Präsentismus als Selbstgefährdung: Gesundheitliche und leistungsbezogene Auswirkungen des Verhaltens, krank zu arbeiten [1. Aufl.] 9783658306809, 9783658306816

Corinna Steidelmüller untersucht zum einen den Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit und die Arbeitsleistung und

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Präsentismus als Selbstgefährdung: Gesundheitliche und leistungsbezogene Auswirkungen des Verhaltens, krank zu arbeiten [1. Aufl.]
 9783658306809, 9783658306816

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVII
Einleitung (Corinna Steidelmüller)....Pages 1-5
Theoretische Grundlagen (Corinna Steidelmüller)....Pages 7-39
Aktueller Überblick der Präsentismusforschung (Corinna Steidelmüller)....Pages 41-145
Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien (Corinna Steidelmüller)....Pages 147-304
Fazit und Implikationen (Corinna Steidelmüller)....Pages 305-311
Back Matter ....Pages 313-452

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Gesundheitspsychologie

Corinna Steidelmüller

Präsentismus als Selbstgefährdung Gesundheitliche und leistungsbezogene Auswirkungen des Verhaltens, krank zu arbeiten

Gesundheitspsychologie Reihe herausgegeben von Toni Faltermaier, Flensburg, Deutschland Carl-Walter Kohlmann, Schwäbisch Gmünd, Deutschland Christel Salewski, Hagen, Deutschland

In dieser Buchreihe werden sowohl grundlagen- als auch anwendungsbezogene Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Gesundheitspsychologie veröffentlicht. Gesundheit ist ein hoher Wert und eine wesentliche Voraussetzung positiver indi­ vidueller Entwicklung und gesellschaftlicher Teilhabe. Gesundheit und Krankheit stellen daher ein wichtiges Handlungsfeld für das gesamte soziale System dar, für Gemeinschaften, Organisationen, Gesellschaft und Politik. Die Bücher der Reihe beschäftigen sich mit wissenschaftlich-psychologischen Fragen, die für die Entstehung von Krankheiten und Gesundheit, für den Umgang mit Krankheiten sowie für die Prävention und die Förderung von Gesundheit bedeutsam sind. Es können Arbeiten von hoher wissenschaftlicher Qualität zu klassischen und innovativen Themen der Gesundheitspsychologie mit der gesam­ ten Spannbreite theoretischer und methodischer Zugänge veröffentlicht werden. Sie richtet sich an Leserinnen und Leser aus Forschung und Praxis, die psychologische Ansätze und Interventionen im Kontext der Gesundheitsförderung und Prävention verstehen, weiterentwickeln und anwenden möchten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16160

Corinna Steidelmüller

Präsentismus als Selbstgefährdung Gesundheitliche und leistungsbezogene Auswirkungen des Verhaltens, krank zu arbeiten

Corinna Steidelmüller Fachgruppe Wandel der Arbeit Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Dortmund, Deutschland Zgl. Dissertation an der Bergischen Universität Wuppertal, 2019

ISSN 2662-3226 ISSN 2662-3234  (electronic) Gesundheitspsychologie ISBN 978-3-658-30681-6  (eBook) ISBN 978-3-658-30680-9 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30681-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung ........................................................................................... 1 1.1 1.2

Zielsetzung ................................................................................................ 3 Vorgehen ................................................................................................... 4

2

Theoretische Grundlagen ................................................................. 7 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

3

Gesundheit und Krankheit ......................................................................... 7 Dimensionen von Gesundheit und Abgrenzung zur Krankheit ................. 7 Gesundheit und Krankheit als mehrdimensionales, komplexes ................... Konstrukt ............................................................................................. 10 Arbeitsleistung......................................................................................... 12 Unterscheidung von Leistungsverhalten und Leistungsergebnis ............. 13 Dimensionen des Leistungsverhaltens ..................................................... 14 Gesundheit und Arbeit(sleistung): Theorien ihrer Wirkungszusammenhänge .................................................................... 21 Wirkung der Arbeit auf die Gesundheit ................................................... 21 Wirkung der Gesundheit auf die Arbeitsleistung ..................................... 35

Aktueller Überblick der Präsentismusforschung ......................... 41 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3

4

Verschiedene Sichtweisen auf Präsentismus ........................................... 42 Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Absentismus ........................ 46 Messung von Präsentismus...................................................................... 52 Prävalenz und Bedeutung ........................................................................ 63 Ergebnisse bisheriger Befragungen ......................................................... 63 Bedeutung aus Unternehmens- und arbeitsrechtlicher Perspektive ......... 68 Ursachen von Präsentismus ..................................................................... 71 Personenbezogene Faktoren .................................................................... 77 Arbeitsstressoren ..................................................................................... 82 Arbeitsressourcen .................................................................................... 91 Weitere Einflussfaktoren ....................................................................... 100 Indirekte Wirkung vermittelt über Gesundheit und Motivation ............. 103 Konsequenzen von Präsentismus ........................................................... 106 Konsequenzen für Individuen ................................................................ 106 Konsequenzen für Kollegen, Führungskräfte, Kunden und die .................. Familie ............................................................................................... 139 Konsequenzen für Organisationen und die Gesellschaft ....................... 142

Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien ...... 147 4.1 4.1.1

Theoretische Herleitung der Hypothesen............................................... 149 Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit (Studie 1 und 2) ............ 150

VI

Inhaltsverzeichnis 4.1.2 4.1.3

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5

5 5.1 5.2

Einfluss von Präsentismus auf das Leistungsverhalten ................................ (Studie 1 und 2) ................................................................................. 154 Annahmen basierend auf der sozialen Austauschtheorie (Studie 2) ...... 160 Methodik ............................................................................................... 163 Auswahl des Studiendesigns ................................................................. 163 Durchführung der Untersuchungen ....................................................... 166 Operationalisierung der Konstrukte ....................................................... 168 Datenaufbereitung ................................................................................. 193 Stichprobe.............................................................................................. 199 Datenanalyse – Auswahl des Analyseverfahrens................................... 203 Ergebnisse ............................................................................................. 206 Vergleich der Messungen von Präsentismus ......................................... 207 Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit ...................................... 217 Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung ................................ 243 Diskussion der Ergebnisse beider Längsschnittstudien ......................... 279 Vergleich der Messungen von Präsentismus ......................................... 280 Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit ...................................... 287 Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung ................................ 291 Limitationen .......................................................................................... 299

Fazit und Implikationen ............................................................... 305 Implikationen für die Praxis .................................................................. 307 Implikationen für die Forschung ........................................................... 309

Anhang ......................................................................................................... 313 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 403

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Übersicht der Messinstrumente – Verhaltensdefinition ..................... 60 Tabelle 2: Prävalenz von Präsentismus .............................................................. 67 Tabelle 3: Übersicht über Studien zum Einfluss von Präsentismus auf das Wohlbefinden und die Gesundheit ...................................................... 113 Tabelle 4: Übersicht über Studien zum Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung .................................................................................... 135 Tabelle 5: Präsentismusmessung in den Studien 1 & 2 .................................... 177 Tabelle 6: Modellgüte der Faktorenanalysen– Studie 1 & 2 ............................ 186 Tabelle 7: Modellgüte der Faktorenanalysen nach Anpassung – Studie 1 & 2 .......................................................................................................... 188 Tabelle 8: Indikator- und Faktorreliabilitäten – Studie 1 ................................. 190 Tabelle 9: Indikator- und Faktorreliabilitäten – Studie 2 .................................. 191 Tabelle 10: Anzahl an Teilnehmern pro Woche und Beantwortungszeiträume – Studie 1.................................................... 197 Tabelle 11: Anzahl an Teilnehmern pro Woche und Beantwortungszeiträume – Studie 2.................................................... 197 Tabelle 12: Präsentismus- und Absentismustage hochgerechnet auf 12 Monate ................................................................................................ 208 Tabelle 13: Korrelationen und Vergleich der Präsentismusmessungen – Studie 1 ............................................................................................... 210 Tabelle 14: Gruppenunterschiede in Bezug auf Präsentismus- und Absentismustage (T-Tests und Wilcoxon rank-sum Tests) – Studie 1 .......................................................................................................... 211 Tabelle 15: Präsentismus- und Absentismustage hochgerechnet auf 12 Monate – Studie 2 ............................................................................... 213 Tabelle 16: Korrelationen und Vergleich der Präsentismusmessungen – Studie 2 ............................................................................................... 215 Tabelle 17: Gruppenunterschiede in Bezug auf Präsentismus- und Absentismustage (T-Tests und Wilcoxon rank-sum Tests) – Studie 2 .......................................................................................................... 216 Tabelle 18: Prüfung der Messinvarianz – Studie 1 & 2 .................................... 219 Tabelle 19: Deskriptive Statistik und Korrelationen auf Itemebene – Studie 1 .......................................................................................................... 223

