weder das eine noch das andere, weder für den Autor noch für den Leser. Beide liegen in netzwerkartigen affektiv-kognitiven Prozessen. Gibt es besondere Eigenheiten für den Eintritt? Ein Einfall führt irgend wann, für den Autor selbst überraschend zur ersten, mitunter auch schon zur zweiten Zeile. Oft wird zeitlich erst viel später das Gedicht weiter

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generiert. Es taucht in ähnlicher Weise wie im Traum zunächst ein PLACE auf, oder ein einzelnes Objekt, eine interaktive Szene oder eine abstrakte Überlegung. Auch ein diffuses Gefühl kann motivierend sein. Die erste Zeile wird manchmal auch gleich zum Titel der poetischen Mikrowelt. Wird diese Verlötung von Bild/Gedanke und Wort zur Öffnung des Raums? Die meisten Gedichte enden abrupt (was den Text anbelangt) und lassen mögliche Gedanken zurück. Die Grenze wird in vielen Fällen weit geöffnet und dies auf verschiedene Weisen. Zum Beispiel endet ein Gedicht von Oleschinski: […] oder instant water überhaupt (Oleschinski, Die sandige Braue, 1997, S. 58)

Dieses »überhaupt«, mit Abstand von der vorangehenden Zeile gesetzt, führt weiter, über die Welt des Gedichts hinaus, lässt offen, generalisiert, führt den Gedanken schlaufenartig auch wieder in das Gedicht zurück. Wiederholungen verstärken das Nichtenden: […] warum nickt diese Ordnung und nickt und nickt (Oleschinski, Champignonköpfe nur dass sie, 1997, S. 41)

Eine andere Technik setzt ein einziges Wort mit Abstand: ins Ohr wie ein singender, saugender Muskel (Oleschinski, Angezündet, 1997, S. 38)

Das kognitive Element suggeriert durch sein Alleinestehen eine hohe affektive Besetzung, vielleicht auch eine Verdichtung, deren Auflösung ein Geheimnis bleibt, im Leser jedoch den Impuls erzeugt, diesen »Ballon« anzustechen und assoziativ zu entleeren.

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■ 7.4 Immanente und explizite Zeiten Jedes Element des Rastplatzes hat über sein Alter seine eigene, ihm innewohnende Zeit, auch wenn in der Situation des Gedichts alle Dinge miteinander gegenwärtig verflochten sind. Im Traum hat jede einzelne Situation eine ihr zukommende präsentische Zeit (Moser u. von Zeppelin 1996a). »Vorher« und »Nachher« kann nur durch eine Abfolge zweier Bilder dargestellt werden. Es gibt keine explizite Vergangenheit und keine explizite Zukunft. Diese Bereiche können im Traum nur gedanklich durch Überlegungen eingeführt werden. Im Phänomen des impliziten Wissens berichten gelegentlich Träumer in abstrakter Form über vergangene Teile des Träumens oder darüber, um was es in der Traumgeschichte gehen wird. Der Kern des geträumten Traumes mit Lebendigkeit der wahrnehmenden Aufmerksamkeit und des Geschehens ist Situation für Situation präsentisch. Die Mikrowelt des Gedichts hat im Vergleich zum Traum weitgefächerte Möglichkeiten, zeitliche Verläufe herzustellen. Zum Beispiel kann der ganze Poem explizit in die Vergangenheit gesetzt werden: Ich sprach auf einem leeren Bahndamm zu den Steinen zwischen den Zweigen ging etwas zu Ende (Naum, Rede auf dem Bahndamm, 1998, S. 205)

Aber auch die Zukunft ist zu finden: Eines Tages gehe auch ich vielleicht in eine Riesenschule und bringe es auf Größe 58 an den Schuhen (Naum, Die Traumbaumbäume, 1998, S. 183)

Aus der Psychologie der Affekte weiß man, dass diese Art der nicht präsentischen Präsentation der Dämpfung der Affektintensität dient. Es gibt experimentelle Befunde, die zeigen, dass erinnerte Affekte sehr viel geringere Intensität besitzen, sofern die affektauslösende Situation in der Erinnerung gehalten werden kann und nicht gegenwärtige Affekte einer jetzigen Situation induzieren. Vergangenheit (siehe Abschnitt 2) kann als Attribut einem präsentisch gesetzten kognitiven Element zukommen. »Stimmen«

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(Celan) hat implizit einen Bezug zur Vergangenheit. Dasselbe lässt sich über die Reifenspur im Brachpfad (Oleschinski) sagen. Ich möchte auf die wichtige Tatsache zurückkommen, dass jede Situation eines Gedichts eine »domain of time« (Lakoff u. Johnson 1999) besitzt. Sie erlaubt die Eigenzeiten zu vergleichen, die den Elementen zukommen. Zeiten können wie kognitive Elemente benützt werden. »Eine Sekunde sirrt« (Celan). Die Eigenzeit wird dann direkt in den Kontext eingebracht. Alle Elemente haben ihre »Mikroweltzeiten«, wie ich dies nennen möchte. Die Zeit bekommt als Eigenzeit eine Dimension der Länge wie auch der Tiefe (Bachelard 1943). Die erste kann vom Leser ermessen werden durch die Länge des Hängenbleibens in den evozierten Emotionen. Die Eigenzeit findet durch das Auftauchen eines neuen Elementes ein Ende. Die Tiefenzeit wird durch die affektiven Features und Attribute bestimmt. »Et quand un adjectif vient fleurir sa substance, la poésie écrite, l’image littéraire, nous laisse vivre lentement le temps de floraisons« (Bachelard 1943, S. 282). Und dazu: »A chaque verbe (Interaktion, mo) revient non plus le temps de l’expression, mais le juste temps de son action« (Bachelard 1943, S. 282). Die Tiefendimension endet schließlich (sofern man ihr folgt), im Fluss der vorbewussten Bilder, in der »pensée secrète« des Autors. Eine Lektüre eines Gedichts muss deshalb nachdenklich und besinnlich sein, sie duldet keine Zeitbeschränkung. In diesem Zusammenhang hat Bachelard die heute reichlich unbequeme Meinung geäußert, dass Gedichte nicht vorgetragen (vorgelesen) werden sollen. Dem stimme ich voll und ganz zu. Die Redezeit verzerrt die immanenten Zeiten. »l’audition ne permet pas de rêver des images à profondeur« (Bachelard 1943, S. 283). Das Rezitieren zwingt der Struktur des Gedichts die Zeitstruktur der gesprochenen Sprache auf und setzt Pausen willkürlich. Es sei allerdings zugegeben, dass die Zeitdimensionen von Sprache und immanenter Zeit mit viel Einfühlung angenähert werden können. Aber auch dann wird der Zuhörer in seiner Freiheit eingeschränkt, seinen eigenen Weg in dieser Mikrowelt zu finden.

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■ 7.5 Schachtelung und Sequenzialisierung Das Gedicht von Oleschinski enthält drei Abschnitte: Der erste wird durch eine Trajektorie und durch einen PLACE dominiert. Im zweiten Abschnitt wird PLACE weiter in Objekte ausgegliedert und detailliert. In diesem PLACE nun finden sich drei konkret präsentische Interaktionen. Im letzten Abschnitt, den ich wieder ausführlich analysieren möchte, wird die Geschichte virtuell in die Vergangenheit entrückt (»Einmal war hier …«). Die Ausgrabung enthält keine präsentischen Handlungen, hingegen eine Schilderung dessen, was vergraben ist. Der Text enthält somit eine deutliche Sequenzialisierung. Sie scheint ein Gliederungsprinzip der kognitiven Grammatik zu sein. »Etwas folgt auf etwas«, »Zuerst dies, dann das«. Die kausale Verknüpfung ist damit nicht automatisch gegeben. Sequenzialisierung ist akausal. Die Kausalisierung geht nach der Formel: »wenn das, dann folgt das zwangsläufig«. Die Sequenzialisierung ist nicht eine Eigenheit des linguistischen Systems, wie das häufig angenommen wird, sondern bereits eine Grundeigenschaft der kognitiven Grammatik (Piaget 1956; Moser u. von Zeppelin 1996a). Die sprachliche Formulierung zum Text erfordert zwar (nicht immer) eine zusätzliche Sequenzialisierung. Der dritte Abschnitt bringt eine Containerphantasie, die an die russische Babuschka erinnert. Etwas ist in etwas, das wiederum in sich etwas enthält. Zunächst enthält der Rastplatz eine Kuh. In dieser Kuh ist ein Rippenkorb. Ein Korb ist, wenn hier auch Teil des Leibes, wiederum ein Behälter (wir sind im Bereich der »Innereien« eines Tieres). In der Traumpsychologie ist der Körper auch ein PLACE und in der kognitiven Grammatik eine besondere Form der Außenwelt. Nun folgt der Sack. Er ist eingenäht worden, trägt also als Attribut eine vergangene Interaktion mit einem fiktiven Agenten. Das innerste Element der Babuschka ist ein »Gesicht«. Diese Einschachtelung entspricht einer positionierten (als vorhanden beschriebenen) Containerrelation, welche die versammelten Objekte des Rastplatzes ersetzt. Alle Wechselwirkungen (die Interaktionen Vergraben, Einnähen, Befinden (sich finden) sind zu Attributen der Elemente geworden. Das »Hier« macht sie zu Elementen des PLACE (Rastplatzes), die realiter für den Beobachter und

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Zuschauer nicht sichtbar sind. Die Autorin macht sie jedoch durch ihre Schilderung der Aufmerksamkeit zugänglich, so dass man diese Container zu sehen vermeint. Die Virtualität wird auf diese Weise auch wieder präsentisch. Es liegt ein Protokoll einer Wahrnehmungsausgrabung vor. Alle Agenten des einstigen Geschehens sind anonymisiert. Ist ein bestimmter, individueller Prozessor gemeint (wie oftmals im Traum) oder ein Aktionspotential, das allen Prozessoren zukommt? Man weiß es nicht und nichts gibt uns die Möglichkeit, dies zu entscheiden, außer durch interpretatorische Willkür. Die Ausgrabung, die Entschachtelung führt zur Entdekkung des Gesichts. Ein Gesicht enthält eine Identität. Man hat ein Gesicht. Das Gesicht ist Träger affektiven Austausches über die Mimik. Es ist auch ein »zweites« Gesicht, Ausdruck der Hellsichtigkeit. Dieses Gesicht sieht das Gedicht von innen. Durch den eingenähten Sack ist es blind gemacht worden. Die Ausschachtelung legt es wieder bloß, freilich nur virtuell durch das Protokoll der Ausgrabung. Dieses Gesicht ist nicht identisch mit dem Gesicht jenes (fiktiv anwesenden) Beobachters, der über den Brachpfaden zum Rastplatz kommt, der die Reglosigkeit der ballenden Sonne erfährt und all das sieht, was auf dem Platz herumliegt, sich bewegt, kreucht und fleucht. Es ist die Sicht eines Prozessors (des Autors?), der das Gedicht von innen steuert und eine Version von sich in das Ausgangsfeld des Rastplatzes setzt. Wenn eine Mikrowelt, sei es ein Traum oder ein Gedicht oder eine Erzählung, eine Form der Entfaltung eines Selbst ist (Bollas 1995; Moser 1999), dann enthält sie auch ein »Ich«, das als Träger von Prozessen erlebt wird. Dieses »Subjektprozessor« genannte Ich lebt nur gerade in dieser Mikrowelt. Es ist ein Selbstmodell und versammelt das Geschehen mit den dazugehörigen Befindlichkeiten und Interaktionen zu einer Einheit. Ist dieses Ich Beobachter, wie in diesem Gedicht, dann kann das Ich auch verschoben werden in Gräser und Käfer, im dritten Teil in den Ausgraber, aber auch in die vergangenen Eingräber. Die Zentrierung ist dann nicht mehr eindeutig. Von jedem Element her könnte deshalb eine andere Zentrierung des Gedichts vorgenommen werden. Die Autorin hat jedoch die vorliegende gesetzt. Wer aber schafft die Zentrierung? Das ist das vergrabende Gesicht, das Innerste der Babuschka. Dieses »Selbst« modelliert sich selbst in der Geschichte als ein Ich oder

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versteckt sich vergraben in die Objekte. Darum meine ich, dass dieses Gedicht auch eine Ausgrabung seiner eigenen Geschichte ist. Dazu muss die Innenseite herausgeholt werden, die Hellsichtigkeit. Die Containerrelation eignet sich zur besonderen Sichtbarmachung der Einschachtelung. Man muss dieses Prinzip aber viel weiter fassen. Jedes kognitive Element enthält über seine Features eine individuelle Geschichte, die wir zunächst so wenig kennen wie die vergrabene Kuh. Alle Objekte des Rastplatzes enthalten Babuschkas. Sie werden dann in der entstehenden Mikrowelt als Teilelemente eingeschachtelt. Im Geschehen des Gedichts wiederholt auch inhaltlich die Struktur der kognitiven Elemente, die in die Mikrowelt eingeführt wurden. Diesem Phänomen wäre gründlicher nachzugehen. Zuletzt: wie eng verflochten Sequenzialisierung und Einschachtelung sein können (nicht müssen), zeigt die Babuschka: Es ist nicht möglich, eine innere Babuschka zu öffnen, bevor nicht die größere, die Behälterin der kleineren geöffnet wurde.

■ 8. Schließlich besteht ein Gedicht aus Worten, sagte Mallarmé … Das war seine Antwort an einen Malerfreund, der seine Mikrowelten zu Bildern, somit aus ganz anderen Elementen und mit anderen Mitteln gestaltet hat. Was aber ist ein Wort im Sinne der Poesie? Gibt uns die viel beachtete und zitierte Unterscheidung von Mitteilung und Botschaft im Sinne Jakobsons (1960) eine Antwort? Die Worte einer Kommunikationssprache sind im Kontext der Mitteilung anders zu gewichten als jene im Kontext der »poetischen Funktion«, die seiner Ansicht nach mit den Mitteln der Sprache (Rhythmus, Reim, Auslassung, Verschiebung, Vernachlässigung der Syntax usw.) neue Bedeutungen der Worte produziert (vgl. auch Müller-Pozzi 1998). Das Konzept der poetischen Funktion hilft uns nicht sehr viel, weil Jacobson bei der Beschreibung deren Mittel sprachliche und kognitive Grammatik nicht auseinanderhält. Valérys (1962) Unterscheidung von Wort und Satz kommt mei-

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ner Frage, was ein Wort im Sinne der Poesie sei, bedeutend näher. Valéry betont, dass wir in der Alltagssprache uns nur verstehen, wenn wir in einer gewissen Schnelligkeit über die Worte hinweggehen, das heißt in einer Art von Sätzen, die in einer anderen Person eine innere oder äußere Veränderung zu erzeugen versuchen. Ist diese Mitteilung angekommen, verliert die Sprache ihre Bedeutung. »Man darf sich auf ihnen (den Worten; U. M.) nicht schwer machen, wenn man nicht damit gestreift sein will, dass man die klarste Rede in Rätsel, in mehr oder weniger gelehrte Illusionen zerfallen sieht« (Valéry 1962, S. 140).

Greift man ein Wort heraus, dann erhält es eine andere Bedeutung, es wird gar mehrdeutig. Im Zusammenhang mit einer Interpretation der Poesie Celans versucht auch Bollack (2000) das Rätsel »Wort« zu lösen. »In der Ablösung von seinem rhetorischen Gebrauch findet das Wort zu seiner Existenz. Kein Sinn geht an ihm vorbei, keinen lässt es außer acht« (Bollack 2000, S. 57). »Es gibt eine Wahrheit, die etwas mit seiner Worthaftigkeit zu tun hat und aber nicht nur dem Wort innewohnt oder von ihm hervorgebracht wird, sondern die sich davon ableitet, dass es dieses Wort gibt, dieses eine Wort, das etwas eigenes aussagt und dessen Aussage sich nicht aus der gewohnten Bedeutung ergibt« (Bollack 2000, S. 58).

Sieht man von dieser fast ontologisch anmutenden Formulierung ab, von dieser doch etwas mystischen Verklärung von Wort und Sprache, ergeben sich in seinen Gedanken wichtige wenn auch nicht neue Schlussfolgerungen. Das Wort ist Bestandteil eines anderen Kontextes geworden, desjenigen des Gedichts und erhält von daher seine Bedeutung. Das Wort wird auch Bestandteil des Idioms des Autors. Er setzt die individuelle Sinnhaftigkeit eines Wortes.18 Literaturwissenschaftler und Autoren die eigene oder fremde Literatur interpretieren, stoßen mit solchen Aussagen an die Grenze ihres Denkens. Etwas Richtiges wird umkreist (fast poetisch, möchte man sagen) doch immer nur mit den Mitteln der Sprache eingewoben. Das liegt an zwei Gründen: Diese Arbeiten kennen die Konzepte der kognitiven Grammatik nicht und sie ge18 Eine zutreffende Ableitung von Bollack: Man kann Zeilen (Wortkonfigurationen) nicht als Zitate herausnehmen und verallgemeinern.

