Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen [1. Aufl. 2020] 978-3-658-27809-0, 978-3-658-27810-6

Dieses Praxis-Manual leistet Hilfestellung, psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter im pädagogischen

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German Pages XIII, 185 [187] Year 2020

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Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter: Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-27809-0, 978-3-658-27810-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren (Simon M. Rank)....Pages 1-14
Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter (Simon M. Rank)....Pages 15-18
Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter (Simon M. Rank)....Pages 19-22
Beziehungsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 23-29
Fütterstörungen (Simon M. Rank)....Pages 31-39
Schlafstörungen (Simon M. Rank)....Pages 41-49
Exzessives Schreien (Simon M. Rank)....Pages 51-57
Regulationsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 59-66
Ausscheidungsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 67-80
Depressive Störungen (Simon M. Rank)....Pages 81-88
Angststörungen (Simon M. Rank)....Pages 89-97
Anpassungsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 99-117
Posttraumatische Belastungsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 119-127
Bindungsstörungen (Simon M. Rank)....Pages 129-142
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)/Hyperkinetische Störungen (HKS) (Simon M. Rank)....Pages 143-151
Störung des Sozialverhaltens/Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (Simon M. Rank)....Pages 153-160
Autismus (Simon M. Rank)....Pages 161-170
Selektiver Mutismus (Simon M. Rank)....Pages 171-179
Andere Störungen (Simon M. Rank)....Pages 181-183
Back Matter ....Pages 185-185

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Simon M. Rank

Psychische Auffälligkeiten im Säuglingsund Kleinkindalter Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen

Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter

Simon M. Rank

Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter Praxis-Manual für pädagogische Berufsgruppen

Simon M. Rank Medizinische Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz Regensburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-27809-0 ISBN 978-3-658-27810-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Was kann ich tun, damit das Baby aufhört, zu schreien? Kann ein Säugling schon verwöhnt werden und ab wann braucht ein Kind Grenzen? Kinderkrippe – ja oder nein? Warum tut sich ein Kind schwerer, Grenzen zu akzeptieren, als andere? Brauchen so kleine Kinder schon Medikamente, wenn sie nicht stillsitzen können? Was tun, wenn ein Kind nicht genügend isst? Warum nässt das Kind immer noch ein? Warum setzt das Kind seinen Kot an nicht dafür vorgesehenen Stellen ab und wie lässt sich das ändern? Können Kleinkinder schon depressiv sein und was können wir dagegen tun? Was macht es mit einem Kind, wenn es seiner Bezugsperson körperlich oder psychisch nicht gut geht? Kann die Trennung der Eltern bei einem Kind „irreparablen Schaden“ anrichten? Wie kann einem kleinen Kind geholfen werden, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten? Was tun, wenn ein Elternteil stirbt? Ist die frühe Kindheit wirklich so bedeutsam für das weitere Leben und inwiefern? An Einzelbeispielen oder Ideologien orientierte Ratschläge helfen in solchen Situationen nicht weiter. Vielen Berufsgruppen wird bei diesen Fragen bewusst, dass ihnen ihre Ausbildung und Lebenserfahrung kaum oder gar nicht helfen, sie zu beantworten. Denn die Ausbildung der erfahrenen Fachkräfte fand in der Regel zu einer Zeit statt, in denen die Altersgruppe der Säuglinge und Kleinkinder und zugehörige Fachgebiete kaum beachtet wurden. Berufsanfänger wiederum wachsen erst in Ihre Aufgaben hinein. Zudem fehlt in der Arbeitsrealität der Gegenwart oft die Zeit, Lehrbücher von Anfang bis Ende „durchzuarbeiten“. Wenn diese sich dann auch noch nicht auf das eigene Tätigkeitsfeld beziehen, sondern etwa an Eltern („So bleibt Ihr Kind gesund“) oder behandelnde Berufsgruppen („So wird behandelt“) richtet, kann guter Rat teuer sein. Dieses Buch hat das Anliegen, kurze, verlässliche und praxisbezogene Informationen zur Verfügung zu stellen. Es richtet sich in erster Linie an Personen, die Säuglinge und Kleinkinder institutionell betreuen, kann jedoch auch für behandelnde Berufsgruppen und interessierte Laien hilfreich sein. Es leistet Hilfestellung, psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter im pädagogischen Alltag von Reifungsphänomenen zu unterscheiden, die eigenen pädagogischen Handlungs- und Beratungsmöglichkeiten zu erkennen, weiteren Hilfebedarf einzuschätzen, diesen gut zu kommunizieren und

V

VI

Vorwort

manifesten Störungen vorzubeugen. Es versteht sich nicht als vollständige systematische Übersicht, sondern als Handbuch mit wichtigen Schwerpunkten für die Praxis, in dem auch kurzfristig nachgeschlagen werden kann. Die Darstellung der Entwicklungsgrundlagen soll einen leicht verständlichen Einstieg in die Altersgruppe auch unabhängig von Auffälligkeiten ermöglichen, wofür angesichts einer immer früheren Betreuung außerhalb der Familie eine zunehmende Notwendigkeit besteht. Sehr konkret gehaltene Leitlinien können auch bei der Konzeptionierung betroffener Institutionen (z. B. Betreuungsverhältnis, bauliche Rahmenbedingungen in Kinderkrippen) von Nutzen sein. Schließlich werden Fragen beantwortet, wie Fremdbetreuung gestaltet sein sollte, um keine unverhältnismäßige Belastung für die Entwicklung von Kindern darzustellen. Die Erfahrungen im Säuglings- und Kleinkindalter sind für alle folgenden Entwicklungsschritte bedeutsam und prägend. Die rechtzeitige Erkennung und Begegnung, vor allem aber natürlich die Vermeidung von psychischen Auffälligkeiten bereits in dieser Altersgruppe dürften deshalb einen weitreichenden präventiven Effekt haben. Regensburg im August 2019

Simon M. Rank

Inhaltsverzeichnis

1

Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Die ersten drei Monate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Vierter bis neunter Monat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.4 Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.5 Drittes bis fünftes Lebensjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2

Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Betreuungssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Erziehungsverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.3 Früherkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

3

Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

4 Beziehungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5 Fütterstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

5.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 5.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 5.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 5.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 6 Schlafstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 6.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 6.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 6.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 7

Exzessives Schreien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 7.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 7.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 7.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 7.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 7.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 7.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 7.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

8 Regulationsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 8.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 8.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 8.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 8.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 8.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 8.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 8.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 9 Ausscheidungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 9.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 9.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 9.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 9.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 9.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Inhaltsverzeichnis

IX

9.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 9.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 10 Depressive Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 10.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 10.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 10.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 10.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 10.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 10.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 10.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 11 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 11.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 11.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 11.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 11.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 11.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 11.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 11.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 12 Anpassungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 12.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 12.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 12.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 12.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 12.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 12.5.1 Geburt eines Geschwisterkindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 12.5.2 Tod eines nahen Verwandten (nicht Elternteil) . . . . . . . . . . . . 104 12.5.3 Krankenhausbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 12.5.4 Wiederaufnahme von Arbeit durch die Eltern. . . . . . . . . . . . . 105 12.5.5 Umzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 12.5.6 Wegzug des besten Freundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 12.5.7 Trennung der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 12.5.8 Abwesenheit des Vaters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 12.5.9 Verlust des Arbeitsplatzes der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 12.5.10 Wiederheirat der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 12.5.11 Unfall der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 12.5.12 Tod eines Elternteils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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12.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 12.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 13 Posttraumatische Belastungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 13.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 13.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 13.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 13.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 13.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 13.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 13.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 14 Bindungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 14.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 14.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 14.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 14.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 14.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 14.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 14.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 15 Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)/ Hyperkinetische Störungen (HKS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 15.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 15.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 15.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 15.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 15.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 15.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 15.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 16 Störung des Sozialverhaltens/Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 16.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 16.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 16.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 16.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 16.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhaltsverzeichnis

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16.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 16.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 17 Autismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 17.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 17.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 17.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 17.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 17.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 17.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 17.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 18 Selektiver Mutismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 18.1 Kernsymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 18.2 Zur Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 18.3 Aufgabenplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 18.4 Beratung und Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 18.5 Vorbeugende Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 18.6 Praxisbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 18.7 Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 19 Andere Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 19.1 Ticstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 19.2 Zwangsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 19.3 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Über den Autor

Simon M. Rank  Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, tätig für die Medizinischen Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz, Lehrbeauftragter und Supervisor für verschiedene Aus- und Fortbildungsinstitute, Universitätsstraße 84, 93053, Regensburg, e-mail: [email protected]

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Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Die Entwicklung von Kindern ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Erbgut und Erfahrungen. Sie folgt einem relativ einheitlichen „Entwicklungsplan“, einzelne Merkmale bilden sich dabei jedoch sowohl zeitlich als auch in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich heraus. Kinder entwickeln sich also verschieden und in ihrer eigenen Geschwindigkeit. An Einzelbeispielen (z. B. eigenen Kindern) oder Ideologien orientierte Ratschläge entsprechen der Individualität eines Kindes deshalb meist nicht. Wenn Erziehung, Betreuung, Förderung und Therapie den individuellen Bedürfnissen eines Kindes gerecht werden wollen, müssen sie seine Begabungen und sein aktuelles Entwicklungsstadium berücksichtigen. Damit sich ein Kind gut entwickelt, braucht es neben Nahrung und Pflege auch Zuwendung und das Erleben von Nähe und Geborgenheit. Dazu ist ein „emotionales Band“ zu Eltern und Bezugspersonen nötig, das Bindung genannt wird. Sie entsteht aus gemeinsamen Erfahrungen – und genügend Zeit, diese zu machen. Sicherheit und Geborgenheit setzen dahin gehend voraus, dass Bezugspersonen in ausreichendem Maße vertraut, verfügbar und verlässlich sind. Alle Maßnahmen in Erziehung, Betreuung, Förderung und Therapie von Kindern sollten auf dieser Grundlage entwicklungs-, kindgerecht und konsequent sein. Loben (positives Verstärken), Ignorieren und Verbieten (negatives Verstärken) sind dabei sinnvolle „Methoden“, wenn sie nicht losgelöst von Beziehung und einer emotionalen Aktivierung angewandt werden, also das Kind die durchführende Person als ihm zugewandt erleben und begreifen kann, dass und inwiefern es die betreffende Sache angeht. Dies schützt vor Ansprüchen, die dem Entwicklungsstand eines Kindes nicht gerecht werden, soll aber vor allem dazu anregen, die Wirkung der bei allen Kindern grundlegenden Neugier und Begeisterungsfähigkeit nicht geringer zu bewerten als die der vorgenannten Methoden. Soziales Lernen vollzieht sich durch Nachahmung von Verhalten. Werte und Sozialverhalten lassen sich deshalb in erster Linie durch Vorbilder vermitteln. Eigene und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_1

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Gedanken, Gefühle und Verhalten anderer wahrzunehmen und zu reflektieren sind Fähigkeiten, die soziale Kognition voraussetzt. Die motorische Entwicklung erstreckt sich vom zweiten Schwangerschaftsmonat bis in die Adoleszenz und kann als Reifungsprozess gesehen werden, in dem eine Fähigkeit deren Differenzierung bahnt und in Kombination mit anderen Fähigkeiten neue ermöglicht. Wesentlich sind dabei Möglichkeiten, sich ausgiebig und vielfältig zu bewegen. Die Geschwindigkeit der motorischen Entwicklung variiert und ist unabhängig von anderen Entwicklungsbereichen. Die sprachliche Entwicklung fußt auf zwischenmenschlichen Erfahrungen und ermöglicht es Menschen, (neben der Körpersprache) differenziert zu kommunizieren. Kinder entwickeln zunächst die Vorstellung von etwas, dann das Wort für diese Vorstellung und schließlich die Fähigkeit, das Wort einzusetzen. Dementsprechend gelingt sprachliche Kommunikation mit einem Kind am besten, wenn sie sich an seinen Vorstellungen und seinem Sprachverständnis orientiert. Der sprachliche Ausdruck ist davon zu unterscheiden. Spielen ist für Kinder keine fakultative Freizeitbeschäftigung, sondern entwicklungsnotwendig. Dabei geht es nicht um irgendein Ergebnis oder Ziel, sondern um die Erfahrungen sozialer, kognitiver und sprachlicher Natur, die dabei gemacht werden. Erwachsene haben deshalb keine anleitende, sondern eine abholende Rolle, die sowohl eine Unter- als auch eine Überforderung möglichst vermeidet. Dazu muss sich das Spiel am Entwicklungsstand eines Kindes orientieren. Dieser bildet sich im Spielverhalten ab. Während in den ersten beiden Lebensjahren kaum Geschlechterunterschiede beobachtet werden können, sind diese anschließend deutlich sichtbar. Kinder erfahren im Spiel ihre Umwelt mit allen Sinnen, üben funktionelle Abläufe ein, erfassen räumliche, kategoriale und kausale Zusammenhänge und erweitern ihre sprachlichen und sozialen Fähigkeiten. Erwachsene bestimmen das – jeweils altersgerechte – Angebot an Spielzeug, sind begleitender Partner und soziale Vorbilder, können aber das Spiel mit anderen Kindern nicht ersetzen. Kindgerechtes Spiel bedeutet grundlegend, der Neugier eines Kindes zu folgen. Ernährung und Ausscheidung sind relativ dominante Themenbereiche von Eltern mit Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter. Dies beginnt bei der der Ernährung mit den Fragen, ob Muttermilch oder Säuglingsnahrung der Vorzug gegeben werden sollte, Stillen oder der Flasche und schließlich, wie weit Essen und Trinken in der Erziehung eine Rolle spielen. Auch über Zeitpunkt und Intensität der Sauberkeitserziehung bestehen oft Unsicherheiten. Bevor in nachfolgenden Abschnitten für jedes Entwicklungsalter gesondert darauf eingegangen wird, einige allgemeine Bemerkungen: • Nährstoffe und Energiegehalt von Säuglingsnahrung stehen der Muttermilch in nichts nach, ihr fehlen jedoch wichtige Abwehrstoffe. Sofern das Füttern mit der Flasche nicht mit Beeinträchtigungen der Zuwendung und Fürsorge für das Baby einhergehen, stellt es keine Einschränkung der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind dar.

1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

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• Essen und Trinken haben soziale und emotionale Bedeutung, sind jedoch kein Erziehungsmittel (z. B. als Belohnung oder Bestrafung). Ihr Missbrauch bahnt psychische und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; Gontard 2010). Tischmanieren entwickeln sich am Vorbild von Bezugspersonen. • Kinder werden mit und ohne eine sogenannte Sauberkeitserziehung durchschnittlich mit 30 Monaten sauber und trocken, tagsüber etwas früher, nachts etwas später. Den Zeitpunkt der Sauberkeitsentwicklung bestimmen individuelle Reifungsprozesse, die sich nicht durch Sauberkeitstraining beeinflussen bzw. beschleunigen lassen. An einem gewissen Punkt dieses Reifungsprozesses nehmen Kinder Urin- und Stuhldrang bewusst wahr und signalisieren dies. Dann brauchen sie Unterstützung, selbstständig zu reagieren und die Möglichkeit, Bezugspersonen nachzuahmen. Werden auf die kindliche Bereitschaft, trocken und sauber zu werden, nicht reagiert und kein Modelllernen ermöglicht, zeigen Kinder in der Regel keine eigeninitiative Sauberkeitsentwicklung mehr, da sie sich an die Windel gewöhnt haben. Andernfalls sind die meisten Kinder bis zum fünften Lebensjahr überwiegend sauber und trocken. • Ein unabhängig von der Eigeninitiative des Kindes erfolgendes Auf-den-Topf- oder Auf-die-Toilette-Setzen, „ritualisiertes“ nächtliches Wecken, die Kontrolle der Trinkmenge am Abend, Bestrafung für volle Windeln, Hosen oder Betten respektive Belohnungen für trockene Hosen oder trockene Betten beschleunigen die Sauberkeitsentwicklung nicht und können psychische und Verhaltensauffälligkeiten bahnen. Wachstum und Gewichtsentwicklung lassen sich am besten mittels Perzentilenkurven erfassen, wobei sich die Kurven in etwa parallel zu den Linien bewegen sollten. Sie gehen auch mit einer Veränderung der Körperproportionen einher, die sich aus einer unterschiedlich schnellen Entwicklung von Organen ergeben. Gehirn, Augen und Ohren entwickeln sich bereits in der Schwangerschaft weit fort, Arme und Beine sind im Mutterleib dagegen nur wenig entwickelt. Letztere haben platzbedingt eine O-Stellung, die bis ins Säuglingsalter fortbesteht und sich bis zum Ende des dritten Lebensjahres in eine leichte X-Stellung wandelt. Bis zum Schulalter normalisiert sich die Beinstellung. Das Längenwachstum erfolgt in Abhängigkeit von der grobmotorischen Entwicklung. Im Jugendalter verändern sich die Körperproportionen zur erwachsenen Gestalt, verbunden mit einem Wachstumsschub und der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale. Ob es einem Kind gut geht, hängt auch davon ab, wie es den Menschen geht, die ihm entwicklungsgerechte Erfahrungen überhaupt ermöglichen können: seinen Eltern und anderen Betreuungspersonen. Sind sie belastet, sind es auch die Entwicklungsbedingungen. Je besser es ihnen geht, desto besser können sie sich um die ihnen anvertrauten Kinder kümmern. Erziehung und Entwicklung sollte deshalb in einem Beziehungsnetz stattfinden, das Eltern hilft und Kinder bereichert. Institutionell kann dies nur gelingen, wenn bestimmte Qualitätsstandards eingehalten und überprüft werden. Eine gute Kinderbetreuung misst sich nicht an der Vermittlung von Sachkompetenzen, sondern an Fürsorglichkeit, Kontinuität und Stabilität der Bezugspersonen.

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

1.1 Schwangerschaft Im ersten Schwangerschaftsdrittel werden die Organe angelegt und entwickeln im zweiten Drittel ihre Funktion. Im letzten Drittel gewinnt das Ungeborene an Größe und Gewicht und bildet ein wärmendes, energiespeicherndes Fettgewebe für das Leben außerhalb der Gebärmutter. Die Ernährung des Kindes in der Schwangerschaft erfolgt über Plazenta und Nabelschnur, sodass sich die Ernährung der Mutter auf das Kind auswirkt. Impfungen (Röteln), die Vermeidung von Kontakten zu Haustieren und der Verzicht auf Rohmilchprodukte und rohes Fleisch (Toxoplasmose) schützen das Ungeborene vor gefährlichen Infektionen. Bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche üben Kinder Saugen und Schlucken. Suchtmittel jeder Art und zahlreiche Medikamente schaden der Kindesentwicklung im Mutterleib und sollten dringend vermieden bzw. ärztlich rückgesprochen werden. Bewegungen können nach Vollendung des zweiten Schwangerschaftmonats aufgezeichnet werden, entsprechen um den Übergang vom dritten zum vierten Monat herum denen, die sich auch bei Neugeborenen beobachten lassen und können etwa ab der 18. Schwangerschaftwoche von der Mutter erspürt werden. Das Kind bewegt sich dabei in weitreichender Schwerelosigkeit und muss den Umgang mit der Schwerkraft deshalb erst nach der Geburt üben. Darüber hinaus bahnen die Kindsbewegungen in der Schwangerschaft jedoch Organfunktionen, die Modellierung der Gliedmaßen, lebenswichtige Reflexe (z. B. Saug- und Schluckreflex), Bewegungsmuster und die Passung im Geburtskanal. Die für Säuglinge typischen ungerichteten Bewegungen der Arme und Beine sowie Schreitbewegungen bei Berührung der Fußsohlen sind Relikte vorgeburtlicher Bewegungen. Kinder zeigen etwa ab der 20. Schwangerschaftswoche vorgeburtliche Reaktionen auf akustische Reize. Wiederholt dargebotene Reize sind ihnen nach der Geburt wohl vertraut (z. B. Stimme der Mutter). Unklar ist, ob ihnen Bedeutungen zugeschrieben werden. Es ist unwahrscheinlich, dass diese gegebenenfalls allzu weit reichen, da – gemessen an der Aufnahmefähigkeit nach der Geburt – insbesondere Umwelt- und Medieneinflüsse sonst sehr schnell überfordernd wären. Auch sind akustische Reize etwa in der Weise verfälscht, wie wenn Erwachsene ihren Kopf bei laufendem Wasser unter Wasser halten. Und schließlich beträgt die Lautstärke in Form von Darmgeräuschen und Strömungsgeräuschen von Blutgefäßen im Mutterleib etwa der Lautstärke einer Stimme. Ganz erstaunlich, dass sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch etwas „heraushören“ lässt. Bei Geburt ist das Gehör voll funktionsfähig. Schlaf- und Wachperioden entwickeln sich in der Schwangerschaft erst mit etwa der 36. Schwangerschaftswoche, wobei die beinahe vollkommene Dunkelheit einen Tag-Nacht-Rhythmus verhindert und die Schlafphasen weitgehend gleich verteilt und unabhängig vom mütterlichen Schlaf sind. Bei Frühgeborenen (also vor der 37. Schwangerschaftswoche) lässt sich beobachten, dass sie die Augen meist geschlossen

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haben und allenfalls kurz wach und empfänglich sind. Dieses „dämmern“ entspricht am ehesten dem Bewusstseinszustand ungeborener Kinder. Die Eltern-Kind-Beziehung entwickelt sich nicht erst ab Geburt, sondern bereits in der Schwangerschaft. Alle familiären Modelle, Vorstellungen, Erwartungen und gemeinsamen Erfahrungen in der Schwangerschaft prägen die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind, lange bevor es zur Welt kommt. Die etwa 40 Wochen sind zunächst geprägt von Erwartungen und Vorstellungen („Wie wäre es, eine gute Mutter zu sein?“), dann von den ersten Lebenszeichen (ca. 18. Woche; „Wie mag es sein, dieses Kind, das mal lebhaft, mal sanft tritt?“) und schließlich von den Vorbereitungen auf die Geburt (ein inneres Bild, wie das Kind sein könnte, weicht einem realen; „Was können wir als Eltern konkret tun?“). Hoffnungen und Sorgen begleiten einen schrittweisen Prozess, in dem sich Eltern auf ihr ungeborenes Kind einlassen und Zeit und Raum für eine Familie schaffen. Abschließend lässt sich vor der Geburt nicht einschätzen, wie sehr sich das Leben des einzelnen Elternteils und als Paar verändern wird. Deshalb ist es wichtig, bereits in der Schwangerschaft Vorbereitungen zu treffen, um nach der Geburt ausreichend Zeit zu haben, sich an die neue Lebenssituation und einen neuen Menschen zu gewöhnen, der zwar das eigene „Fleisch und Blut“, aber doch ein Individuum ist, dessen Wesen und Bedürfnisse kennen gelernt werden müssen. Erst danach sollten – wenn möglich – die Entscheidungen fallen, wann die Mutter wieder arbeiten geht, und wie sehr, auch zeitlich, ein Kind den Vater braucht.