VIII

Tabellenverzeichnis

Tabelle 20: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte Präsentismus- & Absentismustage) – Studie 1 ............................................................... 224 Tabelle 21: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte dys. Präsentismusund Absentismustage) – Studie 1 ........................................................ 226 Tabelle 22: SEM mit zwei Messzeitpunkten (mit Bedarf an Erholung) – Studie 1 ............................................................................................... 230 Tabelle 23: SEM mit zwei Messzeitpunkten (dys. Präsentismus. mit Bedarf an Erholung) – Studie 1 ...................................................................... 232 Tabelle 24: Deskriptive Statistik und Korrelationen auf Itemebene – Studie 2 .......................................................................................................... 235 Tabelle 25: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte Präsentismus- und Absentismustage) – Studie 2 ............................................................... 236 Tabelle 26: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte dys. Präsentismusund Absentismustage) – Studie 2 ........................................................ 237 Tabelle 27: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte Präsentismus-, Absentismustage und Bedarf an Erholung) – Studie 2........................ 239 Tabelle 28: SEM mit zwei Messzeitpunkten (aggregierte dys. Präsentismus-, Absentismustage und Bedarf an Erholung) – Studie 2........................ 241 Tabelle 29: ICC der Indikatoren und latenten Faktoren – Studie 1 & Studie 2 .......................................................................................................... 244 Tabelle 30: Deskriptive Statistik und Korrelationen der latenten Konstrukte – Studie 1 ............................................................................................ 246 Tabelle 31: ML-SEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche ohne manifeste Kontrollvariablen ........................................... 250 Tabelle 32: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche ohne manifeste Kontrollvariablen .......................... 252 Tabelle 33: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche ohne manifeste Kontrollvariablen ........................................... 254 Tabelle 34: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche ohne manifeste Kontrollvariablen ............................ 256 Tabelle 35: Deskriptive Statistik und Korrelationen aller latenten Konstrukte – Studie 2 .......................................................................... 260 Tabelle 36: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche ohne manifeste Kontrollvariablen – Studie 2 .......................... 264

Tabellenverzeichnis

IX

Tabelle 37: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche ohne manifeste Kontrollvariablen – Studie 2 ......... 266 Tabelle 38: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche ohne manifeste Kontrollvariablen – Studie 2 .......................... 268 Tabelle 39: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche ohne manifeste Kontrollvariablen – Studie 2 ........... 270 Tabelle 40: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 2 .......................... 272 Tabelle 41: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 2 .......... 274 Tabelle 42: Präsentismusmessungen beider Studien – hochgerechnete Mittelwerte auf 12 Monate.................................................................. 284 Tabelle 43: Zusammenfassung der Ergebnisse – Hypothese 1 bis 4................. 288 Tabelle 44: Zusammenfassung der Ergebnisse – Hypothese 5 bis 15............... 293 Tabelle 45: Zusammenfassung aktueller empirischer Studien seit 2016 – Verhaltensdefinition von Präsentismus............................................... 314 Tabelle 46: Chi²-Test: Unterschiede der Präsentismusangaben in Abhängigkeit des Geschlechts, Daten des Gesundheitsmonitor, Welle 20 .............................................................................................. 354 Tabelle 47: Chi²-Test: Unterschiede der Präsentismusangaben in Abhängigkeit des Geschlechts, Daten des Gesundheitsmonitor, Welle 21 .............................................................................................. 354 Tabelle 48: KFA, Testen der Faktorenstruktur – Studie 1 ................................ 355 Tabelle 49: ML-KFA, Testen der Faktorenstruktur – Studie 1 ......................... 356 Tabelle 50: KFA, Testen der Faktorenstruktur – Studie 2 ................................ 357 Tabelle 51: ML-KFA, Testen der Faktorenstruktur – Studie 2 ......................... 358 Tabelle 52: KFA- Modifikationsindizes – Studie 1 ........................................... 359 Tabelle 53: ML-KFA- Modifikationsindizes – Studie 1 .................................... 360 Tabelle 54: KFA- Modifikationsindizes – Studie 2 ........................................... 361 Tabelle 55: ML-KFA- Modifikationsindizes – Studie 2 .................................... 362 Tabelle 56: Modellgüte der Faktorenanalysen nach Anpassung (Reliabilitätsverbesserung) – Studie 1 & 2 ......................................... 363 Tabelle 57: T-Tests und Wilcoxon rank-sum Tests zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern in der zwölften Woche – Studie 1 .................. 364

X

Tabellenverzeichnis

Tabelle 58: Chi²-Tests zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern in der zwölften Woche – Studie 1 .................................................................. 365 Tabelle 59: T-Tests und Wilcoxon rank-sum Tests zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern in der zehnten Woche – Studie 2 ................... 366 Tabelle 60: Chi²-Tests zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern in der zehnten Woche – Studie 2 ................................................................... 367 Tabelle 61: Demografische Daten der Stichprobe - Studie 1............................ 368 Tabelle 62: Angaben zur Gesundheit und zum Gesundheitsverhalten Studie 1 ............................................................................................... 370 Tabelle 63: Demografische Daten der Stichprobe - Studie 2............................ 371 Tabelle 64: Angaben zur Gesundheit und zum Gesundheitsverhalten – Studie 2 ............................................................................................... 373 Tabelle 65: Deskriptive Statistik und Korrelationen auf Itemebene: erster und letzter Messzeitpunkt - Studie 1.................................................... 374 Tabelle 66: Deskriptive Statistik und Korrelationen auf Itemebene: erster und letzter Messzeitpunkt - Studie 2.................................................... 379 Tabelle 67: Modellgüte der SEM mit zwei Messzeitpunkten (Mediation) – Studie 1 & Studie 2 ............................................................................. 383 Tabelle 68: Korrigierte Konfidenzintervalle der indirekten Effekte – Studie 1 & Studie 2 ........................................................................................ 384 Tabelle 69: MSEM: Gütekriterien aller Modelle – Studie 1 ............................. 385 Tabelle 70: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 1 .......................... 386 Tabelle 71: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung derselben Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 1 .......... 388 Tabelle 72: MSEM: Präsentismusmessung und Arbleitsleistung der nächsten Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 1 ........... 390 Tabelle 73: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbleitsleistung der nächsten Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 1 ........... 392 Tabelle 74: MSEM: Modellvergleiche Gleichheitsrestriktionen – Studie 1 ...... 394 Tabelle 75: MSEM: Gütekriterien aller Modelle – Studie 2 ............................. 395 Tabelle 76: MSEM: Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 2 .......................... 396 Tabelle 77: MSEM: dys. Präsentismusmessung und Arbeitsleistung der nächsten Woche mit manifesten Kontrollvariablen – Studie 2 ........... 398