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hen über die Tatsache hinweg, dass es viele »Niveaus« von Sprache gibt. Diese sind längst in den Arbeiten in der Entwicklung der Sprachfähigkeit der Kinder erforscht und nachgewiesen worden. Das Wort ist ein phonetisches (sprachliches) Produkt, das mit einer Namenrelation ein kognitives Element koppelt. Das Wort evoziert ein Bild, das ein Objekt, Subjekt, eine Interaktion enthält, die Umgebung dieses Elementes wie auch Aspekte seiner inneren Struktur (Lakoff u. Johnson 1999). Die Verkoppelung ist nur dann eindeutig, wenn das Wort in abstrakten oder generalisierten Sätzen gebraucht wird. Dies ist nicht nur in der Umgangssprache der Fall (um allgemein kommunikativ zu bleiben), sondern auch im Denken, sobald es die bildhafte Ebene verlässt, wobei dieses Denken als innerer Prozess wiederum auf eine sprachliche Kodierung angewiesen ist, um verallgemeinert und kommuniziert werden zu können. Die Worte sind auch nicht die ersten sprachlichen Gestalten des phonetischen Systems. Dessen Entwicklung zur sprachlichen Organisation mit eigens ausgebildeten Regeln durchläuft viele Stufen. Es wird angenommen, dass das sprachliche System sich mit leichter Verspätung zum kognitiven entwickelt, jedoch sich sehr früh mit körpergebundenen Tasterfahrungen und ersten kognitiven Gestalten verkoppelt, respektive deren Struktur übernimmt. Beide beziehen sich in der Erfahrung des Kindes zunächst auf Szenen als Ganzes. Das gilt zum Beispiel für die ersten signifikanten Lautgesten (z. B. der Ruf Mama oder eigenständig entwickelte Laute). Sie bezeichnen noch keineswegs differenzierte Elemente eines Wirklichkeitsausschnitts (Person, Dinge, Tätigkeit usw.) im Einzelnen. Ein generatives System semantischer Bezüge entsteht erst später (vgl. Schmid Noerr 2000). Die allerersten Produkte semantischer Art, die nach den phonetischen Lautgebilden auftauchen, sind Ein-Wort- und Zwei-Wort-Sätze. Die Ein-Wort-Sätze (Piaget u. Inhelder 1966) drücken Wünsche, Beobachtungen und Affekte aus. Die Beziehung zwischen diesem einen Wort und dem bezeichneten Sachverhalt sind individuell, teils durch Überausdehnung oder Schrumpfung gekennzeichnet. Das heißt, sie schließen vieles oder auch nur wenig ein.19 Die Zwei-Wort-Sätze 19 Die Forschungsergebnisse sind da noch nicht eindeutig.

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(Brown 1973) repräsentieren erste semantische Relationen, die den primären Konzepten der präverbal-kognitiven Konzepten entsprechen. Es sind dies: 1) agent action (Kuss der Mutter), 2) agent object (Ball werfen), 3) agent object action (Mama Puppe – das Kind will, dass Mama etwas mit der Puppe tun soll), 4) action locative (Stuhl sitzen), 5) entity attributive (großer Wagen), 6) demonstrative entity (that car), 7) recurrence (mehr Milch), 8) non-existence (keine Milch), 9) in relation (Vater in Wagen). Diese acht Beispiele nennen (Namenrelation) samt und sonders Einheiten der kognitiven Grammatik. Zwei-Wort-Sätze werden erst später (nach dem zweiten Lebensjahr) durch komplette kurze Sätze ohne Deklination und Konjugation abgelöst. Dann erst werden grammatikalische Strukturen angeeignet. Inwiefern sind Einund Zwei-Wort-Sätze des Kindes mit der Sprachstruktur eines Gedichts vergleichbar? Worte sind Namen für typische Grundstrukturen der kindlichen Erlebniswelt, die zunächst noch nicht den nichtbildhaften Grammatiken unterliegen (Werner u. Kaplan 1993). Die Worte werden vom Kind nicht primär kommunikativ benützt, sondern dienen dazu, mit der Nennung Errungenschaften der kognitiven Entwicklung zu verstärken. Sie bezeichnen und lokalisieren Situationen, Zustände und dazugehörige Affekte. Es ist eine auch nach »innen« gerichtete Sprache (Moser 1997). Diese stabilisiert die Kategorisierung der inneren und äußeren Welt (die zunächst in den bezeichneten Situationen noch nicht eindeutig geschieden sind). Die innere Seite der Sprache ist unmittelbare Nachfolgerin der senso motorischen Tastwelt des Kindes sowie auch der ersten Lautgestalten des phonetischen Systems. Die Worte sind zunächst Werkzeuge zusätzlicher Ordnungsprinzipien. Die Worte eines Gedichts haben eine ähnliche Funktion, natürlich differenzierter ausgebaut. Es ist dieser Zugang über das Wort in die individuelle kognitiv-affektive Mikrowelt des Gedichts, die von der Poesie benützt wird. Das Gedicht spielt sich im Untergehölz der kognitiven Grammatik ab, die sich, sofern man sie psychoanalytischem Usus folgend, im Vorbewussten lokalisieren lässt. Worte sind Lokalisierer. Die Namenrelation bleibt wie beim Kind idiomatisch und individuell, jedenfalls fern von einer generalisierten Bedeutung. Worte sind in dieser Phase der Entwicklung eng an einen PLACE

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gebunden, der alle sensuellen Informationen in kognitiven Räumen versammelt. Das Gedicht hat hier genau wie der Traum (zu Beginn) ein Positionsfeld. Dieses enthält in verdichteter Form affektive Information. Dabei bleibt das Gedicht möglichst dicht an diesem Positionsfeld. Gerade moderne Poesie ist sehr handlungsarm, entfaltet also Affektivität nicht in Bildern einer Interaktion (Moser 1997). »Worte« sind Namen für Elemente dieses Positionsfeldes und dessen Affekte. Worte machen über die Bilder Affekte tastbar und was tastbar ist, gibt Sicherheit. Worte und Wortkombination haben eine Auslösefunktion in Bezug auf die kognitiv-affektive Organisation. Worte bezeichnen nicht einfach Dinge oder Gefühle, sondern Attribute und Features von Dingen. Features, besonders die affektiven, werden von vielen Objekten geteilt. Darum kann jedes Wort auch Namen für etwas anderes sein. Mehrdeutig ist nicht das Wort, sondern die kognitiv-affektiv gegliederte Welt. Die starke Koppelung von kognitiver Entität, Affekten, phonetischen Lautgebilden und Worten setzt natürlich auch Restriktionen im Generierungsprozess eines Gedichts. Dieser kann – muss aber nicht – nicht wünschbare Affekte reaktivieren, die aus dem persönlichen Konflikt und Erlebensbereich des Autors stammen. Das Gedicht muss, soweit dies gelingt, so geführt werden, dass die Affekte nicht völlig zu Gefühlen entfaltet werden und ein Narrativ mit »persönlichem« Inhalt entsteht. An dieser Stelle kann der berechtigte Einwand kommen, dass ein Großteil der Poesie auch Gedankenlyrik ist und dass darin Worte anders gebraucht werden. Das trifft zu und hängt damit zusammen, dass sowohl die kognitive als auch die sprachliche Organisation sich in Stufen weiter entwickelt hat. Die erstere führt über die Ausbildung präoperationaler und konkret operationaler Modi zu den reversiblen formalen Operationen (Piaget 1947, 1950, 1962). Auf dieser Stufe ist das Denken von den Affekten abkoppelbar. Nicht restlos allerdings, denn es treten neue affektive Reaktionen auf, die aber nicht aus der Welt intersubjektiven (persönlichen) Beziehungen stammen. Zum Beispiel sind die mathematischen Systeme aller Art (Computersprachen, Gruppentheorien, dynamische Systeme, Chaostheorie u. a.) Erfindungen, die durch die Fähigkeiten formaler Operationen ermöglicht wurden.20 Affektlos ist die Bewegung in diesen operativen Räumen keineswegs. Es gibt Interesse, Neugier

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und auch Lust. Darüber kann man sich gut bei Hofstadter (1979, 1985) orientieren. Zum zweiten führt das phonetische System zu einer komplexen sprachlichen Organisation, die eigene Regeln ausgebildet hat (Semantik und Grammatik). Sie ermöglicht parallel zur kognitiven Organisation erweiterte Möglichkeiten des Denkens und der Darstellung innerer und äußerer Welt. Abstrahierungen und Generalisierungen sind jetzt im Unterschied zu den bildhaft konkreten Prozessen möglich. Abfolgen müssen nicht transduktiv, Schritt für Schritt (Piaget 1956) die Sprache prägen. Sie sind dadurch befreit vom Zwang des unmittelbar Präsentischen. Es entsteht ein Sprachraum eigener Art, dessen Grundsubstanz die erlernte Sprache ist. Die sprachliche Organisation lässt sich von der affektiven Regulierung kognitiver Prozesse ebenfalls weitgehend abkoppeln. Poesie im ausschließlich durch Sprache determinierten Raum ist anderer Art. Das Verbalisieren hat größere Freiheitsgrade. Es kann experimentiert werden. Sprachkompetenz löst Freude aus und ist von narzisstischen Affekten begleitet. Die Zuhörer und Leser erfasst Bewunderung mit neidischem Untergrund. Lautliche und sprachstrukturelle Ästhetik entwickelt sich, wird gepflegt und genossen. Poesie wird Sprachvirtuosität, das Sprechen des Textes zur beinahe unabdingbaren Pflicht. Im Grenzfall kann ein Zufallsgenerator, ein Poesie-Automat (Enzensberger 2000), Worte mischen. Eine Mikrowelt dieser Art liegt weit entfernt von der Wortbenützung Celans und vieler anderer neuerer Autoren. Die Anfälligkeit des Dichtens gegenüber Reaktivierung persönlicher Probleme ist in der Gedankenlyrik jedoch minim. Gedichte dieser Art können ihrer Affektarmut wegen leer wirken. Die Abkoppelung von der affektiven Regulierung eröffnet die Möglichkeit, Affekte zu imitieren, vorzutäuschen und romantisierend aufzubauschen. Diese »als ob« Affekte verhindern durch ihre Verbalisierung das Erleben direkter Affekte beim Autor wie beim Leser. Es entsteht ein Spiel absurder, bewusst gesteuerter Wortkombinationen, die Überraschung auslösen können. Nun sind wir beinahe in den Bereich der Pathaphysik geraten, 20 Diese Theorien dienen übrigens wie die Sprache der Kommunikation und der Deskription von Sachverhalten. Auch mathematische Beschreibungen psychischer Vorgänge sind möglich.

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zu einem Zweig besonderer Sprachkunst. Sie betreibt Exzentrik mit einer Ernsthaftigkeit, die zugleich Nichternsthaftigkeit ist (Jarry 1911) und die Autorengruppe (OULIPO). Pathaphysik ist bekanntermassen die Wissenschaft des Unsinns. Die Lust der Regellosigkeit im Sprachraum dominiert. Doch werden andersartige (unsinnige) Regeln gesetzt, um die Phantasie zu entfalten (z. B. Vermeidung eines Buchstabens bei Perec 1969). Denn, so lautet die Regel, ohne Grenzen läuft sich die Phantasie tot. Nun ist der Unsinn nach Ansicht von Zweifel (1998) nicht Selbstzweck, sondern ein Sprungbrett, um poetischen Mehrwert zu erzeugen. Doch wie ist dies zu verstehen? Ist dies eine Analogie zur »Schüttelbecher«-Methode, wie sie in der Traumdeutung gepflegt wurde? (Morgenthaler 1986). Rüttelt man einen Text (wie die Traumerzählung) schnell und immer wieder durcheinander, kann sich unerwartet eine bislang nicht bewusst gebliebene Struktur aus den Worten bilden. Hat sich dadurch die Mikrowelt des pathaphysischen Textes zurückverwandelt in den Bereich des affektivkognitiven »Untergehölzes«? Versteckt sich darin die Darstellung eines unbewussten Konfliktes? Oder einer philosophischen Idee? Beides ist dasselbe, würde ein echter Pathaphysiker sagen. Er enthebt sich der Sorge, eine Theorie bilden zu müssen.

■ 9. »SEIT LANGEM bestiegener Schlammkahn« (Celan) Bei der Lektüre literurwissenschaftlicher und philosophischer Texte über Celans Poesie fällt auf, dass psychologische Konzepte (über Affekte, über kognitive Prozesse und über frühere Stufen der Sprachpraxis) gemieden werden. Die Probleme des Verständnis des poetischen Prozesses werden durchaus getroffen, aber mehr geahnt als verstanden. Es entstehen dann theoretische Gebilde, die den Kern der Sache mit wunderschönen, silbrig glänzenden Sprachfäden einwickeln bis eine ästhetische Kugel durch die Seiten schwebt. Beim Leser findet sie großen Gefallen, weil sie die Schönheit des Gedichts »vermitteln«. Durch Schönheit affiziert zu sein, heißt noch nicht verstehen.

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Celans poetische Mikrowelten werden wie alle Gedichte in einem vorbewussten Zwischengrund generiert, den aufzuweisen ich in dieser Arbeit versucht habe. Celans Gedichte sind besonders bedeutungs- und affektintensiv, weil seine Gefühlswelt tief in die dichtende Welt eingreift. Dadurch kann ein Gedicht rückwirkend bedrohlich werden. Der Versuch auch, ungelöste und unlösbare Probleme, vergangene und gegenwärtige, in der poetischen Mikrowelt zu gestalten, bringt den Autor immer wieder in persönliche Gefährdung. Das Miterleben dieser Gestaltung, sein Versuch, intensiv affektive Prozesse in Bildern und Sprache zu fassen, berührt den Leser (eben nicht nur auf der Ebene der ästhetischen Schönheit). Wie ein Gedicht mit den selbst erweckten Affekten umgeht, wie ein Text durch Affekte und deren notwendigen Dämpfung bestimmt wird, soll nochmals an einer der poetischen Mirkowelten Celans erschlossen werden. Sie ist in ihrer Struktur zu einem bestimmten Zeitpunkt auch seine persönliche Welt, vielleicht auch die unsrige. (0) SEIT LANGEM bestiegener Schlammkahn (1) Ein abgesprungener Knopf tüftelt an jeder Ranunkel, (2) die Stunde, die Kröte, hebt ihre Welt aus den Angeln. (3) Wenn ich die Karrenspur fräße, wäre ich dabei. (Celan, GW II, S. 254)

(0) SEIT LANGEM bestiegener Schlammkahn Der Titel eines Gedichts ist immer ein verbales Label. Im vorliegenden Fall ist er mehr: ein Container, der bereits alles enthält, was im Folgenden erscheint. Der Schlammkahn koppelt zwei Bilder, Kahn und Schlamm. Der Kahn hat ein zentrales morphologisches Feature: er ist schwimmbar und somit ein Vehikel für eine Trajek-

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torie (für eine »Reise«, poetisch formuliert). Er trägt Leute und/ oder Lasten. Er kann etwas enthalten. Das macht ihn zum Container. Celan hätte hier Schlamm als Attribut dem Kahn anfügen können. Das tut er aber nicht. Schlamm ist ein unbestimmtes stoffartiges kognitives Element, feucht und wässrig, zumeist dunkel und undurchsichtig. Er ist gefährlich, weil man in ihm Versinken kann. Schlamm und Kahn sind somit zwei Container, der eine tragend, der andere verschlingend, die gleichgewichtig (und deshalb gekoppelt) das Gedicht eröffnen. Beide haben dasselbe Attribut: »SEIT LANGEM bestiegener«. Dieses Attribut führt in die Vergangenheit. Das Bild ist nicht präsentisch. »bestiegen« heißt: es ist jemand im Kahn. Es muss sich um einen, höchst wahrscheinlich menschlichen Prozessor handeln, der aber außrhalb der konkret geschilderten Szene bleibt. Es muss nicht ein bestimmter Prozessor sein, der dort seit langem drin sitzt, es könnte auch immer wieder ein anderer sein. Beide Varianten sind stark anonymisiert. Die Containerfunktion wird in ihrem Vollzug in die Vergangenheit verschoben. Die Großschreibung SEIT LANGEM potenziert den Vergangenheitsbezug. (1) Ein abgesprungener Knopf tüftelt an jeder Ranunkel,

Der Knopf, ein Dingobjekt, hat das Attribut »abgesprungen«. Diese Formulierung impliziert seine Trennung von einem Kleidungsstück, dies erneut in die Vergangenheit gesetzt. Ohne angenäht zu sein, hält er nichts zusammen. Seine Funktionalität ist verloren gegangen (eine instrumentelle Hilfsfunktion). Die Wechselwirkung »tüfteln« wird normalerweise von einem Personobjekt, von einem animierten Prozessor vollzogen. Der Knopf versucht, probiert aus, sucht eine Verbindung. Er exploriert Möglichkeiten. Ein Knopf kann dies, konkretistisch gedacht, nur physikalisch tun. Begleitende sensuelle und affektive Erlebnisse fehlen. Die Ranunkel ist eine Pflanze. Durch den Knopf widerfährt ihr etwas. Wäre die Pflanze ein Personobjekt, würde sie Träger eines Gefühls, somit ein Objekt sein. Als Pflanze ist sie teilanimiert, bedeutend menschenähnlicher als ein Knopf. Attribute besitzt die Ranunkel nicht. Wie im Fall des

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Eisvogels im Gedicht »STIMMEN« wissen wir nicht, was den Autor bewogen hat, Ranunkeln in diese Mikrowelt aufzunehmen. Auf welchen Features beruht die Wahl? Ranunkel ist ein Wiesen- und ein Unkraut, das sich besonders häufig an Wegrändern und in verlassenen Äckern findet. Ranunkeln überwuchern alles und sind in Gärten nicht auszurotten. Doch der Knopf ist in Wirklichkeit kein Bestäuber und Nektarsucher, der von Blüte zu Blüte hüpft. Die Ranunkel ist nicht allein: »an jeder Ranunkel« heißt es. Multiple Objekte meinen oft (im Traum) ein und nur ein bestimmtes. Es gibt nur eine Mutter und nicht viele für ein abgesprungenes Kind, das Verbundenheit herstellen möchte. Die Interaktion ist präsentisch, das Abspringen geschah früher. Wir stoßen hier auf das Phänomen der Affektdämpfung. In der präsentischen Situation werden Affekte aktualisiert, zu erlebten Gefühlen. Wie geschieht diese Dämpfung? Knopf wie Pflanze sind deanimierte Objekte. Sie besitzen keine Affektsysteme und tauschen keine Affekte aus. Tüfteln ist nicht lieblose, aber auch nicht affekterfüllte Begegnung. Der Knopf findet keinen Ort, an dem er sich niederlassen könnte. Er findet auch seine Funktion des Verknüpfens und Haltens von etwas nicht. Das Bild lässt die Gefühle und deren Gefährlichkeit erahnen. Die Absurdität des Bildes, das Nicht-Zusammenpassen von Prozessoren und Interaktion erzeugt beim Leser einen Überraschungseffekt, vielleicht zunächst auch eine Verwirrung, die uns an diesem Bild haften lassen, ohne zu erahnen, welche Affekte zu diesem Bild geführt haben. Bei genauem Überlegen kommt man auf die Spur. Es geht um das Beziehungsgefühl, das einmal verloren gegangen ist.21 Der Autor sucht einen Weg in diesem Poem, es erneut zu finden. Die Stärke der affektdämpfenden Mittel, die auftauchen, sprechen für die große Sensibilität Celans im Umgang mit diesem Gefühl, das einmal in Verlorenheit und Ungeborgenheit untergegangen sein muss. Gedichte sind ein geeigneter Weg, sich in eine problematische, ungelöste oder nicht lösbare Situation einzulassen und sich gleichzeitig vor der Intensität aktualisierter Gefühle zu schützen. Diese These, die im Traumgeschehen nachgewiesen wurde, scheint sich auch hier zu bestätigen: Schon der 21 Zur Definition, Herstellung und Sicherung dieses Beziehungsgefühls, siehe Moser und von Zeppelin 1996b.