1.2 Die ersten drei Monate Die ersten Stunden nach der Geburt sollte ein Kind mit allen Sinnen bei seinen Eltern sein. Es sollte sie spüren, riechen und hören. Geht es Mutter und Kind gut genug, sollte das Kind unmittelbar nach der Austreibung auf die Brust der Mutter gelegt werden, sodass es ihren – aus dem Mutterleib vertrauten – Herzschlag hören kann. Nach notwendigen Untersuchungen und mit der ersten Windel versorgt, sollten sich Mutter und Kind dann in engem Körperkontakt von den Strapazen der Geburt erholen. Die meisten Neugeborenen sind in den ersten Stunden sehr wach und aufmerksam, viele Eltern trotz Schlafmangel und Anstrengungen ebenso: Sie haben ein starkes Bedürfnis, einander kennenzulernen. Die Ernährung von Säuglingen basiert auf Such-, Saug- und Schluckreflex auf Seite des Kindes, Milchbildungs- und Milchausscheidungsreflex auf Seite der Mutter. Das Saugen des Kindes „bestellt“ die Milch, weshalb die Häufigkeit des Anlegens die Milchproduktion bestimmt. In den ersten Tagen wird Vormilch (Kolostrum) gebildet, die eine hohe Dosis wichtiger Abwehrstoffe enthält. Binnen vierzehn Tagen bildet sich reife Milch. Die Häufigkeit des Anlegens und die Trinkmengen sind von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Sie hängen nur geringfügig vom Körpergewicht ab. Ob ein Kind ausreichend versorgt ist, lässt sich in absteigender Spezifität mittels Wachstumskurve, Gewichtszunahme, Aktivität und Schreiverhalten feststellen. Wie schon in der

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Schwangerschaft wirkt sich die Ernährung der Mutter auf das Stillen aus und sollte deshalb ausreichend und vielfältig sein. Die Ernährung von Neugeborenen und Säuglingen ist nicht allein körperlich lebenswichtig, sondern ein wichtiger Bestandteil des Beziehungsaufbaus zwischen Bezugspersonen und Kind. Nach der Geburt können Neugeborene bis zu zehn Prozent ihres Geburtsgewichts verlieren, sollten dieses binnen 14 Tagen jedoch wieder erreichen. Insgesamt nehmen Größe, vor allem die des Kopfes, und Gewicht in den ersten drei Monaten enorm zu. Die Kopfform wird zunächst durch den Geburtsvorgang, später durch Schwerkraft und genetische Anlagen bestimmt. Die Schädelnähte schließen sich nach dem ersten halben Lebensjahr bis spätestens zum Ende des zweiten Lebensjahres. Nach und nach entwickeln Säuglinge einen zirkadianen bzw. Tag-Nacht-Rhythmus. Ein ritualisierter Tagesablauf mit immer gleichen Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten hilft ihnen dabei. Zunächst schlafen sie nur wenige Stunden (ca. 2–4) am Stück. Mehr als sechs Stunden kämen einem Durchschlafen gleich, das schon durch den periodisch alle zwei bis vier Stunden auftretenden Hunger in den ersten Lebensmonaten kaum ein Kind erreicht. Zu ruhigen Nächten trägt bei, dem Nähe-Bedürfnis von Säuglingen auch nachts zu entsprechen. Dabei sollte das Kind zur Reduktion des Risikos für den plötzlichen Kindstod nicht auf weichen, unebenen Unterlagen, ohne Kissen und Decken in einem 16–18 Grad kühlen Raum schlafen (dafür warm angezogen in einem Schlafsack). Das Kind im Elternschlafzimmer und in unmittelbarer Hör- und Reichweite schlafen zu lassen entlastet Kinder und Eltern meist gleichermaßen. Es gilt zu bedenken, dass ein Kind, das lauter schreien muss, auch wacher wird und entsprechend schwieriger wieder einschläft. Bedürfnisse äußern Säuglinge in erster Linie durch Schreien. Es signalisiert Hunger, eine volle Windel oder Kälte, drückt aber auch das Bedürfnis nach Zuwendung und Körperkontakt aus. Besonders in den Abend- und Nachtstunden kann es zu einem unspezifischen Schreien kommen. Von der Geburt bis zur sechsten Lebenswoche nimmt das Schreien charakteristischerweise zu, danach bis zum dritten Lebensmonat wieder ab (bei Frühgeborenen ausgehend vom errechneten Geburtstermin), wobei sich Säuglinge zunehmend durch Vokalisieren ausdrücken. Verkürzt oder abgemildert, nicht jedoch gänzlich vermieden werden können Schreiphasen, wenn Kinder tagsüber regelmäßig getragen und beschäftigt (spielen, „turnen“, massieren) werden, ein- bis zweimal täglich an die frische Luft kommen und der Tagesablauf ritualisiert ist (feste Essens-, Aktivitätsund Schlafenszeiten). Babylaute folgen im Verlauf der ersten Monate einem universalen, mit der physiologischen Reifung abgestimmten Entwicklungsprogramm und sind damit mehr als eine Bedürfnisäußerung oder gar reine „Alarmsirene“ (Fuamenya et al. 2015). Untersuchte Neugeborene aus verschiedenen Ländern und Sprachkulturen zeigen im Weinen vier universale melodische Grundkonturtypen, die wahrscheinlich Spuren der Lautäußerungen unserer Vorfahren vor etwa zwei Millionen Jahren darstellen. Die Fähigkeit, bereits in den ersten Lebenstagen Melodiekonturen zu erzeugen, die im Hinblick auf die Intonation Eigenschaften der gehörten Muttersprache aufweisen, scheint dagegen

1.2  Die ersten drei Monate

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deutlich später in unserer Stammesgeschichte entstanden zu sein (Wermke 2016; Mampe et al. 2009; Wermke und Mende 2006). Das Interesse an menschlichen Gesichtern und Stimmen ist angeboren. Säuglinge interessieren sich nicht für die Bedeutung, sondern für den Ausdruck der Stimme. Sie lauschen Melodien und Rhythmen der Musik genauso wie der Sprache. Die Aufteilung in eine eher musische und eher sprachliche Entwicklung geschieht erst nach einigen Monaten (Wermke und Mende 2009). Am Beginn ihres Lebens erzeugen Kinder Melodiebewegungen von anderthalb und mehr Oktaven im Weinen – wie beim Singen. Hierin könnte sich abbilden, dass die Verständigung unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren wohl sehr musikalisch erfolgte. Die Ausdrucksmöglichkeiten von Säuglingen umfassen Mimik, Blicke, Laute, Körperhaltungen und Bewegungen, an die sich Eltern intuitiv anpassen (intuitives Elternverhalten). Sie zeigen einfaches, repetitives Verhalten, das dem Kind das eigene Verhalten und Gefühle widerspiegelt. Dies trägt zur Entwicklung von Bindung und Emotionsregulation bei. Das Anheben der Stimme, Dehnen von Silben und die Ausformung großer Melodiebögen beim Sprechen gegenüber Säuglingen ist vermutlich Relikt unserer Vorfahren, die anfangs wohl eher melodisch lautiert als gesprochen haben. In der Gegenwart unterlegen wir die Melodie unserer Kommunikation mit Säuglingen zusätzlich mit Lautsprache. Auf Weinen mit einer gleitenden Veränderung der Tonhöhe (gewissermaßen ein Heulen) zu reagieren, fasziniert Kinder in den ersten Lebensmonaten nach wie vor und kann das Weinen unterbrechen. Ein Vorsingen mit ausgeprägter Frequenzmodulation hat meist den gleichen Effekt, der durch Sprechen kaum gelingt. Nach drei Monaten verfügen Säuglinge so bereits über ein enormes Repertoire an Melodie und Rhythmik, und können Vokale mit Konsonanten verbinden. Wenig später klingt dies bereits silbenartig und wird kurz darauf halbwegs verständlich. Diese erstaunliche Leistung beruht vermutlich nicht nur auf Imitation, sondern auch auf einer Wechselwirkung mit genetischen Faktoren und Lernmechanismen. In den ersten Lebenswochen zeigen Säuglinge häufig ein sogenanntes Engelslächeln, auf das mit etwa sieben Wochen das soziale Lächeln folgt. Zunächst lächelt das Kind dabei jedes Gesicht an, dann nur noch vertraute und schließlich nur noch freundliche vertraute Gesichter. Die Eltern werden auch am Geruch erkannt. Bis zum dritten Lebensmonat erlernen Säuglinge die Kopfkontrolle in Bauchlage und im Sitzen, wie es durch die Schwerkraft außerhalb des Mutterleibs nötig wird. Binnen des ersten halben Lebensjahres verändert sich in Bauchlage die Haltung vom Beugen zum Strecken, in Rückenlage vom Strecken zum Beugen. Die Abwechslung von Bauchlage, Rückenlage und Wippenlage (halb aufrechtes Sitzen) ermöglichen unterschiedliche Bewegungen und Wahrnehmungsperspektiven, das Tragen in Tragehilfen vereinbart Körperkontakt mit Bewegung. Dies stellt ein Grundbedürfnis von Säuglingen dar. Auch Baden, Massagen und „Turnen“ fördern das Wohlbefinden und die Beziehung zu den Bezugspersonen gleichermaßen. Altersgerechtes Spiel in den ersten Lebensmonaten bedeutet zum einen Wechselspiel zwischen Kind und Bezugsperson, zum anderen die Koordination der eigenen Hände

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

(in den Mund nehmen, anschauen und berühren). Wechselspiel bedeutet, Interaktion und Erholung abzuwechseln, deren Zeitpunkt das Kind durch Zu- und Abwenden selbst anzeigt. Hand-Mund-, Hand-Augen- und Hand-Hand-Koordination dienen der Vorbereitung auf das Greifen im nachfolgenden Entwicklungsabschnitt. Mütterliche Antikörper schützen Säuglinge in den ersten Monaten vor bakteriellen Infektionen, nicht aber gegen Viren. Insbesondere virale Atemwegsinfekte können deshalb gefährlich sein, weshalb der Kontakt zu erkälteten Erwachsenen und Kindern dringend vermieden werden sollte. Die ersten drei Monate benötigen ausreichend Zeit, sich an die neue Lebenssituation als Familie zu gewöhnen und das Wesen und die Bedürfnisse des eigenen Kindes kennen zu lernen. Eltern und Kind profitieren dabei von einem gleichförmigen Tagesrhythmus und Ruhe, zu denen sich besser finden lässt, wenn die nachvollziehbar neugierigen Besucherströme – soweit möglich – auf die darauffolgenden Monate vertröstet werden (ca. ab der 9. Lebenswoche kann ein geimpftes Kind auch anderen Kleinkindern risikoärmer begegnen). Mit von häufigem oder nächtlichem Schreien gestörten Nachbarn sollte frühzeitig das klärende Gespräch gesucht werden (alle Eltern kennen das und es wird bis zum dritten Monat wieder abnehmen). Wenn der Stresspegel von Bezugspersonen so hoch wird, dass sie Gefahr laufen, das Kind zu schütteln, sollten sie genau das, wovon in diesem Buch sonst abgeraten wird, tun: es in Abwägung von Übeln sicher ablegen, die Tür hinter sich schließen und bis zur eigenen Beruhigung schreien lassen. Schütteln verursacht ein körperliches, lebensbedrohliches Trauma und ist in diesem Fall ganz eindeutig das größere Übel.

1.3 Vierter bis neunter Monat Wenn die Bezugspersonen eine sichere Basis darstellen, können Kinder vom vierten bis neunten Lebensmonat zunehmend ihre Umwelt explorieren, ohne ihr Bedürfnis nach Geborgenheit zu gefährden. Sind Kinder körperlich und emotional gut versorgt, erleben sie bis zur Vollendung des ersten halben Jahres dabei kaum Beängstigendes und es geht ihnen rundum gut. Dies zeigen sie durch Lächeln, Lachen, Geräusche und Laute. Mit der Fähigkeit, zwischen vertrauten und fremden Menschen zu unterscheiden, endet diese Zeit. Kinder beginnen dann zu „fremdeln“ und zeigen Angst, die nicht selten mit dem Wunsch nach Exploration konkurriert. Fremdeln und Trennungsangst setzen der Exploration räumliche Grenzen und schützen Kinder vor möglichen Gefahren. Ihre Ausprägung hängt dabei von der Qualität der Bindung zu einer Person und sozialen Erfahrungen ab. Eine Fremdbetreuung sollte deshalb in diesem Alter nur durch vertraute Personen erfolgen, die in der Lage sind, alle körperlichen, aber auch Bedürfnisse nach Zuwendung und Geborgenheit altersgerecht zu stillen. Muttermilch und Säuglingsnahrung werden im Laufe des ersten Lebensjahres durch Beikost ergänzt, da sie den Bedarf an Nährstoffen und Energie zunehmend weniger decken. Der mütterliche Busen verliert dabei immer mehr seine Funktion als Nahrungs-

1.3  Vierter bis neunter Monat

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quelle, spendet jedoch noch lange Zeit Trost und Geborgenheit. Durchschnittlich um den sechsten Lebensmonat herum interessieren sich Kinder eigenständig für verschiedene Geschmäcker und Konsistenzen und sind dazu von ihrer Mundmotorik und Verdauung ausreichend entwickelt. Milchprodukte, z. B. Vollmilch (Kinder brauchen das Fett!), liefern Eiweiß, Kalzium und Phosphat. Im Übrigen eigenen sich Ei, Getreide, Gemüse, Früchte und Fleisch als Beikost. Wie die Milchmenge ist auch die Beikostmenge von Kind zu Kind sehr unterschiedlich, weiterhin können Wachstumskurven (Gewicht und Länge), die Zufriedenheit des Kindes und die Beschaffenheit des Stuhls Auskunft über die Versorgung geben. Gewogen werden sollten Kinder mindestens einmal monatlich. Einen „richtigen Zeitpunkt“ für das Abstillen gibt es nicht, aus der Bedürfnislage von Kindern und Müttern ergibt es sich häufig etwa mit Erreichen des ersten Lebensjahres. Da auch der mütterliche Schutz vor Infektionen abnimmt, häufen sich etwa ab dem ersten halben Lebensjahr Infektionen mit Fieber, Schnupfen, Husten, Ausschlägen und Durchfall. Diese lassen sich nicht vermeiden und helfen Kindern langfristig, gesund zu bleiben, da ihr Immunsystem eine eigene Abwehr entwickelt. Eine Argumentation, die für schwere Infektionen wie Tetanus, Diphterie, Keuchhusten, Poliomyelitis, Hepatitis und andere wegen der schweren Krankheitsverläufe in keinem Verhältnis zum sich daraus ergebenden Risiko steht, weshalb die empfohlenen Impfungen vollständig durchgeführt werden sollten. Im Zeitraum zwischen dem vierten und neuen Lebensmonat, also in einem relativ großen Zeitfenster, beginnen Kinder, sich um die eigene Achse und im Kreis herum zu drehen, zu robben, krabbeln und sich aufzusetzen. Spätestens nun gilt es, die Wohnung so zu gestalten, dass Kinder ihre Neugierde und ihren Bewegungsdrang ausleben können, ohne von Gegenständen, Steckdosen oder Putzmitteln bedroht zu sein. Auch sollten Kinder den Bezugspersonen beim Spielen räumlich nahe sein können. Die um den 4. Lebensmonat herum erworbene Fähigkeit, zu greifen (schrittweise zunächst palmar, also mit der ganzen Hand, dann im Scherengriff und schließlich im Pinzettengriff) erweitert die Handlungsmöglichkeiten beträchtlich. Das Schlafverhalten ist ebenso variabel. Ein verallgemeinerbares Soll gibt es weder beim Schlafbedarf, noch bei den Schlafenszeiten. Je mehr ein Kind jedoch tagsüber schläft, desto weniger schläft es nachts und umgekehrt. Daraus lässt sich ableiten, was ein abendliches Einschlafen fördern kann: Dazu gehört in erster Linie das beschriebene Gefühl der Geborgenheit, aber auch der beschriebene ritualisierte Tagesablauf. Immer gleiche Einschlafrituale zur immer gleichen Tageszeit begünstigen Ein- und Durchschlafen. Wie in den ersten drei Monaten gehören Nahrungsaufnahme (und beschwerliche Verdauung) zu den Weckreizen, weshalb die Nahrungsaufnahme hauptsächlich tagsüber erfolgen sollte. Während häufiges Stillen oder Füttern „in Etappen“ tagsüber weitgehend unbedenklich ist, stört es nachts ab einer gewissen Häufigkeit die Nachtruhe von Eltern und Kind. Je früher ein Kind schlafen geht, desto früher wird es munter. Wenn ein Bett ein Signal bleiben soll, zu schlafen, sollte es dann auch verlassen werden. Umstellungen der Einschlaf- und Aufstehzeiten gelingen – konsequent durchgeführt – nur schrittweise in einem Zeitraum von etwa zwei Wochen.

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Ab dem vierten Lebensmonat entwickeln Kinder spielerisches Verhalten, das das übrige Lebensjahr prägt. Um Dinge zu erkunden betrachten sie sie, nehmen sie sie in den Mund und in die Hand. Um Ursache und Wirkung zu erforschen, begeistern sie sich für Wasser, Sand und Erde, aber auch für alles, was sich „mitziehen“ lässt. Dinge verschwinden zu lassen oder „Kuckuck“ sind Spiele mit der Objektpermanenz. Diese Verhaltensweisen sind entwicklungsnotwendig und bedürfen einer geeigneten Umgebung. Gegenstände in dieser Umgebung sollten von Kindern nicht vollständig in den Mund genommen werden können, keine giftigen Materialien (z. B. Farbe) enthalten, unzerbrechlich und ungefährlich geformt (z. B. nicht zu spitz) sein. Durchschnittlich ab dem fünften Lebensmonat brechen bei Kindern die Zähne durch (die Zeitspanne liegt allerdings zwischen der ersten Lebenswoche und etwa eineinhalb Jahren). Meist ist dies schmerz- und folgenlos, manche Kinder sind während des Zahndurchbruchs jedoch weinerlich, speicheln viel, haben einen wunden Po oder leichten Durchfall. Fieber oder andere Infektionszeichen haben mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Ursachen! Das stimmliche Interagieren mit der Mutter oder einer anderen Bezugsperson ist für Säuglinge faszinierend und spielerisch zugleich. Die Lautbildung orientiert sich an der Umgangssprache, die Satzmelodie an derjenigen der Bezugspersonen. „Mama“ oder „Papa“ sind Kettenlaute, die oft gerade nicht in der direkten Interaktion gebildet werden (sondern in einer Art Selbstgespräch), durch die meist freudigen Reaktionen der Umgebung verstärkt und daraufhin immer gezielter verwendet werden. Ab dem sechsten Lebensmonat beginnen Kinder, Wörter auf Personen, Handlungen, Gegenstände und Situationen zu beziehen. Dies gelingt besonders gut, wenn sie das Angesprochene sehen, hören oder fühlen können. Gesten (z. B. Winken) kommen erst zum Ende des ersten Lebensjahres hinzu. Wie die motorische Entwicklung findet auch die sprachliche Entwicklung in einem Zeitraum (nicht zu einem Zeitpunkt) und unterschiedlich schnell statt. Erste Worte sollten vom 10. bis etwa zum 30. (!) Lebensmonat gesprochen werden. Die meisten Kinder kennen am Ende des ersten Lebensjahres jedoch Namen vertrauter Personen und Gegenstände.

