Pseudo-Lukrezisches Im Lukrez: Die Unechten Verse in Lukrezens "de Rerum Natura" 3110810530, 9783110810530

744 142 6MB

German Pages 352 [353] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Pseudo-Lukrezisches Im Lukrez: Die Unechten Verse in Lukrezens "de Rerum Natura"
 3110810530, 9783110810530

Table of contents :
Frontmatter......Page 1
Vorwort......Page 5
Inhaltsverzeichnis......Page 7
Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik......Page 11
Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext......Page 25
Unechte Verswiederholungen......Page 37
Frei komponierte Interpolationen......Page 235
Appendix Critica......Page 288
Die interpolierten Verse im Lukreztext: Versuch einer typologischen Erfassung......Page 315
Das Lehrgedicht de rerum natura: Eine Schlußbetrachtung......Page 328
D. Bibliographie......Page 337
E. Indices......Page 344

Citation preview

Marcus Deufert Pseudo-Lukrezisches im Lukrez

w DE

G

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 48

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996

Pseudo-Lukrezisches im Lukrez Die unechten Verse in Lukrezens „De rerum natura" von

Marcus Deufert

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Deufert, Marcus: Pseudo-Lukrezisches im Lukrez : Die unechten Verse in Lukrezens „De rerum natura" / von Marcus Deufert. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 48) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-015046-8 NE: GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Das vorliegende Buch ist die für den Druck geringfügig veränderte Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 1995/96 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen worden ist. Allen, die mich während meines Studiums und bei dieser Arbeit unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen: meinen Eltern, meinen Lehrern und Freunden in Würzburg, Bonn und Cambridge, der Studienstiftung des Deutschen Volkes für ein großzügig gewährtes Promotionsstipendium, Herrn H. Gastens für die Erstellung der Druckvorlage, Herrn Professor Ingenkamp für die Übernahme des Korreferats und den Herausgebern der Reihe "Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte" für die Aufnahme meines Buches. Herrn Professor Bühler danke ich dabei besonders für seine wichtigen Hinweise, die der endgültigen Fassung sehr zugute kamen. Einen großen Teil des Manuskripts konnte ich 1992/93 während eines neunmonatigen Aufenthaltes an der University of Cambridge erarbeiten. Dieser Kriirog ermöglichte mir ein rasches Fortschreiten dank dem für philologisches Forschen so anregenden Umfeld, der vorzüglich ausgestatteten Universitätsbibliothek und ganz besonders der intensiven Betreuung durch Professor Michael D. Reeve, dem ich für seine scharfsinnige Kritik und seine freundlich und großzügig gezeigte Hilfsbereitschaft gleichermaßen von Herzen danke. Mein Lehrer, Herr Professor Otto Zwierlein, hat die Dissertation angeregt und über Jahre mit ständiger Hilfsbereitschaft und einer für den Doktoranden ganz besonders ermutigenden Ernsthaftigkeit betreut. Die Untersuchung verdankt seinem wissenschaftlichen Rat unendlich mehr, als die wenigen Anmerkungen verraten. Darüber hinaus stand er mir menschlich während der ganzen Zeit mit der ihm eigenen Aufrichtigkeit zur Seite, die gerade in einer schwierigen Phase meiner Arbeit Halt und Vertrauen gab. Zurückblickend bleibt an dieser Stelle ein Gefühl von Dankbarkeit, das wohl nur die Schüler von Professor Zwierlein nachempfinden können. Göttingen im Mai 1996

Marcus Deufert

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

A. Einleitung

1

I.

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitskritik

II. Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

1 15

B. Die unechten Verse im Lukreztext

27

I. Unechte Verswiederholungen

27

1. Methodische Vorüberlegung 2. Wiederholungen längerer Textabschnitte 1.44-49 (=2,646-51) 2,29-33 ( = 5,1392-96) 2.55-61; 6,35-41 ( = 3,87-93) sowie 1,146-8 ( = 3,91-3) 2,177-181 ( = 5,195-99) 3,806-18 (=5,351-63) 4,1-25 ( = 1,926-50) 4,217-29 ( = 6,923-35) 5,128-141 ( = 3,784-797) 6.56-67 ( = 1,153-4 und 5,82-90) sowie 6,90-1 3. Cento-Abschnitte 1,670-74 (vgl. 1,789-93) sowie 2,748-6; 3,519-20 2,688-699 und 2,1013-22 (vgl. 1,817-29) sowie 1,907-14.919-20 (vgl. 2,976-7); 2,760-2; 2,883-5 2,718-29 4.45-53 5,419-31

27 32 32 40 51 64 72 81 97 102 109 116 . . . 116 . . . 127 152 155 165

VIII

Inhaltsverzeichnis

5,554-563 4. Wiederholungen kürzeren Umfangs 1,531; 4,672 ( = 1,429) 1,548 ( = 1,574 = 1,609) 1,769 ( = 1,762) 1,1080 (=2,237) 2,105 (vgl. 2,109) 2,334 ( = 3,32) 2,636 (vgl. 635 und 637) 3,474-5 (vgl. 3,510) 3,701 (vgl. 3,756) 3,763 (=3,746) 4,1047 (vgl. 4,1034) 5,210-1 (vgl. 1,211-2) 5,1315 (vgl. 2,632) 5,1328 (vgl. 1327) 5,1359 (vgl. 5,1272) 5,1388-9 ( = 5,1454-5) 6,228-9 (vgl. 1,489-90) 6,251-4 (=4,170-3) 6,299 (vgl. 6,1017) 6,383-5 (=6,87-90) 6,988-9 (=6,996-7) II. Frei komponierte Interpolationen 1,58-61 1,192-8 1,334 1,527 1,1085-6 2,859-64 2,923 3,206-7 3,358 3,412 3,430-3 3,743 3,764 3,1031

172 177 177 181 184 184 188 190 193 194 195 198 199 201 203 205 207 209 212 215 218 219 222 225 225 230 232 233 235 237 241 242 245 246 247 249 251 252

Inhaltsverzeichnis 4,885 4,1013-14; 1018-19 5,52-4 5,545 5,1006 5,1131-2 5,1148-50 5,1341-49 6,565-7 6,948-50 III. Appendix Critica

IX 254 255 258 260 261 262 265 267 274 276 278

1. Drei interpolatorisch überarbeitete Partien im Lukreztext 278 Die Theorie des Denkens (4,722-821.26) 278 Die Enstehung des Lebens auf der Erde (5,783-836) . . 286 Die Entstehung der Götterfurcht (5,1161-1240) 295 2. Ein kurzes Wort zum largus sermo (5,155)

C. Synkrisis

302

305

I.

Die interpolierten Verse im Lukreztext - Versuch einer typologischen Erfassung 305 II. Das Lehrgedicht de rerum natura - Eine Schlußbetrachtung 318

D. Bibliographie

327

E. Indices I. Sachen II. Wörter III. Stellen

334 337 338

A. Einleitung I. Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik Das Feststellen von Interpolationen wurde jüngst von Joseph Delz als das "dornigste Problem der Textkritik" 1 bezeichnet. In der Tat steht jeder Philologe, der Teilen eines überlieferten Textes ihre Authentizität abspricht und sie als spätere, nicht vom Autor selbst verfaßte Zusätze brandmarkt, von vornherein unter einem höheren Rechtfertigungszwang als seine Kollegen, die die Echtheit des entsprechenden Textabschnitts verteidigen. Die Frage nach der Authentizität ganzer Werke sowie einzelner Textabschnitte war der gesamten antike Philologie gegenwärtig 2 . Die älteste echtheitskritische Äußerung begegnet uns bereits bei Herodot, der auf Grund eines inhaltlichen Widerspruchs zur Ilias die Kyprien dem Homer aberkennt 3 . Als bedeutendste Echtheitskritiker treten dann die alexandrinischen Gelehrten in Erscheinung, die Verse, die sie für unecht hielten (beispielsweise im Homertext), mit dem Obelos4 markierten; ihre Methode wurde von den antiken Philosophenschulen, etwa dem Kepos 5 ,

1

MH, 49, 1992, 268. Einen Überblick über die antike Echtheitskritik gibt W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung, München, 1971, 112ff.; die folgende knappe Auswahl aus Zeugnissen antiker Echtheitskritik sind seiner Abhandlung entnommen. Zur griechischen Philologie allgemein vgl. R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship from the Beginnings to the End of the Hellenistic Age, Oxford, 1968; zur römischen J. Zetzel, Latin Textual Criticism in Antiquity, Salem, New Hampshire, 1981. 2

3

Hdt. 2,117: KARA RAVRA Si TO. TIRTOT Kail TÖSe TO \uipiov OVK RJKIOTA aWa ¡XCXKLOTO! bnjkm, OTI OVK ' OfiLTipov rot Kinrpia iirtci ion ctW äWov TIVCX;. 4 Zu dieser Form der Athetese vgl. A. Gudemann, s.v. Kritische Zeichen, RE, 22, 1922, 1916ff.; R. Pfeiffer, 111; 115. 5 M. Erler, Philologia medicans. Wie die Epikureer die Texte ihres Meisters lasen, in: Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, hrsg. v. W. Kullmann und J. Althoff, Tübingen, 1993, 28Iff.

2

Einleitung

sowie den römischen Philologen von Beginn an übernommen 6 . Über die bereits seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts vor Christus einsetzenden echtheitskritischen Arbeiten an den unter dem Namen des Plautus kursierenden Komödien berichtet Aulus Gellius 7 ; mit der Schrift de Dinarcho des Dionysios von Halikarnaß ist uns aus augusteischer Zeit eine echtheitskritische Untersuchung zu den Reden des Dinarch8 erhalten. Tilgungsvorschläge des Probus zum Vergiltext überliefert uns Aelius Dornt9, und auch die Kirchenväter sind in ihren text- und echtheitskritischen Arbeiten der Methode der Alexandriner verpflichtet 10 . Seit dem Wiedereinsetzen einer kritischen Philologie im Humanismus ist das Problem der Echtheit stets bekannt11. So wurden von den Humanisten nicht nur einzelne Stellen aus überlieferten Werken getilgt 12 , sondern insbesondere auch ganze Schriften als spätere Fälschungen erwiesen. Die berühmteste echtheitskritische Abhandlung des

6

Vgl. K. Büchner, Überlieferungsgeschichte der lateinischen Literatur des Altertums, in: Geschichte der Textüberlieferung (hrsg. v. H. Hunger), Bd. 1, Zürich, 1961, 329ff.; J. Zetzel, bes. 10-74. 7 Vgl. Gell. 3,3,11-12: Feruntur autem sub Plauti nomine comoediae circiter centum atque triginta; sed homo eruditissimus L. Aelius quinqué et uiginti eius esse solas existimauit. 8 Methodisch wichtig sind vor allem die Kapitel 6 und 7 der Untersuchung; zu ihrem echtheitskritischen Wert vgl. Speyer, 113. 9 Siehe etwa Serv. auct. zu Aen. 4,418: Probus sane sie adnotavit: 'si hunc versum omitteret, melius fecisset'. Zur philologischen Tätigkeit des Probus, die sich im wesentlichen wohl auf das Versehen seiner Handexemplare mit kritischen Zeichen beschränkte, vgl. H.D. Jocelyn, The Annotations of M. Valerius Probus I, ClQu. N.S. 34, 1984, 464ff; II, ibid. 35, 1985, 149ff.; III, ibid. 466ff. Jocelyn sieht den Probus auf Grund seines Hauptanliegens, "the detection of faults" (II, 161) in klarer Verbindung zu Aristarch stehen. 10 Zum philologischen Vorgehen des Hieronymus vgl. K.K. Hulley, Principies of Textual Criticism Known to St. Jerome, HSCP, 55, 1944, 87ff. (zur Echtheitskritik bes. 100f ); zur Methode des Orígenes vgl. B. Neuschäfer, Orígenes als Philologe, Basel, 1987, 12238, der auch die konservative Grundtendenz der antiken Philologie, für unecht Gehaltenes nicht zu tilgen (irapaipúv), sondern kritisch zu kennzeichen (ößeXifiie), für Origines im gleichen Maß wie für Zenodot hervorhebt. 11 Einen historischen Überblick über die echtheitskritischen Arbeiten der Humanisten gibt W. Speyer, Italienische Humanisten als Kritiker der Echtheit antiker und christlicher Literatur, Stuttgart, 1993; zur Echtheiskritik in der Neuzeit vgl. A. Grafton, Forgers and Critics. Creativity and Duplicity in Western Scholarship, Princeton, 1990. Beide Monographien sind jedoch vorwiegend der Geschichte der Echtheitskritik ganzer Schriften, weniger der Geschichte der Interpolationsforschung gewidmet. 12 So athetierten Pontanus und Marullus Lucr. 1,44-9; Giorgio Valla verurteilte Juv. 9 t 43-44. prop. 4,5,55f. ( = l , 2 , l f . ) fehlen in einer Reihe humanistischer Handschriften.

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

3

Humanismus ist dabei zweifelsohne Lorenzo Vallas um 1440 erschienene Declamatio de falso crédita et ementita Constantini Donatione; neben Richard Bentley s 1697 erstmals veröffentlichter Dissertation upon the Epistles ofPhalarisn die wohl spektakulärste echtheitskritische Abhandlung der Philologiegeschichte. Dennoch blieb die Athetese in der Folgezeit gegenüber anderen philologischen Eingriffen, etwa der Konjekturalkritik sowie der Versumstellung 14 , ein eher sparsam eingesetztes Mittel zur Heilung von Überlieferungsschäden, obgleich freilich so herausragende Philologen wie Nicolaus Heinsius für Ovid, François Guyet für Juvenal, Richard Bentley für Manilius und Richard Porson für Euripides von ihr Gebrauch zu machen wußten. Erst im 19. Jahrhundert gelangt mit dem Einsetzen der modernen textkritischen Methode die Echtheitskritik zu höchster Bedeutung. Gerade die deutsche Philologie, angeführt von Gelehrten wie etwa Lachmann, Ritsehl, Ribbeck und Nauck, neigte in besonders hohem Maß zur Athetese; in ihren Ausgaben wurden "literally thousands of lines of Greek and Latin poetry" 15 verworfen. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts schlug in Deutschland das Pendel dann in die entgegengesetzte Richtung; die Phase skeptischer Textkritik wird von einer konservativen Reaktion abgelöst. Unter dem Einfluß insbesondere Buechelers, Vahlens, Vollmers und Ehwalds entstanden rasch neue Ausgaben, die dem überlieferten Text so weit wie irgend möglich folgten und von dem kritischen Eingriff der Athetese so gut wie keinen Gebrauch mehr machten 16 . In der englischen Forschung unterblieb diese radikale Reaktion; Bentleys kritischer Geist fand seine Nachfolge in den Arbeiten etwa H.A.J. Munros und A.E. Housmans, der im Vorwort zu seiner Juvenalausgabe (Cambridge,

13

Bereits vor Bentley hatten Polizian, Erasmus und Leibniz die Authentizität der Phalarisbriefe bestritten; Bentley liefert jedoch als erster einen wissenschaftlichen Beweis; vgl. C . O . Brink, English Classical Scholarship. Historical Reflections on Bentley, Porson and Housman, Cambridge/New York, 1985, 49ff. 14

Radikalste Anwendung fand dieses Mittel der Textkritik fraglos in Scaligers 1577 in Paris erschienener Properzausgabe. 15 So R.J. Tarrant, The Reader as Author: Collaborative Interpolation in Latin Poetry, in: Editing Greek and Latin Texts (hrsg. v. J.N. Grant), N e w York, 1989, 122. 16 Vgl. dazu R.J. Tarrant, Reader, 122; als treffendes Beispiel führt er (Anm. 1) die Teubnerausgabe R. Ehwalds von Ovids Metamorphosen (Leipzig, 1915) an, die nur einen einzigen Vers verwirft, während in der alten Teubnerausgabe R. Merkels (Leipzig, 2 1 8 7 5 ) noch 2 0 0 Verse athetiert waren.

4

Einleitung

1905) den für die deutsche Forschung so charakteristischen Paradigmenwechsel mit feinem Spott beschreibt 17 . Im zwanzigsten Jahrhunderts überwiegt nicht nur in Deutschland insgesamt zweifellos die konservative Philologie, wenn auch die skeptische 18 Richtung, verfochten von Gelehrten wie Günther Jachmann und (vor allem dem späten) Eduard Fraenkel, nie ganz verstummt ist; die oftmals polemisch geführte Auseinandersetzung hält bekanntlich bis heute an. Grundsätzlich gibt es für die Entstehung einer nachträglichen Texterweiterung zwei Möglichkeiten: 1) Sie vollzieht sich unabsichtlich, indem ein Kopist sich irrt und entweder Text von einer anderen Stelle des Werkes abschreibt 19 oder Randkommentare seiner Vorlage mißversteht und beim Abschreiben in den fortlaufenden Text einfügt 20 . 2) Sie ist die bewußte Hinzufügung eines späteren Lesers oder Herausgebers, der selbständig und willentlich den überlieferten Text ergänzt hat. Günther Jachmann und seine Schule haben größten Wert darauf gelegt, nur im zweiten Fall von echten Interpolationen zu sprechen, der den weitaus größten Teil der nachträglichen Texterweiterungen ausmache und allein das richtige Verständnis des antiken Interpolationswesens ermögliche. Programmatische Bedeutung hat eine frühe Äußerung Jachmanns in seinen Binneninterpolationen-. "Gewiß gibt es auch diese Erscheinung (seil. Randbemerkungen ..., die irrtümlicherweise in den Text 'eingedrungen', 'hineingeraten' sind), zumal bei Glossemen, aber sie spielt innerhalb der Gesamtheit der Interpolationen eine verschwindend geringe Rolle, und vor allem: diese unbeabsichtigte Textverderbnis hat ihrem eigentlichen Wesen nach gar nichts zu schaffen mit der echten Interpola-

17 XXXI: "Forty years ago it was fashion to be suspicious; and scholars ejected from the text of Juvenal every verse that could be spared, and judged themselves acute for doing so. Now it is the fashion to be insensible; and scholars claim to the merit of caution when they accept as genuine every verse which the text of Juvenal contains." 18 Mit "conservative" und "(faute de mieux) skeptical" bezeichnet R.J. Tarrant, Toward a Typology of Interpolation in Latin Poetry, TAPA 117, 1987, 282 mit Anm. 7 die beiden Schulen. 19 Offensichtliche Abschreibefehler sind im Lukreztext beispielsweise 3,672a ( = 6 7 8 ) und 3,763 ( = 746). 20 Ein klassisches Beispiel in der Dichtung ist hierfür Hes. erg. 93, wo der Odysseevers 19,360, einst wohl eine Parallele für Vers 113f. (vgl. M.L. West a.l.), vom Abschreiber in den Hesiodtext eingeschoben wurde. Zahlreiche weitere Beispiele bei Tarrant, Reader, 134f.

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

5

tion, welche eine bewußt und vorsätzlich verfahrende Maßnahme darstellt" 21 . Zweifellos ist Jachmann unbedingt zuzustimmen, daß die überwältigende Mehrzahl der Interpolationen nicht zufällig in den Text hineingeraten, sondern bewußt eingefügt worden ist; ein stringenter Nachweis der Absichtlichkeit läßt sich jedoch oft nicht fuhren. So scheint Absichtlichkeit stets dann vorzuliegen, wenn etwa ein interpolierter versus iteratus in einer für den neuen Kontext leicht abgewandelten Form vorliegt; aber auch in diesem Fall ist es denkbar, daß der Vers in seinem ursprünglichen Wortlaut zunächst als Parallele an den Rand notiert war, vom nächsten Abschreiber in den neuen Kontext mechanisch übertragen wurde und zu einem späteren Zeitpunkt diesem Kontext entsprechend abgeändert wurde 2 2 . Dieser weitaus kompliziertere und unwahrscheinlichere Erklärungsansatz trifft etwa auf den interpolierten Vergilvers Aen. 3,230 ( = A e n . 1,311) zu: Die in 3,229 und 1,310 identische Versklausel sub

rupe cauata hat bewirkt, daß 1,311 arboribus clausam circum atque horrentibus umbris zu 3,229 notiert wurde; als Vers 3,230 ist das von den alten Handschriften noch überlieferte Partizip clausam nicht konstruierbar, wohl aber die nachträglichen "Verbesserungen" clausa oder clausi der jüngeren Handschriften. Hier greifen wir also einen Interpolationsvorgang, der ursprünglich von Absichtlichkeit frei ist. Es empfiehlt sich daher, den Begriff der Interpolation nicht ausschließlich an das Kriterium der Absichtlichkeit zu binden und ihn stattdessen in einem weiteren Sinne zu verwenden, wie es R. Renehan 23 vorschlägt: "Let it be clearly understood that there is only one feature common to all interpolations: the fact that they are all extraneous additions to a genuine text. The origin and causes of specific interpolations may be quite diverse, and one should beware of regarding "interpolation" as a single definite category of error." Unter diesem weiteren Interpolationsbegriff können alle späteren Zusätze zu einem ursprünglichen Text unabhängig von den unter-

21

Textgesch. St., 5 3 0 , Anm. 1; ihr entsprechen zahlreiche ähnliche Äußerungen; vgl. etwa noch Ausg. Sehr., 4 0 6 f . 22

Zu diesem prinzipiell richtigen Einwand gegen die Absichtlichkeit von Interpolationen vgl. D R. Shackleton Bailey, Some Recent Experiments in Propertian Criticism, PCPS, N . S . 2, 1952-3, 19.

23

Greek Textual Criticism, Cambridge, Mass., 1969, 29. Ähnlich verwendet auch Tarrant, T y p o l o g y , 2 8 1 , Anm. 1 den Begriff der Interpolation: "the insertion of unoriginal matter into the body of a text".

6

Einleitung

schiedlichen Entstehungsursachen zusammengefaßt werden, die jetzt erhellt werden sollen. Im 19. Jahrhundert, als die Anwendung der Athetese methodisch noch kaum einer Rechtfertigung bedurfte, waren die Philologen zumeist zufrieden, den ursprünglichen Text wiederhergestellt und von dem entstellenden Zusatz befreit zu haben 24 , während erst mit der konservativen Reaktion und ihren Zweifeln an der Erkennbarkeit einer Interpolation die Frage nach der Gestalt des Interpolators, den Motiven und Ursachen einer Interpolation schärfer in den Blick genommen wurde 25 ; bis heute wird von Interpolationsgegnern mit Nachdruck die berechtigte Frage vorgetragen, wie die Einfügung entstanden sei 26 . Zu der Frage nach den Entstehungsursachen von Interpolationen in der lateinischen Dichtung hat jüngst umfassend in zwei bereits zitierten, methodisch wichtigen Aufsätzen R.J. Tarrant Stellung genommen. Er hebt hervor, daß die überwältigende Mehrheit der Interpolationen bereits antiken Ursprungs ist und nicht von Kopisten, sondern von Lesern stammt. Die Interpolationen scheidet er nach funktionalen Kriterien in drei Hauptgruppen "corresponding to the motives which account for the bulk of interpolations: I shall call them emendation, annotation and

24

Methodisch wichtige Äußerungen gibt es jedoch bereits in 18. Jahrhundert, so in Ludwig Valckenaers Praefatio seiner Phoenissenausgabe (Franeker, 1755), XIII und in Friedrich August Wolfs Praefatio ad Hesiodi Theogoniam (urspr. 1784; nachgedruckt in: F.A. Wolf, Kleine Schriften, hrsg. v. G. Bernhardy, Band I, Halle, 1869, 157ff.), die beide unterschiedliche Kategorien von Interpolationen ausmachen. 25 Um die Erhellung des antiken Interpolationswesens hat sich wie kein zweiter in diesem Jahrhundert G. Jachmann verdient gemacht, dessen wichtigste Untersuchungen jetzt in zwei von C. Gnilka herausgegebenen Bänden (Ausgewählte Schriften, Königstein, 1981 und Textgeschichtliche Studien, Königstein, 1982) gesammelt sind. Zu nennen sind aber auch A. Thierfelder, De rationibus interpolationum Plautinarum, Leipzig, 1929; bes. im zweiten Kapitel "de singulis exemplis disquisitio", 31-152; weiter D. Page, Actors' Interpolations in Greek Tragedy, Oxford, 1934, 116-121 (in dem Kapitel "Some characteristics of histrionic interpolation", wo er etwa nach 'topical interpolations', 'explanatory interpolations', 'expansive interpolations' einteilt). U. Knoche, DLZ, 62, 1940, 53 bestimmt bei seiner Suche nach "Absicht und Funktion, Anlaß und Entstehung, Formulierung und Bezeugung interpolierter Verse" die Kategorien "Erleichterung, Verdeutlichung, Vervollständigung oder Verschönerung". 26

Tarrant, Typology, 283 zitiert in demselben Zusammenhang die kritische Position E.J. Kenneys, The Classical Text: Aspects of Editing in the Age of the Printed Book, Berkeley, 1974, 146: "the critic would do well to recite to himself the old verse: quis? quando? quibus auxiliis? cur? quomodo? qua re?"

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

7

imitation or collaboration."21 Die beiden ersten Kategorien ergeben sich aufgrund von Schwierigkeiten (etwa Lücken oder nicht mehr verständlichen Stellen), die der Leser in seinem Handexemplar vorfindet; nur in der dritten Kategorie wird der Leser auch ohne solche Schwierigkeiten selbständig tätig und tritt als ein "co-author" 28 in Erscheinung. Dabei dient die erste Gruppe, emendation, besonders häufig zum Auffüllen von Lücken bzw. "apparently defective texts" 29 ; die zweite Kategorie, annotation, fächert R.J. Tarrant formal in drei Klassen auf 3 0 : -"glosses (insertions designed to clarify individual words or phrases) -comments (additions which summarize or spell out the drift of the adjacent word) -parallels or citations (lines from elsewhere in the same text or from another text appended because of some similarity of content or phrasing)", die er allesamt mit Juvenalinterpolationen deutlich macht. Sein Hauptaugenmerk richtet Tarrant allerdings zu Recht auf die dritte Kategorie von Interpolationen, unter die vielleicht die Mehrheit aller feststellbaren Interpolationen fällt. In diesem Fall wird der Leser als eigenständiger Autor tätig, weshalb Tarrant von "collaborative interpolation" 31 spricht. Auch in dieser Kategorie unterscheidet Tarrant (Reader, 137) drei formale Gruppen: -Interpolationen, die einen Übergang glätten oder einen elliptischen Gedankengang des Autors auffüllen, -Interpolationen, die in Konkurrenz zum Dichter einen an sich klaren Text ausdehnen und erweitern, und -Interpolationen, die das Ende eines Textabschnittes durch weitere Verse hervorheben und stärker gewichten.

27

R.J. Tarrant, T y p o l o g y , 284; in Reader, 126 verwendet er für die letzte Gruppe die Begriffe "collaboration (or emulation)". Seine Einteilung entspricht dabei weitgehend der Knoches (wie Anm. 23); vgl. Tarrant, Reader, 125. Zur Etablierung und Verdeutlichung seiner Kategorien greift Tarrant methodisch sauber auf allgemein anerkannte Interpolationen zurück; vgl. T y p o l o g y , 284f. 28

Reader, 126. Reader, 130; auf diesen Typus wies bereits G. Jachmann mit Nachdruck hin; vgl. etwa Textgesch. St., 5 2 8 f . , Anm. 1.

29

30 31

Reader, 130. Reader, 137.

8

Einleitung

Mit Beispielen insbesondere aus den Metamorphosen des Ovid 32 zeigt Tarrant, in welch großem Ausmaß antike Leser an ihrem eigenen Text mitgearbeitet, ihn durch eigene Verse erweitert haben. Den Entstehungszeitraum der Interpolationen setzt Tarrant im allgemeinen sehr früh an, da sich die meisten in der gesamten Überlieferung eines Autors finden, so daß sie nicht auf mittelalterliche, sondern auf antike Leser zurückgehen müssen 33 . Die Zeiträume zwischen dem Tod Ovids und dem Juvenals, sowie zwischen 350 und 420 hält Tarrant für Perioden besonders aktiver Interpolatorentätigkeit. Generell hält er dabei lyrische Dichtung (z.B. Catull, Horaz etc.) für weniger gefährdet als Hexameterdichtung 34 ; besonders anfällig seien die Texte, die zu Deklamationen dienten 35 , also beispielsweise Ovids Heroides und Metamorphosen, Senecas Rezitationsdramen und die Satiren Juvenals. Die Ergebnisse Tarrants für die Interpolationen in der römischen Hexameterdichtung fügen sich gut den echtheitskritischen Untersuchungen zu anderen antiken Gattungen, zumal man gerade für die dramatischen Werke das Motiv einer eigenhändigen Textgestaltung durch Schauspieler und Regisseure als Hauptursache für die späteren Zusätze, die ebenfalls sehr früh zu datieren sind, ausfindig gemacht hat 36 .

32 Von vornherein sind besonders überzeugend die Interpolationen, die nur in einem Teil der Handschriften überliefert sind, z.B. Ov. Met. 8,87; 11,599a etc. 33 Auf das hohe Alter der Interpolationen verwies stets mit großem Nachdruck G. Jachmann; vgl. etwa Textgesch. St., 639. 34 Reader, 158. 35 Tarrant, Reader, 162, betont, daß man zum Verfassen einer "collaborative interpolation" genau die Techniken benötigt, die während der rhetorischen Ausbildung eines Römers von entscheidender Bedeutung waren: "variation on familiar themes, expansion and heightening, capping and rounding off". 36 Vgl zur griechischen Tragödie D. Page, Actors' Interpolations, 118: "The desire to add something of his own was probably the commonest and strongest of the actor's motives for interpolation"; zum Motiv der Erweiterung vgl. die Indices der Bände II-IV von O. Zwierleins Plautusstudien unter "Bearbeiter. C Motive". Auch die Rhapsodeninterpolationen in der frühen (griechischen) Epik sind vornehmlich auf die Absicht der Erweiterung zurückzuführen; vgl. dazu U. Knoche, Zur Frage der Properzinterpolation, RhM 85, 1936, 29. Die Bedeutung von Lesern, Schauspielern und Regisseuren wird m.E. zu Recht von der jüngeren Interpolationsforschung (neben Tarrant, passim siehe vor allem M.D. Reeves abschließende Bemerkungen zum Übergewicht der Schauspielerinterpolationen in der griechischen Tragödie: Interpolation in Greek Tragedy III, GRBS, 14, 1973, 170f.) entgegen der Auffassung G. Jachmanns (vgl. etwa Textgesch. St., 703) hervorgehoben, der die Aktivität von Lesern oder Schauspielern gegenüber der von antiken Herausgebern und Philologen als vergleichsweise gering erachtet hat.

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

9

Insbesondere gelingt es Tarrant mit seiner funktionalen Unterteilung der Interpolationen, die Gestalt des Interpolators genauer zu erfassen und die Gründe seines Vorgehens festzulegen. Mit Recht wendet er sich deshalb gegen die an die Kriminalistik erinnernde Terminologie früherer Echtheitskritiker 37 , die in ihrer Vorstellung von "jener gegen die römischen Musen tückisch verschworenen Falschmünzerbande" 38 bei aller Anschaulichkeit doch die Gefahr in sich birgt, bezüglich der Entstehungsursachen von späteren Zusätzen in die Irre zu führen, da natürlich der Wille zur Verfälschung an sich in kaum einem Fall das eigentliche Motiv des Interpolators ausmacht. Daß stets an der einzelnen Textstelle überprüft werden muß, ob eine Interpolation vorliegt, versteht sich von selbst 39 ; allerdings machen es die von Tarrant entwickelten Kategorien wesentlich leichter, evident unhaltbare Textabschnitte einer bestimmten Art von Interpolation zuzuweisen und damit ihre Entstehung zu erklären. Die Kriterien, an Hand deren Interpolationen ausfindig gemacht werden können, lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden 40 : 1. Externe Kriterien: In zahlreichen Fällen kann ein Interpolationsvorgang durch die handschriftliche Überlieferung, sowie durch Zeugnisse der indirekten Überlieferung, etwa durch antike Scholien oder Grammatikerzeugnisse, bisweilen auch durch den Vergleich mit den literarischen Vorlagen des eigentlichen Autors, festgestellt werden 41 . 2. Textinterne Kriterien: Fehlen solche externen Hinweise, so kann die Interpolation allein aus der Analyse des überlieferten Textes erschlossen werden; das Interpolament muß in zumindest einem der folgenden Bereiche Besonderheiten aufweisen, die mit dem authentischen Text nicht vereinbar sind:

37

V g l . dazu R. Tarrant, Interpolation, 2 8 2 .

38

S o B. A x e l s o n , E i n e Korruptel in der Ü b e r l i e f e r u n g d e s Lukan, in: Studien zur

T e x t g e s c h i c h t e und Textkritik, hrsg. v. H. D a h l m a n n und R. M e r k e l b a c h , K ö l n 1 9 5 9 , 3 1 . 39

V g l . Tarrant, T y p o l o g y , 2 9 7 : "The t y p o l o g y I have p r o p o s e d will not in itself p r o v e

or d i s p r o v e any s i n g l e a l l e g e d instance o f interpolation". 40

E i n e ähnliche Z u s a m m e n s t e l l u n g s c h o n bei A . Thierfelder, 2 - 3 0 in s e i n e m m e t h o d i -

s c h e n Kapitel "de evidentia interpolationis". 41

A l l e drei äußeren Kriterien stützen g e m e i n s a m ( v o n den internen a b g e s e h e n ! ) die

Athetese der V e r s e Plaut. Bacch. 5 4 0 - 5 5 1 , die in der Palimpsesthandschrift A , ältesten Z e u g e n , der der g e s a m t e n mittelalterlichen Ü b e r l i e f e r u n g u n a b h ä n g i g übersteht,

f e h l e n , deren F e h l e n in anderen antiken Handschriften der

dem

gegen-

Grammatiker

Charisius bemerkt, und d i e sich s c h l i e ß l i c h auch in der auf Papyrus überlieferten M e n a n d e r - V o r l a g e des Plautus, d e m Aig e^cnrctTÖiv,

nicht finden; v g l . O. Z w i e r l e i n , Zur

Kritik und E x e g e s e des Plautus I, Stuttgart, 1 9 9 0 , 2 4 - 3 0 .

10

Einleitung

Metrik: Der Interpolator verstößt gegen die metrischen Gewohnheiten des Autors, so oftmals im antiken Drama42. Anachronismus: Der Interpolator teilt dem Leser ein Wissen mit, das dem Autor in seiner Lebenszeit nicht bekannt gewesen sein kann43. Stilistik: Der Interpolator weicht von den Stilgewohnheiten des Autors ab, er verwendet andere Wörter und Wortverbindungen, beziehungsweise gebraucht Wörter in einer anderen Bedeutung, er verrät sich durch eine abweichende Wortstellung sowie abweichende grammatikalische Konstruktionen. Anschluß: Die Interpolation unterbricht die syntaktische Struktur des echten Textes oder ist an diesen ohne erkennbare logische Verbindung angehängt. Textzusammenhang: Die Interpolation fügt sich nicht in den logischen Zusammenhang des Textes, sie wiederholt sinnlos bereits Gesagtes, stört den Sinnzusammenhang, ja widerspricht sogar dem authentischen Text44. Natürlich muß die Entscheidung an jeder einzelnen Stelle für sich getroffen und stets abgewogen werden, ob die vorliegenden Auffälligkeiten den radikalen Eingriff der Athetese rechtfertigen oder ob sie nicht anders behoben werden können (z.B. durch Konjektur, Textumstellung, Annahme eines Textausfalls etc.). Die Kombination mehrerer und unterschiedlichen Kriterien angehörender Auffälligkeiten steigert dabei die Wahrscheinlichkeit, daß tatsächlich eine Interpolation vorliegt45. Wer echtheitskritische Untersuchungen betreibt, sieht sich nicht nur der Phalanx einer mehrheitlich konservativen Textkritik, die geschlossen gegen jede Art von Eingriffen in den überlieferten Text Vorbehalte hat, gegenüber, sondern stößt auch bei vielen in der Wortkritik radikalen Philologen auf Ablehnung. So haben, um nur zwei besonders bedeutende

42

Zur echtheitskritischen Bewertung metrischer Auffälligkeiten vgl. A. Thierfelder, 6ff.; E. Fraenkel, Gnomon, 37, 1965, 236f. 43 Zu Bentleys Aufdeckung von Anachronismen in den sogenannten Phalarisbriefen siehe C.O. Brink, 53. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Plaut. Cure. 483, wo von dem Bäckergewerbe auf dem Forum Romanum die Rede ist, das erst rund zwanzig Jahre nach Plautus' Tod in Rom eingeführt wurde, vgl. O. Zwierlein, I, 263. 44 Für die drei letzten Kriterien wurden keine Beispiele genannt, da sie in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit fortlaufend in Erscheinung treten. 45 Vgl. R.J. Tarrant, Typology, 297: "that (seil, die Entscheidung, ob eine Interpolation vorliegt oder nicht) requires a combination of linguistic and literary considerations subtly adjusted to the needs of the particular passage".

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

11

Konjekturalkritiker des 19. und 20. Jahrhunderts zu nennen, Madvig 46 und Shackleton Bailey 47 die Interpolationsforschung in ihrer damaligen Vorgehensweise gleichermaßen scharf verurteilt, indem sie ihr Willkürlichkeit ihrer Kriterien und die Unmöglichkeit, den Interpolationsvorgang zu erklären, vorwarfen. Beide Kritikpunkte treffen jedoch auf die moderne Interpolationsforschung prinzipiell nicht mehr zu. Da sich für viele antike Autoren ein fester Bestandteil sicher unechter Verse herauskristallisiert hat 48 , der von kaum einem Philologen in Zweifel gezogen wird, ist die grundsätzliche Berechtigung, ja die Verpflichtung zu weiterer echtheitskritscher Forschung gegeben; denn bei dem Versuch, die antiken Autoren in möglichst authentischer Gestalt wiederzugewinnen, gebührt der Echtheitskritik der gleiche Rang wie etwa der Konjekturalkritik. Diese erachtet nun etwa Shackleton Bailey auf Grund ihrer "limitations imposed by palaeography, metre, grammar, Latin usage in general, and the author's in particular" 49 als anderen Heilungsversuchen überlegen; für die Echtheitskritik sind jedoch fast dieselben Kriterien bindend: Echtheits- wie Konjekturalkritiker nehmen Anstoß an dem überlieferten Text und entscheiden sich ab einem gewissen Grad der Anstößigkeit für einen Eingriff, Athetese oder Konjektur. Letzte Sicherheit gibt es für keinen der beiden Eingriffe; beide können jedoch - neben dem diagnostischen Gewinn 50 , den sie in jedem Fall für den untersuchten Autor erbringen - ein gleichermaßen abstufbares Maß an Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen, die zunächst von der Plausibilität des Verbesserungsvorschlags, dann aber auch von der Erklärung abhängt, wie die diagnostizierte Verderbnis entstanden ist. Dabei steht der Konjekturalkritik für viele Fälle als einfaches, übrigens oftmals überschätztes, Erklärungsmodell die Paläographie zur Verfügung, mit der sich zahlreiche Verbesserungen, wie etwa multa statt des überlieferten

46

J. Madvig, Adversaria Critica ad Scriptores Graecos et Latinos, Band 1, Kopenhagen, 1871, 92-4. 47 D R. Shackleton Bailey, Some recent experiments in Propertian criticism, PCPS, N.S. 2, 1952-3, 9-21. 48 So wird wohl niemand die in Mynors' Vergilausgabe getilgten Verse zu verteidigen suchen; ebenso gibt es in der Plautus- wie in der Juvenalüberlieferung einen "kanonisierten Bestandteil unechten Materials"; so O. Zwierlein, I, 9. 49 S. 11; im Zusammenhang wendet er sich gegen die Versumstellung. 50 Vgl. dazu bereits A. Housman im Vorwort seiner Juvenalausgabe, XXX; P. Maas, Textual Criticism, Oxford, 1958, 53f.

12

Einleitung

mault in Lucr. 4,309, leicht rechtfertigen lassen 51 . Für andere Korruptelen bedarf es hingegen komplizierterer Erklärungen als der Paläographie, etwa der Annahme von polaren Fehlern wie in Eur. Herakl. 1351: davarop codd. statt ßiorov Wecklein oder Prop. 4,4,47 pugnabitur codd. statt pigrabitur Housman bzw. cessabitur Palmer, sowie von Wortglossen 52 oder nachträglichen Verbesserungen eines lückenhaften oder metrisch korrupten Textes durch spätere Abschreiber. Wenn Heinsius den einhellig überlieferten Vers Ov. trist. 5,10,23 zu

est igitur rarus qui iam colere audeat, isque est igitur rarus < rus > qui [iam] colere audeat, isque

verbessert, so nimmt er einen späteren Korrektor des Ovidtextes an, der nach dem Ausfall von rus hinter rarus das Füllsel iam zur Herstellung der Metrik einflickte; daß sein Eingriff berechtigt ist, zeigen zahlreiche Fälle, wo die gespaltene Überlieferung die richtige neben der verdorbenen Lesart überliefert; so etwa für Ov. met. 6,376: quamuis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant codd.

plur.;

interpoliert dagegen: quamuis sint sub aqua, Unguis maledicere temptant FL. 53

Der in den Handschriften dokumentierte Korruptionsprozeß in Ov. Met. 6,376 erlaubt es Heinsius, in Trist. 5,10,23 eine analoge Verderbnis anzunehmen; in gleichem Maß rechtfertigen dokumentarisch beglaubigte Interpolationen, d.h. solche, die sich nur in einem Teil der Überlieferung finden, methodisch die Athetese auch einhellig überlieferter Verse. Man wird Interpolationen aber auch bei Autoren wie Lukrez vermuten dürfen, für die nur ein antiker Codex als Vorlage für den mittelalterlichen Archetypus rekonstruierbar ist und für die daher keine unterschiedlichen, sich bisweilen selbst korrigierenden Überlieferungszweige nachzuweisen sind. Ganz gleich ob man Wort- oder Versinterpolationen untersucht, in jedem Fall muß man von der berechtigten Annahme ausgehen, daß die am Überlieferungsvorgang jedes antiken Autors beteiligten Leser ihre

51

Eine überaus lehrreiche Sammlung paläographischer Korruptelen bietet A . Housman im ersten Band seiner Manilius-Ausgabe (London, 1903), LIV-LIX. 52 Brilliant, wenngleich freilich nicht beweisbar, ist Housmans tuum facinus für das überlieferte Clytaemestrae in Prop. 3 , 1 9 , 1 9 ; vgl. CP, II, 580f. 53 Beide Fälle aus Housmans Manilius-Ausgabe, Band 1, L X f . , der zahlreiche weitere Beispiele aufführt.

Bemerkungen zu Geschichte, Methode und Ziel der Echtheitsskritik

13

Vorlagen nicht ausschließlich diplomatisch kopierten, sondern aktiv an der Gestaltung ihrer eigenen Exemplare beteiligt waren. Dabei ist neben geringfügigen Eingriffen, die gewiß nicht immer so leicht zu rechtfertigen sind wie in Trist. 5,10,23 5 4 , auch mit größeren Eingriffen insbesondere in der frühesten Phase der Überlieferung zu rechnen. Ebenso wie bei der Wiederaufführung dramatischer Texte ein freier Umgang mit dem zugrundeliegenden Text durch Schauspieler und Regisseure vorausgesetzt werden darf, muß für die Abschrift eines epischen, oftmals für die Rezitation bestimmten Textes mit Lesern gerechnet werden, die Gestalt und Wortlaut ihres eigenen Exemplars selbständig mitbestimmten, d.h. ihre Vorlage nicht nur an einigen Stellen korrigierten, sondern auch erweiterten, um den zugrundeliegenden Text deutlicher, in ihren Augen schöner oder auch argumentativ besser und vollständiger zu machen; daß die spätere handschriftliche Überlieferung so oft das interpolierte Material bewahrt hat, liegt in der konservativen Grundtendenz der antiken Philologie begründet, die dazu neigte, "möglichst wenig umkommen zu lassen" 5 5 , also das gesamte überlieferte Material zu sammeln und Unechtes mit kritischen Zeichen zu versehen, anstatt es auszusondern 56 . Richard Tarrant hat in seinen beiden Aufsätzen dem antiken Interpolator nicht nur seine proteusartige Gestalt genommen und die Ursachen des antiken Interpolationswesens grundlegend durchleuchtet, sondern zugleich der Echtheitskritik eine neue Aufgabe und Bedeutung abgewonnen. Neben der Wiederherstellung des authentischen Wortlauts eines antiken Textes, zu der sie ebenso wie die Konjekturalkritik beiträgt, eröffnet sie zusätzlich auch einen Einblick in die früheste Rezeptionsphase des Autors. Die Ergebnisse der Echtheitskritik liefern "tangible evidence of how readers over several centuries responded to the clas-

54

Derartigen Verderbnissen dennoch nachzugehen und nicht vor einer interpolierten Überlieferung zu kapitulieren, ist die Aufgabe kritischer Philologie; vgl. dazu methodisch richtig J.B. Hall, Problems in Ovid's Tristia, in: Studies in Latin Literature and its Tradition in Honour of C O. Brink, edd. J. Diggle, J.B. Hall and H D . Jocelyn, Cambridge, 1989, 21. 55

So das w e i s e Urteil U . v. Wilamowitz-Moellendorffs, Lesefrüchte, Hermes, 4 4 , 1 9 0 9 , 4 4 9 über die alexandrinischen Gelehrten, das für die gesamte antike Philologie zutrifft; vgl. G. Jachmann, Textgesch. St., 5 5 8 , dem ich das Wilamowitz-Zitat entnehme. 56

Sowohl die konservative Tendenz der antiken Philologie (vgl. dazu noch Anm. 10) als auch die große Bedeutung des individuellen Lesers für die Überlieferung der lateinischen Literatur sind wesentliche Ergebnisse von J. Zetzels 'Latin Textual Criticism in Antiquity'. Der Überlieferungszustand des Plautustextes ist das Resultat einer konservativen, das gesamte Material sammelnden Philologie; vgl. O. Zwierlein, II, 2 3 5 .

14

Einleitung

sics" 57 ; mit Blick auf die Bewertung der Interpolamente selbst, ihrer rezeptionsgeschichtlichen Signifikanz, stellt Tarrant zu Recht fest, "that the study of interpolation, despite its long and contentious history, is ... only now beginning". 58

57 58

Reader, 162. Typology, 298.

Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext II. Die echtheitskritische

15

Arbeit am Lukreztext

Seit der Wiederentdeckung des Lukrez durch Poggio und der unmittelbar daran einsetzenden textkritischen Beschäftigung der italienischen Humanisten mit dem schwierigen und schlecht überlieferten Dichter treten in der Lukrezphilologie sämtliche, bis heute gültigen Mittel und Methoden auf, unverständliche und korrupte Textstellen zu heilen 5 9 . So haben auch die Renaissancephilologen neben konjekturalkritischen Eingriffen bereits Lücken im Lukreztext angesetzt, Verse umgestellt und athetiert. Die Athetese blieb freilich lange Zeit das am seitesten genutzte Mittel der Kritik; nach der berühmten Tilgung der Verse 1,44-9 durch Pontanus und Marullus 6 0 wurden in der Folgezeit nur sehr wenige Interpolationen ausfindig gemacht; in diesem Zusammenhang sind in erster Linie die Ausgabe Lambins (Paris, 1 1563) 6 1 und die Noten Richard Bentleys 6 2 zu erwähnen. Wie bei den meisten anderen antiken Autoren setzten auch bei Lukrez umfangreichere echtheitskritische Untersuchungen erst im 19. Jahrhundert ein. Den Anfang machte A. Forbiger 63 , der als erster überhaupt in der Lukrezphilologie die Verswiederholungen insgesamt als ein Problem des Lukreztextes erkennt, sie systematisch (wenn auch nicht

59

Einen glänzenden Überblick über die Geschichte der Lukrezphilologie vom Humanismus bis Karl Lachmann gibt Munro, 1-41 in seiner Ausgabe (Cambridge, 2 1866); zur Arbeit der Humanisten grundlegend M . D . Reeve, The Italian Tradition of Lucretius, IMU, 23, 1980, 27ff. Zu den hier besprochenen Ausgaben vgl. auch C . A . Gordon, A Bibliography of Lucretius, London, 1962. 60 Ich folge der Apparatangabe Munros a.l., der das schwierige Problem der richtigen Zuweisung früher humanistischer Konjekturen sorgfältig diskutiert hat; vgl. 6-15. Marullus tilgte noch weitere Verse, etwa 1,873f.; andererseits interpolierte er eigene Verse in den Lukreztext, so etwa nach 2,528 und 3,97 (vgl. Munros Apparat ad l o c c ) . 61 Er tilgte unter anderem 1,873, 2,923, 3,362 und 3,498. 62 Bentleys handschriftliche Noten zum Lukrez sind im vierten Band der Glasgower Lukrezausgabe Wakefields (1813), 406-68, von Henry Ellis, dem damaligen Bibliothekar der British Library, veröffentlicht worden; neben der Tilgung von 1,44-9, die in seinem Handexemplar, der Ausgabe Fabers, hinter Vers 56 standen, spricht er sich als erster u.a. für die Tilgung der Verse 1,334, 5, 1131-2 und 5,1164 aus. 63 A. Forbiger, De T. Lucretii Cari carmine a scriptore serioris aetatis denuo pertractato. Leipzig, 1824, der paradoxerweise in seiner Leipziger Ausgabe (1828) von den Ergebnissen seiner Untersuchung kaum Gebrauch macht.