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Titel enthält, wenn auch nicht in Form eines präsentischen Geschehens das Beziehungsthema: Beziehung in der Form des Aufgehobenseins. Der Kahn ist ein Container, der Sicherheit vor dem Wasser gibt. Der Container-Schlamm kann gefährlich verschlingen. Oft ist er ohne Grund, den man fassen und spüren könnte. Unbestimmt wie er ist als stoffartiges Gebilde, enthält er gleichzeitig ein lebenswichtiges Feature: die Feuchtigkeit. Trocknet der Schlamm aus, geht Leben verloren. Elemente können Features enthalten, die auch gegensätzlich sind. Celan ist ein Meister des Ertastens der Grenzen ertragbarer und unertragbarer Gefühle und ein Meister, die Mittel der kognitiven Grammatik auf vielfältige Weise zu benützen. Celans persönliche Geschichte könnte hier anschließen. Sie gehört jedoch nicht mehr zum Gedicht, obwohl sie in dieser Mikrowelt das vermittelt, das jeder Leser in den Bildern tastend durch die Worte erfährt, auslotet und ohne »es zu wissen« mit gedämpften Gefühlen mitvollzieht. Es folgt zwischen (1) und (2) ein größerer räumlicher Abstand. Ich nannte es räumliches Schweigen. Dieser Abstand dient der Zurücknahme der Affekte und der Neuorganisation des Geschehens. In der nächsten Situation (2) werden neue Elemente gesetzt, die unter anderen affektiven Bedingungen dieselbe Problematik neu gestalten. Im Traum unterliegt diese Neupositionierung einer emotionalen Sicherheitsregulierung. Es könnte sein, belegen oder gar beweisen lässt sich das in einem Gedicht nicht. (2) die Stunde, die Kröte, hebt ihre Welt aus den Angeln.

»die Stunde«, »die Kröte«, »ihre Welt« sind die neuen kognitiven Elemente. »ihre Welt« lässt offen, ob eine gemeinsame Welt oder je eine, der Stunde und der Kröte eigen, gemeint ist. Beiden aber ist die Interaktion »aus den Angeln heben« zugeschrieben. Sie wird von zwei Agenten getragen, die von der Alltagsbedeutung der Worte verschiedener nicht sein könnten.22 »Stunde« ist ein kognitives Element der Zeit und diese wiederum die eine Kategorie der Trajektorie. Die Zeiteinheit wird zu einem Agenten gemacht. Dieser hat keine rundum geschlossene Grenze, immerhin aber Anfang und Ende. Im Gedicht »STIMME« von Celan ist es eine Sekunde, die sirrt. Die Stunde hat ihre Welt, aber was ist die Welt einer Stun-

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de? Ist es alles, was in dieser Zeit überhaupt geschehen kann? Beschränkt sich das auf alle Ereignisse, die für das fiktive Ich des Gedichts relevant sind? Diese Welt entfaltet sich präsentisch nicht. Sie ist virtuell, sicher voller Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf phantasierte Vorgänge. Ich komme später auf weitere Aspekte dieser Wechselwirkung (unter Beibezug der Kröte) zu sprechen. Kröten sind erd- und wassergebunden. Sie überwintern in Erdlöchern und ziehen sich im Sommer immer wieder in ihr Quartier zurück. Die Trajektorien ihrer Welt verlaufen zu Teichen, Pfützen und stillen Gewässern. Auf dem Wege dorthin wird gepaart und im Wasser Laich abgelegt. Ich beschreibe damit einige morphologische Features der Kröte, die assoziativen aus der Welt Celans kenne ich nicht. Kröten sind giftig. Sie haben keine Feinde, mit Ausnahme der Krötenfliege, deren Maden sich einbohren und das Gehirn zerfressen.23 Die Kröte darf nicht austrocknen und muss deshalb eine gewisse Feuchtigkeit als Umgebung haben. Feuchtigkeit ist ein Feature von Schlamm und indirekt auch von Wasser. Es kommt vermutlich auch dem Schlammkahn zu, wird von Celan aber nicht in Form eines Attributs explizit genannt. Ohne Feuchtigkeit gibt es kein Überleben und keine Fortpflanzung. Das Erdloch ist Garant der Sicherheit. Kröten gähnen und niemand weiß, warum sie das so häufig tun. Organismus und Umwelt der Kröte sind genetisch genau (oder fast genau: Es gibt immerhin Krötenarten) angelegt, die Umwelt zugehörig abgezirkelt. Eine Kröte bleibt über Generationen bestimmten Teichen und Erdlöchern treu. Eine Änderung ihrer Trajektorien ist in den nächsten Jahrhunderten nicht in Sicht. Unser Wissen über Kröten hat zu dieser Auflistung von morphologischen Features geführt. Doch welche kommen der Kröte von Celan zu? Das bleibt wie immer für den Leser ein Rätsel. Auch für den Autor wird dies nur zum Teil bewusst zugänglich 22 Im vorliegenden Gedicht trifft die Parallelisierung die Interaktion, die Agenten sind verschieden. Manchmal kann es auch anders sein. Zum Beispiel werden in einem Gedicht von Naum (1998, S. 171) zwei parallele Interaktionen demselben Prozessor zugeschrieben: »… da flogen sie krächzend nach Süden ins Stromland / so aber nahm ich sie (krank und elend) auf der rechten Seite liegend / …« (Es sind Eltern). 23 Ob Celan das gewusst hat? War er nicht nur ein Pflanzen-, sondern auch ein Krötenkenner?

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sein. In gänzlich anderer Art weiß man weder Bescheid über die Kröte noch über die Stunde. Beide haben verschiedenartige Welten. Die Stunde eine virtuelle, die sich nicht in faktisches Erleben umsetzt, die Kröte eine durch Evolution festgelegte, die sich nur langfristig ändern wird. Die Interaktion »aus den Angeln heben« verleiht der Welt eine Passivität. Wäre sie ein Personprozessor, so müsste eine Objektgefühl (objectfeeling) angenommen werden. Die Wechselwirkung wird präsentisch geschildert, ist hingegen abstrakt und unbestimmt. Wo bleiben in dieser Beziehung von Kröte und Stunde deren Affekte? Autor und Leser schreiben einer Kröte zu mindest Motive zu, die er in sich affektiv mitvollziehen kann. Umgekehrt kann man sagen, wird die Kröte Trägerin von Projektionen des Menschen. Bei einer »Stunde« sind solche Zuschreibungen schwer nachzuvollziehen. Wenn eine Verankerung aufgelöst wird, induziert dies den Beginn einer Veränderung. Dies kann Etwas einzeln betreffen oder auch Alles. Schlimmstenfalls fällt die Welt wie eine Türe aus den Angeln und zerschmettert im Sturz auf den Boden. Steht an der Wurzel dieser Interaktion eine Größenphantasie, die prospektiv allen möglichen Ereignissen Platz lässt? Doch das Ich ist noch nicht dabei. Es versteckt sich in der Kröte und verliert sich unbestimmt in der Stunde. Die Unwirklichkeit einer Änderung verknüpft sich mit einer nicht fundierten Hoffnung. Aus der Psychologie der Affekte ist bekannt, dass Hoffnung jene Affekte, die mit Problemen verbunden sind (in diesem Fall mit dem Beziehungsgefühl) solange sie anhält, dämpft, wenn nicht aufhebt. (3) Wenn ich die Karrenspur fräße, wäre ich dabei.

Nach erneutem räumlichen Schweigen wird ein Subjektprozessor: »ich« eingeführt. Hier wird am direktesten eine Selbstkonfiguration des Autors sichtbar (Moser 1999). »Wäre ich dabei« impliziert möglich werdende, leider aber virtuell bleibende Selbstgefühle. »dabei« meint eine ersehnte Form des Seins (being). Eine Ichsetzung im Gedicht führt zu einer Verstärkung aller Affektintensitäten, sowohl der Zustands- wie auch der interaktionsverknüpften Affekte. In den Abschnitten (1) und (2), aber auch im Titel (0) versteckt sich das Selbstmodell »Ich« in der Szene selbst oder in ei-

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nem in der Vergangenheit liegendem Objektprozessor. Ein anderes Selbstmodell bleibt gänzlich außrhalb, im Autor der Mikrowelt selbst. Eine Zuschauerrolle gibt es im Unterschied zum Schlaftraum nicht. Das Ich liegt, poetisch ausgedrückt, im Schlamm, im Kahn, im Knopf, in den Ranunkeln, in der Stunde und in der Kröte. Dasselbe kann vom Partner des Beziehungsgefühls gesagt werden. Gedichte werden oft auch auf ein »du« zentriert oder auf ein »wir« gerichtet. Auch ein »es« findet sich häufig. Celan ist ein Meister der Zentrierung.24 Das »du« hat überdies den Vorteil, direkter beim Leser eine Affektinduktion oder eine empathische Reaktion auszulösen. Die angesprochenen Selbstgefühle variieren dabei und verlaufen in jeweils anderen mehr oder weniger direkten Bezugsfeldern. Mit der Zeile »wenn ich die Karrenspur fräße« wird eine Bedingung gesetzt, die, falls erfüllt und erfüllbar, zur Hebung der Welt aus den Angeln, auch für das Ich führen würde. Doch wenn das Ich auftaucht, würden die unmittelbaren Affekte beim Fressen der Karrenspur zum Erleben kommen. Zur Vermeidung derer übermässigen Intensität muss das Fressen virtuell werden. Der Inhalt der Bedingung ist aufschlussreich. Der Subjektprozessor der Wechselwirkung ist das Ich, das Objekt, die Karrenspur ist unbelebt. Das Fressen als Interaktion nur Möglichkeit. Die Spur ist eine Objekt gewordene Trajektorie. Sie ist nicht interpunktiert, sie hat somit weder Anfang noch Ende. Die Spur enthält Vergangenheit, insofern ein Karren diese Spur bewirkt hat (Karren kann als assoziatives Attribut der Spur mit Vergangenheitsbezug betrachtet werden). Solche Attribute weisen rückwärts, sie sind Hinweise auf Erinnerungen und nicht auf zukünftige Wechselwirkungen. Mit »Karren« ist wieder ein Container eingeführt. Die Interaktion »fressen« ist eine Wechselwirkung mit direktem oralen Körperkontakt, auf Seiten des Ich intentional, auf Seiten der Spur ausschließlich physikalisch. Durch das Fressen wird die Spur (der Vergangenheit) vom Ich in sich aufgenommen. Nur auf diesem Weg kann das Ich »dabei« sein. Eine Spur zu fressen, mag absurd erscheinen. Im konkretistischen Denken der kognitiven Grammatik 24 Ich erinnere an sein Gedicht Die Silbe Schmerz (GW I, S. 280) »Es gab sich Dir die Hand: / ein Du, todlos, / an dem alles Ich zu sich kam«.

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ist dies möglich, unauffällig und auch üblich. Eine interaktive Vernetzung von Subjektprozessor und unbelebtem kognitiven Objekt, insbesondere mit körperlichem Kontakt, weist in Träumen auf eine introjizierte Subjekt-Objekt-Beziehung hin (Moser u. von Zeppelin 1996a). Diese ist Ausdruck eines schwer lösbaren, affektiv schwer zugänglichen, abgekapselten Problems. Ich vermute, dass diese Annahme auch noch in Bezug auf die bewusstseinsnähere Form eines Gedichts getroffen werden kann. Mit dem Auftauchen des Ich in Abschnitt (3) findet sich die Spur einer Konstellation, deren Auflösung im Gedicht in doppelter Hinsicht nicht gelingt, einmal in dem Sinne, dass die Spur de facto nicht gefressen wird, zum zweiten weil, wäre das Ich dabei, es zunächst nur Anschluss an eine illusionäre Veränderung (die Welt aus den Angeln heben) gewänne. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es in einer Interaktion nur dann zur vollen Affektualisierung, zum vollen Erleben der Möglichkeiten einer Beziehung kommt, wenn die Beteiligten ein affektives System haben. Das ist bei einem unbelebten kognitiven Element (Karrenspur) nicht der Fall. Im Fressen ist ein Beziehungsgefühl wohl angedeutet dargestellt, jedoch lädiert, und auf Erinnerungen beschränkt. Die Container des Gedichts, die wir kennengelernt haben, Kahn, Schlamm, Karren deuten auf Verlust und Hoffnung hin, die beide gefährlich werden können. Es ist zum Schluss dieser Erörterungen unvermeidbar, dass die Assoziationen des Lesers von der Karrenspur zum Schlammkahn gehen. Sie haben dieselben assoziativen Features des Autors. Die Analyse der Mikrowelt eines Gedichts ist nicht dazu da, auf dem Weg einer nachfolgenden Interpretation die Geschichte und die innere Welt des Autors auszuschlachten. Weber (1998, S. 45) schildert in einem Nachwort zu Celan, warum er nach dessen Tod nicht mehr über die Gedichte Celans geschrieben hat. »Für mich war es Zeit – nachdem mir im langen Umgang mit Paul Celan beim Auslegen und kritischen Tüfteln eine Bemerkung des uns beiden wichtigen Paul Valéry mehr und mehr in die Quere gekommen war. Ich meine Valérys Bemerkung: »Un état bien dangereux: croire comprendre.« O ja, ein recht gefährlicher Zustand: zu verstehen glauben.