1.4 Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres Im zweiten Lebensjahr zeigen zwei Entwicklungen an, dass sich Kinder als eigenständige Personen wahrnehmen: Sie beginnen, körperlich selbstständiger zu werden (Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, An- und Ausziehen, beginnende Sauberkeitsentwicklung) und entwickeln ein Trotzverhalten (bis hin zu Wutanfällen und Weinkrämpfen). Auch wenn letztere besorgniserregend aussehen und Bezugspersonen hilflos danebenstehen lassen können: sie sind normaler, notwendiger Teil der Entwicklung. Das Ausmaß hängt von Bindungsverhalten und Temperament des Kindes, zum Teil auch vom elterlichen Erziehungsstil ab. Die Befriedigung des zunehmenden Interesses für andere Kleinkinder hat wichtigen Anteil an der sozialen und sprachlichen Entwicklung. Das

1.4  Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres

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Nebeneinander der Wahrnehmung der eigenen Person als „Ich“ und des Interesses für andere bahnt auch Eifersucht, im Besonderen die auf Geschwister – wiederum handelt es sich dabei jedoch um eine normale Entwicklung. Selbstbestimmte Verselbstständigung bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres legt das Fundament für ein positives Selbstwertgefühl. Zweifel an der Richtigkeit eigener Wünsche und Bedürfnisse und Einschränkungen explorativer Verhaltensweisen können dagegen ein Grundgefühl der Scham verursachen. Spätestens jetzt können Kindern alles essen, was der Rest der Familie isst, und sollten dazu auch am Tisch sitzen. Es beginnt eine Zeit, in der sich Vorlieben und Abneigungen herausbilden, wozu Kinder eine Vielfalt an Geschmäckern und Konsistenzen erfahren und möglichst selbstständig essen können müssen. Da dies anfangs nur mit den Händen gelingt, sieht der Essplatz dabei zunehmend unsauber aus. Dies ist hinzunehmen. Das Essen mit Besteck lernen Kinder im weiteren Verlauf am Vorbild ihrer Bezugspersonen (zunächst mit dem Löffel). Am Ende des zweiten Lebensjahres können die meisten Kinder auch aus einer Tasse trinken. Mag es phasenweise so aussehen, als ernährten sich Kleinkinder einseitig, darf über längere Zeiträume davon ausgegangen werden, dass sie sich ausgewogen ernähren, sofern das dazu notwendige Angebot zur Verfügung steht. Ob sie genug zu sich nehmen, lässt sich anhand der Wachstumskurven (Gewicht und Länge) objektiv feststellen. Karies beim sich nun komplettierenden Milchzahngebiss kann durch zuckerarme Zwischenmahlzeiten, Flouridprophylaxe und natürlich Zähneputzen wirksam vorgebeugt werden. Die motorischen Entwicklungsstadien werden nicht in einer verallgemeinerbaren Abfolge durchlaufen und die Fortbewegung erfolgt in sehr unterschiedlicher Weise. Erste Schritte machen Kinder in einer Streubreite vom achten bis zum zwanzigsten Lebensmonat. Mit knapp zwei Jahren können sie schließlich gehen und ihre Hände fortan für den Erwerb von Kulturtechniken nutzen. Laufen kann für mehrere Wochen eine solche Herausforderung darstellen, dass in anderen Entwicklungsbereichen, z. B. der Sprache, währenddessen nur geringfügige oder gar keine Veränderungen stattfinden. Das Schlafbedürfnis nimmt im zweiten Lebensjahr ab, insbesondere tagsüber. Nächtliches Aufwachen ist in diesem Alter häufig dadurch bedingt, dass es überschätzt wird, manchmal getragen vom Wunsch der Eltern nach „kinderfreier“ Zeit in den Abendoder Morgenstunden. Doch es gilt weiterhin, dass ein Kind nur seinem Schlafbedürfnis entsprechend schlafen kann – und danach wach ist. Bei zu frühen Einschlafzeiten kann dies auch mitten in der Nacht der Fall sein. Geschwister stören sich, wenn die Altersunterschiede nicht allzu groß sind, ab dem zweiten Lebensjahr beim Schlafen nicht. Im Gegenteil vermittelt es Geschwistern ein Gefühl der Vertrautheit und Zusammengehörigkeit, im gleichen Zimmer zu schlafen. Dies reduziert das Aufsuchen des Elternbettes und ermöglicht meist die Schaffung eines Spielzimmers, in dem es auch dauerhafter etwas unordentlicher sein kann, weil etwaige Stolpersteine im Dunkeln nicht stören. Mögliches Toben und Streiten in der ersten Zeit legt sich, vor allem dann, wenn sich Betreuungspersonen nicht zu sehr involvieren: denn dann führt kein Weg darum herum, sich miteinander zu arrangieren.

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Spielen im zweiten Lebensjahr heißt vor allem, Nachzuahmen und Teil des familiären Alltages zu sein – und im klassischen Sinne vor allem mit anderen Kindern zu spielen. Dementsprechend sind Alltagsgegenstände häufig interessanter als gekauftes Spielzeug. Wie man sie verwendet, schauen sich Kinder wie ihr soziales Verhalten von Bezugspersonen ab. Das Spiel mit Ihnen hat Symbolcharakter funktioneller (z. B. Wasserhähne), repräsentativer (z. B. Puppenspiel), sequenzieller (z. B. Kaufladen) und symbolischer (z. B. Betanken eines Lasters mit einem Bauklotz) Natur. Dinge spielerisch ineinander zu stapeln und zu füllen, vertikal und horizontal zu bauen (Entwicklung in dieser Reihenfolge) hat räumlichen Charakter. Die Fähigkeit zur Kategorisierung kann sich im Spiel durch Sortieren und Ordnen von Gegenständen mit bestimmten Eigenschaften abbilden. Beim Spielen kann im zweiten Lebensjahr eine Art „Plappern“ beobachtet werden, das Rhythmus und Ton der Sprache der Bezugspersonen nachahmt, jedoch noch keine echten Wörter enthält. Dabei verstehen Kinder deutlich mehr, als sie ausdrücken können, auch weil sie andere Informationen (Körperhaltung, Mimik, Zeigegesten, vorgehaltene Gegenstände etc.) miteinbeziehen. Deshalb sollte sich jede Ansprache am Sprachverständnis orientieren und nicht den Ausdruck des Kindes nachahmen. Ihren Vornamen beginnen Kinder zwischen Mitte des zweiten und Ende des dritten Lebensjahres zu verwenden.

1.5 Drittes bis fünftes Lebensjahr Die Konkurrenz zwischen dem Bedürfnis nach Zuwendung und zunehmender Verselbstständigung verstärkt sich mit Beginn des dritten Lebensjahres zunehmend und bekommt ganz lebenspraktische Bedeutung. Bezugspersonen sehen sich mit einem hohen Bewegungsdrang, der nicht mit Hyperaktivität im Sinne einer Verhaltensauffälligkeit verwechselt werden sollte, und der Notwendigkeit konfrontiert, Kinder jeden Tag in unzählige Entscheidungen mit einzubeziehen und soweit möglich Wahlmöglichkeiten zu geben. Die dazu nötige Zeit und Anstrengung wird mit der Bereitschaft der Kinder belohnt, kooperative Beziehungen einzugehen. Ihr Ausmaß hängt dabei vor allem von den Erfahrungen ab, die ein Kind mit Erwachsenen und anderen Kindern machen durfte und darf. Ein bewussterer Zugang zu eigenen Gedanken und Gefühlen gelingt Kindern ungefähr ab dem vierten Lebensjahr, gleichzeitig reift auch die soziale Kognition, also die Idee, was in welcher Situation in anderen Menschen vorgehen könnte (theory of mind). Soziales Lernen vollzieht sich allerdings immer durch Nachahmung von Verhalten. Werte und Sozialverhalten bilden deshalb in erster Linie Erfahrungen mit Vorbildern ab. Das Spiel mit Symbolcharakter umfasst zunehmend auch Rollenspiele mit anderen Kindern. Räumliches Spiel erweitert sich durch ein dreidimensionales Vorstellungsvermögen. Ab dem vierten Lebensjahr beginnen Kinder, Menschen zu zeichnen, einfache Puzzles zu meistern und sich für Bilderbücher oder Märchen zu interessieren. Auch

1.5  Drittes bis fünftes Lebensjahr

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können sie sich für den Fernseher begeistern. Doch wie im restlichen Leben frisst der Fernseher Zeit, die nicht für andere Erfahrungen genutzt werden kann, und ist in keinem Fall entwicklungsnotwendig. Damit fernsehen nicht schadet, müssen die Filme nicht nur dem Alter, sondern auch dem individuellen Entwicklungsstand angepasst sein. In Konkurrenz mit Langeweile gewinnt der Fernseher immer – es braucht alternative Angebote, die am besten konkrete Erfahrungen mit Bezugspersonen oder anderen Kindern beinhalten. Wird der Bewegungsdrang ausreichend befriedigt, können Kinder nicht nur Koordination, Gleichgewicht und Muskelkraft gut entwickeln, sondern auch Gefühle auf vielfältige, günstige Weise regulieren lernen. Die Suche nach Geborgenheit respektive Trennungsängste äußern sich nachts im Aufsuchen des elterlichen Bettes, wenn es keinen anderen triftigen Grund gibt. Dies ist von einer bis zu jeder Nacht bis etwa zum vierten Lebensjahr normal. Die Geburt eines Geschwisterkindes oder andere einschneidende Erlebnisse können verstärkend wirken. Wenn Kinder mit Wimmern, Keuchen oder schreiend aufschrecken und für bis zu fünfzehn Minuten nicht ansprechbar sind, Bezugspersonen nicht erkennen, desorientiert und nur sehr schwer erweckbar sind, danach jedoch erwachen und sich nicht oder nur bruchstückhaft erinnern können, handelt es sich um einen sogenannten Pavor Nocturnus, von dem ausgegangen wird, dass es sich um eine Reifungsstörung der Regulierung der Schlafphasen mit genetischer Komponente handelt. Diese Anfälle sind nicht zu verwechseln mit Albträumen, an die sich Kinder in der Regel erinnern können. In allen Fällen gilt es vor allem, Ruhe zu bewahren und Kindern Sicherheit zu vermitteln. Bei Albträumen können Zusammenhänge mit einer psychischen Belastung bestehen. Reduzierend können wiederum feste, regelmäßige Schlafenszeiten wirken. Sprachlich erschließt sich Kindern ab dem dritten Lebensjahr eine neue Welt. Aktiver und passiver Wortschatz wachsen enorm, Grammatik und Satzbau werden erlernt, Fortschritte in Aussprache, Melodie und Rhythmus tragen dazu bei, dass Kinder im Alter von fünf ihre Muttersprache gut verständlich beherrschen und verstehen. Eine beeinträchtigte Artikulation der Konsonanten r, s und sch sowie Stottern können befristet Teil der normalen Sprachentwicklung sein. Mit etwa 30 Monaten ist das Milchzahngebiss vollständig. Da Kinder nun außerdem zunehmend selbstständig essen können, kann es verführerisch sein, als Familie nicht mehr gemeinsam zu essen. Aufgrund der sozialen und emotionalen Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten wäre es jedoch günstig, dafür Rituale und Freiräume zu schaffen. Auch Tischmanieren werden überwiegend vorgelebt (und nicht anerzogen). Das Angebot an Essen bestimmen (mit Wahlmöglichkeit eines gleichwertigen Nahrungsmittels bei Abneigung) die Bezugspersonen, die Menge aber die Kinder. Diskussionen über das Aufessen sind nutzlos bis hin zu schädlich. Intensive Geschmäcker, wie sie Geschmacksverstärker und Salz auslösen, können vorübergehend eine Vorliebe von Kindern werden. Die Körpergröße entspricht im vierten Lebensjahr perzentilenmäßig etwa der der Eltern.

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1  Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Kleinkinder durchlaufen bis zu einmal monatlich ungefährliche Krankheiten, die das Immunsystem stärken. Schutzimpfungen schützen vor gefährlichen Krankheiten. (zur Entwicklungspsychologie und –physiologie im Säuglings- und Kleindkindalter vgl. Siegler et al. 2016; Largo 2016; Schneider und Lindenberger 2018)

Literatur Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-Kleinkind- und Vorschulalter. Düsseldorf: AWMF Online. Fuamenya, N., Robb, M., & Wermke, K. (2015). Noisy but effective: Crying across the first 3 months of life. Journal of Voice, 29(3), 281–286. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Munich: Piper. Mampe, B., Friederici, A., Christophe, A., & Wermke, K. (2009). Neworns’ cry melody is shaped by their native language. Current Biology, 19(23), 1994–1997. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Wermke, K., & Mende, W. (2006). Melody as a primordial legacy from early roots of language. Behavioral and Brain Sciences, 29(3), 300. Wermke, K., & Mende, W. (2009). Musical elements in human infants cries: In the beginning is the melody. Musicae Scientiae, 13(2), 151–175. Wermke, K., et al. (2016). Fundamental frequency variation in crying of mandarin and german neonates. Journal of Voice. https://doi.org/10.1016/j.jvoice.2016.06.009.

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Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie schutz- und hilflos. Diese Hilflosigkeit erzwingt die Zuwendung einer Bezugsperson. Weinen, Schreien und Greifen nach der Bezugsperson sind die Suche danach auf Ebene der Reflexe, das zunehmend gerichtete Schreien und Krabbeln zu einer bestimmten Bezugsperson ihre Weiterentwicklung. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Zuwendung ist in physischer und emotionaler Hinsicht für Kinder lebensnotwendig und das sich daraus entwickelnde Bindungsverhalten eine Anpassungsleistung, die sie bestmöglich sichert. Die Erfahrungen mit Bezugspersonen in den ersten drei Lebensjahren stellen das entscheidende Modell für den Umgang mit Gefühlen und jede Art der Beziehungsgestaltung im restlichen Leben dar. Menschen, die von ihren Bezugspersonen im Säuglings- und Kleinkindalter ausreichende Fürsorge, Kontinuität und Stabilität erlebt haben, können darauf in Krisenzeiten zurückgreifen und entwickeln mit geringerer Wahrscheinlichkeit und in milderer Ausprägung psychische Auffälligkeiten. Die Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter kann deshalb gewissermaßen als Schutz für das ganze Leben verstanden werden. Das Neugeborenenalter erstreckt sich von der ersten bis zur vierten Lebenswoche, das Säuglingsalter vom ersten bis zum zwölften Lebensmonat und das Kleinkindalter anschließend bis zum vollendeten fünften Lebensjahr. Die Ausführungen in diesem Buch beziehen sich auf das gesamte frühe Kindesalter, d. h. von der Geburt bis zum sechsten Geburtstag.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_2

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2  Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings …

2.1 Betreuungssituation Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter brauchen • Bezugspersonen, denen es gut geht • Bezugspersonen, die vertraut, verfügbar und verlässlich sind • gemeinsame, alltägliche Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen und genügend Zeit dafür • Vorbilder in allen Lebenslangen (auch beim Essen und auf der Toilette!) • Möglichkeiten, sich ausgiebig und vielfältig zu bewegen • eine Ansprache, die sich an ihren Vorstellungen und ihrem Sprachverständnis orientiert • andere Kinder • Spielpartner, die ihrer Neugier folgen • Rituale und einen gleichförmigen Tag-Nacht-Rhythmus

Diese Bedingungen sind in der Fremdbetreuung und institutionell nur näherungsweise zu erfüllen. Um psychischen Auffälligkeiten dort bestmöglich vorzubeugen bedarf es • Personal, das mit Arbeitsbedingungen und Gehältern zufrieden ist • Personal, das pädagogisch qualifiziert respektive gut ausgebildet ist und fachlich durch kontinuierliche Fortbildung und Supervision unterstützt wird • einen Betreuungsschlüssel von maximal 1:3 für Kinder jünger als 18 Monate, maximal 1:4 für Kinder bis 26 Monate, maximal 1:5 für Kinder bis 60 Monate und maximal 1:8 für ältere Kinder • einen Betreuungsschlüssel, Arbeitsmodelle und persönliche Eignung jedes Mitarbeiters, die für jedes Kind mindestens zwei kontinuierlich verfügbare, verlässliche Vertrauenspersonen sicherstellen • feste Gruppen in kindgerechten Räumen (insbesondere ausreichende Bewegungs- und Rückzugsmöglichkeiten) und mit kindgerechter Ernährung Für Einzelpersonen, die Kinder außerhalb von Institutionen betreuen (z. B. Tagesmütter), gilt dies gleichermaßen. In dieser Form der Fremdbetreuung finden sich nicht automatisch einschlägig ausgebildete Personen. In ihrem Wissen, ihren Idealen und Zielen sollte sich trotzdem ein ausreichendes Wissen um kindliche Entwicklung und Erziehung abbilden. Der für Institutionen beschriebene Betreuungsschlüssel sollte unterschritten und die Motivation für die Betreuung von Kindern durchaus kritisch hinterfragt werden. Bewusst sollten dahin gehende Fragen sich auch auf die persönliche, finanzielle und räumliche Lebenssituation der Person beziehen. Verfügbarkeit und Kontinuität einer ungenügenden Beziehung und für Kinder ungeeignete räumliche (Sauberkeit von Küche

2.3 Früherkennung

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und Bad, Bewegungsmöglichkeiten) machen den vermeintlichen Vorteil der individueller auf familiäre Umstände ausrichtbaren Betreuung eindeutig zunichte.

2.2 Erziehungsverhalten Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter brauchen grundlegend • hinreichend positive innerfamiliäre Beziehungen und Kommunikation (zugewandte, liebevolle Eltern-Kind-Beziehung, harmonische Paarbeziehung, hinreichend intakte familiäre Beziehungen, positive Grundhaltung gegenüber Wesen und Verhalten des Kindes) • psychisch hinreichend gesunde Bezugspersonen (sowie enge Begleitung im Umgang mit kranken Familienmitgliedern, z.  B. Geschwistern mit Behinderungen) • eine hinreichend konsistente Erziehung, die von Fürsorge, altersentsprechender Aufsicht, Steuerung und Anforderung geprägt ist (vergleiche hierzu den Abschnitt Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren) • Günstige Vorbilder für ihr Sozial, Ess- und (etwa ab dem zweiten Lebensjahr) Sauberkeitsverhalten

Die wiederkehrende Formulierung als „hinreichend“ soll deutlich machen, dass es nicht um Perfektion geht, sondern darum, kindlichen Bedürfnissen zu genügen. 

Die Anpassungs- und Entwicklungsprozesse von Säuglingen, Kleinkindern und ihren Familien sind interdependent und deshalb nicht isoliert zu erfassen, zu beeinflussen oder zu behandeln. Das Wesen und Verhalten von Kindern, wenn sie als Ergebnis von „Erziehung“ gesehen werden wollen, bilden immer auch die psychosoziale Situation der Personen in familiären und anderen Bezugssystem ab – mal unmittelbar, mal maskiert.

2.3 Früherkennung Zur Prävention psychischer Auffälligkeiten gehört auch ihre rechtzeitige Erkennung (sekundäre Prävention). Um Risiken und Auffälligkeiten von Normvarianten unterscheiden zu können, bedarf es der Entwicklungs- und Beziehungsperspektive, die diesem Buch vorangestellt ist (weiterführende Literatur: Siegler et al. 2016; Schneider und Lindenberger 2018). Ihnen wohnt die Einsicht inne, dass es sich bei psychischen Auffälligkeiten und ihren Vorstufen nicht um „Zustände“, sondern Prozesse handelt,

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2  Prävention psychischer Auffälligkeiten im Säuglings …

die in Abhängigkeit von Reifeentwicklung und Bezugssystemen eines Kindes stehen. Zur korrekten Erfassung der psychischen Situationen gehören deshalb Beobachtungen und Untersuchungen zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen (Anforderungs-) Situationen und der Einbezug aller wesentlichen Bezugspersonen (vgl. Gontard 2010, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015). Dazu bedarf es in Institutionen eines Personalschlüssels, der es erlaubt, sich auf jedes Kind ausreichend einzulassen und Familiengespräche zu führen. Nur ein günstiges Verhältnis zwischen Fachkräften und Eltern ermöglicht den notwendigen Austausch von Beobachtungen, Eindrücken und Erfahrungen.

Orientierend sollten Kinder sukzessive (Largo R. 2016) • bis zum 6. Lebensmonat lächeln, sich vom Bauch auf den Rücken drehen, lachen, greifen und Brei essen • bis zum 1. Geburtstag Laute nachahmen, frei sitzen, robben, krabbeln, aufstehen, winken, fremdeln • bis zum 2. Geburtstag erste Wörter sprechen, Bilderbücher anschauen, einfüllen und ausschütten, Dinge aufeinanderstapeln, laufen, aus einem Becher trinken • bis zum 3. Geburtstag Zweiwortsätze verwenden, Vornamen kennen, Treppen selbstständig auf- und absteigen, Kleidung an- und ausziehen, mit Puppen spielen, mit Bauklötzen spielen, Dreirad fahren, selbstständig mit dem Löffel essen • bis zum 4. Geburtstag einfache Sätze sprechen, Mehrzahl und Zeitformen verwenden, Rollenspiele begreifen, beginnend puzzeln, Roller und Fahrrad mit Stützrädern fahren, Märchen anhören, beginnend figürlich zeichnen können.



Das verzögerte oder fehlende Erreichen von Meilensteinen bedeutet nicht automatisch eine verzögerte oder auffällige Entwicklung, sondern muss in die Gesamtentwicklung und Lebensumstände eines Kindes eingeordnet werden.