16

Einleitung

ganz vollständig) sammelt, formal voneinander scheidet und eine große Zahl der langen Wiederholungen als Interpolationen entlarvt 64 . Für diese Leistung ist Forbiger trotz all seiner Fehlentscheidungen 65 ein wichtiger Platz in der Echtheitskritik des Lukrez gesichert. Mit seiner maßgeblichen, für alle folgenden Editionen grundlegenden Lukrezausgabe von 1851 hat Karl Lachmann der Beschäftigung mit Lukrez in jeder Hinsicht neue Bahnen gewiesen. Lachmanns Hauptleistung ist es, die erste Lukrezausgabe gemacht zu haben, die ihren Text durchgehend auf den beiden unabhängigen Leidener Handschriften O und Q aufbaut 66 , deren maßgebliche Bedeutung für den Lukreztext allerdings bereits unmittelbar zuvor Jakob Bernays in einem glänzenden Aufsatz erkannt hat67. Indem Lachmann gemäß der von ihm mitentwickelten stemmatologischen Methode 68 bei der Konstituierung seines Textes allein von den wirklich relevanten Handschriften 69 , nicht mehr von dem über Jahrhunderte verfestigten Vulgat-Text ausging, gelang es ihm, den Text von zahlreichen absurden Fehlern, die sich teilweise erst

64

So etwa 3,806-18, 4,216-29; 5,419-31 und 6,56-67. Sein größter Fehler ist fraglos die Tilgung der Verse 1,921-50 (statt 4,1-25); vgl. 1924; dagegen Lachmann, Kommentar, 61. Lachmann, der Forbigers Ausgabe beständig in seinem Kommentar kritisiert, verschweigt jedoch unberechtigterweise Forbigers Tilgungsvorschlag (vgl. 44-7) der Verse 3,806-18, deren Athetese Lachmann selbst zu Recht vornimmt. 66 Diese beiden wichtigsten Handschriften waren bis dahin von den Editoren kaum benutzt worden; allein Lambin griff für seine Ausgabe auf Turnebus' Kollationen von Q zurück, während sie etwa Havercamp, obgleich Professor in Leiden, für seine Ausgabe (Leiden, 1725) nur unzureichend berücksichtigte; vgl. Munro, 19. 67 De emendatione Lucretii, RhM, 5, 1847, 533ff. Als Bernays Aufsatz erschien, hatte Lachmann die Praefatio seiner eigenen Ausgabe bereits im wesentlichen abgeschlossen; beide kamen also unabhängig voneinander zu denselben Ergebnissen; vgl. S. Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann, Padova, 3 1985, 63-76, dessen großes Verdienst es ist, an die lange Zeit völlig vergessenen Leistungen Bernays erinnert zu haben. Auch Bernays Ausgabe (Leipzig, 1852), dem der Verlag die Ausstattung mit einem kritischem Apparat nicht gestattete (vgl. Seite III der Praefatio), stellt bei aller in der Praefatio zum Ausdruck gebrachten Bescheidenheit Bernays gegenüber Lachmann eine eigenständige Leistung dar, auf die Munro, 23 zu Recht hinweist. 68 Der Versuch, die gesamte Überlieferung auf einen Archetypus zu reduzieren, ist in seiner Catullausgabe (1829) zwar gescheitert, in seinem Lukrez hingegen glänzend gelungen; vgl. dazu U. von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, Leipzig, 1921, 59; sowie S. Timpanaro, der Lachmanns eigene Leistung im Kontext der zeitgenössischen Philologie (vgl. insbesondere 77-80) angemessen würdigt. 69 Ihre Bedeutung hat J. Bernays gleichermaßen erkannt; sein Stemma (570) ist dabei präziser als die nicht ganz widerspruchsfreien Äußerungen Lachmanns über das Verhältnis der italienischen Handschriften zum Oblongus; vgl. Timpanaro, 66 und 69-71. 65

D i e echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

17

seit dem Humanismus eingeschlichen hatten, zu befreien und ihm seine bis heute im wesentlichen gültige Gestalt zu geben. Lediglich die stemmatische Stellung der italienischen Handschriften des 15. Jahrhunderts haben Bernays und Lachmann falsch beurteilt, deren gemeinsamer Quelle sie beide Unabhängigkeit von O, dem Codex Oblongus, bescheinigten. Dieses Urteil, dem in unserem Jahrhundert die Ausgaben J. Martins, C. Baileys und K. Büchners folgen, hat K. Müller in seiner Züricher Ausgabe 1975 70 endgültig widerlegt und dabei nachgewiesen, daß der 1417 von Poggio vom Konstanzer Konzil nach Italien gebrachte und heute verlorene Codex TT, der Hyparchetypus der italienischen Tradition, eine Abschrift des Oblongus ist. Die Abweichungen von O in den italienischen Handschriften sind also entweder Verschlechterungen oder eigenhändige Textveränderungen der humanistischen Schreiber, die man nach K. Müller 71 nicht anders beurteilen darf als die Konjekturen moderner Gelehrter. Eine neue Untersuchung der gesamten italienischen Überlieferung durch M.D. Reeve 72 hat das Ergebnis K. Müllers, den italienischen Handschriften jede Selbständigkeit abzusprechen, gegen die skeptischen Einwände M.F. Smiths 73 in seiner Rezension von K. Müllers Text generell bestätigt, jedoch nicht unwesentlich 74 modifiziert. Die italienischen Handschriften bieten keinen von O unabhängigen Text 7 5 , sie müssen jedoch als Träger der ältesten Konjekturen von jedem Herausgeber in Zukunft mehr als bisher berücksichtigt werden 7 6 . Daher ist heute die Rekonstruktion des Archetypus aus dem achten Jahrhundert sogar auf Seiten- und Zeilenzahl genau möglich 7 7 , womit

70

Vgl. 297ff. Vgl. 308. 72 M.D. Reeve, 27ff. 73 M.F. Smith, A new text of Lucretius, CI. Rev. 92, 1978, 29ff. 74 Wichtig ist M.D. Reeves methodische Feststellung (S. 27), daß nicht unbedingt die gesamte italienische Überlieferung von der (von O abhängigen) Handschrift -K abstammen muß; tatsächlich weist er dann auch nach, daß etwa die Handschriften Laur. 35.29 und S. Onofrio 85 Varianten enthalten, die nicht aus ir selbst stammen können, die aber trotzdem (vgl. S. 41) nicht unabhängig von O sind. 75 Dies ist auch das Ergebnis von L.D. Reynolds, Lucretius, in: Text and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hrsg. v. L.D. Reynolds, Oxford, 1983, 218-22 - die neueste Behandlung der Lukrezüberlieferung. 76 Vgl. M.D. Reeve, 31 und 48. 77 Die aufsehenerregenden Untersuchungen Lachmanns (vgl. Kommentar, 4-11) hat G.P. Goold, A lost manuscript of Lucretius, Acta Classica, 1, 1958, 21ff. im wesentlichen bestätigt. Lachmann hat allerdings fälschlicherweise einen spätantiken Codex als Ar71

18

Einleitung

jedoch die Probleme des Lukreztextes bei weitem noch nicht gelöst sind, da auch der Text des Archetypus kein glatter Lesetext ist, sondern zahlreiche Korruptelen, Lücken sowie wiederholte und anstößige Verse enthält. K. Lachmann hat bereits auch diese Probleme erkannt, die grundlegende Frage nach dem Zustand des Textes generell gestellt und mit zwei Thesen zu beantworten versucht, die bis heute die Lukrezforschung polarisieren und für die weiteren echtheitskritischen Arbeiten am Lukreztext von entscheidender Bedeutung sind 78 . Erstens geht Lachmann davon aus, daß Lukrez sein Werk nicht vollendet, und der postume Herausgeber diese unabgeschlossene Form bewahrt habe. Zur Begründung zieht Lachmann 21 Stellen heran - es handelt sich dabei um einzelne Verse oder auch Versgruppen im Umfang von bis zu 125 Versen 79 -, die Lachmann zwar unzweifelhaft dem Dichter Lukrez zuweist, aber nicht im Kontext verankert sieht. Diese Verse, die außerhalb des Carmen continuum stehen, habe Lukrez seinem bereits vorliegenden Grundtext bei einer späteren Überarbeitung hinzugefügt, jedoch nicht mehr vollständig in den Textzusammenhang eingearbeitet. Daher fehle dem Lukreztext die letzte Überarbeitung. Zweitens nimmt Lachmann eine interpolatorische Erweiterung des Textes an und tilgt in seiner Ausgabe insgesamt 69 Verse; mehr als jeder Herausgeber vor ihm. Bei seinen umfangreicheren Tilgungen handelt es sich um wiederholte Verse; neben der bereits von Forbiger und Bernays beide erwähnt Lachmann nicht - vorgeschlagenen Tilgung der Verse 3,806-18, sowie der bislang in keiner Ausgabe vorgenommenen Tilgung von 1,44-9 zählt ebenso die Athetese von 4,1-25 (auch sie hat bereits Bernays vorgeschlagen 80 ) zu den gelungenen Entlarvungen langer unechter Verswiederholungen, der sich die Athetese kürzerer Verswiederholungen, etwa von 5,1388f., anschließt.

chetypus vermutet; in Wahrheit ist der Archetypus eine wohl um 800 geschriebene Minuskelhandschrift; vgl L.D. Reynolds, Text and Transmission, 219. 78 Einen sorgfältigen Überblick über die vielfältigen Forschungsergebnisse seit Lachmann geben C. Bailey, 1,44-51 und vor allem G. Müller, Die Problematik des Lucreztextes seit Lachmann, Philologus 102, 1958, 247ff. und Philologus 103, 1959, 53ff. Die hier folgenden Ausführungen, die G. Müller grundsätzlich folgen, erheben nicht den Anspruch auf Vollständig keit; vielmehr sollen die gegensätzlichen Grundtendenzen in der Beurteilung des Lukreztextes vorgestellt werden. 79 Diese Stellen (etwa 2,522-8; 5,110-234) setzt Lachmann in eckige Klammern, während er interpolierte Verse (außer 4,1-25, die er in eckigen Klammern druckt) nicht im Haupttext, sondern nur im Apparat bzw. (bei Wiederholungen) gar nicht aufführt. 80 Vgl. 577f.; von den modernen Herausgebern nicht erwähnt.

Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

19

Lachmann hat am Ende der Praefatio zu seiner Ausgabe selbst festgestellt, daß der Lukreztext noch weiterer kritischer Auseinandersetzung bedürfe 81 ; und in der Tat ist die nachfolgende Lukrezforschung bei dem Versuch nicht zur Ruhe gekommen, die evidenten, oftmals im Zusammenhang mit Verswiederholungen auftretenden Textschwierigkeiten zu klären. Dabei ging man stets von den beiden von Lachmann kombinierten Hypothesen, d.h. von der Unvollendetheit bzw. späteren Überarbeitung des Werkes durch einen Interpolator, aus. Insbesondere die große kommentierte Lukrezausgabe von H.A.J. Munro 82 (Cambridge, 1 1864) aber auch die Dissertationen von P. Goebel 83 , F. Neumann 84 und C. Gneisse 85 und zahlreiche textkritische Einzelbeiträge 86 sind von den Ansätzen Lachmanns geprägt und arbeiten weiter unter der Annahme von Interpolationen, während bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit der von Vahlen betreuten Dissertation G. Lohmanns 87 eine "konservative", das heißt Interpolationen ausschließende und alle Unzulänglichkeiten mit der Unvollendetheit des Werkes erklärende Reaktion 88 einsetzt, die in der folgenden Zeit beständig an Boden gewinnt. Mit den Ausgaben von A. Brieger 89 (Leipzig, 1894) und C. Bailey (Oxford, 1900) und insbesondere dem bedeutenden, al-

81

Cf. Komm., 15: licet mihi in spe laeta certaque finem facere praefandi, qua ductus futurum auguror ut Lucretii carmen interpretatione doctiore illustretur. 82 Munros bis heute nicht ersetzte kommentierte Ausgabe hat A. Housman in seiner Cambridge Inaugural Lecture (1911) adäquat gewürdigt: "In his Lucretius he produced a work more compact of excellence than any editor of any classic which has ever been produced in England". 83 P. Goebel, Observationes Lucretianae et criticae et exegeticae, Diss. Bonn, 1854. 84 F. Neumann, De interpolationibus Lucretianis, Diss. Halle, 1875. 85 C. Gneisse, De versibus in Lucretii carmine repetitis, Diss. Straßburg, 1878. 86 Die zahlreichen konjektural- und echtheitskritischen Beiträge des 19. Jahrhunderts sind in dem Lukrezkommentar von W.A. Merrill (New York, 1907) zur jeweiligen Stelle umfassend verzeichnet. 87 G. Lohmann, Quaestionum Lucretianarum capita duo, Diss. Breslau, 1882. 88 G. Müller, I, 265 entdeckt hinter dieser Arbeit die Prämisse des Lehrers J. Vahlen, die Annahme von Interpolationen verbiete sich von vornherein auf Grund der Unfertigkeit des Werkes und der Vorliebe des Dichters für Wiederholungen - eine lange Zeit nicht in Frage gestellte und generell akzeptierte Voraussetzung. 89 Briegers verwirrender, von zahlreichen verfehlten Umstellungen und Lücken entstellter Text beschleunigte im folgenden die konservative Reaktion. Über ihn urteilt schon A. Housman, CP, II, 430f., Anm. 1: "Mr Brieger's first victim, I rejoice to see, is Mr Brieger, whose introduction contains more mistakes in figures than I ever yet beheld in the same compass: they have digged a pit before me, and are fallen into the midst of it themselves."

20

Einleitung

lerdings mehr philosophisch als philologisch ausgerichteten Kommentar von C. Giussani (Turin, 1896-98) wurde die Überarbeitungshypothese weiter geschwächt; R. Heinze in seinem Kommentar zum dritten Buch (Leipzig, 1897) und H. Diels in seiner Gesamtausgabe (Berlin, 1924) schlössen Interpolationen nahezu 90 aus, ebenso auch die Ausgaben A. Ernouts (Paris, 1920) und J. Martins (Leipzig, 1934) sowie der Kommentar von A. Ernout-L. Robin (Paris, 1925-28). Die Vertreter der Unvollendetheit des lukrezischen Werkes konnten sich dabei auf ein Zeugnis in der Chronik des Hieronymus zum Jahr 94 berufen, der Cicero als den postumen Herausgeber der aliquot libri des Lukrez nennt: Titus Lucretius poeta nascitur. postea [qui postea APF] amatorio poculo in furorem uersus cum aliquot libros per interualla insaniae conscripsisset quos postea Cicero emendauit, proprio se manu interfecit anno aetatis XLIIII.91 Jedoch hat bereits 1936 Konrat Ziegler den schlagenden Nachweis geführt, daß dem Zeugnis des Hieronymus kein alter (auf Sueton zurückgehender) Kern zugrunde liegt, daß es sich bei der Nachricht über den Wahnsinn des Lukrez vielmehr um eine tendenziöse christliche Fiktion handelt und daß schließlich auch die Mitteilung über die postume Herausgebertätigkeit des Cicero ebenfalls von Hieronymus in Anschluß an Cic. ad Quint, fratr. 2,9,3 frei erfunden ist. 92 Damit hat Ziegler das einzige externe Zeugnis einer postumen Ausgabe des Werks als wertlos entlarvt, weshalb eine vermeintliche Unvollendetheit des Gedichts nicht länger als Ausgangspunkt der Lukrezinterpretation mißbraucht werden darf, sondern vielmehr umgekehrt diese selbst erst aus dem Textbefund nachgewiesen werden muß. 93

90

Programmatischen Charakter hat die Erklärung von Diels am Ende seiner Praefatio, XII: at lector vel potius interpolator philosophus, cui Lachmannus versus quosdam suspectos adscribebat, numquam exsistit; ähnlich auch Heinze in seiner Rezension zur Dielschen Ausgabe (DLZ 1924, 48): "So wenig wie ein Interpolator hat der Herausgeber des unvollendet hinterlassenen Werkes im Text gewütet." 91 Zitiert nach Eusebi Chronicorum libri duo, ed. A. Schoene, Band II, Dublin-Zürich, 1866, p. 133. 92 K. Ziegler, Der Tod des Lucretius, Hermes 71, 1936, 421 ff. 93 Vgl. dazu in aller Klarheit E.J. Kenney, Lucretius 'De rerum Natura' Book III, Cambridge, 1971, 6-8. Hingegen ist erschreckend, daß moderne Gelehrte (jüngst etwa T. Berres, Vergil und die Helenaszene. Mit einem Exkurs zu den Halbversen, Heidelberg, 1992, 27, Anm. 31) weiterhin ganz selbstverständlich von einer postumen Edition der de rerum natura auszugehen scheinen. Kenney hingegen (13) schließt auf die fehlende letzte Überarbeitung des Lukreztextes allein aus dem nicht erfüllten Versprechen des largus sermo über die Wohnsitze der Götter in 5,155 - vgl. dazu jedoch meine Ausführungen S. 302ff.

Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

21

Neben der Überzeugung von der Unvollendetheit des lukrezischen Werkes fand die konservative Lukrezkritik eine weitere Stütze in dem gerade in Deutschland vorherrschenden und lange Zeit geradezu als communis opinio akzeptierten 'genetischen' Erklärungsansatz der de rerum natura. Ausgangspunkt dieser Theorie war die Entdeckung J. Mewaldts 94 , daß im vierten Buch von de rerum natura auf Grund der Dubletten 4,26-44 und 4,45-53 zwei Propositiones vorliegen, was Mewaldt den Schluß ziehen ließ, daß Lukrez das vierte Buch ursprünglich im Anschluß an das zweite Buch geschrieben habe, was die zweite Propositio bezeuge, und erst später hinter das dritte Buch gestellt habe, mit dem es durch die erste Propositio verbunden sei. Diese genetische Theorie wurde fortentwickelt von J. Mussehl 95 , einem Schüler Mewaldts, der mit einer Kombination von Scheinargumenten 96 eine Entstehung der Bücher in der Reihenfolge 1.2.5.4,1-822.3.4,823-1287 - das sechste Buch sei parallel zu den anderen verfaßt worden - postulierte. Die genetische Werkanalyse findet in der deutschen Philologie breite Zustimmung und ist die Grundlage für die einflußreiche Lukrezstudie 0 . Regenbogens 97 , der von der Bücherchronologie ausgehend mit psychologischen Interpretationsmethoden die innere Antinomie des Lukrez zwischen dem rationalen Epikurschüler einerseits und dem von religiöser Furcht erfaßten Dichter andererseits, letztlich also den seit 1868 durch die Forschung geisternden "Antilucrèce chez Lucrèce" 98 aufdecken zu können glaubte. Dabei zeugen nach Regenbogen gerade auch die wiederholten Verse für die inneren Zweifel und Widersprüche des in sich gespaltenen Dichters 99 . Nur so ist es zu verstehen, daß die bei F. Klingner entstandene, jedoch von O. Regenbogen angeregte Dissertation von C. Lenz 100 , die als bisher letzte Arbeit die wiederholten Verse im Lukreztext zusam94

J. Mewaldt, Eine Dublette in Buch IV des Lucrez, Hermes, 43, 1908, 286ff. J. Mussehl, De Lucretiani libri primi condicione ac retractatione, Diss. Greifswald, 1912. 96 Die Mängel dieser Arbeit hat G. Müller, II, 53 ff. eindrucksvoll entlarvt. 97 O. Regenbogen, Lukrez. Seine Gestalt in seinem Gedicht, Leipzig, 1932; nachgedruckt in Regenbogens Kleinen Schriften, München, 1961, 296ff. 98 So die Überschrift des 7. Kapitels von M. Patins Etudes sur la poésie latine, I, Paris, 1868; bis heute bleibt die Forschung von diesem Hirngespinst fasziniert, wie R. Glei, Erkenntnis als Aphrodisiakum. Poetische und philosophische voluptas bei Lukrez, A&A 38, 1992, 84f. in einem zusammenfassenden und mit Fug und Recht ironisch-kritisch distanzierten Forschungsüberblick zeigt. 95

99

Man vergleiche nur Regenbogens Interpretation der Verse 1,44-9, die er (Kleine Schriften, 375) zu einem "Eckstein der Deutung" erhebt. 100 C. Lenz, Die wiederholten Verse bei Lukrez, Diss. Leipzig, 1937.

22

Einleitung

menstellt und insgesamt behandelt, von vornherein die Theorie Mussehls anerkannte, die Möglichkeit von Interpolationen nahezu vollständig leugnete und auch unpassende Wiederholungen, die Lenz durchaus feststellte, 'genetisch' erklären und der besonderen Vorliebe des Dichters für Wiederholungen (auch an unpassenden Stellen) zuschreiben zu können glaubte' 01 . Von nachhaltigerem Einfluß ist die ebenfalls von Klingner betreute Dissertation Karl Büchners 102 , der die genetische Theorie weiterhin anerkennt und das Werk des Lukrez fiir unvollendet hält, zusätzlich jedoch meint, einen Teil der im Lukreztext auftretenden Schwierigkeiten auf das 'archaische Denken' 103 des Dichters zurückführen zu können. Gedankliche Brüche und Unstimmigkeiten werden von Büchner nicht mehr nur mit fehlender Überarbeitung (geschweige denn mit späterer Überarbeitung durch einen Interpolator) erklärt, sondern als geradezu spezifische Eigenheit des lukrezischen Denkens bewertet, das die Gedankenabfolge nicht logisch entwickle, sondern vielmehr von bildhaften Vorstellungen geprägt sei, wodurch es zu Gedankensprüngen, Auslassungen, weiten Rückgriffen und fehlender Verbindung der Einzelargumente komme. Zwar fanden sowohl die 'genetische' Erklärung 104 als auch Büchners Vorstellung vom archaischen Denken des Lukrez 105 bald scharfe und scharfsinnige Kritiker, dennoch blieben beide Erklärungsversuche für die Schwierigkeiten des Lukreztextes nicht nur in der deutschsprachigen Forschung vorherrschend, sondern beeinflußten insbesondere auch den großen englischen Gesamtkommentar von C. Bailey (Oxford, 1947), der bei der Textgestaltung nahezu alle früheren Athetesen der OCT-Ausgabe

101

Bezeichnend für das vorgefaßte Urteil von C. Lenz ist seine Beurteilung des Buchstabenvergleiches, der im Lukreztext dreimal vorkommt (S. 48): "Schauen wir auf den letzten Fall zurück, so hat sich ergeben, daß L. eine Vorliebe für den Buchstabenvergleich hatte, die ihn dazu verführte, ihn auch da anzuwenden, wo er nicht paßte und Unstimmigkeiten herbeiführte." 102 Beobachtungen über Vers- und Gedankengang bei Lukrez, Berlin, 1936. 103 Vgl. programmatisch 2f.: "Die Unvollendetheit des Textes hat aber auch dazu geführt, daß man Anstöße mit ihr erklärte, die man unberechtigterweise nahm, da man gewisse archaische Freiheiten des Lukrez nicht gesehen hatte". 104 So widerlegte bereits K. Barwick, Über die Proömien des Lukrez, Hermes, 58, 1923, 147ff. die These der genetischen Entstehung Mussehls; W. Schmid, Altes und Neues zu einer Lukrezfrage, Philologus, 93, 1938, 338ff. liefert den Beweis, daß die von Mewaldt erkannte Dublette 4, 45-53 als ein unechter Zusatz zu athetieren ist. 105 Vgl. W. Schmid, Gnomon, 20, 1944, 5-10; resümierend äußert er (Seite 9) seinen Zweifel an einer "auf eine Phänomenologie der Denkstruktur sich gründenden Textkritik".

Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

23

von 1900 zurücknimmt und auch die fragwürdigsten Textabschnitte, wie etwa 1,44-49 verteidigt. Bailey übernimmt die genetische Erklärung Mussehls 106 und baut Büchners Lukrezinterpretation zu seiner eigenen Vorstellung von "the visual character of Lucretius mind" 107 und dessen "suspension of thought"108 aus. Sein großer Kommentar, ebenso wie der Munros Ergebnis einer lebenslangen Beschäftigung mit Lukrez, fällt daher bei aller Gelehrsamkeit und aller Aufgeschlossenheit gegenüber den Schwierigkeiten des Textes, die er nie stillschweigend übergeht, in den Ergebnissen und Erklärungsvorschlägen an vielen Stellen hinter Munro zurück. Prinzipielle und überzeugende, wenn auch nicht weit genug gehende Kritik an der genetischen Entstehungstheorie Mussehls äußerte H. Diller 109 . Als letzter hat sie dann noch einmal K. Büchner verteidigt und (methodisch ähnlich wie Regenbogen) zur Grundlage weiterer Lukrezinterpretationen gemacht 110 . Erst die wichtigen Arbeiten G. Müllers konnten den Irrweg dieser 'genetischen' Werkentstehungstheorie im ganzen Umfang widerlegen 111 und die Lukrezphilologie nach Jahrzehnten einer überkonservativen Reaktion zum Ansatz Lachmanns zurückführen. Zwar geht auch G. Müller von der Unvollendetheit des Werkes aus, wofür das fehlende Proömium zum vierten Buch 112 und der im fünften Buch (5,155) ange-

106

Vgl. C. Bailey I, 22-37. Vgl. C. Bailey, The Mind of Lucretius, AJPh, 61, 1940, 278ff.; Zitat S. 283. 108 Vgl. C. Bailey I, 18 und vor allem 165-8. 109 H. Diller, Die Prooemien des Lucrez und die Entstehung des lucrezischen Gedichts, SIFC, 25, 1951, 5ff. Diller weist durch den engen Bezug der Proömien zum vorausgehenden Buch sowie zum Buchende die uns vorliegende Bücherfolge als die von Lukrez von Anfang an geplante nach, erachtet jedoch die Verse 1, 926-50 als das ursprüngliche Proömium zum zweiten Buch; das zweite Proömium sei erst später, nach der Verschiebung der Büchergrenze, entstanden. Gegen diesen letzten Rest 'genetischer' Konzeption siehe G. Müller, II, 66f. 110 K. Büchner, Die Proömien des Lukrez, Class. et Mediaev., 13, 1952, 159ff. hält in diesem gegen Diller gerichteten Aufsatz an der von Mewaldt und Mussehl aufgestellten Bücherchronologie fest und zieht aus ihr Rückschlüsse auf eine geistige Entwicklung des Lukrez, der sich in seinem Leben bei der Abfassung seines Werkes zu einem immer begeisterteren Anhänger Epikurs - daher sei das erste Proömium mit seinem Venushymnus das älteste, das dritte Proömium mit dem Epikur-Eulogium das jüngste - entwickelt habe. 111 Die etwa gleichzeitig zu G. Müllers Lukrezarbeiten entstandene Dissertation von L. Gompf, Die Frage der Entstehung von Lukrezens Lehrgedicht, Diss. Köln, 1960, widerlegt ebenfalls die 'genetischen' Thesen Mewaldts und Mussehls. 112 Die Verse 4, 1-25 hält Müller für interpoliert; er folgt der fraglos zutreffenden Deutung W. Schmids, Altes und Neues zu einer Lukrezfrage, Philologus, 93, 1938, 338ff. 107

Einleitung

24

kündigte, im Werk jedoch nie ausgeführte largus sermo über die Wohnsitze der Götter sprächen; allerdings bestreitet G. Müller gegen Lachmann und alle konservativen Philologen die Existenz frei schwebender, also vom Dichter nicht in den Textzusammenhang eingeordneter Verspartien ebenso wie das von Büchner und Bailey angenommene besondere Denken des Lukrez; er spricht stattdessen resümierend von einer "imponierend klaren und kunstvollen, selbständig gestalteten Komposition" 113 des Lehrgedichts. Auf der anderen Seite hält er den gesamten Lukreztext für überarbeitet und in viel höherem Maß von Interpolationen 1 14 verdorben, als Lachmann und Munro dies vor ihm angenommen hatten. Entstellungen und Sinnbrüche, die sich besonders oft im Zusammenhang mit wiederholten Versen ergeben, führt G. Müller auf Interpolationen zurück, die er in seinem Buch zur Kinetik 115 des Lukrez und den beiden bereits zitierten Aufsätzen behandelt. Hat man also in der vorausgegangenen Forschung die zweite These K. Lachmanns, die Annahme von Interpolationen, zunehmend verworfen und mit seiner ersten, der über die auf Grund der Unvollendetheit des Werkes nicht in den Text integrierten Verse, alle Schwierigkeiten zu erklären versucht, so bestreitet nun umgekehrt G. Müller die Existenz jener frei schwebenden Verse (außerhalb des Carmen continuum) und erklärt den größten Teil der problematischen Verse für interpoliert. Mit seinen beiden Aufsätzen hat G. Müller nicht nur der genetischen Werkerklärung endgültig jede Grundlage entzogen, so daß sie seitdem auch kaum mehr vertreten wurde 1 1 6 , sondern auch nach rund 80 Jahren überkonservativer Textkritik wieder einen kritischen Zugang zum Lukreztext in der Tradition Lachmanns, wie G. Müller ihn selbst fordert 1 1 7 , ermöglicht 118 .

113

114

II, 6 6 .

G. Müller, II, 66, nimmt "etwa 270 Verse" als Interpolationen an, Lachmann hatte 69 getilgt. 115 G. Müller, Die Darstellung der Kinetik bei Lukrez, Berlin, 1959. 116 K. Büchner, Lukrez und die Vorklassik, Wiesbaden, 1964, eine Zusammenstellung früherer Arbeiten, hält in den "Schlußbemerkungen", 197, an seiner genetischen Theorie fest, setzt sich allerdings nicht mit G. Müllers Argumenten auseinander; im Nachwort seiner zweisprachigen Reclamausgabe (Stuttgart, 1973), 629f. äußert er sich schon viel vorsichtiger. 117 Vgl. dazu das programmatische Schlußwort G. Müllers, II, 81: "Die eigentlichen Wegführer der Lucrezerklärung müssen aber wieder werden: Lachmanns kritischer Sinn und Giussanis Verstehen der Philosophie." 118 Etwa gleichzeitig zu G. Müllers Studien entstehen zwei Aufsätze J. Krolls (Die Mahnung an Memmius im ersten Prooemium des Lukrez, in: Studien zur Textgeschichte und Textkritik (hrsg. v. H. Dahlmann und R. Merkelbach), Köln und Opladen, 1959,

Die echtheitskritische Arbeit am Lukreztext

25

Das wiedererlangte kritische Bewußtsein in der Lukrezphilologie schlägt sich in der heute allein maßgeblichen Lukrezausgabe Konrad Müllers nieder, der insgesamt 223 Verse für interpoliert erklärt; seine reich ausgestattete, mit polemischen Angriffen gegen die konservative Philologie gespickte Ausgabe vermeidet jede Einseitigkeit bei der Anwendung der textkritischen Mittel 119 , bedient sich gleichermaßen der Konjekturalkritik, der Versumstellung, der Ansetzung von Lücken und endlich auch wieder der so lange sträflich vernachlässigten Athetese zur Heilung des korrupten Textes. Daß sein Text jedoch noch lange nicht die communis opinio prägt, zeigen neben der scharf ablehnenden Rezension durch M.F. Smith 120 und der Studie von M. Bollack 121 insbesonders die in jüngster Zeit entstandenen englischen kommentierten Einzelausgaben 122 verschiedener Lukrezbücher, die in der Textgestaltung im wesentlichen konservativ verfahren und in viel geringerem Umfang als K. Müller Interpolationen akzeptieren. Wird auch die Möglichkeit von Interpolationen nicht mehr von vornherein ausgeschlossen, so dient doch das Argument der Unvollendetheit immer noch dazu, auch unpassende Verse zu halten 123 .

89ff; Die Propositio zu Beginn des Lukrez, in: Studi in Onore di Luigi Castiglioni, Band. I, Firenze, 1960, 489ff.), in denen J. Kroll die Verse 1, 50-61 zur Athetese vorschlägt. Eine von J. Kroll geplante (vgl. die Vorbemerkung zu dem zweiten Aufsatz, 489) und G. Müller zum Teil auch bekannte (vgl. G. Müllers Vorwort zu seinem Kinetikbuch) Studie zum Lukreztext, die dem Interpolationsproblem sicher breiten Raum gewidmet hätte, hat Kroll nie publiziert. 119 Dies ist bekanntlich die wichtigste Tugend eines Textkritikers; vgl. A.E. Housman im Vorwort zum ersten Band seiner Manilius-Ausgabe (London, 1903), LUIf.: "An emendator with one method is as foolish a sight as a doctor with one drug". 120 M.F. Smith, 29ff. resümiert S. 31: "In short, this is a thoroughly unconvincing and unreliable text. " Die in jeder Hinsicht peinlich verfehlte Rezension hat kein Auge für Müllers maßgebende Fortschritte. Smiths eigene, ebenfalls 1975 erschienene Loeb-Ausgabe ist dementsprechend konservativ. 121 M. Bollack, la raison de Lucrèce, Paris, 1978; vor allem 1-275. Nach fast 300 Seiten Philologenschelte und heftiger Polemik gegen beide Hypothesen Lachmanns hofft die Verfasserin den Leser überzeugt zu haben, der wahre Lukrez finde sich ausschließlich in der von den Handschriften bewahrten Textgestalt. Der angekündigte zweite Teil der Untersuchung ist erfreulicherweise nicht erschienen. 122 3. Buch: E. J. Kenney, Cambridge, 1971; 1. Buch: P. M. Brown, Bristol, 1984; 5. Buch: C. D. N. Costa, Oxford, 1984; 4. Buch: J. Godwin, Warminster, 1986; 6. Buch: J. Godwin, Warminster, 1991. 123 Genau dies ist der Standpunkt von Smith, wenn er (S. 31) K. Müller vorwirft: "Either forgetting that Lucretius left his poem unrevised or not realizing that it is not the business of a modern editor to revise it for him, Müller uses square brackets to exclude 223 lines (...)•"

26

Einleitung

Insofern ist es berechtigt und notwendig, den gesamten Lukreztext erneut Vers für Vers zu untersuchen, die problematischen und anstößigen Verse und Versgruppen klar hervorzuheben und dann in Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung über ihre Echtheit zu entscheiden. Gerade die nach wie vor am meisten vernachlässigte textkritische Methode, die Echtheitskritik, verdient eine systematische Anwendung auf den gesamten Lukreztext, da G. Müller seine Athetesen nur knapp, K. Müller in nur sehr geringer Zahl 124 begründet hat. Es ist dies ein Versuch, eine Aufgabe zu erfüllen, die G. Müller der künftigen Lukrezforschung gestellt und wie folgt umrissen hat: "Ich glaube, daß der Lucreztext mit seinen 7415 Versen durch fremde Zusätze, überwiegend Verswiederholungen, im Gesamtumfang von etwa 270 Versen erweitert ist. In späteren Diskussionen, die hoffentlich einsetzen werden, wird sich Gelegenheit zu weiter ausgreifenden oder verfeinerten Argumentationen ergeben. (...) Die wichtigere Behauptung aber (...) ist die, daß eine imponierend klare und kunstvolle, selbständig gestaltete Komposition vorliegt und die Vorstellung einer nur in Verse übertragenen Nachbildung einer Vorlage oder mehrerer aufgegeben werden muß. Alle kritischen Bemühungen sollen diesen Gewinn im Verstehen des Lucrez erbringen." 125 . Es ist längst überfällig, die nun fast 130 Jahre andauernde Jagd nach dem Gespenst des "Antilucrèce chez Lucrèce" endgültig aufzugeben und stattdessen auf der sicheren Grundlage kritischer Philologie das Augenmerk mit allem Nachdruck auf das Pseudo-Lukrezische im Lukrez zu lenken.

124

Vgl. K. Müller, De carminis Lucretiani uersibus nonnullis, MH, 32, 1975, 41ff.; wiederabgedruckt in seiner Ausgabe auf den Seiten 364ff. 125 II, 66.

B. Die unechten Verse im Lukreztext I. Unechte Verswiederholungen 1. Methodische Vorüberlegung Ausgangspunkt für die kritische Analyse des Lukreztextes sind stets die teils wörtlich, teils in leichter Variation wiederholten Verse im Lukreztext gewesen 126 . Daß Verswiederholungen seit der hellenistischen (und damit in der gesamten römischen) Dichtung tendenziell vermieden werden, hat Ulrich Knoche nachgewiesen 127 . Eine sorgfaltige Einzeluntersuchung G. Jachmanns 128 zu Horaz und Properz liefert den Nachweis, daß die im Horaztext (von ganz wenigen und ausdrücklich als solchen kenntlich gemachten Selbstzitaten in den Satiren und Episteln abgesehen) an sechs, im Properztext an nur einer Stelle auftretenden Dubletten allesamt durch Interpolationen verursacht sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang Jachmanns methodische Feststellung, daß bereits bei einer einzigen evidenten unechten Verswiederholung - bei Horaz etwa in carm. 4,8,33 - die Erkenntnis gewonnen ist, daß in der Überlieferungsgeschichte des Textes "die Tendenz zu interpolatorischer Versübertragung" eine Rolle gespielt hat, und folglich hinsichtlich der anderen Dubletten die "Beweislast klärlich auf die Schultern der Fürsprecher, nicht der Angreifer" fällt 129 .

126

Literatur bei M. Erler, Epikur - Die Schule Epikurs - Lukrez, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Bd. 4: Die hellenistische Philosophie. H. Flashar (Hrsg.), Basel, 1994, 410. 127 22-7. 128 G. Jachmann, Ausg. Sehr. 441 ff. 129 S. 443. Jachmann verweist dabei auf ein Dictum K. Lachmanns (Lachmanns Briefe an Karl Moriz Haupt, Berlin, 1892, 149): "Wiederholungen ganzer oder so gut als ganzer Verse hat Horaz gewiß nur aus besonderen Gründen." Jachmann selbst beobachtet an anderer Stelle zu Recht (Ausg. Sehr., 208, Anm. 15): "Daß Interpolatoren überaus häufig das in Nähe oder Ferne Vorhandene plagiieren, dürfte bekannt sein; zumindest aus den vielen wörtlich oder fast wörtlich wiederholten Versen, besonders etwa bei Euripides, Lucrez oder Vergil."

28

Unechte Verswiederholungen

Freilich darf man Jachmanns für den Lyriker Horaz aufgestellten Grundsatz nicht uneingeschränkt auf Lukrez übertragen, der ein epikureisches Lehrgedicht verfaßt hat, weshalb Wiederholungen durchaus sinnvolle Anwendung finden können 130 ; jedoch muß auch für Lukrez gelten, daß mit dem sicheren Nachweis zumindest einer späteren Versübertragung weitere nicht ausgeschlossen werden dürfen; Entscheidungskriterium muß dabei stets die Einzelinterpretation sein, insbesondere die Frage, inwieweit die Wiederholung in den jeweiligen Kontext paßt und die philosophische Argumentation stützt. Zudem muß ja auch umgekehrt berücksichtigt werden, daß gerade ein Lehrgedicht, das sehr wahrscheinlich im epikureischen Schulunterricht benutzt wurde 131 , für spätere Zusätze, die vermeintlich Unklares erhellen und ergänzen sollen, besonders anfällig ist 132 . Daher stellt G. Müller im Zusammenhang mit den Dubletten im Lukreztext methodisch zutreffend fest: "Man darf bemerken, daß, wer eine einzige Interpolation zugibt, die Möglichkeit anderer im gleichen Text nicht leugnen kann mit der Frage, welcher dira cupido denn die Interpolationen ihr Dasein verdanken sollten (...)• Es genügt, das weitverbreitete Phänomen von Interpolationen in antiken Texten auf den Vorwitz subalterner Geister zurückzuführen, die wähnten, die Texte verdeutlichen und verschönern zu können. Die andere Seite der Alternative, nämlich die Annahme, große Dichter oder Schriftsteller könnten manchmal schlecht schreiben, ist hundertmal unglaubhafter." 133 Seit der kritischen Beschäftigung mit dem Lukreztext im Humanismus haben die Dubletten besonderen Anstoß erregt; bereits Pontanus und Marullus schlössen die Verse I, 44-49 aus dem Lukreztext aus, da diese wörtliche Wiederholung von 2, 646-651 Anstoß erregte; A. Forbiger ging in seiner echtheitskritischen Untersuchung des Lukreztextes von den Iterata aus, die "quemvis (...) Lucretiani carminis lectorem, paullo inten-

130 Zur Bedeutung des Auswendiglernens und der Wiederholung im epkureischen Schulunterricht vgl. M. Erler, Epikur, 208. 131 Wenn es sich bei den von K. Kleve, Lucretius in Herculaneum, Cronache Ercolanesi, 19, 1989, 5ff. vorgestellten Papyri wirklich um Lukrezpapyri handelt, dann ist eine enge Verbindung des Lehrgedichts zur epikureischen Schule in Herkulaneum sehr wahrscheinlich; unabhängig vom Papyrusfund hat dies bereits W. Schmid, Gnomon, 39, 1967, 483 mit gutem Grund vermutet. 132 Zu interpolatorischen Einfälschungen im epikureischen Schulunterricht vgl. mein Typologiekapitel, S. 313ff. 133 I, 252, Anm. 1. Ganz ähnlich äußert sich G. Müller nochmals in Kinetik, 124. Die Schelte an dem Interpolator mutet heute freilich anachronistisch an.

Methodische Vorüberlegung

29

tius in eo occupatum, offendere debent" 134 . Bei ihm findet sich auch eine erste, freilich noch nicht ganz vollständige Zusammenstellung der wiederholten Verse 135 . Auch bei einem Großteil der von K. Lachmann ausgeschlossenen Verse handelt es sich um Wiederholungen 136 , obgleich er die wiederholten Verse nicht insgesamt behandelte und an den meisten von ihnen offenbar keinen Anstoß nahm. Auch die in der Tradition K. Lachmanns stehenden Dissertationen von P. Goebel, F. Neumann und C. Gneisse 137 nehmen alle drei ihren Ausgangspunkt von den Iteraten, die auch noch F. Leo 138 als "unmögliche Wiederholungen" begreift; die letzte und bisher einzig nahezu vollständige Behandlung aller wörtlich bzw. leicht verändert wiederholten Verse unternahm C. Lenz 139 , allerdings (wie oben dargetan) unter der unkritisch übernommenen Voraussetzung der 'genetischen' Büchertheorie Mussehls und dem prinzipiellen Standpunkt, es gebe keine Interpolationen im Lukreztext 140 . Daß seine Untersuchung in Anbetracht dieses Vorbehalts trotz teilweise richtiger Einzelinterpretationen vielerorts zu absurden Ergebnissen führen mußte, hat G. Müller klar herausgestellt 141 , damit aber gleichzeitig auch eine erneute "synoptische Beurteilung der versus iterati" 142 gefordert, da er im Gegensatz zu K. Lachmann eine einheitliche Provenienz der wiederholten Verse vermutet, die nach seiner Auffassung zu einem Lenz diametral entgegengesetzten Ergebnis, also einer nahezu

134

S. 10. Dabei teilte er sie (10f., Anm. 9) formal in "loci, qui (...) sine omni mutatione iterantur" und "loci, qui magis minusue mutati repetuntur" ein. 136 Von den 44 Versen, die K. Lachmann athetiert, sind nur 14 frei komponierte Zusätze. 137 C. Gneisse, der auschließlich die wiederholten Verse behandelt, schließt die meisten als Interpolationen aus; die seiner Meinung nach von Lukrez selbst stammenden Wiederholungen faßt er am Ende seiner Arbeit, S. 82f. in einer Übersicht zusammen. Gneisse, 7-13 hat sich auch mit Recht dagegen ausgesprochen, die umfangreichen Wiederholungen im Lukreztext vorschnell mit den Iteraten im Lehrgedicht des Empedokles zu rechtfertigen; vgl. dazu meine Anmerkungen im Schlußkapitel, 319ff. 138 F. Leo, Plautinische Forschungen, Berlin, 2 1912, 40. 139 Die auf S. 8ff. vorgenommene Zusammenstellung der versus iterati ist von einer gewissen Nützlichkeit; weitaus vollständiger ist jedoch der Apparat von K. Müller, den man als eine zuverlässige Fundgrube für zahlreiche weitere ähnliche bzw. fast identische Verse oder Vershälften verwenden kann. 140 Einzige Ausnahme bilden bei C. Lenz die Verse 1, 44-49, bei denen er die Entscheidung offen läßt. 141 II, 60f. 142 1,254. 135

30

Unechte Verswiederholungen

vollständigen Ausschließung der iterierten Verse als Interpolationen, führen muß 143 . Hingegen verfährt K. Müller, wenn auch insgesamt weit radikaler, so methodisch doch ähnlich, wie K. Lachmann; auch in seiner Ausgabe sind die meisten verdammten Verse entweder Iterata oder stehen in einem längeren Textabschnitt, der aus wiederholten Versen zusammengesetzt ist, ohne daß er jedoch die versus iterati einheitlich verdammt und ausschließt 144 . Zwischen den beiden "extremen" Standpunkten von C. Lenz und G. Müller stehen also die beiden "gemäßigteren" K. Lachmanns und K. Müllers 145 ; daß bei einer derart kontroversen Forschungslage Grund genug besteht, die wiederholten Verse erneut im ganzen zu untersuchen, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Zudem werden die Wiederholungen in der eher literatur- als textkritisch orientierten Lukrezforschung jüngster Zeit weitgehend einheitlich als echt akzeptiert und als ein besonders wirksames didaktisches Element des lukrezischen Dichtens aufgefaßt, ohne daß eine erneute Überprüfung der jeweiligen Einzelstelle für notwendig befunden wird 146 . Schuld an diesem vorschnellen Vertrauen in die Überlieferung, das die Gefahr birgt, gerade bei Interpretationen, die das Gesamtwerk betreffen, auf eine nicht gesicherte Textgrundlage zu bauen 147 , sind dabei nicht zuletzt die Textkritiker selbst, die mit ihren überkonservativen Ausgaben dem literaturwissenschaftlich interessierten Benutzer des Lukrez 148 nur allzu oft eine falsche Sicherheit suggerieren. Solange die gebräuchlichen Lukrezausgaben, etwa von Diels, Bailey, Martin, Büchner und Smith, im

143

Die von Lukrez selbst vorgenommenen, "nach uraltem Stilprinzip einem kunstvollen Ausdruck dienenden" Wiederholungen machen nach G. Müller, I, 255, eine "Minderheit" aus. 144 So hält, um nur ein Beispiel zu nennen, K. Müller die Wiederholung 2,55-61 ( = 3 , 8 7 9 3 = 6 , 3 5 - 4 1 ) für authentisch, während G. Müller, Kinetik, 16f. die Verse allein im dritten Buch für echt hält. 145 Die bereits erwähnten englischsprachigen Einzelkommentare, obgleich allesamt nach den Arbeiten G. Müllers entstanden, sind in ihrer Textgestaltung, gerade auch was die wiederholten Verse betrifft, sehr viel konservativer als K. Müller. 146 So jüngst M. Gale, Lucretius 4,1-25 and the Proems of the De rerum Natura, PCPS, 40, 1994, l f f . , bes. 5f.; A. Schiesaro, The palingenesis of De rerum natura, PCPS, 40, 1994, 81ff., bes. 98ff. 147 Auf diese Gefahr weist zu Recht M. Erler, AAW, 45, 1992, 44 (Rez. von I. Dionigi, Lucrezio. Le parole e le cose, Bologna, 1988) hin. 148 Die einzige Ausnahme dieses Jahrhunderts, die Lukrezausgabe Konrad Müllers, wird leider von Literaturkritikern nie zugrunde gelegt und erscheint noch nicht einmal im Literaturverzeichnis zahlreicher neuerer Lukrezmonographien.