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Erstveröffentlichung in: Psyche – Z. Psychoanal. 56, 2002, 20-75. © Zürich, Ulrich Moser, Dezember 2000

■ Psychoanalytische »Essays«

■ Ulrich Moser

Bindungen, Beziehung und Dazugehören Von Wasseramseln, Kindern, Soldaten, Großvätern und alten Leuten

■ Eine Einleitung Es gibt viele Wege, einen wissenschaftlichen Text zu schreiben, erwartungsgemäß »genormte« und auch unerwartete. Das Thema kann bewusst vorgegeben oder aber, ähnlich wie in literarischen Texten, keineswegs angezielt sein, sondern überraschend aus einem vorbewussten Bereich erscheinen. Eine erste, stringente Methode der Gestaltung ist das Lesen und Verarbeiten wissenschaftlicher Texte und Protokolle, um diese zu systematisieren und gedanklich weiterzuführen. Klinisch arbeitende Therapeuten wiederum berichten über ihre Erfahrungen in »Krankengeschichten«, die gelegentlich bereits zu narrativen Novellen gestaltet werden (»wissenschaftliche Prosa«). Noch lockerer (unter Verletzung narrativer Muster) ist die vorliegende Arbeit geschrieben. Sie folgt der Einfallsmethode, die persönlich gefärbt in Facetten ein Thema mehrfach und immer wieder anders in Sprache formuliert. Alle Einfälle – so weiß man erst nachträglich – gehen auf ein Thema zurück, das den Autor vorbewusst und emotional beschäftigt hat. Die Gründe dessen mögen ihm selbst unklar sein. Ein linearer Ablauf des Narrativs ist nicht zu sehen. Die einzelnen Facetten sind in unserem Beispiel ganz verschiedenartig: die Erinnerung an eine Wasseramsel, eine Passage aus Cercas »Soldaten von Salamis«, Jugenderinnerungen an den Tod im spanischen Bürgerkrieg, zwei Besuche bei der kleinen Enkelin, ein Gedicht von Ungaretti, eine

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Episode aus der Kindheit Herta Müllers und nicht zuletzt der bewegende Bericht von Kertész über den Verlust seiner Frau. Gewisse Passagen sind vom Autor poetisch formuliert worden. Das müsste nicht zwingend so sein. Aber wie beim Entstehen eines Gedichts kommen die Einfälle so, wie sie kommen. Alle Facetten sind »Geschichten« an sich, unterschiedlich weit ausgesponnen. In einer früheren Arbeit (Moser 2000) habe ich gezeigt, wie ein Gedicht aus den vielen Erlebnissen visueller, akustischer und olfaktorischer Art durch den Ort zusammengebündelt wird (Val Ferret). Im Unterschied dazu wechseln in diesem Text die Orte und Plätze ständig. Die vernetzende Funktion ist nicht der Ort, sondern das Thema der beiden Gefühle. Es beginnt mit der Wasseramsel. Sie ist eines meiner Lieblingstiere. Auf einer Wanderung suchte ich nach ihr. Und so war das Thema »Beziehung« in dieser Episode bereits gegeben. Die vielen Facetten des Themas liegen gleichsam parallel. Für das Protokoll wie für die Mitteilung dieses Protokolls müssen sie in eine Reihenfolge gebracht werden. Diese widerspricht zum Teil der Gesamtstruktur des dem Aufbau eines Gedichtes gleichenden Textes. Zunächst weiß der Leser nicht, wie die Facetten zueinander stehen. Sie erfüllen wohl die schwächste Bedingung eines Narrativs, das Kriterium der Abhängigkeit der Glieder. Der Leser (und das gilt auch für den Autor) muss alle Teile in sich aufnehmen und bereithalten. Dramaturgisch kann in einem poetischen Text nicht mitgedacht werden. Es gibt keinen eindeutigen Ausgangspunkt, der uns hilft, »einen Erwartungshorizont auszubilden, [uns] Erfüllungs- und Verfehlungsbedingungen vorzustellen« (Boothe 1999). Die einzelnen Facetten werden in weiteren Stücken überdacht und ausgearbeitet. Die Ergebnisse sind nun bereits Bruchstücke zu einer Theorie dieser Gefühle, die zunächst die Einfälle in den unterschiedlichen Kontexten zentriert haben. Damit ist im Text der Boden einer narrativen Poesie verlassen worden. Das Nachdenken über etwas, kann aber nur fruchtbar sein, wenn es vom affektiven Erleben her bestimmt und durchdrungen bleibt. Zum impliziten Erleben von Szenen gesellt sich ein verstehendes Denken. Schließlich werden die Gedankengänge noch abstrakter. Die Facetten sind nun »Aspekte des Problems« des Beziehungsgefühls, der Zugehörigkeit, des Alleinseins, des Objektverlustes und des Schreibens.

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Auf abstrakterer Ebene des Bewusstseins wird nun ein vorbewusster Kern der ganzen Vernetzung deutlich: die Probleme der Beziehungen im Alter. Das Glossar, das man als Stilbruch oder fruchtbaren Sprung in eine intellektuelle Art der Kategorisierung erleben mag, verlässt die Ebene des Erlebens zugunsten der Theoriebildung. Die Ironie solcher Art der Transformation von implizitem zu explizitem Wissen schlägt sich im poetisch formulierten Kommentar des Autors (Abschnitt 18) nieder.

■ 1. »Die Wasseramsel ist ein vollendeter Tauchvogel mit Singvogelfüssen. Sie liebt klare Gebirgsbäche. Hurtig schnurrend fliegt sie über das Wasser dahin, um plötzlich in demselben zu verschwinden. Auch unter Wasser läuft sie gegen kräftige Strömung, wobei sie ihre Flügel mit zu Hilfe nimmt« (Fehringer 1926, S. 1). Wie jeder Vogel hat die Wasseramsel ihre eigene Welt. Diese ist durch Trajektorien strukturiert. Es gibt Verbindungen, Bewegungen, akustische Signale, Gesang, Orte, an denen Trajektorien haften, enden und beginnen. Diese Welt besteht zum Teil aus Gedächtnissen, zum Teil wird sie in der Umwelt immer wieder erst ausgefächert. Darüber hinaus gibt es Bindungen sozialer Art: in der Paarung, zur Brut und zu Artgenossen. Die Wasseramsel ist jedoch keine Schwarmkrähe. Auch auf der Ebene der Bindungen ist sie immer sich selbst. Man kann nicht sagen, wie dies in Bezug auf den Menschen zu formulieren beliebt ist, ihr Selbst sei eine notwendige Illusion, kreiert aus einem ganzen Kranz möglicher situationsgebundener Selbstmodelle. In beiden Bereichen des Ortes und der sozialen Bindung, gibt es ausgezeichnete Ordnungspunkte der Sicherheit. Da ich die Wasseramsel »liebe« bin ich zuzeiten sie selbst, in meiner Phantasie und in meinem Text. Ich spüre die kalte Strömung des Wassers an meinen gespreizten Krallenfüssen, doch weiß ich nicht recht, wie ich mich mit meinen Flügeln verhalten soll. Meine Haut ist ihr Gefieder. Auf dem Grund des Baches finde ich Insekten, Gefühle, Larven, Einfälle, gelegentlich einen ganzen Gedankenwurm. Schön ist das Auftauchen in den

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klaren Winterhimmel. Und obwohl gänzlich unbegabt, zirpe ich wie ein Zaunkönig. Jetzt haben wir beide Innenwelten, in deren Gefühlen und reflexiven Gedanken unser Erleben sich abbildet (eine weitere Ebene der Regulation). Schalte ich mein Wissen ein, dann hat die konkret reale Wasseramsel keine Innenwelt mit der Qualität der Erlebbarkeit. Mein Beziehungsgefühl zu ihr und mein Gefühl des Zugehörens zu dieser Welt sind einseitig und nur zur Lebendigkeit imaginiert. Um diese Gefühle zu verstehen, muss ich als Ich oder als Wasseramsel in andere Bäche tauchen, in die Innenwelten mir gleicher Wesen.

■ 2. Wenn die Schatten über den Ebro fallen verfärbt sich die Luft über den vielen Toten, die alle einen Namen, aber kein Leben hatten

■ 3. Kennen Sie Miralles, in Dijon? Er hat überlebt, hatte Frau und Tochter, was ihm blieb: die abgewetzten Hosen, Pantoffeln und das Altersheim. Der Ort: »am Ebro« ist genannt sie alle leben in seinen Erinnerungen doch nur, wie sie damals waren, bis sich mit seinem Tod auch ihre Spuren verloren haben werden.

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■ 4. Soldaten schreiben nicht. Die Innereien der Tatsachen gehen gleich in den Boden, lösen sich auf und werden nie nachträglich entschlüsselt wie die Knochen beim Öffnen der Gräber.

■ 5. Cercas hat ihn gefunden und besucht. Miralles: »Darf ich sie um einen Gefallen bitten?« »Bitten sie worum sie wollen«. Den Blick auf die Ampel gerichtet, sagt er: »Seit Jahren schon habe ich keinen Menschen mehr umarmt«. »Ich hörte Miralles’ Stock auf den Gehweg fallen, fühlte wie seine kräftigen Arme mich zerquetschen, während meine ihn kaum umfassten, und ich fühlte mich klein und zerbrechlich, ich roch Medizin und jahrelange Inhäuslichkeit und gekochtes Gemüse, vor allem aber roch ich das Alter, und ich wusste, dies war der niederträchtige, der erbärmliche Geruch der Helden«. (Cercas 2002, S. 217)

■ 6. Die kleine Fanni lässt sich nicht umarmen sie sagt kategorisch nein zu dem, was sie schon gerne hat doch nur bei ihren Eltern. Zum Abschied lacht sie unverschämt und lässt mit leeren Händen jenseits der Tür dich im Duft der Windelwelt der Töpfe und Tuben

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vielleicht – manchmal – des Artischockenbreis den sie besonders liebt

■ 7. »… wir kannten nichts außer Gefängnissen, waren nur in Gefängnissen heimisch. Wir fanden und erkannten einander, wie dies in Gefängnissen geschieht: unsere Beziehung war eine Gefängnis-Solidarität, ein aussichtsloses Aufeinanderangewiesensein … Aber das ist bloß Beschreibung, Formulierung, Deutung, und jede Deutung ist zwangsläufig auf eine dritte Dimension ausgerichtet: das unaussprechliche Geheimnis zwischen zwei Menschen, deren einzigartige, geschlossene Welt entzieht sich ihr. Mit einemmal werde ich mir bewusst, dass diese Welt nicht mehr existiert, dass ich nur noch Erinnerungen an sie habe. Und diese Erinnerungen sind meine Erinnerungen, keine zweite Dimension, kein Beweis vermag sie zu bekräftigen: vielleicht stimmt es gar nicht. Sie ist gegangen und hat den größten Teil meines Lebens mitgenommen – die Zeit, als mein Schaffen anfing und sich erfüllte und wir uns – in unserer unglücklichen Ehe – so innig liebten. Unsere Liebe war wie ein taubstummes Kind, das mit ausgebreiteten Armen und lachendem Gesicht dahinrennt, dessen Mund sich aber langsam zu einem Weinen verzieht, weil keiner es versteht und weil es kein Ziel sieht« (Kertész 1998, S. 126).

■ 8. »Wenn ich als Kind auf die Dorfstraße ging, fragten mich auf diesen 300 Metern Weg vom Haus bis zum Laden oder zu meiner Großmutter oder in die Kirche jedes Mal, nachdem ich gegrüßt hatte, die alten Leute: Wem gehörst du? Und ich antwortete prompt: Dem Gion Kathi und dem Müller Sepp. Das waren die Namen meiner Eltern. Damit waren die Be-

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sitzverhältnisse geklärt, die Fragenden wussten nun, wo sie mich hintun sollten, sie gingen zufrieden mit dieser Antwort weiter. So deutlich ausgesprochen, fing das Dazugehören an. Es gab das Dazugehören von ihnen aus und das mich dazu zählen von mir aus, also einen ordentlich geschlossenen Kreis« (Müller 2003, S. 65). »Di che reggimento siete, fratelli? Parola tremante nella notte« (Von welchem Regiment seid ihr, Brüder? Zitternd das Wort in der Nacht) (Ungaretti 1916/1961) »Auf dem Diwan des Großvaters wurde immer das neugeborene Kalb gelegt« (Müller 2003, S. 65). »Alles gehört dazu: der gelähmte Großvater, das Kalb und Herta, die Enkelin. Die Nähe der Zugehörigkeit im Duft dieses einen Zimmers. Sie erzeugt intensive Gefühle des Ekels und des Mitleids. Das Dazugehören überträgt sich auf das Kühehüten im weiten Tal.« Nimmt man das Dazugehören genau, meint Herta Müller, dann wird die Zugehörigkeit »zerfetzt«. Der Gang in das Fremdsein beginnt. Der Verlust des Dazugehörens macht es erst im Fremdsein bleibend erträglich. Doch das Kalb auf dem Diwan und die toten Brüder am Ebro liegen bleiern auf unseren Erinnerungen.

■ 9. Duft des Alters, der Windeln und der Gefängnisse. Geruch ist eines der tiefsten Erlebnisse einer Beziehung und eines Ortes,

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abstoßend, berührend, verbindend. Er bildet und grenzt den Umkreis der Nähe, der Beziehungswelt. In der Umarmung mischt sich Tasten und Riechen, du wirst in die Arme genommen an und in seiner Haut vielleicht auch gefangen. Ist es der erotische Duft des Körpers des Andern oder die gleiche Erfahrung, der Duft des Gefängnisses, den man nie verlieren wird?

■ 10. Miralles wird bald sterben. Von seinen Freunden, seiner Frau und seiner Tochter hat er längst Abschied nehmen müssen. Die Insassen des Altersheimes sind kaum geeignet, Träger einer innigen Beziehung zu werden. Bei vielen Menschen sind in einer solchen Situation Dinge und Objekte der Umgebung: Pflanzen, Töne, Farben, Umrisse, Tiere, Räume und die eigenen Kleider wenigstens in ein Gefühl verflochten, dass sie »dazugehören«, zur Welt, in der man zu leben hat. Aus der Schilderung von Cercas hat man den Eindruck, dass dies bei Miralles nicht so ist. Ein aktuelles Beziehungsgefühl lebt hingegen bei ihm intensiv in der Phantasie: Es verbindet ihn zum Beispiel mit Schwester Francesca. Miralles bittet einen fremden Menschen um eine Umarmung. Von diesem Wunsche berührt und überrascht, tut es Cercas. Ungeachtet des Geruchs, der niederträchtig Miralles mehr trifft, als die schwere Kriegsverwundung, die seinen Körper und sein Gesicht entstellt. Was macht es Miralles möglich, so offen diese Bitte auszusprechen? Seine Welt der Beziehung liegt brach, enthält aber eine potentielle Fruchtbarkeit. Das setzt die Fähigkeit alleine zu

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sein voraus, wahrscheinlich auch, als Fremder in einer Umgebung zu leben, zu der er sich nicht zugehörig fühlt. Dieses Beziehungsgefühl erlaubt es, ohne konkrete Beziehung zu leben und andererseits auch den Wunsch zu äußern, es in einer Umarmung nochmals sensuell zu erfahren. In der Vereinsamung des Alters (Vereinsamung ist nicht identisch mit Alleinsein) droht nicht nur der Verlust anderer, sondern auch das Bewusstwerden, dass man nicht länger Objekt von jemand anderem sein kann und damit Teil und Quelle des Beziehungsgefühls eines anderen Menschen wäre. Man wird nicht mehr gebraucht. Es gibt nicht einmal mehr einen begleitenden Berichterstatter des allmählichen Abganges und des Unterganges. Miralles hat eine Beziehung zu sich selbst bewahrt. Das geht nur über eine dauerhafte Verinnerlichung eines Beziehungsgefühls. Eine Beziehung zu sich selbst ist schwer in Worten zu beschreiben, zu was sie aber führt, sehr wohl. Sie lässt ihn sich selbst spüren, so wie er war und geworden ist. Soll man von einer »Akzeptanz« seiner selbst sprechen, die auch für die vielen Varianten des Selbst in früheren Beziehungen gilt? Das kann nur bewältigt werden, wenn auch die tiefe Scham, die mit diesen Erinnerungen an sich selbst verknüpft sein kann, ertragen wird. Denn eine solche Scham kann nicht mehr durch eine Veränderung seiner selbst aufgehoben werden. Ginge diese gute Beziehung zu sich selbst verloren, dann würde, wie bei einem Verlust des Objekts außen, auch im eigenen Inneren Leere entstehen. Ohne sich selbst zu erfahren, lebte man dahin.

■ 11. Kleine Kinder duften immer gut, verschieden zwar wie Blumen, dies auch mit vollen Windeln. Sie lassen sich fangen, lachen, verstecken widerspenstig ihr Gesicht, verführen mit Zuneigung und Nähe. Fanni versucht eine Beziehung, doch nur im Schutze ihrer Eltern

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und in deren Raum. Ort und Eltern gehören zusammen. Nein, sagt sie zum Abschied, wirft mich aus der Wohnung, um alsdann zu warten, bis ich, durch die Scheibe getrennt sehe, wie sie erneut angerannt kommt, triumphierend, lächelnd, gar nicht geneigt, dieses Abschiedsspiel so schnell zu beenden. Sie hat eine Beziehung zu mir, aber wie fühlt sie sich in dieser Szene? Hat sie dieses Gefühl auch, wenn ich nicht anwesend bin? Oder ist die Erinnerung nur als Auslöser präsent, wenn mein Kommen die Situation wiederholt? Sicherheit und Geborgenheit bleiben bei den Eltern, diesseits der Trennscheibe. Sie hat zwar eine Beziehung zu mir, diktiert aber das ganze Geschehen. Bei mir hält sie es offen, zur Umarmung nein zu sagen. Zu fragen wie Miralles? Nein. Hat sie die Gewissheit, sie jederzeit zu bekommen? Wie dufte ich für sie? Ist das Beziehungsgefühl nur konkret und situativ gebunden? Hat sie ein Bild von uns beiden, auch wenn ich nicht anwesend bin? Und ist dieses Bild schon von einem Gefühl der Gemeinsamkeit begleitet, das Träger unserer Beziehung ist, in mir und in ihr? Wie steht es mit mir? Verfalle ich der Verzauberung dieser ersten, duftenden Welt, die zur Poesie verleitet (Stern 1991)? Geht in diesem Augenblick mein Wunsch dahin, Mutter und Kind zugleich zu sein und den Artischockenbrei durch die Scheibe hindurch zu geben und zu nehmen? Fanni lebt in zwei Räumen, die noch nicht Innenräume sind. Im ersten zentriert sich alles auf direkte Nähe. Nähe ist mit Körperempfindung verknüpft. Darüber hinaus sind es Geruch und Stimme, die ein Gefühl der Beziehung geben. Das ist der Raum der Geborgenheit und des Trostes. Im zweiten Raum wird Sicherheit durch Distanz reguliert. Dort positioniert sich Fanni in Abhängigkeit einer erreichbaren Nähe zu Mutter/Vater. Dieser Raum erlaubt Entfernungen aus dem ersten. Das primäre Objekt des ersten Raumes muss in absehbarer Zeit erreichbar sein, in »intuitiver Zeit«. Sie ist definiert durch den Affektablauf, der ausgehalten werden kann, bis wieder ein rettendes Objekt erreicht wird. Dieser zweite Raum ist auch der Ort ihrer Beziehung zum Großvater. Die trennende Scheibe kommt ihr zu Hilfe. Ist Großvater auf derselben Seite der Scheibe, dann rennt sie davon und versteckt sich in der Wohnung. Um ganz sicher zu sein, muss dann auch noch der Vater mit in ihr Versteck. Es ist deutlich, dass ich ein Objekt des zweiten Raumes bin.