Literatur Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

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Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter

Psychische Auffälligkeiten ergeben sich aus einem Zusammenwirken von genetischen, psychischen und sozialen Faktoren. Dazu zählen bereits vor der Geburt beispielsweise Nikotin- oder Alkoholkonsum der Mutter, gravierende Lebensereignisse im Laufe der Entwicklung, aber auch psychische Erkrankungen der Eltern. Manche Faktoren sind schnell offensichtlich, andere werden erst bei genauerem Hinsehen und –hören deutlich. Häufige belastende Lebensereignisse psychisch auffälliger Säuglinge und Kleinkinder sind in der Praxis • (Psychische) Belastung der Eltern • Belastete Beziehung bis hin zur Trennung der Eltern • Familiäre Todesfälle • Misshandlung • Missbrauch • Längere stationäre Behandlung unmittelbar nach der Geburt • Adoptionen • Eigene körperliche Erkrankung Um möglichst alle Faktoren in der Entstehung psychischer Auffälligkeiten berücksichtigen zu können, umfassen die Untersuchungen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010) • Gespräche mit den Eltern und anderen Betreuungspersonen • Beobachtung von Interaktionen und Beziehungen • körperliche Untersuchung, ggf. bildgebende Verfahren (EEG, CT, MRT) und laborchemische Untersuchungen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_3

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3  Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten …

• Interdisziplinäre Befunderhebungen (Geburtsmedizin, Pädiatrie, Humangenetik, Ophthalmologie, Pädaudiologie, Logopädie und Ergotherapie) • Ggf. standardisierte Untersuchungsinstrumente. Die Ergebnisse werden nach dem sogenannten „MAS“, dem multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters der Weltgesundheitsorganisation beschrieben. Dieses bedient sich eines Diagnosemanuals, des sog. ICD-10. Die Zahl zeigt die Version an und verändert sich nach jeder Aktualisierung. Für jede Erkrankung wird darin eine Buchstaben-Zahlen-Kombination vergeben, die es Fachleuten erleichtert, sich in dem komplexen Schema zurechtzufinden und international verständlich den Therapieauftrag zu benennen. Übersicht

Die erste Achse stellt das klinisch-psychiatrische Syndrom dar, mit den kinderund jugendpsychiatrischen Störungen und Erkrankungen. Die zweite Achse beschreibt umschriebene Entwicklungsstörungen, die bei der davon zu unterscheidenden Gesamtentwicklung des Kindes einzelne umschriebene Bereiche als auffällig differenziert, wie z. B. die Sprachentwicklung oder die motorische Entwicklung. Auf der dritten Achse wird die intellektuelle Leistungsfähigkeit gemessen und mit normierten Intelligenztests angegeben. Die vierte Achse beschreibt die körperlichen Symptome. Auf der fünften Achse werden aktuelle abnorme psychosoziale Umstände beschrieben. Auf der sechsten Achse werden Defizite in der psychosozialen Anpassung global eingestuft.

Eine altersspezifische Anpassung für das Säuglings- und Kleinkindalter bieten die Diagnosekriterien der ICD nicht. Auch sind für dieses Alter typische Störungen teilweise nicht erfasst, woraus sich die Notwendigkeit für ergänzende Beschreibungen ergibt. Hierfür liegt das Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–5™ 2016) vor, das seinerseits fünf Achsen unterscheidet. Übersicht

Die erste Achse stellt die psychische Störung dar. Die zweite Achse beschreibt die Beziehungsstörung zwischen Eltern und Kind. Die dritte Achse führt die medizinischen Diagnosen nach ICD auf. Auf der vierten Achse werden die psychosozialen Umstände beschrieben. Auf der fünften Achse wird das emotionale und soziale Funktionsniveau beurteilt.

3  Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten …

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Dritte bis fünfte Achse bieten gegenüber dem ICD keinen Mehrwert und erscheinen deshalb klinisch verzichtbar. Die ersten beiden Achsen hingegen stellen in der Praxis ein wertvolles Zusatzinstrument für die Beschreibungen von Störungen bis zum 5. Lebensjahr dar. Auf der ersten Achse können Posttraumatische-, Affekt-, Anpassungs-, Regulations-, Schlaf-, Essverhaltens-, Bezogenheits- und Kommunikationsstörungen (autistischer Formenkreis) näher klassifiziert werden. Die zweite Achse schätzt auf einer Skala von 90 (gut adaptiert) bis 0 (misshandelnd) die Beziehungsqualität zu einer primären Bezugsperson, sowie anhand von sechs Untergruppen (über/unterinvolviert, ängstlich/gespannt, ärgerlich/feindselig) die Beziehungsstörung ein. Dabei handelt es sich um die sogenannte „Parent-Infant-Relationship Global-Assessment-Scale“. Unterhalb eines Scores von 40 gilt die Beziehungsstörung als manifest. Bei Vorliegen einer Beziehungsstörung ohne psychische Störung (erste Achse) kann auch nur die zweite Achse beschrieben werden. Grundsätzlich lassen sich fünf Verlaufsformen von Störungen bei jungen Kindern unterscheiden (nach Angold und Egger 2007): • • • • •

Früh beginnende Störungen mit langfristiger Beeinträchtigung Entwicklungsabhängige Störungen Störungen mit Altersgipfeln und –tälern Störungen mit einer Häufigkeitszunahme im späteren Kindes- und Jugendalter Früh beginnende erwachsenentypische Störungen

Persönlichkeitsstörungen, bipolare Störungen, Suchtstörungen, Anorexie, Bulimie, Panikstörungen, Agoraphobie, dissoziative Störungen und schizophrene Psychosen sind im Säuglings- und Kleinkindalter nicht von Relevanz bzw. treten überhaupt nicht auf. In den ersten Lebensjahren lernen Kinder grundlegend, mit Affekten und Konflikten umzugehen, Impulse zu steuern, andere Perspektiven zu übernehmen, Nähe und Distanz zu regulieren, sowie Beziehungen zu gestalten (vgl. Largo 2016). Ihr Selbstwert, ihr Binnenerleben und ihr Verhalten hängen maßgeblich davon, ob und in welchem Ausmaß sie dabei günstige Erfahrungen machen. Wenn Kinder erlebt haben, dass ihre primäre Bezugsperson verlässlich und verfügbar ist, fühlen sie sich auch als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit bei Bezugspersonen und in der Gesellschaft genügend aufgehoben, um unvermeidbare Krisen bewältigen zu können. Werden frühkindliche Bedürfnisse nach Nahrung, Nähe, Geborgenheit und Exploration befriedigt, entwickeln sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit Ängste, Bedrohungsgefühle, Hilflosigkeit und Scham, wie sie psychischen Auffälligkeiten in allen Altersgruppen häufig innewohnen. Sind solche günstigen Erfahrungen beschränkt oder gar nicht vorhanden, entwickeln Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit psychische Auffälligkeiten. In Institutionen bilden sich diese häufig früh und stark ab, da die Anforderungen und die Interaktion mit der Gruppe für Kinder in jedem Alter eine besondere Herausforderung darstellen. Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention erheblich erleichtern.. Im Grunde geht es dabei um die konkrete Klärung, wer was mit wem bis wann zu tun hat. Bewährte Elemente einer Aufgabenplanung lauten:

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3  Zur Entstehung und Beschreibung psychischer Auffälligkeiten …

• Zielklärung (Was ist der IST-Zustand, was der SOLL-Zustand?) • Gefährdungsanalyse (Gibt es Hinweise auf eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls? Ist dahin gehend eine Beratung durch eine insoweit qualifizierte Fachkraft des zuständigen Jugendamtes erforderlich? Wer holt diese ggf. ein und dokumentiert sie?) • Ressourcenanalyse (Welche Qualifikationen und personellen Ressourcen sind in der Einrichtung vorhanden und sind sie geeignet, dem IST-Zustand günstig zu begegnen?) • Prozessplanung (Welche Qualifikationen und personelle Ressourcen sind in der Einrichtung vorhanden, den SOLL-Zustand zu bahnen? Bedarf es externer Kooperationspartner und ggf. welcher genau?) • Impulsgabe (Wer schildert bis wann wem die Beobachtungen, holt fehlende Informationen und Einverständnisse ein, berät und spricht Empfehlungen aus?) • Verlaufskontrolle (Wer führt in welchen Abständen Bestandsaufnahmen durch, tauscht sich mit externen Kooperationspartnern aus, berät, spricht ggf. weitere Empfehlungen aus und bestärkt die Bezugspersonen in positiven Entwicklungen?) • Bilanzierung (Was ist der IST-Zustand, was der SOLL-Zustand? Ggf. Wiederholung der Aufgabenplanung mit veränderten Zielen)



Eine sogenannte insoweit erfahrene Fachkraft verfügt über spezielles Wissen im Bereich des Kinderschutzes, bezüglich kritischer Fallkonstellationen, über die örtlich gegebenen Hilfestrukturen sowie die Kapazitäten und Eignung möglicher Hilfen.

Literatur Angold, A., & Egger, H. (2007). Preschool psychopathology: lessons for the lifespan. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 48, 961–966. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. ZERO TO THREE. (2016). DC:0–5™: Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and early childhood (DC:0–5).

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Beziehungsstörungen

Die Eltern-Kind-Beziehung entwickelt sich ab der Schwangerschaft. Alle familiären Modelle, Vorstellungen, Erwartungen und gemeinsamen Erfahrungen prägen sie (vgl. Largo 2016). Ein besonderes Risiko für die Entwicklung von Beziehungsstörungen stellen depressive Erkrankungen der Eltern dar.

4.1 Kernsymptome Übersicht

Überangepasstes Verhalten oder Oppositionelles Verhalten oder Ängstliches, überaufmerksames Verhalten

Diese Kernsymptome sind abhängig von der Entstehung unterschiedlich ausgeprägt und gewichtet (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010).

4.2 Zur Entstehung Überinvolvierte Eltern-Kind-Beziehung • • • •

Bedrückte, ängstliche oder ärgerliche Interaktion Inadäquate Anforderungen an das Kind Kind als Partnerersatz/„Freund“ Elterliche Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_4

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4 Beziehungsstörungen

Unterinvolvierte Eltern-Kind-Beziehung • • • •

Bedrückte, zurückgezogene, freudlose Interaktion Inadäquate Reaktion auf kindliche Signale Fehlinterpretation oder Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse Elterliche Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit

Ängstliche/angespannte Eltern-Kind-Beziehung • Ängstliche, angespannte Interaktion • Erhöhte Sensitivität für kindliche Signale • Elterliche Übervorsicht Ärgerlich/ablehnende Eltern-Kind-Beziehung • Ärgerliche, ablehnende Interaktion • Geringe Sensitivität für kindliche Signale • Offenes Zeigen von Ärger und Aggression gegenüber Bedürfnissen und Abhängigkeit des Kindes • Verdeckte Aggression gegenüber dem Kind Es handelt sich um Störungen, die primär beim Kind, einem Elternteil oder beiden liegen können. Beziehungsstörungen können als gravierender Risikofaktor für eine psychische Störung des Kindes in der weiteren Entwicklung gelten (Skovgaar et al. 2007).

4.3 Aufgabenplanung Je nach Alter und sich abhängig entwickelten, begleitenden psychischen Auffälligkeiten von Beziehungsstörungen betroffener Kinder liegen die Herausforderungen in der Betreuung • in der Erkennung und Abgrenzung von Normvarianten und Reifungsphänomen (häufig nur in Kenntnis der Eltern-Kind-Interaktion möglich) • in den konkreten Auswirkungen von überangepasstem, oppositionellem oder ängstlichem, überaufmerksamem Verhalten (sehr individuell) • davon abhängig in der Förderung einer günstigeren Eltern-Kind-Beziehung (siehe Abschnitt Beratung und Intervention) • bei vollständiger Fremdbetreuung von Säuglingen in einer Betreuungssituation, die Sicherheit gegenüber dem Kind, Feinfühligkeit bezüglich kindlicher Signale und hohe emotionale Verfügbarkeit mindestens zweier fester Bezugspersonen gewährleistet.

4.4  Beratung und Intervention

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Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention ­erheblich erleichtern. Beispiel

• Zielklärung: Ein Elternteil zeigt in unserer Kindertagesstätte über einen längeren Zeitraum einen durchgehend bedrückten Austausch mit dem Kind. Es sollen die Hintergründe eruiert werden und eine adäquate Interpretation kindlicher Signale mit Reaktion auf alle Gefühlslagen und Interaktionen des Kindes unterstützt werden. • Gefährdungsanalyse: Es liegen keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vor. • Ressourcenanalyse: Es besteht die Möglichkeit der Hospitation des Elternteils in Begleitung einer Fachkraft. Erfahrungsgemäß besteht seitens des Elternteils Offenheit gegenüber Impulsen seitens unserer Einrichtung. • Prozessplanung: Durch eine dahin gehend erfahrene Heilpädagogin kann eine günstige Interaktion im Rahmen einer Hospitation gefördert werden. Hinsichtlich der Hintergründe der elterlichen Belastung bedarf es möglicherweise der externen fachkundigen Einschätzung (z. B. Hausarzt). • Impulsgabe: Bezugsbetreuerin Frau Meier vereinbart für den 30.07.2019 ein Entwicklungsgespräch und schildert gegenüber dem Elternteil unsere Beobachtungen. Vorbehaltlich neuer Aspekte lädt sie zur Hospitation ein und empfiehlt ggf. einen Termin beim Hausarzt zur Einschätzung der elterlichen Belastung und dahin gehender Unterstützungsmöglichkeiten. Eventuell kann auch eine Schweigepflichtsentbindung gegenüber dem Hausarzt eingeholt werden. • Verlaufskontrolle: Am 06.08.2019 erfolgt eine Besprechung zwischen Frau Meier und der Gruppenleitung, ob die Einladung zur Hospitation angenommen wurde und die Belastung nach hiesigem Eindruck einer ärztlichen Einschätzung bedarf bzw. Offenheit dafür besteht. Zu diesem Termin werden die weiteren Verlaufskontrollen vereinbart. • Bilanzierung: folgt bei Annahme unserer Empfehlungen am 30.08.2019. Ansonsten neue Zielklärung zum 06.08.2019.

4.4 Beratung und Intervention In einem Elterngespräch sollten Sie Ihre Beobachtungen formulieren und die Bedeutung für die kindliche Entwicklung und die Vermeidung weiterer psychischer Auffälligkeiten konkretisieren (weiterführende entwicklungspsychologische Literatur: Schneider und Lindenberger 2018; Siegler et al. 2016). Wenn es Ihnen gelingt, den Eltern zu vermitteln, dass Sie ihre individuellen Schwierigkeiten sehen und in erster Linie zu ihrer Linderung und Lösung beitragen wollen, erleichtern Sie Eltern eine zugewandte Haltung. Auf dieser Grundlage können sie zu Eltern-Kind-Trainings raten, die grundlegend präventiv

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4 Beziehungsstörungen

oder therapeutisch orientiert sind. Wenn bereits erhebliche Schwierigkeiten bestehen und Eltern ratlos bis hin zu verzweifelt sind, weil Kinder beispielsweise viele Stunden täglich weinen und sich nicht beruhigen lassen, kann eine Vorstellung bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll sein. Präventive Trainings sind innerhalb des ersten Lebensjahres und vor allem dann sinnvoll, wenn die Familienplanung betroffener Familien noch nicht abgeschlossen ist. Sie beugen Beziehungsstörungen bei weiteren Kindern vor. SAFE® (Sichere Ausbildung für Eltern) bietet dazu beispielsweise Seminartage schon vor der Geburt an, in denen Fantasien, Hoffnungen und Ängste der Eltern, Pränatale Bindung, Kompetenzen des Säuglings, Kompetenzen der Eltern, Eltern-Säuglings-Interaktion (mit Videodemonstration), Bindungsentwicklung des Säuglings, Vermeidung der Weitergabe von traumatischen Erfahrungen, Prävention durch Psychotherapie thematisiert und Stabilisierungsübungen erlernt werden. Nach der Geburt folgen Informationen über die emotionale Entwicklung des Säuglings, die Einbeziehung der elterlichen Erfahrungen, Video-Feedback-Training anhand individueller Videoaufnahmen. Beratung zur Bewältigung von interaktionellen Schwierigkeiten mit dem Säugling, sowie zur Entwicklung des Bindungs- und Explorationsverhaltens des Säuglings (Brisch 2012). Auch das STEEP™ (Steps Toward Effective Enjoyable Parenting) Programm bietet Kurse bereits in der Schwangerschaft an und begleitet Familien bis ins dritte Lebensjahr mit Einzelkontakten (Hausbesuche) mit videogestützter Beratung, Eltern-Kind-Gruppen und Familienaktionen (Egeland und Erickson 2004), um vor allem die Mutter-Kind-Bindung zu fördern. Therapeutische Trainings vermitteln Sicherheit und Feinfühligkeit gegenüber kindlichen Signalen (z. B. Triple P®; Sanders 1999), zielen auf die Steigerung der emotionalen Verfügbarkeit ab (z. B. Emotional Availability®; Biringen 1994) oder zeigen Eltern eigene ungelöste Konflikte auf, die durch die Geburt eines Kindes neue Bedeutung erlangen und die Eltern-Kind-Beziehung belasten können (z. B. SKEPT; Cierpka und Windaus 2007). Auch die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sieht primär die genannten Eltern-Kind-Trainings vor. Einerseits können dabei durch den häufig späteren Vorstellungszeitpunkt und die höhere Belastung von Kind und Eltern präventive Handlungsmöglichkeiten begrenzt sein und oft höhere Anforderungen an Verfügbarkeit, Intensität und Qualität der Trainings bzw. Therapien gestellt werden. Andererseits besteht in entsprechend qualifizierten Einrichtungen auch die Möglichkeit der Einschätzung und Behandlung beispielsweise einhergehender psychischer Erkrankung der Eltern (etwa der sogenannten postpartalen Depression, die Mütter und Väter betreffen kann). Falls notwendig kann eine stationäre Aufnahme von Kindern und ihren Eltern in einer geeigneten Klinik gebahnt werden. Allein die Behandlung etwa einer elterlichen Depression kann bereits eine positive Veränderung des kindlichen Verhaltens bewirken (Gunlicks und Weissman 2008). Eine mögliche Kindeswohlgefährdung muss erwogen werden und bei Bedarf müssen entsprechende Jugendhilfemaßnahmen eingeleitet werden.

4.6 Praxisbeispiel

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4.5 Vorbeugende Maßnahmen Beziehungsstörungen vorbeugende Maßnahmen zielen in entwicklungs-, kindgerechter und konsequenter Weise darauf ab, dass Bezugspersonen in ausreichendem Maße vertraut, verfügbar und verlässlich sind. Konkret erfordert dies • • • •





Verfügbarkeit Zeitlich und emotional Sensibilität Adäquate Interpretation kindlicher Signale Hohe Responsivität Reaktion auf alle Gefühlslagen und Interaktionen des Kindes (nicht allein auf Grundbedürfnisse oder Schreien) Strukturierung Kind seinem individuellen Entwicklungsstand entsprechend begegnen, verbal und nonverbal kommunizieren (sprachliche Kommunikation mit einem Kind gelingt am besten, wenn sie sich an seinen Vorstellungen und seinem Sprachverständnis orientiert; der sprachliche Ausdruck ist davon zu unterscheiden), Führungsrolle einnehmen, altersentsprechende Autonomie ermöglichen Selbstregulation Eigene negative Gefühle (z. B. Ungeduld, Frustration, Langweile) nicht dem Kind anlasten oder auf das Kind übertragen (Abwertung, Schütteln, körperliche Bestrafung, Androhung von Trennung/Verlassen) Hohe Involvierung Entwicklungs- und kindgerechter Einbezug des Kindes in den Alltag, vielfältige Möglichkeiten zur Entdeckung der Umwelt.