Tabellenverzeichnis

XI

Tabelle 78: MSEM: Modellvergleiche Gleichheitsrestriktionen – Studie 2 ...... 400 Tabelle 79: vereinfachte Mehrebenenmodelle, cross-level Interaktion – Studie 1 und Studie 2 .......................................................................... 401

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Mehrdimensionales Gesundheits- Krankheitskontinuum (eigene Darstellung) ............................................................................. 12 Abbildung 2: Überblick verschiedener Konzeptualisierung der Arbeitsleistung (eigene Darstellung). ................................................... 18 Abbildung 3: Dimensionen des An- und Abwesenheitsverhaltens (eigene Darstellung – Erweiterung der Darstellung von Kastner, 2013, S. 545) ................................................................................................... 49 Abbildung 4: Entwicklung des Krankenstands basierend auf Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (eigene Darstellung) .......................................................................................... 68 Abbildung 5: Präsentismusmodelle von Aronsson und Gustafsson (2005), Johns (2010) und Hägerbäumer (2017) ................................................ 76 Abbildung 6: Einflussfaktoren von Präsentismus. ............................................. 99 Abbildung 7: Ergebnisdarstellung des meta-analytischen Strukturgleichungsmodells von Miraglia & Johns, 2016. (übersetzte Darstellung in Anlehnung an Miraglia & Johns, 2016, S. 274) ................................................................................................. 104 Abbildung 8: Forschungsmodell zur Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit. ......................................................................................... 154 Abbildung 9 Forschungsmodell zur Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung. ................................................................................... 163 Abbildung 10: Verteilung der unterschiedlichen Präsentismusmessungen – Studie 1 ............................................................................................... 209 Abbildung 11: Verteilung der unterschiedlichen Präsentismusmessungen – Studie 2 ............................................................................................... 214