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■ 12. »Auf einmal wird mir bewusst, dass diese Welt [der Beziehung zu seiner Frau] nicht mehr existiert, dass ich nur noch Erinnerungen an sie habe« (Kertész 1998, S. 126). Zunächst nimmt der Tod des andern auch die eine Verankerung, die konkret gelebte, dieser Beziehung. »Eines Tages werde ich erkennen, dass dieser Tod auch der Anfang meines Todes war« (Kertész 1998, S. 124). Der Verlust führt zum Verlust des Beziehungsgefühls und schließlich zum Selbstverlust. Die Welt wird erblickt als ein Gefüge ohne das eigene Selbst. »Vielleicht stimmt es gar nicht, dass ich gelebt habe, vielleicht stimmt gar nichts« (Kertész 1998, S. 126). In diesem Zustand kennt sich das Ich selbst nicht mehr. Über die Erinnerungen an seine Frau merkt Kertész, dass die Beziehung zu ihr in einer bestimmten Weise der Verinnerlichung weiter lebt. Es ist dieses Gefühl der Beziehung, das so schwer zu beschreiben ist. Es ist kein Gefühl mit einer intentionalen Bezogenheit oder einem Ziel. Es ist einfach da und bildet eine geschlossene Welt, deren Inhalt ein Geheimnis der Beteiligten bleibt. »Diese Welt wird gelebt ohne ein Bedürfnis, sie zu reflektieren, denn dies würde zu einem leeren Gerede« (Kertész 1998, S. 126). Das Beziehungsgefühl ist ein affektiver Zustand, der Kertész erst durch den Verlust seiner Frau bewusst wird. Diese Welt entzieht sich einer Deutung. Beide Partner, heißt es, haben gewusst, dass ihre Beziehung vom Geruch der Gefängnisse durchzogen war, der an ihnen haften blieb wie der Geruch des Altersheimes an Miralles. Es war eine Art »aussichtsloses Aufeinander-Angewiesensein«, eine »Gefängnissolidarität«. Doch solche Umschreibungen brechen das Geheimnis nicht und erhellen es auch nicht, meint Kertész. Das Gefühl kann auch verträglich sein mit einer unglücklichen Ehe. Vieles kann zwischen den Partnern geschehen sein, wir erfahren nichts davon. Das Beziehungsgefühl ist primär und unabhängig von diesen Vorgängen da. Aus der gelebten Beziehung zu seiner Frau ist eine verinnerlichte Beziehung geworden, die ihn sich selbst zu tragen fähig macht. Dann wird die Leere eines Tages schwinden.

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■ 13. »Sie hatten einen Namen, aber kein Leben. Alle waren noch jung und alle sind umgekommen. Alle sind tot. Alle. Keiner von ihnen hat die schönen Seiten des Lebens kennen gelernt. Keiner hatte jemals eine Frau für sich allein, keiner hatte je das wunderbare Erlebnis, ein Kind zu haben, ein Kind, das mit drei oder vier Jahren zu ihm ins Bett gekrochen kommt und sich zwischen ihn und seine Frau kuschelt, an einem Sonntagmorgen, in einem Zimmer voller Sonne …« (Miralles in Cercas 2002, S. 212). Jeder trug etwas in sich und behielt es im Tod als Geheimnis. War es ein Gefühl, geliebt zu werden, ein Gefühl, sich selbst zu spüren? Haben sie aus der Kindheit das Gefühl, getragen zu werden mitgenommen? Haben sie die Gefühle gemeinsamen Entzükkens je mit jemandem geteilt? Wir wissen nichts, gar nichts. Wir sehen allenfalls in unserer Fantasie Schatten, doch, von wem sind sie geworfen worden? Sind in ihnen die Ängste der Trennung, die Gefühle des Verlustes, des eigenen Verschwindens in einer endlosen Leere durch den Tod ersetzt worden? Gleich wie Toddler, die alle dasselbe tun, gelegentlich auch in Streit geraten, sind sie in den Krieg gegangen. Ist die Stimme der Mutter, diese vokale Lokalisation des Zentrums des Kindes, übergegangen in die Trompetenstöße zum Angriff wie in einstigen Kriegen? Als Zentrierung auf etwas, was die Angst mildert? Was ist mit den Olivenbäumen, was mit der kargen Erde? Reichte die Todeszeit, um den Duft des Bodens zu riechen, sich in die Erde zu krallen? »Von welchem Regiment seid ihr Brüder?« Aus welcher Gegend, aus welchem Dorf kommt ihr? Das Gefühl der Zugehörigkeit hat Priorität. Diese Art der Verbundenheit übernimmt die Beziehungsgefühle im Einzelnen. Im Kampf hat das Beziehungsgefühl nichts zu suchen, sogar auch dann nicht, wenn es Kameraden verknüpft. Dazugehören ist auch der affektive Boden des Enthusiasmus. Auch jene, die in den Krieg gezwungen wurden, die Fremde bleiben, erliegen dem Sog der gemeinsamen Gefahr, der fertigen Tatsache des möglichen Todes. Sie können sich dem Gefühl des Dazugehörens zur kämpfenden Einheit nicht entziehen. Sich-Dazuzählen und Dazugezähltwerden, ist eine zweite Grunderfahrung der Bindung. Dazugehören gibt dem Kind seine erste

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Identität: eine Umgrenzung des affektiven Raumes. Beziehungsgefühl und Dazugehören sind im frühen Alter nicht getrennt. Es ist, um es in einem einzigen Gefühl zu verpacken, eine »togetherness«. Dazugehören gibt den ersten Regungen des Beziehungsgefühles den konkreten Rahmen. Ungewolltes Nichtdazugehören führt zu Identitätsverlust und wird als Ausstoßung erlebt. Im späteren Leben trennen sich die beiden Komponenten, die zusammen so etwas wie ein Urvertrauen (Erikson 1950) ausmachen. Dazugehören, Dazugezähltwerden gilt nicht einer einzelnen Person, sondern einer Gruppe, beim kleinen Kind einer Familie. Verbunden ist damit die Anhänglichkeit an einen Ort, an eine Landschaft, an eine Kultur. Auch die toten Soldaten, verscharrt oder begraben, mit einem Namen und einer Herkunftsbezeichnung versehen, bleiben zusammen. Freunde und Feinde allerdings zumeist an verschiedenen Orten, getrennt.

■ 14. Fanni ist ein Jahr älter geworden. Das Gefühl des Geliebtwerdens hat einen Riss bekommen. Ihre Mutter ist einige Tage zur Geburt einer Schwester im Spital geblieben. Fanni darf sie zunächst nicht besuchen, weil die Gefahr einer Epidemie im Spital besteht. Dann kommen die Mutter und die kleine Schwester nach Hause. Fanni wirkt verwirrt, wann immer die Mutter die neue Kleine stillt und pflegt. Sie weint ständig und beklagt sich bei der Mutter, sie liebe sie nicht. Sie rennt in ihr Zimmer und verkriecht sich in ihr Bett. Sie spricht nicht mit mir, doch gelingt es mir, sie für kurze Zeit in ein Spiel mit Bauklötzen zu verwickeln. Sie bricht dann aber plötzlich ab, lässt die Klötze liegen und rennt von mir weg zu ihrer Mutter. Dort hängt sie sich an deren Kleid, zerrt und zerrt und verlangt in die Arme genommen zu werden. Verlangen heißt in diesem Alter bereits auch schon Verwirklichung. Gelingt es ihr nicht, in die Höhe zu klettern, weil dort die kleine Schwester gestillt wird oder die Mutter kocht, dann gerät sie in Verzweiflung, schreit laut und verkriecht sich. Sie wird zum depressiven Kind. Der Wunsch, von der Mutter getragen zu werden, muss sich un-

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mittelbar und konkret erfüllen. Die Mutter muss ertastet und errochen werden. Fanni ist in dieser Situation sehr angriffig. Sie muss erleben, dass sie die Mutter wirksam zu etwas bewegen kann. Ihr Beziehungsgefühl muss konkret erfahren werden. Sie hat noch nicht die Fähigkeit des Objekts, sie zu tragen, verinnerlicht. Allein die Fanni zu sein und sich geliebt zu fühlen, geht noch nicht. Ist ihre Beziehung zu mir verschwunden? Sie beachtet mich nicht. Tragen darf ich sie schon gar nicht und Streicheln stößt auf ihr klares Nein. Der Duft der Windeln und ihr Schalk sind in weiter Ferne. Ersatz für die Mutter gibt es höchstens beim Vater, nicht aber bei mir. Ich gerate in Sorge. Offensichtlich erlebe ich, dass Fanni längst eine Stütze meines Beziehungsgefühls geworden ist. Es bleibt in mir die Hoffnung, dass sie nach Überwindung ihrer Krise wieder mit mir spielt. Denn das Spielen ist das Schreiben und Reden der Kinder.

■ 15. Verluste, das Alleinsein Drachen sind Wesen, denen immer wieder die Köpfe nachwachsen. Bäume schrumpfen und werfen jene Äste ab, die nicht mehr umarmen können. Doch ihr Duft bleibt in der wärmenden Sonne, während die Drachen Schwefel zischend stinken, sofern sie nicht, alle Bindungen ablehnend in der neunten Sphäre der Hölle Dantes im Eis begraben sind, völlig unfähig zu tasten, zu berühren, zu duften (Dante Alighieri, 32. und 33. Gesang, Göttliche Komödie). Beide haben wenigstens nicht das Ideal in sich, eine Maschine zu sein, autark, nur auf den Bereich ihrer selbst beschränkt, frei von Bewusstsein und unbewussten, drohenden oder heilenden Tiefen. Sie validieren und bestimmen sich ausschließlich durch ihre Funktionen und nicht durch Beziehungen. Anders ist es natürlich, wenn sie in die bedeutungsvollen Gestalten unserer Phantasie treten und sich in Märchen bewegen. Anders wäre es auch bei den Drachen und Bäumen, die plötzlich umarmen, duften, tasten würden und eine Innenwelt besäßen. Dann gäbe es bei ihnen alternde Exemplare mit einem Empfinden des Dazugehörens und einem Beziehungsgefühl. Was würde bei Ihnen ein Verlust eines Partners bewirken?

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Miralles, Kertész, Herta Müller, Fanni und die Toten vom Ebro sind weder Drachen noch Bäume. Auch das Kalb auf dem Diwan des Großvaters lebt und ist Objekt vieler Gefühle der jungen Herta. Miralles wird das Altersheim nicht wieder verlassen. Er muss sich selbst tragen. Er spürt sich Tag für Tag, definiert sich so, wie er ist, als Fremder in einer Umgebung, zu der er nicht gehört, die man ihm einfach zugewiesen hat. Primär auf diese Weise mit und in seiner Innenwelt zu leben ist nicht einfach. Die Verankerung im Anderen wird doch immer gesucht. Er kann nicht mehr, was ein Ausweg wäre, ein Anderer werden, wie das Kertész möglich war. Er hat auch nicht die Chancen eines kleinen Kindes, zu wachsen und eine spätere Innenwelt zu bilden. Seine Erinnerungen an die Toten vom Ebro, an Frau und Tochter haben die Qualität der lebhaften Präsenz, sie sind keine blumengeschmückten Gräber. Das Spüren seiner selbst produziert sie erneut. Es gibt viele geheimnisvolle Beziehungswelten wie Jahresringe der Bäume, aber auch wie Köpfe der Drachen. Keine Beziehung vergeht, wenn sie aufgenommen worden ist. Jede ist ein Kristall, der zum Wachstum einer neuen Beziehung werden kann. Der alte Miralles weiß aber, dass es keine neue konkrete Beziehung geben wird. In der Phantasie gibt es Schwester Francesca. Zu ihr führt ein kurzfristig geflochtener emotionaler Faden, von Wünschen umrankt, die gleichzeitig das Wissen des Nicht-Möglichen in sich tragen. Er würde sie gerne umarmen, einen Pasodoble tanzen, ihren Körper spüren, ihre Erotik, die vielleicht duften würde. Diese phantasierte Beziehung ist kein Surrogat und wir fragen uns, ob Phantasien konkret real sein können, ohne de facto zu bestehen und ohne halluzinativ erlebt zu werden. In einer solchen Beziehung fehlt dem Glück jede orgastisch überschwängliche Qualität. Das Glück ist gewissermaßen fein verteilt, still und immer da. Das Geheimnis bleibt einseitig gewahrt. Oder spürt sie es, weiß sie darum, behält es für sich, ohne darauf einzutreten? Schreiben wie Kertész kann Miralles nicht. Doch hat er es – nicht zuletzt mit seiner Umarmung – geschafft, im Buch von Cercas auch nach seinem eigenen Tod weiterhin lebendig zu sein. Denn Cercas kommt sein eigener Vater in den Sinn: »Da kam mir der Gedanke, dass nicht ich mich an meinen Vater erinnerte, son-

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dern dass er es war, der sich an meine Erinnerungen klammerte, um nicht endgültig zu sterben« (S. 198). Das »taubstumme, weinende Kind« von Kertész, diese nicht definierbare und schwer verstehbare Gemeinsamkeit dieser Beziehung hat sein Lachen im Schmerz verloren. Der eine Pfeiler des Beziehungsgefühls ist zusammengestürzt. Der Duft der gegenseitigen Verführung, längst durch die Gemeinsamkeit zur Gewohnheit geworden, ist weg. Vielleicht war der Geruch des Gefängnisses der beiden zu groß, Erotik durch tiefes Verständnis ersetzt. Das taubstumme Kind muss von Kertész in sich aufgenommen werden. Dann nimmt der Andere/die Andere Einzug in die Innenwelt und das Beziehungsgefühl führt zu einer Verstärkung der Beziehung zu sich selbst. Das gibt, mitsamt der Erinnerung die Kraft des Alleinseins. Ging in den konkreten, real gelebten Teilen der Beziehung (bei Fanni) der »Weg der Zauberkraft von der Berührung aus und drang durch die Haut ein, Brust an Brust, der Kopf des einen auf Schultern und Nacken des andern, floss die Beruhigung von der Oberfläche nach innen« (Stern 1991, S. 106), so kommt nach der Verinnerlichung des Tragens die Kraft der Ausgeglichenheit von innen nach außen. Sie schafft dann an der Grenze zur Umwelt die Zone des Brachliegens, von der Masud-Kahn (1977) geschrieben hat. Fruchtbar kann das Land allerdings nur werden, wenn das verinnerlichte Objekt (der/die Andere) ein gutes gewesen ist. Andernfalls dominieren Depression und/oder zerstörerische Zustände beim Kind wie beim Erwachsenen (Odier 1947; Quinodoz 1990; Moser 2001).

■ 16. Ich und der Andere oder Ich ein anderer? Wer ist dieser internalisierte Andere, der mithilft, »selbsttragend sich selbst zu sein«? Ist er ein purer Verstärker des Gefühls der guten Beziehung zu sich selbst oder ist er ein eigentlicher Doppelgänger, eine Art »idiom identitaire« (de M’Uzan 2003)? Gibt es dazu eine eigene innere Sprache zwischen den beiden, die nicht die Sprache ist, die in der Beziehung zum Objekt benützt wird? Es

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gibt ja eine nach »innen« gerichtete Sprache (Moser 1997), die unmittelbare Nachfolgerin der sensomotorischen Tastwelt des Kindes geworden ist. In diesen Innen-Sprachen sind die Worte Werkzeuge von Ordnungsprinzipien, die erst eine mentale Innenwelt strukturell erzeugen. Genaues Hinsehen, genaue Distanz ist nicht nur in Bezug auf eine äußere Beziehung und auf das Dazugehören notwendig. Sie werden auch zur Entwicklung einer eigenen Authentizität gebraucht. Dieser Prozess kommt dann zum Stoppen, wenn sich definitiv ein »falsches Selbst« gebildet hat. (Das falsche Selbst kann unaufhebbar werden und dann die Authentizität eines Menschen bilden.) So viele Ichs es in unterschiedlichen Beziehungswelten geben kann, so viele »Ich, ein anderer« formulierbar sind, allen Ichs samt ihren Identitäten kommt ein einheitlicher Kern zu, der Kern der Einzigartigkeit und der Eigentlichkeit. Der Kern wandert mit, wenn auch die Ichs immer wie bei Pessoa (1982) wandern. Fanni hat wie alle kleinen Kinder noch diese Authentizität. Dies wohl aus dem Grund, dass ihre Beziehungswelt noch eine einfache ist und Innenwelt und Außenwelt sich nicht getrennt haben. Was geschieht aber, wenn ihre Beziehungen Risse bekommen, wenn sie ein falsches Selbst auszubilden beginnt, in der Meinung, nur so geliebt zu werden? Wird sie zum Beispiel das Gefühl haben, ihre (heftigen) Affekte unterdrücken zu müssen und Feindseligkeiten in Zuneigung zu kleiden? Probleme dieser Art haben Kinder immer. An der Authentizität von Miralles und Kertész zweifeln wir nicht. Sie zeigt sich in der Akzeptanz der Einsamkeit und des Fremdseins, bei Miralles auch in der Art wie er seinem Tode entgegen geht.