4.6 Praxisbeispiel Beispiel

Paula kommt nach komplikationsloser Schwangerschaft als drittes Kind einer 34-jährigen Mutter gesund zur Welt. Am dritten Lebenstag kann sie nach Hause, wo die Familie in regelmäßigen Abständen von einer Hebamme betreut wird. Als Paula sechs Wochen alt ist, berichtet die Kindsmutter auf deren Nachfrage, dass sie chronisch erschöpft sei und sich über Paula und ihre fortschreitende Entwicklung nicht richtig freuen könne. Tatsächlich habe sie seit der Geburt „gar keine Gefühle mehr“, spüre ausschließlich Müdigkeit und Erschöpfung. Auch der Hebamme fällt die freudlose Interaktion der Kindsmutter mit dem Säugling auf. Auf sein Schreien hin gibt sie ihm mechanisch die Brust, auch wenn die prallvolle Windel Anlass des Schreiens ist. Es kommt ihr vor, als geschehe alles mit einer Gedenkminute, die Reaktionen

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4 Beziehungsstörungen

auf Paulas Bedürfnisse erfolgen deutlich verzögert. Zwar hat der Kindsvater weitere 6 Wochen Elternzeit und scheint ihre Bedürfnisse korrekt zu interpretieren und in adäquater Weise zuverlässig zu reagieren. Doch haben auch die älteren beiden Kinder im Grundschul- und Kleinkindalter Bedürfnisse, die ihn für Paula nur begrenzt verfügbar sein lassen. Auch die Vorsorgeuntersuchung U3 ist bereits eine Woche überfällig. Noch im gleichen Termin sucht sie das Gespräch mit den Eltern. Sie äußert ihr Verständnis für die Erschöpfung. Sie ahne, wie fordernd drei kleine Kinder sein könnten. Sie nennt Beispiele, warum sie eine Überlastung insbesondere der Kindsmutter fürchte. Der Kindsvater gibt an, dass er seinerseits fürchte, die Kindsmutter könne keinen Bezug zu Paula finden und habe im Internet nach Erklärungen gesucht, wobei auf den Begriff der „postpartalen Depression“ gestoßen sei. Er möchte wissen, ob seine Frau so etwas haben könne, obwohl sie es nach den anderen Geburten nicht gehabt habe. Die Kindsmutter reagiert auch in dieser Situation kaum, lässt die Fragen und Überlegungen weitgehend über sich ergehen. Paula selbst wirkt auf die Hebamme altersentsprechend entwickelt. Sie bittet den Kindsvater, dem Kinderarzt die Situation zu schildern und um eine zeitnahe Untersuchung zu bitten. Für den Beginn der siebten Lebenswoche kann dieser vereinbart werden. Außerdem sensibilisiert die Hebamme die Eltern für die Probleme, die aus einer chronischen Überlastung für Paula entstehen und bittet den Kindsvater, die Kindsmutter so viel zu unterstützen wie es ihm nur möglich ist. Glücklicherweise wohnen die berenteten Großeltern wenige Straßen entfernt und können für einige Stunden am Tag die Betreuung der anderen Kinder übernehmen bzw. unterstützen. Die Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt ergibt keine Auffälligkeiten. Dennoch wird der Kindsmutter empfohlen, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, da sie Zeichen einer postpartalen Depression aufweise und dies ihre Beziehung zu Paula beeinträchtigen könne. Da die Kindsmutter keinen Therapieplatz findet, es ihr jedoch nicht bessergeht, sucht die Familie die örtliche psychiatrische Institutsambulanz auf. Dort werden ihr regelmäßige Gespräche angeboten, bis ein Therapieplatz gefunden ist. Auf die Möglichkeit einer Mutter-Kind-Behandlung wird hingewiesen, eine unmittelbare stationäre Aufnahme zur Entlastung angeboten. Die Kindsmutter lehnt diese jedoch zunächst ab. Auf ärztliche Verordnung kann die Hebamme die Familie über den üblichen Zeitraum hinaus begleiten. Wenige Tage nach Wiederaufnahme der Berufstätigkeit des Kindsvaters entschließt sich die Kindsmutter zur stationären Mutter-Kind-Behandlung.

4.7 Checkliste Trifft mindestens ein Item der Tab. 4.1 zu, bedürfen betroffene Bezugspersonen qualifizierter Unterstützung (vergleiche Abschnitt Beratung und Intervention).

Literatur

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Tab. 4.1  Checkliste Beziehungsstörungen Trifft zu

Trifft nicht zu

Mindestens ein Elternteil zeigt über einen längeren Zeitraum einen durchgehend belasteten Austausch (bedrückt, ängstlich, ärgerlich) mit dem Kind Mindestens ein Elternteil reagiert regelhaft nicht passend auf kindliche Signale Mindestens ein Elternteil verhält sich gegenüber dem Kind regelhaft unberechenbar Anzahl

Literatur Biringen, Z. (1994). Attachment theory and research: Application to clinical practice. American Journal of Orthopsychiatry, 64, 404–420. Brisch, K. H. (2012). Bindungsstörungen und ihre Therapie nach Gewalterfahrungen in der Kindheit. Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, 15, 126–147. Cierpka, M., & Windaus, E. (Hrsg.). (2007). Psychoanalytische Säuglings-Kleinkind-Eltern Psychotherapie. Frankfurt a. M: Brandes und Apsel. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. Düsseldorf: AWMF Online. Egeland, B., & Erickson, M. F. (2004). Lessons from STEEP: Linking theory, research and practice for the well-being of infants and parents. In A. Sameroff, S. C. McDonough, & K. L. Rosenblum (Hrsg.), Treating parent-infant relationship problems: Strategies for intervention. New York: Guilford Press. Gunlicks, M. L., & Weissman, M. M. (2008). Change in child psychopathology with improvement in parental depression: A systematic review. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 47, 379–389. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Munich: Piper. Sanders, M. R. (1999). The triple-P Positive Parenting Program: Towards an empirically validated multi-level parenting and family support strategy for the prevention and treatment of child behaviour and emotional problems. Child and Family Psychology Review, 2, 71–90. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. Skovgaard, A. M., Houmann, T., Christiansen, E., Landorph, S., Jorgensen, T., CCC 2000 Study Team, Olsen E. M., Heering K., Kaas-Nielsen S., Samberg V., Lichtenberg A. (2007). The prevalence of mental health problems in children 1 ½ years of age – the Copenhagen Child Cohort 2000. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 48, 62–70. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: ­Kohlhammer.

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Fütterstörungen

Essen und Trinken haben soziale und emotionale Bedeutung. Werden sie als Belohnung oder Bestrafung missbraucht, erhöht sich das Risiko für psychische und Verhaltensauffälligkeiten. Fütterstörungen beziehen sich auf ein Alter, in dem ein von einer zweiten Person unabhängiges Essen des Kindes nicht möglich ist. Davon zu unterscheiden sind Essstörungen, die dies grundlegend voraussetzen. Besondere Risikofaktoren für die Entwicklung von Fütterstörungen sind elterliche Depression und Essstörungen, aber auch Angst-, posttraumatische Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen. Bei allen Fütterstörungen nehmen Kinder nicht altersentsprechend Gewicht zu, zeigen einen Gewichtsverlust und/oder einen signifikanten Wachstumsmangel (seltener können sie aber auch übergewichtig sein). Eine organische Ursache muss mittels einer umfassenden somatischen Diagnostik ausgeschlossen worden sein. Auch darf kein Zusammenhang zu einer Nahrungsmittelallergie bestehen.

5.1 Kernsymptome Vor oder während des Fütterns: • Schläfrigkeit, Unruhe oder Stressreaktion (Beginn: Neugeborenenalter) Schwierigkeiten, Wachsamkeit beim Füttern zu erreichen und beizubehalten oder

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_5

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5 Fütterstörungen

• Fehlen von adäquatem Blickkontakt, Lächeln, Reden (Beginn: Erstes Lebensjahr) Kein alterstypischer wechselseitiger Austausch zwischen Kind und Bezugsperson während des Fütterns oder • Kaum Anzeigen von Hunger, kein Interesse am Essen (Beginn: Bis zum dritten Lebensjahr) Jedoch ausgeprägte Exploration und Interaktion mit Bezugspersonen oder • Konsequente Verweigerung spezifischer Nahrungsmittel (Beginn: Mit Beikostgabe) mit speziellem Geschmack, Struktur, Temperatur oder Geruch (bevorzugte Nahrung wird gegessen), sodass ohne Nahrungsergänzungsmittel eine Mangelernährung (z. B. Vitamine, Eisen, Zink oder Eiweiß) besteht oder • Erhebliche Schwierigkeiten beim Füttern durch eine körperliche Grunderkrankung (assoziierter Beginn) (z. B. gastroösophagealer Reflux, Herz- oder Lungenerkrankungen) oder • Stressreaktion bereits beim Einnehmen der üblichen Fütterposition und Nahrungsverweigerung nach unangenehmer Reizung des oberen Verdauungstraktes (Würgen, Erbrechen, Sondierung, Absaugen; assoziierter Beginn) oder • Selektive Nahrungsaufnahme, allgemeine oder spezifische Nahrungsvermeidung im Rahmen einer emotionalen Störung (Depression, Angst; assoziierter Beginn)

Um Reifungsphänomene von Fütterstörungen unterscheiden zu können, sollte die Kernsymptomatik mindestens zwei bis vier Wochen bestehen und keine Besserungstendenz zeigen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015). 

Mehrere Fütterstörungen und psychische Störungen können gleichzeitig vorliegen (z. B. Angststörungen). Bei Kindern mit Gedeihstörungen ist eine komplette Entwicklungsdiagnostik erforderlich, um alle bestehenden Symptome zu erfassen.

5.2 Zur Entstehung Fütterstörungen entstehen aus dem Zusammenwirken von genetischen, psychischen und sozialen Faktoren, deren unterschiedliche Gewichtung unterschiedliche Erscheinungsformen bedingen. In der klinischen Praxis lassen sich im Kontext von Fütterstörungen insbesondere

5.3 Aufgabenplanung

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• Beeinträchtigungen des wechselseitigen Austausches zwischen Kind und Bezugsperson (z. B. im Rahmen depressiver und ängstlicher Erkrankungen von Bezugspersonen) • Beziehungsstörungen (vgl. entsprechenden Abschnitt) • Konfliktbehaftung von Nahrung und Essen für Bezugspersonen (z. B. im Rahmen von Essstörungen) • Reizungen/Verletzungen des oberen Verdauungstraktes • Emotionale Störungen des Kindes beobachten.

5.3 Aufgabenplanung Je nach Erscheinungsform und sich begleitenden psychischen und/oder Verhaltensauffälligkeiten von Kindern mit Gedeihstörungen liegen die Herausforderungen in der Betreuung • in der Erkennung und Abgrenzung von Reifungsphänomen (Übergang zu Beikost) und körperlichen Erkrankungen (pädiatrische Diagnostik unverzichtbar) • in der Einordnung in die Gesamtentwicklung des Kindes (komplette Entwicklungsdiagnostik erforderlich) • in den konkreten Erfordernissen (z. B. logopädische Behandlung zum Training der Mundmotorik, Aktivierung von Hungergefühlen, Nahrungsergänzungsmittel) • in der Förderung einer günstigen Eltern-Kind-Beziehung (siehe Abschnitt Beratung und Intervention) • bei vollständiger Fremdbetreuung von Säuglingen in einer geeigneten Füttersituation (siehe Abschnitt Beratung und Intervention) Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention erheblich erleichtern. Beispiel

• Zielklärung: Der 8 Monate alte Säugling wurde vor etwa einem Monat im Rahmen einer Kindeswohlgefährdung in einer Bereitschaftspflegefamilie aufgenommen. Dort signalisiert er Hunger nicht und zeigt an angebotenem Essen kaum Interesse. Er reagiert außerdem kaum auf Versuche der Bezugspersonen, einen wechselseitigen Austausch herzustellen. Es soll in unserer Kleinkindgruppe mittels Hospitation eine typische Füttersituation genau analysiert werden und die Pflegeeltern bei Bedarf beraten werden. • Gefährdungsanalyse: In der Pflegefamilie liegen keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vor.

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5 Fütterstörungen

• Ressourcenanalyse: Es bestehen in unserer Einrichtung keine geeigneten fachlichen und kapazitativen Ressourcen, die – mutmaßlich über das Füttern hinaus – belastete Situation ohne eine Aufnahme des Kindes in den Gruppenalltag in einem für eine qualifizierte Beratung notwendigen Umfang zu erfassen. • Prozessplanung: Aus hiesiger Sicht sollte eine kinderärztliche Einschätzung erfolgen und dort geklärt werden, ob zusätzlich eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik notwendig ist und z. B. sogenannte Frühe Hilfen geeignet erscheinen, Kind und Pflegefamilie zu helfen. • Impulsgabe: Die Bereichsleitung telefoniert noch am heutigen Tage mit der Pflegefamilie, spricht obige Empfehlungen aus und nennt bei Bedarf Kontaktdaten. • Verlaufskontrolle: In vierzehn Tagen erfolgt nach Möglichkeit eine Nachfrage durch die Bereichsleitung, ob die Pflegefamilie einen Ansprechpartner gefunden hat. • Bilanzierung: entspricht Verlaufskontrolle. Bei weiter fehlendem Ansprechpartner für die Familie neue Zielklärung. 

Sogenannte Frühe Hilfen sind regionale Hilfsangebote für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft bis etwa zum dritten Lebensjahr.

5.4 Beratung und Intervention In einem Elterngespräch sollten Sie Ihre Beobachtungen formulieren und die Bedeutung für die kindliche Entwicklung und die Vermeidung weiterer psychischer und Verhaltensauffälligkeiten konkretisieren (weiterführende entwicklungspsychologische ­ Literatur: Schneider und Lindenberger 2018; Siegler et al. 2016). Wenn es Ihnen gelingt, den Eltern zu vermitteln, dass Sie ihre individuellen Schwierigkeiten sehen und in erster Linie zu ihrer Linderung und Lösung beitragen wollen, erleichtern Sie Eltern eine zugewandte Haltung. Auch bei Auffälligkeiten, die noch milder ausgeprägt sind als beschrieben, können Sie folgende Grundregeln beachten und zu ihrer Einhaltung auch im häuslichen Rahmen raten (nach Bernard-Bonnin 2006): • • • • • • • • •

Feste Mahlzeiten, nur geplante Zwischenmahlzeiten Dauer der Mahlzeiten maximal 30 min Kein Nahrungsangebot zwischen den Mahlzeiten außer Wasser Neutrale Atmosphäre, kein Essen unter Zwang Unterlage unter dem Stuhl, um Essensreste aufzufangen Kein Spielen während der Mahlzeiten Essen nie als Belohnung oder Geschenk Kleine Portionen Feste Nahrung zuerst, Flüssigkeiten später

5.4  Beratung und Intervention

• • • •

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Unterstützung von aktivem Essen Wegräumen des Essens nach 5–10 min, falls das Kind ohne zu essen spielt Beendigung der Mahlzeiten, wenn das Kind Essen in Wut umherschmeißt Der Mund wird erst nach Beendigung der Mahlzeit abgewischt

Mit den Bezugspersonen sollte eine typische Füttersituation genau analysiert werden (z. B. auch anhand einer Videodokumentation): • Was ging der Füttersituation voraus (z. B. Schreien)? Ziel: Rechtzeitiges (ohne langes vorheriges Schreien), regelmäßiges Nahrungsangebot • Ist die Atmosphäre der Füttersituation entspannt, die Stimmung positiv? Ziel: Entspannte Atmosphäre, kein Zeitdruck, kein unnötiges Mundabwischen • Wie viel Interaktion ist nötig, um die Wachsamkeit des Kindes zu aufrecht zu erhalten? Ziel: Adäquate Stimulationsmenge • Findet Blickkontakt, Lächeln und Reden zwischen Kind und Bezugsperson statt? Geschehen sie feinfühlig und an den (auch im Verlauf einer Füttersituation) wechselnden Bedürfnissen des Kindes orientiert? Ziel: Herausarbeitung der emotionalen und sozialen Dimension des Fütterns (respektive des Einflusses der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind auf sein Gelingen) • Findet dysfunktionale Interaktion statt? Ziel: Vermeidung für das Füttern ungünstiger Interaktion • Bietet die Bezugsperson ein günstiges „Essmodell“ (z. B. Ausprobieren neuer Nahrungsmittel, adäquate Menge)? Ziel: Modelllernen • Gelingt der Bezugsperson eine Strukturierung der Füttersituation (einschließlich Grenzsetzungen)? Ziel: Struktur, Grenzen • Bestimmt die Bezugsperson das Angebot der Nahrung, das Kind jedoch die Aufnahmemenge? Ziel: Vermeidung von alterstypischen „Machtkämpfen“ Bei Problemen im Rahmen von körperlichen Grunderkrankungen oder nach Reizungen des oberen Verdauungstraktes empfiehlt sich ein desensibilisierendes Vorgehen (vgl. von Gontard 2010). Kinder werden dabei behutsam und stufenweise an negativ besetzte Objekte (Hochstuhl, Lätzchen …) und Nahrung (unproblematischer erlebte Nahrung zuerst, abgewehrte Nahrung später) herangeführt. Dabei sind günstige, von den Eltern zuversichtlich angewandte Beruhigungsstrategien hilfreich (weiterführende Literatur: Largo 2016).

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5 Fütterstörungen

Falls sich diese Maßnahmen als unzureichend herausstellen, mehrere Fütterstörungen gleichzeitig vorliegen und weitere psychische oder Verhaltensauffälligkeiten bestehen, ist eine Vorstellung bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll. Die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung umfasst nach der notwendigen pädiatrischen und Entwicklungsdiagnostik in entsprechend qualifizierten Einrichtungen eine ausführliche psychiatrische Diagnostik, ambulante Eltern-Kind-Therapien oder stationäre Eltern-Kind-Behandlungen, die im Wesentlichen oben beschriebene Maßnahmen im professionellen Rahmen und auf die spezifische Erscheinungsform bezogen vorsehen. Nötigenfalls finden auch Ernährungsberatung, logopädische und ergotherapeutische Behandlungen statt. Bei schwer ausgeprägten Fütterstörungen im Rahmen von körperlichen Grunderkrankungen und nach Reizungen des oberen Verdauungstraktes kann das beschriebene desensibilisierende Vorgehen durch entsprechend geschulte Pflegekräfte nötig sein, eventuell unter Zufütterung per Sonde.

5.5 Vorbeugende Maßnahmen Fütterstörungen kann vorgebeugt werden durch • Rechtzeitiges und regelmäßiges Nahrungsangebot Erkennen der Zeichen von Hunger und Durst, kein langes Schreien im Vorfeld, jedoch auch kein Nahrungsangebot ohne kindliches Interesse/Bereitschaft • Entspannte Atmosphäre Keine Streitgespräche zwischen Erwachsenen/mit anderen Kindern, kein Zeitdruck • Beachtung grundlegender Essensregeln siehe Abschnitt Beratung und Intervention • Vermeidung von Machtkämpfen Bezugsperson bestimmt das Nahrungsangebot, das Kind die Aufnahmemenge. • Sensibilität Adäquate Interpretation kindlicher Signale, kein Druck oder Zwang; bei kindlicher Ablenkung, bei Vermeidung oder Ablehnung Füttern pausieren bis Kind wieder Interesse zeigt • Adäquate Stimulation für Beibehaltung der nötigen Wachsamkeit Feinfühlige Beruhigungs- und Fütterstrategien, Vermeidung von Überstimulation • Strukturierung der Füttersituation und Grenzsetzung Nahrungspausen können notwendig sein, um Hunger als Motivation zur Nahrungsaufnahme entstehen zu lassen; klare Trennung von Füttern und Spielen • Positives Feedback Aufmerksamkeit und Lob für die selbstregulierte Nahrungsaufnahme (und nicht für die Nahrungsmenge)

5.6 Praxisbeispiel

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5.6 Praxisbeispiel Beispel

Leonie wird mit 2;0 Jahren in einem Regelkindergarten zum Eintritt nach dem dritten Geburtstag angemeldet. Im Vorstellungsgespräch mit der dann bereits sieben Monate älteren Leonie und ihrer Mutter fragt die zuständige Erzieherin nach Leonies bisheriger Entwicklung. Sie erfährt, dass diese mit 30 + 1 Schwangerschaftswochen deutlich zu früh zur Welt gekommen sei und über zwei Monate auf einer Frühchenstation habe behandelt werden müssen. Sie sei dort über lange Zeit per Sonde ernährt worden. Die Kindsmutter sei durch diese Umstände sehr belastet gewesen und habe sich nach eigener Auskunft „noch immer nicht ganz erholt“. Auf konkrete Nachfrage der Erzieherin berichtet sie, sich deshalb in psychotherapeutischer Behandlung zu befinden. Der Kindsvater habe seine dreimonatige Elternzeit ab Geburt dazu genutzt, große Teile des Tages am Wärmebett seiner Tochter zu verbringen. Nach Entlassung sei Leonie ein eher ruhiger Säugling gewesen. Das Schlafverhalten sei von den Eltern als unkompliziert empfunden worden. Bald sei ihnen jedoch aufgefallen, dass Leonie sich fast nie von selbst gemeldet habe, wenn sie Hunger gehabt habe. Solange sie Milch in der Flasche bekommen habe, habe die Uhr den Rhythmus vorgegeben. Die Trinkmenge sei jedoch stets gering gewesen. Da sie unzureichend an Gewicht und Größe zugenommen habe, seien die Eltern mit der Einführung von Beikost wiederholt vom Kinderarzt beraten worden. Auch eine Ernährungsberaterin sei hinzugezogen worden. Letztlich sei ihnen empfohlen worden, eine hochkalorische Trinknahrung zusätzlich zu den Mahlzeiten zu geben. Dies erfolge nun seit etwa zwei Jahren, da Leonie fast bei jeder Mahlzeit im Anschluss erbreche. Ihr sonstiges Essverhalten sei sehr wählerisch und sie müsse in der Regel immer noch gefüttert werden. Eine somatische Abklärung sei umfassend erfolgt und habe keine Auffälligkeit ergeben. Während des Gesprächs fällt der Erzieherin auf, dass Leonie permanent den Bezug der Mutter einfordert und deren Grenzsetzungen sucht. Auf konkrete Nachfrage erfährt sie, dass dies auch während der Essenssituationen so sei. Damit Leonie diese mit etwas Positivem verbinde, dürfe sie auch während des Essens spielen. Die Erzieherin äußert ihr Verständnis für die Belastung der Kindsmutter. Sie könne sich kaum vorstellen, wie sie mit dieser schwierigen Essenssituation auf Dauer im Alltag zurechtkomme. Die Kindsmutter äußert daraufhin, dass sie die große Hoffnung habe, dass Leonie im Kindergarten endlich „ordentlich“ essen lerne. Die Erzieherin erklärt, dass sie gerne dabei helfen wolle, die Essenssituationen zu entspannen, dafür aber die Hilfe von Kindsmutter und Kindsvater brauche. Auf konkrete Nachfrage berichtet die Kindsmutter, dass der Kindsvater beruflich viel unterwegs und für die Familie erst am Abend verfügbar sei. Die seltenen gemeinsamen Mahlzeiten seien jedoch entspannter, Leonie esse dabei zwar nicht mehr oder selbstständig, erbreche danach jedoch seltener.