Abkürzungsverzeichnis BAuA

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

BGF

Betriebliche Gesundheitsförderung

BGM

Betriebliches Gesundheitsmanagement

BIBB

Berufsinstituts für Berufsbildung

BKK

Betriebskrankenkassen

CFI

Comparative Fit Index

COPSOQ

Copenhagen Psychosocial Questionnaire

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

EfzG

Entgeltfortzahlungsgesetz

EWCS

European Working Conditions Surveys

FIML

Full Maximum Likelihood Methode

GKV

gesetzlichen Krankenversicherung

ICC

Intraklassenkorrelation

ICD

International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

IGA

Initiative Gesundheit und Arbeit

ISTA

Instrument zur Stressbezogenen Arbeitsanalyse

JD-C Modell

Job-Demand-Control Modell

JD-R Modell

Job Demands-Resources Modell

KFA

konfirmatorische Faktorenanalyse

MAR

missing at random

MCAR

missing completely at random

ML-KFA

konfirmatorische MehrebenenFaktorenanalyse

XVI

Abkürzungsverzeichnis MNAR

missing not at random

MSEM

Mehrebenen-Strukturgleichungsansatz

OCB

Organizational Citizenship Behavior

OCB-I

Organizational Citizenship Behavior, welches auf andere Individuen gerichtet ist

OCB-O

Organizational Citizenship Behavior, welches auf die Organisation gerichtet ist

RMR

Standardized Root Mean Square Residual

SALSA

Salutogenetische Subjektive Arbeitsanalyse

SEM

Strukturgleichungsmodell

SF-12-S

Short Form-12 Health Survey-SOEP

SOEP

Sozioökonomisches Panel

SPS

Stanford Presenteeism Scale

SRMR

Standardized Root Mean Square Residual

WHI

Work and Health Interview

WLQ

Work Limitations Questionnaire

WPAI

Work Productivity and Activity Impairment Questionnaire

WHO

Weltgesundheitsorganisation

Abstract Die vorliegende Arbeit untersucht zum einen den Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit und auf die Arbeitsleistung und vergleicht zum anderen verschiedene Arten der Messung von Präsentismus. Im Rahmen von zwei Längsschnittstudien wurden insgesamt 411 Beschäftigte (N1 = 189, N2 = 222) über einen Zeitraum von zehn bzw. zwölf Wochen jede Woche befragt, was insgesamt zu 2776 Datensätzen (Studie1 = 1533, Studie2 = 1243) führte. Die auf Strukturgleichungsanalysen basierenden Ergebnisse konnten keine bedeutsamen Zusammenhänge zwischen Präsentismus und der Arbeitsleistung bestätigen. In beiden Studien lagen allerdings Hinweise auf eine gesundheitsschädigende bzw. erholungsmindernde Wirkung von Präsentismus vor. Die Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass Präsentismus als Strategie zur Aufrechterhaltung der Leistung (performance protection strategy) genutzt werden kann, was allerdings zu Lasten der eigenen Gesundheit geht. Bei dem Vergleich der Messinstrumente von Präsentismus zeigten sich bedeutsame Unterschiede bei der durchschnittlichen Angabe der Anzahl der Präsentismustage. Die Erfassung der Präsentismustage in Bezug auf die letzte Arbeitswoche erwies sich als sensibler bei der Unterscheidung von Personen mit und ohne chronischen Erkrankungen als längere Betrachtungszeiträume (wie die vergangenen sechs Monate), aber auch anfälliger für saisonale Schwankungen. Basierend auf den Ergebnissen wurden Empfehlungen für die Messung von Präsentismus abgeleitet.

1

Einleitung

Die Bedeutung der Mitarbeitergesundheit rückt vor dem Hintergrund der veränderten Arbeitswelt für Unternehmen zunehmend in den Vordergrund. Erstens stehen Unternehmen in Deutschland einer alternden und reduzierten Erwerbsbevölkerung gegenüber. Deshalb ist die gezielte Förderung der Gesundheit insbesondere älterer Mitarbeiter bedeutsam, um die bestehenden Mitarbeiter1 möglichst lange im Unternehmen einzusetzen und Vakanzen und damit verbundene Kosten gering zu halten (Ristau-Winkler, 2015). Zusätzlich gewinnen die Maßnahmen der Gesundheitsförderung auch zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität im Wettbewerb um zukünftige Mitarbeiter an Bedeutung (Bossler & Jung, 2014; DGFP e. V., 2014). Zweitens führen die Digitalisierung und die globale Vernetzung zu steigenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen, zur Arbeitsverdichtung (Kubicek, Paškvan & Bunner, 2017; Paškvan & Kubicek, 2017) und einer Subjektivierung der Arbeit (Peters & Sauer, 2005; Voß & Pongratz, 1998), was mit Risiken für die Gesundheit der Beschäftigten verbunden ist. Um gerade in Zeiten des Wandels die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter aufrechtzuerhalten, müssen Unternehmen die Gesundheit ihrer Mitarbeiter im Blick haben. So kann festgestellt werden, dass insbesondere mittlere und Großbetriebe vermehrt Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung über die gesetzlichen Vorgaben hinaus einsetzen (Bossler & Jung, 2014). Damit diese Maßnahmen ihre Wirkung entfalten, müssen sie von den Beschäftigten angenommen werden. Unter dem Fokus der Veränderungen der Arbeitswelt wird jedoch ein Verhalten beobachtet, bei welchem Beschäftigte mit ihrem persönlichen Arbeitshandeln ihre eigene Gesundheit gefährden und Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes unterlaufen (Krause, Dorsemagen, Stadlinger & Baeriswyl, 2012; Peters, 2011). Dieses Verhalten wird auch als interessierte Selbstgefährdung bezeichnet. Eine Form der interessierten Selbstgefährdung, welche in den letzten Jahren zunehmend in den Medien 2 wie auch in der

1

Aus Gründen der Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Form verwendet. Sofern nicht anders vermerkt, sind bei Personenbezeichnungen beide Geschlechter angesprochen. 2 So berichteten beispielsweise die Süddeutsche Zeitung im Mai 2010 unter der Überschrift „Krank sein darf ich nicht“, Zeit Online im November 2017 mit „Sogar Patienten mit Lungenentzündung arbeiten noch tagelang weiter“, Fokus Online sowie die Bild Zeitung im Februar 2018 unter den

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Steidelmüller, Präsentismus als Selbstgefährdung, Gesundheitspsychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30681-6_1