Methodische Vorüberlegung

31

allgemeinen keinen Zweifel an der Echtheit der Dubletten äußern und zahlreiche Tilgungen früherer Kritiker lediglich (und fürwahr nicht immer) im Apparat erwähnen, ist es ja geradezu Pflicht der Literaturkritik, Modelle und Theorien zu entwickeln, die dieses so auffällige Phänomen erklären können; Theorien, die freilich dann aufzugeben sind, wenn ihnen die Textgrundlage entzogen ist. Auch aus diesem Grund scheint eine erneute Untersuchung der wiederholten Verse unerläßlich. In der folgenden Untersuchung sollen zunächst zwei besonders auffällige Gruppen von Verswiederholungen untersucht werden. Bei der ersten handelt es sich um Dubletten, die aufgrund ihres großen Umfangs von fünf oder mehr Versen besonders auffällig erscheinen. Die zweite Gruppe bezeichne ich als "Cento"-Partien 149 , in denen der Interpolator einzelne Verse oder kleinere Versgruppen aus verschiedenen Stellen neu zusammensetzt und mit eigenen Hinzudichtungen vermengt, um dem echten Lukreztext einen eigenen Gedanken hinzuzufügen. Zum Abschluß werden dann iterierte Einzelverse sowie Wiederholungen kürzeren Umfangs (bis zu drei Versen) besprochen, während der zweite Teil der Hauptuntersuchung den frei komponierten Interpolationen gewidmet ist. Die Hauptuntersuchung ist also nach formalen Kriterien (wiederholte Verse - frei verfaßte Interpolationen) gegliedert; eine typologische Zusammenstellung des Materials ist erst für das Schlußkapitel vorgesehen, um die bei einer funktionalen Anordnung besonders große Gefahr von Zirkelschlüssen möglichst zu vermeiden 150 .

149

Der Begriff des "Cento", der ursprünglich die Bedeutung eines aus alten Stoffresten neu zusammengewebten Teppichs hatte (vgl. z.B. Lucil. 747 Marx), wird erstmals bei Ausonius (Cento Nuptialis, p. 132 Green) auf die Literatur übertragen und mit der Formel sparsa colligere et integrare lacerata definiert. Als literarische Erscheinungsform ist der Cento bereits in den kürzeren homerischen Hymnen zu finden; vgl. M.L. West zu Hes. theog. 94-97 mit weiterführenden Literaturhinweisen. Der Cento-Dichter greift also auf bereits vorhandenes Versgut zurück, erstellt jedoch durch seine Zusammenfügung der Verse und Versteile einen neuen Text. In unserem Zusammenhang ist der Begriff etwas weiter gefaßt, da der Lukrezinterpolator auch eigene Verse den Wiederholungen hinzufügt; der Vergleich mit einem Cento-Dichter beschreibt dennoch anschaulich die Arbeitsweise des Interpolators. Den Begriff des "Cento" verwenden etwa auch Ernout-Robin, I, 345 zur Charakterisierung von Lucr. 2,1013-22; auf die Vorgehensweise eines Interpolators hat ihn meines Wissens als erster Richard Bentley (in seinem Horazkommentar zu ars 337) angewendet, wo er Juv. 12,50f. tilgt. 150 Vgl. dazu Tarrant, Typology, 284f.

32

Unechte Verswiederholungen

2. Wiederholungen längerer Textabschnitte In diesem Abschnitt werden alle wörtlichen Wiederholungen im Lukreztext untersucht, die mehr als fünf Verse umfassen. In dieser Untersuchung hoffe ich zeigen zu können, daß keines dieser langen Iterata von Lukrez selbst herrührt, sondern alle auf spätere Interpolation zurückzuführen sind. Die Dubletten werden in ihrem jeweiligen Kontext verglichen, wodurch die Originalstelle gegenüber der späteren und von dem Interpolator vollzogenen Wiederholung besonders klar hervortritt.

1,44-49 ( = 2,646-651) Der Streit um die Verse 44-49 wird seit der Renaissance ausgetragen und konnte bisher nicht endgültig entschieden werden. Pontanus und Marullus streichen sie; sie fehlen daher in der Ausgabe von Candidus (1512). Zuvor schon stellte Avancius (1500) die Verse hinter Vers 61 151 , worin ihm die meisten Herausgeber, etwa Lambinus (1563), Gifanius (1565), Havercamp (1725), Wakefield (1796) und Forbiger (1828) 152 gefolgt sind. Erst K. Lachmann druckt die Verse wieder an ihrer überlieferten Stelle, athetiert sie jedoch und weist sie einem "lector frustra curiosus" zu, der diese Verse einfügte, um den Widerspruch des Venus-Hymnus zur späteren, in 2, 645-661 dargestellten Theologie zu zeigen. Die Behandlung der Verse in den modernen Ausgaben ist uneinheitlich; sie werden von J. Martin, C. Bailey 153 , W.E. LeonardS.B. Smith und M.F. Smith an beiden Stellen akzeptiert, hingegen im ersten Buch von A. Ernout-L. Robin, K. Büchner, K. Müller und P.M.

151 Trotzdem ist Avancius bezüglich ihrer Authentizität sehr skeptisch, vgl. sein Grußwort "bonarum litterarum studiosis": "unum affirmare ausim omnis enim per se diuum natura necessest, cum quinque sequentibus, ex prologo, cum abundent, demendos esse, hos aptius legas, cum de magna matre agit". 152 In all diesen Ausgaben (auch bei Avancius) unterbleibt allerdings der Hinweis, daß die Verse gegen die handschriftliche Überlieferung umgestellt sind, sie werden - insoweit eine Numerierung am Rand erfolgt - als die Verse 56-61 gezählt. 153 In der kommentierten Ausgabe von 1947; in den unkommentierten Ausgaben von 1900 und 2 1922 sind die Verse 1,44-9 noch getilgt.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

33

Brown getilgt. In jüngster Zeit hat E. Courtney 154 nachdrücklich gegen, D. Sedley 1 5 5 vorsichtig für ihre Echtheit argumentiert. Die angedeutete Problematik der Stelle macht eine vergleichende Betrachtung beider Textabschnitte erforderlich; sie werden daher in einem längeren Kontext zitiert 156 , begonnen wird mit den zweifellos echten Versen im zweiten Buch. 2, 644-654 645

650 655

659 680 652

Quae bene et eximie quamuis disposta ferantur, longe sunt tarnen a uera ratione repulsa, omnis enim per se diuom natura necessest inmortali aeuo summa cum pace fruatur, semota ab nostris rebus seiunctaque longe; nam priuata dolore omni, priuata periclis, ipsa suis pollens opibus, nihil indiga nostri, nec bene promeritis capitur neque tangitur ira. hic si quis mare Neptunum, Cereremque uocare constituet fruges, et Bacchi nomine abuti mauolt quam laticis proprium proferre uocamen, concedamus ut hic terrarum dicticet orbem esse deum matrem, dum uera re tarnen ipse religione animum turpi contingere parcat. terra quidem uero caret omni tempore sensu, et quia multarum potitur primordia rerum, multa modis multis eifert in lumina solis.

680 post 659 transp. Lachm.; 655-59.680 post 651 transp. Munro Daß die wiederholten Verse in dem hier abgedruckten Kontext wie eingegossen passen, wurde nie bestritten. Quae bene et eximie disposta faßt den vorausgegangenen Textabschnitt, 600-643, in dem der Kult der Magna Mater eindrucksvoll und plastisch beschrieben wurde, zusammen. Disposta ferantur greift den Verweis auf die griechischen Dichter in Vers

154

E. Courtney, Quotation, Interpolation, Transposition, Hermathena, 143, 1987, 7ff. D. Sedley, The Proems of Empedocles and Lucretius, GRBS, 30, 1989,269ff. 156 Alle folgenden Zitate geben den meiner Meinung nach besten Text wieder; sie sind jedoch natürlich der Ausgabe von K. Müller stark verpflichtet; auf entscheidende textkritische Probleme wird in einem Kurzapparat hingewiesen, für den ich weder Vollständigkeit noch eine letzte systematische Einheitlichkeit beanspruche. Die in eckige Klammern gesetzten Verse halte ich für Interpolationen; wenn ich einem älteren Vorschlag folge, wird dieser im Zusammenhang mit der Begründung der Athetese, nicht im Apparat erwähnt. 155

34

Unechte Verswiederholungen

600 157 , denen Lukrez bei seiner Darstellung des Magna Mater-Kultes folgt, wieder auf; die beiden Verweise umrahmen also die gesamte Schilderung der Gottheit und des Kultes. Bemerkenswert ist, daß Lukrez nur die Schilderungen griechischer Dichter referiert, was von vornherein seine sehr distanzierte Haltung verdeutlicht 158 . Seinen eigenen, klar entgegengesetzten Standpunkt spricht er in den Versen 644f. aus - die Aussagen der griechischen Dichter mögen eindrucksvoll vorgetragen sein (was auch aus der Beschreibung bei Lukrez noch sehr klar hervorgeht), sie sind jedoch von der Wahrheit (uera ratione) weit entfernt. Die uera ratio, der Standpunkt des Lukrez, ist nun folgerichtig in den nächsten Versen, 646-654, dargelegt. Dabei ist enim (646) ein vollkommen passender logischer Anschluß an 645; die jetzt folgenden Verse sollen begründen, warum die Gleichsetzung von Tellus und Magna Mater, wie sie von den griechischen Dichtern geschildert wird, falsch ist. Im Rahmen der Begründung enthalten die Verse 646-651 als allgemeingültiges Argument die epikureische Gottesvorstellung vom friedvollabgeschiedenen Leben der Götter in den Intermundien, frei von Gefahren und Schmerz und ohne irgendeine Berührung mit den Menschen. Nur unter dieser Voraussetzung (vgl. hic, 655) ist es erlaubt, metonymisch Neptunus statt Meer, Ceres statt Getreide, Bacchus statt Wein oder auch deum mater statt Erde zu sagen, solange man das wahre Wesen der Götter kennt und seinen Sinn von der schändlichen Religion in ihrer traditionellen Form freihält (655-59.680). Nach diesem terminologischen Eingeständnis beschreibt Lukrez umgehend in adversativem Anschluß (quidem vero159) das wahre Wesen der Erde und den naturwissenschaftlichen Grund für ihre Fruchtbakeit: Sie ist als rein materielles Gebilde zu jeder Zeit empfindungslos {caret omni tempore sensu); nur weil sie die Urstoffe der anderen Dinge enthält, können diese auf ihr existieren (652-4) 160 .

157

Harte (seil, tellurem) ueteres Graium docti cedrierepoetae. Auch in der ersten Hälfte der eigentlichen Schilderung verweist Lukrez noch beständig auf die griechischen Dichter; sie sind das Subjekt der Hauptverben adiunxere (604), cinxere (606), edunt (612), attribuunt (614). Seine ablehnende Haltung gegen den Kult wird auch im folgenden aus dem eindeutigen Kommentar violenti signa furoris (621) deutlich. 159 Ebenso in 1,1001 und 5,901. 160 Die von Munro vorgenommene Umstellung der wichtigen Verse 655-9.680 hinter 651, die Lukrezens eigenen metonymischen Gebrauch der Götternamen rechtfertigen, scheint mir unbedingt erforderlich. So verweist hic in 655 eindeutig auf die Verse 645-51 zurück; zur Bedeutung von hic "in the circumstances, just indicated vgl. OLD s.v. 5a; 158

Wiederholungen längerer Textabschnitte

35

Der gesamte Abschnitt 594-659.80 gibt, wie jüngst M. Gale überzeugend dargelegt hat 161 , ein wichtiges Zeugnis dafür ab, wie Lukrez in seinem Werk die mythologische Tradition behandelt. Die üppige Fruchtbarkeit der Erde (594-7) ist Grund (vgl. quare, 598) dafür, daß man sie als Magna Mater, als Mutter der Götter 162 , Tiere und Menschen 163 bezeichnet hat (598f.). Sie wird somit von den nicht epikureischen Menschen in grausig mythischen Kulten verehrt, den die griechischen Dichter besingen (600-43). An dieser kultischen Verehrung übt Lukrez unmittelbar anschließend Kritik, indem er zuächst die Wahrheit über das Wesen der Götter darlegt (644-51), die Verwendung von Götternamen für materielle Dinge nur metonymisch zuläßt (655-59.80) und darauf die materielle Natur der Erde und den Grund ihrer Fruchtbarkeit darlegt (652-4). Die Fruchtbarkeit der Erde wird von allen Menschen wahrgenommen, aber nur von den Epikureern richtig (naturwissenschaftlich) erklärt, während sie die uneingeweihten Menschen auf eine personifizierte göttliche Macht zurückführen, die sie in grausigen Kulten verehren. Lukrez erklärt also die Entstehung der Mythen mit der Unfähigkeit des Menschen, Phänomene der Natur wahrheitsgemäß erklären zu können; Ahnungslosigkeit und Angst erzeugen den Aberglauben an grausige Fabelwesen, wovor nur die epikureische Lehre mit ihrer einleuchtenden und wahren Rationalität befreien kann. Damit wandelt Lukrez die mythologische Tradition in ein Werkzeug seines Argumentierens um; sie bietet den finster-unheimlichen Kontrast zu der Klarheit seiner befreienden Lehre164.

ähnlich Lucr. 4,379: nec tarnen hic oculos falli concedimus hilum. Umgekehrt bezieht sich itaque (660) eindeutig auf 653f. Für die Versprengung war wohl das Homoioteleuton von 651 (tangitur ira) und 680 (...tingereparcat) verantwortlich; erst danach ging 680 hinter 659 verloren. Eine ähnlich umfangreiche Umstellung (dort auf Grund eines Homoiarchons) ist im fünften Buch notwendig, wo man die Verse 440-45 nach Reisackers Vorschlag hinter 436 stellen muß. Zu der mechanischen Ursache von Versverstellungen vgl. O. Zwierlein, I, 17ff. Mit der Umstellung erübrigen sich die von Giussani, II, 231f. geäußerten Bedenken gegen 655-9.680. 161 M. Gale, Myth and Poetry in Lucretius, Cambridge, 1994, 26-32. Munros Versumstellung hat sie freilich nicht berücksichtigt. 162 Bailey, 11,898 und 909 nimmt Anstoß an dem Ausdruck deum mater, den Lukrez als Epikureer nicht hätte gebrauchen dürfen. Aber Lukrez spricht hier ja gerade von den populären Vorstellungen und greift daher auf den allgemein verbreiteten Ausdruck mater deum (vgl. etwa Liv. 29,11,7; Ov. Pont. 1,1,39) zurück. 163 Zu dem Ausdruck nostri ... corporis als bildlicher Bezeichnung des Menschengeschlechts vgl. nostra corpora in 1,1063; Bailey, 11,898 spricht also zu Unrecht von einer "rather stränge phrase". 164 Dies kommt an vielen Stellen seines Werkes zum Ausdruck; insbesondere bei der Erklärung des Echos in 4,580-94; vgl. dazu Gale, 133ff.

36

Unechte Verswiederholungen

Die Interpretation hat also gezeigt, daß die Verse 646-651 unauslösbar in ihren Kontext im zweiten Buch verwoben sind, sie schließen mit enim logisch an die vorausgegangene Behauptung, der Glaube an die Magna Mater sei ein Irrglauben, an, umfassen die Begründung dieser Behauptung und leisten zusammen mit 652-654 die Zurückweisung des Magna Mater-Kultes. 1,38-53

40

45

50

hunc tu diua tuo recubantem corpore sancto circumfusa super, suauis ex ore loquelas funde petens placidam Romanis incluta pacem. nam neque nos agere hoc patriai tempore iniquo possumus aequo animo, nec Memmi clara propago talibus in rebus communi desse saluti. [omnis enim per se diuum natura necessest immortali aeuo summa cum pace fruatur semota ab nostris rebus seiunctaque longe; nam priuata dolore omni, priuata periclis, ipsa suis pollens opibus, nihil indiga nostri, nec bene promeritis capitur nec tangitur ira.] Quod superest, < Memmi > , uacuas auris < animumque > semotum a curis adhibe ueram ad rationem, ne mea dona, tibi studio disposta fideli, intellecta prius quam sint, contempta relinquas.

post 49 lac. ind. Lachmann | | 50 Memmi et animumque suppl. Sauppe; Gai pro Memmi Diels: ut uacuas auris codd.: uacuas auris animumque sagacem ex Lucretio quotat Schol. Veron. in Verg. georg. 3,3: uacuas auris animumque, age, Memmi Lachmann

Voraus geht den hier wiedergegebenen Versen der Venushymnus (143), der mit der Bitte an Venus endet (38-43), Mars mit ihrem Liebreiz zu besänftigen und dadurch dem römischen Volk Frieden zu schenken. Denn sonst kann Lukrez nicht guten Gewissens seinem poetischen Werk nachgehen und Memmius sich nicht seiner politischen Verpflichtung entziehen. Darauf folgen nun die Verse 1,44-49 (=2,646-51), die den Grundsatz epikureischer Gottesvorstellung, das abgeschieden friedliche Leben der Götter in den Intermundien, zum Ausdruck bringen. Daß die Verse an dieser Stelle nicht stehen können, leuchtet unmittelbar ein. Es ist doch geradezu absurd, daß die epikureische Vorstellung vom abgeschieden friedlichen Leben der Götter in den Intermundien, die keinen Einfluß auf das Leben der Menschen ausüben, als Begründung (vgl. enim, 44) für eine an Venus gerichtete Bitte fungieren soll, sie

Wiederholungen längerer Textabschnitte

37

möge aktiv für die Römer Frieden erwirken. Die Feststellung in 49, die Götter können nicht beeinflußt werden, steht im schärfsten Widerspruch zu dem vorausgegangenen Gebet, das erhofft, Venus als Vermittlerin des Friedens zu gewinnen. Die Absurdität wird durch enim, in 2,646 als trefflicher logischer Anschluß an 2,645 erwiesen, besonders sinnfällig; ein Gebet damit zu begründen, daß die Götter es nicht erhören, verbietet sich von selbst165. Es kommt hinzu, daß die Verse einen zusammenhanglosen Ausschnitt aus der epikureischen Philosophie enthalten, der gerade im ersten Proöm, das den noch völlig ungebildeten Leser anspricht, von vornherein fehl am Platz ist. Dennoch fehlt es nicht an neueren Stimmen, die die Echtheit der Verse 44-49 verteidigen. Einen völlig eigenen Weg, ohne die Athetese auszukommen, geht dabei L. Canfora 166 , der aus dem Kontext des Zitates von 1,44-49 in Lact, ira 7,5-8,1 den Rückschluß zieht, das Proöm habe Lactanz in der Versabfolge 1-43, 62-79, 44-49 vorgelegen, und der mit weiteren Umstellungen - auf 44-49 läßt er 136-145, 80-135 und 146148 folgen - das ursprüngliche Proömium wiederherstellen zu können glaubt. Dagegen hat jedoch F. Giancotti167 gezeigt, daß zum einen die Laktanzstelle keinen Rückschluß auf eine andere Textabfolge zuläßt, und zum anderen die Übergangsstellen in der von Canfora vorgeschlagenen Reihenfolge der Versblöcke keineswegs eine "naturale collocazione"168 ergeben. Weiter hat jüngst D. Sedley vorsichtig für die Echtheit der Verse plädiert. Er versucht in seinem Aufsatz nachzuweisen, daß Lukrez seinen Venushymnus in Abhängigkeit vom Proöm des Empedokles komponiert hat; die Verse 1,44-49 dienen in seiner Sicht als Korrektur der epikureischen Gottesvorstellung an der des Empedokles, die im Venushymnus ausgesprochen sei169. Davon abgesehen, daß Sedley den Versuch, die von E. Courtney vorgebrachten Argumente zu widerlegen, unterläßt, ist auch sein Argument für die Echtheit der Verse nicht stichhaltig, da das Gebet an Venus durchaus nicht der epikureischen Gottesvorstellung widerspricht und somit auch nicht korrekturbedürftig ist. Das Beten zu einer Gottheit wird nämlich von Epikur keineswegs verboten, 165

Die hier vorgebrachten Argumente sind selbstverständlich nicht neu, sie folgen vielmehr weitgehend den Ausführungen E. Courtneys, 11 f. 166 L. Canfora, II proemio del "De rerum natura", Belfagor, 28, 1973, 161ff. 167 F. Giancotti, Il preludio di Lucrezio, il trasposizionismo e Lattanzio, Orpheus, N. S. 1, 1980, 22Iff. 168 L. Canfora, 163. 169 Vgl. D. Sedley, 291: "Lucretius might very naturally want to add an Epicurean corrective. "

38

Unechte Verswiederholungen

vielmehr fordert Epikur von seinen Anhängern die Teilnahme an der traditionellen Götterverehrung; Beten aus einer richtigen Haltung heraus ist das angemessene Verhalten des Weisen 170 . Lukrez im übrigen selbst einen derartigen Widerspruch zwischen seinem Venushymnus und der epikureischen Göttervorstellung auf diesem engen Raum zumuten zu wollen, ist auch unter der Berücksichtigung des (allzeit überstrapazierten) Arguments der Unvollendetheit des Werkes mehr als unplausibel, solange man nicht an den "miser animi habitus" 171 des Lukrez glauben möchte. Unabhängig davon, ob man 44-49 als interpolierten Zusatz ansieht oder nicht, bereitet der in den Handschriften unvollständig überlieferte Vers 50 Schwierigkeiten. Die Handschriften schreiben quod superest ut uacuas auris, wobei das unmetrische ut bereits von einem dem elften Jahrhundert zugewiesenen Korrektor des Oblongus getilgt wurde. Die meisten Herausgeber seit J. Bernays ergänzen den Vers mit Hilfe des Veroneser Vergilscholions, das zu georg. 3,3 cetera quae uacuas tenuissent carmine mentes folgende Bemerkung macht: uacuas mentes scribentum intellegendum: sie Lucretius: 'uacuas aures animumque sagacem' und schreiben für Vers 50: quod superest, uacuas auris animumque sagacem. Diese Ergänzung macht, wie K. Lachmann richtig sah, das Ansetzen einer Lücke vor Vers 50 notwendig, da ab Vers 51 durch die zweite Person nicht mehr Venus, sondern Memmius angesprochen wird und daher eine wörtliche Anrede an Memmius vorausgegangen sein muß. Gegen diese Ergänzung hat jedoch bereits J. Vahlen 172 berechtigte Skepsis geäußert, der an der Verbindung uacuas auris und animumque sagacem Anstoß nahm. Vahlen weist nach, daß das Attribut sagax bei Lukrez stets in der Bedeutung des aktiven Spürens, Forschens verwendet wird 173 , während in diesem Kontext mit uacuas auris und ani-

170 Vgl. dazu W. Schmid, 'Epikur', RAC, 5, 1962, 732 (mit weiterer Literatur); ähnlich auch K. Kleve, Lukrez und Venus, Symb. Osl. 41, 1966, 86ff., der genau aus diesem Grund die Verse 44-49 für echt hält, ohne zu berücksichtigen, daß sie hier ohne Anschluß stehen und in unmittelbarer Konfrontation diesen absurd erscheinen lassen. 171 So allen Ernstes C. Purmann, Quaestionum Lucretianarum speeimen, Breslau, 1846, 56. 172 J. Vahlen, Über das Prooemium des Lucretius, Monatsberichte der Berliner Akademie, 1877, 479ff. [=Gesammelte Philologische Schriften, II, 12ff.]. 173 Vgl. Vahlen, 485ff. und insbesondere Lucr. 4,912: tu mihi da tenuis aures animumque sagacem, wo der scharf forschende Geist exakt zu den feinen, also besonders aufmerksamen Ohren paßt.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

39

mumm semotum a curis (51) nur die Ruhe und Freiheit des Memmius zum Ausdruck kommt, der sich nach dem im Venushymnus erbetenen Frieden (vgl. 38-43) ganz dem Werke des Lukrez widmen kann. Die enge Verbindung von uacuas auris und animum semotum curis wird durch 2,46 uacuum pectus lincunt curaque solutum weiter gefestigt; sie wird durch das dem Sinn nach verfehlte und mit semotum a curis unverbundene Attribut sagacem nachhaltig gestört. Für den Text des Scholions vermutet Vahlen eine irrtümliche Vermischung des Anfangs von Vers 50 mit dem Ende von Vers 4,912 175 , so daß das Scholion für die Rekonstruktion des Verses 50 ausscheidet. Andere Ergänzungen von Vers 50 sind bemüht, eine wörtliche Anrede an Memmius in den Vers zu schreiben, um somit die Annahme einer Lücke nach Vers 49 zu vermeiden. Die auch von Vahlen gutgeheißene Ergänzung Lachmanns 176 animumque, age, Memmi scheitert an der Stellung von age, das bei Lukrez nur an erster oder zweiter Stelle im Vers zu finden ist. Sauppe sieht hingegen in dem handschriftlich überlieferten ut den Ansatz für die Ergänzung des Vokativs Memmi und schreibt den Vers folgendermaßen aus: quod superest, Memmi, uacuas auris animumque111. Diese, auch von K. Müller akzeptierte Ergänzung kommt ohne die Annahme einer Lücke nach Vers 49 aus, die wegen der engen Verbindung zwischen 41-3 und 50-3 ohnehin ganz unwahrscheinlich ist. Denn gerade der von Lukrez erbetene Frieden, der Memmius von seinen politischen Verpflichtungen befreit, liefert für Memmius die Voraussetzung, dem Werk des Lukrez mit offenen Ohren und sorgenfreiem Geist zu folgen 178 . Daß dieser enge Bezug von den interpolierten Versen 44-9 gesprengt wird, steht somit gänzlich außer Frage. 174 Alle Lösungsvorschläge für Vers 50 stimmen darin überein, das Nomen animum als Bezugs wort für das Partizip semotum in Vers 51 zu ergänzen. 175 Ihm folgt K. Müller im Apparat seiner Ausgabe zur Stelle; hingegen vermutet H. Diels, Lukrezstudien. I, Sitzungsberichte der königl. preuss. Akad. d. Wiss., Berlin, 1918, 927ff., daß der Scholiast in 4,912 statt des richtigen tenues auris die Vereinfachung uacuas aures las. 176 Diese Ergänzung zieht Lachmann nur im Kommentar, 21, in Erwägung; im Text ergänzt er den Vers mit Bernays nach dem Vergilscholion. 177 Statt Memmi setzt Diels Gai in den Text, was jedoch von vornherein weniger wahrscheinlich ist, da Lukrez den Vokativ Gai sonst nie verwendet. Diels' Anstoß (Lukrezstudien I, 935) an der Wiederholung des Eigennamens innerhalb von zwei Versen sind wohl unnötig, da Lukrez es nicht scheut, wichtige Begriffe in engem Abstand zu wiederholen. 178 Zu diesem engen Bezug vgl. Vahlen, 488f., der auch mögliche Bedenken gegen quod super est behebt.

40

Unechte Verswiederholungen

Den Grund und die Motivation dieser Interpolation zu ermitteln erweist sich hingegen als sehr schwierig. Lachmann vertrat die Auffassung 179 , ein "lector frustra curiosus" habe die Verse an den Rand notiert, um den scheinbaren Widerspruch des Lukrez aufzudecken, der an dieser Stelle Venus anrufe, obwohl er später (eben in 2,646ff.) jegliches Einwirken der Götter auf das menschliche Leben leugnet. Diese Art von Interpolation, ein sarkastischer Leserkommentar, findet sich jedoch an keiner weiteren Stelle im Lukreztext 180 . Mehr Wahrscheinlichkeit kann daher die Annahme von G. Müller beanspruchen, die Stichworte pacelpacem in 31 und 40 seien für die Interpolation des Abschnittes über die pax deorum (vgl. 45) verantwortlich. Dabei habe der Interpolator verkannt, daß in 31 und 40 von dem aktiven Wirken der tranquilla pax (31) für die Römer die Rede ist, in 45 hingegen der allem Irdischen ferne und unbeeinflußbare Friedenszustand der Götter ins Auge gefaßt wird 181 . Jedoch scheint es mir noch eine dritte Möglichkeit zur Erklärung der Interpolation zu geben, die, soweit ich sehe, bisher nicht geäußert wurde. Zu Beginn der in Vers 54 einsetzenden Propositio verspricht Lukrez die Klärung der summa caeli ratio deumque, worunter mit G. Müller 182 der letzte Sinn der Atomistik, das Fehlen jeglichen Einflusses der Götter auf das Leben der Menschen zu verstehen ist. Nirgendwo im gesamten Lukrez wird dies jedoch so klar und knapp formuliert wie eben in den Versen 2,646-51 über die pax deorum. Diese Verse wurden daher als Randglosse zu 1,53 notiert und von einem späteren Abschreiber in den fortlaufenden Text des ersten Buches nach Vers 43 eingefügt - der einzigen Stelle im engeren Kontext, an der sie dem Kopisten möglich schienen.

2,29-33 (=5,1392-96) Diese Gruppe von fünf nahezu identischen Versen wurde bisher von keinem Herausgeber des Lukrez getilgt, obgleich sich immer wieder Stimmen erhoben, die die Verse an einer der beiden Stellen verurteilten. So plädierte F. Neumann, 22f., dem sich C. Gneisse, 76 anschließt, für

179

Komm. 20; jüngst auch wieder vertreten von Courtney, 12. Die von uns im folgenden konstatierten Leserkommentare zum echten Lukrez sind entweder korrigierend (5,1341-9) oder assoziativ zustimmend (3,206-7; 6,565-7). 181 Vgl. G. Müller, Kinetik, 121. 182 Vgl. Kinetik, 24. 180

Wiederholungen längerer Textabschnitte

41

die Unechtheit der Verse im fünften Buch, während bisher als einziger G. Müller 183 an den Versen 2,29-33 Anstoß nahm und sie zur Athetese vorschlug, die allerdings in der weiteren Forschung auf heftigen Widerspruch stieß 184 . Die erneute Behandlung versucht zu zeigen, daß ein Interpolator die Dublette durch jeweiligen Rück griff auf echtes Versgut beider Stellen schuf. 2,20-36 20

25

30

35

ergo corpoream ad naturam pauca uidemus esse opus omnino, quae demant cumque dolorem, delicias quoque uti multas substernere possint gratius interdum; neque natura ipsa requirit si non aurea sunt iuuenum simulacra per aedes lampadas igníferas manibus retinentia dextris lumina nocturnis epulis ut suppeditentur nec domus argento fulget auroque renidet, nec citharae reboant laqueata aurataque tecta, cum tarnen inter se prostrati in gramine molli, propter aquae riuum, sub ramis arboris altae, non magnis opibus iucunde corpora curant. [praesertim cum tempestas adridet et anni témpora conspergunt uiridantis floribus herbas.] nec calidae citius decedunt corpore febres, textilibus si in picturis ostroque rubenti iacteris, quam si in plebeia ueste cubandum est.

22 uti: fort, item | | possint: possis Postgate \ | post 22 lac. ind. Watt quam sie suppl: < n i l opus omnino; quin his prorsum caruisse> | | 23 gratius: gratis Reide | | 28 tecta Macr. Sat. 6,4,21: templa

Das Proömium des zweiten Buches ist geprägt vom Gegensatz zwischen dem Wohlbefinden des Weisen, der Kenntnis hat von der epikureischen Lehre, und dem Unglück des Unkundigen (1-16). Dem Epikureer ist die Freiheit von körperlichem Schmerz und die Freiheit der Seele von Sorge und Furcht Grundlage seines Glücks (17-19), nicht hingegen materieller Wohlstand oder Adel und Ruhm (20-39).

183

G. Müller, Kinetik, 14ff. Als Verteidiger von 2,29-33 sind K. Gaiser, Das vierte Prooemium des Lukrez und die lukrezische Frage, Eranion, Festschrift H. Hommel, 1961, 21f., Anm. 8, W. Schmid, Lucretius Ethicus, in: Lucrèce. Entretiens sur l'antiquité classique, Bd. 24, hrsg. v. O. Gigon, Genf, 1978, 164 und V. Buchheit, Lukrez über den Ursprung von Musik und Dichtung, RhM, 127, 1984, 141ff. (v.a. 154ff.) zu nennen. 184

42

Unechte Verswiederholungen

Im höchsten Maße umstritten ist nun das Verständnis der Verse 2033; die Zahl der vorgeschlagenen Lösungen ist dementsprechend groß. Die älteren Versuche sind in dem Kommentar von C. Bailey 185 besprochen; von den neueren sollen hier die von K. Müller, W. Schmid 186 und W.S. Watt 187 , die mir die wichtigsten scheinen, diskutiert werden. Der allgemeine Sinn der Verse ist dank epikureischer Quellen sicher 188 : Die körperliche Natur benötigt zur Beseitigung des Schmerzes nur weniges; ist dieser beseitigt, kann die Lust nur variiert werden; was also über dieses Wenige hinausgeht, verlangt die Natur selbst nicht. Das Kernproblem liegt dabei in den Versen 22f.: Was ist das Subjekt zu possint; ist uti (22) konsekutiv oder konzessiv aufzufassen und damit der «¿/-Satz noch zum Vorhergehenden oder zum Folgenden zu beziehen; ist weiter gratius interdum Teil des «¿/-Satzes oder gehört es zum folgenden neque natura ipsa requirit?m Am häufigsten vertreten wird dabei die Lösung Lachmanns, der sich auch Bailey und nach ihm Büchner und Smith angeschlossen haben, den uti-Satz als konsekutiv mit pauca (aus Vers 20) als Subjekt aufzufassen, nach possint zu interpungieren und gratius interdum auf das folgende zu beziehen. Bailey (II, 800f.) übersetzt: "We see then that but few things are needed at all for the nature of the body, such as may remove pain, yes and can also supply many delights; nor does human nature itself from time to time need anything more acceptable, if there are not elaborate banquets ..." Diese Übersetzung macht bereits die Hauptschwierigkeit dieser Lösug deutlich, der es nicht gelingt, dem konsekutiven uti einen klaren Sinn abzugewinnen: Vielfältige Lust aus dem Wenigen konsekutiv zu folgern, das den Schmerz beseitigt, ist nicht verständlich. Dasselbe Problem mit dem "exceedingly awkward" 190 konsekutiven uti bleibt auch bei der Lösung K. Müllers bestehen, der im Unterschied zu Bailey lediglich gratius interdum als Teil des uti-Satzes ansieht und nach interdum (ebenso wie in dem oben abgedruckten Text) interpungiert: "Lucretius hoc dicere uidetur, illa pauca quae ad dolorem detrahendum satis sint (...) esse eiusmodiut interdum delicias quoque multas suppeditare possint

185 186 187 188 189 190

II, 800ff. Lucretius Ethicus, 128ff. Lucretiana, MH, 47, 1990, 121. Die Quellen sind zusammengestellt bei C. Bailey, 11,800. Die Zusammenstellung der Probleme nach W. Schmid, Lucretius Ethicus, 130f. W S . Watt, 121.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

43

gratius ( = iucundius, suauius)" 191 . Der Bezug von interdum esse ist in seiner Lösung zweifelsohne besser; bei Bailey muß offen bleiben, weshalb die Natur nur manchmal nicht Angenehmeres fordert; hingegen ist Müllers Bezug, weniges könne bisweilen vielfältige Lust erzeugen, durchaus verständlich; das Problem bleibt nach wie vor das konsekutive utim Einen völlig anderen Weg schlägt W. Schmid ein, der nach dolorem einen Punkt setzt, den uti-Satz als konzessiv zu dem Folgenden zieht, gleichzeitig Postgates Konjektur possis für das überlieferte possint schreibt und gratius (wie Bailey) als Objekt zu requirit ansieht. Seine Paraphrase lautet: "Magst du auch noch so zahlreiche Genüsse hinzubringen können: die Natur selbst verlangt vorerst (...) keinerlei Lustzuwachs ,.." 1 9 3 . Diese Paraphrase ist zwar sinnvoll, verlangt dem lateinischen Text jedoch viel ab. Neben der Konjektur von possis19* muß Schmid interdum als "vorerst" und neque als (in der archaischen Dichtung belegtes) Äquivalent zu non auffassen, ohne für beide Begriffe Parallelen aus dem Lukreztext anzuführen; auch seine Übersetzung von gratius ("Lustzuwachs") bleibt unbegründet. Ohne Konjektur kommt die Schmid ansonsten in vielem vorangehende Erklärung Munros aus, der uti ebenfalls konzessiv auffaßt, simulacra aus Vers 24 als Subjekt zu possint annimmt, gratius interdum jedoch in den «n-Satz einschließt und den Hauptsatz mit neque (=non) beginnen läßt. Diese Lösung, die von allen bisher vorgebrachten als die beste erscheint, wird jedoch ebenfalls durch die Gleichsetzung von neque mit non und insbesondere den Vorgriff von simulacra (24) als Subjekt von possint in Vers 22 ganz unwahrscheinlich. Watt hingegen will mit der Annahme eines Versausfalls nach 22 die Probleme lösen, die das unkonstruierbare uti und der schwer verständliche Komparativ gratius darstellen. Seine Versfolge lautet dann folgendermaßen:

191

S. 356 seiner Ausgabe. Kein Problem ist dabei, als Objekt zu requirit in 23 simulacra aus dem folgenden siSatz zu ergänzen. 193 Lucretius Ethicus, 132. 194 Als weiteres Argument für possis verweist Schmid, Lucretius Ethicus, 131 auf den Diatribenstil des zweiten Proöms mit seinen zahlreichen Du-Anreden (vgl. Verse 4, 5, 9, 36, 40, 41, 44, 53); jedoch scheint die Du-Anrede gerade in dem allgemeineren, die epikureische Glücksvorstellung entwickelnden Passus der Verse 14-34 bewußt zu unterbleiben. 192

44 22a

Unechte Verswiederholungen delicias quoque uti multas substernere possint < nil opus omnino: quin his prorsum caruisse> gratius interdum; neque ...

Während er durch seine Ergänzung für gratius einen guten Bezug schafft, bleibt jedoch der uti-Satz weiterhin problematisch; Lukrez verwendet opus esse ut stets in der Bedeutung 'etwas ist nötig, damit' 195 , was hier keinen Sinn gibt: 'Nichts ist nötig, damit weniges vielerlei Lust verschafft' 196 . Keine der bisher vorgetragenen Erklärungen dieser Stelle konnte also wirklich überzeugen; als Hauptproblem hat sich jeweils das nahezu unkonstruierbare uti in Vers 22 erwiesen. Ich möchte daher nicht ausschließen, daß uti korrupt ist, und schlage stattdessen etwa item vor, wodurch die Schwierigkeiten der Stelle gelöst sind: Der von quae eingeleitete Relativsatz wird von Vers 22-3 (bis interdum) fortgesetzt; mit neque in Vers 23 beginnt dann der neue Hauptsatz: 'Wir sehen, daß die Natur des Körpers nur weniges fordert, das nämlich, was den Schmerz beseitigt und gleichfalls auch vielfältige Lust bereitstellen kann, bisweilen auf recht angenehme Weise; die Natur selbst verlangt ja nicht, wenn ...'. Mit der Konjektur item geben die dann syntaktisch einwandfreien Verse 20-23 guten Sinn, die Verderbnis von item zu uti ist paläographisch durchaus erklärbar 197 . Überlegenswert bleibt weiter, ob man den Komparativ gratius in der Bedeutung von iucundius, suauius (so paraphrasiert von K. Müller) beibehalten möchte, oder sich für Reides Konjektur gratis entscheiden soll ('Weniges, (...) das vielfältige Lust verschaffen kann, bisweilen ohne Aufwand'). Weder gratis noch gratius sind bei Lukrez weiter belegt, hingegen überliefern die Handschriften einhellig jeweils

195 Vgl. l,1050f.; 3,967: materies opus est ut crescant póstera saecla. Für die Konstruktion opus est ut = 'es ist nötig, daß' liefert im übrigen auch der Thesaurus keine Belege. 196 Ich vermute, daß Watt, der seinen Satz nicht übersetzt, diesen folgendermaßen verstanden wissen möchte: 'Es ist gar nicht notwendig, daß das Wenige (das den Schmerz beseitigt) vielfältige Lust bereitet.' In dieser Konstruktion ist jedoch opus esse ut bei Lukrez, soweit ich sehe, nicht belegt. 197 Die Korruptel fällt unter Housmans (Manilius I, LVIIf.) Kategorie der "transpositions of syHables ... with further change". Quoque uti begegnet im Lukreztext noch neunmal; dabei jedoch stets in den phraseologischen Verbindungen est bzw. fit quoque uti sowie quoque uti confirmare bzw. concedere. Quoque item hat Lukrez in 5,245 und 6,756; item quoque begegnet in 5,751. Ansonsten vermeidet die lateinische Dichtung diese Wortverbindung.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

45

zweimal ingratis und ingratius, wobei ingratius an beiden Belegstellen 198 von den meisten modernen Herausgebern zu ingratis verbessert wurde. Die Konjektur ist also gut zu rechtfertigen. Die Überflüssigkeit des Luxus wird nun in den Versen 23b-36 in einem langen Katalog von durchgehend mit Negationen eingeleiteten Beispielen nachgewiesen. Die Natur fordert zum Glück des Menschen weder goldene Fackelhalter in der Form von Jünglingsgestalten als Beleuchtung für ein abendliches Mahl (23b-26), noch ein prächtig mit Gold und Silber ausgestattetes Haus (27), noch Zithermusik, die von den goldgetäfelten Decken zurückschallt (28), wenn man dennoch (d.h. wenn man über diese Luxusgüter nicht verfügt) im weichen Gras gebettet nahe am Bach im Schatten eines hohen Baumes mit einfachen Mitteln den Ansprüchen des Körpers auf angenehme Weise Genüge tun kann, insbesonders in der Jahreszeit des Frühlings (29-33). In Vers 34 wird dann der negative Katalog zu Ende geführt: Auch wird der Mensch vom Fieber nicht rascher geheilt, wenn er auf einer Purpurdecke, als wenn er auf einer billigen Decke liegt. Die Verse 37-39 ziehen zusammenfassend die Folgerung aus dem vorausgegangenen negativen Katalog und leiten gleichzeitig zum folgenden Gedanken über: Da folglich Reichtum, Adel und Ruhm dem Körper nichts nützen, muß man auch glauben, daß sie dem Geist nicht helfen können. G. Müller 199 hat nach vorhergegangenen Bedenken Dillers die Verse 29-33, die das bukolische Bild der am Bach lagernden Menschen enthalten und die nahezu wörtlich wieder im fünften Buch auftauchen, zur Athetese vorgeschlagen. Seiner Ansicht nach verläuft der Gedankengang um vieles glatter und klarer, wenn man die Verse 29-33 athetiert, da dadurch der Katalog mit den gliedernden Negationen neque (23), nec (27), nec (28), nec (34) an Straffheit gewinne und sich an die Aufzählung, was die Natur für das Glück im menschlichen Leben alles nicht fordert (23-28), unmittelbar die Verneinung anschließe, daß der Reichtum im Krankheitsfall, also dann, wenn ein dolor eintritt, in irgendeiner Weise hilft (34-36). Seine Argumentation überzeugt jedoch vor allem deshalb nicht, da nach der Athetese von 29-33 die unmögliche Negationenabfolge nec (27), nec (28), nec (34) eintritt, wobei das letzte nec

198 199

Vgl. 3,1069; 6,216. Kinetik, 14f.

46

Unechte Verswiederholungen

einen neuen Hauptsatz einleitet, während die beiden anderen syntaktisch noch in den in Vers 24 beginnenden «'-Satz gehören 200 . Gegen Müllers weiteren - bereits von Diller vorgebrachten - Einwand, es fehle ein klar erkennbares Subjekt zu curant (31) 201 , hat W. Schmid 202 eingewendet, das Partizip inter se prostrati sei durchaus geeignet, um eine Antithese zwischen Festbankett (24-28) und bukolischem Mahl (29-33) auszudrücken. Schmids Erklärung scheint zutreffend, zumal syntaktisch ähnlich in 5,1453 der Partizipialausdruckpedetem/tf/mprogredientis die Funktion des Objekts übernimmt; an beiden Stellen ist etwa homines zu ergänzen. Zu der großen Athetese von 2,29-33 besteht also kein Grund. Aus eben dieser Antithese (dem Luxusleben in den kostbar eingerichteten Villen und dem bescheidenen Dasein auf dem Lande) ergibt sich klar die inhaltliche Funktion zumindest der Verse 29-31: Dem in 24-8 ausgemalten Luxus wird das bescheidene angenehme Leben in der Natur gegenübergestellt; die menschliche Natur fordert all diesen Luxus nicht, wenn man nichtsdestoweniger mit bescheidenen Mitteln angenehm leben kann. Die Antithese wird sprachlich klar durch cum tarnen in 29 zum Ausdruck gebracht, dessen Bezug Munro in seinem Lukrezkommentar richtig und klar herausgestellt hat: "the cum refers to natura requirit\ the tarnen refers to the Si non\ nature wants no more, when they thus simply enjoy themselves none the less although they have none of these luxuries". Die Verse 29-31 schließen somit den mit 20 eingeleiteten Gedanken ringförmig ab. Das Wenige, das den Schmerz nimmt und gleichzeitig vielfältige Lust bereitet, wird anhand des bukolischen Bildes der Verse 29-31 verdeutlicht. Ein kleiner Aufwand (non magnis opibus in 31 entspricht pauca in 20) genügt, den Körper (corpora in 31 greift corpoream ad naturam in 20 wieder auf) angenehm zu versorgen; iucunde corpora curant faßt knapp den Relativsatz quae ... interdum (21-3) zusammen: corpora curant, die Beseitigung des Hungers, entspricht der Beseitigung des Schmerzes in 21; iucunde enspricht delicias..multas (22) sowie (wenn man die Überlieferung hält) gratius (23).