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5 Fütterstörungen

Die Kindsmutter fragt die Erzieherin spontan, ob sie glaube, dass sie alles falsch mache. Die Erzieherin bleibt gelassen und antwortet kurz mit „Nein“. Sie habe aber verstanden, dass die Situation so nicht bleiben könne, deshalb überlege sie, welche anderen Möglichkeiten es gebe. Da Leonie entspannter sei, wenn die ganze Familie am Tisch sei, frage sie sich, ob es nicht mehr Familienmahlzeiten geben könne? So, dass möglichst kein Zeitdruck oder anderer Stress die Situation belaste? Die Kindsmutter gibt an, dass dies abends und am Wochenende wahrscheinlich schon möglich wäre, sie müsse dies mit Ihrem Mann besprechen. Die Erzieherin reagiert spontan mit einem „Super!“. Sie regt an, bis zur Aufnahme in den Kindergarten außerdem zu versuchen, L. möglichst selbstständig Nahrung wählen und essen zu lassen und sie für die Nahrungsaufnahme zu loben (nicht aber für die Menge). Außerdem schlägt sie vor, zu versuchen, Spiel und Essen klar zu trennen. Kindsmutter und Erzieherin vereinbaren für die Woche vor der Aufnahme ein kurzes Telefonat, um sich über den aktuellen Stand auszutauschen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Kindergartengruppe sind die Essenssituationen zu Hause nach wie vor eher angespannt, durch den höheren Anteil an Familienmahlzeiten, konsequenter Trennung von Spiel und Essen sowie Bestärkung für selbstständiges Essen gebe es jedoch auch entspannte Essenssituationen. Noch immer müsse Leonie zwar täglich die hochkalorische Trinknahrung zu sich nehmen. Das Erbrechen werde jedoch immer seltener. Im Kindergarten nimmt Leonie zunächst keine Nahrung zu sich. Mit der Sicherheit der hochkalorischen Trinknahrung im Hinterkopf, fällt es allen Mitarbeitern leichter, dies zu akzeptieren und keinen Druck auszuüben. Am vierten Tag fällt der Erzieherin auf, dass sie erstmals selbstständig beginnt, zu essen, wenn ihr dabei niemand Beachtung zu schenken scheint. Nach etwa einem Monat isst Leonie regelmäßig geringe Mengen. Im Kindergarten kommt es nicht zum Erbrechen. Spiel- und Sozialverhalten sind dort weitgehend unauffällig. Nach drei Monaten berichtet die Kindsmutter, von ihrer Psychotherapeutin die Adresse einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz erhalten zu haben, da Leonie nun in anderen Situationen verstärkt trotze und verweigere. Ihr Mann versuche sie zu unterstützen, gerate jedoch auch zunehmend an seine Grenzen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird ein Zusammenhang zwischen Leonies Essverhalten und der Frühgeburtlichkeit, daraus folgenden intensivmedizinischen Maßnahmen, der depressiven Belastung der Kindsmutter und Problemen in der Grenzsetzung durch beide Elternteile hergestellt. Es werden zahlreiche Machtkämpfe um Kontrolle versus Autonomie – nicht nur, aber auch im Rahmen der Essenssituationen – identifiziert und mittels Video-Analysen mit den Eltern bearbeitet. Mit fast fünf Jahren ist Leonie nach wie vor sehr dünn und leicht, isst jedoch selbstständig und ausreichend vielfältig. Sie erbricht nicht mehr und muss keine hochkalorische Trinknahrung mehr zu sich nehmen.

Literatur

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Tab. 5.1  Checkliste Fütterstörungen Trifft zu

Trifft nicht zu

Das Kind zeigt stets bereits beim Einnehmen der üblichen Fütterposition eine Stressreaktion Das Kind zeigt Schwierigkeiten, beim Füttern wach zu bleiben Das Kind signalisiert Hunger regelhaft kaum oder nicht Das Kind verweigert konsequent spezifische Nahrungsmittel, sodass ohne Nahrungsergänzungsmittel eine Mangelernährung (z. B. Vitamine, Eisen, Zink oder Eiweiß) besteht Das Kind scheint körperlich bedingte Schwierigkeiten beim Füttern zu haben Anzahl

5.7 Checkliste Trifft mindestens ein Item der Tab. 5.1 zu, bedürfen betroffene Bezugspersonen qualifizierter Unterstützung (vergleiche Abschnitt Beratung und Intervention).

Literatur Bernard-Bonnin, A. C. (2006). Feeding problems of infants and toddlers. Canadian Family Physician, 52, 1247–1251. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

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Schlafstörungen

Nach und nach entwickeln Säuglinge einen zirkadianen bzw. Tag-Nacht-Rhythmus. Ein ritualisierter Tagesablauf mit immer gleichen Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten hilft ihnen dabei. Schlafstörungen sind Auffälligkeiten, die an den meisten Abenden oder Nächten auftreten. Im ersten Lebensjahr sind sie schwer von Beeinträchtigungen des Schlaf-Wach-Rhythmus zu unterscheiden und sollten nicht oder nur nach eingehender Untersuchung als „Störung“ eingeordnet werden. In diesem Abschnitt wird zwischen Einschlaf- und Durchschlafstörungen unterschieden. Auf seltenere Schlafstörungen wie Pavor nocturnus oder Somnambulismus wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen (siehe dazu Kap. 1). Schwierigkeiten mit dem Zubettgehen gelten nicht als Schlafstörungen. Organische Grunderkrankungen müssen ausgeschlossen, gleichzeitig bestehende psychische Auffälligkeiten erfasst werden. Entwicklungsalter, die Interaktion mit Bezugspersonen und die Tagesstruktur von Kindern nehmen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Schlafstörungen und sind Dreh- und Angelpunkt ihrer Prävention. Eine allgemeingültige Definition von Schlafstörungen in der frühen Kindheit ist aufgrund der raschen altersabhängigen Veränderungen und der hohen individuellen Variabilität grundsätzlich nur eingeschränkt möglich und kann nie unabhängig von der damit einhergehenden Belastung von Kind und Bezugspersonen erfolgen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_6

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6 Schlafstörungen

6.1 Kernsymptome Einschlafstörungen • Elternteil beim Einschlafen anwesend oder Eltern verlassen das Zimmer und kommen durch Aufforderung des Kindes mehr als drei (unter 24 Monate) bzw. zwei (über 24 Monate) Mal wieder zurück • Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres Einschlafen nach mehr als 30 min oder Nach dem zweiten Lebensjahr Einschlafen nach mehr als 20 min

Durchschlafstörungen • • •

Drei- oder mehrmaliges Erwachen pro Nacht im Umfang von insgesamt 30 min (unter 24 Monaten) 20 min (unter 36 Monaten) 10 min (über 36 Monate) oder Nach dem Erwachen unter 24 Monaten: Wachphasen von über 30 min unter 36 Monaten: Wachphasen von über 20 min über 36 Monate: Wachphasen von über 10 min Eltern legen Kind nach jedem Erwachen in ein anderes Bett (oder nicht)

Diese Kernsymptome sollten nach dem ersten Lebensjahr an mehr als fünf Tagen pro Woche über mindestens einen Monat hinweg auftreten (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010).

6.2 Zur Entstehung Schlafstörungen entstehen aus dem Zusammenwirken von genetischen, psychischen und sozialen Faktoren, deren unterschiedliche Gewichtung unterschiedliche Erscheinungsformen bedingen. In der Praxis lassen sich im Kontext von Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter insbesondere • Beeinträchtigte/fehlende Herausbildung eines festen Schlafrhythmus in den ersten drei Lebensmonaten • psychische Erkrankungen von Bezugspersonen

6.3 Aufgabenplanung

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• ungünstige/unregelmäßige Tagesstruktur, z. T. nur zeitweise durch Umzug, Urlaub oder Krankheit • fehlende positive Schlafroutinen • Trennungsproblematik oder Ängste von Bezugspersonen, die in der eigenen Biografie oder negativen Geburtserfahrungen begründet liegen • familiäre Konflikte (mit in der Folge erhöhtem nächtlichen Erregungsniveau des Kindes) • Unsicherheit der Bezugspersonen gegenüber Bedürfnissen des Kindes und bezüglich Grenzsetzungen (oft einhergehend mit Schuldgefühlen) • emotionale Störungen des Kindes beobachten.

6.3 Aufgabenplanung Je nach Alter und begleitenden psychischen und/oder Verhaltensauffälligkeiten von Schlafstörungen betroffener Kinder liegen die Herausforderungen in der Betreuung • in der Erkennung und Abgrenzung von Übergangsphänomenen und individuellen Unterschieden (in der Regel nur in über das Schlafverhalten hinausreichender Kenntnis des Wesens/Verhaltens des Kindes, der Eltern-Kind-Interaktion und der Belastung der Bezugspersonen möglich) • in den konkreten Auswirkungen der Schlafstörungen, insbesondere betreffend – Kognition, z. B. Gedächtnis, Lernen – Affektregulation, z. B. Irritierbarkeit – Verhalten, z. B. Aggressivität – Gesundheit, z. B. Infektneigung, vermehrte Unfälle • davon abhängig in der Beachtung elterlicher Belastungsreaktionen (z. B. Paarkonflikte, depressive Belastung) • bei vollständiger Fremdbetreuung von (Säuglingen und) Kleinkindern in der Etablierung regelmäßiger und positiver Routinen vor dem Einschlafen und einem dem Alter angemessenen (!) Abbau von nächtlichen Interaktionen mit dem Kind, die die Häufigkeit des Erwachens erhöhen oder die Wachphasen verlängern könnten (bei Kleinkindern z. B. nächtliches Essen). Diesbezüglich kann der Leidensdruck von Bezugspersonen durch das Bestehen eines Nachtdienstes (im Gegensatz zur häuslichen Normalsituation) vollständig ausbleiben, eine Schlafstörung jedoch gebahnt oder aufrechterhalten werden. Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention erheblich erleichtern.

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6 Schlafstörungen Beispiel

• Zielklärung: Das vierjährige Kind erscheint in unserem Kindergarten durchgehend sehr müde, unkonzentriert und reizbar. Die Eltern berichten auf Nachfrage neu aufgetretenes, mindestens viermaliges Erwachen pro Nacht mit anschließenden Wachphasen von 15–20 min. Die Familie soll unterstützt werden, damit das Kind genügend Schlaf bekommt und am Alltag in unserer Einrichtung besser teilhaben kann. • Gefährdungsanalyse: Es liegen keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vor. • Ressourcenanalyse: Bezugsbetreuerin Frau Müller sieht das Auftreten der Schlafprobleme im Zusammenhang mit der elterlichen Beanspruchung im Rahmen eines Hausbaus. Zudem konnte sie im Gespräch mit den Eltern ungünstige Reaktion auf Wachphasen identifizieren. Sie hat den Eindruck, die Eltern sind für eine Beratung offen. Abgesehen von aufsuchender Hilfe kann Frau Müller diese leisten. • Prozessplanung: Frau Müller will die Familie anleiten, nachts kein Nahrungsangebot zu machen, kein Licht anzumachen, nicht zu spielen, über Rückversicherungen hinaus nicht zu reden oder mit ähnlich „wach“ machenden Verhaltensweisen zu reagieren. • Impulsgabe: Frau Müller hat für den 05.08.2019 bereits einen Gesprächstermin mit beiden Elternteilen vereinbart. • Verlaufskontrolle: Frau Müller führt vierzehntägige Verlaufskontrollen durch, aufgrund der knappen Zeit der Eltern voraussichtlich überwiegend telefonisch. • Bilanzierung: Erfolgt am 31.10.2019 mit der Gruppenleitung.

6.4 Beratung und Intervention In einem Elterngespräch sollten Sie Ihre Beobachtungen formulieren und die Bedeutung für die kindliche Entwicklung und die Vermeidung von Auswirkungen des gestörten Schlafs (siehe dazu Abschnitt Herausforderungen in der Betreuung) oder weiterer psychischer Auffälligkeiten konkretisieren. Wenn es Ihnen gelingt, den Eltern zu vermitteln, dass Sie die Schwierigkeit des Themas auch im Hinblick auf die zunehmende elterliche Belastung sehen, erleichtern Sie Eltern einerseits den Zugang zu häufig bestehenden Schuldgefühlen und schützen sich selbst vor der Erwartung allzu schneller Besserung. Auf dieser Grundlage können Sie zunächst Maßnahmen zur Förderung einer günstigen Eltern-Kind-Beziehung ergreifen (siehe vorherige Kapitel dieses Buches), die Beziehungsbeeinträchtigungen, Konflikte, Ängste und Bedürfnisfrustrationen tagsüber auf das Unvermeidbare (dies ist von Familie zu Familie sehr unterschiedlich) reduzieren und damit eine günstige Ausgangssituation für ruhigen Schlaf bahnen (für Kind und Eltern). Spezifisch können Sie dazu raten

6.4  Beratung und Intervention

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• 30 min vor dem Einschlafen eine ruhige Beschäftigung des Kindes sicherzustellen (kein Herumtollen, keine aufregenden Spiele) • Bei Besuch oder „wenn’s spannend wird“ einen sanften (z. B. mit einer Abschiedsrunde) Übergang zum Abendritual zu gestalten (dabei jedoch klar und konsequent zu sein) • ein festes Abendritual zu etablieren (zeitlich und den Ablauf betreffend z. B. Anzeige „Es ist acht Uhr, Zeit ins Bett zu gehen“ – Zähneputzen – Gute-Nacht-Geschichte vorlesen – Licht aus) • das Bett als einen Ort der Ruhe und Geborgenheit zu bewahren, es nicht als Ort des Spiels oder gar der Strafe zu zweckentfremden • Einschlafhilfen über ein bis zwei Wochen schrittweise zu reduzieren (nach Ende des ersten Lebensjahres; zunächst kurz vor Einschlafen den Raum verlassen, schließlich solange Kind noch wach) • auf nächtliches Erwachen mit einer ruhigen, klaren, kurzen Versicherung zu reagieren (z. B. „Mama und Papa sind da, alles ist gut, schlaf weiter“), altersorientiert andere Hilfen über ein bis zwei Wochen schrittweise zurückzunehmen (Körperkontakt, Herausnehmen), sofern sie von den Eltern als störend oder dem Durchschlafen des Kindes als hinderlich empfunden werden • nachts (nach dem ersten Lebensjahr) kein Nahrungsangebot zu machen, kein Licht anzumachen, nicht zu spielen, über o. g. Versicherung hinaus zu reden oder mit ähnlich „wach“ machenden Verhaltensweisen zu reagieren • das Aufsuchen des Elternbetts bis etwa zum vierten Lebensjahr als eine Suche nach Geborgenheit (und nicht „Aufmerksamkeit“) zu begreifen, die sich durch die Geburt eines Geschwisterkindes oder andere einschneidende Erlebnisse phasenweise verstärken kann, in der Regel keine Schlafstörung darstellt, sondern normal ist und nur unterbunden werden muss, wenn sich Eltern gestört fühlen 

Geschwister stören sich, wenn die Altersunterschiede nicht allzu groß sind, ab dem zweiten Lebensjahr nicht beim Schlafen. Im Gegenteil vermittelt es Geschwistern ein Gefühl der Vertrautheit und Zusammengehörigkeit, im gleichen Zimmer zu schlafen.

Zahlreiche Ratgeber, aber auch Autoren von Fachliteratur sprechen bei Ein- und Durchschlafstörungen von unerwünschtem Verhalten, das reduziert werden könne, indem elterliche Aufmerksamkeit als Verstärker ausgeschaltet werde. Zugrunde liegende Studien (Mindell et al. 2006) beziehen sich auf ein mittleres Alter von 20 Monaten und fanden Eingang in den Leitlinien der American Academy of Sleep Medicine (Morgenthaler et al. 2006). Darin wird unter bestimmten Voraussetzungen empfohlen, Kinder zur vorgesehenen Schlafenszeit ins Bett zu legen und sein Verhalten (z. B. Weinen, Rufen) bis zum nächsten Morgen zu ignorieren. Auch wenn diese verhaltenstherapeutische Intervention nach wissenschaftlichen Maßstäben als

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6 Schlafstörungen

sehr wirksam beurteilt wird und sich in Studien – binnen fünf Jahren – keine negativen Langzeitauswirkungen (Price et al. 2012), insbesondere keine negativen Auswirkungen auf die kindliche Bindungsentwicklung zeigten, sollte ein solches Vorgehen vorab mit einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie besprochen werden. Insbesondere sollten die individuellen Faktoren in der Entstehung der spezifischen Schlafstörung des Kindes, die Notwendigkeit und die Geeignetheit solcher Interventionen im konkreten Fall qualifiziert eingeschätzt worden sein. Wie bei der Einforderung von Konsistenz und Konsequenz in der Durchführung von Interventionen soll auch im Hinblick auf das Schlafverhalten keinem Erziehungsoder Betreuungsverhalten Vorschub geleistet werden, das nicht anerkennt, dass Kinder grundlegend vor allem mittels Verfügbarkeit (zeitlich und emotional), Sensibilität (adäquate Interpretation kindlicher Signale), Responsivität (Reaktion auf alle Gefühlslagen und Interaktionen des Kindes), Strukturierung (Kind seinem individuellen Entwicklungsstand entsprechend begegnen, verbal und nonverbal kommunizieren, Führungsrolle einnehmen, altersentsprechende Autonomie ermöglichen) und Selbstregulation der Bezugspersonen (eigene negative Gefühle nicht dem Kind anlasten oder auf das Kind übertragen) die Fähigkeit erlangen, mit Affekten und Konflikten („Ich will nicht schlafen!“) umzugehen, Impulse zu steuern, andere Perspektiven zu übernehmen („auch meine Eltern brauchen Ruhe“), Nähe und Distanz zu regulieren und Beziehungen zu gestalten. Ihr Selbstwert, ihr Binnenerleben und eben auch ihr Schlafverhalten hängen maßgeblich davon, ob und in welchem Ausmaß sie dabei günstige Erfahrungen machen (weiterführende entwicklungspsychologische Literatur: Schneider und Lindenberger 2018; Siegler et al. 2016). Die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sieht in Abhängigkeit von Entstehungs- und Rahmenbedingungen der spezifischen Schlafstörung nach ungenügend wirksamer Psychoedukation • verhaltenstherapeutische Interventionen mit den Grundprinzipien – Unmodifizierte Extinktion (hierbei legen die Eltern ihr Kind ins Bett zu der vorgesehenen Schlafzeit und ignorieren das Verhalten des Kindes) – Graduierte Extinktion (hierbei ignorieren Eltern Weinen und Wutausbrüche für vorher festgelegte Zeiträume, bevor sie zu ihrem Kind gehen) – Faded Bedtime (hierbei werden Kinder vorübergehend zu einer Zeit ins Bett gelegt, die am ehesten mit ihrem Schlafbedürfnis übereinstimmt und die Einschlafzeit unter strikter Vermeidung von Tagesschlaf schrittweise um bis zu 30 min vorgezogen) – Scheduled awakening (hierbei wecken die Eltern ihr Kind aktiv bis zu 30 min vor dem eigenständigen Aufwachen, sodass es schrittweise zu einem Fading hin zur gewünschten Einschlafzeit kommt) • psychodynamische Therapien zur Erarbeitung der Zusammenhänge zwischen Ängsten der Bezugspersonen und Schlafstörungen des Kindes mit darauf basierender Veränderung der Interaktion

6.5  Vorbeugende Maßnahmen

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vor (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010). Der professionelle Kontext bei verhaltenstherapeutischen Extinktionen relativiert berechtigte Einwände gegen das Ignorieren von Bedürfnissen junger Kleinkinder, die sich auch oder gerade in Weinen und Wutausbrüchen äußern, nicht. Auch wenn die verhaltenstherapeutische Fachsprache es so vorsieht, birgt die Beschreibung von Schlafstörungen als „unerwünschtes Verhalten“ im herkömmlichen Sprachgebrauch die Gefahr einer einseitigen Berücksichtigung elterlichen Erlebens. Kindliches Erleben (im jungen Kleinkindalter) ist dagegen Angst und die Suche nach Geborgenheit („Machtkämpfe“ zwischen Kind und Bezugsperson, Interaktions- und Beziehungsstörungen können diese markieren, schließen sie jedoch nicht als emotionale Motive aus, können sie sogar begründen). Ihr rigoroses, intuitiven Elternkompetenzen widerstrebendes Ignorieren triggern kindliche Bedrohungsgefühle und Hilflosigkeit. Falls notwendig kann eine stationäre Aufnahme von Kindern und ihren Eltern in einer geeigneten Klinik gebahnt werden. Medikamente sind bei Schlafstörungen im Säuglingsund Kleinkindalter nur in absoluten Ausnahmefällen und auch dann nur stark befristet indiziert.