2

1 Einleitung

Forschung an Bedeutung gewonnen hat, ist Präsentismus, das Verhalten, krank zu arbeiten (Johns, 2010; Steinke & Badura, 2011). Dieses zunehmende Interesse an Präsentismus lässt sich vor allem aufgrund der weitreichenden Konsequenzen dieses Verhaltens sowohl für die Individuen als auch für die Unternehmen erklären. So weisen Studien darauf hin, dass Präsentismus zu einer langfristigen Verschlechterung der individuellen Gesundheit führt (Bergström, Bodin, Hagberg, Lindh et al., 2009; Dellve, Hadzibajramovic & Ahlborg, 2011) und das Risiko für anschließende, längere krankheitsbedingte Ausfälle erhöht (Bergström, Bodin, Hagberg, Aronsson & Josephson, 2009; Hansen & Andersen, 2009). Zudem bestehen Hinweise, dass Präsentismus mit Einschränkungen der Arbeitsproduktivität verbunden ist und somit zu hohen Kosten für Unternehmen führt (Collins et al., 2005; Goetzel et al., 2004; Stewart, Ricci, Chee & Morganstein, 2003). Trotz der bisherigen Studienergebnisse besteht weiterer Forschungsbedarf in Bezug auf den Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung und die Gesundheit von Individuen. In einem aktuellen Überblicksartikel betonen Skagen und Collins (2016), dass zwar die langfristigen Konsequenzen von Präsentismus auf die Gesundheit untersucht wurden, aber nur wenig Forschung zu den kurzfristigen Effekten vorhanden ist. Die wenigen Studien, die die kurzfristigen gesundheitlichen Konsequenzen betrachten, kommen zudem zu widersprüchlichen Ergebnissen (Lu, Lin & Cooper, 2013; Lu, Peng, Lin & Cooper, 2014). Mit Bezug auf den Einfluss von Präsentismus auf Arbeitsproduktivität kritisiert Johns (2012), dass die meisten Studien eine Definition von Präsentismus verwenden, die reduzierte Arbeitsproduktivität bereits als Teil von Präsentismus beinhaltet. Er folgert, dass Ursache und Wirkung in diesen Studien konfundiert werden, was zu einer Überschätzung des Zusammenhangs führen kann (McGregor, Sharma, Magee, Caputi & Iverson, 2017; Whysall, Bowden & Hewitt, 2018). Darüber hinaus fokussiert die Arbeitsproduktivität auf den Ergebnisaspekt der Arbeitsleistung (im Verhältnis zum geleisteten Einsatz), der stark durch äußere Bedingungen wie situative oder organisationale Beschränkungen und nicht nur durch das Verhalten des Individuums beeinflusst wird (Campbell & Wiernik, 2015). Es existieren nur wenige Studien, die den Einfluss von Präsentismus auf verschiedene Dimensionen des Leistungsverhaltens untersuchen und dabei explizit zwischen Präsentismus als Überschriften „Jeder zweite Deutsche quält sich auch krank in die Arbeit“ und „Darf ich krank zur Arbeit gehen“ über das Phänomen Präsentismus.

1.1 Zielsetzung

3

Verhalten und Arbeitsleistung als Konsequenz unterscheiden. Diese Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen (Christian, Eisenkraft & Kapadia, 2015; Lu, Lin et al., 2013). Ursächlich für diese Widersprüche können methodische Unterschiede der Studien sein. So werden in den bisherigen Studien verschiedene Messinstrumente zur Erfassung von Präsentismus eingesetzt, was eine Vergleichbarkeit früherer Studienergebnisse erschwert. Für den Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit und die Arbeitsleistung fehlen darüber hinaus Studien, die die Wirkmechanismen erklären und überprüfen (Johns, 2012). Erst durch die Kenntnis dieser Wirkmechanismen können Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, die helfen, die möglicherweise negativen Konsequenzen von Präsentismus in Bezug auf die individuelle Gesundheit und die Arbeitsleistung zu unterbinden. 1.1

Zielsetzung

Die Arbeit verfolgt das Ziel, zusätzliche Evidenz zur Auflösung der Widersprüche hinsichtlich des Einflusses von Präsentismus auf die Gesundheit und die Arbeitsleistung zu erhalten. Hierbei sollen nicht nur bestehende Zusammenhänge überprüft, sondern auch verschiedene Wirkmechanismen, basierend auf zwei konkurrierenden theoretischen Ansätzen, getestet werden. Die Arbeit stützt sich einerseits auf das Anstrengungs-Erholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998) und untersucht den Bedarf an Erholung als Mediator zur Erklärung der Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit und die Arbeitsleistung. Andererseits wird als alternativer Wirkmechanismus zur Erklärung des Einflusses von Präsentismus auf die Arbeitsleistung die wahrgenommene Gerechtigkeit, gestützt durch die soziale Austauschtheorie (Blau, 1964), als Vermittler betrachtet. Die Arbeitsleistung wird dabei als mehrdimensionales Konstrukt mit den Dimensionen der Aufgabenleistung und Kontextleistung erfasst. Dies ermöglicht es, potenzielle Unterschiede in der Wirkung von Präsentismus auf die zwei Dimensionen der Arbeitsleistung aufzudecken. Um die angenommenen Zusammenhänge zu untersuchen, wurden zwei Längsschnittstudien über zehn und zwölf Wochen mit einem Zeitabstand von einer Woche zwischen den wiederholten Befragungen durchgeführt und die erhobenen Daten analysiert. Die Arbeit trägt damit zum Verständnis von Präsentismus und seinen Folgen bei, wodurch auch Hinweise zum Umgang mit Präsentismus für Unternehmen ableitbar werden.