200

So der entscheidende Einwand gegen Müllers Athetese bei K. Gaiser, 21. Vgl. G. Müller, Kinetik, 14; vorher bereits H. Diller, Die Prooemien des Lucrez und die Entstehung des lucrezischen Gedichts, StIFC, 25, 1951, 20. 202 Vgl. Lucretius Ethicus, 164 (in der anschließenden Diskussion mit G. Müller). Zuvor hat Schmid, 134f. schön gezeigt, wie wirkungsvoll Lukrez durch die Anspielungen in 24-8 auf Horn. Od. 7,100 den Kontrast zwischen dem "Bankett ä la Alkinoos" (Schmid, 134) und dem "Picknick in der Natur" (Schmid, 136) gestaltet hat. 201

Wiederholungen längerer Textabschnitte

47

Hingegen fehlt in 32-3 jeglicher Bezug zu dem vorausgegangenen Gedanken; unnötig wird die Annehmlichkeit der einfachen Lebensweise vor allem für die Frühlingszeit festgelegt, während doch das Postulat nach dem einfachen Leben stets gültig sein muß. Die beiden Verse haben, wie gleich gezeigt wird, ihren unentbehrlichen Sitz im fünften Buch; hier wirken sie, geringfügig für den neuen Kontext verändert, wie ein späterer Zusatz, der die ringförmige Komposition des Passus 20-31 beeinträchtigt. Sie sind zudem gegen den Kern der Argumentation gerichtet, die das bescheidene Leben grundsätzlich lobt und die Überflüssigkeit des Luxus erweist. Natürlich ist ein Picknick im Frühling schöner als im Winter, aber dieser allzu menschliche Gedanke klingt ganz wie der assoziative Zusatz eines ausmalenden Interpolators, der die wesentliche Argumentationsabsicht dieses Abschnitts nicht erfaßt hat 203 . Betrachten wir nun die Stelle im fünften Buch! 5,1390-1402 1390 haec animos ollis mulcebant atque iuuabant, [cum satiate cibi; nam tum sunt omnia cordi. saepe itaque inter se prostrati in gramine molli propter aquae riuom, sub ramis arboris altae, non magnis opibus iucunde corpora habebant,] 1395 praesertim cum tempestas ridebat et anni tempora pingebant uiridantis floribus herbas. tum ioca, tum sermo, tum dulces esse cacchinni consuerant, agrestis enim tum musa uigebat; tum caput atque umeros plexis redimire coronis 1400 floribus et foliis lasciuia laeta monebat, atque extra numerum procedere membra mouentes duriter et dura terram pede pellere matrem; 1391 omnia: omnibu' K. Müller-, carmina Lachmann

203

Wenn unsere Tilgung von 2,32-3 richtig ist, müssen wir den Zeitpunkt der Interpolation sehr früh ansetzen, da der Dichter des Culex bei der Gestaltung von 62-71 Lucr. 2,24-33 eindeutig folgt. Zur Datierung des Culex in die Zeit des Tiberius vgl. insbesondere D. Güntzschel, Beiträge zur Datierung des Culex, Münster, 1972 sowie W. Ax, Die pseudovergilische "Mücke" - ein Beispiel römischer Literaturparodie?, Philologus, 128, 1984, 230ff. Macrobius (Sat. 6,2,5) zitiert Lucr. 2,24-33 als einheitlichen Versabschnitt; jedoch ist für seine Zeit schon längst mit einem durchgehend interpolierten Lukreztext zu rechnen; siehe dazu S. 316f.

48

Unechte Verswiederholungen

Im Rahmen der Kulturentstehungstheorie geht Lukrez auch auf die Erfindung der Musik (5,1379-1411) ein. Vom naiven Nachahmen der Vogelstimmen schreitet die Entwicklung fort zu Gesang und Flötenspiel (1379-87). In Vers 1390204 schließt haec an diese Entwicklung an und faßt als Neutrum Plural Gesang und Flötenspiel zusammen 205 . Diese Musik stimmte die Menschen sanft und erfreute sie. Hingegen ist nicht ersichtlich, weshalb mit den Versen 1391-4 der Kontext der Musik verlassen und zunächst der erweiternde Hinweis auf die Bedeutung der Sattheit für das menschliche Wohlergehen eingefügt ist. In Vers 1391 wirkt cum satiate cibi an 1390 syntaktisch ungeschickt angeklebt; der begründende nam-Satz bewirkt einerseits den Subjektswechsel von der Musik zu all den Dingen, die dem Menschen am Herzen liegen, wodurch das eigentliche Thema (die Freude, die die Musik bereitet) unnötig verallgemeinert wird, andererseits eine trivialisierende Verdrehung des Gedankengangs: Nicht mehr die Musik selbst ist die Ursache menschlicher Freude, das eigentliche Thema der Verse 1379-1411, sondern vielmehr die menschliche Sattheit, die erst die Freude an allem, also auch an der Musik ermöglicht 206 . In den folgenden fünf Versen, die auch im zweiten Buch erscheinen, ist dann das behagliches Idyll des einfachen Lebens auf dem Lande gezeichnet. Von diesen fünf Versen sind nur die beiden letzten fest mit dem folgenden Kontext verwoben, während die ersten drei Verse den in Vers 1391 interpolierten Gedanken der Sättigung mit eben jenen Versen fortführen, die, wie gezeigt wurde, im zweiten Buch unentbehrlich sind. Dabei ist in 1392 der Anschluß cum tarnen aus 2,29 durch saepe itaque, sowie in 1394 das Prädikat curant aus 2,32 durch habebant vertauscht worden. Saepe itaque stellt den engen Anschluß an 1391 her; das idyllische Bild von den am Bach gelagerten Menschen, die es sich Wohlergehen lassen, wird als Folgerung (itaque) aus ihrer Sattheit hergeleitet. Mit der Unechtheit von 1391 fallen daher auch die an ihn angeschlossenen Verse 1392-4, die der Interpolator 2,29-32 entnommen und für den neuen Kontext leicht verändert hat. Dabei ist der Versanfang saepe itaque dem 204

Die Verse 5,1388-9 sind unecht; vgl. meine Ausführungen S. 209ff. Richtig erklärt von W.H. Leonard-S.B. Smith zu 1390: "haec: i.e. the simple songs and tunes of early days." 206 Mit K. Müllers Konjektur omnibu' statt überliefertem omtiia gewinnt der Gedankengang nur wenig an Schärfe; die Musik bleibt zwar Subjekt des nam-Satzes, dieser bleibt dennoch trivial: 'Erst muß man satt sein, dann macht die Musik allen Freude'. Gegen konjekturalen Eingriff, keineswegs jedoch für die Echtheit des Verses, spricht im übrigen seine gedankliche Nähe zu Epikur. sent. 18; vgl. dazu unten! 205

Wiederholungen längerer Textabschnitte

49

echten Lukrez abgeschaut 207 , saepe ist an dieser Stelle lediglich ein leeres Füllwort. Aufschlußreich ist auch die zweite Veränderung des Interpolators, der für den Kontext der Stelle das präsentische curant durch ein Imperfekt ersetzen mußte und die Form habebant wählte. Während die Iunktur corpora curare nicht den geringsten Anstoß bietet und sehr gut in der Bedeutung von "to refresh oneself with food, sleep, etc., attend to one's bodily needs" 208 belegt ist 209 , läßt sich für den Ausdruck iucunde corpus habere keine exakte Parallele nachweisen210. Für das tadellose corpora curant ist das auch metrisch unschöne corpora habebant mit der seltenen Ellision zwischen dem fünften und sechsten Fuß ein wenig überzeugender Ersatz. Unbedingt notwendig sind in diesem Kontext allerdings die Verse 1395f. mit ihrem Hinweis auf den Frühling und die Blüte. Denn eben in dieser Jahreszeit (vgl. tum, 1397) erstarkt die ländliche Muse und läßt die Menschen mit Blumen bekränzt sich im unrhythmischen Tanz bewegen (1397-1402). Dabei nehmen 1397-1402 auch im Detail auf 1395f. Bezug: Das Erstarken der ländlichen Muse (1398) fällt passend in die Zeit des Frühlingsbeginns, den 1395-6 schildern, ebenso liegt das Winden von Blumenkränzen (1399-1400) für die Zeit der Blüte (1396) besonders nahe; uiridantis floribus herbas wird vonplexis ... coronis /floribus et foliis wieder aufgenommen. Auch das unrhythmisch-ausgelassene Tanzen paßt zum Frühling 211 . Schließt man nun 1395 an 1390 an, so ergibt sich eine klare und feste Verkettung des Gedankens zwischen 1390 und 1395-1404: 'Die Musik tröstet die Menschen und erfreut sie, besonders wenn der Frühling lacht und die Blumen blühen. Dann herrscht Freude, dann erstarkt die ländliche Muse, dann werden Kränze gewunden und der Tanz beginnt'. Diesen klaren Gedankengang unterbricht der Interpolator mit seinem Hinweis auf die an dieser Stelle überflüssige, geradezu vulgäre Wichtig-

207

Vgl. 2,660; 3,106. OLD s.v. "curare", lb; vgl. auch Verg. georg. 4,187 mit Servius a.l. 209 Vgl. ThLL, IV,1012,55ff. 210 Belegt ist hingegen habere mit einem Adverb und dem Reflexivpronomen (vgl. ThLL VI,3,2451,59ff.), das man sich hier durch corpus ersetzt denken muß (zur Verwendung von corpus anstelle des Reflexivpronomens vgl. ThLL IV, 1012,41 ff.). 211 Zum Bezug zwischen Musik, Dichtung etc. zum Frühling vgl. etwa V. Buchheit, Frühling in den Eklogen. Vergil und Lukrez, RhM, 129, 1986, 123ff. 208

50

Unechte Verswiederholungen

keit der Sattheit, die er in dem selbstverfaßten Vers 1391 und den wiederholten und verschlechterten Versen 1392-4 zum Ausdruck bringt. Da man Vers 1391 mit dem epikureischen Diktum in Zusammenhang sehen muß, nach der Beseitigung des Schmerzes in Folge eines Mangels (hier also des Hungers) gäbe es keine Steigerung, sondern lediglich eine Variation der Lust (vgl. nam tum sunt omnia cordi), liegt es nahe, einen epikureisch geschulten Leser für die Interpolation verantwortlich zu machen. Der Kyria Doxa 18 des Epikur: OVK eiraiZerca ev rij oapiä r) i]8opr), eirubcLV önra^ TO Kar' ev5eiav ä\yovv e£mpe0ij, ¿¿Xka novov iroudXheTai entspricht gedanklich Vers 1391 in seiner überlieferten Form recht genau, so daß sich die konjekturalen Eingriffe Lachmanns und K. Müllers nicht empfehlen. Ein Interpolator hat ohne Berücksichtigung des Kontextes, der allein auf die Entwicklung der Musik abzielt (1379-1411), ein epikureisches Leitwort eingeflickt, das den eigentlichen Gedankengang zerstört. Mit seinem Haupteinwand "nihil hi versus continent, quod ad cantum pertineat" war F. Neumann 212 also auf dem richtigen Weg; freilich athetierte er mit 1392-6 zu Unrecht die gesamte Wiederholung aus dem zweiten Buch, nicht aber den mit 1392 eng zusammengehörenden Vers 1391. Zu weit ging auch die Athetese von C. Gneisse, der 1390-6 verdammte 213 . Vielmehr sind 1390 sowie 1395f. für den Gedankengang unentbehrlich; sie bilden miteinander verknüpft eine klare Periode, die von 1396ff. fortgesetzt wird 214 . Die Untersuchung hat also klar gemacht, daß die im zweiten Buch notwendigen Verse 29-31 im fünften Buch einschließlich des frei komponierten Verses 1391 interpoliert wurden, um Lukrezens Abriß der Entstehung der Musik mit dem an sich durchaus epikureischen, an dieser Stelle jedoch trivialen und störenden Hinweis auf die Wichtigkeit der Sattheit für jegliche Tätigkeit zu erweitern; hingegen entpuppten sich die im fünften Buch unentbehrlichen Verse 1395f. im zweiten Buch als inhaltsleerer und der Komposition schädlicher Zusatz, den man einem Interpolator weitaus eher als Lukrez selbst zutrauen sollte. Daß die beiden Interpolationen nichts miteinander zu tun haben, ist äußerst unwahrscheinlich; es liegt vielmehr nahe, daß ein freizügig ausmalender Interpolator beide Stellen gegenseitig erweitert und somit eine Dublette

212 213

2 2

Vgl. 76. 214 Den Anstoß zur Athetese von 1391-4 verdanke ich einem Hinweis von O. Zwierlein, der in seiner Handausgabe den Vers 1391 getilgt hatte.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

51

geschaffen hat, die bis heute die Lukrezausgaben füllt 215 . Erst nach der Athetese von 2,32f. und 5,1391-4 tritt an beiden Stellen der Wortlaut des Dichters wieder klar zu Tage.

2,55-61; 6,35-41 ( = 3,87-93) sowie 1,146-8 ( = 3,91-3) 2,55-61 sind eine Versgruppe, die im Proöm des zweiten Buches erstmals vollständig auftaucht und dann noch zweimal, im Proöm des dritten und des sechsten Buches, folgt. Es empfiehlt sich daher, alle drei Stellen in ihrem jeweiligen Kontext zu betrachten und zu vergleichen. Begonnen wird mit 3,87ff., weil dort, wie die Interpretation zeigen wird, die Verse ihren ursprünglichen Platz haben und von Lukrez verfaßt worden sind, ihr Bezug zum Kontext jedoch durch eine vorausgehende Interpolation verschleiert ist.

3,79-93 80

85

90

et saepe usque adeo, mortis formidine, uitae percipit humanos odium lucisque uidendae, ut sibi consciscant maerenti pectore letum, obliti fontem curarum hunc esse timorem, hunc uexare pudorem, hunc uincula amicitiai rumpere et in summa pietatem euertere tsuadet. [nam iam saepe homines patriam carosque parentis prodiderunt, uitare Acherusia templa petentes.] nam ueluti pueri trepidant atque omnia caecis in tenebris metuunt, sic nos in luce timemus interdum, nihilo quae sunt metuenda magis quam quae pueri in tenebris pauitant finguntque futura. hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae species ratioque.

84 locus nondum sanatus\ fundo Lambinus: foede K. Müller, alii alia

215

O. Zwierlein hat mich auf ein ähnliches Verhalten des Interpolators im Plautustext hingewiesen; so sind die unechten Verse in Plaut. Bacch. 712f. und Pseud. 587-9 von jeweils echten Versen aus dem Umfeld der anderen Stelle abhängig; vgl. O. Zwierlein, IV, 291f.

52

Unechte Verswiederholungen

Die wiederholte Versgruppe 3,87-93 steht hier am Ende des Proöms; ab Vers 94 beginnt der Hauptteil mit der Definition des animus. Vorausgegangen ist die Propositio des dritten Buches, das neben der Klärung der Begriffe animus und anima zur Aufgabe hat, die Todesfurcht zu beseitigen (31-40). Es folgt im überlieferten Text eine lange Abhandlung über die Auswirkungen der Todesfurcht (41-86), ehe sie zum Abschluß durch einen Vergleich als unbegründet erwiesen und das Mittel, sie zu beseitigen, die naturae species ratioque, genannt wird (87-93). Der Abschnitt über die Auswirkungen der Todesfurcht findet seinen Höhepunkt in den Versen 79-85, die dementsprechend mit et saepe usque adeo (79) eingeleitet werden und den Selbstmord als die letzte paradoxe Konsequenz aus der Todesfurcht nennen (80), ehe in den abschließenden Versen 82-4 eben diese Furcht (also die Todesfurcht, die durch anaphorisches hunc besonders betont ist) resümierend als die Grundursache menschlichen Fehl Verhaltens hervorgehoben wird: sie ist schuld, daß die Menschen ihre Anständigkeit verlieren, Freunschaften brechen und insgesamt schließlich ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft verletzen. 216 Nach diesem kraftvollen Abschluß wirken die beiden folgenden Verse 85-6 als ein schwaches Anhängsel 217 . Die konkrete Beobachtung, die Menschen hätten oftmals Heimat und Eltern verraten, um dem Tod zu entkommen, hat ihren Platz allenfalls als Einzelargument im Verlauf der Darlegung der Todesfurcht 218 , aber nicht an ihrem Ende; sie kann daher unmöglich als Begründung (nam, 85) der allgemeinen und abschließenden Feststellung über die verwerflichen Folgen der Todesfurcht stehen. Der Interpolator verstößt gegen den Sprachgebrauch des echten Lukrez, der das Verb prodere nur im Passiv (sieben mal) und nie in der konkreten Bedeutung "verraten" verwendet; weiter konstruiert Lukrez

216

In Vers 84 ist suadet sicher korrupt; hunc timorem muß der Subjektsakkusativ zu den weiteren, allesamt von obliti abhängigen Infinitiven vexare, rumpere und evertere bleiben. Da sich das zusammenfassende und steigernde (so richtig Heinze, 60), bei Lukrez sicher belegte in summa (vgl. 4,454 und 5,265; falsch Kenney, 87: "elsewhere in L. the phrase = 'in the universe'") gut in den einen Abschluß darbietenden Vers 84 fügt, verbirgt sich hinter suadet wohl kein Ablativ (wie etwa Bernays clade), sondern eher ein Adverb. Es ist demnach etwa mit htsrlomfundo (vgl. dazu Verg. Aen. 10,88; angeführt von Kenney, 87) oder mit K. Müller foede zu schreiben. 217 Die Tilgung der beiden Verse hat mir O. Zwierlein vorgeschlagen. 218 Vgl. etwa die gedanklich ähnlichen und in passendem Zusammenhang stehenden Verse 3,72f.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

53

(ebenso wie die sonstige republikanische Latinität) petere nie mit dem Infinitiv 219 . Die Versklausel Acherusia templa petenies ist dem echten Lukrez nachempfunden; Acherusia templa stammt aus 3,25; petentes am Versende findet sich bei Lukrez 5,804, 1068 und 1080. Einen weiteren schweren Anstoß bedeutet die Wiederholung von nam in 85 und 87 jeweils zu Versbeginn im Abstand von nur zwei Versen, für die es im Lukreztext keine Parallele gibt 220 . Damit sind die Verse 85f. als Zusatz eines Interpolators enttarnt, der mit ihnen wohl den Ausdruck pietatem evertere (in Vers 84) glossieren wollte, um ein religiöses, damit also der epikureischen Lehre widersprechendes Verständnis von pietas221 auszuschließen. Bereits Giussani hat klar gesehen, daß 85f. nicht natürlich an 79-84 anschließen222; statt jedoch die beiden Verse als Glosse zu 84 zu athetieren, hat er die falsche Schlußfolgerung gezogen, Lukrez selbst habe nachträglich die beiden Verse als Überleitung für seine eigenen, ursprünglich für das sechste Buch verfaßten und im dritten erst später wiederholten Verse 87-93 geschrieben. Jedoch zeigt sich im Gegenteil erst nach dem Ausscheiden der Interpolation der eigentliche Zusammenhang zwischen 3,79-84 und 87-93 sowie die Bedeutung des Gleichnisses für das Proöm des dritten Buchs. In diesem Gleichnis wird die Todesangst der Menschen der Angst kleiner Kinder im Dunkeln gegenübergestellt. Die von nam eingeleiteten Verse 87-90 knüpfen wie von selbst an den Gedanken von 79-84 an, indem sie die als Wurzel allen menschlichen Übels beschuldigte Todesfurcht einerseits als weitverbreit, andererseits jedoch vor allem als irrational und unbegründet entlarven. Genauso wie kleine Kinder in der Dunkelheit Angst vor allem (omnia) haben, haben die Erwachsenen sogar bisweilen bei Tageslicht um nichts besser begründete Ängste als die Kinder (timemus interdum, nihilo quae ... futura). Bruchlos setzt dabei der Vergleich den Schlußgedanken des Proöms fort; der anaphorisch betonte timor der Verse 82-4 wird in den vier verschiedenen Verben des 219

Der älteste Beleg für petere mit Infinitiv ist Hör. epist. 1,11,29, den Kiessling-Heinze a.l. gut erklären. 220 Anders die Wiederholung von nam in 2,83/85 und 6,247/49, wo die Partikel eben nicht am Versanfang wiederholt wird. 221 Zu dem von Lukrez natürlich gemeinten, vom Interpolator ausgeführten Verständnis von pietas vgl. Cic. rep. 6,16: iustitiam cole et pietatem, quae cum magna in parentibus et propinquis, tum in patria maxima est. 222 Vgl. seine treffende Bemerkung a.l.: "I due versi ... hanno dello sforzato e son come uno strascico."

54

Unechte Verswiederholungen

Fürchtens der Verse 87-90 (trepidare, metuere, timere, pauitare) nachdrücklich hervorgehoben und veranschaulicht. Ausschlaggebend ist dabei für Lukrez die Irrationalität dieser Furcht. Die Angst der Kinder vor ihren der Finsternis entwachsenden "Phantasiegebilden"223 wird aus dem Grund eingeführt, um die (nicht minder irrationalen) Ängste der Menschen als haltlos und selbstverschuldet zu charakterisieren 224 . Die Konsequenz aus der Beobachtung, daß diese Angst irrational ist, zieht Lukrez in den Versen 91-93; da diese unbegründet die Menschen belastet, muß sie folglich - igitur ist der konsequente und logische Anschluß von 91 an den vorausgegangenen Vergleich - beseitigt werden, und zwar durch den Einblick in die wahren Verhältnisse der Natur (93). 91-93 sind der zwingende Schluß aus 87-90. Allein diese Einsicht, nicht die im vorausgegangenen Vers 92 antithetisch eingeführten Strahlen der Sonne, können den terror des animus, also die tief im Menschen sitzende Todesangst und seine tenebrae beseitigen. Dabei bezeichnet tenebrae natürlich nicht mehr die natürliche Finsternis bzw. Dunkelheit, in der die Kinder Angst haben und von der vorher im Vergleich die Rede war - denn diese Finsternis und die aus ihr hervorgehenden Ängste würden ja gerade von den Sonnenstrahlen aufgehoben sondern steht metaphorisch für jene Finsternis, die mit geistiger Ahnungslosigkeit, dem Fehlen jeder wahren Erkenntnis gleichzusetzen ist, und aus eben der die Todesfurcht hervorgeht. Allein die epikureische Philosophie befreit den Menschen von der Todesfurcht, indem sie ihn aus der Dunkelheit zum Licht der Erkenntnis führt - mit diesem Gedanken endet das Proömium und mit diesem hat es auch begonnen. Denn mit demselben tenebrae-Btgxiii wie in 3,91 hat Lukrez das dritte Proömium eindrucksvoll (3,1: O 225 tenebris tantis tarn darum extollere lumen) eröffnet; das darum lumen gegen diese Finsternis ist allein die naturae spedes ratioque, wie sie die Philosophie Epikurs ermöglicht. Anfang und Ende des Proömiums zum dritten Buch erweisen sich somit als wirkungsvoll aufeinander abgestimmt; der hier untersuchte Text bietet nach der Athetese von 85f. nicht den geringsten Grund zum Anstoß, sondern erweist sich als logisch schlüssige und

223

H. Diller, 14. So auch H. Diller, 18, der (Anm. 1) mit Recht die den Sachverhalt auf den Kopf stellende Interpretation von C. Lenz, 43, Anm. 79 zurückweist, Lukrez wolle in diesem Gleichnis die Angst der Kinder an Hand der Angst der Menschen erklären. 225 Daß O, nicht E (wie in einigen italienischen Handschriften) die richtige Lesart sein muß, hat S. Timpanaro, Lucrezio III 1, Phil., 104, 1960, 147ff. nachgewiesen. 224

Wiederholungen längerer Textabschnitte

55

zugleich meisterhaft gestaltete Dichtung 226 . Völlig zutreffend wird die Stelle von H. Diller, 17 gewürdigt: "Nur in 3 ist die Furcht das einzig leitende Motiv, dem Lukrez (...) alle falschen Wünsche und Taten untergeordnet hat, und so schließen die Verse, die zeigen, wie die Furcht einzig vertrieben werden kann, folgerichtig den Gedankengang ab, der 37 mit metus ille foras praeceps Acheruntis agendus anhebt". Vergleichen wir nun die anderen Stellen! 2, 4 7 - 6 1 quod si ridicula haec ludibriaque e s s e uidemus, re ueraque metus h o m i n u m curaeque sequaces nec metuunt sonitus armorum nec fera tela, 50

audacterque inter reges rerumque potentis uersantur, neque f u l g o r e m reuerentur ab auro nec d a r u m uestis splendorem purpureai, quid dubitas quin o m n i s sit haec rationis potestas? [omnis c u m in tenebris praesertim uita laboret.

55

nam veluti pueri

- 61 . . . . naturae species ratioque.]

Die Atmosphäre dieses Proömiums, das die hier zitierten Verse abschließen, ist geprägt vom Gegensatz zwischen dem Wohlbefinden des Weisen, der Kenntnis hat von der epikureischen Lehre, und dem Unglück des Unkundigen, der sich sein Leben lang auf der Suche nach Glücklichkeit vergeblich abmüht (l-16a). Die Freiheit von Schmerz für Körper und Seele 227 , so die Hauptthese dieses Proöms (16b-19), ist die Grundlage menschlichen Glücks, die in den Versen 20-53 bewiesen wird. Luxus und Reichtum, auch Adel und Ruhm bringen kein wahres Glück (20-39). In den Versen 40-46 spielt nun Lukrez zur Fortsetzung des Beweises die Hypothese durch, es könnten vielleicht gewaltige Heer226

Zum gleichen Ergebnis kommt auch H. Diller, 17: "Das ist ganz aus einem Guss, ohne jedes formalisierende Verbindungsstück, aus dem gegenständlichen Gehalt der Gedanken selbst wächst das eindrucksvolle Bild heraus." Wenn hingegen C. Giussani, II, 161, zusätzlich meint, der Vergleich sei im dritten Buch weniger wirkungsvoll als in 6,3541, weil hier im vorausgegangenen Text nur von der Todesfurcht, im sechsten Buch allgemeiner von den curae (6,34) die Rede gewesen sei, dann berücksichtigt er nicht die Komposition des Proömiums zum dritten Buch, die zwingend auf den Vergleich hinausläuft sowie die zentrale Bedeutung, die nach epikureischer Vorstellung die Todesfurcht und ihre Überwindung im menschlichen Leben haben. Ausschlaggebend für Giussanis Fehleinschätzung bleibt dabei sein an sich so berechtigter Anstoß an 3,85f. 227 In der zweimaligen Dichotomie von Körper und Geist (vgl. corpus-mens in 2,18 bzw. corpus-animus in 2,37/39) bringt Lukrez den umfassenden Glücksbegriff des Epikureismus besonders prägnant zum Ausdruck.

56

Unechte Verswiederholungen

scharen den Menschen vor den Schrecken der Religion und der Todesfurcht schützen, um sie auf der Stelle als unsinnig abzutun. Diese Wiederlegung wird durch quod si eingeleitet, also in einen Konditionalsatz mit stark kausaler Färbung gesetzt, aus dem hervorgeht, daß nur die Macht der epikureischen Lehre von Furcht und Sorge befreit: 'Wenn wir sehen, daß die Vorstellung, große Heere könnten von den Ängsten befreien, lächerlich ist, wenn wir weiterhin sehen, daß auch Könige in Angst und Schrecken leben, daß auch Gold und prachtvolle Gewänder die Todesfurcht nicht aufheben 228 , dann kann es keinen Zweifel geben, daß nur die epikureische Lehre die Macht zur Befreiung hat'. Der Vers 53, der die logische Konsequenz aus den vorausgegangenen Beobachtungen zieht, schließt den Gedankengang vollständig ab, das Beweisziel, nur die epikureische Lehre kann zum wahren Glück führen, ist erreicht, das in 1-16 entworfene Bild vom Glück des Weisen und vom Elend des Ahnungslosen als stimmig und zutreffend erwiesen. Die Betonung fällt gänzlich auf die ratio229, an deren Allmacht es keinen Zweifel geben darf. An dieses in sich geschlossene und abgerundete Proömium noch irgend etwas anzuschließen, verbietet sich von selbst; der Vers 54 ist nach dem Erreichen des Beweisziels "geradezu platt" 230 , zumal man von cum ... praesertim eine Steigerung der Argumentation 231 erwarten müßte. Eine argumentative Steigerung dem Gedankengang "Es gibt keinen Zweifel an der Macht der epikureischen Lehre, insbesondere weil das ganze 232 Leben in Finsternis siecht" zu entnehmen, ist ganz unmöglich; der Vers 54 wurde vielmehr von einem Interpolator dilettantisch

228

All die im quod ii-Satz knapp aufgeführten falschen, da zur Beseitigung der Furcht wirkungslosen Güter, sind bereits vorher im Proöm ausführlicher dargestellt worden, sonitus armorum nec fera tela (49) entspricht 40-44, fulgorem (...) ab auro (51) den Versen 24-28, uestis splendorem purpureai (52) den Versen 34-37, reges rerumque potentis (50) dem Vers 41. 229 Cf. Giussani, II, 161: "... solo rimedio la ratio." 230 So G. Müller, Kinetik, 16. 231 Mit praesertim cum wird eine Begründung eingeleitet, die im ganz besonders hohen Maße gültig sein muß, vgl. ThLL X,2, Fase. VI, 865,6ff.: "in sermonem inducit aliquid prae ceteris considerandum, minime neglegendum, ut significetur i. q. maxime, imprimis sim." Diese Bedeutung von praesertim tritt auch im Lukreztext deutlich hervor, vgl. z.B. 1,138, wo Lukrez die Schwierigkeit seiner Aufgabe insbesondere mit der egestas der lateinischen Sprache begründet. 232 Omnis in 54 wirkt verdächtig als eine Wiederaufnahme von omtiis in 53, wo omnis eine zentrale Gewichtung zukommt.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

57

eingeflickt 233 , um mit dem Bezugswort tenebrae den schönen - und natürlich in sich schlüssigen - Vergleich aus dem dritten Buch anheften zu können. Wie fest dieser Vergleich im dritten Buch mit der vorausgegangenen Argumentation zusammenhängt und sie abschließt, wurde bereits versucht zu zeigen; hier ist sein Resultat (59-61) nichts als eine "Tautologie" 234 des Verses 53. Die Schlußfolgerung in 53 wurde aus dem Gedankengang des Proömiums harmonisch entwickelt, die Schlußfolgerung 59-61 aus den Versen 55-58, die mit dem Prooemium in keiner direkten Verbindung stehen 235 . Bereits H. Diller hat festgestellt, daß die Versgruppe 54-61 "die klare Gliederung des Prooemiums stört" 236 ; man kann die Verse nur halten, wenn man die Vorstellung eines "sich selbst verschlechternden Lukrez" 237 in Kauf nimmt; weitaus näher liegt eine spätere Interpolation 238 . In ep. 110,6 zitiert Seneca ohne Buchangabe die Verse nam ueluti pueri trepidant atque omnia caecis / in tenebris metuunt, ita nos in luce timemus. Obgleich nicht ausgeschlossen werden kann, daß Seneca beide Verse der Originalstelle im dritten Buch entnommen hat, legt die gedankliche Verwandtschaft seines Briefes mit dem zweiten Proöm des Lukrez beide erklären verfehlte menschliche Lebensweisen mit der Unkenntnis der philosophischen Wahrheit; beide wenden sich daher gegen ein von Ehrgeiz und Habsucht geprägtes Leben und preisen dagegen die Bedürfnislosigkeit - nahe, daß Seneca bereits die interpolierten Verse 2,54-61 in seiner Lukrezausgabe las. Damit wäre spätestens das Jahr 65 als terminus ante quem für die Interpolation gewonnen. Abschließend noch die erneute Wiederholung von 3,87-92 am Ende des Epikurlobs im Prooemium des sechsten Buchs:

233

C. Giussani, II, 161 charakterisiert den Vers als "senza alcun corretto rapporto con ciö che precede"; auch C. Lenz, 44 gibt zu, Vers 54 scheine "wie äußerlich angehängt". 234 G. Müller, Kinetik, 16. 235 Vgl. G. Müller, Kinetik, 16: "Die erste Schlußfolgerung stellt gegen den Glanz von Macht und Reichtum das Vermögen der ratio-, die zweite stellt gegen das Licht des Tages, das Kindern die Furcht nimmt, den Erwachsenen aber nicht nehmen kann, das stärkere Licht von naturae species ratioque. Die erstere schließt den vorausgehenden Gedankengang sinngemäß ab; die letztere ist ihm ebenso fremd, wie sie dem des 3. Proömiums organisch zugehörig ist." 236 237 238

H. Diller, 16. So G. Müller, Kinetik, 16. Sie wurde, soweit ich sehe, erstmals von C. Gneisse, 19f. aufgedeckt.

Unechte Verswiederholungen

58 6, 24-42 25

30

35 42

ueridicis igitur purgauit pectora dictis, et finem statuit cuppedinis atque timoris, exposuitque bonum summum, quo tendimus omnes, quid foret, atque uiam monstrauit, tramite paruo qua possemus ad id recto contendere cursu, quidue mali foret in rebus mortalibus passim, quod fieret naturali uarieque uolaret seu casu seu ui, cur sie natura parasset et quibus e portis occurri cuique deceret. [et genus humanum frustra plerumque probauit uoluere curarum tristis in pectore fluetus. nam ueluti pueri ... - ....41 naturae species ratioque. quo magis ineeptum pergam pertexere dictis.]

30 fieret lac. Susius: fuerit | | 31 cur Reeve: quod

Im Rahmen des Proömiums zum sechsten Buch bilden die überlieferten Verse 1-42 einen einheitlichen Block; sie enthalten den letzten expliziten Preis der Philosophie Epikurs. Dabei knüpft das Proömium an das Finale des fünften Buches, die Kulturentstehungslehre an, das von der "Antinomie zwischen zivilisatorischem Fortschritt und ethischer Verfassung der Menschheit" 239 beherrscht wird. Athen ist das Beispiel für den kulturellen Fortschritt der Menschheit, die Stadt gab als erste den kranken Menschen Nahrung, sie sorgte für Entspannung und Annehmlichkeiten im menschlichen Leben, sie stiftete Gesetze und als Geburtsstadt Epikurs dem menschlichen Leben Trost {primae dederunt solacia dulcia uitae, V. 4). Über das Lob Athens wird also Epikur eingeführt, seine Leistung für das Wohlergehen der Stadt ist der Trost, den die Menschen seinen göttlichen Erfindungen entnehmen können, die ihm nun unsterblichen Ruhm erbringen (5-8). Die mit nam folgenden Verse liefern eine Begründung vor allem der einen zuvor besonders hervorgehobenen Leistung Epikurs, der solacia dulcia uitae. Die Verse 9-16 spiegeln nämlich genau die Situation, die Epikur gemäß der Verse 1-3 in Athen vorfinden mußte - eine menschliche Gesellschaft, die an materiellen Gütern reich gesegnet ist, aber dennoch, weil eben der Trost durch die epikureische Philosophie noch fehlt, in Angst und Unglück lebt. Der tröstende Charakter des epikureischen Werkes wird also in diesem Proöm zum wesentlichen Thema erhoben, so wie beim Epikurlob im ersten Buch

239

So G. Müller, II, 79; zum Bezug von Finale des fünften und Proöm des sechsten Buches vgl. H. Diller, 13.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

59

(1,62-79) seine Überwindung der religio, des Aberglaubens und im dritten Buch (3,1-30) seine Leistung als Lichtbringer, als Verkünder der kosmologischen Wahrheit im Vordergrund standen 240 . Nun also Epikur, der Tröster! Das Vorgehen Epikurs, das dem eines Arztes gleicht, beschreibt Lukrez in den Versen 17ff. Epikur begreift, daß die menschliche Seele selbst an dem Unheil schuld ist, die Lukrez mit einem lecken und undichten Gefäß 241 gleichsetzt, das zum einen nicht in der Lage ist, die einströmenden Annehmlichkeiten zu behalten und deshalb nie wirklich gefüllt werden kann (18-21), zum anderen mit seinem bitteren Eigengeschmack alle einfließenden Dinge von vornherein vergällt (22/23). Epikur hat also die zwei Ursachen des menschlichen Unglücks trotz materiellen Wohlstands und Erfolgs erkannt 242 ; auf die Diagnose folgt konsequent (igitur, 24) die Abhilfe: die Seele wird durch die Wahrheit der epikureischen Lehre gereinigt (24), was dem zweitgenannten Übel abhilft; zudem beseitigt sie Begierde und Furcht, die Ursachen des ersten Übels. Die Beseitigung der Übel ist aber nur der erste Schritt der Heilung, der zweite ist die Vorgabe des richtigen Lebens. Auch zu diesem weist Epikur in zwei komplementären Schritten den rechten Weg. Zuerst legte er das bonum summum, das für ihn in der richtigen Lust besteht, offen und wies den Menschen den Weg, wie sie dieses erlangen können (26-28). Gleichzeitig erklärte er ebenfalls, welche Übel den Menschen erwarten, und wie er diesen am besten entgegentreten kann. Als übergeordneter Hauptsatz zu quidue mali foret (29) ist exposuit aus Vers 26 zu ergänzen, wobei sprachlich der komplementäre Bezug durch die parallelen Einsätze bonum summum ... quid foret (26f.) und quidue mali foret (29) besonders eindrucksvoll hervorgehoben wird. G. Müller hat die Funktion der Verse 26-31 innerhalb des Proömiums zum sechsten Buch klar erkannt 243 , indem er ihre besondere Bedeutung für das Verständnis der Pest in Athen am Ende des Buchs betont, da sie "vor allem im Hinblick auf dasjenige Unheil formuliert sind, das als letztes im 6. Buch und als unvergleichlich brutalstes naturwissenschaftlich zu erklären sein wird" 244 . Epikurs Hinweis auf diese von der 240

Das längste Eulogium im fünften Buch (1-51), das Epikur als Gott feiert, ist allgemeiner; es geht von den merita (5,4) Epikurs aus, die würdig sind, ihn unter die Götter zu reihen, da sie die Leistungen anderer Götter bei weitem überbieten. 241

Die Metonymie v o n animus und uas ist bereits aus 3, 936f. bekannt. Auffallend die gehäufte Verwendung v o n Verben, die "erkennen" ausdrücken: (9), intellegit (17), uidebat (20), cernebat (23). 242

243

G. Müller, Finalia, 197ff.; ähnlich bereits Kinetik, 11.

244

G. Müller, Finalia, 219.

uidit

60

Unechte Verswiederholungen

Natur gegebenen mala ist selbst gegen ein Übel wie die Pest als "Verteidigungstor" (vgl. 32) ausreichend. Aus diesem Grund muß auch der von F. Polle vorgeschlagenen Athetese der Verse 30f. widersprochen werden. Polles Haupteinwand, Lukrez dürfe in seinem Lob des Epikur nicht "jene verhältnissmässig unbedeutende lehre von den natürlichen Übeln" 245 betonen, verkennt die Wichtigkeit gerade dieser Lehre innerhalb des sechsten Buches, das mit dem schlimmsten von der Natur gegebenen Übel, der Pest in Athen, endet. Der Ausdruck naturali... casu seu ui ist von Giussani treffend erklärt worden: "Lucrezio distingue qui mali accidentali, come se tu caschi e ti rompi una gamba, e mali non accidentali, come gli acciacchi della vecchiaia" 246 ; das große Hyperbaton, das auch die Verbindung fieret... uarieque uolaret unterbricht, ist wohl mit der besonderen Wichtigkeit von naturali zu erklären. Unbefriedigend ist lediglich das überlieferte quod in Vers 31, da der Kausalsatz quod sie natura parasset nach naturali... casu seu ui ohne jegliche Bedeutung ein tautologisches Anhängsel ist. Ich habe daher M.D. Reeves (mir mündlich vorgeschlagene) Konjektur cur aufgenommen 247 , womit eine neue, von Epikur beantwortete, Frage nach der Ursache der naturgegebenen Übel eingeleitet wird, woran Vers 32 gut anschließt: die Erkenntnis der Ursachen weist den Weg zur Abhilfe. Epikurs "Heilung" der Menschheit vollzieht sich also in drei Schritten: Er diagnostiziert die Krankheit und ihre Ursachen (9-23), er beseitigt die Ursachen (24-25) und weist zudem den richtigen Weg, der zum bonum summum führt und gleichzeitig den Menschen gegen die naturgegebenen Übel auf der Welt wappnet (26-32). Erst dank dieser positiven Botschaft kann seine Lehre wirklich erfreulich und trostspendend (vgl. solacia dulcia, V. 4) sein. Über diesen Dreischritt ist der Gedankengang des Proömiums abgeschlossen, das Beweisziel, Epikur habe als erster dem menschlichen Leben solacia dulcia gegeben, erreicht; eine weitere Steigerung nicht mehr möglich. Die Leistungen Epikurs als "Herzensreiniger" 248 sind nach diesen Versen "nach der positiven wie nach der negativen Seite hin vollständig gewürdigt" 249 .

245

F. Polle, Zu Lucretius, Phil., 25, 1867, 282. Giussani, IV, 180. 247 Die Verderbnis von cur (QUOR) zu quod ist leicht erklärbar; zur Bedeutung von ('auf welche Weise') vgl. nur Lucr. 2,764. 248 H. Diller, 16. 249 H. Diller, 16. 246

cur

Wiederholungen längerer Textabschnitte

61

Hingegen können die folgenden Verse 33-42 nicht überzeugen. 3334 wiederholen "in leerer Weise" 250 den Inhalt der Verse 14-16, also jene Sorgen, die sich die Menschen auf Grund ihrer Unkenntnis machen und die in den Augen Epikurs immer, nicht meistens - plerumque ist also sinnwidrig - grundlos sind 251 . Der Anschluß von Vers 33 mit et ist ungeschickt und wirkt wie angeklebt, da in 33 ein neuer Hauptsatz beginnt und die Reihe der indirekten Fragesätze nicht mehr fortgesetzt wird. Weiter ist die Bedeutung von frustra in Vers 33 bemerkenswert. Frustra muß hier "ohne Grund 252 " heißen, die andere und ältere Bedeutung, "vergeblich", ergibt keinen Sinn: Man macht sich Sorgen und hat Angst aus einem bestimmten Grund, nicht aus einer bestimmten Absicht heraus, etwa um einen bestimmten Erfolg zu erzielen. Frustra hat in adverbieller Verwendung bei einem Verb eben diese beiden Grundbedeutungen 253 , bei Lukrez jedoch heißt frustra an allen anderen acht Stellen eindeutig "umsonst, vergeblich" 254 , nur an dieser "ohne Grund". Diese Abweichung vom sonstigen Sprachgebrauch ist bemerkenswert. Daß die Verse 33/34 mit ihrem Rückgriff auf 14-6 die dreigliedrige Komposition mit dem summum bonum als Höhepunkt zerstören, versteht sich von selbst; ebenso ist auch die aus 3,87-92 wiederholte Versgruppe 35-41 zu streichen, die formal an curas, Vers 34, in einem "künstlichen Übergang" 255 anknüpft 256 und nicht für sich allein in Anschluß an 250

G. Müller, II, 84. Den Vers 34 scheint der Interpolator nach dem Vers 6,74 konstruiert zu haben; während hier das Bild der Fluten von Sorgen wälzenden Menschen (uoluere curarum tristis in pectore fluctus) nur um seiner selbst willen verwendet ist, steht in 6,74 die Vorstellung der große Fluten von Zorn wälzenden Götter (magnos irarum uoluere fluctus) in sehr schönem Kontrast zu ihrem eigentlichen Seelenfrieden (placida cum pace quietos, 73 >251

252

Vgl. die zutreffenden Übersetzungen H. Diels (unbegründet), A. Ernouts (sans raison), M.F. Smiths (... that mankind had no reason); unrichtig dagegen C. Bailey (in vain), K. Büchner (vergebens); J. Godwins Übersetzung (for nothing) enthält beide Bedeutungen von frustra. 253 Vgl. ThLL VI, 1,1431,lff.: falluntur homines (...) spe; (...) sine effectu, incassum, in vanum (...) sine emolumento, utilitate und 1434,74f.: falluntur homines opinione, iudicio; (...) temere, inaniter, iniuria, sine causa. 254 Besonders anschaulich 4,1099, typisch auch das zweimal verwendete Trikolon temere incassum frustra (2,1060; 5,1002). 255 H. Diller, 17. 256 C. Giussani, II, 161, behauptet zu Recht, die Verse 2,55-61 ( = 6 , 3 5 - 4 1 ) würden gut an 6,34 anschließen, hat aber übersehen, daß die Verse 33/34 selbst nicht in den Kontext passen und vielmehr interpoliert sind, um den folgenden Vergleich anfügen zu können.

62

Unechte Verswiederholungen

Vers 32 gelesen werden kann, da zuvor von den Ängsten der Menschen nicht die Rede war. Vielmehr hat der Interpolator (ähnlich wie im zweiten Buch) die Verse 33-4 selbst hinzugedichtet, um die Wiederholung einfügen und das Proömium nach seinem Geschmack mit dem aus dem dritten Buch übernommenen Vergleich abschließen zu können. Der Vergleich ist auch inhaltlich an dieser Stelle verfehlt, da Lukrez am Ende des Epikurlobs im sechsten Buch nicht die irrationale Todesfurcht, die im dritten Buch so wirkungsvoll mit der Angst der Kinder in der Dunkelheit verglichen wird, sondern die doch eher verständliche Angst vor unheilvollen Naturphänomenen (wie etwa der Pest) im Auge hat 257 . Der Wiederholung fügt der Interpolator zur Abrundung noch seinen eigenen Vers 42 hinzu, der eng mit 39-41 verbunden ist ('Die ängstigende Finsternis der Seele kann nicht mit den Strahlen der Sonne, sondern nur mit dem klaren Verstandeslicht der epikureischen Lehre vertrieben werden: umso mehr will ich mit der Darlegung dieses Systems fortfahren. ') und neben Vers 46 stört. Denn erst der Propositio (43-55) ist nach der Zusammenfassung des vorausgegangenen fünften Buches (43-46a) die Ankündigung der für das sechste Buch noch ausstehenden Erörterungen formal angemessen und im Text mit quae restant percipe porro klar zum Ausdruck gebracht; hingegen findet sich in keinem anderen Buch des Lukrez eine Selbstermahnung zu weiteren Arbeiten vor der Propositio. Erst nach der von G. Müller vorgeschlagenen Athetese von 33-42 kommt das eigentliche Proömium (1-32) klar zur Geltung, an das sich dann 43ff. die Propositio des sechsten Buches folgerichtig fügt. Zusammenfassend hat sich gezeigt, daß das Gleichnis nur im dritten Buch von Lukrez selbst geschrieben worden ist; im zweiten und im sechsten Buch hat es hingegen ein wohl gemeinsamer Interpolator eingeflickt, wobei er den Anschluß nach oben an den echten Lukreztext durch die selbst verfaßten Verse 2,54 sowie 6,33f. künstlich und unbefriedigend herstellte. Motivisch streng von diesen beiden Interpolationen zu scheiden ist der Zusatz 3,85f., der nur zufällig ebenfalls den Gleichnisversen an ihrer ursprünglichen Stelle vorangeht, dort allerdings als glossierende Erläuterung des Wortes pietas in 84 verfaßt worden ist und somit den engen Zusammenhang zwischen dem Gleichnis und dem vorherigen Gedanken beeinträchtigt.

257

Vgl. 6,29-32 und insbesondere 46ff. sowie G. Müller, II, 84f.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

63

Ein Teil dieser nur im dritten Buch echten Versgruppe wurde bereits im ersten Buch am Ende des Proömiums von einem Interpolator eingefügt: 1,140-150 140

145

150

sed tua me uirtus tarnen et sperata uoluptas suauis amicitiae quemuis efferre laborem suadet et inducit noctes uigilare serenas, quaerentem dictis quibus et quo carmine demum clara tuae possim praepandere lumina menti, res quibus occultas penitus conuisere possis. [hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae *species ratioque.] principium cuius hinc nobis exordia sumet, nullam rem e nihilo gigni diuinitus umquam.

In den Versen 136-139 spricht Lukrez von seinen Schwierigkeiten, mit der lateinischen Sprache den griechisch-philosophischen Stoff zu bewältigen. Aber, so fährt er 140 mit sed fort, die Vorbildlichkeit des Memmius, den er anspricht, ohne seinen Namen zu nennen, und die Hoffnung, seine Freundschaft zu gewinnen, lassen Lukrez auch die Mühen nächtlicher Arbeit bei dem Ringen um den passenden Ausdruck gerne auf sich nehmen, um dem Memmius mit gebührender Klarheit den tiefen Blick auf die verborgenen Dinge zu ermöglichen. Auf diesen in sich geschlossenen Gedankengang folgen nun in der Überlieferung die Verse 146-148, die mit igitur eine Folgerung aus dem Vorausgegangenen ankündigen. Diese Folgerung ist evident absurd 258 , zwischen 136-145 und 146-148 besteht nicht die geringste logische Verbindung, weder vom hic terror animi noch von tenebrae war in 136-145 die Rede. Daß die von igitur eingeleitete Folgerung weit zurückgreifend an 132-135 anschließen soll, ist zum einen sprachlich bedenklich: Man kann mit igitur nicht einfach eine Folgerung aus etwas ziehen, was zehn Verse zurückliegt und von einem völlig eigenständigen und abgeschlossenen Gedan-

Der Gedanke würde etwa lauten: In der Hoffnung auf deine Freundschaft habe ich mich um höchste sprachliche Klarheit bemüht, also ist es notwendig, die selische Furcht und die Finsternis zu beseitigen.