6.5 Vorbeugende Maßnahmen Schlafstörungen vorbeugende Maßnahmen zielen darauf ab, dass die Schlafenszeit als vorhersehbar und regelmäßig, das Bett als ein positiver, Geborgenheit spendender Ort erleb werden kann. • • • •



Ruhe 30 min vor dem Schlafengehen Kind zur Ruhe kommen lassen Ritualisierung Immer gleiche Abläufe vor dem Schlafengehen (sprachlich markieren, z. B. „Jetzt gehen wir Zähneputzen, dann lesen wir noch eine Geschichte.“) Regelmäßigkeit Immer gleiche Schlafenszeit (bei besonderen Ereignissen näherungsweise einhalten, sanft darauf bestehen, Ausnahmen sprachlich markieren) Geborgenheit Kinder nicht „zur Strafe“ ins Bett schicken; annehmen, dass auch noch Kleinkinder die Nähe ihrer Geschwister und Bezugspersonen suchen; auf nächtliches Erwachen mit einer ruhigen, klaren, kurzen Versicherung reagieren (z. B. „Mama und Papa sind da, alles ist gut, schlaf weiter“) Wachmacher vermeiden Kein Angebot von Spiel, Nahrung oder hellem Licht zur Schlafenszeit (gegen gedimmte Nachtlichter spricht nichts)

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6 Schlafstörungen

6.6 Praxisbeispiel Beispiel

Der 11 Monate alte Jonas besucht seit seinem 8. Lebensmonat für vier Stunden täglich eine Kindertagesstätte. Beide Elternteile sind berufstätig, der als Lehrer arbeitende Kindsvater holt Leon täglich nach dem Mittagessen ab. Er berichtet der Erzieherin, erschöpft und ratlos zu sein, da Jonas in der Zeit seiner Nachtruhe seit Eintritt in die Kindertagesstätte zwischen 19.30 Uhr und 7 Uhr noch immer mindestens fünfmal erwache und nur wieder einschlafe, wenn er an einer Flasche mit frisch erwärmter Milch erhalte (insgesamt zwei Flaschen zwischen Mitternacht und dem nächsten Morgen). Vor Eintritt in die Kindertagesstätte sei er etwa dreimal erwacht. Auch tagsüber müsse er sich in den Schlaf nuckeln. Die Erzieherin kennt Jonas als fröhlichen, aktiven Jungen, der in altersentsprechender Weise Bedürfnisse äußert und Frustrationen toleriert. Seinen Mittagsschlaf halte er zu Hause zwischen 13 und 14.30 Uhr. Im Auto gelinge ihm das Einschlafen ohne Flasche. Die Erzieherin bittet die Eltern, ein Schlafprotokoll zu führen und einen Termin zur Einholung der kinderärztlichen Einschätzung zu vereinbaren. Das Schlafprotokoll zeigt in einem nach Auskunft der Eltern repräsentativen Zeitraum von zwei Wochen, dass Jonas regelmäßig zwischen sieben und halb acht erwacht, dann eine Flasche erhält, ab halb neun die Kindertagesstätte besucht und zwischen halb eins und eins mittags mit Flasche und Körperkontakt zum Vater einschläft. Nach etwa eineinhalb Stunden erwacht er wieder. Zwischen halb acht und acht Uhr abends quengelt er vermehrt und zeigt deutliche Müdigkeitszeichen, woraufhin ein Elternteil ihn zu Bett bringt. Um Mitternacht herum erwacht er mit Schreien und benötigt eine halbe Stunde und die Flache, um wieder einschlafen zu können. Im Abstand von etwa eineinhalb Stunden erwacht er bis zum Morgen immer wieder und bleibt zwischen 15 und 30 min wach, ohne Flache verbunden mit Schreien. Vom Kinderarzt erhalten die Eltern den Rat, das Protokoll weiter zu führen, um den Schlafbedarfs ihres Kindes zu erfassen und davon abhängig eine feste Tagesstruktur einzuhalten. Zudem werden sie darauf hingewiesen, dass dauerndes Trinken in der Nacht Verdauung erfordere, die wach halte. Die Erzieherin sieht sich daraufhin mit der Frage konfrontiert, wie sie ihrem Kind anders helfen könnten, wieder einzuschlafen. Sie rät dazu, über drei bis vier Wochen die Trinkmenge zunächst einmal nur zu reduzieren und schrittweise mit Kuscheln mit einem Elternteil oder Übergangsobjekten wie z. B. einem Kuscheltier zu ersetzen. Binnen dieses Monats zeigt das Schlafprotokoll, dass sich die Zubettgehzeit auf 20.30 Uhr nach hinten verschiebt, die Wachzeiten nicht mehr als 10 min betragen und Jonas insgesamt nur mehr eine halbe Flasche in den beiden Stunden vor dem Morgen trinkt. Statt eines Kuscheltiers haben die Eltern ihm einen Schnuller als Regulationshilfe angeboten. Nachdem er diesen als junger Säugling abgelehnt hatte, nimmt er ihn nun gut an. Eine irgendwann nötige Entwöhnung erscheint den Eltern als geringeres Übel als unterbrochene Nächte im vorhergehenden Ausmaß.

Literatur

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Tab. 6.1  Checkliste Schlafstörungen Trifft zu

Trifft nicht zu

Das Kind fordert nach dem Einschlafen mehr als drei (13–24 Monate) bzw. zwei (über 24 Monate) Mal die Rückkehr der Eltern ans Bett ein und diese sind davon belastet Das Kind benötigt mehr als 30 min (13–24 Monate) bzw. mehr als 20 min (über 24 Monate) zum Einschlafen Das Kind erwacht pro Nacht drei Mal oder mehr im Umfang von insgesamt 30 min (13–24 Monate), 20 min (25–36 Monate) bzw. 10 min (über 36 Monate) Anzahl

6.7 Checkliste Trifft mindestens ein Item der Tab. 6.1 an fünf Tagen oder mehr pro Woche über mindestens einen Monat hinweg zu, bedürfen betroffene Bezugspersonen qualifizierter Unterstützung (vergleiche Abschn. 7.4).

Literatur Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.) (2015): Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper. Mindell, J. A., Kuhn, B., Lewin, D. S., Meltzer, J. L., & Sadeh, A. (2006). Behavioral treatment of bedtime problems and night wakings in infants and young children. Sleep, 29, 1263–1276. Morgenthaler, T. I., Owens, J., Alessi, C., Boehlecke, B., Brown, T. M., Coleman, J., Friedman, L., Kapur, V. K., Lee-Chiong, T., Pancer, J., & Swick, T. J. (2006). Practice parameters for behavioral treatment of bedtime problems and night wakings in infants and young children. Sleep, 29, 1277–1281. Price, A. M. H., Wale, M., Ukoumunne, O. C., Hiscock, H., & Epi, G. D. (2012). Five-year follow-up of harms and benefits of behavioural infant sleep intervention: Randomised trial. Pediatrics, 130, 643–651. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

7

Exzessives Schreien

Das exzessive Schreien wird in den beschriebenen Diagnosemanualen nicht als Störung klassifiziert. Da es sich um ein sehr belastendes Symptom und eine der häufigsten Beratungsanlässe im Säuglingsalter handelt, wird es in diesem Buch dennoch gleichwertig behandelt. In den ersten drei Lebensmonaten kann vorübergehend ein Schreien beobachtet werden, das in Ausmaß, Häufigkeit und Dauer den folgenden Kernsymptomen entspricht, von dem jedoch keine langfristigen Folgen ausgehen. Das verlängerte Schreien, um das es im Weiteren gehen wird, kann dagegen langfristige psychische und Verhaltensauffälligkeiten nach sich ziehen.

7.1 Kernsymptome Übersicht

Anfallsartiges, unstillbares Schreien Fehlendes Ansprechen von Beruhigungshilfen

Diese Kernsymptome sollten mehr als drei Stunden pro Tag für mindestens drei Tage pro Woche für mindestens drei Wochen vorliegen (nach dem Erstbeschreiber „Wessel-Kriterien“ genannt, vgl. auch Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010). Zu Ihrer Erfassung sollten Häufigkeit und Dauer des Schreiens in einem Tagebuch protokolliert werden. Typischerweise treten die Symptome v­ orwiegend in den Abendstunden auf.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_7

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7  Exzessives Schreien

7.2 Zur Entstehung Beim verlängerten exzessiven Schreien handelt sich um ein Symptom, das aus dem Zusammenwirken von vorgeburtlichen, perinatalen und nachgeburtlichen Anpassungsund Entwicklungsprozessen von Säuglingen und ihren Bezugspersonen entsteht (Papousek et al. 2004). Als Risikofaktoren gelten • erhöhte vorgeburtliche und perinatalen Risiken (van der Wal et al. 2007), darunter – Depressive Symptome, Ängste, Stress und Arbeitsbelastungen – psychische Stressoren – mütterliches Rauchen • nachgeburtlich anhaltende Stressbelastung und Rauchexposition (Wurmser et al. 2006). Erleben Bezugspersonen das Schreien als Ablehnung durch das Kind und wächst in ihnen das Gefühl, das Kind nicht gut genug zu umsorgen, kann dies die Symptomatik aufrechterhalten. Selten stellen sich gastroösophagealer Reflux, Allergien, Kuhmilch-, Laktose- und andere Unverträglichkeiten, Infekte, Hauterkrankungen, Luftwegseinengungen, allgemeine Entwicklungsstörungen oder ein anderes somatisches Geschehen (Straßburg 2006) als ursächlich heraus.

7.3 Aufgabenplanung Die Herausforderungen in der Betreuung von verlängertem, exzessivem Schreien betroffener Kinder liegen • in der Erfassung der psychischen Verfassung der Bezugspersonen im Hinblick auf das Risiko für Kindesmisshandlungen (z. B. Schütteltraumata), welches insbesondere für die ersten sechs Lebensmonate als erhöht gilt (Lee et al. 2007; Reijnefeld et al. 2004). • in der Entlastung der Bezugspersonen (auch von Schuldgefühlen) • in der Hilfestellung für Bezugspersonen – Entwicklungsberatung – Verkürzt oder abgemildert, nicht jedoch gänzlich vermieden werden können Schreiphasen, wenn Kinder tagsüber regelmäßig getragen und beschäftigt (spielen, „turnen“, massieren) werden, ein bis zweimal täglich an die frische Luft kommen und der Tagesablauf ritualisiert ist (feste Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten; vgl. Largo 2016). Siehe hierzu auch den Abschnitt Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren.

7.3 Aufgabenplanung

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– Reizreduktion – Vermeidung kindlicher Übermüdung – bei steigender Anspannung/Überlastung Ablösung durch andere Bezugsperson, Ablegen zur Minimierung des Risikos für Kindesmisshandlungen (z. B. Schütteln) • bei vollständiger Fremdbetreuung von Säuglingen in einer Betreuungssituation, die eine feste Tagesstruktur gewährleistet, eine Überbrückung kritischer Schrei- und Unruhephasen ermöglicht, und nicht zuletzt im Einsatz erfahrener Fachkräfte, deren Überlastung es zu vermeiden gilt. Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention erheblich erleichtern. Beispiel

• Zielklärung: Eltern möchten ihren sechs Monate alten Säugling für täglich drei Stunden in unserer Kindertagesstätte betreuen lassen. Im Rahmen der zweiwöchigen Eingewöhnungszeit im Beisein der Mutter schrie der Säugling auffällig viel und laut. Die Mutter berichtet, dass dies auch zu Hause so sei. Es soll geklärt werden, ob der Entwicklungsstand des Kindes eine Betreuung durch uns zulässt und wie die Eltern unterstützt werden können, die Schreiphasen zu verkürzen oder abzumildern. • Gefährdungsanalyse: Es liegen keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vor. • Ressourcenanalyse: Es liegen ausreichende Erfahrungen sowohl für die Einschätzung, ob es sich um ein außergewöhnliches Ausmaß des Schreiens handelt, als auch zur qualifizierten Beratung vor. Eine aufsuchende Hilfe kann nicht erfolgen, bei Bedarf müssen weitere Helfer miteinbezogen werden. • Prozessplanung: Erzieherin Frau Schneider wird zunächst erfragen, ob die Eltern die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen und die Problematik dort geschildert haben, andernfalls dies dringend zur Abklärung empfehlen. Sie wird die Belastung der Eltern erfragen und Kontaktadressen für den Fall einer Überlastung nennen (z. B. Frühe Hilfen). Weiterhin wird sie die Eltern anleiten, das Kind tagsüber regelmäßig zu tragen und zu beschäftigen (spielen, beüben, massieren), ein bis zweimal täglich spazieren zu gehen und den Tagesablauf zu ritualisieren (feste Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten). Sie wird empfehlen, die Eingewöhnungszeit zu verlängern und das Kind vorerst nicht allein in der Einrichtung zu belassen. • Impulsgabe: Erzieherin Frau Schneider hat für den 05.08.2019 bereits einen Gesprächstermin mit beiden Elternteilen vereinbart, diese erhoffen sich auch Beratung.

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7  Exzessives Schreien

• Verlaufskontrolle: Erfolgt werktags im Rahmen der Eingewöhnung. • Bilanzierung: Erfolgt in vier Wochen mit der Gruppenleitung.

7.4 Beratung und Intervention In einem Elterngespräch sollten Sie die Kriterien der Kernsymptome sorgfältig erfragen, um ein verlängertes Schreien zu objektivieren, jedoch auch dann, wenn sie nicht erfüllt sind, die Belastung der Eltern ernst nehmen und in jedem Fall versuchen, sie von Schuldgefühlen zu entlasten. Allein Entwicklungsberatung und hilfreiche Gespräche können die Symptomatik reduzieren. Wenn Eltern weiterhin ratlos bis hin zu verzweifelt sind, kann nach Ausschluss einer organischen Ursache eine Vorstellung bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll sein. Neben ausführlicher, auch aufsuchender Beratung kann eine psychotherapeutische Behandlung von Eltern und Kind erforderlich sein. Der psychoanalytische Ansatz in der Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie (SKEPT) beschäftigt sich mit den unbewussten Aspekten der Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind.

7.5 Vorbeugende Maßnahmen Verlängertem exzessivem Schreien vorbeugende Maßnahmen zielen darauf ab, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren zu minimieren: • • • • • •

Selbstachtsamkeit Beachtung der elterlichen Belastung, Vorbeugung einer Überlastung Reizreduktion Mit zunehmender Wahrnehmungsfähigkeit steigt das Risiko für eine Reizüberflutung (Medien, Geräuschpegel) Regelmäßige Schlafphasen Auch tagsüber zur Vermeidung einer Übermüdung Aktive Wachphasen Dialoge, Spiele, Turnen, Säuglingsmassagen Frischluft Mindestens einmal täglich Rituale Feste Essens-, Aktivitäts- und Schlafenszeiten

Zwar sind die Maßnahmen auch zur Reduzierung von vorübergehenden und nicht exzessiven Schreiphasen geeignet. Diese lassen sich jedoch nicht gänzlich vermeiden und sind für eine begrenzte Zeit Teil einer normalen kindlichen Entwicklung (siehe hierzu auch Abschnitt Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren; weiterführende entwicklungspsychologische Literatur: Schneider und Lindenberger 2018; Siegler et al. 2016).

7.6 Praxisbeispiel

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7.6 Praxisbeispiel Physiologisches Schreien

Eine Mutter sucht Rat bei ihrer Hebamme. Ihr zehn Wochen alter Sohn Thomas schreie viel und lange, bis zu drei Stunden am Tag, manchmal auch mehrere Tage hintereinander, zum Teil aber auch weniger. Alle 2 Stunden wolle er gestillt werden und schlafe dabei häufig ein. Auf Nachfrage erfährt sie, dass sein Gewicht im unteren Normalbereich liege. Ihr inzwischen fast zweijähriges älteres Kind habe sie bis zum sechsten Lebensmonat voll gestillt und erinnere es als deutlich ruhiger und zufriedener. Da sie sich nun manchmal zwischen den Kindern „aufteilen“ müsse, pumpe sie auch ab, damit der Kindsvater oder eine andere Bezugsperson Thomas füttern könne. Die abgepumpte Menge belaufe sich auf etwa 25 mL. Die Hebamme vermutet, dass diese oder ähnliche Mengen unzureichend sind, um den Bedarf von Thomas zu decken. Die Kindsmutter äußert, sich darüber nie Gedanken gemacht zu haben, da sie für das erste Kind stets genügend Milch gehabt habe. Unter Zugabe von Pre-Nahrung schreit Thomas deutlich seltener und weniger lange. Exzessives Schreien

Eine sozialpädagogische Familienhilfe ist in einer Familie mit drei Kindern im Alter von 8 Jahren, 5 Jahren und 8 Monaten eingesetzt. Die Kindseltern beantragten zuvor die Hilfe aus anhaltenden Gefühlen der Überlastung heraus. Während der achtjährige sich sehr zurückzieht und kaum für etwas Interesse zeigt, verhält sich der fünfjährige aggressiv gegenüber seinen Eltern und Geschwistern. Der ansonsten gut gediehene Säugling schreit unstillbar zwischen fünf und sieben Stunden am Tag. Tagsüber schläft er nicht länger als zwanzig Minuten am Stück. Die Familienhilfe kann die Eltern bald für die Durchführung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik für alle drei Kinder gewinnen. Ihre Ehe ist belastet, Konflikte prägen die meiste Zeit des Tages. In der mehrere Wochen langen Wartezeit auf den Termin identifiziert die Familienhilfe das unstillbare Schreien des Säuglings als große Belastung und sucht nach Entlastungsmöglichkeiten. Sie bemerkt, dass die Kindsmutter anhaltend erschöpft und kraftlos ist. Stundenlang trägt sie den Säugling auf dem Arm durchs Haus. Dieser überstreckt sich dann oft und brüllt noch lauter. Beide Eltern sind schnell wütend, sprechen sehr laut und schimpfen viel mit den Kindern. Strategien zur Beruhigung, wie die Familienhilfe sie bereits bei anderen Kindern dieses Alters beobachtet hat, zeigt der Säugling kaum (z. B. Saugen an den Händen). Gleichzeitig scheinen die Eltern nicht mehr ausreichend in der Lage zu sein, feinfühlige Hilfestellungen zu geben. Noch vor dem ersten Termin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie versucht sie, die Eltern selbst und durch den Einbezug des unmittelbaren sozialen Umfeldes zu entlasten. Parallel stärkt sie die Eltern in ihrem Wissen um die Entwicklung von Kindern und das Bewusstsein, dass sie mit dem Problem nicht alleine sind. Anschließend versucht sie mit den Eltern, eine geregelte Tagesstruktur zu etablieren und Ruhezeiten am Tag zu schaffen. Unter vorliegender Schweigepflichtentbindung

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7  Exzessives Schreien

berichtet sie zum Termin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass insbesondere die Kindsmutter dabei an Grenzen stößt, weil sie selbst zu erschöpft ist. Sowohl bei den älteren Geschwistern als auch bei der Kindsmutter werden im Verlauf depressive Störungen festgestellt (sie können sowohl dem Rückzug als auch Aggression zugrunde liegen), der fünfjährige bei zunehmender Entgrenzung stationär, der achtjährige teilstationär aufgenommen. Dies führt vorübergehend zu einer Entlastung der Eltern. Die Kindsmutter kann in dieser Zeit für eine eigene Psychotherapie gewonnen werden und die Eltern lassen sich darauf ein, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angeleitet zu werden, ihr Baby zu „lesen“. Sich also wieder bewusst zu werden, welche Bedürfnisse es durch Schreien ausdrückt und welche Gefühle dies bei ihnen auslöst. Das Schreien wird dadurch zunächst deutlich seltener und kürzer. Nach einiger Zeit beobachtet die Familienhilfe jedoch eine Eskalation der Paarkonflikte. Der zu Hause verbliebene Säugling wird nun aggressiv erlebt, auch wenn er eigentlich nur seinen Hunger zum Ausdruck bringt. Als der Kindsvater sich von der Kindsmutter trennt und auszieht, äußert die Kindsmutter tiefe Verzweiflung. Sie habe keine Kraft mehr, den Alltag zu bewältigen. Das Angebot einer stationären Mutter-Kind-Behandlung lehnt sie dauerhaft ab. Da weder der Kindsvater noch sonst eine Bezugsperson sich in der Lage sehen oder geeignet erscheinen, den Säugling angemessen zu versorgen, muss die Inobhutnahme durch das zuständige Jugendamt erfolgen.

7.7 Checkliste Trifft das Item der Tab. 7.1 zu, bedürfen betroffene Bezugspersonen qualifizierter Unterstützung (vergleiche Abschnitt Beratung und Intervention). Für die Erfassung der Symptome bietet sich ein Tagebuch an. Auch wenn die Kriterien nicht erfüllt sind, ist die Belastung der Eltern ernst zu nehmen und es sollte in jedem Fall versucht werden, sie zu entlasten. Tab. 7.1  Checkliste Exzessives Schreien Trifft zu Das Kind (mehr als drei Monate alt) schreit mehr als drei Stunden pro Tag für mindestens drei Tage pro Woche für mindestens drei Wochen anfallsartig und trotz des Einsatzes von geeigneten Beruhigungshilfen unstillbar Anzahl

Trifft nicht zu

Literatur

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Literatur Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. Düsseldorf: AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Munich: Piper. Lee, C., Barr, R., Catherine, N., & Wicks, A. (2007). Age-related incidence of publicly reported shaken baby syndrome cases: Is crying a trigger for shaking? Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics, 28, 288–293. Papousek, M., Schieche, M., & Wurmser, H. (Hrsg.). (2004). Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Erstfeld: Huber. Reijneveld, S. A., van der Wal, M. F., Brugman, E., Hira Sing, R. A., & Verloove-Vanhorick, S. P. (2004). Infant crying and abuse. The Lancet, 364, 1340–1342. Schneider, W., & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Siegler, R., Eisenberg, N., Deloache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindesund Jugendalter. Berlin: Springer. Straßburg, H. M. (2006). Der vermehrt schreiende Säugling – Kinderärztliche Aspekte. Kinderärztliche Praxis, 77, 90–98. van der Wal, M. F., Van Eijsden, M., & Bonsel, G. J. (2007). Stress and emotional problems during pregnancy and excessive infant crying. Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics, 28, 431–437. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Wurmser, H., Rieger, M., Domogalla, C., Kahnt, A., Buchwald, J., Kowatsch, M., Kuehnert, N., Buske-Kirschbaum, A., Papousek, M., Pirke, K.-M., & von Voss, H. (2006). Association between life stress during pregnancy and infant crying in the first six months postpartum: A prospective longitudinal study. Early Human Development, 82, 341–349.