4

1 Einleitung

Neben dem inhaltlichen Beitrag zielt die Arbeit darauf ab, methodische Fragen zur Messung von Präsentismus näher zu beleuchten. Zum einen soll die Frage beantwortet werden, ob die angeführten Widersprüche in der Literatur durch den Einsatz verschiedener Messinstrumente erklärbar sind. Hierfür wurden zwei verschiedene, aber häufig eingesetzte Messinstrumente verwendet, die Präsentismus mit leicht unterschiedlichen Definitionen abbilden. Diese beiden Messinstrumente wurden verglichen und daraufhin getestet, ob deutliche Unterschiede in Zusammenhängen mit anderen Variablen erkennbar sind. Die Kenntnis möglicher Unterschiede hilft frühere Ergebnisse der Präsentismusliteratur besser einschätzen zu können und Empfehlungen zur zukünftigen Messung von Präsentismus abzuleiten. Zum anderen gehört diese Arbeit zu den wenigen Längsschnittstudien, die Präsentismus wöchentlich und somit mit deutlich kürzerem Betrachtungszeitraum als üblich erheben. Dies reduziert Erinnerungsprobleme seitens der Befragten im Vergleich zu häufig verwendeten, längeren Betrachtungszeiträumen von 12 Monaten und führt zu einer genaueren Angabe der Präsentismustage (Deery, Walsh & Zatzick, 2014; Johns, 2011; Skagen & Collins, 2016). Um Angaben zur Genauigkeit der wöchentlichen Messung zu erhalten, wurde die wöchentliche Erhebung hochgerechnet und in Anlehnung an die Studie von Strasser, Varesco Kager und Häberli (2017) mit einem retrospektiven Maß bezogen auf die letzten sechs Monate verglichen. 1.2

Vorgehen

Um der Frage nachzugehen, wie sich Präsentismus auf die Gesundheit und die Arbeitsleistung auswirkt, werden zunächst die wesentlichen Begrifflichkeiten sowie ihre theoretischen Zusammenhänge erläutert (Kapitel 2). Im ersten Schritt wird dargelegt, was unter Gesundheit und Krankheit verstanden wird und wie die Konstrukte voneinander zu trennen sind (Abschnitt 2.1). Die Darstellung der Begriffe Gesundheit und Krankheit ist zum einen für den weiteren Verlauf der Arbeit wichtig, da diese als abhängige Variablen betrachtet werden. Zum anderen bilden die Begriffe auch die Grundlage zum Verständnis der Präsentismusdefinition. Neben Gesundheit wird zudem die Arbeitsleistung als abhängige Variable betrachtet, sodass in Abschnitt 2.2 dieses Konstrukt und seine Dimensionen definiert werden. Im Anschluss an die Darstellungen der Begrifflichkeiten werden Theorien vorgestellt, die sowohl die Wirkung von Arbeit auf die Gesundheit als auch die Wirkung

1.2 Vorgehen

5

der Gesundheit auf die Arbeitsleistung erklären (Abschnitt 2.3). Die überblickshafte Beschreibung der theoretischen Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Arbeit(sleistung) enthält wesentliche Begrifflichkeiten, die im Laufe der Arbeit immer wieder Verwendung finden. Es werden zudem die Theorien erläutert, auf die sich die empirische Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit stützt. In Kapitel 3 wird der Forschungsstand zu Präsentismus ausführlich vorgestellt. Hierbei werden über die Fragestellung der Arbeit hinaus die Definitionen, die Prävalenz, die Messung sowie die Ursachen und Konsequenzen von Präsentismus umfassend präsentiert und Schwachstellen der Präsentismusforschung herausgestellt. Das vierte Kapitel widmet sich dann der Beschreibung der durchgeführten empirischen Untersuchung dieser Arbeit. Gemeinsam für beide empirischen Studien werden dabei zunächst in Abschnitt 4.1 auf Grundlage der Theorien die Hypothesen hergeleitet. Im Anschluss erfolgt die Darstellung des methodischen Vorgehens (vgl. Abschnitt 4.2), bevor in Abschnitt 4.3 die Ergebnisse der beiden Studien vorgestellt werden. Schließlich werden die Ergebnisse und die Grenzen beider Studien diskutiert (vgl. Abschnitte 4.4 und 4.5). Als Fazit (Kapitel 5) werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und Implikationen für die Praxis sowie die Forschung abgeleitet.

2

Theoretische Grundlagen

Bevor der aktuelle Forschungsstand zu Präsentismus umfassend dargestellt wird, widmet sich das zweite Kapitel zunächst den theoretischen Grundlagen der beiden abhängigen Variablen Gesundheit bzw. Krankheit und der Arbeitsleistung, die im Rahmen der empirischen Untersuchung betrachtet werden. Dabei werden die Konstrukte definiert (Abschnitte 2.1 und 2.2) und ihre theoretischen Zusammenhänge erläutert (Abschnitt 2.3). 2.1