■ 17. Das Schreiben Eine gute Beziehung zu sich selbst, getragen werden durch einen internalisierten Anderen, ermöglicht, neben der Fähigkeit, alleine zu sein, die Selbstveränderung, die notwendig ist, sofern eine neue reale Beziehung entstehen könnte. Man wird konkret ein Anderer. Eine zweite Möglichkeit, die man bei Kertész finden kann, ist das

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Schreiben. Er kann das, weil er offenbar die Begabung des Schreibens besitzt. Was diese ausmacht, möchte ich hier nicht erschließen. Der Schreiber setzt sich über einen Anderen, der er selber ist, in den Text, ohne dass er sich dort genau lokalisieren könnte. Es ist nicht so, dass der Schreiber im Text wie in einem Vexierbild zu finden ist. Er präsentiert sich auch nicht wie Hitchcock in einer kleinen Rolle in seinen Filmen. Er steckt irgendwo in einer »OpusPhantasie« (von Matt 1994), die ihn mit dem Text und mit den potentiellen Lesern verbindet. In diese Welt hat er sich externalisiert, ohne aber darin direkt zu leben. Die Beziehung bleibt geheimnisvoll. Wenn ich nochmals Herta Müller zitiere: »Die Innereien der Tatsachen werden in Worte verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort« (Müller 2003, S. 65). Im Umzug reist der Schreiber mit und wird, ebenfalls in die Worte verpackt, ein anderer, zu mindest für die Zeit des Schreibvorganges und konserviert im geschriebenen Text. Mit diesem virtuellen Anderen im Text haben sich viele Autoren und Theoretiker befasst. Es ist nicht unser Thema zu schildern, wie vielfältig und höchst persönlich (und authentisch) das jeweils geschieht. H. J. Frey (1998) meint, der Autor sei primär in den figürlichen Aspekten des Textes zu finden und nicht primär in den Inhalten. Dasselbe gilt auch für den Träumer im Schlaftraum (Morgenthaler 1986; Moser u. von Zeppelin 1996b). Der Leser, so Frey, kann diesen Anderen im Text auffinden, muss es aber nicht, denn der Text ist nicht auf die Explizitheit des Figürlichen angewiesen. Die erlebte Leere nach dem Verlust »entzieht der Wahrnehmung der Welt die alte Selbstverständlichkeit. Die Dinge werden in einem neuen Wahrnehmungsfeld gesehen und sprachlich geordnet, dies aber nicht auf Kosten der Wahrheit« (persönliche Mitteilung von Eleonore Frey, 2003). Das Schreiben wird als ein Weg berichtet (des interiorisierten Anderen). Das Ich des Anderen geht normalerweise nicht verloren und die emotionale Repräsentanz des Beziehungsgefühls bleibt auch ohne Präsenz eines konkreten realen Objekts einer Beziehung dauerhaft und gewiss. Dieser Weg, eine Trajektorie in einem fremden und gleichzeitig wohlbekannten Raum lässt sich vom Ich des Autors in Distanz be-

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schreiben. Simon (1970) zum Beispiel berichtet: »Der meine wendet sich hin und her, wie es ein Wanderer tun mag, der sich im Wald verirrt hat, umkehrend, wieder weitergehend, getäuscht (oder geleitet), durch die Ähnlichkeit bestimmter, jedoch ganz anderer Orte, die er wieder zu erkennen meint, oder im Gegenteil durch das jedes Mal andere Aussehen desselben Ortes, dabei seine eigenen Wege oftmals kreuzend, schon durchquerte Plätze wieder berührend … und es mag am Ende gar geschehen, dass am »Ende« man sich an demselben Ort wieder findet wie am »Anfang«. Der Gestalter des Textes, dieser Andere des Ichs bleibt von der affektiv belastenden Aufgabe der Regulierung einer de facto Beziehung abgekoppelt. Das schreibende Ich dosiert Schritt für Schritt den Anderen in Bezug auf die Intensität geschaffener Gefühle. Das ermöglicht es, nun inhaltlich über das Thema des Beziehungsgefühles nachzudenken. In der Poesie ist das besonders auffällig (s. Moser [1997, 2002] über die Thematik des Beziehungsgefühls bei Celan). In einem Text kann ein ganzes Netz von Beziehungswelten von Menschen, Tieren, Dingen und geistigen Objekten entstehen, zuweilen in einem Meisterwerk an Verschachtelungen. Orte enthalten Geschehnisse und in der selbstverständlichen Wahrnehmungswelt liegen plötzlich nicht entschlüsselte Geheimnisse. Man darf nicht den falschen Schluss ziehen, dass jeder Schreiber umgekehrt eine gute selbsttragende Funktion hat. Es war nur abzuleiten, dass jemand, der diese Fähigkeit hat, im Schreiben eine Form der »Externalisierung« des Anderen finden kann.

■ 18. Der Leerraum des Wissens wird in die Konzepte eingebrannt, wie der Text in die Ziegelsteine des Erlebens.

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■ 19. Ein Glossar Beziehungsgefühl bezeichnet eine affektive Bindung zu einem Objekt (zu einem Anderen). Es wird oft als Kind einer Partnerschaft erlebt und beschrieben (»ein taubstummes Kind«). Das Beziehungsgefühl kann als konkretes Erleben, als Hoffnung oder Erinnerung der Bindung zwischen Subjekt und Objekt erlebt werden. Internalisiert wird es zur emotionalen Repräsentanz der Bindung. Das Dazugehören ist ein Gefühl des Zuhauseseins, des Dazugezähltwerdens. Es ist sowohl raum-zeitlich wie auch an Personen in diesem Raum und in dieser Zeit gebunden. In ihm gründet die Identität, jene der Herkunft, der sozialen Gruppe, insbesondere der Familie. Beim kleinen Kind sind die beiden Gefühle nicht zu trennen, beim Erwachsenen sehr wohl. Mit »Liebe« wird oft beides oder eines der beiden Gefühle bezeichnet. Das Bild des Containment ist dieser frühen Phase adäquat. Das Beziehungsgefühl enthält subjektale und objektale Komponenten: subjektal das Gefühl, in einer Beziehung sich selbst zu sein, objektal das Gefühl geliebt und getragen zu werden. Dazu kommt ein Gefühl der Wirksamkeit, der Fähigkeit sich selbst und das Objekt (den Anderen) so zu »bewegen«, dass es sich spürt und dass es (er) spürt, dass es zum Sich-Spüren durch den Anderen gekommen ist. In früheren Formen (auf dem Niveau der Situationstheorie) ist die Anwesenheit eines Partners (oder eines Stellvertretenden) notwendig, um ein Beziehungsgefühl erleben zu können. Aus konkret realen Beziehungssituationen müssen unabdingbar affektive Rückmeldungen kommen. In späteren Formen kann sich das Beziehungsgefühl internalisieren. Es wird dann zur affektiven Invarianz der Beziehung. Die Verbundenheit wird als dauerhaft und gewiss gewahrt, unabhängig von der Präsenz des Objekts. Es bildet einen Beziehungsraum in der Innenwelt, der sich um die Beziehung herum entwickelt.

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Mit dem Beziehungsgefühl sind konkrete sensorische »Anker« verbunden: Attribute des Körpers des Anderen (Geruch, Berührung, visuelle Eindrücke), aber auch Dinge der Umwelt aus gemeinsamen Erlebnissen, die zu zentrierten Erinnerungen werden. Diese sensuellen Ereignisse sind von Bildern begleitet. Die Beziehungswelten legen sich wie Jahresringe der Bäume in die Entwicklung eines Subjekts. Es kann verschiedene Beziehungsgefühle im Laufe des Lebens geben. Erinnerungen an diese Räume sind affektiv eingeordnet, sie werden als zum Selbsterleben zugehörig betrachtet. Sie sind nicht mehr »verwahrloste, herrenlose, streunende Hunde, die schmerz- und schamerzeugend sind und unverdaulich bleiben« (Kertész 1998, S. 89)1. Das Beziehungsgefühl gibt die Basis für das reale interaktive Geschehen in einer Objektbeziehung. Es ist ein Zustandsgefühl (wie auch das Gefühl des Dazugehörens). Interaktives Geschehen hingegen ist von intentionalen Gefühlen begleitet. In der Internalisierung ist das Objekt sowohl das Objekt der Beziehung (in seiner subjektiven Eigenheit), wie auch ein Anderer. Dieser Andere wird neben dem Subjekt Träger des Getragenseins und der Verbundenheit. Das Objekt der Beziehung wie auch das Subjekt erhalten im Beziehungsgefühl die Qualität der beidseitigen Einzigartigkeit. Bei Verlust des Objekts (des Anderen) entsteht im Fall eines nicht internalisierten Beziehungsgefühls eine Depression mit Selbstverlust. Sicherheit und Selbstgewissheit gehen verloren. Ist das Beziehungsgefühl hingegen internalisiert, dann geht das Gefühl getragen zu werden (sentiment de portance) auf das Subjekt über. Das Alleinsein wird dann ertragen, wenn die Qualität des Tragens durch das Objekt auf das Selbst übergeht (autosustantion). Der Verlust erzeugt eine große Leere, aber auch das Gefühl des Brachliegens. Die Regulierung des Selbstgefühls bleibt intakt. 1 »du möchtest sie verscheuchen, aber sie weichen nicht, gierig lecken sie deine Hand, und hast du sie im Rücken, beißen sie zu …«.

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Das Gefühl des Dazugehörens und das Gefühl Dazugezähltwerden kann Beziehungsgefühle ersetzen. Identität tritt dann an Stelle von Beziehung. Die Zugehörigkeit zu Gruppen, zu sozialen Systemen, aber auch zu Dörfern, Landschaften, Nationalitäten, Vereinen, und so weiter erzeugen dann allein und ausschließlich das Gefühl der Sicherheit. Man ist nicht getragen, aber aufgehoben. Es gibt Kulturen, die in der Erziehung der Kinder ausgehend von der Entwicklungsstufe der Situationstheorie das Gefühl des Dazugehörens zur Leitlinie machen. Ausstoßung heißt dann Vernichtung des Selbstgefühls. Beziehungsgefühle sind hinderlich. Für viele Konzepte hat die französische Sprache bessere Worte: »sentiment de portance«, »sentiment d’être soi-même«, »intériorisation de la qualité de l’objet«, »autosustantion«, »solitude apprivoisée« (siehe Quinodoz 1990).

■ 20. Umarmungen (ein kleiner Anhang und Exkurs) Eine Bindung drückt sich, nach Stern (1991) am ursprünglichsten in einer Berührung aus. Soziale Umarmungen, Konventionen der Begrüssung und des Abschieds, oft begleitet von rituellem Lächeln und Küssen, dringen nicht in uns ein und lösen auch keine Beziehungsgefühle aus. Sie enden nie im Gefühl unauflöslicher gegenseitiger Gemeinsamkeit und auch nie in einer besitzergreifenden Umklammerung. Soziale Umarmung täuscht vor und meint zumeist nur Indikation einer Zugehörigkeit. Sie vertuscht oft Abneigung, ja hintergründige Aggression. Es ist auch möglich, dass sie benutzt wird, um im Schutz der Ritualität Zuneigung geheim mitzuteilen, zumindest den Wunsch dazu, dann, wenn man sich nicht getraut oder vermag, diesen Wunsch offen zu zeigen. Die Nähe des Anderen in der Umarmung zu spüren und ihm das Gefallen an dieser Nähe mitzuteilen, kann verschiedene Qualitäten annehmen, das heißt sich unterschiedlich aktualisieren. Mo-

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ser und von Zeppelin (1996a) haben drei Aspekte einer Relation zum Objekt unterschieden: eine objektale, eine narzisstisch funktionale und eine resonante. In konkreten Situationen mag die eine oder andere dieser Formen dominieren. Alle drei können sich aber auch mischen. Gestört wäre ein die Objektbeziehung begleitendes Beziehungsgefühl dann, wenn es nur gerade und immer eine dieser Formen annähme oder annehmen könnte. Wie sehen Umarmungen, eingebettet in diese Objektrelationen, aus? Lässt sich dies beschreiben? Es soll versucht werden. Eine Videountersuchung zur genauen Analyse fehlt mir allerdings (insofern sind die Erörterungen dieses Anhangs teilweise zum Scheitern verurteilt. Sie schildern die inneren psychologischen Prozesse, nicht aber die körperlichen Manifestationen). In der resonanten Umarmung beruht das Gefühl des Geliebtwerdens und der Sicherheit auf der Gleichheit und Gleichzeitigkeit der erlebten Gefühle. Differenzen, Unterschiede werden ausgeschaltet. Resonanz wird oft geschildert als ein Gefühl der Verschmelzung in eine Einheitlichkeit. Attribute des Partners, die nicht identisch mit den eigenen gewünschten übereinstimmen werden ignoriert. In der narzisstisch-funktionalen Umarmung ergänzt der Andere das eigene Selbst. Ersehnte Attribute des Andern werden zur eigenen Erweiterung vom Anderen übernommen. Die Umarmung hat Qualitäten der Umklammerung, des Festhaltens, des Über-denAnderen-bestimmen-Könnens. Im Extrem wird der Andere zum Besitz. Schwierig würde es, wenn trotz Umarmung der Impuls käme, das, was man als Ergänzung und Delegation zur Verfügung bekommt, dem anderen gleich wegzunehmen. Eine objektale Umarmung enthält ein Gefühl des gegenseitigen Getragenwerdens. Jeder verankert sich im Anderen, bleibt aber sich selbst, so wie er sich definiert. Die Wünsche beider müssen nicht identisch sein. Objektales Beziehungsgefühl ist trotz Eigendefinition (die Authentizität gewährt) Austausch und Veränderung. Geliebt wird die Andersartigkeit des Anderen, die Fremdheit des Anderen kann Bereicherung und Entdeckung sein.

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■ Literatur Boothe, B. (1999): Vom Verlassen des Elternhauses. Die Dramaturgie der Trennung in literaturwissenschaftlicher Perspektive (Buchbesprechung: P. v. Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München, 1995). Psychother. Sozialwiss. 1: 162-168. Cercas, J. (2002): Soldaten von Salamis. Berlin. de M’Uzan, M. (2003): Die Identität und die Frage des Doppelgängers. Z. psychoanal. Theorie u. Praxis 18: 87-105. Erikson, E. H. (1950): Childhood and Society. New York. Fehringer, O. (1926):Die Vögel Mitteleuropas II: Raben-, Raub- und Hühnervögel. Heidelberg. Frey, E. (2003): Persönliche Mitteilung. Frey, H.-J. (1998): Lesen und Schreiben. Basel. Kahn, M. R. M. (1977): On lying fallow. In: Kahn, M. R. M.: Hidden Selves. London, 1989, S. 183-188. Kertécz, I. (1998): Ich, ein anderer. Berlin. Klein, M. (1963): On the sense of loneliness. In: Klein, M.: Our Adult World and Other Essays. New York. Matt, P. v. (1994): Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München. Morgenthaler, F. (1986): Der Traum. Frankfurt a. M. Moser, U. (1997): »Wunderangstmacht« und »Abschiedsgrat«. Lyrische Mikrowelten. Psyche – Z. Psychoanal. 51: 739-762. (auch in diesem Band) Moser, U. (2000): Heftklammern und schwarze Kühe. Zu Poesie und Traum. Psyche – Z. Psychoanal. 54: 28-49. (auch in diesem Band) Moser, U. (2001): »What is a Bongaloo, Daddy?« Übertragung, Gegenübertragung, therapeutische Situation. Allgemein und am Beispiel »früher Störungen«. Psyche – Z. Psychoanal. 55: 97-136. (auch in diesem Band) Moser, U. (2002): Traum, Poesie und kognitive Grammatik. Psyche – Z. Psychoanal. 56: 20-75. (auch in diesem Band) Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996a): Die Entwicklung des Affektsystems. Psyche – Z. Psychoanal. 50: 32-84. (auch in diesem Band) Moser, U.; Zeppelin, I. v. (1996b): Der geträumte Traum. Stuttgart. Müller, H. (2003): Wie kommt man durch das Schlüsselloch. Die genaue Liebe, die Zugehörigkeit und der Diwan im Zimmer des Großvaters. Neue Zürcher Zeitung, Nr. 224: 65. Odier, C. (1947): L’angoisse et la pensée magique. Neuchâtel Pessoa, F. (1982): Das Buch der Unruhe. Zürich. Quinodoz, J. M. (1990): La solitude apprivoisée. Paris. Simon, C. (1970): Orion aveugle. Paris. Stern, D. N. (1991): Tagebuch eines Babys. München. Ungaretti, G. (1916): Gedichte. Frankfurt a. M. © Ulrich Moser, 2003. – Erstmalig in diesem Band veröffentlicht.

■ Ulrich Moser

Die Geschichte einer »Deckerinnerung«

■ 1. Prolog: Die Bäume vor meinem Fenster und ein Einfall dazu Unlängst vor meinem Fenster es kann gestern oder morgen sein vielleicht auch heute immer verfängt sich mein Blick in den Bäumen wenn ich zu schreiben versuche ein altes Nest, längst vom Raben geplündert mein Lieblingsbaum stirbt langsam vor sich hin. Die Zapfen werden immer kleiner und weniger die Bäume verbergen das Geheimnis eines alten Hauses efeuumrankt in Wülsten ersticken die Stämme Mistelkröpfe Narben abgeschnittener Äste Es war meine Aufgabe, beim Holzen im Walde Zapfen zu sammeln. Kostbar waren sie, Großmutter scheute sich nicht, einen vereinzelten Zapfen in ihre Handtasche zu stopfen. In dieser Tasche

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waren die von mir begehrten Malzzucker, klebrig mit dem Harz der Zapfen vermischt. Die Zucker gab sie mir freigiebig vor allem dann, wenn ich auf Spaziergängen nicht mehr laufen wollte.