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Regulationsstörungen

Regulationsstörungen entstehen aus dem Zusammenspiel von Anlagen und der Interaktion mit Bezugspersonen. Sie können sich in verlängertem exzessiven Schreien (nach dem 3. Lebensmonat), Schlafstörungen (nach dem 6. Lebensmonat), Fütterstörungen, Trennungsängsten, exzessiven Wutanfälle und oppositionellem Verhalten äußern (Typ A). Im Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–5™, 2016) werden Regulationsstörungen als eine Art Verarbeitungsstörung von externen Reizen verstanden, interaktionell bedingte Störungen anderweitig beschrieben (Typ B). Im Folgenden werden die beiden Typen deshalb getrennt besprochen. Nach Mothander et al. (2008) liegt der Häufigkeitsgipfel von Regulationsstörungen im zweiten Lebensjahr. Nach dem vollendeten dritten Lebensjahr sollten die Symptome spezifischen Störungen zugeordnet werden. Im ersten halben Lebensjahr sind Regulationsprobleme häufig. Treten sie zeitlich beschränkt auf, handelt es sich dabei um eine normale Entwicklung und sollte nicht als Störung beschrieben werden.

8.1 Kernsymptome Typ A

Die Regulation von mindestens zwei der folgenden Bereiche ist betroffen: Schreien, Schlaf, Füttern/Nahrungsaufnahme, Trennung, Wut, Grenzsetzung Die Symptome (v. a. exzessives Schreien, Spielunlust, chronische Unruhe, exzessives Klammern, aggressiv oppositionelles Verhalten, Kummer, Freudund Interesselosigkeit) bestehen über das erste halbe Lebensjahr hinaus Die Symptome bestehen mindestens 1 Monat und treten an mindestens 4 Tagen der Woche auf

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_8

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8 Regulationsstörungen

Intensität, Dauer und Häufigkeit der Symptome schwanken typischerweise stark und gehen in der Regel mit einer ungünstigen Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind einher. Sie können auch auf bestimmte Bezugspersonen begrenzt sein. Außerdem können sich die betroffenen Bereiche im Entwicklungsverlauf verändern (jedoch müssen immer mindestens zwei betroffen sein, ansonsten sollten sie spezifisch beschrieben werden). Typ B

Anhaltende, beeinträchtigende Schwierigkeiten in der adäquaten Regulation von Emotionen, Verhalten und Motorik, jeweils als Antwort auf sensorische Reize, die sich auf spezifische Sinnesfunktionen beziehen (z. B. laute Geräusche, helles Licht, räumliche Bewegung, Berührung, neue Gerüche und Geschmäcker, raue Oberflächen), d. h. • sensorische Verarbeitungsschwierigkeiten und • motorische Probleme und • ein spezifisches Verhaltensmuster Die Antwort auf Reize erfolgt dabei entweder … oder … • überempfindlich-überschießend – ängstlich-übervorsichtig (Einschränkung der Exploration, Ängste, Kummer, Klammern, erhöhte Ablenkbarkeit) oder – negativ-oppositionell (Protestneigung, repetitives Verhalten, Angst vor Veränderungen) • unterempfindlich-unterreagierend (Zurückhaltung, Erforderlichkeit einer hohen Reizintensität für adäquate Reaktion) • stimulationssuchend-impulsiv (aktive Suche einer hohen Reizstimulation, im Verhältnis zu Gleichaltrigen erhöhte Impulsivität, mangelnde Aufmerksamkeit)

Im Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–5™, 2016) wird die Beschreibung der unterschiedlichen Formen systematisch nach sensorischen, motorischen und Verhaltensmustern gegliedert. Standardisierte Instrumente zur Erfassung fehlen bislang, weshalb sie in ihrer erheblichen Komplexität abschließend nur durch erfahrene Untersucher erfolgen sollte. Für eine Diagnosestellung müssen die beschriebenen Kernsymptome also weiter untergliedert und konkretisiert werden (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2015; von Gontard 2010). Die Darstellung in diesem Buch dient vor allem dazu, die Notwendigkeit dazu erkennen und orientierend einschätzen zu können. 

Insgesamt handelt es sich beim Begriff der Regulationsstörung um ein klinisches Konstrukt, bei dem sich eine kritische Prüfung und zurückhaltende Anwendung empfiehlt.

8.3 Aufgabenplanung

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8.2 Zur Entstehung Regulationsstörungen scheinen durch anlagebedingte Defizite in Kombination mit ungünstigen Lern- und Interaktionserfahrungen mit Bezugspersonen zu entstehen. In der Praxis finden sich bei von Regulationsstörungen betroffenen Kinder gehäuft Fehleinschätzungen von kindlichen Bedürfnissen und Kompetenzen, kommunikative Missverständnisse und Fehlinterpretationen von kindlichen Verhaltensweisen durch Bezugspersonen (etwa dem Verhalten von Säuglingen eine „böse“ Absicht zu unterstellen). Die Förderung passender Antworten auf sensorische Erfahrungen gelingt in diesen Fällen vor dem Hintergrund einer ungünstigen Interaktion, ungünstigen Umgebungsbedingungen und z. T. eigener Defizite der Bezugspersonen nur eingeschränkt oder nicht. So gibt es auch in der Entstehung von Regulationsstörungen eine Schnittmenge mit Beziehungsstörungen, sie können sogar grundlegend sein.

8.3 Aufgabenplanung Je nach Alter und sich abhängig entwickelten, begleitenden psychischen Auffälligkeiten betroffener Kinder liegen die Herausforderungen in der Betreuung • in der Erkennung und Abgrenzung von Normvarianten und Reifungsphänomen (häufig nur in Kenntnis der Eltern-Kind-Interaktion möglich) • in den konkreten Auswirkungen der betroffenen Bereiche (sehr individuell) • davon abhängig in der Förderung einer günstigeren Eltern-Kind-Beziehung und adäquaten Reizexposition des Kindes (siehe Abschnitt Beratung und Intervention) • bei vollständiger Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern in einer Betreuungssituation, die Sicherheit gegenüber dem Kind, Feinfühligkeit bezüglich kindlicher Signale, hohe emotionale Verfügbarkeit, adäquate Stimuli und symptomreduzierende Bedingungen hinsichtlich der individuellen Problematik (siehe dazu betreffende Abschnitte, z. B. exzessives Schreien) gewährleistet Eine Aufgabenplanung, die neben der konkreten Fallkonstellation die individuellen Gegebenheiten Ihrer Einrichtung berücksichtigt, kann Beratung und Intervention erheblich erleichtern. Beispiel

• Zielklärung: Das 18  Monate alte Kind hat in unserer Tagesstätte bei Anforderungen täglich Wutanfälle und verhält sich auch darüber hinaus häufig aggressiv und oppositionell im Wechsel mit Phasen der Weinerlichkeit und Anhänglichkeit. Das Ausmaß des Verhaltens weicht von Bedürfnissen und Verhalten Gleichaltriger deutlich ab. Allgemeinen pädagogischen Maßnahmen

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8 Regulationsstörungen

• •



• •



erscheint es nicht dauerhaft zugänglich. Es sollen die Hintergründe – insbesondere die Situation zu Hause und typische Auslöser seines Verhaltens – eruiert werden und das Kind ggf. von vermeidbarer Überforderung entlastet bzw. insgesamt in der Bewältigung von Gefühlen und unangenehmen Anforderungen unterstützt werden. Gefährdungsanalyse: Es liegen keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vor. Ressourcenanalyse: Es liegen ausreichende Erfahrungen und Qualifikationen für die Unterstützung des Kindes vor. Durch ähnlich gelagerte Probleme anderer Kinder ist die Kapazität jedoch personell wie zeitlich begrenzt. Prozessplanung: Erzieher Herr Weber wird zunächst die Eltern zu einem ausführlicheren Gespräch z. B. bei Abholung einladen. Er wird den Eindruck in unserer Einrichtung rückmelden und nach der Situation zu Hause fragen. Dabei sollen nicht nur die Probleme im Fokus stehen, sondern auch Erfahrungen der Eltern, wie sie ggf. in ähnlichen Situationen ihr Kind beruhigen und stärken können. Sowohl für den Alltag in der Tagesstätte (Hr. Weber) als auch zu Hause (Eltern) wird nach Möglichkeit eine Art Tagebuch erstellt, in dem die „Krisen“ des Kindes und die Details und Zeit ihrer Auflösung festgehalten werden. Nach zwei Wochen erfolgt eine genaue Analyse der Beobachtungen mit anschließender Planung der konkreten Entlastung/Unterstützung unter Berücksichtigung der personellen und zeitlichen Ressourcen. Impulsgabe: Herr Weber wird spätestens bis 10.08.2019 einen Gesprächstermin mit beiden Elternteilen vereinbaren. Verlaufskontrolle: Erfolgt – die Kooperation der Eltern vorausgesetzt – am 24.08.2019 mit der Gruppenleitung, ggf. auch den Eltern. Bei ausbleibender Kooperation neue Zielklärung zu diesem Termin. Bilanzierung: Erfolgt im Rahmen der Verlaufskontrolle mit neuer Zielklärung der konkreten Entlastung/Unterstützung. Wichtiger Aspekt der Bilanzierung ist die auch die Einschätzung, ob externe Hilfen nötig sind (z. B. wenn die kapazitativen und zeitlichen Ressourcen in Konfrontation mit mehreren betreuungsintensiven Kindern in unserer Einrichtung erschöpft wären).

8.4 Beratung und Intervention Psychoedukation und die Beratung der Eltern bilden die Grundlage institutioneller Interventionsmöglichkeiten. Sie zielen darauf ab, Eltern (auch von Schuldgefühlen) zu entlasten, was bei einer nur vorübergehenden Problematik mitunter ausreichen kann. Es geht darum, Eltern im Umgang mit den (ja mindestens zwei) spezifischen Problemen (z. B. Schlafen, Füttern) zu helfen. Wenn Sie diesen Aspekt in den Vordergrund stellen, erleichtern Sie Eltern eine zugewandte Haltung. So wenig wie „böse Absichten“ im Verhalten von Säuglingen und jungen Kleinkindern liegen, so wenig verstehen Eltern und Bezugspersonen Kinder vorsätzlich falsch oder gestalten Umwelteinflüsse vorsätzlich unpassend.

8.5  Vorbeugende Maßnahmen

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Anlagebedingte Defizite der kindlichen Informationsverarbeitung werden durch Lernerfahrungen und Interaktionen mit Bezugspersonen moduliert. Passen diese zum individuellen Kind (nicht über- oder unterreizend), werden die Antworten des Kindes auf sensorische Erfahrungen schrittweise passender. Neuen Reizen sollten betroffene Kinder ebenso schrittweise ausgesetzt werden. Hyperreagierende Kinder sollten weniger, unterreagierende mehr (adäquate) Stimuli erhalten. Je nach Ausgangssituation können Eltern auch Hilfe brauchen, empathisch auf ihr Kind reagieren zu können, Grenzen zu setzen und konsequent zu sein. Damit dies gelingt, bedarf es auch eines Umgangs mit eigenen Belastungen infolge entsprechender Lebensereignisse und/oder psychischer Erkrankung. Wenn die Schwierigkeiten anhalten, sollte eine Vorstellung bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zur ausführlichen, qualifizierten Diagnostik und Therapieplanung erfolgen. Die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sieht nach Diagnostik, Beratung und Psychoedukation meist eine Kombination aus (vor allem bei Typ B) Ergotherapie und (in schweren Fällen) Eltern-Kind-Psychotherapie vor. Häufig erfolgt eine Frühförderung bezogen auf die individuelle Symptomatik. Das Konzept der psychodynamischen Säuglings-Eltern-Kleinkind-Therapie (SKEPT) integriert Diagnostik, Beratung und Therapie und erscheint klinisch bei Regulationsstörungen sehr wirksam.

8.5 Vorbeugende Maßnahmen Regulationsstörungen vorbeugende Maßnahmen zielen in entwicklungs-, kindgerechter und konsequenter Weise darauf ab, dass Bezugspersonen in ausreichendem Maße verfügbar und verlässlich sind sowie Umwelteinflüsse so dosiert werden, dass sie Kinder weder über- noch unterreizen. Konkret erfordert dies • • •

Verfügbarkeit Zeitlich und emotional Sensibilität Adäquate Interpretation kindlicher Signale Hohe Responsivität Reaktion auf alle Gefühlslagen und Interaktionen des Kindes (nicht allein auf Grundbedürfnisse oder Schreien) • Strukturierung Kind seinem individuellen Entwicklungsstand entsprechend begegnen, verbal und nonverbal kommunizieren (sprachliche Kommunikation mit einem Kind gelingt am besten, wenn sie sich an seinen Vorstellungen und seinem Sprachverständnis orientiert; der sprachliche Ausdruck ist davon zu unterscheiden), Führungsrolle einnehmen, altersentsprechende Autonomie ermöglichen

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8 Regulationsstörungen

• Selbstregulation Eigene negative Gefühle nicht dem Kind anlasten (Ungeduld, Frustration, Langweile) oder auf das Kind übertragen (Abwertung, Schütteln, körperliche Bestrafung, Androhung von Trennung/Verlassen) • Aktivierende Aktivitäten (weiterführende Literatur: Largo 2016) • Schrittweise Exposition neuer Reize • Altersentsprechende Verbalisierung von Empfindungen • Vorleben und Förderung hilfreicher Bewältigungsstrategien

8.6 Praxisbeispiel Beispiel

Die Mutter der 20 Monate alten Stefanie sucht das Gespräch mit deren Bezugserzieherin in der Kindertagesstätte. Sie fragt, ob sich am Verhalten ihrer Tochter in der Gruppe etwas verändert habe. Konkret möchte sie wissen, ob Stefanie vermehrt langanhaltende Wutanfälle habe bzw. sich schwerer tue, bekannte Regeln einzuhalten. Als die Erzieherin dies verneint, äußert die Kindsmutter die Sorge, Stefanie gefalle es zu Hause nicht mehr. Denn obwohl sie zuvor ein eher ruhiges und unkompliziertes Kind gewesen sei, schreie sie und werfe sie sich seit etwa 6 Wochen auf den Boden, wenn sie etwas nicht dürfe oder bekomme. Teilweise schlage sie auch den Kopf auf den Boden oder reiße an ihren Haaren. Ihr Mann habe bereits einen älteren Sohn aus erster Ehe und habe gesagt, Stefanies Verhalten erinnere ihn an dessen Trotzverhalten. Sie habe sich deshalb belesen, achte auf eine besonders konsequente Erziehung, merke aber, dass sie selbst zunehmend aggressiver werde. Die Erzieherin äußert Verständnis für die Situation der Kindsmutter. Sie kenne aus ähnlichen Situationen, dass ein schreiendes und tobendes Kind einen auf Dauer hilflos und ebenfalls wütend werden lässt. Sie bestärkt die Kindsmutter in ihrer konsequenten Erziehungshaltung. Sie berichtet von ihrer Beobachtung, dass Stefanie sich bei Frustration durch Musik schnell beruhigt und regt an, Stefanies Kompetenzen, sich in den häuslichen Situationen zu beruhigen, zu stärken. Zwei Wochen später bringt die Kindsmutter ein Handyvideo mit, das der Kindsvater aufgenommen habe. In der aufgezeichneten Situation brüllt Stefanie am Boden liegend, tritt und schlägt nach jedem, der sich ihr nähert. Beide Elternteile und eine weitere, ältere erwachsene Person reden auf sie ein, fordern sie auf, sich zu beruhigen, begrenzen ihr Schlagen und Treten jedoch nicht. Die Kindsmutter ist sichtlich wütend und wertet Stefanie zunehmend ab. Beim Anschauen dieser Szenen treten ihr Tränen in die Augen. Sie gibt an, dass diese Situationen in ähnlicher Weise fast jeden Tag auftreten würden und sie nicht mehr weiterwisse. Im Gespräch mit der Erzieherin entscheidet sie sich, Stefanie in einer Spezialambulanz für Regulationsstörungen der örtlichen Kinderklinik vorzustellen.

8.7 Checkliste

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Dort werden beide Elternteile mit Hilfe von Videoanalysen angeleitet, sich über wiederkehrend zu Konflikten führende Regeln besonders einig zu werden und sie freundlich, aber konsequent durchzusetzen. Vorhandene Deeskalationsstrategien des Kindes werden identifiziert und die Eltern angeleitet, diese Kompetenzen zu stärken. Die Kindsmutter lernt, sich in Situationen, in denen sie selbst aggressiv wird, zurückzuziehen bzw. durch Atemtechniken etwas zu entspannen. Während ihr dies in Anwesenheit des Kindsvaters gut gelingt, kommt es in bestimmten Situationen weiterhin zu Eskalationen, wenn sie allein mit Stefanie ist. Eine psychologische Aufarbeitung der Kindheit der Kindsmutter legt nahe, dass auf diese Situationen ihre eigenen Kindheitserlebnisse einwirken. Nach einem halben Jahr hat sich die ElternKind-Beziehung deutlich entspannt.

8.7 Checkliste Trifft mindestens ein Item der Tab. 8.1 zu, bedürfen betroffene Bezugspersonen qualifizierter Unterstützung (vergleiche Abschnitt Beratung und Intervention).

Tab. 8.1  Checkliste Regulationsstörungen Trifft zu Das Kind zeigt über mindestens einen Monat an mindestens vier Tagen der Woche über das erste halbe Lebensjahr hinaus mindestens zwei der folgenden spezifischen Probleme: • exzessives Schreien • Spielunlust • chronische Unruhe • exzessives Klammern • aggressiv oppositionelles Verhalten • Kummer • Freud- und Interesselosigkeit Das Kind zeigt anhaltende, beeinträchtigende Schwierigkeiten in der adäquaten Regulation von Emotionen, Verhalten und Motorik, jeweils als Antwort auf sensorische Reize wie z. B. • laute Geräusche • helles Licht • räumliche Bewegung • Berührung • neue Gerüche und Geschmäcker • raue Oberflächen Anzahl

Trifft nicht zu

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8 Regulationsstörungen

Literatur Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.). (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. Düsseldorf: AWMF Online. Largo, R. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Munich: Piper. Mothander, P. R., & Moe, R. G. (2008). Infant mental health assessment: The use of DC 0–3 in an outpatient child psychiatric clinic in Scandinavia. Scandinavian Journal of Psychology, 49, 259–267. von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

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Ausscheidungsstörungen

Bis zum vollendeten dritten Lebensjahr handelt es sich beim Einkoten (Enkopresis), bis zum vollendeten vierten Lebensjahr beim Einnässen (Enuresis) tagsüber und nachts nicht um Störungen und stellen bei angemessener Reaktion von Bezugsperson auch keine Belastung für Kinder dar. Funktionelle Ausscheidungsstörungen wie z. B. nicht anders begründete Verstopfung, Durchfall, Phobien und Verweigerungsverhalten können dagegen auch bereits bei jüngeren Kindern eine hohe Belastung darstellen und sich auf die spätere Entwicklung auswirken. Als funktionelle Störungen bezeichnet man Beeinträchtigungen, die „nur“ die Funktion betreffen. Organische Ursachen (z. B. struktureller oder neurogener Natur) der Ausscheidungsstörungen sollten stets ausgeschlossen sein (die Durchführung möglichst wenig invasiv und belastend). Begleitende psychische und Verhaltensauffälligen sollten erfasst und auf ihre Wechselwirkungen geprüft werden.

9.1 Kernsymptome Bis zum vollendeten dritten Lebensjahr

• •

Slow-Transit-Constipation (genetisch bedingt) Erschwerte erste Darmentleerung des Neugeborenen (Mekoniumabgang) Therapieresistente Verstopfung Weiche Stühle (statt üblicherweise hart) Störung der Stuhlentleerung (Säuglingsdyschesie) Bis zum 6. Lebensmonat eines ansonsten gesunden Säuglings: Heftiges Schreien, Pressen über mind. 10 min Weiche Stühle

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. M. Rank, Psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27810-6_9

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9 Ausscheidungsstörungen

Es wird von einer Koordinationsstörung zwischen erhöhtem Druck im Bauch und der Entspannung des Beckenbereichs ausgegangen, die sich selbstständig zurückbildet. • Funktionelle Verstopfung Mindestens über einen Monat zwei der folgenden Symptome: Seltener Stuhlgang (