64

Unechte Verswiederholungen

kengang unterbrochen wurde 259 , zudem weist das Demonstrativpronomen hic auf etwas Naheliegendes, nicht aber auf weit entfernt Liegendes zurück 260 . Es gibt aber auch ein philosophisches Argument, das die Verse in jedem Fall verdammt und auch eine eventuelle Umstellung, etwa nach 135, ausschließt. Der vermeintliche animi terror in 134-135, die Schau von Totengeistern im Krankheitszustand oder im Schlaf, kann durch die epikureische Philosophie (naturae species ratioque) nicht beseitigt (was discutere bedeutet) werden 261 ; diese kann nur das Phänomen als solches durchschauen 262 und dem wieder Geheilten bzw. Erwachten (uigilantibus, 133) über das wahre Wesen dieser Phänomene unterrichten und als Vernünftigen auch beruhigen. Die Verse 146-148 sind also mit Gneisse und K. Müller 263 zu athetieren, der Gedanke 136-145 ist, wie gezeigt, in sich stimmig und wie kein zweiter geeignet, das Proömium abzuschließen. Lukrez teilt uns in diesen an Memmius gerichteten, persönlichsten Versen des ganzen Werkes sein eigenes Ringen um den adäquaten sprachlichen Ausdruck mit, in dem Bestreben, die epikureische Philosophie in höchster Klarheit darzustellen. Nirgendwo ist solch ein persönliches Bekenntnis besser aufgehoben als an gerade der Stelle, wo die eigentliche Darstellung der epikureischen Lehre anfängt.

2,177-181 ( = 5,195-99) Diese Wiederholung von fünf Versen ist an beiden Stellen Bestandteil eines längeren antitheologischen Exkurses, der im fünften Buch fraglos seinen echten Platz hat.

259

Nicht überzeugen können die Rechtfertigungen Regenbogens, 63 ("so weist v. 146 (...) zurück auf v. 133 und weiter auf 106 und 103") oder C. Lenz', 42 ("aber dieser Seelenschrecken ist der Begriff, der das ganze Proömium beherrscht" - was nicht richtig ist) . 260 Vgl. J. Wackernagel, Vorlesungen über Syntax, Bnd. II, 102; Hfm-Sz. 180. 261 Vgl. C. Gneisse, 70: Sed omiserunt eum terrorem (...) ne naturae quidem specie ac ratione discuti posse, quoniam in febribus somniisque nobis obrepit invitis nesciisque. 262 Vgl. 131/133: uidendum, (...) quae res nobis (...) mentes terrificet. 263 K. Müller ergänzt nach 148 einen Vers (Nunc age, naturae rationem percipe, Memmi.), da der Anschluß von cuius (149) an das Vorausgegangene - etwa an carmine (143) zu hart ist. Daß Interpolationen eine Lücke verkleiden, ist ein weitverbreitetes Phänomen, siehe G. Jachmann, Textg. St., 528f., Anm. 1; im Lukreztext vergleiche man die Interpolation 6,383-5.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

65

Der Exkurs im fünften Buch (110-234) gegen einen göttlichen Ursprung des Weltalls und gegen jegliches Eingreifen der Götter in das Weltgeschehen ist von Lukrez selbst ausdrücklich gerechtfertigt worden 264 und in diesem Buch, das die Entstehung des Weltalls einschließlich der Erde und des Lebens auf ihr beschreiben wird, ohne jeglichen kompositionellen Anstoß 265 . Im ersten Teil wendet er sich gegen den Glauben an eine göttliche Natur der Gestirne (110-45), im zweiten (146234) gegen ihren vermeintlichen Einfluß auf das Weltgeschehen. Dabei spricht er zunächst den Göttern jeden Grund und jede Möglichkeit ab, die Welt zu schaffen (156-86), die er vielmehr als ein Zufallsergebnis der Atombewegung erachtet (187-94); nach dieser naturphilosophischen Erklärung folgen in 200-34 menschliche Bedenken gegen ein gottgelenktes Weltgeschehen: Die Mängel der Welt und die Hinfälligkeit des Menschen schließen dieses aus. Den fließenden Übergang zwischen diesen beiden Gedanken leisten die folgenden, im zweiten Buch wiederholten Verse. 5,195-99 195

Quod < s i > iam rerum ignorem primordia quae sint, hoc tarnen ex ipsis caeli rationibus ausim confirmare aliisque ex rebus reddere multis, nequaquam nobis diuinitus esse paratam naturam rerum: tanta stat praedita culpa.

195 si add. Marullus

Mit Vers 195 verweist Lukrez auf die in 187-94 dargelegte naturphilosophische Erklärung - selbst wenn er von ihr nichts wüßte 266 , würde er aus vielen anderen Gründen an ihrem göttlichen und für den Menschen ausgerichteten Ursprung zweifeln: Die große Zahl ihrer Fehler zeigt es (196-9). Die aliae res, die die tanta culpa ausmachen und durch principio (200), praeterea (218) und tum porro (222) nach drei Gesichtspunkten unterteilt sind, beschließen eindrucksvoll den antitheologischen Exkurs. In diesem ganz aus einem Guß geschmiedeten Passus leisten die Verse 195-9 einen tadellosen Übergang von der naturwissenschaftlichen

264

5,110-125. Vgl. dazu Giussani, IV, 16 gegen Lachmanns, Bernays' und Munros Bedenken zu der kompositionellen Berechtigung von 110-234. 266 Marullus' Ergänzung von si ist evident; vgl. Bailey, 1,99 (mit zahlreichen Beispielen im Anschluß): "Lucretius not infrequently uses the present subjunctive with si to express an untrue supposition in almost the same sense as normal Latin employs the imperfect subjunctive". 265

66

U n e c h t e Verswiederholungen

Welterklärung zu den auf den Menschen bezogenen Bedenken gegen eine göttergelenkte Welt. Auch die Ausführlichkeit des Übergangs ist angesichts der Wichtigkeit der abschließenden Argumente 2 6 7 tief berechtigt. Die Stelle im zweiten Buch ist hingegen sehr viel problematischer und bedarf ausführlicher Erörterung in ihrem Gesamtzusammenhang: 2,157-186

160

at quae sunt solida primordia simplicitate, cum per inane meant uacuum, nec res remoratur ulla foris, atque ipsa suis e partibus unum unum in quem coepere locum conixa feruntur, debent nimirum praecellere mobilitate, et multo citius ferri quam lumina solis, multiplexque loci spatium transcurrere eodem tempore quo solis peruolgant fiilgura caelum. *

165

170

175

180

267

nec persectari primordia singula quaeque, ut uideant qua quicque geratur cum ratione. At quidam contra haec, ignari materiai, naturam non posse deum sine numine credunt tanto opere humanis rationibus admoderate tempora mutare annorum frugesque creare, et iam cetera, mortalis quae suadet adire ipsaque deducit dux uitae dia uoluptas et res per Veneris blanditur saecla propagent, ne genus occidat humanum. quorum omnia causa constituisse deos cum fingunt, omnibus rebus magno opere a uera lapsi ratione uidentur. [nam quamuis rerum ignorem primordia quae sint, hoc tamen ex ipsis caeli rationibus ausim confirmare aliisque ex rebus reddere multis, nequaquam nobis diuinitus esse creatam naturam mundi : tanta stat praedita culpa.] quae tibi posterius Memmi faciemus aperta, [nunc id quod superest de motibus expediemus.] Nunc locus est, ut opinor, in his illud quoque rebus

Lukrez greift in 200-234 auf alte, in der Streitfrage der Theodizee immer wieder vorgetragenen Argumente (Belege bei Bailey, 111,1351) zurück; mit seiner antitheologischen aber nicht pessimistischen Weltsicht (so richtig M. Gale, 223f. mit Anm. 68) wird sich wenig später Vergil ausführlich in den Georgica (1,118-203) auseinandersetzen.

Wiederholungen längerer Textabschnitte 185

67

confirmare tibi, nullam rem posse sua ui corpoream sursum ferri sursumque meare;

158 remoratur Pontanus: remorauit | | 160 conixa ed. Wer.: conexa | | ante 165 lac. ind. Pontanus | | 168 credunt Pontanus: rentur Marullus: reddi | | 181 tanta stat Lachmann (cf. 5,199): quamquam: quae tanta est Pontanus | | 184 nunc: nam Bentley

Innerhalb des ersten Hauptteils des zweiten Buches, der Bewegungslehre der Atome, werden zwei eng zusammengehörige Einzelaspekte, die Schnelligkeit der Atome und die Richtung ihrer Bewegung, von einem antitheologischen Exkurs unterbrochen. Die Darlegung der Geschwindigkeit beginnt mit Vers 142, die der Bewegungsrichtung in 184. Hingegen ist es schwierig, den Anfang des antitheologischen Exkurses festzusetzen, da nach Vers 164 ohne Zweifel eine Lücke angesetzt werden muß und der Bezug der Verse 165f. unklar ist. Die Schnelligkeit der Atome verdeutlicht Lukrez 142ff. mit der des Sonnenlichts, die (obgleich sehr hoch) doch durch den Luftwiderstand und die Bündelung des ausgestrahlten Sonnenlichts reduziert wird (142-56). Solcher Widerstand tritt den einzelnen durch das Leere fliegenden Atomen nicht entgegen; sie müssen daher das Sonnenlicht an Schnelligkeit weit übertreffen und können in derselben Zeit einen weitaus größeren Raum durcheilen (157-64) 268 . Vor den beiden fragmentarischen Verse 165f. muß etwas ausgefallen sein 269 , so daß der Sinn der beiden Verse schwer erfaßbar ist, zumal das Subjekt zu persectari und uideant nicht erkennbar ist. Gegen Lachmann, Bernays, und Munros Auffassung 270 , die beiden Verse gehörten bereits zu dem folgenden antitheologischen Exkurs (167-82), hat Giussani zu Recht eingewendet, daß dieser erst durch das scharf antithetische at quidam contra haec (167) eingeleitet wird. Seiner Auffassung von einer sehr langen Lücke 271 , in der entsprechend zu primum (2,144) erst noch

268

G. Müller, Kinetik, 19, Anm. 1 stellt die Echtheit von 163f. ( = 4,207f.) in Frage; 163f. ist jedoch inhaltlich keine Dublette sondern eine Folgerung aus 162: da die Atome schneller sind als die Sonnenstrahlen, durchqueren sie in derselben Zeit einen größeren Raum. Den bei Lukrez sonst nicht mehr belegten Ausdruck solis.. fulgura hat Giussani (II, 179f.) treffend als "bellissimo...per raggi, qui dove si tratta appunto della fulminea loro velocità" erklärt. 269

Pontanus' Annahme einer Lücke nach 164 wurde allein von Bernays zurückgewiesen, der persectati konjiziert und 165f. hinter 167 stellt - ein "doppio rimedio, rimedio sospetto", wie Giussani (11,180) wohl zu Recht kritisiert hat. 270 Ihre Vorstellungen sind von Bailey, 11,828 besprochen und zu Recht zurückgewiesen worden. 271 Smith (106 in seiner Ausgabe) vermutet etwa den Ausfall eines folium im Archetypus und setzt eine Lücke von 52 Versen an.

68

Unechte Verswiederholungen

mindestens ein weiteres Argument für die Geschwindigkeit der Atome 272 gefolgt und darauf entsprechend der Ankündigung in 2,62f. die Frage erörtert worden sei, "come questi moti ciechi e meccanici spieghino l'origine delle cose e la vita del mondo" 273 , woran 167 antithetisch anschließe, sind Diels, Bailey und Smith gefolgt; sie scheint auch mir trotz G. Müllers Einwänden 274 sehr wahrscheinlich. Zuerst übergeht Müller nämlich das Adverb primum (144), das an dieser Stelle eher eine logische Funktion (im Sinn von principio) hat als eine temporale in Verbindung mit cum215. Weiter hat Müller nicht recht, wenn er behauptet, daß die in den Versen 62f. gestellte Frage quo motu genitalia materiai Corpora res uarias gignant genitasque resoluant in 62-141 hinreichend beantwortet worden sei 276 ; insbesondere ist vom Auflösungsprozeß in ihnen mit keinem Wort die Rede. Der in 167ff. beginnende Exkurs setzt klar eine materialistische Welterklärung zumindest in knappster Form ('Alles in der Welt ist das Werk der sich unendlich schnell bewegenden Atome') voraus, so daß gewiß mit einer umfangreicheren Lücke entsprechend Giussanis Auffassung zu rechnen ist 277 . Mit 167 beginnt dann der antitheologische Exkurs, der sich mit contra haec dagegen wendet, das gesamte Weltgeschehen nur aus der unendlich schnellen Bewegung der Atome zu erklären, und statt dessen eine göttliche Fügung des Weltgeschehens voraussetzt, was dann nach dem überlieferten Text in 177-82 zurückgewiesen wird. Die Echtheit des gesamten Exkurses wurde bereits im 19. Jahrhundert von A. Forbiger 278 und im 20. Jahrhundert von G. Müller 279 angezweifelt. Müller macht sich dabei seine eigene Rekonstruktion der Lücke vor 167 (methodisch unkorrekt) zu Nutze, um bereits die Einleitung des Exkurses mit contra haec als "etwas zu vage" 280 zu kritisieren. Eine glatte Ver-

272

Vgl. Giussani, 11,178. Giussani, 11,180. 274 Kinetik, 20. Er rechnet mit einer Lücke von nur wenigen Versen, die er folgendermaßen ergänzt: "die Schnelligkeit der Atome übertrifft die des Sonnenlichts, geht also weit über alles menschliche Fassungsvermögen hinaus, so daß die Menschen wesensmäßig nicht in der Lage sind, Atombewegungen zu bemerken." 275 cum primum ist im Lukrez häufig belegt, jedoch steht primum an keiner anderen Stelle vor cum. 276 Kinetik, 19. 277 Umfangreiche Lücken sind ja nichts außergewöhnliches im Lukreztext; vgl. nur die Lücke vor 4,230. 273

278 40_44 279 280

Kinetik, 19-23. Kinetik, 20.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

69

bindung zwischen 167 und einem mit 165f. abgeschlossenen Gedanken ist, wie Giussani gezeigt hat, durchaus herstellbar, so daß für die Echtheit des Passus allein die Verse 167-83 selbst sowie ihr Anschluß nach unten hin ausschlaggebend sind. Der Wiederholung aus dem fünften Buch (2,177-81) geht zunächst ein langer, die Verse 167-74a umfassender und bis auf den formelhaften Vers 176 von Wiederholungen freier Satz voraus, der den theologischen Einwand gegen die epikureische Welterklärung enthält. Er verweist auf das für den Menschen so günstige und ohne göttliche Wirkung nicht vorstellbare Funktionieren der Welt, die feste Jahreszeiten hat und dem Menschen Nahrung und dank der Liebe die Möglichkeit zur Fortpflanzung bietet. Dieser Einwand formuliert gedanklich klar das anthropozentrische Weltbild der Stoa, die die Welt als für den Menschen geschaffen erachtet 281 . Sprachlich sind die Verse unbestreitbar schwierig, ohne daß jedoch die Herausgeber Lachmann und K. Müller Lukrez als deren Urheber in Frage stellen 282 , wie es G. Müller tut 283 . So kann der Genitiv ma.teriai in Abhängigkeit von ignari mit 4,436 (maris ignaris) gestützt werden 284 ; im übrigen spricht der archaische Genitiv materiai ebenso für die Authentizität des Passus wie das nur an dieser Stelle gebrauchte, ansonsten nicht belegte Adverb admoderate (169); die Neubildung von Adjektiven und Adverben ist gerade ein Kennzeichen lukrezischen Sprachgebrauchs 285 . Et iam cetera (171) ist als weiteres Objekt in Parallelität zu frugesque auf creare aufzufassen: 'Die Natur bringt die Früchte hervor und weitere Dinge, die die Lust die Menschen aufzusuchen rät'. Dieser Einwand wird in 174b-76 scharf zurückgewiesen: Wer all diese Dinge (geregelte Jahreszeiten, Nahrung, Fortpflanzung) auf das Einwirken der Götter zurückfuhrt, befindet sich im Irrtum. Als Begründung für diese Behauptung folgen nun die Verse 177182, die außer dem letzten mit den Versen 5,195-9 nahezu identisch sind. Doch statt des einwandfreien quod si iam im fünften Buch werden die Verse im zweiten Buch mit nam quamuis eingeleitet, was G. Müller zu 281

Vgl. Ernout-Robin, I, 235f. mit dem entsprechenden Quellenmaterial. Lachmann spricht von 167-83 als einem zwar fehlplazierten, jedoch eindeutig von Lukrez verfaßten Passus; Vgl. Komm., 83: "nihilo minus certissimum est ea quae ... interiecta sunt Lucretiana esse". 283 Kinetik, 22. 284 Herangezogen von Bailey, 11,830. Zur Bedeutung von materies vgl. Leonard-Smith, 327: "i.e., of the atomic basis and structure of things". 285 Vgl. Bailey,!, 137. 282

70

Unechte Verswiederholungen

Recht als eine "absurde Variante" 286 bezeichnet hat: "Denn in welchem Sinne könnte der Dichter, mitten im Kontext der Atomlehre, sagen: obwohl ich die Natur der Atome nicht kenne?". 287 Die Variante wurde notwendig, um die Verse an dieser Stelle als Begründung anzuführen daher mußte das bei Lukrez regelmäßig wie ein Irrealis gebrauchte quod si... ignorem dem eindeutig konzessivennatn quamuis ignorem weichen. Diese Veränderung, die eine Verneinung des eigenen Wissens nach sich zieht, kann unmöglich Lukrez selbst vorgenommen haben, so daß die gesamte Wiederholung unecht sein muß 288 . Im übrigen ist die Begründung völlig unbefriedigend, da sie in einer erneuten Aussage, der von der Schuldhaftigkeit der Welt, endet. Statt die vorgebrachten Irrlehren zu widerlegen, wird allein auf eine Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt, offensichtlich die Stelle im fünften Buch, verwiesen. Es ist zwingend auszuschließen, daß Lukrez selbst in zehn Versen die Irrlehre einer anderen Schule darlegt (167-76), um dann zur Widerlegung seine eigene philosophische Kenntnis zu verneinen und statt dessen einen ethischen Beweisgang einzuleiten (177-81), dessen Vollzug er dann auf später verschiebt (182). Die Lösung, die 182 bietet, ist angesichts des Aufwands von 15 vorausgehenden Versen unzumutbar. Die Verse 177-81 müssen interpoliert sein. Aus dieser evidenten Interpolation schließt G. Müller nun, daß der gesamte theologische Exkurs (167-83) unecht sein müsse, da die Verse 167-76 allein ohne Gegenargumente unmöglich seien, der Vers 176 magno opere a uera lapsi ratione uidentur "nach hinten sowohl wie nach vorn in der Luft" 289 hänge. Als Grund für den langen Einschub nennt er nun den "Wunsch eines Interpolators, das antitheologische Motiv (...) um jeden Preis hier in den Text zu bringen" 290 . Jedoch wäre dieses Interpolationsmotiv einmalig im Lukreztext; weiter haben wir gesehen, daß gegen die Verse 167-76 kaum Einwände gefunden werden können, die eine Athetese rechtfertigen. Zudem hat Müller nicht recht mit seiner Behauptung, der Vers 176 stünde auch nach vorne ohne jegliche Stütze da; die Behauptung, der Glaube an die Götter wegen des sinnvollen

286

Kinetik, 21. Kinetik, 21. 288 Die Veränderung in Vers 177 ist gleichzeitig ein Indiz dafür, daß die Interpolation erst ab 177 beginnt: Der Versbeginn mußte an den lukrezischen Zusammenhang angeglichen werden (Hinweis O. Zwierlein). 289 G. Müller, Kinetik, 22. 290 Kinetik, 23. 287

Wiederholungen längerer Textabschnitte

71

Weltgeschehens sei verfehlt, kann, ja muß sogar, wenn die adversativ eingeleiteten Verse 167ff. überhaupt einen Sinn haben sollen, zuvor, also in der Lücke vor 165, gestanden haben. Wenn aber in eben dieser Lücke ein eindeutiger Beweis gegeben wurde, daß die Welt nichts anderes ist als ein Zufallsprodukt der unendlich vielen Atome in unendlich schneller Bewegung, ein Beweis zudem, den Lukrez in 62f. angekündigt hat, dann ist der stoische Einwand der Verse 167-74b von vornherein entkräftet und kann mit der in 176 geäußerten Bemerkung unter Verweis (vgl. 2,182) auf die Abhandlung im fünften Buch (195-234) abgewiesen werden. Vers 176 erinnert dabei an Vers 1,711, wo Lukrez die zuvor (705-10) geäußerten monistischen Theorien ebenfalls ohne jede weitere Begründung zurückweist. Die Gründe hat Lukrez ebenfalls zuvor genannt: in seiner ausführlichen und polemischen Auseinandersetzung mit der Theorie des Heraklit (635-704). Die strukturelle Ähnlichkeit beider Partien könnte nicht größer sein. Sind unsere Überlegungen richtig, so ergibt sich auch für die Interpolation von 177-81 ein überaus plausibles Motiv: Sie zitieren den Anfang eben jener Stelle, auf die Vers 2,182 verweist; durch Wiederholungen Querverbindungen zwischen verschiedenen Kontexten ähnlichen philosophischen Argumentierens herzustellen, ist die geläufigste Interpolationsform im Lukreztext 291 . Vers 183 scheint nach dem mit 176 und 182 zurückgewiesenen theologischen Gegenargument wieder zur eigentlichen Darstellung, der Bewegungslehre zurückzuführen. Gegen diesen Vers hat jedoch G. Müller zu Recht eingewendet, daß auf ihn 184 unmöglich folgen könne 292 , da die Anapher von nunc den beiden technischen Versen ein unangebrachtes Pathos verleiht 293 . Der bereits von Lambin kritisierte Vers ist eine Glosse zu 184, die das etwas vage in his ... quoque rebus durch de motibus präzisiert. An den auf eine spätere Untersuchung verweisenden Vers 182 quae tibi posterius ... faciemus aperta fügt sich die Einleitung des zur Hauptuntersuchung des zweiten Buchs zurückführenden Vers 184

291

Vgl. nur die signifikanten langen Interpolationen 3 , 8 0 5 - 1 8 ; 4 , 2 1 6 - 2 9 . Auch die Verse 1,44-9 sollten als vorwegnehmende Erklärung zu 1,54 aufgefaßt werden; vgl. meine Ausführungen, S. 40.

292

Über die beiden Verse hat bereits Forbiger, 41 gespottet, sie könnten nacheinander nicht "sine taedio et molestia" gelesen werden.

293

G. Müller, Kinetik, 2 0 f . Bentleys Konjektur nam (statt nunc) in 184, sollte zumindest von den Editoren erwähnt werden, die 184 halten.

72

Unechte Verswiederholungen

nunc locus est sehr gut. Mit der Interpolation 177-81 hat die Glosse 183 kaum etwas zu tun. Unsere Behandlung des Passus 167-83 muß mit Hypothesen arbeiten - einer umfangreichen Lücke vor 165 und der nachträglichen Interpolation von 177-81. Beide sind jedoch wohl begründet; sie erweisen zudem einerseits G. Müllers Vermutung einer ungewöhnlich langen und von ihrer Motivation her kaum erklärbaren Interpolation als unnötig und verleihen andererseits den Versen 167-76 einen echten Sinn und eine wirkliche Berechtigung an dieser Stelle im zweiten Buch 294 .

3,806-18 ( = 5,351-63) K. Lachmann hat diesen Abschnitt im dritten Buch als interpolatorischen Zusatz verurteilt und in seiner Ausgabe nicht gedruckt; bereits vor ihm haben A. Forbiger 295 und J. Bernays 296 die Unechtheit dieser Verse im dritten Buch vermutet; H.A.J. Munro hält in seiner kommentierten Ausgabe einen expliziten Nachweis der Unechtheit sogar für überflüssig. In der neueren Forschung hat sich erst G. Müller wieder ausführlich zugunsten einer Interpolation der Verse 3,806-18 ausgesprochen 297 ; die Ausgabe K. Müllers ist die einzige in diesem Jahrhundert, die den Abschnitt in eckige Klammern setzt. Die Verse haben ihre Berechtigung allein im fünften Buch: 5,351-75

355

294

Praeterea quaecumque manent aeterna necessust aut, quia sunt solido cum corpore, respuere ictus nec penetrare pati sibi quicquam quod queat artas dissociare intus partis, ut materiai corpora sunt, quorum naturam ostendimus ante, aut ideo durare aetatem posse per omnem,

Zu derselben Lösung kam bereits C. Gneisse, 32ff., der 177-81 sowie 183 tilgen wollte, sich allerdings die Verse 167-76 nicht erklären konnte, da ihm Giussanis Ausführungen über die Lücke vor 165 noch nicht bekannt waren. 295 A. Forbiger, 44ff. 296 J. Bernays, De emendatione Lucretii, RhM, 5, 1847, 574ff. 297 I, 255ff. Vor ihm sprachen sich jedoch auch A.E. Housman, CP, II, 426 sowie W. Schmid, Gnomon, 20, 1944, 8f., Anm. 2 für die Unechtheit von 806-18 aus. G. Müller war allerdings der erste, der auch den vorausgehenden Vers 805 der Unechtheit bezichtigte.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

360

365

370

375

73

plagarum quia sunt expertia, sicut inane est, quod manet intactum neque ab ictu fungitur hilum, aut etiam quia nulla loci fit copia circum, quo quasi res possint discedere dissoluique, sicut summarum summa est aeterna, neque extra qui locus est quo dissiliant, neque corpora sunt quae possint incidere et ualida dissoluere plaga. at neque, uti docui, solido cum corpore mundi naturast, quoniam admixtumst in rebus inane, nec tarnen est ut inane, neque autem corpora desunt, ex infinito quae possint forte coorta corruere hanc rerum uiolento turbine summam aut aliam quamuis cladem inportare pericli, nec porro natura loci spatiumque profundi deficit, exspargi quo possint moenia mundi. [aut alia quauis possunt ui pulsa perire.] haut igitur leti praeclusa est ianua caelo nec soli terraeque neque altis aequoris undis, sed patet immani et uasto respectat hiatu.

359 fit

Lachmann:

sit | | 367 coorta

Marullus-,

coperta

Dieser Abschnitt ist Teil des größeren Zusammenhangs der Verse 235-415, die die Vergänglichkeit unserer Welt beweisen. Nach dem Beweis der Vergänglichkeit der vier Elemente und des Himmels erweist Lukrez in den Versen 324-50 das noch jugendliche Alter unserer Welt. Darin enthalten die Verse 338-50 bereits ein Argument für die Sterblichkeit der Welt: ebenso wie Menschengenerationen und Städte durch Naturkatastrophen wie Feuer, Erdbeben oder Überschwemmungen untergegangen sind, so muß man auch an die Vergänglichkeit der Erde glauben, deren Untergang (vgl. ruinas, 347) eine noch heftigere Katastrophe (vgl. tristior ... causa, 346f.) auslöst. Die Welt ist dem Untergang im gleichen Maß ausgesetzt wie die jetzigen Menschen und die früheren Generationen (348-50). Ist in den Versen 338-50 die Zerstörbarkeit der Erde analog zu der der Menschen hergeleitet, so wird sie zusätzlich in den von praeterea eingeleiteten Versen 351-71 bewiesen. Der klare Aufbau des Beweises ist offensichtlich: die Verse 351-62, jener Abschnitt, der im dritten Buch wiederholt wird, legen die Kriterien für ein ewiges Bestehen fest und nennen jene Dinge, die tatsächlich ewig sind: - die undurchdringlichen und damit gegen Stöße unempfindlichen Atome (352-5), - der leere Raum, den keine Stöße treffen können (356-8) und

74

Unechte Verswiederholungen

- das gesamte Weltall selbst, das grenzenlos ist, so daß nichts von ihm nach außen entweichen, noch etwas von außen in dieses eindringen kann (359-63). Diese drei klar voneinander getrennten und übersichtlich angeordneten 298 Kriterien für die Ewigkeit werden in den folgenden Versen 364-71 in derselben Reihenfolge auf die Erde übertragen, jeweils für sie überprüft und dann zurückgewiesen. Die Erde ist weder fest und undurchdringlich (wie die Atome), da ihr das Leere beigemischt ist (364-5), noch ist sie wie der leere Raum, da Körper aus dem All auf sie stürzen und sie erschüttern können (366-9). Zudem hat sie (im Gegensatz zum grenzenlosen Weltall) die Möglichkeit, sich nach außen in den Raum hin auszubreiten (370-1). Innerhalb dieser Argumentation erweist sich der Vers 372 als Fremdkörper. Der Vers ist keineswegs "essential to the argument" 299 , nachdem bereits in 366-9 die Rede war von Stoffen aus dem grenzenlosen Weltall, die die Erde vernichten können; er ist sprachlich nicht an den Kontext angeschlossen; aut alia quauis ... ui - nach 5,369 aut aliam quamuis cladem gebildet 300 - kann unmöglich parallel zu quo in Abhängigkeit von spatium ("der Welt steht Raum zur Verfügung, auf welch irgendeine andere Weise sie erschüttert zugrunde gehen kann") konstruiert werden. Schließlich hat G. Müller gezeigt, daß es zu der in 371 mit exspargi bezeichneten Zerstörung des Weltalls keine Alternative geben kann, so daß der Ausdruck alia quauis ... ui inhaltlich verfehlt ist 301 . Die Interpolation des Verses 372 fällt klar unter die von R.J. Tarrant als "collaborative interpolation" bezeichnete Kategorie von Interpolationen, die das Ende eines Gedankengangs stärker gewichten möchten 302 ; er ist in K. Müllers Ausgabe zu Recht nach dem Vorschlag Brunos getilgt. Die Diskussion der Unsterblichkeitskriterien für die Erde endet also mit Vers 371; keines der Kriterien trifft auf die Erde zu, so daß Lukrez mit Recht folgern (vgl. igitur, 373) kann, daß die Erde, genauso wie Himmel und Sonne sterblich ist (373-5). Die Verse 351-63 enthalten die

298

Jedes Kriterium wird von anaphorischem aut jeweils am Anfang eines neuen Verses eingeleitet. 299 C. Bailey, 111,1374; die anderen Kommentare vermeiden jede Äußerung zu diesem Vers. 300 Vgl. die Diskussion des Verses in der Ausgabe von K. Müller, 365ff. 301 Vgl. G. Müller, II, 83 mit Hinweis auf 1,1109 und 2,1139ff. 302 Vgl. Tarrant, Reader, 137.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

75

Voraussetzungen für die Unsterblichkeit; 364-71 zeigen, daß keine dieser Voraussetzungen auf die Erde zutrifft. Somit sind die Verse 351-63 unlösbar mit den Versen 364-71 verknüpft und ergeben einen bestechend klaren und widerspruchfreien Beweis für die Vergänglichkeit der Welt 3 0 3 . 3,798-829 quare, corpus ubi interiit, periisse necessest confiteare animam distractam in corpore toto. 800 quippe etenim mortale aeterno iungere et una consentire putare et fungi mutua posse desiperest; quid enim diuersius esse putandumst, aut magis inter se disiunctum discrepitansque quam mortale quod est inmortali atque perenni? 805 [iunctum in concilio saeuas tolerare procellas Praeterea quaecumque .... 818 dissoluere plaga.] 819 Quod si forte ideo magis immortalis habendast, 820 quod letalibus ab rebus munita tenetur, aut quia non ueniunt omnino aliena salutis, aut quia quae ueniunt aliqua ratione recedunt pulsa prius quam quid noceant sentire queamus, 823a < cur temptata malis animae uis saepe laborat? > praeter enim quam quod morbis cum corporis aegret, 825 aduenit id quod eam de rebus saepe futuris macerat inque metu male habet curisque fatigat, praeteritisque male admissis peccata remordent. adde furorem animi proprium atque obliuia rerum, adde quod in nigras lethargi mergitur undas. 804 qui mortale potest K. Müller \ \ post 804 lac. ind. Brieger | \ 805 deest in Q | | saeuas Marullus: saluas | | 820 letalibus Lambinus: uitalibus codd. | | post 823 lacunam ind. Lambinus, suppl. K. Müller (alii aliter).

Diese Verse bilden den Abschluß der Beweise für die Sterblichkeit der Seele; in Vers 830 setzt mit den berühmten Worten nil igitur mors est ad nos das Finale des dritten Buches, die Diatribe gegen die Todesfurcht, ein. Der in Vers 800 beginnende 27. Beweis ergibt sich für Lukrez als Begründung (vgl. quippe etenim, 800) aus dem vorausgegangenen (78499), daß die Seele nur innerhalb des Organismus bestehen kann; außer-

303

C. Bailey, III, 1372f. hat den Verlauf dieses Beweises gut erläutert und muß Lukrezens logische Stringenz in diesem Abschnitt anerkennen: "The argument is strictly logical and presents no difficulties".

76

Unechte Verswiederholungen

halb des Körpers kann sie weder entstehen noch Bestand haben (797), so daß sie infolgedessen (vgl. quare, 798) innerhalb des ganzen Körpers ausgebreitet zusammen mit diesem untergehen muß (vgl. 798-9). Diese beiden Verse postulieren nochmals explizit die Sterblichkeit der Seele, zu deren Begründung die Verse 800-4 einen neuen und von den bisherigen verschiedenen Beweis 304 anführen. Während nämlich alle vorausgegangenen Beweise von der Unsterblichkeit der Seele ausgegangen sind, um dann die Konsequenzen ad absurdum zu führen, argumentiert Lukrez in 800-4 allgemeiner mit der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Sterblichem und Unsterblichem. Die Annahme, Sterbliches könne sich mit dem Ewigen verbinden und mit ihm eine harmonische Wechselbeziehung aufnehmen, ist lächerlich (800-2a); nichts ist verschiedener, stärker voneinander getrennt und unvereinbarer als das Sterbliche einerseits und das Unsterbliche und Ewige andererseits (802b-804). Innerhalb dieses Arguments ist der überlieferte Vers 805 nicht konstruierbar und zudem sinnwidrig. Denn die Verse 804-5 ("als daß das Sterbliche verbunden mit dem Unsterblichen und Ewigen in Einheit die wilden Stürme ertragen kann") können unmöglich mit den Versen 802b-3 ("Nichts ist unterschiedlicher, stärker getrennt und unvereinbarer") verbunden werden; statt des nachdrücklichen und dreimal variiert formulierten "verschiedener" würde der Sinn unbedingt den Komparativ "unwahrscheinlicher" oder ähnliches verlangen 305 . Konrad Müller hat das Problem mit der ingeniösen Konjektur qui mortale potest zu lösen versucht. "Was muß man für unterschiedlicher ... halten (seil, als das Sterbliche und das Ewige)? Wie kann das Sterbliche mit dem Unsterblichen verbunden die wilden Stürme ertragen?" Jedoch scheint die so erstellte zweite Frage ebenfalls keinen ganz befriedigenden Sinn zu geben, da das Sterbliche in jedem Fall dem Untergang preisgegeben ist, was daher nicht in Frage gestellt zu werden braucht 306 . Sinnvoll wäre allenfalls die um-

304 Die Unterschiedlichkeit wird zu Recht betont von G. Müller, I, 257 und E. J. Kenney, 187. 305 Vgl. R. Heinze, 157 und G. Müller, I, 261.; auch E.J. Kenney, 187f., ist sich dieses Problems bewußt, wenn er schreibt: "The sentence begins as if L. meant to ask 'what two things could be more different and incongruous than the mortal and the immortal?'; it ends as if he had asked 'what could be more unlikely than that the mortal and the immortal could co-exist?'" Kenney führt jedoch keine Parallelen für eine derartige Verschiebung der gedanklichen Struktur bei Lukrez an. 305 Derselbe unbefriedigende Sinn ergibt sich, wenn man die Überlieferung hält und hinnimmt, daß diuersius etc. als 'unwahrscheinlicher' oder 'absurder' aufgefaßt werden muß; der überlieferte Text ist also sprachlich wie inhaltlich nicht möglich.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

77

gekehrte Frage, nämlich wie das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbunden die Stürme (seil, des Lebens, was man ergänzen müßte) ertragen, also in dieser Verbindung seine Unsterblichkeit bewahren kann 307 , wozu man jedoch den gesamten Vers 804 umschreiben müßte 3 0 8 . Näher liegt es, mit G. Müller den Vers 805 für interpoliert zu halten 309 ; vermutlich wollte der Interpolator die vermeintlich frei schwebenden, in Wahrheit von diuersius und discrepitans abhängenden Dative immortali atque perenni in eine einfachere Konstruktion einbinden 310 . Der Zweifel an der Echtheit von 805 kann weiter bekräftigt werden, sobald die nun folgende Interpolation, 806-18 richtig erfaßt worden ist. Dieser Abschnitt, der bis auf minimale Änderungen mit den Versen 5, 351-63 identisch ist 311 , zeigt, wie bereits dargelegt wurde, daß die Atome, der leere Raum und das gesamte Universum jeweils auf Grund eines bestimmten Kriteriums unsterblich sind. Während auf die Verse im fünften Buch explizit die Überprüfung dieser Kriterien für das Weltall mit dem Ergebnis folgt, daß keine der drei Kriterien für das Weltall zutrifft, weshalb dieses sterblich sein muß, fehlt im dritten Buch eine entsprechende Untersuchung; vielmehr setzt in Vers 819 ein neuer Gedanke ein, der ein letztes mögliches Argument für die Unsterblichkeit der Seele enthält, das im folgenden von Lukrez ebenfalls verworfen wird. Das Argument der Verse 806-18 ist also in jedem Fall unvollständig, da es sich verbietet anzunehmen, daß der Leser von sich aus an dieser Stelle in Gedanken aus den genannten Kriterien für die Unsterblichkeit die Folgerung ziehen soll, daß keines dieser Kriterien für die Seele zutreffen kann, so daß er ihre Sterblichkeit anerkennen muß. Hinzu kommt noch ein sprachliches Problem, da der quodsi-Satz in Vers 819

307

Vgl. G. Müller, I, 261. Eine dafür erforderliche Konjektur, etwa qui immortalepotest mortali quiqueperenne ist wohl nicht mehr als ein Gedankenspiel. Der Vers scheint mir nur dann zu halten, wenn man mit Brieger eine Lücke hinter 804 ansetzt; vgl. seine paraphrasierende Ergänzung (Philologus 27 (1868), 55): "(Wer könnte also glauben, dass dies mit jenem) vereinigt sei und so wüthenden stürmen (des lebens) trotz biete!" 308

309

Die handschriftliche Überlieferung gibt einen zusätzlichen Hinweis für die Unechtheit des Verses; wie ich mich selbst vergewissert habe, ist der Vers in O in Majuskeln genauso wie die Kapitula geschrieben, er fehlt in Q, wo eine Zeile wie für die Kapitula üblich freigelassen ist. Es liegt also die Vermutung nahe, daß der Vers im Archetypus wie ein Kapitulum geschrieben war. 310 Weiter ist gegen procellas in 805 einzuwenden, daß Lukrez diesen Begriff stets konkret auf Wetter-Stürme bezieht, jedoch nie metaphorisch verwendet. 311 Die Abweichungen in 3,806 (necessest statt necessust) und 3,817 (quis locus est quo diffugiant statt qui locus est quo dissiliant) sind vernachlässigenswert.

78

Unechte Verswiederholungen

kein Subjekt enthält und keine Möglichkeit besteht, das Subjekt sinngemäß aus dem vorangegangenen Abschnitt 806-18 zu entnehmen, sondern man vielmehr auf den vorletzten Abschnitt, also die Verse 798-805, zurückgreifen muß 3 1 2 . Der überlieferte Text der Verse 805-18 ist also so unmöglich; die Schwierigkeiten lassen sich prinzipiell nur auf zwei Wegen beseitigen: Entweder man athetiert nach 805 auch 806-18 und schließt 819 unmittelbar an 804 an, oder man vermutet hinter 818 eine Lücke. In jener umfangreichen, syntaktisch abgeschlossenen Lücke muß dann eine ähnliche Überprüfung der Kriterien für die Unsterblichkeit stattgefunden haben wie in den Versen 5,364-371: Keines der aufgestellten Kriterien für die Unsterblichkeit trifft auf die Seele zu, also muß sie sterblich sein. Der sprachliche Anstoß, das Fehlen des Subjektes in Vers 819, läßt sich somit leicht beheben, da man den Begriff anima in der Lücke erwartet, den man dann leicht in 819 ergänzen kann; prüft man jedoch diesen zu ergänzenden Gedanken auf seinen logischen Gehalt, so stößt man auf unüberwindbare Probleme. Denn den expliziten Nachweis, daß die Seele weder mit den Atomen, noch mit dem leeren Raum noch mit dem unendlichen Weltall identisch ist, kann man kein "sinnvolles Unterfangen" 313 nennen. G. Müller bezeichnet zu Recht alle drei Möglichkeiten für die Seele als unsinnig; bezüglich der dritten (für den Beweis der Sterblichkeit unserer Welt so wichtigen) Möglichkeit, die Seele könnte mit dem unendlichen Weltall identisch sein, ist die Unsinnigkeit allgemein anerkannt 314 . Es ist unmöglich, die Verse 806-18 als Bestandteil eines sinnvollen Argumentes für die Sterblichkeit der Seele anzuerkennen, so daß sich zwangsläufig ihre Unechtheit an dieser Stelle ergeben muß. Liest man hingegen Vers 819 unmittelbar in Anschluß an Vers 804, ergibt sich ein geschlossener und in sich widerspruchsloser Gedankengang, der den gesamten Abschnitt der Verse 798-829 nicht nur als wirkungsvollen Abschluß der Beweisreihe für die Sterblichkeit der Seele, sondern auch als geradezu zwangsläufigen Übergang zu dem in 830 einsetzenden Finale des Buchs erweist. Nachdem auf die letzte explizite Feststellung, daß die Seele untrennbar mit dem Körper verbunden und daher sterblich ist (799), das allgemeine Argument von der generellen Unvereinbarkeit von Sterblichem und Unsterblichem gefolgt ist (800-4),

312 313 314

Vgl. G. Müller, I, 259. G. Müller, I, 260. Kein Kommentar von Giussani bis zu Kenney hat dem widersprochen.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

79

wird in den Versen 819-23 ein letzter Einwand erhoben, der versucht, die Unsterblichkeit der Seele zu bewahren. Dieser fiktive Einwand knüpft nun jedoch genau an das Argument der Verse 800-4 an, indem er besagt, daß die Seele 315 gerade deswegen (ideo magis, 819) 316 unsterblich sein muß, weil sie von sich aus vor allen todbringenden Einflüssen geschützt 317 erhalten bleibt. Denn, so wird der mit quodsi eingeleitete Einwand begründet, alles Unheilvolle gelangt entweder gar nicht zur Seele (821) oder weicht sofort vertrieben von ihr zurück, ohne daß es wahrgenommen werden kann (822-3). Eben dieses Argument der Verse 819-23, die die Unversehrtheit der Seele vor verderbenbringenden Einflüssen behaupten, muß die Interpolation der Verse 805-18 veranlaßt haben, die allgemein das "Gedankenmotiv des Gefeitseins des Unsterblichen vor zerstörenden Kräften illustrieren" 318 . Damit ist eine assoziative Verbindung der wiederholten Verse nach unten gegeben; um die Iterata auch an den vorausgegangenen Text anzuschließen, fügte der Interpolator noch seinen eigenen Vers 805 hinzu, der sich (freilich nur auf den ersten Blick) wie eine vereinfachende Fortsetzung des Verses 804 liest und auch eine scheinbare Verbindung zur Wiederholung herstellt 319 . Daß nach 823 zumindest ein Vers ausgefallen ist, wird allgemein anerkannt, da die Apodosis zu dem quodsi-Satz fehlt. Der Vergleich mit anderen Beispielen der indirekten Beweisführung bei Lukrez macht einen

315

Nach der Athetese von 805-19 ist anima als Subject des quodsi-Satzes leicht zu ergänzen; explizit fiel das Wort zum letzten Mal in Vers 799, beherrscht dann den Gedanken der Verse 800-4 und wird in Vers 804 durch mortale quod est umschrieben; vgl. G. Müller, I, 259. 316 Das heißt: auf Grund der Unvereinbarkeit von Sterblichem und Unsterblichem. 317 In Vers 820 ist uitalibus sicher korrupt; man kann unmöglich die Unversehrtheit der Seele vor lebenspendenden Dingen damit begründen, daß sie kein Unheil (aliena salutis, 821) trifft. Da munita ab aliqua re nur 'geschützt vor', nicht 'geschützt durch etwas' heißen kann (vgl. Madvig, Opuscula academica I, 312), fordert der Sinn exakt das Gegenteil von uitalis. Die Vertauschung von Komplementärbegriffen ist eine nicht unbekannte Art von Textverderbnis, vgl. G. Müller, I, 258, Anm. 1; E.J. Kenney, 191 mit Verweis auf A. Housman in seiner Manilius-Ausgabe zu 5,463. Lambins Konjektur letalibus trifft exakt den erforderlichen Sinn ('geschützt vor todbringenden Einflüssen'); Kenneys Einwand (191), daß letalis nicht vor Vergil belegt ist, ist kaum gewichtig; vgl. zu einem ähnlichen Fall A.E. Housman, im Vorwort zu seiner Lukanausgabe (Oxford, 2 1927), V. 318 G. Müller, I, 260. 319 So deutet saeuas tolerare procellas auf das im folgende beherrschende Motiv der Unzerstörbarkeit (respuere ictus (807), neque ab ictu fungitur hilum (813), ualida dissoluereplaga (818)) voraus; vgl. G. Müller, I, 261.

80

Unechte Verswiederholungen

Fragesatz für die Apodosis sehr wahrscheinlich 320 , inhaltlich ist aus der nachfolgenden Begründung, die das offensichtliche Leid der Seele vgl. aegret, 824; macerat ... curisque fatigat (826) - dokumentiert, ein expliziter Hinweis darauf zu erwarten. Die Ergänzung K. Müllers ('Warum leidet die Seele dann oft von Übeln heimgesucht?') trägt diesen formalen und inhaltlichen Überlegungen Rechnung. Die Seele bleibt also nicht vor Übel und Leid verschont und ist damit nicht (etwa im Gegensatz zu dem sterblichen und leidenden Körper) unsterblich, was Lukrez mit einer Reihe von empirischen Argumenten begründet. So nimmt die Seele an den Leiden des Körpers teil (824) und wird zudem von eigenen Krankheiten wie Zukunftsangst (825-6), Gewissensbissen (827), Wahnsinn, Vergeßlichkeit (828) und Depressionen (829) heimgesucht. Die abschließende Dokumentation seelischen Leidens unterstreicht nochmals die Sterblichkeit der Seele, bereitet jedoch gleichzeitig auch wirkungsvoll den Beginn des Finales zum dritten Buch vor. Denn angesichts all dieses Unheils muß der Tod wie eine Befreiung wirken; die triumphierende Folgerung in Vers 830 nil igitur mors est ad nos ist mehr als "berechtigt" 321 , sie ergibt sich nahezu zwangsläufig. Immer wieder wird Lukrez im Finale des dritten Buches, das die Todesfurcht bekämpft, auf das Argument zurückgreifen, daß der Tod als Befreier allen Übels nicht zu fürchten, sondern zu begrüßen ist 322 . Nach der Athetese der Verse 805-18 erweist sich der Abschnitt 798829 gleichzeitig als gelungener Abschluß der Beweisreihe für die Sterblichkeit der Seele und als Überleitung zum Finale des dritten Buches: Die mit dem Körper verbundene Seele kann nicht unsterblich sein; die generelle Unvereinbarkeit von Sterblichem und Unsterblichem ist Beweis dafür und kann nicht zur Annahme des Gegenteils verführen, da die Seele ebensowenig vor Leid verschont bleibt wie der Körper. Erst der Tod befreit vor allen Übeln und verliert damit seine abschreckende Gestalt. Es bleibt demnach nur zu wünschen, daß man bei der Beurteilung zumindest der Verse 806-18 wieder zu dem sicheren Urteil des 19. Jahrhunderts zurückfindet: "haec igitur omnia a Lucretio hic scripta non esse manifestum est" 323 .