■ 2. Eine Erinnerung taucht auf Wiederum sitze ich eines Tages am Schreibtisch und blicke in die Bäume. Was ich wahrnehme, verwandelt sich in ein Bild, das man eine Erinnerung nennen kann. Es könnte auch ein Traumbild sein, das in seiner Struktur an den Traum mit den Wölfen des Wolfsmannes erinnert (Freud 1918). Alte Weiblein vor einem Krematorium, eine Garde vergessener Gestalten. Klein, schwarz und abgehärmt stehen sie, regungslos. Unter ihren Röcken tragen sie die dicken Strümpfe armer Menschen jener Zeit. Manche haben Kröpfe, andere Narben am Hals, wie halbgeköpfte. Alle halten ihre Taschen leicht nach vorne gedreht. Diese Taschen – alle gleich und alle doch wieder anders – lebenslange Taschen. Großmütter ohne Taschen, das ist undenkbar. Wird, so geht mir durch den Kopf, meine Großmutter mitsamt ihrer Tasche begraben? Man fand damals, es sei nicht gut für mich, die tote Großmutter im Sarg zu sehen. Doch dieser Einfall kam erst viel später. Zunächst stand das Bild vor mir, die Frauen in einer Reihe, meine erste Gedankensperre, dahinter die zweite Sperre: die Front der Abdankungskapelle, das geheimnisvolle Haus, in dem die Toten liegen. Zwei bildhafte Sperren, die sich immer wieder aufdrängen. Die Bäume vor meinem Fenster wurden zu den schwarzen Großmüttern, das Efeu zu den lottrigen Strümpfen, die Mistel zu den Kröpfen, das alte Nest zur Handtasche. Das Haus dahinter mit den Bewohnern, die ich nicht kenne, zur Fassade des tempelartigen Abdankungsgebäudes. Beide Bilder: die Wahrnehmung der Bäume und des Hauses,

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der aufgereihten schwarzen Frauen und der Fassade bleiben über viele Tage. Sie repräsentieren offenbar meine Einfallssperre. Warum aber erscheint gerade diese und nicht eine andere Erinnerung? Ist der Inhalt von Bedeutung oder sind es eher die formalen Qualitäten? Zum Beispiel die Unbeweglichkeit? Das Fehlen von weiterführenden Assoziationen?

■ 3. Was ist eine Deckerinnerung? Es gibt viele Definitionen und Umschreibungen von Deckerinnerung (Freud 1899a; Abraham 1913; Freud 1914; Fenichel 1927; Glover 1927; Greenacre 1949; Kennedy 1950; Rycroft 1951; Reider 1953; Laplanche u. Pontalis 1967; Rycroft 1968a, b; Horowitz 1970; Mahno u. Battin 1981, 1983; Groen-Prakken 1984; Battin u. Mahon 2003; Hock 2003, u. a.). Die beste Definition des Konzepts findet sich meiner Ansicht nach im »Critical Dictionary of Psychoanalysis« von Rycroft (1968b): »A childhood memory which is in itself trivial but which can be treated as a dream, interpretation of its manifest content revealing a significant latent content. Its aptness for symbolizing the patient’s childhood situation is presumably responsible for it having been remembered and for it recurring sufficient frequently in the patient’s free associations to attract attention« (S. 148).

Laplanche und Pontalis betonen die ungewöhnliche Schärfe des Bildes und die scheinbare Unbedeutsamkeit des Inhalts. Rycrofts Vergleich mit dem Traum gilt nur bedingt. Er ist zutreffend für jene Traumsituationen oder jene Träume, die nur aus Situationen bestehen, die lediglich Positionsfelder enthalten (Moser u. von Zeppelin 1996). In diesen Feldern finden sich ausschließlich räumliche Relationen zwischen den positionierten Elementen (Personen, Fabelwesen, Tiere, Dinge usw.). Es sind dies zum Beispiel Nähe, Ferne, vertikale Abstände (oben, unten) Einschließungen (innen, außen), und andere. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist das Fehlen aller Interaktivität und von Trajektorien, die örtliche Verschiebungen von Elementen anzeigen und auch eine Zeitlichkeit in sich tragen, ohne

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aber interaktiv zu sein. Die scheinbare Unbedeutsamkeit hat hier ihren Ursprung, die Bedeutung der Erinnerung wie auch ihre Funktion im Hier und Jetzt des Auftauchens ist nicht offen gelegt. Alles steht still: Die Erinnerung hat keine Geschichte, sie ist auch kein Narrativ. Hock (2003) hat in seiner Arbeit das Konzept der Deckerinnerung bei Freud und Freuds Beispiele dazu analysiert. Diese Beispiele enthalten durchaus Erinnerungen mit narrativem Charakter (s. z. B. Freuds Kindheitserinnerung in Freud 1899, S. 540f.). Dazu ist zu sagen, dass jede Erinnerung die Funktion haben kann, eine andere, zeitlich vorangehende oder nachfolgende traumatische Erinnerung abzuwehren und sie in einer harmloseren Form doch auch mitzuteilen. Ich möchte das Konzept einschränken: Deckerinnerung ist eine Erinnerung, die lediglich positionierte Elemente und keine Interaktivitäten und Trajektorien enthält. Sie ist, um auf das wichtigste Kriterium zu kommen, frei von aktualisierten, erlebten Affekten. Dennoch sind in ihr Affekte gespeichert. Das stillstehende Bild enthält intrinsische Zustandsaffekte, die allen Elementen insgesamt eigen sind, hingegen keine Interaktivitäten (Wechselwirkungen) und begleitende intentionale Gefühle. So gesehen gleichen sie nicht narrativ entwickelten, im Positionsfeld stecken gebliebenen Träumen. Es sind Erinnerungen, die nur gerade so und nicht anders bewusst werden können. Ihre Funktion ist wohl die, (das ist bekannt) unangenehme Affekte, die mit Themen ähnlicher Art verknüpft sind, zu vermeiden. Der Blick auf die Bäume, so wäre noch nachzutragen, löst jedes Mal eine meditative Pause aus. Sie befreit das Denken, insbesondere das zielgerichtete, sie stoppt krampfhaftes Überlegen, leert den Kopf und erzeugt eine gefühlsmäßige Gestimmtheit der Ruhe. Die Erinnerung an die Friedhofszene schiebt sich nun in diesen Zustand ein, ersetzt die Bäume, bleibt in meinem Kopf sitzen, ohne aber weitere Ideen auszulösen. Die Wahrnehmung ist in die Deckerinnerung übergegangen. Sie hätte auch nachts einen Traum auslösen können. Vielleicht geschah das wirklich. Diese Träume, die weitergeholfen hätten, blieben vergessen. Die Szene kam unwillentlich ins Bewusstsein (das unterscheidet sie von einem meditativen Objekt, das Partner des eigenen meditativen Zustandes ist).

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Das Bild wird betrachtet, und ist nur insofern gegenwärtig geworden. Die Barriere bleibt vorerst bestehen. Proust (1989) beschreibt in »A la recherche du temps perdu IV« eine Art unwillentliche Erinnerung, die sich in das Erleben eindrängt, sodass Vergangenes, Abwesendes sich mit der anwesenden Gegenwart vermischt. Nur die sinnliche Präsenz kann das haben, was gegenwärtig ist. Das Abwesende gehört in den Raum der Imagination. Die Zeiten verwischen. »Aber wenn man ein vormals vernommenes Geräusch, einen vormals eingeatmeten Geruch von neuem vernimmt oder einatmet, in der Gegenwart und in der Vergangenheit zugleich, sodass sie real sind, ohne aktuell zu sein, und ideal ohne abstrakt zu sein, so wird sogleich das dauerhafte und für gewöhnlich verborgene Wesen der Dinge freigesetzt« (Proust 1989; deutsche Übersetzung in Frey 1998). Frey (1998) spricht von einer Desorientierung der Zeit, die zu einer lebendigen Erfahrung führt. Und, nach Proust, auch zum Schreiben. Bei einer Deckerinnerung ist das gerade nicht der Fall. Der Erinnerer bleibt ein Besucher, die Erinnerung ist zwar unwillentlich, aber sie findet den Zugang zur Gegenwart nicht, und es fehlt auch der Transfer, die Verlebendigung der in der Erinnerung steckenden Gefühle mit der Jetztzeit. Darum bleibt eine Deckerinnerung zunächst unkreativ und wird als Stillstand empfunden, der in die Vergangenheit verlegt worden ist. Die Erinnerung gleicht jetzt einem beschriebenen Blatt mit unerwünschtem Text, wie ein gemaltes Bild. Ihr Erscheinen hilft mir nicht, meinen erhofften Text auf das vor mir liegende unbeschriebene Blatt zu setzen. Im vorliegenden Fall stimmt das jedoch nicht ganz. Die Bäume sind in die Frauen, das Haus in die Mauer der Abdankungskapelle transformiert worden. In den Elementen der Wahrnehmung und in jenen der Erinnerung stecken dieselben kognitiven Features. Es ist aber nicht zu einer affektiv erlebbaren Resonanz von Affekten (parallel zu den Transformationen) gekommen.

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■ 4. Die kognitiv affektive Struktur Nennen wir die gesamte Deckerinnerung »Großmütter vor Wand und Eingang der Abdankungshalle«. Es lassen sich deutlich zwei Schichten unterscheiden: Die erste Schicht, die »Großmütter« besteht aus einer Reihe von Personen. Diese sind Träger deutlich abgehobener Attribute: Handtaschen, Kröpfe, Narben am Hals, Hüte, Strümpfe und andere mehr. Meine Großmutter selbst ist nicht sichtbar. Über die Gesamtszene »Beerdigung« ist sie assoziativ mit den Frauen verbunden. De facto, so kann man annehmen, liegt sie irgendwo im der Halle. Die zweite Schicht der Erinnerung wird im folgenden »Wand mit Tor« genannt. Zu dieser Schicht gehört auch eine nicht lesbare Überschrift, wie sie sich bei einem Tempel finden könnte. Die Wand hat ein »Dahinter« (ein Gebäude). Alle kognitiven Elemente dieser Schicht sind deanimiert und rein figural. Beide Schichten sind vernetzt über das bereits genannte Frame1 »Beerdigung«. Jedes kognitive Element ist mit andern Elementen verbunden (Westen u. Gabbard 2002a, b; Gabbard u. Westen 2003), und zwar in zwei unterschiedlichen Netzwerken. Das erste besteht aus rein assoziativen Verknüpfungen, das zweite aus Konnektionen, die aus Wechselwirkungen bestehen. Diese wiederum können potentiell sein oder bereits aus interaktiven Einwirkungen bestehen (diese Möglichkeiten entsprechen in der Traumtheorie von Moser und von Zeppelin (1996) dem Positionsfeld, respektive dem Interaktionsfeld des Traums). Transformationen des Elementes in ein anderes sind nur im zweiten Netzwerk möglich (Moser 2002; Moser u. von Zeppelin 2004). Assoziationen hingegen sind Verbindungen, die in andere Wechselwirkungsnetze führen. Sie können neue Transformationsbereiche aktualisieren. Dies heißt noch nicht, dass dort auch Transformationen tatsächlich stattfinden. Eine Aktualisierung bedeutet noch nicht eine Instantiierung in einer Mikrowelt, die für Veränderungen geschaffen worden ist. Die Glieder einer Assoziationskette können drei Formen annehmen: nur kognitiv, kognitiv mit einem Affekt verbunden, rein affektiv (z. B. eine mo1 Gemäß dem Konzept von Minsky (1985).

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mentan auftauchende Gestimmtheit). Sind affektive Anteile in der Assoziationskette enthalten, dann beruhen sie auf reverberativen Prozessen (Gefühlsansteckung). Assoziative Prozesse können ferner der »Entleerung« oder der »Anreicherung« einer Mikrowelt dienen. Bei der Entleerung diffundieren mit den Gliedern der Assoziationen die in der Mikrowelt enthaltenen Affekte. Sie machen auf diese Weise auch die ganze Mikrowelt (in unserem Thema: die Erinnerung) bedeutungslos. Sie entziehen einer Situation den Faktor des eigenen Erlebens. Bei der Anreicherung hingegen entsteht eine Verknüpfung mit andern Mikrobereichen, die ein ganzes Band neuer Transformationen zur ursprünglichen Welt hinzufügen. Beide Vorgänge, Entleerung wie Anreicherung, verändern die Interaktionskapazität2. In der Psychotherapie auftauchenden Deckerinnerungen schreibt man eine defensive Funktion zu. Würden im Sinne der Anreicherung Assoziationen zugelassen, dann würde der noch abgewehrte Konflikt (mit seinen Phantasien und Affekten) reaktiviert. Die in der Erinnerung bereits implizit enthaltenen Zustandsaffekte würden in erlebte (aktualisierte) Gefühle der Selbst-Objektbeziehung übergehen. Also bleibt nur der Erhalt der Deckerinnerung oder allenfalls deren Entleerung durch Assoziationsketten und weiteren Einfällen ohne Ende. Was können diese theoretischen Erörterungen über die vorliegende Deckerinnerung aussagen? Die Großmütter bilden eine erste Mikrowelt von vernetzten kognitiven Elementen. Die Elemente sind, wie bereits erwähnt, nur positioniert und nicht interaktiv. Es sind auch keine Verschiebungen im Raume (Trajektorien) zu finden. Die Verknüpfungen bestehen aus Distanzen (Nähe, Ferne), sowie der kognitiven Kategorie der Aufreihung (Darstellung der Gedankensperre?). Die Elemente sind Personen und tragen Attribute, die bereits aufgezählt wurden. Assoziationsketten, die von den Elementen ausgehen fehlen. Die 2 Verknüpfungen, Vernetzungen werden oft formal als »links« oder »pointers« bezeichnet. Sie bilden ganze Netzwerke (sets). Wechselwirkung ist hier definiert als eine Konnektion zweier Elemente, die als Systeme aufgefasst werden. Wird von Interaktion gesprochen, so ist eine psychologische Deutung der Wechselwirkung im Rahmen einer »Beziehungswelt« bezeichnet.

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»Mauer« zeigt eine zweite, »hinter« der ersten liegende vernetzte Mikrowelt. Sie enthält nur ein kognitives Element, das aber auch Attribute trägt. Diese sind, wie auch der Träger-Prozessor, deanimiert. Sie ist eine Mikrowelt mit nur einem Element. Die beiden unterscheiden sich (wiederum gemäß der Theorie von Moser u. von Zeppelin 1996) in ihrem Interaktionspotential. In der »Mauer« ist auch die einfachste Wechselwirkung der Distanz aufgehoben und in die Masse der Breite und Höhe (intrinsic features) geschrumpft. Auch in dieser Mikrowelt fehlen Assoziationsketten in ausgegliedert verbalisierter Form.