320 321 322 323

Vgl. G. Müller, I, 258, Anm. 1. G. Müller, I, 259 Vgl. etwa 3,904-8; 940-43; 976f. etc. K. Lachmann, Komm., 185.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

81

4,1-25 ( = 1,926-50) Diese Wiederholung von 25 nahezu identischen Versen ist die längste im gesamten Lukreztext und auch inhaltlich auf Grund des proömienhaften Charakters des Textes singulär. Deshalb hat sie von allen Wiederholungen in der Forschung größte Aufmerksamkeit hervorgerufen, wobei alle vier denkbaren Erklärungsmöglichkeiten 324 dieser Wiederholung Anhänger gefunden haben: 1. Lukrez hat die Verse für das erste Buch geschrieben und selbst in das vierte übertragen 325 . 2. Ein Interpolator hat die Verse aus dem ersten Buch in das vierte übertragen 326 . 3. Lukrez hat die Verse als Proömium für das vierte Buch geschrieben und selbst später in das erste Buch übertragen 327 . 4. Ein Interpolator hat die Verse aus dem vierten Buch in das erste übertragen 328 . Im folgenden sollen die Verse zuerst im Kontext des ersten Buches interpretiert, dann die Abweichungen im vierten Buch verdeutlicht und zuletzt die vier Erklärungsmodelle auf ihre jeweilige Plausibilität geprüft werden. 1,921-50

925

324

nunc age, quod superest cognosce et clarius audi, nec me animi fall it quam sint obscura; sed acri percussit thyrso laudis spes magna meum cor et simul incussit suauem mi in pectus amorem Musarum, quo nunc instinctus mente uigenti auia Pieridum peragro loca nullius ante trita solo, iuuat integros accedere fontis

Die Möglichkeiten sind systematisch bei L. Gompf, Die Frage der Entstehung von Lukrezens Lehrgedicht, Diss. Köln, 1960, 147 zusammengestellt. 325 Dies ist die zur Zeit wohl vorherrschende These, die man etwa bei Giussani, Martin, Ernout-Robin, Bailey sowie in jüngster Zeit bei Smith, Godwin und Brown findet, offenbar auch bei Diller, der Schmid bezüglich der Authentizität von 4,1-25 mißverstanden zu haben scheint; vgl. 8, Anm. 2. Vgl. jüngst auch M. Gale, Lucretius 4,1-25 and the Proems of the de rerum natura, PCPS, 40, 1994, 1-17. 326 So mit Entschiedenheit vertreten von Bernays und Lachmann, gefolgt von Munro, Schmid, G. Müller und K. Müller. 327 Dies ist die These Mewaldts, der sich Diels, Mussehl, Regenbogen, Büchner, Drexler und Lenz angeschlossen haben. 328 Diese Annahme wurde nur von Forbiger, 19ff. vertreten.

82

930

935

940

945

950

Unechte Verswiederholungen atque haurire, iuuatque nouos decerpere flores insignemque meo capiti petere inde coronam, unde prius nulli uelarint tempora Musae; primum quod magnis doceo de rebus et artis religionum animum nodis exsoluere pergo, deinde quod obscura de re tarn lucida pango carmina, musaeo contingens cuncta lepore. id quoque enim non ab nulla ratione uidetur; sed ueluti pueris absinthia taetra medentes cum dare conantur, prius oras pocula circum contingunt mellis dulci flauoque liquore, ut puerorum aetas inprouida ludificetur labrorum tenus, interea perpotet amarum absinthi laticem, deceptaque non capiatur, sed potius tali pacto recreata ualescat, sie ego nunc, quoniam haec ratio plerumque uidetur tristior esse quibus non est tractata, retroque uolgus abhorret ab hac, uolui tibi suauiloquenti carmine Pierio rationem exponere nostram et quasi musaeo dulci contingere melle, si tibi forte animum tali ratione tenere uersibus in nostris possem, dum perspicis omnem naturam rerum, qua constet compta figura.

Diese dreißig Verse aus dem ersten Buch bilden eine poetische Einlage, die innerhalb der Argumentation einen klaren Einschnitt markiert. Vorausgegangen ist die Polemik gegen die vorsokratischen Philosophen Heraklit, Empedokles und Anaxagoras (635-9 1 8 329 ), es folgt als Abschluß des Buches der Nachweis der Unendlichkeit des Weltalls. Dabei stellt sich die Frage nach der Berechtigung, die argumentatorische Darstellung durch eine derart umfangreiche und poetisch sorgfältig ausgearbeitete Einlage zu unterbrechen; eine so markante Unterbrechung setzt auch inhaltlich einen bedeutenden Themenwechsel voraus. Tatsächlich ist mit Vers 918 ein erster bedeutender Abschluß erreicht. Lukrez hat in den Versen 149ff. sein philosophisches Grundkonzept von den unzerstörbaren und ewigen Atomen einerseits und dem leeren Raum andererseits entwickelt. Dieses Konzept ist die unanfechtbare Grundlage für alle anschließenden Erörterungen. So kann die Kinetik der Atome, Hauptgegenstand des zweiten Buches, nur aus der Antinomie von Atomen und leerem Raum heraus erklärt werden; der Gegensatz

329

9 1 9 - 2 0 sind interpoliert; vgl. 144ff.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

83

von leerem Raum und Atomen einschließlich ihrer Bewegung liegt auch allen folgenden Themen, der Beschaffenheit von Geist und Seele (Buch drei), der menschlichen Wahrnehmung (Buch vier) und der Erklärung der Welt und der auf ihr zu beobachtenden Naturphänomene (Bücher fünf und sechs) zugrunde. Von der fundamentalen Bedeutung dieses materiellen Grundkonzeptes aus ist auch zu verstehen, weshalb Lukrez mit großem Aufwand die konkurrierenden Erklärungen des Heraklit, Empedokles und Anaxagoras bekämpft: erst nach deren Widerlegung steht allein die epikureische Welterklärung aus dem Gegensatz von den Atomen und dem Leeren als einzig gültige Grundlage fest, von der aus alle weiteren Phänomene und Ereignisse im Weltgeschehen erklärt werden müssen. Die an 921-50 anschließenden Verse 951-1117 enthalten das Finale des ersten Buches, die Unbegrenztheit des Weltalls. Dieser gegen Aristoteles und die Stoa gerichtete Gedanke, der am Ende des zweiten Buches wieder erscheint (2,1023-1174), ist die erste Konsequenz aus der atomistischen Grundlehre der Verse 149-918 und von entscheidender Bedeutung, da gerade die Unendlichkeit des Weltalls Voraussetzung dafür ist, die Enge einer begrenzten und von göttlichen Mächten beherrschten Welt und damit letztlich auch die Todesfurcht zu überwinden und zur Freude im Diesseits zu finden 330 . Zwischen den gedanklichen Einheiten der Verse 149-918 und 9511117 liegt also in der Tat ein tiefer Einschnitt vor, der auch eine längere poetische Einlage rechtfertigt. Dabei muß die Interpretation der Verse 921-50 ergeben, inwieweit sie mit der eigentlichen Argumentation verbunden sind. Bereits der Einsatz in Vers 921 mit nunc age, quod super est cognosce et clarius audi macht klar, daß die poetische Einlage auf das folgende bezogen werden muß und nicht unbedingt eine Verbindung an die vorausgegangene und abgeschlossene Erörterung der Atomistik verlangt 331 . 921-50 müssen in ihrer kompositionellen Bedeutung anhand

330

Die Entdeckung der Unendlichkeit des Weltalls im Finale des ersten Buches muß im Zusammenhang mit dem Epikurlob im ersten Proömium gesehen werden, der als erster die moenia mundi (73) überschritt und den Menschen die neuen Grenzen aufzeigte (7577). Zur Bedeutung des Finales des ersten Buches vgl. G. Müller, Kinetik, 12f. und Finalia, 200f. 331 Nunc age markiert im Lukreztext stets einen gedanklichen Neueinsatz, der keinen expliziten Verweis auf das Vorausgegangene erfordert. K. Büchner, Proömien, 188, fordert daher zu Unrecht einen Rückbezug der Verse 921-50, womit ein erstes Argument, die Verse 921-50 als späten Zusatz im ersten Buch zu sehen, hinfällig wird. Daß ein

84

Unechte Verswiederholungen

des folgenden Finales, der Unendlichkeit des Weltalls, beurteilt werden. Es ist daher auch nicht ausreichend, die Verse 921-50 an sich als das poetische Programm des Dichters Lukrez zu würdigen, wenn man nicht auch nach der Motivation für diese programmatischen Äußerungen an eben dieser Stelle im Werk fragt 332 . Ausgangspunkt für das dichterische Bekenntnis ist dabei im ersten Buch die thematische Schwierigkeit des folgenden Buchfinales, deren sich Lukrez wohl bewußt ist: nec me animifallit quam sint obscura (922); an die Kundgabe dieses Bewußtseins schließt er mit sed adversativ sein poetisches Bekenntnis an. Trotz der Schwierigkeit des Stoffes hofft Lukrez auf dichterischen Ruhm (923), zugleich treibt ihn die Liebe zu den Musen (924), von der er besessen ist und daher als Dichter in bisher noch nicht behandelte Gebiete vordringen möchte (925-7a). Im ersten Buch sind also die Verse 926ff., mit denen bekanntlich das vierte Buch beginnt, Teil eines von quo (925) eingeleiteten Nebensatzes. Das Durchwandern wegloser und bisher nicht betretener Gebiete ist klar motiviert und erklärbar: das Bewußtsein, einen so schwierigen und noch im Verborgenen liegenden Stoff vor sich zu haben (921-2), einerseits und die Hoffnung auf Ruhm für seine literarische Arbeit (923-25) andererseit sind die Voraussetzung, bisher nicht betretene und noch weglose Gegenden zu durchwandern (926-7a). Diese protagonistische Tätigkeit erfüllt Lukrez mit Freude (927b-29), von ihr erhofft er sich Ruhm, der bisher noch keinem zugekommen ist (930) 333 . Die Verse 931-4 formulieren ausdrücklich, worin Lukrez die Neuartigkeit sieht, die seinen Ruhm begründet: er handelt über große Dinge, befreit den menschlichen Geist aus den Fesseln der Religion und schreibt schließlich über einen schwierigen und im Verborgenen liegenden Stoff ein überragend klares Lied, indem er alles, also den gesamten Stoff, mit der Annehmlichkeit der Dichtung überzieht (931-4). Lukrez sieht also seine Neuartigkeit in erster Linie in der Wahl seines Stoffes, den er als groß, von der Religion befreiend und noch im Verborgenen liegend bezeichnet; zur literarischen Form äußert er sich nur implizit in seinem Bekenntnis zum Stilideal der Klarheit (tarn

inhaltlicher Rückbezug dennoch durchaus festzustellen ist, wird später gezeigt werden. Eine eingehende Würdigung der Verse, also die Analyse ihrer programmatischen Äußerungen sowie ihrer poetischen Kunstfertigkeit, ist an dieser Stelle nur notwendig, insofern sie für die Echtheitsdebatte ausschlaggebend ist. 333 Daß sich Lukrez mit diesen programmatischen Versen in die Tradition des hellenistischen Dichtungsanspruchs stellt, ist längst bekannt; vgl. nur E.J. Kenney, Doctus Lucretius, Mnemosyne, (IV) 23, 1970, 369f. 332

Wiederholungen längerer Textabschnitte

85

lucida ... carmina)334. In den Versen 931-4 sieht sich Lukrez als lehrender Philosoph (doceo, 931) und Dichter (pango carmina, 933-4) zugleich; der gesamte Stoff soll als anmutige Dichtung dargeboten werden. Mit der Formulierung musaeo contingens cuncta lepore (934) bekennt sich Lukrez ausdrücklich zu seiner Synthese von Philosophie und Dichtung. Den Sinn dieser Synthese rechtfertigt Lukrez in den Versen 935-50 mit dem berühmten Honigbecher-Vergleich, der sich klar aufgliedert in den eigentlichen, von ueluti eingeleiteten Vergleich (936-42) und die von sie eingeleitete Übertragung auf die Dichtung des Lukrez (943-50). Ärzte, die Kindern eine bittere Medizin verabreichen, bestreichen den Rand des Bechers, der die Medizin enthält, mit süßem Honig (9368), um mit der Süße die ahnungslosen Kinder einzunehmen und sie zum Austrinken der bitteren Medizin zu bewegen (939-4 la). Diese Täuschung ist kein Schaden für die Kinder, sondern bewirkt vielmehr ihre Genesung (941b-2). Ebenso will Lukrez, da die epikureische Lehre denen, die noch nicht in sie eingedrungen sind, als allzu unzugänglich erscheint, und die breite Masse daher vor ihr zurückschreckt (943-45a), diese Lehre Memmius in Form eines wohlklingenden Gedichtes darbieten (945b-7), um dessen Gedanken auf diese Weise in den Versen fesseln zu können, bis er das gesamte Wesen und die Gestalt der Natur erfaßt hat (948-50). Die Aussage des Vergleichs ist klar: Lukrez entspricht dem Arzt, Memmius, aber natürlich auch der Leser im allgemeinen, den ahnungslosen Kindern, die epikureische Lehre der bitteren Medizin, die wohlklingende Dichtung dem süßen Honigrand des Bechers und die Erkenntnis der Natur der Heilung. Der Vers 946 wiederholt in seiner Anlehnung an Vers 934, dem letzten Vers des eigentlichen Dichterbekenntnisses, nochmals die entscheidende Zielsetzung des Lukrez, die schwer zugängliche epikureische Lehre gewissermaßen mit süßem Musenhonig, also wohlklingender Dichtung zu durchziehen. Wie das Kind nur dann den bitteren Absinth ganz austrinkt, wenn es von dem süßen Geschmack des Honigs getäuscht wird, so erhofft sich Lukrez, den Leser mit seinen schönen Versen bis zum Ende seines Werkes zu fesseln zu können. Bei der Gegenüberstellung von Honig und Dichtung hebt Lukrez als Vergleichspunkt nur die beiden gemeinsame Süße hervor, die erst das Leertrinken des bitteren Absinthbechers einerseits sowie das "Zuende-

334

Zu dem in lucidus implizierten Anspruch auf a a ^ j j m a bzw. perspieuitas Brink zu Hör. ars 41 und Quint, inst. 2,3,8.

vgl. C.O.

86

Unechte Verswiederholungen

lesen" des schwierigen Werkes andererseits ermöglicht. Die Tatsache, daß die Kinder durch die Süße des Honigs, freilich zur eigenen Genesung, getäuscht werden, überträgt Lukrez auf seine eigene Dichtung nicht ausdrücklich, sie läßt sich jedoch leicht herleiten. Die Süße des Honigs täuscht über den bitteren Geschmack des Absinths hinweg, die Süße der lukrezischen Verse über die schwere Zugänglichkeit der epikureischen Lehre. Ebensowenig wie jedoch die Süße des Honigs den Heilungsprozeß einschränkt und somit die Täuschung nicht den geringsten Schaden anrichtet, ebensowenig darf man der Dichtung des Lukrez irgendeine Einschränkung bei der Verkündigung der epikureischen Wahrheit unterstellen. Der Vergleich macht damit insgesamt deutlich, daß Lukrez an dieser Stelle dichterische Schönheit nicht als Selbstzweck ansieht, sondern sie dem Gesamtziel unterordnet, das Verständnis der epikureischen Lehre zu erleichtern. Die Wahrheit der epikureischen Lehre ist das Entscheidende im Werke des Lukrez, die Dichtung nur ein zusätzliches Hilfsmittel, die Wahrheit als ganze bis zum Ende nachzuvollziehen, ebenso wie allein der Absinth in dem Becher die Heilung bewirkt, der Honig um den Rand jedoch erst das freiwillige Austrinken gewährleistet. Deuten wir die Verse 1,921-50 im Ganzen: Sie zerfallen klar in zwei, nahezu gleich lange Hälften: 922-34 enthalten das dichterische Bekenntnis des Lukrez, 935-50 rechtfertigen dieses mit dem Absinthbechergleichnis. Das Dichterbekenntnis ergibt sich eindeutig aus der in Vers 922 anerkannten Schwierigkeit des darzustellenden Stoffes, von dem sich Lukrez Ruhm erhofft, und der ihn in neue Gebiete der Dichtung vordringen läßt. In der Hoffnung auf Ruhm liegt klar seine Freude (vgl. iuuat, 927 und 928) begründet, literarisch neue Wege zu gehen. Als Ziel seiner dichterischen (nicht seiner philosophischen) Aufgabe sieht es Lukrez an, den schwierigen Stoff in strahlend klarer Dichtung darzustellen (933-4); obscura de re tarn lucida pango carmina in der Mitte der poetischen Einlage greift eindeutig den Anfang quam sint obscura (922) wieder auf. Die Dunkelheit des Stoffes wird am Anfang und in der Mitte der Einlage betont; dort tritt ihr jedoch ausdrücklich die Klarheit der lukrezischen Dichtung an die Seite. Das folgende Gleichnis vom Absinthbecher hat nun genau die Aufgabe, den Sinn und die Notwendigkeit einer klaren Darstellung in dichterischer Form zu verdeutlichen; erst sie ermöglicht es, den (natürlich gerade wegen seiner Dunkelheit) abstoßenden und nur schwer zugänglichen Stoff (943-5) bis zum Ende hin lesbar und damit die wahre Natur der Dinge begreifbar zu machen. Die Dunkelheit des Stoffes ist das Leitmotiv der Verse 921-50; diesen durch sein Gedicht zu erhellen, ist die Aufgabe des Lukrez. Dabei wendet sich Lukrez am

Wiederholungen längerer Textabschnitte

87

Ende des Exkurses durch die Verwendung der zweiten Person wieder direkt an Memmius und damit an den Leser, dem er mittels seines Gedichtes die Erkenntnis der gesamten Naturzusammenhänge verspricht (vgl. 949-50 perspicis omnem naturam rerum). Eben dies jedoch war auch der Ausgangspunkt der Einlage, die Aufforderung ebenfalls in der zweiten Person, auch den Rest des Werkes zu verstehen: quod super est cognosce et clarius audi (921). Die unauflösbare Einheit der Verse 921-50 ist ein zwingendes Ergebnis dieser Interpretation; bleibt noch die Frage nach ihrer Funktion im ersten Buch. Zwar ist formal, wie bereits gezeigt wurde, kein unmittelbarer Anschluß an das Vorausgegangene wegen des Neueinsatzes mit nunc age (921) notwendig; inhaltlich treten jedoch klare Bezüge auf. Lukrez hat in dem vorausgehenden Abschnitt (635-918) die Lehren des Heraklit, Empedokles und Anaxagoras widerlegt. Dem ersten von ihnen, Heraklit, wirft er polemisch Berühmtheit gerade wegen seiner dunklen Sprache (clarus ob obscuram linguam, 639) vor; nichts erscheint natürlicher, als daß Lukrez vor der Rückkehr zu seiner eigenen Lehre sein eigenes Ideal der Klarheit, tarn lucida ... carmina (933-4) dem entgegensetzt. Dunkel ist im Werk des Lukrez nur der Lehrstoff, wie er jedoch nicht nur in den Versen 921-50 hervorhebt. Denn bereits am Ende des ersten Proömiums (136-45), an das die poetische Einlage nicht nur in ihrer stilistischen Höhe, sondern auch durch eine wörtliche Wiederaufnahme anknüpft, hat Lukrez bereits die Dunkelheit des Lehrstoffes betont: nec me animi fallit quam sint obscura (922) erinnert wörtlich an Vers 136: nec me animi fallit Graiorum obscura reperta. In beiden Abschnitten betont Lukrez die Notwendigkeit einer klaren und einleuchtenden Darstellung (clara ... praepandere lumina, 144, entspricht tarn lucida pango carmina, 933-4) zur Erkenntnis der Wahrheit (res ... occultas penitus conuisere, 145, entspricht perspicis omnem / naturam rerum, qua constet compta figura, 949-50). Jedoch ist 921-50 keineswegs eine bloße Dublette zu 1,136-45. Betonte nämlich Lukrez im Proömium an geeigneter Stelle vor dem Beginn der eigentlichen Darstellung seine eigene Schwierigkeit (vgl. dijficile, 137), den dunklen Stoff in klarer lateinischer Dichtung zu erhellen, ist von dieser Schwierigkeit in der poetischen Einlage nicht mehr die Rede 335 . Voller Selbstbewußtsein

335

H. Drexler, Aporien im Prooemium IV des Lukrez, Athenaeum, 13, 1935, 90ff. fordert zu Unrecht in 1,921-5 das Motiv der eigenen Schwierigkeit für Lukrez, das er in dem "janusköpfigen" quam sint obscura, das sich in 921-2 auf den Leser, ab 923 jedoch auf Lukrez selbst beziehe, nur mangelhaft vertreten sieht. Lukrez ist an dieser Stelle längst

88

Unechte Verswiederholungen

und ohne jeden Zweifel (vgl. mente uigenti, 925) rechtfertigt Lukrez die neuartige Kunst seiner Darstellung, die den Leser verlockt, der zu vermittelnden Lehre bis zum Ende zu folgen. Nach der bescheidenen "captatio benevolentiae" am Ende des Proömiums erklärt nun in der poetischen Einlage ein selbstbewußter Lukrez den Sinn seiner Dichtung. Die beiden Versgruppen, jeweils an markanter Stelle im Werk gesetzt, nehmen eindeutig aufeinander Bezug und ergänzen sich. Zu Beginn des Werkes gibt Lukrez sein Ringen um die klare Darstellung des dunklen Stoffes zu, im weiteren Verlauf steht seine Fähigkeit dazu nicht mehr in Frage, bedarf aber noch einer ausführlichen Rechtfertigung, die in 921-50 auch erfolgt. Damit ist ein deutlicher Bezug an die vorangegangene Darstellung gewährleistet; bleibt noch der Anschluß an das folgende: Dabei bereiten sprachlich trotz K. Büchners Einwänden 336 weder sed quoniam docui (951), noch nunc age (953) Schwierigkeiten. Die in den Versen 951-2 erfolgende Rekapitulation greift zusammenfassend auf Ergebnisse aus der Darlegung vor 921 zurück 337 , wofür sed quoniam docui die gewöhnliche Einleitung ist 338 . Die Wiederholung von nunc age in 953 auf relativ kurzem Raum (nach 921) ist ebenfalls kein Anstoß, da nunc age jeweils einen Neueinsatz markiert, der sowohl in Vers 921 zu Beginn des Exkurses als auch in 953 zu Beginn des eigentlichen Buchfinales vorliegt 339 . Zudem hat G. Müller immer wieder auch den inhaltlichen Bezug zwischen dem Exkurs der Verse 921-50 und dem folgenden Buchfinale hervorgehoben. Lukrez motiviert den Exkurs in Vers 921-2 mit der

sicherer Beherrscher des Stoffes, der nur für den Leser dunkel ist. Schwierig war zudem für Lukrez nur die Erhellung des dunklen Stoffes in angemessener lateinischer Sprache (vgl. 1,137); von eigenen Verständnisschwierigkeiten der epikureischen Lehre spricht er an keiner Stelle, so daß Drexlers "kurze Formel" für 922b-5: "Die Dunkelheit also ... besteht für den Dichter" die Wahrheit auf den Kopf stellt. 336 K. Büchner, Prooemien, 188f. 337 Vgl. G. Müller, 11,77. 338 Vgl. insbesondere 3,31 und 6,43, wo jeweils nach den Buchproömien mit et quoniam docui der Inhalt des vorangegangenen Buches im Rahmen der Propositio rekapituliert wird. Wenn K. Büchner, Prooemien, 188 die Verse 951-2 als eine "jetzt (seil, nach dem Exkurs) so schwer nachvollziehbare Rekapitulation" bezeichnet, unterschätzt er gewaltig das Gedächtnis des antiken Lesers, der dann bei den Propositionen des dritten und sechsten Buches gänzlich überfordert gewesen wäre. 339 L. Gompf, 153 hat weiter zu Recht festgestellt, daß die Verben am Ende des Exkurses in der folgenden Darstellung wieder aufgegriffen werden; so entspricht peruideamus (956) dem perspicis (949); constet (950) wird in 957 sogar wörtlich wiederholt.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

89

Dunkelheit des folgenden Lehrstoffes. Daß das Thema des folgenden Finales, die Darstellung der Unendlichkeit des Weltalls, als dunkel bezeichnet wird, ist nach G. Müller "tief berechtigt" 340 . Die Theorie von der Unendlichkeit des Weltalls muß gegenüber dem traditionellen Weltbild des Aristoteles und der Stoa anfangs befremdlich und unverständlich wirken; aus ihr jedoch ergibt sich erst die Befreiung von der Vorstellung einer begrenzten, göttlich regierten Welt. Damit verdient dieser so bedeutende Gedanke eine proömienhafte Einleitung, wie sie die Verse 921-50 darstellen. Durch sie wird der Leser auf die Schwierigkeit der folgenden, so wichtigen Lehre vorbereitet 341 . Die Verse 921-50 sind also in sich widerspruchsfrei, sie greifen zurück auf die Polemik gegen Heraklit und das Ende des ersten Proömiums (1,136-45) und leiten trefflich das Finale des ersten Buches ein. Lukrez hat sie für exakt diese Stelle im ersten Buch geschrieben.

4,1-25 Diese Verse sind als das Proömium des vierten Buches überliefert, das mit einigen wenigen Veränderungen die Verse 1,926-50 wiederholt. Ihr sekundärer Charakter gegenüber 1,921-50 ergibt sich zwingend aus einem kritischen Vergleich. Während das vierte Proömium mit auia Pieridum als Hauptsatz einsetzt, gehen im ersten Buch diesem Vers, der Bestandteil eines Relativsatzes ist, fünf Verse voraus. Für den Nachweis der Priorität bzw. Authentizität der beiden Stellen ist es also von entscheidender Bedeutung, ob die Verse 921-5 im vierten Buch unterdrückt oder im ersten Buch nachträglich ergänzt worden sind. Die Argumente, die scheinbar zugunsten der zuletzt genannten Position sprechen, hat nach H. Drexler 342 insbesondere K. Büchner 343 vorgetragen.

340

G. Müller, II, 77; vgl. auch Kinetik, 12f. Offenbar unabhängig von G. Müller kommt auch D. Clay, Lucretius and Epicurus, London, 1983, 135 zu einem übereinstimmenden Ergebnis: "Here Lucretius is conscious, and makes his reader conscious, of a difficult pass in his argument. The dark matters (obscura, 1.922,933) he speaks of are the theoretical arguments that show the universe to be infinite." Als Parallele für einen funktional ähnlichen Exkurs führt er 5,97-99 an; vgl. auch 2,1023-29. 342 H. Drexler, 73ff.; sein Hauptargument (vgl. S. 91 seines Aufsatzes) wurde bereits widerlegt. 343 K. Büchner, Prooemien, 191ff. 341

90

Unechte Verswiederholungen

Nach Büchner nehmen die Verse 1,921-5 den Versen 926-50, also dem für ihn ursprünglichen Proömium, ihren Grundgedanken, die Funktion von dichterischer Form und ihrem Zauber für das ganze Unternehmen zu verdeutlichen. Dieses Hauptanliegen werde durch die persönlichen Einleitungsverse mit ihren beiden Hauptgedanken, Liebe zu den Musen und Hoffnung auf Ruhm, verdunkelt. Dies ist nicht richtig. Hauptgedanke der Verse 921-5 ist die Sorge um den Erkenntnisprozeß des Lesers wegen der (auch von Lukrez eingestandenen) Dunkelheit des Lehrstoffes. Eben diese Dunkelheit des Stoffes macht die dichterische Form und ihren Zauber, um Büchners Worte zu verwenden, notwendig, damit der Leser nicht von der schwer zugänglichen Lehre abgeschreckt wird und zur gesamten Erkenntnis der Natur vordringen kann. 921-25 sind für das Verständnis der folgenden Verse 926-50 unentbehrlich. Hingegen beginnt das angebliche Proömium nur auf den ersten Blick "mit einer alles umfassenden, stolzen und mächtigen Aussage" 344 ; die Probleme dieses Einsatzes hat L. Gompf einleuchtend hervorgehoben. Zuerst wird in 4,1 auf die in 925-6 wichtige Wendung mente uigenti ... peragro verzichtet 345 . Eine ähnliche Verbindung findet sich im Lukreztext neben 2,676 insbesondere im Epikurlob des ersten Buches (1,74): omne immensum peragrauit mente animoque. Wie Epikur auf der Suche nach der Wahrheit im Geiste das ganze Universum durchwandert, so durchwandert Lukrez ebenfalls im Geiste neue Gebiete, um die epikureische Lehre in angemessener dichterischer Form darstellen zu können. Damit gebührt ihnen beiden, Epikur und Lukrez, der Anspruch auf Erstmaligkeit; Epikur als Entdecker der wahren Lehre (l,66ff.), Lukrez als ihrem dichterischen Vermittler (l,925ff.). Gompf stellt zu Recht noch weitere Parallelen zwischen dem Epikur-Eulogium (1,62-77) und dem Exkurs der Verse 921-50 heraus: beide befreien sie die Menschen von der Religion (vgl. 1,63 und 1,931-2); Epikur beendet seine Forschungen als Sieger (1,75); Lukrez erwartet für sein Gedicht einen Kranz von den Musen (929-30). Die Wendung mente peragrare, die sich in diesen beiden so ähnlichen und aufeinander abgestimmten Textabschnitten findet, kann nicht zufällig sein 346 , sondern unterstreicht die genetische Einheit

344

Büchner, Prooemien, 192; ähnlich bereits Mewaldt, 292: "In Buch IV brechen sich ebendieselben Worte Auia Pieridumperagro loca in vollem starken Tone selber Bahn: mit erhobener Stimme beginnt der Dichter das Prooemium eines neuen Buches." 345 Vgl. L. Gompf, 158. 346 So richtig L. Gompf, 158.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

91

von 925-27 und damit von 921-50. Auf sie wird zu Beginn des vierten Buchs verzichtet. Weiter wirken die Verse 4,2bff, die ohne die Einleitungsverse auskommen müssen, nach dem mächtigen Einsatz platt; der Leser erfährt nicht, weshalb Lukrez neue Gebiete durchschweift, sondern erhält nur die wenig befriedigende Erklärung, Lukrez habe seine Freude daran. Das anaphorische iuuat (4,2 und 4,3) degradiert den hohen Anspruch auf dichterische Innovation im ersten Vers zu einem dem Dichter Freude bereitenden Streifzug, der dem Lukrez kaum angemessen erscheinen darf 347 . Hingegen hat nach den Einleitungsversen im ersten Buch das zweifache iuuat einen guten Sinn: Lukrez wird dort von der Hoffnung auf großen Ruhm (923) und der Liebe zu den Musen (924-5a) getrieben, freudigen Herzens (vgl. mente uigenti, 925) neue Gefilde zu durchstreifen. Die Freude an der neuartigen Arbeit ist also durch die Hoffnung auf Ruhm und die Liebe zu den Musen vorbereitet und mit mente uigenti bereits ausdrücklich formuliert, so daß das doppelte iuuat die optimistische Erwartungshaltung des Lukrez fortsetzt und noch weiter erhöht 348 . Wieder zeigt sich, daß man 921-5 nicht vom folgenden trennen kann. Weiter greifen die Verse 931-4 auf die Verse 922b-925a zurück. In 931-4 begründet Lukrez seinen Anspruch auf dichterischen Ruhm sowohl mit dem befreienden Inhalt seiner bedeutenden Lehre (931-2) als auch mit der Klarheit und Schönheit seiner Dichtung. Zum zweiten ist Lukrez auf Grund seiner Liebe zu den Musen (924-5a), zum ersten durch den Stoß mit dem Thyrsosstab 349 berechtigt. Muß die Begründung für den Dichterruhm im vierten Buch unmotiviert hingenommen werden, so ergibt sie sich im ersten Buch nahtlos aus den Einleitungsversen. L. Gompf hat auch das immer wieder vorgebrachte Argument, der mächtige Einsatz Auia Pieridum peragro komme nur in 4,1 zu wirklicher Geltung und werde durch die Einleitungsverse im ersten Buch als Teil eines Relativsatzes in seiner Wirkung eingeschränkt, überzeugend widerlegt. Ein Vergleich mit den anderen Proömien macht nämlich deutlich, daß Lukrez sie stets mit einer längeren Satzperiode beginnen läßt und erst

347

Ähnlich L. Gompf, 157. Ebenso geht in Verg. georg. 3,289-93 der Anspruch auf dichterische Innovation und Ruhm dem Eingeständnis der Freude (iuuat, 292) voraus. Die Vergilstelle ist eindeutig von Lucr. 1,922-30, nicht von 4,1-5 abhängig. 349 L. Gompf, 157 deutet den Stoß durch den Thyrsosstab zu Recht als einen parareligiösen Akt, der den Initianden Lukrez in Kenntnis der heiligen Lehre versetzt. 348

92

Unechte Verswiederholungen

nach einigen Versen zu ihrem Höhepunkt führt 350 . Hingegen ist der pathetische Einsatz im angeblichen vierten Proömium einzigartig, während bereits in Vers 2b mit iuuat ein anderer, deutlich niedrigerer Ton angeschlagen wird 351 . Es dürfte also klar geworden sein, daß die Verse 921-25 in unauflösbarer Einheit mit 926-50 verbunden sind. K. Lachmann tat recht daran, 921-5 als "divini versus" 352 zu preisen und auch Vergil hat den Lukrez besser verstanden als manch einer seiner modernen Ausleger, wenn er, wie dargetan, in den Georgica 3, 289-93 auf 1,922-30 anspielt. Somit steht außer Frage, daß 921-50 von Anfang an für diese Stelle im ersten Buch verfaßt worden sind 353 . Als einzige Frage bleibt nur noch offen, ob die so umfangreiche Wiederholung von 4,1-25 von Lukrez selbst oder von einem Interpolator vorgenommen worden ist. Der ungewöhnliche Einsatz, das unglückliche anaphorische iuuat sowie die fehlende Motivation zu dem Dichterbekenntnis auf Grund der Dunkelheit des Lehrstoffes machen eine Selbstwiederholung bereits kaum möglich; die weiteren Veränderungen in 4,1-25 gegenüber 1,925-50 bestärken diesen Verdacht. Der ersten Variante, nam in 4,11 statt sed in 1,936, ist in der Forschung wohl zu Recht keine Bedeutung beigemessen worden. Aufmerksamkeit verdienen jedoch die beiden letzten Verse, wo dum perspicis omnem/naturam rerum, qua constet compta figura (949-50) zu dum percipis omnem/naturam rerum ac persentis utilitatem (4,24-5) abgewandelt worden ist. Während die Verse im ersten Buch ohne jeglichen Anstoß sind 354 , bereitet im vierten Buch das Verb percipis Schwierigkeiten, das man wegen der noch folgenden Abweichungen in Vers 25 wohl kaum zu perspicis355 verbessern darf. H. Drexler hat mit

350 So steht beispielsweise das eigentliche Epikurlob und damit der Höhepunkt des sechsten Proömiums erst in Vers sechs und zudem in einem Relativsatz. 351 Vgl. L. Gompf, 159. 352 K. Lachmann, Komm., 61. 353 Nicht überzeugend M. Gale, Proems, 5, die annimmt, daß Vergil bereits 4,1-25 gekannt haben müsse, da das Binnenproöm georg. 3,289-93 ein Proöm in der Werkmitte von de rerum natura voraussetze. 354 K. Büchner, Prooemien, 189 sieht in qua constet compta figura (950) eine unnötige Einschränkung von omnem naturam (949), die er an dieser Stelle viel zu einseitig als "alles Wesen der Dinge, speziell derer, die geeignet sind, von der Götterfurcht zu befreien" auffaßt; vgl. L. Gompf, 160f. 355 Die Konjektur wäre leicht zu rechtfertigen; vgl. nur ThLL X,1,1207,27-9 zur häufigen Verwechselung der beiden Verben.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

93

Recht darauf hingewiesen, daß percipere bei Lukrez "in der Regel vernehmen" 356 bedeutet, an keiner Stelle jedoch wahrnehmen 357 . Drexler will daher naturam rerum als "Lehre von der Natur der Dinge" auffassen, wofür er jedoch die notwendigen Parallelen aus dem Lukreztext nicht erbringen kann 358 . L. Gompf hilft sich nun über die Schwierigkeit hinweg, indem er für percipere die Bedeutung "vollkommen begreifen" 359 vermutet, die bei Cicero (z.B. fin. 1,19) belegt ist. Diese Bedeutung von percipere ist allerdings sonst nicht bei Lukrez auffindbar; zudem gilt noch immer W. Schmids feine Beobachtung 360 , daß die Wahrnehmung der gesamten Natur der Dinge nicht dem Denken, sondern dem Sehen unterliegt. Epikur hat sie aufgedeckt und offen sichtbar gemacht (vgl. l,66f.), so daß man sie nun in seiner Nachfolge schauen kann (vgl. 1,145; 1,1117). Schmid schließt seine Beobachtung: "Der Akt, in dem wir uns des Seienden in seiner Totalität (omnem) bemächtigen, ist ein perspicere, kein percipere,361 Das Verbum percipere ist in der Bedeutung "begreifen" nicht nur dem Sprachgebrauch des Lukrez fremd, sondern an dieser Stelle auch sachlich unzutreffend; es verrät klar den späteren Interpolator, dem percipere in der Bedeutung "begreifen" völlig geläufig, die exakte Vorstellung des Lukrez von der Wahrnehmung der Natur als einem Akt des Schauens jedoch nicht vertraut war. Bleibt noch die auffälligste Veränderung von qua constet compta figura (1,950) zu ac persentis utilitatem (4,25). Während die Wendung im ersten Buch ohne jeden Anstoß ist und die folgende Erörterung über die Bildung des Universums 362 vorbereitet, fehlt bisher jede überzeugende Erklärung für ac persentis utilitatem. K. Büchners wiederholt vorgetragene Interpretation 363 , das Austrinken des bitteren Absinthbechers (4,15f.) mit dem Aufnehmen der ganzen Natur (24f.) sowie den durch die Täuschung erwirkten Heilungsvorgang (16f.) mit dem Verspüren des

356

H. Drexler, 87. Vgl. dazu W. Schmid, Altes und Neues, 348. 358 Drexlers vermeintliche und von ihm selbst mit Skepsis vorgetragene Parallelen (vgl. Aporien, 87 Anm. 2) wurden bereits von W. Schmid, Altes und Neues, 348 und später von L. Gompf, 161 zurückgewiesen. 359 L. Gompf, 162. 360 W. Schmid, Altes und Neues, 348f. 361 W. Schmid, Altes und Neues, 349. Weitere Belege lassen sich finden; so wird etwa die Entdeckung der Wahrheit durch Epikur als "Dagegenschauen" (1,67) aufgefaßt. 362 Vgl. C. Bailey, 11,758 und L. Gompf, 160f. gegen K. Büchner, Prooemien, 189f. 363 K. Büchner, Beobachtungen über Vers- und Gedankengang bei Lukrez, Berlin, 1936, 101; Prooemien, 189f. 357

94

Unechte Verswiederholungen

Nutzens (25) in Parallelität zu sehen, kann nicht überzeugen. Wenn K. Büchner das Erfassen des gesamten Wesens der Natur als bittere Medizin auffaßt, mag dies viel für sein Lukrezverständnis besagen; in Wahrheit entspricht natürlich dem Austrinken des Absinthbechers das Durchhalten beim Lesen des lukrezischen Lehrgedichts (vgl. 948f. teuere uersibus in nostris) und der Heilung der Kinder die Schau des gesamten Wesens der Natur 364 . Hingegen wird der Nutzen in dem Gleichnis selbst nicht ausdrücklich erwähnt, so daß eine Parallele zu ac persentis utilitatem fehlt. Zudem steht utilitas allein ohne ein notwendiges Attribut; eine Ergänzung aus dem vorausgegangenen Teilsatz, seil, omnis naturae rerum utilitas ist unsinnig, statt dessen muß man in Gedanken "den Nutzen meiner Lehre" oder ähnliches ergänzen 365 . Ein derartiger Gedanke mag durchaus nicht unzutreffend sein, jedoch ist er in den "abgerissenen, stammelnden Worten" 366 ac persentis utilitatem unverständlich und ungenügend formuliert. Vergleicht man also 4,1-25 mit 1, 921-50, so erscheinen die Verse im vierten Buch eines notwendigen Anfangs beraubt und am Ende mißgestaltet. Man muß Lukrez den Willen zur Selbstverschlechterung vorhalten, wenn man ihm selbst diese mißlungene Veränderung der Verse 92150 für das vierte Proömium zumutet, was offensichtlich absurd ist. Neben den den Versen selbst anhaftenden Mängeln kommen jedoch noch weitere externe Überlegungen hinzu, die 4,1-25 als Proömium des vierten Buches unmöglich erscheinen lassen. Bereits C. Bailey hat darauf hingewiesen, daß die Verse nur im ersten Buch einen sinnvollen Platz einnehmen und als Proömium ungeeignet sind 367 . Zudem hat G. Müller die für das gesamte Werk des Lukrez so charakteristischen Bezüge zwischen Proömien und Buchfinalia

364

So längst richtig erkannt von W. Schmid, Altes und Neues, 347f. und nach dem erneuten Einspruch K. Büchners (Prooemien, 189) wiederholt und tabellarisch verdeutlicht bei L. Gompf, 163ff. 365 Vgl. W. Schmid, 348; L. Gompfs Vorschlag (162f.), zu utilitatem als Attribut pereipis omnem naturam zu ergänzen und von dem Nutzen auszugehen, "den die Naturerkenntnis mit sich bringt", scheint mir sprachlich schwierig und durch Gompfs Belege (l,330f.; 3,206f.) nicht gesichert. Gale, Proems, 11 erklärt utilitatem als "the Utility of his poetry", wofür der Text jedoch auch keinen sicheren Anhaltspunkt bietet. 366 W. Schmid, Altes und Neues, 348. 367 Vgl. C. Bailey, 11,758; sowohl tenere (948) also auch insbesondere 931-32 und 944-6 sind trotz Büchners Einwände (Prooemien, 189) nur zu Beginn des Werkes passend.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

95

verdeutlicht 368 ; allein dem Proömium zum vierten Buch fehlen die Rückkoppelung an das Finale des dritten und der inhaltliche Bezug zum Finale des vierten Buches 369 . Daß lediglich der programmatische Charakter der Verse 4,1-25 trotz aller hier vorgetragenen Bedenken ihre Verwendung als Proöm in der Mitte des Werkes rechtfertige, wie G.B. Conte 370 zu zeigen versucht hat, ist ebenfalls nicht überzeugend. All diese Überlegungen machen deutlich, daß die Wiederholung der Verse 1,921-50 im vierten Buch ungeschickt und an ungeeigneter Stelle vorgenommen worden ist. Dennoch wird die Echtheit des vierten Proömiums von vielen Forschern, die dessen Mängel anerkennen, oftmals mit dem Argument verteidigt, daß Lukrez aus Freude an diesen so schönen und gut gelungenen Versen eine Wiederholung auch an einer weniger passenden Stelle selbst vorgenommen habe 371 . Diese Auffassung, die selbst von dem so konservativen Lukrezkritiker O. Regenbogen scharf zurückgewiesen 372 und von W. Schmid nur milde belächelt wurde 373 , wird gerade in jüngster Zeit als entscheidendes Argument für die Echtheit des vierten Proömiums vorgebracht. Es ist hier mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen, da es jedes kritische Urteil aufhebt und einem Dichter wie Lukrez nicht gerecht wird, der es nicht nötig hat,

368

Siehe G. Müller, Finalia, 197ff; dort zur "Unmöglichkeit" des vierten Proömiums S.

214. 369

M. Gale, Proems, 6-10 versucht zwar, Bezüge der Verse 4,1-25 zum vierten Buch und den anderen Proömien herauszustellen; diese bleiben jedoch zufällig und assoziativ (vgl. nur S. 8: "Lucretius' amor musarum contrasts ... with the sexual amor discussed at the end of the book") und sind trotz der großen Zahl ähnlicher Beobachtungen alles andere als zwingend. Insbesondere fehlt den Versen 4,1-25 jeder Ausdruck der Verehrung oder Dankbarkeit für Epikur bzw. seine Lehre, die in allen anderen Proömien (auch im zweiten) ein zentrales Thema ist. 370 G.B. Conte, Proems in the middle, YCS, 29, 1992, 147ff., bes. 158f. (ursprüngl. in Virgilio. II genere e i suoi confini, Turin, 1980, 122ff.). Conte meint, die Werkmitte sei der bevorzugte Platz für programmatische Äußerungen römischer Dichter; seine aus Vergil hergeleitete Definition des "proem in the middle as the privileged locus of literary consciousness" (S. 153) läßt sich jedoch nicht automatisch auf andere Dichter übertragen; vgl. nur Contes eigene Einschränkungen zum Proöm des siebten Buchs von Ennius' Annalen (S. 155, Anm. 6), die in gleicher Weise auf Lukrez anzuwenden sind. 371 Diese Auffassung, vertreten insbesondere von C. Lenz, 70, findet sich auch bei L. Gompf, 169 und in den neueren Kommentare von C. Bailey, J. Godwin und R.D. Brown. 372 O. Regenbogen, 24, tadelt dieses Argument zutreffend als eine "Ausrede, mit der nur grundsätzlich stumpfe Kritik sich beruhigen kann". 373 W. Schmid, Altes und Neues, 349 Anm. 26, sagt alles mit zwei Worten: "Armer Lukrez!"

96

Unechte Verswiederholungen

Verse allein um ihrer Schönheit willen unpassend und ungeschickt zu wiederholen. Daß das vierte Proömium interpoliert ist, kann man mit guten Gründen demnach nicht bestreiten, so daß allein die Entstehung der Interpolation offenbleibt. Lachmann, Schmid und Müller gehen davon aus, daß Lukrez das vierte Buch als einziges ohne ein Proömium hinterlassen hat, weshalb ein späterer Herausgeber durch die Wiederholung aus dem ersten Buch diese Anomalie beheben wollte. Das Fehlen des Proömiums deuten sie übereinstimmend als ein Indiz für die Unvollendetheit des lukrezischen Werkes, da man ihrer Meinung nach vor der mit Vers 26 einsetzenden Propositio ein Proöm erwarten muß. Diese These verliert jedoch an Plausibilität, je mehr man in der neueren Forschung erkennt, welch hohes Maß an Vollendung das Werk des Lukrez aufweist 374 . Bedarf nun das vierte Buch wirklich eines Proömiums? Diese Frage soll in Anschluß an die Behandlung von 4,26-44 erörtert werden 375 . Quintilian scheint die Verse bereits als Proöm des vierten Buches gelesen zu haben. In inst. 8,6,45 zitiert er avia Pieridum peragro loca in Anschluß an Hör. carm. 1,14,1-3 als Beispiel für das Stilmittel der Allegorie als continuatae tralationes, von welchen man im ersten Buch, wo dem Lukrezzitat der Hinweis mente uigenti (1,925) vorangeht, nicht eigentlich sprechen kann. In inst. 3,1,4 zitiert Quintilian die Verse 4,1113 ( = 1,936-8) mit der Variante ac ueluti, während die Handschriften einheitlich sed ueluti für Buch 1 und nam ueluti für Buch 4 überliefern. Wie Quintilian bezeugt jedoch auch Nonius (p. 413,17ff.) ac ueluti, der dabei sein Zitat mit expliziter Angabe dem vierten Buch des Lukrez entnimmt. Beide Quintilianstellen weisen demnach darauf hin, daß die Verse 1,926-50 spätestens am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. als Proöm dem vierten Buch vorangestellt waren 376 .

374

J. Bernays' Vermutung (RhM, 5, 1847, 577), das echte Proömium des vierten Buches sei verlorengegangen, ist zwar nicht auszuschließen; sein Hauptargument, das Kapitulum zu 4,1-29 SIBI IUCUNDISSIMUM ESSE QUOD CLARAM LUCEM MORTALIBUS OSTENDAT passe nicht zum Inhalt des überlieferten Proöms, ist jedoch nicht zwingend, da man wohl nicht völlig unberechtigt SIBI IUCUNDISSIMUM ESSE auf Vers 2 (vgl. iuuat), QUOD CLARAM LUCEM MORTALIBUS OSTENDAT auf die Verse 8 (tarn und 20f. (uolui tibi ... rationem exponere nostram) beziehen kann. lucida...carmina) 375

Siehe dazu 159. Die Verse Man. 2,50-56 sind fraglos von Lucr. 1,926-30 ( = 4 , 1 - 5 ) beeinflußt; einen sicheren Hinweis für die eigentliche Vorlage bieten die Verse des Manilius jedoch nicht. 376

Wiederholungen längerer Textabschnitte

97

4,217-29 ( = 6,923-35) Neben dem Proömium findet sich im vierten Buch eine zweite nahezu wörtliche Wiederholung größeren Ausmaßes; diesmal hat der Interpolator Verse aus dem sechsten Buch eingearbeitet: 6,921-35

925

934 935 930

933

Principio omnibus ab rebus, quascumque uidemus, perpetuo fluere ac mitti spargique necessest corpora quae feriant oculos uisumque lacessant; perpetuoque fluunt certis ab rebus odores, frigus ut < a > fluuiis, calor ab sole, aestus ab undis aequoris, exesor moerorum litora propter; nec uarii cessant sonitus manare per auras; denique in os salsi uenit umor saepe saporis, cum mare uersamur propter, dilutaque contra cum tuimur misceri absinthia, tangit amaror. usque adeo omnibus ab rebus res quaeque fluenter fertur et in cunctas dimittitur undique partis, nec mora nec requies interdatur ulla fluendi, perpetuo quoniam sentimus et omnia Semper cernere odorari licet et sentire sonare.

925 a add. iam Italici

\ \ ordinem uersuum 930-35 rest.

Lachmann

Diese Versgruppe enthält die erste der drei Vorbemerkungen des Lukrez zur Erklärung des Magnetismus, dem Thema der Verse 906-1089 im sechsten Buch. Die Wirkung des Magnetismus beschreibt Lukrez knapp in den Versen 906-916; 917-20 rechtfertigen mit der Schwierigkeit dieses Phänomens ein längeres Ausholen, das sich dann in den Versen 921-997, den drei Vorbemerkungen, kundtut. Die erste Vorbemerkung (vgl. principio, 921) verweist auf das (empirisch wahrnehmbare) ständige Ausströmen von Atomen aus allen Stoffen. Sehen und Riechen ergeben sich durch den Ausfluß von Bildern und Gerüchen (921-4), weiter wird von den Flüssen Kälte, der Sonne Wärme und den Wellen Brandung ausgeströmt (925-6). Ebenso werden Töne und Meeresgischt, die man wie den in einem Getränk aufgelösten Wermut als einen bitteren Geschmack wahrnimmt, als Atomausströmungen aufgefaßt (927-9.34). 935.30-33 377 fassen diese Einzelbeobachtun-

377 Die Reihenfolge der Verse hat K. Lachmann entsprechend der Versfolge im vierten Buch wiederhergestellt; sie ist heute allgemein akzeptiert.

98

Unechte Verswiederholungen

gen zusammen: Von den Dingen geht nach allen Seiten hin ein nie endender Fluß von Atomen aus, der von den menschlichen Sinnesorganen durch das Sehen, Riechen und Hören wahrgenommen wird. Lukrez betont also empirisch wahrnehmbare Phänomene, aus denen er einen ständigen Atomstrom aus allen Dingen herleiten kann. Damit schafft er die notwendige Grundlage, von der aus er später (1002ff.) stillschweigend den für den Magnetismus entscheidenden, jedoch empirisch nicht wahrnehmbaren Atomausstoß des Magnetsteins voraussetzen kann. Die Verse 6,921-35 sind damit eine grundlegende Vorbemerkung zur Erklärung des Magnetismus und zweifellos für diese Stelle komponiert 378 . 4,214-33

iamne uides igitur quam puncto tempore imago aetheris ex oris in terrarum accidat oras? [quare etiam atque etiam mira fateare necessest 216a corpora quae feriant oculos uisumque Iacessant. (...) 229 cernere odorari licet et sentire sonare.] 215

*

230

Praeterea quoniam manibus tractata figura in tenebris quaedam cognoscitur esse eadem quae cernitur in luce et claro candore, necessest consimili causa tactum uisumque moueri.

216 mira: mitti Lambinus (cf. 6,922) \ \ post 216 lac. ind. Purmann, suppl. K. | | post 229 lacunam ind. Susemihl

Müller

Innerhalb der großen Diskussion, die über die Verse 4,216-229 herrscht, scheint zumindest eine Streitfrage eine allgemein anerkannte Lösung gefunden zu haben: nach Vers 216 ist zumindest ein Vers ausgefallen. Lukrez hat in den unmittelbar vorausgegangenen Versen 176-215 die Schnelligkeit und Beweglichkeit der simulacro behandelt; dieses Thema ist ausdrücklich in den Versen 176-9 formuliert, im folgenden behandelt und in den Versen 209-15 mit einem letzten beeindruckenden Beispiel, der unmittelbaren Spiegelung der Gestirne in einem mit Wasser gefüllten Gefäß bei Nacht, auch sprachlich durch die zusammenfassende Formulierung iamne uides igitur (214) abgeschlossen worden. Der von quare etiam atque etiam eingeleitete Gedanke kann nur als Resultat der vor378

Zu demselben Urteil kommt auch G. Müller, I, 272.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

99

ausgegangenen Untersuchung, unmöglich als "transitional paragraph" 3 7 9 , also als Übergang zu einem neuen Gedanken aufgefaßt werden. Ein irgendwie sinnvolles Resultat muß daher die Geschwindigkeit der Bilderbewegung berücksichtigen, was durch das überlieferte mira in Vers 216 angedeutet wird. Damit wird die Annahme einer Lücke unvermeidbar, da ein zu mira benötigter Infinitiv fehlt 380 . Konjiziert man hingegen mit Lambin mitti, entsteht zwar ein syntaktisch stimmiger, aber inhaltlich unzutreffender Satz: 'Man muß daher immer und immer wieder gestehen, daß Körper ausgesandt werden, die das Auge treffen und das Sehen bewirken'. Aus der schnellen Bewegung der simulacra unmittelbar auf die Existenz von Körpern zu schließen, die das Sehen bewirken (wovon bislang mit keinem Wort die Rede war!) ist evident unmöglich 381 . Nahezu sicher, wenn auch in neuerer Zeit allein in der Ausgabe von K. Müller angezeigt, ist eine von Susemihl 382 erstmals geforderte und insbesondere von Giussani begründete umfangreichere Lücke vor Vers 230, unabhängig von der Echtheit der Verse 216-29. Während die Verse 176-215 die Schnelligkeit der simulacra behandeln, setzen die Verse 230ff. die Theorie des Sehens bereits voraus. Zum einen weist praeterea (230) darauf hin, daß bereits zumindest ein Argument vorher die Theorie des Sehens als Berührung durch simulacra eingeführt haben muß 3 8 3 . Zudem setzt der klare Themenwechsel von der Darstellung der simulacra einerseits (54-215) und der Theorie des Sehens andererseits (230-452)

379

So Bailey, 111,1209 Der Inhalt dieser erstmals von Purmann (vgl. App. bei K. Müller zur Stelle) angezeigten Lücke ist klar; zu mira wird als Bezugswort mobilitate (vgl. 4,177) neben dem Infinitiv eines Verbums der schnellen Bewegung, z.B. ferri, transcurrere etc. erwartet. 381 Die Konjektur mitti, die immerhin so prominente Beführworter wie K. Lachmann, H. Diels, P. Maas und letztlich auch C. Bailey fand, wird von den neueren Herausgebern (K. Büchner, K. Müller, J. Godwin, M.F. Smith) zu Recht verworfen. 382 F. Susemihl, Bemerkungen zum vierten buche des Lucretius, Philologus, 29, 1870, 437. 383 Vgl. C. Giussani, III, 176f.; G. Müller, I, 272. Auch inhaltlich ist das Argument der Verse 230ff. ein untergeordnetes, das das zur Erklärung des Sehens notwendige "Schlüsselwort" tactus bereits voraussetzt; Vgl. W. Richter, Textstudien zu Lukrez, München, 1974, 60, der zu Recht eine allgemeine Begründung fordert, "die deutlich macht, daß ohne ein solches Auftreffen von Materie auf das Auge von außen her kein Sehen zustandekommt". 380

100

Unechte Verswiederholungen

eine deutliche Markierung im Text, etwa durch die Formel nunc age, 384

voraus . Der Abschnitt 4,216-29 kann unmöglich als das erste Argument für die Theorie des Sehens gelten; rein formal nicht, weil er von quare etiam atque etiam eingeleitet wird und damit keinen Neueinsatz, sondern das Resultat einer vorausgegangenen Behandlung enthalten müßte, aber auch inhaltlich nicht, da er die Theorie des Sehens nicht einführt, sondern den allgemeinen Atomausstoß aller Dinge, der von unseren Sinnen wahrgenommen werden kann, nachweist. An das Resümee dieser Verse (2259) kann sich praeterea (230) unmöglich als gedankliche Fortsetzung anschließen; eine Lücke vor 230 steht daher außer Frage. Bleibt als dritte Streitfrage die Echtheit der Verse 216-229. Wie bereits dargestellt sind die Verse 216ff. durch quare etiam atque etiam als resultierende Folgerung aus den vorausgegangenen Versen angeschlossen. Dabei wäre als Resultat die erneute Betonung der Schnelligkeit der simulacra zu erwarten, jedoch geht die Folgerung der Verse 216-7 darüber hinaus und nimmt als Resultat bereits vorweg, was noch gar nicht dargestellt worden ist, ja vielmehr als nächstes bewiesen werden muß: den unmittelbaren Einfluß von corpora auf das Sehen. Der Vers 217 nimmt unerlaubterweise ein erst noch zu beweisendes Ergebnis vorweg, das sich unmöglich aus der vorausgegangenen Darstellung ergeben kann 385 . Nun ist der Vers 217 nur der erste der insgesamt 13 aus dem sechsten Buch wiederholten Verse 386 . Die folgenden Verse 218-29 haben mit der vorausgegangenen Schnelligkeit der simulacra überhaupt nichts mehr gemeinsam; vielmehr weisen sie darauf hin, daß mit den menschlichen

384 Vgl. G. Müller, I, 272; auch Giussani, III, 177 hält einen nicht hervorgehobenen Übergang für "non (...) probabile". 385 Vgl. auch G. Müller, I, 272. Damit scheitert auch der Vorschlag W. Richters, 59ff., der die Verse 216-17 (mit der Annahme eines Versausfalls nach 216) für echt hält, danach die längere Lücke vor 230 annimmt, die ein späterer Interpolator, der sich bei 2,217 an 6,923 erinnert habe, mit eben den Versen aus dem sechsten Buch aufgefüllt habe. Den Vers 217 rechtfertigt Richter, indem er mit Vers 216 einen neuen "Großabschnitt" beginne läßt, "dessen dritter Vers (seil. 217) das neue Thema formuliert" (60). Dieses Verständnis von quare etiam atque etiam hat jedoch im Lukreztext keine Parallele. 386 Die Abweichungen zwischen 6,923-35 und 4,217-29 (6,926: litora propter (ähnlich wie in 5,35: propter...litus) - 4,220: litora circum\ 6,927 sonitus manare - 4,221 uoces uolitare) sind m.E. zu unerheblich, als daß irgendwelche Folgerungen daraus gezogen werden können. Giussani, III, 177 und Lenz, 61 sehen in der zweiten Veränderung eine "Verbesserung" wegen der Alliteration uariae ...uoces uolitare; wenn hier tatsächlich Absicht statt fehlender Sorgfalt beim Übertragen zu Grunde liegt, sei dem Interpolator dieser Dichterlorbeer gerne gegönnt!

Wiederholungen längerer Textabschnitte

101

Sinnen das Ausströmen von Atomen von allen Dingen wahrgenommen werden kann. War dieser Hinweis im sechsten Buch eine entscheidende Voraussetzung für die Erklärung des Magnetismus, so wirkt er an dieser Stelle verfehlt, an der die Existenz von Bilderfilmen, die von den Dingen ausgeschickt werden, längst exakt und ausführlich hergeleitet und (54175) mittlerweile unter sicherer Voraussetzung ihrer Existenz die Schnelligkeit der Bilder nachgewiesen worden ist. Der Gedanke der Verse 21629 ist mit quare etiam atque etiam logisch falsch mit dem vorausgegangenen verbunden und inhaltlich ein Fremdkörper, der weder zur simulacraTheorie der vorherigen Verse noch zu der Theorie des Sehens der folgenden Verse in Beziehung steht. Keinem Kommentator ist es daher auch gelungen, diesen Versen irgendeinen Gewinn für den Gedankengang zu entnehmen. C. Giussani, der die Verse als Eigenwiederholung des Lukrez markiert, die der Dichter nicht mehr in den Kontext eingearbeitet habe, stellt nicht die Frage, in welcher Form Lukrez irgendwie sinnvoll auf diese Verse aus dem sechsten Buch an dieser Stelle zurückgreifen sollte 387 ; C. Baileys beschönigendes Urteil (vgl. III,1209f.), die Verse seien ursprünglich für diese Stelle als "transitional paragraph" geschrieben und im sechsten Buch wiederholt, kann bereits aus dem einen Grund nicht richtig sein, als der Vers 217 unmöglich zur Erklärung des Sehvorganges genügt und keine ausreichende Grundlage bietet, in Vers 230 daran bereits ein mit praeterea eingeleitetes und damit inhaltlich untergeordnetes Argument anzufügen. Als Motiv für die offensichtliche Interpolation der Verse 216-29 liegt die Vermutung nahe, daß an die simulacra-Lehre, die mit Vers 215 wohl zum Abschluß gekommen ist 388 , assoziativ der allgemeinere Tatbestand, daß alle Dinge Atome aussenden, angeschlossen werden sollte 389 . Als Ergebnisse können wir also zusammenfassen: Zwischen Vers 215 und 230 stand im echten Lukreztext ein Textabschnitt, der zumindest das erste Argument für die eigentliche Theorie des Sehens (als Berührung der Augen durch die simulacra) enthalten hat. Nur an einen solchen Textabschnitt kann sich praeterea (230) sinnvoll anschließen.

387

Vgl. C. Giussani, III, 180 und die berechtigte Kritik G. Müllers, I, 273. Vgl. G. Müller, I, 271f. 389 Es liegt also wieder der Typ der "collaborative interpolation" am Ende eines Textabschnittes vor; vgl. R.J. Tarrant, Reader, 137; als "assoziativen Zusatz" hat bereits G. Müller, I, 272, diese Versgruppe bezeichnet. 388

Unechte Verswiederholungen

102

A n Stelle d i e s e s verlorenen Abschnittes enthält unsere Überlieferung die Verse 2 1 6 - 2 2 9 , die sich als Interpolation 3 9 0 in Anschluß an 2 1 5 erweisen. Dabei ging im Laufe der weiteren Überlieferung zumindest ein Vers nach 2 1 6 verloren 3 9 1 . Aulus Gellius las die Interpolation bereits in seinem Lukreztext; er zitiert ( 1 , 2 1 , 6 ) dilutaque ... amaror explizit aus d e m vierten Buch des Lukrez.

5,128-141 ( = 3,784-797) D i e s e längste wörtliche Wiederholung im fünften Buch übernimmt fast vollständig und unverändert einen B e w e i s für die Sterblichkeit der Seele aus d e m dritten Buch, u m ihn als Argument dafür zu verwenden, daß H i m m e l , Erde, M e e r und die Gestirne keine Gottheiten sind. 3,784-799 785

790

795

390

Denique in aethere non arbor, non aequore in alto nubes esse queunt, nec pisces uiuere in aruis, nec cruor in lignis neque saxis sucus inesse, certum ac dispositumst ubi quicquid crescat et insit. sic animi natura nequit sine corpore oriri sola, neque a neruis et sanguine longius esse. quod si posset enim, multo prius ipsa animi uis in capite aut umeris aut imis calcibus esse posset et innasci quauis in parte soleret, tandem in eodem homine atque in eodem uase manere. quod quoniam nostro quoque constat corpore certum dispositumque uidetur ubi esse et crescere possit sorsum anima atque animus, tanto magis infitiandum totum posse extra corpus durare genique.

Die Verse wurden erstmals von A. Forbiger, 28-34 zur Athetese vorgeschlagen. Natürlich kann man den Vers 216 verteidigen, wenn man auch nach 216 eine längere Lücke annimmt, in der erst der Gedanke des Verses 216 abgeschlossen wurde (etwa: du mußt gestehen, daß die simulacra mit wunderbarer Beweglichkeit unser Weltall durchfliegen) und dann eine neue (von dem Interpolator verfaßte) Überleitung folgte, die die Verse 217ff. syntaktisch anschließt. Die Verse 217-29 selbst sind damit allerdings nicht zu retten, da sie an sich mit dem Kontext nicht vereinbar sind. 391

Wiederholungen längerer Textabschnitte

103

quare, corpus ubi interiit, periisse necessest confiteare animam distractam in corpore toto. 790 quod: hoc Marullus | | quid si posset enim? multo .... Lachmann parte dist. Munro | | 793 iam dum ... maneret Madvig

| | 792 post

Dieser mit denique eingeleitete 26. Beweis für die Sterblichkeit der Seele macht an Hand einer Reihe von Adynata deutlich, daß die Seele untrennbar mit dem Körper verbunden ist und mit ihm untergehen muß. Die Unmöglichkeit, Bäume im Himmel, Wolken im Meer, Fische auf den Feldern, Blut im Holz oder Saft in Steinen zu finden (784-6), zeigt, daß einem jeden für sein Dasein und Wachsen ein fester Ort zugeteilt ist (787), weshalb die Seele nicht außerhalb des Körpers entstehen und getrennt von Blut und Nerven weiter Bestand haben kann (788-9). Die Annahme des Gegenteils beweist dies: Könnte die Seele nämlich außerhalb des Körpers bestehen, so müßte sie im Kopf, in den Schultern, Füßen und jedem beliebigen anderen Körperteil erst recht (d.h. viel eher dort als außerhalb des Körpers) bestehen können (790-2), bliebe im übrigen damit jedoch noch immer im Körper gleich wie in einem Gefäß verfangen (793). Der Text der Verse 790-3 enthält dabei zwei Schwierigkeiten. Zuerst ist die Verbindung von quod si und enim in Vers 790 offenbar ohne echte Parallele 392 , weshalb Marullus quod zu hoc verbessert hat, Lachmann seinerseits quod durch quid ersetzt und einen Fragesatz liest: "Was wäre nämlich, wenn sie es könnte?" Lachmanns Lösung ist zweifelsohne elegant; die Verschreibung von quid si zum geläufigeren quod si zudem leicht zu erklären. Der Sinn bleibt indes unverändert, gleich ob man die Überlieferung hält oder sich für Marullus' oder Lachmanns Konjektur entscheidet. Schwieriger und für den Sinn bedeutender ist die Frage, wie man den nachhängenden Infinitiv manere in Vers 793 konstruieren soll. Mit Munro nach parte zu interpungieren und manere von soleret abhängig zu machen, ist wegen des unnatürlichen Enjambements und der Stellung von tandem (an zweiter Stelle) unglücklich. Madvigs Konjektur 393 iam dum ... maneret ("solange sie nur in demselben Mensch wie in einem Gefäß bleibt") beeinträchtigt den Sinn, da sie den Aufenthaltsort der Seele allein auf den Körper einschränkt, während der Vers 790 ja gerade auch einen Aufenthalt außerhalb des Körpers - quod

392 393

Vgl. K. Lachmann, Komm., 183f. Siehe J. Madvig, Adversaria Critica, 2, Kopenhagen, 1873, 24.

104

Unechte Verswiederholungen

(790) nimmt animi natura nequ.it sine corpore oriri sola (788-9) wieder auf - als möglich denkt. Deshalb sollte man manere halten, nach soleret interpungieren und entweder posset oder soleret394 zu manere ergänzen. Die Endgültigkeit des Verses 793, die durch tandem und den Vergleich des Körpers mit einem Gefäß zum Ausdruck kommt, wird durch ein phraseologisches posset bzw. soleret nicht beeinträchtigt395: 'Die von Blut und Nerven getrennte Seele könnte sich in Kopf oder Füßen befinden, sie würde gewöhnlich in jedem Körperteil entstehen - obwohl dies schon undenkbar ist, würde sie damit letztlich noch immer im Menschen wie in einem Gefäß bleiben: Um so absurder ist die Annahme, sie könnte sich außerhalb des Körpers aufhalten' 396 . Damit ist der gesamte fiktive Gedanke der Verse 790-3 befriedigend abgeschlossen. Durch diese Absurdität ist die untrennbare Verbindung zwischen Geist und Körper erwiesen (794-7), womit auch ihr gemeinsamer Untergang feststeht (798-9). Die Verse 784-799 ergeben also einen stimmigen Beweis für die Sterblichkeit der Seele und gehören daher eindeutig an diese Stelle im dritten Buch 397 . 5,113-145

115

120

394

multa tibi expediam doctis solacia dictis; religione refrenatus ne forte rearis terras et solem et caelum, mare sidera lunam corpore diuino debere aeterna manere, proptereaque putes ritu par esse Gigantum pendere eos poenas inmani pro scelere omnis, qui ratione sua disturbent moenia mundi praeclarumque uelint caeli restinguere solem, immortalia mortali sermone notantes; quae procul usque adeo diuino a numine distant, [inque deum numero quae sint indigna uideri,] notitiam potius praebere ut posse putentur

So drucken auch alle neueren Ausgaben den Text; zur Rechtfertigung vgl. Bailey, 11,1127: manere in asyndeton is constructed with soleret (or posset or both). 395 Am sorgfältigsten verteidigt Kenney, 186, manere als von soleret abhängigen Infinitiv und versteht Vers 793 als "a qualification of quauis in parte, with manere dependent on soleret and in asyndetic parallelism with esse and innasci". 396 Auch Kenney, 186, paraphrasiert ähnlich: "Logically this is the main point: rather than exist outside (...) the soul would in fact stay in its container, the body". 397 Wie geschickt sie mit den folgenden Versen 800-829 verbunden sind, um die Beweisreihe abzuschließen und zum Buchfinale überzuleiten, wurde bereits verdeutlicht.

Wiederholungen längerer Textabschnitte 125

128 141

145

105

quid sit uitali motu sensuque remotum. [quippe etenim non est, cum quouis corpore ut esse posse animi natura putetur consiliumque; sicut in aethere non arbor . . . . totum posse extra corpus formamque animalem putribus in glebis terrarum aut solis < i n > igni aut in aqua durare aut altis aetheris oris. haud igitur constant diuino praedita sensu, quandoquidem nequeunt uitaliter esse animata.]

116 manere ed. Iunt.: meare | | 122 a numine distant Madvig: a numine distent ¡tal.: animinbistent OQ | | 123 uideri: uidentur Madvig | | 142 in add. lud.

Die hier zu behandelnden Verse entstammen dem längeren Abschnitt 5,110-234, der dem Leser vor der eigentlichen Weltentstehungslehre mit gelehrten Worten viel Trost spenden soll (vgl. 113: multa tibi expediam doctis solada dictis). Dieser Trost besteht für Lukrez in der Überwindung dreier geläufiger, aber falscher Meinungen, zuerst, daß Himmel, Erde und Meer sowie die weiteren Gestirne göttlicher Natur seien (114145), weiter, daß sich Götter auf der Welt befänden (146-55) und zuletzt, daß die Welt ein Werk der Götter sei (156-234). Erst nach der Überwindung dieser Fehlurteile beginnt die eigentliche Abhandlung über die Vergänglichkeit des Universums. Der erste Trostspruch, der direkt auf die Ankündigung des Exkurses folgt, wendet sich gegen die Furcht des Lesers, eine den Giganten 398 gleiche Strafe erleiden zu müssen, wenn er die vermeintlich ewigen Gottheiten Erde, Sonne, Himmel, Meer, Mond sowie andere Gestirne in der Gefolgschaft des Lukrez für materiell erklärt und damit entweiht (114-21). Lukrez macht hingegen klar, daß es sich bei ihnen nicht im geringsten um Gottheiten handelt, sondern sie vielmehr geradezu ein Beispiel für leb-und empfindungslose Masse abgeben (122-5). Die Verse 122-3 bereiten allerdings Schwierigkeiten. Zuerst hat J. Madvig 399 sicher mit Recht die Humanistenkonjektur a numine distent in 122, in dem "transitur ad ipsius Lucretii sententiam superioribus contrariam", wegen des Konjunktives angegriffen und das korrupte animinbistent zu a numine distant verbessert. Seine Konjektur uidentur in 123 löst dann alle Schwierigkeiten, die dieser Vers in seiner überlieferten Fassung enthält: die leere Wiederholung von quae, der Konjunktiv sint, der nach distant nicht

398 Der Vergleich der den Olymp stürmenden Giganten mit dem die moenia überwindenden Leser ist treffend gewählt; vgl. Costa, 61. 399 Adversaria Critica, 2, 25f.

mundi

106

Unechte Verswiederholungen

mehr möglich ist, das Bezugswort zu uideri™. Madvig, 26, räumt gegen seine eigene Konjektur ein, daß er sich die Verschreibung uidentur zu uideri nicht erklären kann; eine Erklärung scheint jedoch möglich, wenn man einen Schreiber annimmt, der Vers 123 nicht verstand, sich an den beiden finiten Verbformen sint und uidentur störte und daher videntur in den Infinitiv uideri abwandelte. Es scheint mir dennoch zumindest Überlegens wert, Vers 123 in seiner überlieferten Form zu belassen und als eine erweiternde Interpolation zu 122 aufzufassen; in Vers 124 schließt ut klar an procul usque adeo (122) an; das räumliche remotum in 125 greift distant (122) wieder auf. Der Vers 123 ist inhaltlich eine unerhebliche und sprachlich in der überlieferten Fassung schwer erträgliche Ergänzung zu 122. Ein Herausgeber hat die Bedeutung des korrupten Versschlusses von 122 nur noch erahnt und seine (sachlich zutreffende) Vermutung in einem eigenen Vers zum Ausdruck gebracht, womit auch die überflüssige und störende Wiederaufnahme von quae erklärt ist. 401 Von leblosen und damit auch nicht göttlichen Dingen wie Erde, Himmel, Meer und den Gestirnen ist also keine Strafe zu erwarten, so daß Lukrez den Leser hinsichtlich dieser Furcht mit den Versen 122-5 getröstet hat. Ein expliziter Beweis, weshalb derartige Dinge nicht göttlich sondern vielmehr leblos sind, ist an dieser Stelle nicht zwingend erforderlich - der Nachweis wird in 5,416ff. im Zusammenhang ihrer materiellen Entstehung folgen 402 -, wäre thematisch jedoch nicht von vornherein verfehlt, so daß über die Echtheit der Verse 126-45, die einen Beweis für die Unbelebtheit dieser Körper enthalten, allein die Qualität des Beweises entscheiden kann. Die Voraussetzung für diesen Beweis wird in den Versen 126-7 genannt: es ist nicht möglich, daß sich Geist und Planungsgabe mit jedem beliebigen Körper verbinden können. Sprachlich überzeugen die beiden Verse nicht. Die Konstruktion non est, ... ut esseposse ... putetur wirkt eher hilflos als "pénible" 403 bzw. "prosaic" 404 und imitiert unge-

400

Im übrigen ist indigna uideri nicht so abwegig, wie Madvig meint und Bailey mit seiner "Verlegenheitsparallele" (Quint, inst. 10,1,96: legi dignus) zuzugestehen scheint; vgl. etwa Ov. ars. 1,681: fabula...non indigna referri; Lucan. 9,55f: indigna fui...accendisse rogum. Nichtsdestoweniger ist der Ausdruck 'sie sind unwürdig, in der Zahl der Götter zu erscheinen' umständlich und wenig elegant. 401

Zum Typus der "Zusatzinterpolation" vgl. etwa C. Gnilka, Zwei Textprobleme bei Prudentius, Phil., 109, 1965, 2 5 8 mit Anm. 2. 402 Vgl. G. Müller, I, 2 6 2 , Anm. 1. 403 Vgl. Ernout-Robin, III, 20. 404 Vgl. Costa, 61

Wiederholungen längerer Textabschnitte

107

schickt den durch die Alliterationen besonders hervorgehobenen Vers 124 potius praebere ut posse putentur sowie den Vers 146 non est ut possis credere, also den Neueinsatz des echten Lukrez, um für seinen eigenen Zusatz einen einigermaßen passenden formalen Anschluß zu erziehlen. Dabei ist jedoch in 126 das Verbum esse unpräzis. Die Verse 128-41 wiederholen nun den Beweis für die unauflösbare Verbindung von Geist und menschlichem Körper aus dem dritten Buch mit den für den neuen Kontext unentbehrlichen Veränderungen 405 . So leitet den Vers 128 sicut (statt detiique) ein, womit eine Verbindung zu dem vorausgegangenen Vers hergestellt ist. Auf Grund des formalen Anschlusses sind die Verse 128-31 als Verdeutlichung der Verse 126-7 aufzufassen: der Geist kann nicht mit jedem Körper verbunden sein, ebenso wie es im Himmel keinen Baum, im Meer keine Wolken etc. geben kann; vielmehr ist einem jeden für sein Bestehen und Wachsen ein fester Ort zugeteilt. Ein entscheidender logischer Bruch setzt dabei in Vers 132f. ein, der besagt, daß die Seele allein nicht ohne Körper entstehen könne. Die Verse 126-31 zielten doch ganz darauf ab zu zeigen, daß die Seele nicht mit jedem Körper verbunden werden kann; daraus jedoch in Vers 132 mit sie zu schließen, daß die Seele allein nicht ohne einen Körper entstehen kann, ist sicherlich unmöglich, da allein eine Folgerung wie 'so kann auch die Seele nicht mit einem beliebigen Körper verbunden werden, sondern nur mit einem ganz bestimmten' zulässig wäre. Schuld an dem Mißverständnis ist die ianusköpfige Verwendung der Verse 128-31. Sie führten im dritten Buch zu der zwangsläufigen Folgerung, daß nichts außerhalb eines bestimmten Ortes entstehen kann und damit die Seele an den Körper gebunden ist. An der Stelle im fünften Buch bestätigen sie jedoch zuerst, daß die Seele nicht mit jedem Körper verbunden werden kann, während dann für 132ff. ihre alte Verwendung im dritten Buch vorausgesetzt ist. Nur vom Hintergrund des dritten Buches her kann man 132ff. verstehen, so daß klar ersichtlich wird, daß 128-41 eine Wiederholung von 3,784ff. sein müssen, die Lukrez selbst nicht vorgenommen haben kann 406 .

Die weiteren Veränderungen, salso ( 5 , 1 2 8 ) statt alto ( 3 , 7 8 4 ) und neque ( 5 , 1 2 9 ) statt nec ( 3 , 7 8 5 ) , sind unerheblich. 406 Bereits P. Goebel, Observationes Lucretianae, Bonn, 1854, 26f. hat das Problem andeutungsweise erkannt: "sed quae deinde secuta sie...sola etc, quid haec iam sibi uolunt, ubi de eo res non est, num sola sibi vivere possit anima extra corpus, sed potius num in talibus inesse possit, qualia sunt terra, mare, caelum, luna, sidera?" V o n den 405

108

Unechte Verswiederholungen

134ff. wiederholen nun weiter das Argument aus dem dritten Buch, daß die Seele nicht außerhalb des menschlichen Körpers bestehen kann, woraus dann in 140ff. durch den Austausch von durare genique (3,797) gegen formamque animalem (5,141) die neue Schlußfolgerung gezogen wird: Da Geist und Seele untrennbar mit dem Körper verbunden sind, können sie unmöglich außerhalb des Körpers und einer beseelten Form in der Erde, der Sonne, dem Wasser oder im Himmel fortdauern (138-43). Die Verse 144-5 fassen dieses Ergebnis nochmals in den eigenen Worten des Interpolators zusammen. Derartige Dinge können also nicht mit göttlichem Empfinden ausgestattet sein, da sie nicht wie ein Lebewesen beseelt sind. Weniger das hapax legomenon uitaliter als vielmehr das Fehlen eines zusammenfassenden Subjekts in 144 verraten weiter den Interpolator. Dieser will seine Eindichtung auch am unteren Ende formal dem echten Lukrez angleichen, indem er mit uitaliter auf uitali (125) zurückgreift und in 144 diuino aus 122 übernimmt 407 . Sieht man einmal von den sprachlichen Mängeln in 126-7 und 144-5 sowie dem logischen Bruch zwischen Vers 131 und 132 ab, so ist auch das Argument als ganzes nicht überzeugend. Durch 126-45 ist nur bewiesen, daß die menschliche Seele mit ihrem Körper untrennbar verbunden ist und deswegen nicht Dingen wie Sonne, Erde, Wasser etc. innewohnen kann. Dabei spricht der Interpolator in den Versen 142f. ganz selbstverständlich von diesen Körpern als materiellen und damit unbeseelten Dingen - die Erde wird etwa als putres glebae408 bezeichnet -, was die Leser kaum überzeugen wird, die doch gerade von der Göttlichkeit dieser Körper (vgl. 116, corpore diuino) überzeugt sind. Gerade der Nachweis, daß die Himmelsgestirne keine organischen Wesen 409 , sondern rein materielle Gebilde sind, worauf ja die Argumentation in 5,416ff. abzielen wird, wäre auch an dieser Stelle entscheidend gewesen. Jemandem, der die Erde als Gottheit fürchtet, muß man nicht beweisen, daß einer fauligen Scholle keine menschenähnlich gedachte Seele beigemischt ist, sondern vielmehr, daß die Erde als ganze kein göttlich-ewiges Wesen, sondern ein vergängliches Gebilde aus Atomen ist. Gerade diesen Nach-

Kommentatoren weisen nur Heinze und Giussani auf die Schwierigkeiten hin. Weitere Anlehnungen an den Sprachgebrauch des echten Lukrez sind in 144 haud igitur constant diuino praedita sensu auszumachen: vgl. 2,972: haud igitur...praedita sensu sowie 5,198f.: diuinitus statpraedita. 408 Übernommen aus 1,888: glebis terrarum. 409 Davon gehen jedoch gerade die konkurrierenden Lehren Piatons und des Aristoteles aus, die in den Himmelskörpern fcoa sahen; vgl. G. Müller, I, 262.

407

Wiederholungen längerer Textabschnitte

109

weis liefert der Interpolator jedoch nicht, sondern setzt dies stillschweigend voraus 410 . Mit Versen wie 5,126-145 gewinnt man den Leser kaum für den Epikureismus 411 . Ihnen ist mit G. und K. Müller die Echtheit abzusprechen.

6,56-67 ( = 1,153-4 und 5,82-90) sowie 6,90-1 Dieser Abschnitt setzt zwei Wiederholungen zusammen; 56-7 (=6,90-1) übernehmen 1,153-4; 58-66 wiederholen 5,82-90. 1,153-4 stehen unmittelbar in Anschluß an das Pröomium des ersten Buches in der Verkündigung des ersten Leitsatzes: 1,149-55 150

156 158 155

principium cuius hinc nobis exordia sumet, nullam rem e nihilo gigni diuinitus umquam. quippe ita formido mortalis continet omnis, quod multa in terris fieri caeloque tuentur, quorum operum causas nulla ratione uidere possunt, ac fieri diuino numine rentur. quas ob res ubi uiderimus nil posse creari de nihilo, tum quod sequimur iam rectius inde perspiciemus, et unde queat res quaeque creari, et quo quaeque modo fiant opera sine diuom.

155 post 158 transposuit Marullus

Lukrez begründet die Wichtigkeit seines ersten Leitsatzes, nie könne etwas aus göttlicher Fügung aus dem Nichts entstehen (150), mit der Furcht der Menschen vor vielen Erscheinungen am Himmel und auf der Erde (151-2), deren Ursachen sie nicht erblicken und die sie daher für göttliches Geschehen halten. Deswegen wird sich aus der richtigen Erkenntnis, daß nichts aus dem Nichts entstehen kann, des weiteren ergeben

410

G. Müller, I, 262, Anm. 1, spicht zu Recht von einer "subreptio" des Hauptarguments. Die gerade dem Begriff putres glebae innewohnende Polemik gegen die konkurrierenden Schulen scheint diesem Argumentationsgang nicht förderlich. 411 Daher genügt es auch nicht, mit Goebel, 27, allein die Verse 133-41 (einschließlich der Konjektur forma animali statt corpore oriri in 132!) bzw. mit Brieger und Housman, CP, II, 426 die Verse 128-37 zu streichen, was zwar die Probleme zwischen Vers 131 und 132 behebt, jedoch mit 126-7 und 138-45 ein unmögliches Argument übrigläßt.

110

Unechte Verswiederholungen

(156-8), wie alle Dinge auch ohne das Zutun der Götter entstehen können (158 + 155). Die Notwendigkeit der Verse 153 und 154 an dieser Stelle steht außer jeder Frage. Sie sind durch quorum operum, das sich auf multa in terris fieri caeloque (152) bezieht, fest in dem Kontext verwurzelt und für den Gedankengang unabkömmlich. Sie beschreiben die menschliche Unkenntnis der Naturphänomene (153) und den daraus resultierenden Götterglauben (154). Hingegen wird Lukrez dank seines ersten Leitsatzes nullam rem e nihilo gigni sowohl die Herkunft der Dinge erklären (158) wie auch die Notwendigkeit göttlichen Einflusses beseitigen (155), womit auch die menschliche Furcht (vgl. 151) überwunden werden kann. 153-4 werden also von 158 und 155 wiederaufgenommen 412 und sind notwendiger Bestandteil, um die Wichtigkeit des ersten Leitsatzes zu begründen. Auch die zweite Wiederholung (6,58-66 = 5,82-90) hat im fünften Buch ihren festen Platz. 5,76-90

80

85

90

praeterea solis cursus lunaeque meatus expediam qua ui flectat natura gubernans; ne forte haec inter caelum terramque reamur libera sponte sua cursus lustrare perennis, morigera ad fruges augendas atque animantis, neue aliqua diuom uolui ratione putemus. nam bene qui didicere deos securum agere aeuom, si tarnen interea mirantur qua ratione quaeque geri possint, praesertim rebus in illis quae supera caput aetheriis cernuntur in oris, rursus in antiquas referuntur religiones, et dominos acris adsciscunt, omnia posse quos miseri credunt, ignari quid queat esse, quid nequeat, finita potestas denique cuique quanam sit ratione atque alte terminus haerens.

In der Propositio zum fünften Buch kündigt Lukrez als weiteres Thema des Buches ab Vers 76 die Erklärung dafür an, wie die Natur Sonne und Mond in Kreisbahnen bewegt. Wieder ist die naturwissen-

412

Die von Marullus vorgenommene Umstellung des Verse 155 nach 158 steht wegen der Symmetrie des Gedankenganges außer Frage. Die überlieferte Versfolge hingegen ergibt eine unmögliche Periode.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

111

schaftliche Erklärung gegen die falschen Vorstellungen gerichtet, die Gestirne würden sich freiwillig von selbst oder gar auf Grund göttlicher Fügung zur Förderung des menschlichen Lebens in Kreisbahnen bewegen (76-81). Die folgenden (im sechsten Buch wiederholten) Verse leisten eine Begründung, weshalb gerade in Bezug auf die Bewegung der Gestirne die epikureische Aufklärung besonders notwendig ist. Denn auch für die Menschen, die bereits von dem sorglosen Dasein der Götter Kunde erlangt haben 413 , besteht die Gefahr, gerade auf Grund ihrer Unkenntnis der Himmelserscheinungen in den alten Götterglauben zurückzufallen und die Götter wieder als ihre allmächtigen Gebieter anzuerkennen (82-8), da diesen Menschen der Einblick in den festgelegten Ablauf der Naturphänomene fehlt (89-90) 414 . Damit tritt die gedankliche Einheit der Verse 76-90 klar hervor: Das neue Thema, die Bewegung der Gestirne, wird in 76-81 angekündigt und von 82-90 in seiner Relevanz gewürdigt. Die Unkenntnis in diesen Phänomenen (quae supera caput aetheriis cernuntur in oris) birgt die große Gefahr, daß die Menschen wieder in den alten Götterglauben zurückfallen. An der Echtheit von 5,82-90 ist nicht zu zweifeln. 6,46-71

47a 47b 48a 50

55

413

... quae restant percipe porro, quandoquidem semel insignem conscendere currum

uentorum, existant placentur < que > omnia rursum < atque in tranquillum, modo toto túrbida cáelo > quae fuerint, sint placato conuersa furore; cetera, quae fieri in terris caeloque tuentur mortales, pauidis cum pendent mentibus saepe, et faciunt ánimos humilis formidine diuom, depressosque premunt ad terram, propterea quod ignorantia causarum conferre deorum cogit ad imperium res et concedere regnum. [quorum operum causas nulla ratione uidere possunt ac fieri diuino numine rentur.

Vgl. etwa 2,646ff. Die Verse 89-90, die bereits an zwei Stellen im ersten Buch erschienen sind (1,76f.; l,595f.), enthalten "one of the strongest principles of Epicurean physics, that everything has its powers defined and immovably limited" (Costa, 57f.). Die Wiederholung erweckt hier daher keinen Anstoß. 414

112 58

70

Unechte Vers Wiederholungen nam bene qui ... 66 atque alte terminus haerens; quo magis errantes caeca ratione feruntur.] quae nisi respuis ex animo longeque remittis dis indigna putare alienaque pacis eorum, delibata deum per te tibi numina sancta saepe oberunt;

post 47 lac. ind. Bernays; 47a-b suppl. K. Müller \ \ 48 existant Bernays: exirtant | | placenturque K. Müller, placentur codd.: placentur ut Diels | | post 48 lac. ind. Brieger; 48a suppl. Diels, fortasse autem potius quando pro atque | | 49 quae fuerint, sint placato: turbida quae fuerint, posito K. Müller lac. post 48 negans | | furore Auratus: fauore

Im Rahmen der Propositio kündigt Lukrez nach der knappen Rekapitulation des fünften Buches (43-46a) die Themen des sechsten Buches an (46b-49). Dabei ist die von Bernays angezeigte Lücke nach Vers 47 sicher; ihr Umfang hingegen kaum bestimmbar. Auch den Versen 48-9 kann nur unter großem Eingriff in die Überlieferung Sinn abgerungen werden. Klar ist allerdings, daß Naturphänomene, etwa Blitz und Donner 415 , genannt worden sind, die allesamt nach ihrem plötzlichen Auftreten sich wieder beruhigen, sobald sich die Wut des Unwetters gelegt hat 416 . Die Verse 50-55 rechtfertigen nun die Notwendigkeit, auf derartige Naturphänomene einzugehen. Solche Ereignisse beschäftigen den Menschen und verschulden seine Götterfurcht, da er in seiner Unkenntnis der wahren Ursachen die Götter für diese Phänomene verantwortlich macht und sie deren Allmacht zuschreibt. Die beiden folgenden, bereits von Richard Bentley athetierten Verse sind in den meisten Ausgaben getilgt. Zum einen stört stilistisch die Wiederholung von causas (56) nach causarum in 54; zum anderen ist auch ein grammatikalischer Rückbezug von

415

Vgl. etwa den Vorschlag K. Müllers in den von ihm ergänzten Versen 6,47a-b, ähnlich bereits H. Diels. Allerdings erwartet man wegen Vers 50, der weitere derartige Erscheinungen auf der Erde und am Himmel berührt, daß in der Lücke zumindest auch eine Naturkatastrophe auf der Erde (etwa Vulkanismus, Erdbeben etc.) erwähnt wurde. 416 Mir scheint auch nach Vers 48 die Annahme einer (erstmals von Brieger angezeigten) Lücke notwendig, wenn man in Vers 49 den überlieferten Text nicht so drastisch umschreiben möchte, wie es K. Müller vorschlägt. Die Ergänzung von H. Diels gibt guten Sinn, obwohl vielleicht statt der Beiordnung die Unterordnung von 48a und 49 wegen des Tempusunterschiedes (existant und placentur in 48, jedoch sint conuersa in 49) vorzuziehen ist; daher etwa quando statt atque. Mit Smith und Godwin ... placentur, ut omnia rursum quae fuerint sint placato conuersa furore zu lesen, was nach Godwin "so that everything that exists is transformed, its madness placated" heißen soll, scheint mir bei aller Sympathie für eine möglichst handschriftennahe Textgestaltung unzulänglich.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

113

quorum operum kaum ersichtlich; Büchners Konstruktion ... concedere regnum quorum operum causas ... ("den Göttern die Herrschaft über die Werke zuzugestehen, deren Ursache sie (die Menschen!) nicht sehen können") ist zwar grammatikalisch möglich, jedoch sehr verwirrend. Ausschlaggebend ist jedoch, daß diese Verse, die in 1,153-4 unbedingt notwendig sind, an dieser Stelle inhaltlich eine sinnleere Dublette zu 5455 enthalten. Dasselbe gilt aber auch für die folgenden Verse 58-67, die bis auf den neugedichteten Vers 67 die Verse 5,82-90 wiederholen. Der Gedanke, daß die Unkenntnis in den Himmelserscheinungen die Menschen wieder zurück in die Götterfurcht treibt, da sie keinen Einblick in die Naturgesetze haben, war im fünften Buch notwendig, um die Behandlung der Himmelserscheinungen zu rechtfertigen; im sechsten Buch ist diese Rechtfertigung jedoch bereits in den Versen 50-55 erfolgt. Die Verse 59-61 enthalten nichts Neues gegenüber 50-1; 62-66 entsprechen 52-55, wobei das kurze ignorantia causarum (54) vollkommen ausreicht und von den Versen 64b-66 um keinen neuen Gedanken erweitert wird. Damit ist der gesamte Abschnitt 56-67 eine leere Dublette zu 50-55; zudem aus Versen geschrieben, die an ihrer jeweiligen Originalstelle unentbehrlich waren. Ein Interpolator hat sie als Erweiterung des Gedankens an 50-55 angeschlossen417. A. Forbiger tat recht daran, den gesamten Abschnitt 56-67 zu verurteilen 418 . Vers 68 schließt dann gut an 55 an: quae in 68 nimmt cetera von Vers 50 wieder auf 419 ; der Gedanke läuft klar und glatt weiter: Das fälschliche conferre deorum ...ad imperium (54-55) wird von dis indignaputare alienaquepacis eorum (69) richtig gestellt. Die aus 1,153-4 wiederholten Verse 56-57 erscheinen noch ein zweitesmal am Ende des sechsten Proömiums als die Verse 90-91.

417

Im Detail ergibt sich noch eine weitere Schwierigkeit. War der Vers 5,85 ( = 6 , 6 1 ) berechtigt, die Bewegungen der Gestirne wiederzugeben, so ist er im sechsten Buch, das ja auch über Vulkanismus und Erdbeben handelt, weniger angebracht, weshalb Lukrez in 6,50 ganz exakt von Dingen spricht quae fieri in terris caeloque tuentur. Weiter paßt auf die in 48-55 angekündigten Phänomene die in den Versen 64-66 ausgesprochene Regel von der finita potestas weit weniger als auf die festen Gesetzen unterliegenden Bewegungen der Gestirne; vgl. G. Müller, II, 85; ähnlich bereits C. Gneisse, 64f. 418 Vgl. A. Forbiger, 52, wo bereits das wesentliche knapp gesagt ist: "locus VI 55-66 (seil. 56-67) e duobus aliis repetitus et prorsus superfluus". 419 Hingegen vermißte bereits Gneisse, 63f. zu Recht ein konkretes Bezugswort für quae in den Versen 58-66.