■ 5. Assoziationen In dieser Form blieb die Erinnerung tagelang stehen. Die Situation wurde ärgerlich und zugleich faszinierend, das Bild wurde obsessiv. Ich begann zu grübeln: Sind es acht, neun oder zehn Frauen? Gleichzeitig setzte sich die Überzeugung fest: »Zuerst musst du dich um diese Frauen kümmern, bevor du schreiben kannst.« Aus mir unerklärlichen Gründen kam ich einfach nicht auf die Idee, zu diesem Bild zu assoziieren (was doch für einen »Analytiker« selbstverständlich wäre). Eines Tages nach nächtlichem Gewitter mit Windböen war der Boden unter den Bäumen vor dem Fenster mit Zapfen der Nadelbäume übersät. Ich las sie wie üblich auf und plötzlich waren sie da, die Assoziationen. Sie liefen auf weitere Erinnerungen zu. Meine Großmutter war wieder an meiner Seite und der Zapfensack füllte sich. Die Zeit lief rückwärts. Das Holzsammeln mit ihr und ihren Kolleginnen, insbesondere mit Frau F., deren Gesicht ich deutlich vor mir sah. Das Sammeln der Zapfen war meine Aufgabe. Frau F. pinkelt versteckt hinter einem dünnen Baum. Ich sehe auf der einen Seite des Baumes ihr nacktes Gesäß. Oder sah ich es auf beiden Seiten des Baumes? Dann sitze ich auf dem mit Holz gefüllten Leiterwagen. Auch zur Tarnung des nicht zur Sammlung erlaubten grünen Holzes, versteckt in den Dürrholzbündeln. Die Handtaschen. Einen ersten Einfall dazu habe ich im Prolog bereits erwähnt. Es folgen: klebrige Malzzucker, Tannenzapfen,

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Nastuch, Portemonnaie, ein nicht abschließend ergründbares Durcheinander von Objekten. Ein ältlicher Geruch, wie Großmütter ihn damals ständig um sich hatten. Ich krieche zu ihr in das Bett. Dort roch es ähnlich, unausgelüftet, aber warm. (Der Großvater im andern Bett des Zimmers kommt in dieser Assoziationskette nicht vor.) Es zeigt sich hier, wie eine Deckerinnerung filtert, gewisse Erinnerungen zulässt, andere ausspart. (Sie kann auch, was ihre Hauptwirkung ist, gleich alle Assoziationen stoppen.) Beim Tannenzapfensammeln übte ich den lautlosen Gang von Lederstrumpf und den Indianern, eine Vorübung für meinen späteren zeitweiligen Beruf als Räuberhauptmann in seinem Waldrevier. Großmutter wurde nicht verbrannt, sie war katholisch und in der Tasche hatte sie auch ihr Gebiss, das ihr beim Tragen weh tat. Ich erinnere mich an ihr Lächeln, das so im Kontrast stand zu ihrem »bösen« Gesicht. Die Strümpfe, die Krampfadern. Meine Fragen nach der Kropfoperation; der Einfälle wären noch viele. All diese Einfälle sind nicht erstmalig, sie kamen allesamt im Laufe der Psychoanalysen, die ich erlebte einmal vor. Sie gingen dort, im Rahmen der Therapie auch noch weiter. Sie wurden auch gedeutet. Analytiker mögen ahnen, in welcher Richtung diese verliefen. Jetzt aber ist dies nicht von Belang. Auch lasse ich einige Assoziationsketten aus, weil sie in Bereiche führen, die ich als zu persönlich erachte. Das Assoziationsnetz ist lebendig, voller Gefühle und erinnert weitere Aspekte meiner großmütterlichen Beziehungswelt. Die Reihe der schwarzen Frauen verwandelt sich nun in eine Gruppe von Bergen. Wiederum fällt mir nicht ein, wie viele es sind (zehn, elf oder zwölf?). Die zweite Schicht der Erinnerung, die Mauer, wird mit einer Zeitverzögerung für Assoziationen frei. (Ich könnte nicht genau sagen, wann das war.) Es sind die Berge auf dem Grabstein meines Vaters. »H. M. Seine Freunde«, heißt es dort. Am sechsten Berg stürzte er zu Tode. Bei der Beerdigung wurde ich nicht zugelassen. »Er erträgt das nicht«, sagte man und übergab mich an Lina. Meiner Verzweiflung wurde sie kaum Herr. Wie sah Lina aus? Ich glaube, ich habe sie sehr gemocht. Sie zeigte mir, wie man einem Bären Kleider näht. Das Geheimnis des Krematoriums. Er wurde verbrannt. Er soll völlig entstellt gewesen sein. Der Gang zum Grab mit meiner Mutter. Der Gestank des Blumenwassers in der Steckvase. Nie habe ich es gewagt, in jenen

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Bergen zu klettern, schon gar nicht am sechsten. Die Gedenktafel in meinem Arbeitszimmer, die Pfeife, das Seil, die Skis und der Pickel. Das Krematorium mit seinem Maul, in das die Särge für immer verschwinden. Im Unterschied zum Assoziationsnetz zu den Frauen sprudeln die Einfälle nicht, sie sacken in einen Zustand ab, der trübe getönt einem erneuten Stillstand gleichkommt. Das wundert nicht. Die zweite hintere Schicht der Erinnerung ist ja deanimiert und hinsichtlich der Attribute wenig strukturiert. Was bereits vom verminderten Interaktionspotential gesagt wurde, kann auf die Flüssigkeit des Assoziierens übertragen werden. Es kann natürlich sein, dass ich eine Reihe weiterer Assoziationen, die ich tatsächlich hatte, jetzt beim Schreiben ausschließe. Die Einfälle – so wäre die vorläufige Bilanz – führen in zwei Welten: in die Welt der großmütterlichen Tasche und, mit zeitlicher Verzögerung, in die Welt der väterlichen Berge. Beide Welten sind in der Erinnerung verbunden. Es ist nicht allein die Welt des Todes, des Sterbens und seiner Geheimnisse. Die Innenwand der Tasche ist rauh, ich spüre sie mit der Hand beim heimlichen Suchen der Malzzucker. Aber auch die Felsen der Berge sind rauh. Es ist dieselbe sinnliche Qualität, im ersten Fall, im Eintauchen, im Hineinkriechen erfahren, im zweiten Fall beim adhesiven Anklammern (Klettern mit Griffen, noch intensiver beim Klettern mit dem Druck der Hände). In beiden Fällen spielt die Berührung eine zentrale Rolle. Das festgefügte Bild der Erinnerung öffnet sich. Vorerst kommt es zur sinnlichen Erfahrung, aber nicht (noch nicht) zu einer präsenten beweglichen Welt der Wechselwirkungen, zum Finden und Verlieren von Objekten. Die eine Welt ist die Geborgenheit der Tasche, die sich von innen erleben lässt, die andere die Adhesion, das autonome Festhalten, bei der man sich aus eigener Kraft und Geschicklichkeit (vom Vater erlernt und übernommen) vom Absturz bewahrt.

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■ 6. Deckerinnerung und Wahn Langsam dürfte dem Leser die Vermutung kommen, dass der Autor auf dem üblichen und vielbeschriebenen Pfad gelangt ist, die Blockade des Denkens und Schreibens über ein Thema aufheben zu wollen, indem die Blockade selbst zum Thema wird. Das Nichtschreiben-Können wird beschrieben. (In Analogie zum psychoanalytischen Verfahren: Erst den Widerstand thematisieren und erst dann, in einem zweiten Schritt, den dazugehörenden Konflikt.) So gesehen würde das von der Deckerinnerung fest- und vollgeschriebene Blatt gelöscht und durch den Text über diese Erinnerung ersetzt. Ein vollgeschriebenes Blatt zu löschen und durch das zu ersetzen, was noch nicht bewusst formuliert werden kann, dürfte auch nicht einfacher sein. Oder doch? Ist es der Fluss der Assoziationen, sei es, dass sie das besetzte Blatt entleeren, sei es, dass sie bereits zu einem neuen Text führen werden? Die Deckerinnerung ist nicht nur Illustration einer Barriere, sondern enthält, insbesondere was den in ihr gebannten und noch gefangenen affektiven Zustand anbetrifft, ein kreatives Potential, in phantasierte oder reale Mikrowelten des Erlebens einzugehen. Auch eine phantasierte Mikrowelt, sei es ein literarischer oder ein wissenschaftlicher Text, ist vom Subjekt her gesehen ein Erkundungsprozess, eine neue Art, ein Stück Welt zu sehen und auftauchende Bilder in Worte zu fassen. Theorien folgen nie ganz der Wirklichkeit. Darum muss ich gestehen, dass gleichzeitig mit dem Fluss der Einfälle nicht nur der Text über diese Deckerinnerung »in Gang« kam, sondern auch jener meiner eigentlichen Zielsetzung, die Mikrowelt des Wahns zu verstehen und zu beschreiben. Im Thema »Wahn« war ich stecken geblieben mit leerem Kopf und großem Ärger über mich selbst. Meine Gedanken waren oftmals verworren, zeitweise suchte ich verzweifelt Halt in bereits zugänglichen Arbeiten anderer Autoren. (Auch diese Situation ist Analytikern aus der therapeutischen Praxis wohl bekannt.) Mit dem Wahn verhält es sich so wie mit einem Gedicht. In beiden Fällen komme ich in eine mir zunächst fremde Mikrowelt, in eine andere Art, in einer Welt zu leben, die nicht oder höchstens teilweise der eigenen gleicht. Beim Lesen eines Textes kann ich

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mich auf diesen Einstieg affektiv vorbereiten. Zum Beispiel kann ich intuitiv entscheiden, ob mir diese Welt gefällt, ob sie mir affin ist und meiner Art, Dinge zu sehen, entspricht. Mit anderen Worten, ich bestimme eine Art Bedeutsamkeit für mich (der Literaturkritiker überträgt diese Beurteilung leicht auf die gesamte Leserschaft). Eine Erkundung der kognitiven und affektiven Strukturen sowohl eines Gedichts wie eines Wahns, sei sie mehr als einfühlendes Erleben oder zusätzlich als wissenschaftliche Ergründung gemeint, dieser Versuch eines Verständnisses kann zu Blockaden führen. Eine Mikrowelt Wahn habe ich höchstens für ganz kurze Zeit selbst erlebt, sie war aber so kurz, dass der Effekt des Erschreckens gleich wieder verschwand. Protokolle von Wahnwelten anderer können zu eigenen Verworrenheiten führen, aber auch zum Gefühl des Ausgeschlossenseins. In einem gleichen sich Deckerinnerung und Wahn: Über die Gefühle in den beiden Bereichen wird man sich nicht sogleich klar. Die Mikrowelt Wahn ist im Unterschied zur Deckerinnerung eine desaffektualisierte (Moser 2004), eine Welt, in der es keine real konkrete Interaktionen zu Objekten gibt, die intentionale Gefühle auslösen würden. Das gilt natürlich nicht für die schwer zugängliche nicht wahnhafte Welt, die »hinter« der wahnhaft assimliatorischen Umgestaltung der Objekte und der Relationen zu ihnen liegt. In den Deckerinnerungen sind hingegen Affekte ganz bestimmter Art als Zustandsaffekte gespeichert. Dies sind Affekte, die nicht Interaktivitäten begleiten, sondern als globale Affekte an alle Teile der kognitiven Struktur gebunden sind. Diese Affekte lassen sich nicht aktualisieren. Somit bleibt die Deckerinnerung eine Momentaufnahme eines Ereignisses in der Autobiographie.3 Sie ist implizit kognitiv wie af3 Die Deckerinnerung ist eine Form der Störung des autobiographischen Gedächtnisses im Sinne einer zeitlich punktuellen Fixierung. »A screen memory seems to be an abandoned machine, a dream, that cannot be associated to, a burnt out psychological star« (Battin u. Mahon 2003, S. 259). Im Wahn ist die Autobiographie zerdehnt und verzerrbar. Die Zeitachse der Erinnerung ist sprunghaft. Die eigene Biographie wird oft wahnhaft neu komponiert. Wiederum anders gestört ist die Autobiographie bei schweren Traumata. Man vermutet dort eine eigentliche Zerstörung früherer Phasen. In dieser Arbeit wird nicht auf die recht breite Literatur dazu eingegangen (s. dazu Mertens 1998; Granzow 1994; Köhler 1998; u. a.).

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fektiv mit Ereignissen »vor« und »nach« vernetzt, doch lassen sich diese Verknüpfungen nicht erleben und bewusst machen. Sie löst deshalb beim Subjekt wie auch bei einem Leser oder Zuhörer das Gefühl eines Nicht-Eindringens, eines Nicht-erfassen-Könnens des Hintergrunds aus. Sie ist ähnlich verschlossen wie gewisse Träume, die nur aus positionierten Elementen bestehen. Beim Wahn hingegen ist die Reaktion eine andere. Es ist schwierig, Haftpunkte für ein eigenes affektives Erleben zu finden (Meltzer 1984, am Beispiel von Träumen). Im Wahn gibt es keine Deckerinnerungen und er enthält keine zeitliche Zentrierung und Fixierung. In vielen Fällen finden sich fabulativ umgearbeitete Autobiographien bis zum Abstammungswahn. Die erzählten Ereignisse können dabei auf 1000 Jahre, auf weniger oder mehr, verteilt sein. Die zeitliche Ordnung des Narrativs zerfällt. Die Abwehr der Affekte ist eine andere: Es ist eine Affektentleerung, die einen breiten (wenn auch wiederum begrenzten) Spielraum an kognitiven Transformationen4 eröffnet. Um auf die Funktion der Deckerinnerung in meinem Beispiel zurückzukommen: Jeder kreative Entwurf enthält ein Stück virulenter Autobiographie, das, noch so versteckt, notwendig ist, um Ausgangspunkt neuer Entdeckungen zu sein. Eine Deckerinnerung ist somit Blockierung und Potential zugleich. Sie muss aus diesem Grund aufgebrochen werden.

■ 7. Das »Dahinter«: Ängste um Stillstand, Veränderung und Gefühlsverlust Es ist deshalb an der Zeit, mich der Frage zuzuwenden, was mich am Nachdenken und Schreiben so behindert hat. Die Assoziationsketten führen zu zwei wichtigen Beziehungswelten, die mit den verstorbenen Personen, der Großmutter und dem Vater verbunden sind. Beide sind mir verloren gegangen, diejenige des Vaters früher, jene der Großmutter später. An dieser Stelle lockt die Ver4 Der Wahn wird durch andere Affekte, jene der Sicherheits- und Selbstorganisation begrenzt (Moser 2004).

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suchung, eine Art Psychoanalyse meiner Autobiographie zu beginnen. Es wäre schön: Die dominantere Gruppe der Assoziationen führt in die Welt der großmütterlichen Tasche, zum Malzzucker und andern Ingredienzen, die im warmen Bett der Großmutter zu finden waren. Die Welt des Vaters hingegen liegt in den Bergen. Es hieß, er sei ein kühner Kletterer gewesen. Ohne Seil habe er schwierige Stellen bezwungen. Doch einmal kam es zum tödlichen Sturz. Ist Schreiben für mich eine Übernahme der Höhensucht des Vaters? Hat seine Alleingängermentalität eine Beziehung zu meinem Außenseitertum? Habe ich Angst, mit der Arbeit, respektive nach der Arbeit abzustürzen? Oder vor dem Erfolg zu scheitern? (Laforgue 1941/1963). Die Dame Psychoanalyse lockt und lockt. Schließlich wird dem Psychoanalytiker auffallen, dass von der Mutter in dieser Deckerinnerung nicht die Rede ist, außer dass sie nicht wollte, dass ich an der Beerdigung des Vaters teilnehme. Solche Deutungen könnten für Blockierungen aller Art zutreffen. Sie müssen aber nicht mit dem Thema Wahn zusammenhängen. In Situationen interpretativer Verwirrung gerät das eigene Denken und Deuten gern in den Zustand der »slipperiness«, in welchem das Verständnis immer dann entschlüpft, wenn man glaubt, es schon ergriffen zu haben. Es sind nicht die inhaltlichen Assoziationen, die für die Blockierung verantwortlich sind. Die Themenfelder der Assoziationsfelder (der nicht auftauchenden) sind längst analysiert (wenn auch in andern Kontexten). Merkwürdig ist ja nur, dass sie mir in diesem Moment nicht eingefallen sind. Eine gute Regel analytischen Arbeitens ist die Suche und Bestimmung des Konflikts gerade jetzt und seiner unangenehmen Affekte und Ängste, die sich in ein diffuses Unbehagen umgesetzt haben, in eine Empfindung der Leere und der Unfähigkeit zu verstehen, was in einer Mikrowelt Wahn vor sich geht. Das Thema muss mich in Angst versetzen (nicht die persönlichen Konflikte, die sich in den Assoziationsketten äußern). Vielleicht ist auch die Befürchtung damit verbunden, dass diese Unfähigkeit endgültig sein könnte und das Ende meiner Kreativität bedeuten würde. Die Lektüre von Wahnprotokollen (so weit war ich ja in meiner Arbeit noch gekommen) muss mich in eine Welt geführt haben, die beängstigend ist. Schon der Zugang zu diesen Mikrowelten ist der Affektlosigkeit wegen einfach schwer. Die übliche Art der reso-

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nanten Übernahme der in der Erzählung enthaltenen Affektivität fehlt. Was mir gerade noch gelingt, ist eine intellektuell-rationale Haltung in der Begegnung mit den Texten. Diese Art der Interaktion mit den Texten erlaubt mir einen bequemen Widerstand. Gleichzeitig weiß ich aber, dass ich die Struktur dieser Welt so nicht verstehen und adäquat beschreiben kann. Bestürzend ist es auch, auf das Fehlen jeglicher Affektivität in den Beziehungen zu stoßen. Die in mir induzierte Angst betrifft nicht allein die »Leere im Kopf« in Bezug auf Einfälle, sondern auch diese Leere an Gefühlen. Diese Art der »Stummheit« hat Benedetti (1983) »Todeslandschaften der Seele« genannt. Schließlich begegnet uns im Wahn auch eine Art des Gefangenseins in dieser Mikrowelt. Veränderungen können nicht mehr selber bewirkt und/oder empfangen wenden. Stillstand in der Beziehungswelt kann zwar beruhigend sein, solange das Gefühl besteht, verändernde Prozesse auslösen und ertragen zu können. Die Deckerinnerung ist ein Beispiel voll erhaltener, aber rein defensiver Kontrolle über die Geschehnisse. Der Stillstand (daher das Fehlen eines Feldes von Interaktionen) dient der Abwehr, der Nicht-Begegnung von Ängsten (zeitlich vorangegangenen oder zukünftig erwarteten). Im Unterschied zum Wahn enthält sie noch ein Veränderungspotential. So gesehen eröffnen die Assoziationen durch ihre Bewegung selbst und unabhängig von ihren Inhalten neue Beziehungswelten aus dem Potential der alten heraus. Das Erlebnis, »emergent« zu sein, aus den eigenen Problemen herauszukommen, neue Gedanken zu entwickeln, überwindet (zumindest für die Zeit des geplanten Schreibens) die eigene Angst stecken zu bleiben, leer zu sein oder in eine wahnhafte Beziehungswelt ohne Ausgang hineinzugeraten. Denn dort ändert sich kognitiv zwar vieles, aber inkohärent und ohne Einfluss auf die Beziehungen zu sich selbst und zu den Objekten. PS: Die beiden Arbeiten zum Wahn und zur Deckerinnerung sind inzwischen geschrieben. Ich hoffe, dass sie in anderer Weise ein Veränderungspotential enthalten bezüglich der geäußerten Ideen. Wissenschaftliche Arbeiten sind schließlich keine Deckerinnerungen für abgewehrtes Wissen, doch manchmal schöpfen sie aus dem Verlust geliebter Personen in unserer Vergangenheit.

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© Ulrich Moser, 2004. – Erstmalig in diesem Band veröffentlicht.

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