114

Unechte Verswiederholungen

6,82-91 82

85

90

multa tarnen restant et sunt ornanda politis uersibus: fet ratio caelisque tenendaf, sunt tempestates et fulmina clara canenda, quid faciant et qua de causa cumque ferantur; ne trepides caeli diuisis partibus amens, unde uolans ignis peruenerit, aut in utram se uerterit hinc partem, quo pacto per loca saepta insinuarit, et hinc dominatus ut extulerit se. [quorum operum causas nulla ratione uidere possunt ac fieri diuino numine rentur.]

83 est ratio caeli speciesque tenenda ed. Brix.: est ratio fulgendi uisque tonandi Lachmann: et ratio caelo terrisque sequenda Housman: est ratio caeli nobis retegenda K. Müller: alii alia | | 84 fulmina Ital.: flumina

Am Ende des sechsten Proömiums gibt Lukrez nochmals genauer das Thema der folgenden Abhandlung an; die Erscheinungen am Himmel müssen erfaßt werden 420 , nämlich Gewitter und Blitze, sowie ihre Auswirkungen und Ursachen (83-5). Nur somit kann dem Aberglauben vorgebeugt werden, der die Menschen den Himmel in Bezirke aufteilen 421 und sie in ihrer Furcht wie wahnsinnig fragen läßt, von wo aus

420

Der Vers 83 ist unvollständig überliefert und bisher nicht befriedigend geheilt. Die Lösung der editio Brixiensis wird von sehr vielen Ausgaben akzeptiert; vgl. etwa Munros' Kommentar a.l.: ratio caeli speciesque means both the internal causes and the externäl aspect of what takes place above our heads"; die Auslassung von species im Archetypus macht Munro ebenfalls verständlich im ap. er. a.l.: "the scribe omitted specie because of the following squete". Diese Konjektur wurde jedoch von Lachmann (Komm. 353f.) und Housman mit ähnlichen Argumenten zurückgewiesen; vgl. Housman in seiner Maniliusausgabe zu 4,796: "sententia praua ac paene nulla, neque enim tenere poeta rationem sed docere propositum habet; caeli autem rationem speciemque iam libro V maximam partem doeuit". Er ergänzt unter Verweis auf 6,50 caelisque, was aber auch nicht überzeugt, da sich die Verse 84-89 allein auf die Himmelsphänomene beschränken (vgl. ap. er. bei Smith), die ja auch im ersten Teil des sechsten Buches (96-534) behandelt werden. K. Müllers' Konjektur vermeidet species und tenenda, muß sich aber mit der ebenfalls ungenauen und für das sechste Buch wenig befriedigenden Formulierung ratio caeli - Lukrez verwendet in diesem Zusammenhang im übrigen stets den Plural - begnügen; paläographisch ist sein Eingriff weniger unwahrscheinlich als Lachmanns radikale Verbesserung, die jedoch einen wirklich befriedigenden Sinn herstellt. Ich möchte nicht ausschließen, daß möglicherweise auf Grund eines Augensprunges des Abschreibers ehemals zwei Verse in einen (metrisch unvollständigen) verschmolzen sind. 421 Diuisis partibus ist eine Anspielung auf die von den Etruskern übernommene Praxis der Auguren, den Himmel in 16 Bezirke aufzuteilen, um das Auftreten von Blitzen am Himmel zu lokalisieren; vgl. dazu Cic. div. 2,42 mit Pease a.l.

Wiederholungen längerer Textabschnitte

115

der Blitz herniederkommt, sich überall hinwendet, wie er sogar in ummauerte Orte einschlagen und von dort wieder entschwinden kann (86-9). Die Verse 83-9 sind also ähnlich strukturiert wie 48-55; auf die Ankündigung des Themas (83-5) folgt die Rechtfertigung - die Beseitigung der Furcht vor solchen Erscheinungen. Sie sind in ihrer Ankündigung jedoch konkreter als die Verse 48-55 und weisen unmittelbar auf die folgende Darlegung voraus, die die Gewitter zum Thema hat (96-422). Daher ist an 83-9 kein Anstoß zu nehmen, auch nicht an den in 6,383-5 wiederholten Versen 87-9, die mit 86 fest verbunden sind (vgl. caeli diuisis partibus ... unde) und die der abergläubischen Praxis zugrundeliegenden Fragen aufführen. Hingegen sind die aus 1,153-4 wiederholten Verse 90-1 zu athetieren, da quorum operum (wie bereits in 56-7) keinen klaren Anschluß nach oben hat 422 , sowie das Subjekt der beiden Verse unklar ist 423 . Inhaltlich ist die allgemeine Bemerkung über die Unkenntnis der Menschen und den daraus resultierenden Götterglauben unverbunden mit der persönlichen Wendung an den Leser in 86-9 und schwächt die gerade durch die zweite Person zum Ausdruck gebrachte Besorgnis des Lukrez um seinen Leser, dessen Aberglaube (caeli diuisis partibus) er überwinden möchte, um ihn vor Furcht (trepides) und Wahnsinn (amens) zu bewahren, am Ende des Proömiums vor der Anrufung der Muse Kalliope (92-5) entscheidend ab. Damit wird der Höhepunkt des Proöms, die persönliche Wendung zuerst an den Leser (86-9) und dann an die Muse Kalliope (vgl. das emphatische tu in Vers 92) durch die Interpolation von 90-1 schwer gestört. Wieder wollte der Interpolator durch seine eigene Erweiterung den inhaltlichen Schlußpunkt setzen. Munro hat 90-1 zu Recht getilgt 424 .

422

In den Versen 87-9 ist nur von der Wirkung des Blitzes die Rede; ein Anschluß zurück an Vers 84, wo quorum operum (90) tempestates etflumina (84) wiederaufnehmen könnte, scheint nach einer so langen Unterbrechung nicht mehr möglich; Lachmann, Komm. 354 hat klar gesehen, daß 90-91 mit 85-9 nicht vereinbar sind; allein seine Entscheidung, Lukrez habe 85-9 später tilgen wollen, ist wenig glücklich. 423 Von den Menschen allgemein war in 83-9 nie die Rede; Vers 86 wendet sich in der zweiten Person direkt an den Leser. 424 A. Forbiger, 53f., hat bereits 1824 90-1 verurteilt, allerdings zusammen mit den hier unabkömmlichen und in 6,383-5 unecht wiederholten Versen 87-9.

116

Unechte Verswiederholungen

3. Cento-Abschnitte In diesem Kapitel wird eine im Lukreztext besonders typische Form von Interpolationen behandelt. Der Interpolator wiederholt nicht wörtlich einen längeren zusammenhängenden Abschnitt des echten Lukrez, sondern flickt aus echten, bisweilen leicht abgeänderten Versen verschiedener Herkunft sowie einigen selbstkomponierten Versen einen zusammenhängenden Sinnabschnitt zusammen. Die auffallendsten und umfangreichsten dieser "Cento"-Partien 425 sollen in diesem Kapitel untersucht werden.

1,670-74 (vgl. 1,789-93) sowie 2,748-6; 3,519-20 Die hier zum Vergleich nebeneinandergestellten Versgruppen sind zwar keine wörtlichen Entsprechungen, enthalten aber eine große Zahl identischer Verse, die teils in veränderter Reihenfolge, teils mit weiteren, aus anderen Stellen wiederholten Versen vorkommen. Es empfiehlt sich wiederum, die einzelnen ähnlichen Gruppen in ihrem Kontext zu untersuchen. Zuerst wieder die tadellosen Verse 1,789-793! 1,782-802

785

790

425

Quin etiam repetunt a caelo atque ignibus eius, et primum faciunt ignem se uertere in auras aeris, hinc imbrem gigni, terramque creari ex imbri, retroque a terra cuncta reuerti, umorem primum, post aera, deinde calorem, nec cessare haec inter se mutare, meare a caelo ad terram, de terra ad sidera mundi, quod facere haud ullo debent primordia pacto. inmutabile enim quiddam superare necessest, ne res ad nihilum redigantur funditus omnes. nam quodcumque suis mutatum finibus exit, continuo hoc mors est illius quod fuit ante, quapropter quoniam quae paulo diximus ante

Zur Berechtigung dieser Bezeichnung vgl. S. 31, Anm. 149.

Cento-Abschnitte 795

800

117

in commutatum ueniunt, constare necessest ex aliis ea, quae nequeant conuertier usquam, ne tibi res redeant ad nilum funditus omnes. quin potius tali natura praedita quaedam corpora constituas, ignem si forte crearint, posse eadem, demptis paucis paucisque tributis, ordine mutato et motu, facere aeris auras, sie alias aliis rebus mutarier omnis?

In seiner Auseinandersetzung mit Empedokles, die mit 734ff. einsetzt, hat Lukrez zuerst die Lehre der vier Elemente und der unendlichen Teilbarkeit der Atome (742-81) widerlegt; ab 782 wendet er sich gegen die daraus hergeleitete und insbesondere von den Stoikern 426 vertretene Theorie, die vier Urstoffe Feuer, Luft, Wasser und Erde könnten von selbst sich ineinander verwandeln und dadurch einen endlosen Kreislauf erzeugen (vgl. 782-788). Die Widerlegung dieser Lehre erfolgt mit 789ff: Lukrez schließt einen solchen Verwandlungskreislauf für die Urstoffe aus (789), da eine bestimmte unverwandelbare Konstante (immutabile quiddam) notwendig ist (790), damit nicht alle Dinge zugrunde gehen (791). Denn, so läuft der Beweis weiter, jede Veränderung eines Stoffes beinhaltet gleichzeitig die Vernichtung seines vorherigen Zustandes (792793). Damit ist der Beweis von der Unverwandelbarkeit der Urstoffe abgeschlossen, die These (789: es darf keinen Verwandlungskreislauf für die Urstoffe geben) wird mit dem Postulat von der Notwendigkeit einer unverwandelbaren Konstante (790) begründet (vgl. enim 790), damit nicht alles in nichts zerfällt (791). Dieses Postulat erhält nun ebenfalls seine Begründung (vgl. nam 792): Der Vorgang der Veränderung eines Stoffes 427 in einen anderen bedeutet das Verlassen seines eigentlichen Wirkungsbereichs (finibus42S exit 792) und damit seine Vernichtung (hoc mors est illius quodfuit ante 793). Die Verse 789-793 bilden also einen einheitlichen argumentativen Block, der die Voraussetzung für die weitere Argumentation (794-802) ist: Die Urstoffe selbst sind unveränderbar; deswegen (quapropter, 794) müssen, da die Verwandlung der oben bezeichneten Stoffe (also Feuer, Luft, Wasser und Erde) ein offensichtlicher Vorgang ist, diese selbst aus 426

Vgl. etwa Cic. nat. deor. 2,84; Plut. mor. 1053a. Das allgemeine quodeumque (792) ist nur an dieser Stelle wirklich passend, da es die vielfältigen Verwandlungsmöglichkeiten, von denen in den Versen 783-788 die Rede war, zusammenfassend aufgreift. 428 G. Müller, Kinetik, 55 interpretiert fines zu Recht im Sinn von 1,76 und 1,595 als finita potestas. 427

118

Unechte Verswiederholungen

unverwandelbaren Stoffen bestehen, damit nicht alles zu nichts vergeht (794-7) 429 . Vers 798 leitet dann mit einer rhetorischen Frage das richtige Gegenmodell ein: die selbst unveränderlichen Atome sind in der Lage, Stoffe wie Feuer, Luft u.a. durch entsprechende Mischung, Anordnung und Bewegung der Atome zu erzeugen (798-802). Die Verse 789-802 enthalten folglich eine in sich geschlossene und überzeugende Widerlegung der in 782-788 geäußerten Theorie, daß die vier Elemente auf Grund ihrer gegenseitigen Verwandlung einen ewigen Weltkreislauf bewirken: Jene vier Elemente müssen nämlich selbst aus unveränderlichen Atomen bestehen, deren unterschiedliche Mischung, Anordnung und Bewegung allein die verschiedenen Stoffe erzeugen. 430 1,665-679 665

670

675

429

Quod si forte alia credunt ratione potesse ignis in coetu stingui mutareque corpus, scilicet ex nulla facere id si parte reparcent, occidet ad nihilum nimirum funditus ardor omnis, et e nihilo fient quaecumque creantur. [nam quodcumque suis mutatum finibus exit, continuo hoc mors est illius quod fuit ante, proinde aliquid superare necesse est incolume ollis, ne tibi res redeant ad nilum funditus omnes de nihiloque renata uigescat copia rerum.] nunc igitur quoniam certissima corpora quaedam sunt, quae conseruant naturam Semper eandem, quorum abitu aut aditu mutatoque ordine mutant naturam res et conuertunt corpora sese, scire licet non esse haec ignea corpora rerum.

G. Müller, Kinetik, 127 athetiert Vers 797, aber der an 791 erinnernde Vers rundet gerade mit seiner unmittelbaren Wendung an den Leser, die im folgenden (vgl. 798f. potius ... constituas) beibehalten wird, den Gedanken gut ab. Die Wiederholung dient der Einprägsamkeit des wichtigen Gedankens. 430 Vorlage für die Argumentation in den Versen 789-802 ist Epik, epist. 1,54; ein Vergleich mit dieser Stelle kann verdeutlichen, wie exakt Lukrez in diesen und nur in diesen Versen dem Argumentationsgang Epikurs folgt und ihn lediglich für seinen Kontext, die Widerlegung der Lehre vom ewigen Weltkreislauf, zurechtlegt und erweitert: a i öe ärofioi ob See /leraiSaXXouaie, intibri irtp Sei n vironevtiv ev Tale, bicikvotoiv TOIV avyKpiatiov arepeöc Kai äöiä\vTov, 5 Totq utTaßohc«; OVK eig T'O fii] 5c iroiTjaerai ovb' 'in TOV fiij ÖVTOQ (entspricht teilweise fast wörtlich 789-791), aXXö Kara tieradeaeii; [add. Bignone], TIVCJV St Kai irpooöSovt; Kai aoöov . ' 1054 Erdbeben sind in 1191.3 natürlich nicht erwähnt, da die dort genannten Phänomene ja begründen sollen, weshalb die Menschen der Urzeit die Wohnsitze der Götter im Himmel ansiedelten; thematisch passen sie jedoch vorzüglich in die Deutungskategorie der irae ... acerbae (1195). 1055 Da Lukrez in diesem Passus die Menschen der Gegenwart vor Augen hat, kann die Kenntnis der epikureischen Lehre theoretisch zwar vorausgesetzt werden; es ist jedoch nicht glaubhaft, daß Lukrez als Beispiel für den abergläubischen Menschen seiner Zeit (neben den passenden Beispielen in 1222ff.) ausgerechnet auch den zweifelnden Epikureer einfügt.

Drei interpolatorisch überarbeitete Partien

301

keitsglauben zu bekämpfen gilt 1056 ; in seinem Passus über das Aufkommen der Götterfurcht hat Lukrez dieses (theoretisch durchaus denkbare) Argument allerdings nicht behandelt, so daß es auch in dem Abschnitt über die falsche Götterfurcht der Gegenwart, die ganz in Entsprechung zu den ursprünglichen Ursachen entwickelt wird, keinen Platz hat. Die Verse selbst enthalten eine Fülle von Anstößen: Die indefiniten Interrogativpronomina ecquaenam (1212) und ecquae (1213), die durch ne quae (1209) angeregt sein mögen, sind im Lukrez nicht belegt1057; die antithetische Verbindung von ecquaenam und ecquae mit an in 1215 hat schon G. Müller als "ganz ungewöhnlich" bezeichnet1058. Störend sind weiter die beiden ganz unterschiedlichen Kontexten entnommenen wörtlichen Wiederholungen 1216 ( = 1,1004) und 1217( = 5,379). In 1,1004 bezieht sich das Partizip labentia passend auf fulmina in 1,1003, während der Rückbezug in 5,1216 auf moenia mundi (1213) ein "unmögliches Bild" erzeugt1059. Eine weitere Schwäche liegt in der überaus unschönen Wiederholung von aeui in 1216 und 17, die sich aus der wörtlichen Wiederholung zweier Verse ergibt. G. Müller hat bereits die Athetese von 1215-7 vorgeschlagen1060, die jedoch nicht ausreicht. 1211-7 sind durch die Konstruktion dubiam mentem (1211) ... ecquaenam (1212) ... et simul ecquae (1213) ...an (1215) ... eindeutig als eine einheitliche Periode konstruiert; weiter ist von den sprachlichen Bedenken ganz abgesehen auch 1211-4 allein keine Begründung für die von der Gestirnenbewegung veranlaßten Götterfurcht. Der ganze Abschnitt verrät sich vielmehr, gerade auch durch seine centonenhafte Zusammensetzung1061, als das dem Kontext nicht angemessene Zusatzargument eines epikureischen Lesers.

1056

Lukrez selbst hat die Vergänglichkeit der Welt in 235-379 behandelt. Auch den Ausdruck rationis egestas zur Bezeichnung der Unkenntnis hat Lukrez nicht; er mag nach der Klausel von 3,44 noslrae rationis egere gebildet sein. 1058 G. Müller, II, 84. 1059 G. Müller, II, 84; labi ist terminus technicus für die Gestirnenbewegung (vgl. labentia Signa, 1,2) und darf wohl kaum auf die fest fixierten Grenzen des Weltalls übertragen werden. K. Müllers Konjektur uoluentia empfiehlt sich wegen 1,1004 nicht. 1060 G. Müller, II, 84. 1061 Neben den beiden wörtlichen Wiederholungen 1215 und 1216 vgl. für 1212b die Versschlüsse 5,176 und 324; die Klausel moenia mundi (1213) begegnet sehr häufig; zu Vers 1214 vgl. 5,1272 nec poterantpariter durum sufferre laborem. Bentleys Konjektur solliciti scheint mir wegen 1,343 bzw. 6,1038 sollicito motu in jedem Fall zutreffend. 1057

302

Appendix Critica

2. Ein kurzes Wort zum largus sermo (5,155) Vers 5,155 ist eine Schlüsselstelle für die Lukrezphilologie, da er einen largus sermo über die sedes deorum ankündigt, der im überlieferten Lukreztext nicht zu lesen ist. Man hat in diesem Vers ein entscheidendes und unumstößliches Indiz für die Unvollendetheit des lukrezischen Werkes gesehen 1 0 6 2 , aus der dann weitreichende Folgerungen gerade für die echtheitskritische Beurteilung vieler schwieriger Stellen gezogen wurden 1 0 6 3 . Von den zahlreichen Vorschlägen der Forschung, den möglichen Ort dieser (von Lukrez nur geplanten, aber nicht niedergeschriebenen) Erörterung im Werk des Lukrez zu bestimmen, hat keiner größere Zustimmung erfahren 1 0 6 4 . Die Verse 5,148-54 enthalten den Beweis, daß sich die Wohnsitze der Götter nirgendwo in unserem Weltall befinden können; der in Vers 154 abgeschlossene Beweisgang läuft darauf hinaus, für die überaus feine (nur mit dem Geist wahrnehmbare) Natur der Götter dementsprechend feine Wohnsitze zu fordern (153f.), die mit der materiellen Beschaffenheit unseres Weltalls nicht vereinbar sind. Daß Lukrez daraufhin in 155 einen largus sermo über die feinen Wohnsitze der Götter ankündigt, ist ganz unglaubhaft, da die deorum sedes bereits in den Versen 3,18-22, die sich dort (ganz in Einklang mit dem fünften Buch) allein dem Geist erschließen, knapp aber hinreichend

1062 Selbst. G. Müller, II, 65 sieht in der fehlenden Ausführung des largus sermo ein Indiz für die Unvollendetheit des Werkes, dem er ansonsten ja einen hohen Grad an künstlerischer Gestaltung und kompositorischer Abgeschlossenheit zuspricht. 1063 So nur beispielshalber M.F. Smith, 31 in seiner Rezension der Ausgabe von K. Müller, der gegen Müllers Athetesen einwendet: "Either forgetting that Lucretius left his poem unrevised or not realizing that it is not the business of a modern editor to revise it for him, Müller uses square brackets to exclude 223 lines..." 1064 Giussani, IV, 20f. erwartet den largus sermo als (von Lukrez nicht mehr verfaßten) Abschluß des 6. Buches in Kontrast zur Pestschilderung; C. Bailey, I,34f. meint, das Versprechen würde im dritten Buch (3,18-22) erfüllt, das er ja für von Lukrez später geschrieben und nachträglich umgestellt hält; G. Müller, Die fehlende Theologie im Lukreztext, Monumentum Chiloniense. Festschrift für E. Burck, Amsterdam, 1975, 277-95 vermutet in den Versen 5,1198-1203 ein Bruchstück des largus sermo; B. Manuwald, 51, Anm. 191 betrachtet 155 als Ankündigung eines gesonderten Werkes de dis des Lukrez.

Ein kurzes Wort z u m largus sermo

(5,155)

303

beschrieben worden sind 1065 . Daher hat bereits U. Pizzani bezweifelt, daß in Vers 155 ein largus sermo über die Wohnsitze der Götter versprochen sein kann; statt dessen schlägt er vor, die Ankündigung auf 5,146-7 zurückzubeziehen: Lukrez verspreche in 155 lediglich weitere Evidenz dafür, daß die Götter nicht in unserem Weltall lebten, die er in der folgende Darstellung im 5. und 6. Buch ja auch erbringe 1066 . Dieser weite Rückbezug von quae auf 146f. erscheint jedoch sehr unwahrscheinlich, zumal Lukrez die in diesen beiden Versen aufgestellte These unmittelbar in 148-54 bewiesen hat, während quae in 155 auf etwas noch Unbewiesenes abzielt. Da der Vers an seiner überlieferten Stelle offenkundig keinen Sinn ergibt, erwäge ich, ihn hinter Vers 5,125 1067 zu stellen; dort ging er wegen Homoiarchon verloren: 125: Q U I D S I T V I T A L I 155: Q U A E T I B I 126: Q U I P P E E T E N I M

und wurde am Ende eines in sich geschlossenen Gedankengangs, also nach 154 nachgetragen 1068 . Auf 122-5 paßt 155 vorzüglich, denn der erste Hauptteil des fünften Buches, Verse 235-415, beweist ja, daß die in 115 genannten und in 122 mit quae zusammengefaßten Dinge (Erde, Sonne, Himmel, Meer, Sterne und Mond) Anfang und Ende haben und damit sterblich sind. Im übrigen schließt 155 den die lange Disgression 5,110-234 einleitenden Paragraphen 110-125 gekonnt ab, da durch 155 auf die in 235 erneut einsetzende Hauptuntersuchung vorausverwiesen 1065

Eine Reihe von Forschern sehen in Vers 155 nicht die Ankündigung einer längeren Abhandlung über die Wohnsitze, sondern allgemeiner über die Natur der Götter. Aber auch sie hat Lukrez bereits behandelt (vgl. 2,646-51) und setzt ihre Kenntnis bei seinem Leser zu Beginn des fünften Buchs (vgl. 5,82) voraus, so daß auch zu diesem Thema kein largus sermo mehr zu erwarten ist. 1066 Siehe U. Pizzani, II problema del testo et della composizione del De rerum natura di Lucrezio, Rom, 1959, 174-80; ähnlich auch R. Minadeo, Three textual problems in Lucretius, Classical Journal, 63, 1967-8, 244f. 1067 An der Wiederaufnahme von sermone (121) an metrisch gleicher Stelle in 155 ist wohl kein Anstoß zu nehmen; vielmehr scheint Lukrez den in 121 geäußerten Vorwurf seiner Gegner, Philosophen wie er entweihten Göttliches durch ihre sterbliche Rede (vgl. mortali sermone notantes), mit seinem in 155 vorgetragenen Wahrheitsanspruch (largo sermone probabo) elegant und gewitzt zu kontern. 1068 Qj e Interpolation der Verse 5,126-45 ist wohl vor der Versprengung des Verses 155 eingefügt worden; der relativ weite Abstand zwischen ursprünglicher und handschriftlich bezeugter Stellung von 155 ist im Lukrez keine Seltenheit; vgl. 2,659.680 (siehe dazu Anm. 160).

304

Appendix Critica

wird. Dort greift Lukrez dann gleich zu Beginn auch sprachlich auf die in 122 formulierte These quae procul usque adeo divino a numine distant in einem komplementären Vers zurück; vgl. 5,238 ( ähnlich 5,321): omnia natiuo ac mortali corpore constant. Der Leser merkt somit unmittelbar nach dem Abschluß der Digression, daß der largus sermo über die Sterblichkeit der Erde und des Weltalls jetzt begonnen hat.

C. Syncrisis I. Die interpolierten Verse im Lukreztext: Versuch einer typologischen Erfassung In der vorangegangenen Untersuchung ist an 92 Stellen des Lukreztextes die Heilung der diagnostizierten Verderbnis durch das Mittel der Athetese vorgeschlagen worden; insgesamt mußten 368 Verse dem ursprünglichen Dichter abgesprochen werden. Dabei wurden immer wieder ähnliche Motive deutlich, auf die eine Interpolation zurückzuführen war. Ebenso zeigten sich auch bei der formalen Gestaltung der unechten Zusätze eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Daher scheint es sinnvoll, zusammenfassend die zahlreichen Interpolationen typologisch zu ordnen und hinsichtlich ihrer Funktion zu unterscheiden, um sowohl den ungefähren Zeitpunkt als auch die Ursache für die unterschiedlich motivierten Zudichtungen zumindest hypothetisch zu rekonstruieren. Neben den Kopistenfehlern lassen sich vier Hauptgruppen ausfindig machen, in die sich die (hier tabellarisch zusammengestellten) Interpolationen scheiden lassen: A B C D E

Herausgeberergänzung Leserkommentar literarisch motivierte Ergänzung, Erweiterung Ergänzung, Erweiterung, Erklärung eines philosophischen Lesers mechanische Kopistenfehler

Buch 1 44-49 (Pontanus 1 0 6 9 ): D 58-61 (Deufert; 50-61 iam Kroll): D 146-8 (Gneisse): C / D 192-8 (Zwierlein; 196-8 iam G. Müller): D 334 (Bentley): D

1069

Der jeweils in Klammer genannte Gelehrte hat nach meiner Kenntnis als erster die angeführten Verse dem Dichter abgesprochen; zwischen Verdammung (etwa in einer Monographie) und Tilgung (in einer Ausgabe) wird hier nicht geschieden.

306

Synkrisis

527 (Polle): D 531 (Lachmann): A/D 548-50 (G. Müller): D 670-4 (Gneisse): D 769 (O c ): E 907-14 (Gneisse): D 919-20 (Forbiger): C 1079-80 (Gneisse): D 1085-6 (Purmann; 1086 iam Bentley): A/D Buch 2 32-3 (Deufert; 29-33 iam G. Müller): C 54-61 (G. Müller; 55-61 iam Gneisse):C/D 105 (Purmann): A 177-81 (Gneisse; 168-83 iam Forbiger): D 183 (Lambinus):A 334 (Tohte): D 636 (Pontanus): E 688-99 (Gneisse): D 718-29 (Gneisse): D 748-56 (G. Müller; 749-56 iam Gneisse): D 760-2 (Gneisse): D 859-64 (G. Müller): D 883-5 (G. Müller): D 923. (Lambinus): A 1013-22 (Neumann): D Buch 3 85-6 (Zwierlein): D 206-7 (Deufert): B 358 (Lachmann): D 412 (Lachmann): D 430-3 (Polle): D 474-5 (Naugerius) D 519-20 (Gneisse): D 701-2 (Tohte): D 743 (anonymus apud Lambinum): C 763 (Lachmann): E 764 (Bernays): C 805-18 (G. Müller; 806-18 iam Forbiger): D 1031 (Lachmann): C

Versuch einer typologischen Erfassung Buch 4 1-25 (Bernays) : C 45-53 (Gneisse): D 102-3 (Lachmann): E 216-29 (Forbiger): D 671-2 (G. Müller): D 788-93 (Deufert): D 799-801 (Lachmann): D 808 (Avancius): E 885 (K. Müller): D 1000-3 (Marullus): E 1013-4 (Zwierlein): C/D 1018-9 (Zwierlein): C/D 1047 (Naugerius): C Buch 5 52-4 (Deufert): D 123 (Deufert): A 126-45 (G. Müller): D 210-2 (Bockemüller): D 372 (Bruno): D 419-31 (Forbiger): D 545 (Cramer): A/D 554-63 (Deufert; 554-5 iam G. Müller): D 574 (Marullus): E 596 (Naugerius): E 771 (Lambinus): E 816-20 (Zwierlein): C/D 832-6 (Deufert): D 1006 (Pintzger): A/D 1131-2 (Bentley): D 1148-50 (Zwierlein): D 1164 (Bentley): A 1190 (Zwierlein): C/D 1192 (Zwierlein): C/D 1211-7 (Zwierlein; 1215-7 iam G. Müller): D 1315 (Faber): C 1328 (Marullus): A 1341-9 (Neumann): B 1359 (Schmid): A 1388-9 (Lachmann): D 1391 (Zwierlein): D 1392-4 (Deufert; 1392-6 iam Neumann): C/D

308

Synkrisis

Buch 6 33-42 (G. Müller): C/D 56-67 (Forbiger): D 90-1 (Munro): D 228b-29a (Lachmann): C 251-4 (Bockemüller): C 299 (Giussani): D 383-5 (Neumann): A/D 565-7 (Deufert): B 948-50 (Neumann): D 988-90 (G. Müller): D

A "Editorische Glossen": Diese, zumeist nur einen Vers umfassenden Interpolationen dienen ausschließlich der Leseerleichterung; sie glätten Übergänge (z.B. 2,183) oder beheben lexikalische (5,1164; 1328) und grammatikalische (5,1359) Schwierigkeiten eines echten Verses durch zumeist lediglich einen paraphrasierenden oder erläuternden Zusatzvers. Dieser Interpolationstyp erscheint in allen antiken Texten 1 0 7 0 ; er macht jedoch nur den kleinsten Teil der Interpolationen im Lukrezcorpus aus 1071 . Für diese Interpolationen hat sich zumeist eine spätantike Datierung des Interpolationsvorgangs empfohlen. B "Leserkommentare": Mit diesen Zusätzen formuliert ein Leser sein Urteil über den ihm vorliegenden Text oder hebt die Bedeutung eines Gedankens für den weiteren Textzusammenhang hervor. Dieser Interpolationstyp taucht im Lukreztext dreimal auf; einmal (5,1341-9) als korrigierender Kommentar am Ende eines Abschnitts 1072 ; zweimal (3,206-7; 6, 565-7) als parenthetisch eingefügte Hervorhebung eines in den Augen des Lesers besonders wichtigen Gedankens 1073 .

1070 Ygj j ac hmann, Textg. St., 565f.: "... was die Texte ... an Prosthesen und ... Metaphrasen haben über sich ergehen lassen müssen, das geht ins Aschgraue". 1071 Ein Teil der in D gesammelten kürzeren Interpolationen mag jedoch auch dieser Gruppe zuzurechnen sein; letzte Sicherheit ist in dieser Frage nicht zu erlangen. 1072 Als eine typologisch vergleichbare Interpolation können die in ihrer Echtheit umstrittenen Verse Verg. georg. 2,454-7 del. Peerlkamp, die sogenannte vituperatio vitii, erklärt werden, vgl. A. 958. 1073 Dieser Interpolationstyp, obgleich eher selten, läßt sich auch bei anderen Autoren nachweisen; vgl. etwa Verg. georg. 2,433 (mit Thomas zur Stelle) sowie Juv. l,85f. (mit den Bemerkungen Tarrants, Reader, 136f.).

Versuch einer typologischen Erfassung

309

C "Literarisch motivierte Interpolationen": Im Gegensatz zum Typ B versucht der Interpolator in dieser Kategorie im Sinne des Autors das ihm vorliegende Gedicht zu verbessern, etwa indem er scheinbar vorhandene Lücken auffüllt 1074 , ähnliche Stellen vor allem durch Versübertragungen einander weiter angleicht 1075 , den ursprünglichen Gedankengang (oftmals am Ende eines Sinnabschnittes) assoziativ ausschmückt und erweitert 1 0 7 6 oder ihn auch verharmlost 1 0 7 7 . Um dem authentischen Text möglichst nahe zu kommen, greift der Interpolator sehr oft bewußt auf echte Verse oder Versteile zurück. In diese Kategorie fällt die Mehrheit der unechten Verse der in den Rhetorenschulen gelesenen Autoren wie etwa Ovid, Seneca oder Juvenal 1078 ; im Lukreztext bilden sie jedoch nur die zweitgrößte Gruppe. Was die Fragen nach der Anzahl der Fälscher und der Datierung der in B und C gesammelten Interpolationen anbelangt, so sind genaue Aussagen kaum möglich. Freilich liegt es auf der Hand, für die illegitime Übertragung der Verse 3,87-93 hinter 2,54 und 6,34 sowie von 3,91-3 hinter 1,145 einen gemeinsamen Urheber zu vermuten; ebenso dürften die aus gleicher Motivation hervorgerufenen und auf engem Raum anzutreffenden Interpolationen 4,1013-4 und 1018-9 auf das Konto eines Lesers zu buchen sein. Hinsichtlich der Datierung der Leserinterpolationen hat sich für nahezu alle echtheitskritisch untersuchten Autoren die Annahme einer sehr frühen Entstehung der Fälschungen bewährt 1079 . Für die Interpolation 2,32-3 ist, falls unsere Diagnose zutrifft, ein terminus ante quem immerhin möglich, da der Dichter des wohl in tiberianischer Zeit ent-

1074

Dies ist das Motiv für die Interpolation von 4,1-25, dem vermeintlichen Proöm des vierten Buches. Zur Auffüllung echter und vermeintlicher Lücken durch spätere Leser im Ovidtext vgl. Tarrant, Typology, 287-90 sowie Reader, 127-30. 1075 Vgl. insbesondere 2,32-3 und 5,1392-4 sowie 6,251-4; 948-50. Ähnliche Fälle sind auch im Vergil nachweisbar; vgl etwa georg. 2,129 ( = 2 , 2 8 3 ) del. Heyne; Aen. 2,792-4 ( = 6 , 7 0 0 - 2 ) del. L. Müller. 1076 Die im Lukreztext häufigste Erscheinungsform der literarisch motivierten Interpolation, vgl. etwa die interpolierten Wiederholungen 1,146-8, 2,55-61 und 6,35-41 jeweils am Ende des Buchproöms; vgl. weiter 3,764 ; 5,1190; 1192. Zum Typus der "concluding interpolation" vgl. Tarrant, Reader, 150ff. 1077 So einmal bei der Dezenzinterpolation 4,1047; zu diesem (vor allem im Juvenaltext anzutreffenden) Interpolationstyp siehe Jachmann, Textg. St., 758ff. 1078 Tarrant, Reader, 157ff. 1079 Y g | j a c h m a n n , Ausg. Sehr., 390ff. zur Datierung der Vergilzusätze und vor allem Tarrant, Reader, 155ff.

310

Synkrisis

standenen Culex 1080 für seine Verse 62-71 bereits Lucr. 2,24-33, einschließlich der interpolierten Verse 32-3, vor Augen gehabt haben dürfte 1081 . Damit werden bereits rund 70 Jahre nach dem Tod des Dichters unechte Zusätze von späteren rezipiert, was sich mit dem Überlieferungsbefund anderer Autoren bestens deckt 1082 . Der Sekundärüberlieferung konnten wir mit hoher Wahrscheinlichkeit Zitate interpolierter Lukrezstellen aus Seneca, Quintilian und Gellius 1083 entnehmen; von einer systematischen Untersuchung der späteren literarischen Imitationen des Lukrez, die in dieser Arbeit nicht vorgenommen werden konnte, ist zü erwarten, daß die Dichter des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (ähnlich wie der Dichter des Culex) bereits Lukrezinterpolationen in ihren Werken rezipieren. Die Tendenz späterer Herausgeber, das gesamte Überlieferungsmaterial der im Textbestand divergierenden Vorlagen möglichst vollständig zu sammeln und auch sicher unechte Verse in ihre Ausgaben aufzunehmen, ist allgemein bekannt 1084 . Auf diese Weise können frühe private Leserergänzungen rasch in spätere Ausgaben gelangen und schon sehr bald von späteren Dichtern als authentisch erachtet und imitiert werden. D "Philosophisch motivierte Interpolationen": Ahnlich den literarisch motivierten Fälschungen dienen auch diese Interpolationen insbesondere der Ergänzung, Erweiterung und Vervollständigung des Textes im Sinne des Autors, aus dem sie sprachlich schöpfen. Sie sind jedoch im Gegensatz zu den in C gesammelten nicht literarisch, sondern philosophisch motiviert; haben also nicht Verschönerung und literarische Verbesserung des Gedichts, sondern vor allem die Erleichterung des Lehrinhaltes und eine vermeintliche Stärkung der philosophischen Argumentation zum

1080

Vgl. A. 203. Die umgekehrte Annahme, die Culexstelle habe den Lukrezinterpolator inspiriert, empfiehlt sich angesichts der zahlreichen Lukrezanklänge im Culex (vgl. etwa K. Müllers kritischen Apparat zu 3,420 sowie A. Rostagni, Virgilio Minore, Roma 2 1961, 141-167) nicht. 1082 Der Culex selbst gilt bekanntlich schon dem Lukan als Jugendwerk Vergils; weiter zitiert bereits Seneca epist. 94,28 einen nachträglich aufgefüllte Halbvers (10,284) der Aeneis als echt vergilianisch; weitere Zeugnisse bei Jachmann, Ausg. Sehr., 393f. 1083 Vgl. 57, 95, 102. 1084 Zu Lukrez vgl. etwa W. Schmid, Lukrez über die Mächtigen und ihre Ängste, 108f.; zu Ovid S. Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids, Diss. Köln, 1939, 74f.; zu Properz Jachmann, Ausg. Sehr., 387f.; generell siehe L.D. Reynolds-N.G. Wilson, Scribes and Scholars, Oxford, 3 1991, 30f. und R. Tarrant, Reader, 156f. 1081

Versuch einer typologischen Erfassung

311

Zweck. Im Lukreztext machen sie die Hauptmasse des unechten Materials aus. Diese umfangreichste Kategorie umfaßt auch die beiden formal besonders hervorstechenden Formen unechter Verse: zum einen den Großteil der unechten Wiederholungen längerer Verspartien, zum anderen die sogenannten "Cento"-Abschnitte. In diesen bemüht sich der Interpolator um ein eigenes, neues philosophisches Argument, das er sprachlich eng an die Ausdrucksweise des Lukrez anlehnen möchte, weshalb er so weit wie möglich auf echte Lukrezverse zurückgreift. Diese Technik des Interpolators, die in den Abschnitten 2,688-99, 718-29, 1013-22; 4,45-53 und 5,419-31 besonders auffällig zur Geltung kommt, ist keineswegs allein im Lukreztext anzutreffen, sondern kann auch bei anderen Autoren wie etwa den griechischen Tragikern 1085 , Plautus 1086 und Vergil 1087 nachgewiesen werden. Aber auch unter den längeren wörtlichen Wiederholungen 1088 dienen auf jeden Fall 3,806-18; 4,217-29; 5,128-41 der assoziativen Erweiterung der philosophischen Argumentation. Der Interpolator beabsichtigte, den Gedankengang des echten Textes durch ihm geeignet erscheinende Abschnitte aus einem anderen Zusammenhang auszubauen. Diese Interpolationen werden dadurch erkennbar, daß ihnen der sprachliche und gedankliche Anschluß an den echten Text fehlt und daß sie die klare Komposition des Lukrez zerstören. Auch unter den kürzeren Wiederholungen findet sich eine große Zahl von unechten, die um einer assoziativen Erweiterung willen interpoliert wurden 1089 . All diese Interpolationen sind bezüglich ihrer Motivation eng miteinander verwandt und lassen auf eine gemeinsame Herkunft aus dem Umfeld der epikureischen Schule schließen. Zwar kann auch hier die Anzahl der beteiligten Fälscher nicht festgelegt werden, aber zumindest für mich besteht kein Zweifel, daß etwa die großen Cento-Abschnitte im zweiten

1085 V g l z B S o p h 0 T 1524.30 mit R.D. Dawe, Studies on the Text of Sophocles, Leiden, Bd. 1, 1973, 266-73. 1086 Siehe etwa Bacch. 594-8 mit O. Zwierlein, IV, 266-8; weiteres im Index dieses Bandes unter "Centotechnik/Ausbeutung echter Partien". 1087 v g l . etwa Aen. 8,283f. del. Heyne. O. Zwierlein wird in einer Studie zu den unechten Versen im Vergiltext die Centotechnik des Interpolators an vielen Stellen nachweisen. 1088 D i e s e r Interpolationstyp ist im Lukreztext einzigartig und kann (zumindest in der lateinischen Literatur) bei keinem anderen Autor nachgewiesen werden. 1089 Folgende Fälle sind besonders einschlägig: 3,519-20; 5,1388-9; 6,988-90.

312

Synkrisis

Buch (688-99; 718-29; 748-56 und 1013-22) ebenso auf einen gemeinsamen Interpolator zurückgehen wie die illegitimen Übertragungen von 5,351-63 nach 3,805 sowie von 3,784-97 nach 5,127. Mit diesen Interpolationen wird ein assoziatives Netzwerk von Querverweisen und Parallelen über das Gedicht gelegt, die dem epikureischen Leser als Hilfsmittel zu einem umfassenderen Verständnis der Lehre dienen sollen. Um den Lukrez aus Lukrez zu erklären, werden ganze Abschnitte in einen neuen Kontext übertragen, ohne daß auf die kompositioneile Einheit des Lehrgedichts Rücksicht genommen wird, da es nur gilt, auf ähnliche Argumentationsfälle an anderer Stelle hinzuweisen und von geeigneten Beweismitteln (etwa mit Hilfe des Buchstabenvergleichs) erneut Gebrauch zu machen. Bailey hat gewiß das Richtige getroffen, wenn er bestimmten Abschnitten, die ich unter die philosophisch motivierten Interpolationen rechne, etwa 1,58-61 oder 5,419-31, den Charakter von Fußnoten zuspricht 1090 ; aber Fußnoten fallen eben nicht unter die Zuständigkeit des Dichters, sondern unter die des Lesers, Erklärers oder Herausgebers, will sagen des Interpolators. Damit greifen wir die Herkunft der Hauptmasse der Lukrezinterpolationen recht genau, wenn wir sie innerhalb der epikureischen Schule suchen. Auch diese Interpolationen sind wohl sehr früh in den echten Text gelangt, zumal die verbreitete Annahme, daß Lukrez sehr früh ein Schulautor der römischen Epikureer wurde 1091 , durch den Lukrezfund auf herkulanensischen Papyrusresten eine starke Stütze erfuhr 1092 . Sollte sich Kleves Zuweisung der Fragmente an Lukrez als sicher erweisen (gegen sie ist bislang kein Widerspruch laut geworden), so scheinen zum

1090 Bailey, 11,604 und 111,1380. Auch Gale, Proems, 5 spricht im Zusammenhang mit den langen Wiederholungen von "footnotes, to refer back to points established earlier in the poem" - aber leider erschiene dann an einer Reihe von Stellen (3,806-18; 4,217-29) die Fußnote vor dem Haupttext. 1091 Dies vermuteten vor dem Papyrusfund bereits etwa W. Schmid, Gnomon, 39, 1967, 483 und 487, Anm. 3 sowie K. Kleve, What kind of work did Lucretius write?, Symbolae Osloenses, 54, 1979, 81-85. 1092 So richtig K. Kleve, Lucretius in Herculaneum, 5: "The discovery links Lucretius firmly with the school in Herculaneum. Theories building on the assumption that Lucretius had no contact with contemporary Epicureanism, suffer a serious set-back." Ähnlich auch W. Suerbaum, Herkulanensische Lukrez-Papyri, ZPE 104, 1994, 3: "Sein Werk wurde offensichtlich sozusagen sofort nach Erscheinen in der Epikureischen "Akademie", als die man die Villa dei Papiri in Herculaneum betrachten darf, angeschafft und studiert."

Versuch einer typologischen Erfassung

313

einen das paläographisch erschlossene hohe Alter des Papyrus 1093 für eine Lukrezrezeption innerhalb der Schule in Herkulaneum bereits unmittelbar nach dem Tod des Autors, zum anderen die Größe der Schrift und die niedrige Qualität des verwendeten Papyrus für "a central position of Lucretius in Herculaneum" 1094 zu zeugen: der Papyrus war keineswegs als ein kostbares Prachtexemplar, sondern als ein zur Benutzung und Lektüre geschriebenes Leseexemplar gedacht. Zieht man weiter die von Lukrezens Venushymnus inspirierten pompejanischen Wandmalereien von Mars und Venus 1095 sowie die Lukrezzitate auf herkulanensischen und pompeianischen Wandinschriften 1096 in Betracht, so steht seine weite Verbreitung im Umfeld der epikureischen Schule bis zu ihrem Untergang im Jahre 79 nach Christus wohl außer Frage. Für diesen Zeitraum die Hauptmasse der Lukrezinterpolationen anzunehmen, ist eine legitime Hypothese. De rerum natura ist das einzige uns erhaltene antike Lehrgedicht, das die Lehre einer antiken Philosophenschule systematisch entfaltet. Man ist daher berechtigt, in diesem Gedicht nicht nur jene Leserinterpolationen zu vermuten, die sich in der gesamten antiken Dichtung finden lassen, sondern eben auch schulinterne, philosophische Verfälschungen. Daß selbst die Texte des göttlich verehrten Schulgründers Epikur "Verschlimmbesserungen" durch seine Schüler erdulden mußten, bezeugen uns die von der Methode der alexandrinischen Philologie beeinflußten text- und echtheitskritischen Schriften 1097 hellenistischer Epikureer, 1093

Vgl. K. Kleve, An Approach to the Latin Papyri from Herculaneum, in: Storia, Poesia e Pensiero nel Mondo Antico. Studi in Onore di Marcello Gigante, Neapel, 1994, 315: "The Lucretius papyri presumably are from the middle of the first Century B.C."; W. Suerbaum, Herculanensische Lukrez-Papyri, 2: "Da diese Schrift generell der Republikanischen Zeit und spätestens dem 1. Jahrhundert v.Chr. anzugehören scheint, haben wir mit den neuen Lukrez-Fragmenten Dokumente für eine fast zeitgenössische Überlieferungsphase seines ... Werkes vor uns." Mit welcher Genauigkeit allerdings die geringe Zahl an frühen lateinischen Papyri paläographisch begründete Datierungen sicherstellen kann, möchte ich offen lassen. 1094 Ygj K ] e v C i Lucretius in Herculaneum, 5. 1095 y g j , j a z u £ Schefold, La peinture pompéienne, Essai sur l'évolution de sa signification, Brüssel, 1972, 47 und 102. 1096 V g i C j L I V 3072 Aeneadum genetrix ( = Lucr. 1,1) und IV, (suppl.) 5020 ductores Danaum ( = Lucr. 1,86). Vgl. dazu M. Gigante, Civiltà delle forme letterarie nell' antica Pompei, Neapel, 1979, 154-8. 1097 Zur alexandrinischen Methode der epikureischen Philologie vgl. M. Erler, Philologia Medicans. Wie die Epikureer die Texte ihres Meisters lasen, in: Vermittlung und Tradierung von Wissen und Kultur, hrsg. v. W. Kullmann und J. Althoff, Tübingen, 1993, 281 ff; v.a. 282, Anm. 6 und 283.

314

Synkrisis

die uns zumindest fragmentarisch auf Papyrusfunden erhalten sind. So zeugen die Fragmente von Demetrius Lakon 1 0 9 8 und Zenon von Sidon 1 0 9 9 von dem philologischen Bemühen, willkürliche Verfälschungen des Epikurtextes konjektural- und echtheitskritisch auszumerzen. So schreibt Lakon über die Tätigkeit Zenons (col. XLIV, 6-8 Puglia): vevu 8' eirl TO TOVT' eioäyeiv TO cxfiapT^fia TOV ypa