Gesundheit und Krankheit

Obwohl jedes Individuum eine Vorstellung darüber hat, was gesund bzw. krank bedeutet, müssen diese Vorstellungen nicht unbedingt übereinstimmen. Selbst Experten wie Führungskräfte in Unternehmen oder Mitarbeiter aus Personalabteilungen definieren Gesundheit unterschiedlich (Ulich & Wülser, 2015). Auch in der Wissenschaft gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen, die auf verschiedenen Ansätzen beruhen und Gesundheit wie Krankheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten (A. Franke, 2012; Ulich & Wülser, 2015). Im Folgenden werden zunächst diese verschiedenen Sichtweisen auf Gesundheit und Krankheit beschrieben, bevor eine zusammenfassende und mehrdimensionale Definition von Gesundheit und Krankheit vorgestellt wird, die dieser Arbeit zugrunde liegt. 2.1.1

Dimensionen von Gesundheit und Abgrenzung zur Krankheit

In Bezug auf Gesundheit teilt A. Franke (2012) die verschiedenen Definitionen in mehrere Dimensionen ein: Gesundheit als Störungsfreiheit wird vor allem durch das Verständnis von Gesundheit auf Basis des biomedizinischen Modells geprägt. In diesem Modell „wird Gesundheit als die Abwesenheit von Krankheit verstanden“ und somit als ein naturwissenschaftlich objektivierbarer Zustand. Krankheiten hingegen stellen „Abweichungen biologischer Funktionen von einer statistischen Norm einer Referenzgruppe“ dar (Knoll, Scholz & Rieckmann, 2013, S. 18). Dabei können solche Abweichungen nur von Experten festgestellt werden, die diese Referenzwerte kennen. Gesundheit und Krankheit werden hier als zwei

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Steidelmüller, Präsentismus als Selbstgefährdung, Gesundheitspsychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30681-6_2

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2 Theoretische Grundlagen

dichotome Zustände verstanden, die einander ausschließen. Kritisch ist dabei anzumerken, dass das subjektive Befinden des Einzelnen keine Berücksichtigung findet, obwohl eine Diskrepanz zwischen dem Befund und dem Befinden des Individuums vorliegen kann. So gibt es Menschen, die sich trotz einer Normabweichung nicht krank fühlen oder aber Personen fühlen sich krank, obwohl keine Normabweichung festgestellt wird (A. Franke, 2012; Becker, 2006). Außerdem stellt sich die Frage, ob Störungsfreiheit immer klar bestimmt werden kann. Ob eine Krankheit diagnostiziert wird, ist dabei auch abhängig von den technischen Möglichkeiten der Diagnostik, von der Referenzgruppe und den Normen in einer Gesellschaft. So gilt niedriger Blutdruck in Deutschland beispielsweise als Krankheit in anderen Ländern aber nicht, weshalb dies auch als „german disease“ betitelt wird (A. Franke, 2012, S. 26). Mit ihrer einflussreichen Definition von Gesundheit als „a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity” (WHO, 1948, S. 1) löst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das rein medizinische Verständnis ab und betont, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen. Sie definiert Gesundheit als Wohlbefinden und gibt damit dem subjektiven Befinden mehr Bedeutung. Zudem wird deutlich, dass Gesundheit ein mehrdimensionales Konstrukt ist, welches aus physischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden besteht. Trotz des weitreichenden Einflusses dieser Definition blieb sie nicht kritiklos (A. Franke, 2012; Ulich & Wülser, 2015). So ist eine Konkretisierung des Begriffs Wohlbefinden erforderlich, damit die Definition im Rahmen der betrieblichen Praxis und für wissenschaftliche Zwecke Anwendung finden kann (Ulich & Wülser, 2015). Allerdings bestehen auch für Wohlbefinden mehrere unterschiedliche Definitionen. In einer Überblicksarbeit unterscheidet Sonnentag (2015) hedonistische und eudämonistische Konzeptualisierungen von Wohlbefinden, die auf unterschiedlichen philosophischen Anschauungen basieren. Während Erstere Wohlbefinden überwiegend als die subjektive Bewertung des „sich gut Fühlens“ beschreiben, ist Wohlbefinden im Sinne der eudämonistischen Sicht das Gefühl, ein gutes und sinnvolles Leben zu führen. Hedonistisches Wohlbefinden lässt sich weiterhin unterteilen in eine affektive und kognitive Komponente (Ulich & Wülser, 2015). So beschreiben Diener, Suh, Lucas und Smith (1999) Wohlbefinden als positive emotionale Reaktionen (wie z. B. Glück oder Happiness, was der affektiven Komponente ent-

2.1 Gesundheit und Krankheit

9

spricht), Zufriedenheit in bestimmten Bereichen wie der Arbeit und eine allgemeine Lebenszufriedenheit. Eine Einteilung im Sinne der Definition der WHO nehmen Abele und Becker (1991) vor. Dabei beschreibt psychisches Wohlbefinden, wenn sich eine Person wohl, ausgeglichen und kompetent fühlt. Physisches Wohlbefinden liegt vor, wenn sich eine Person fit, gesund und beschwerdefrei fühlt und das soziale Wohlbefinden spiegelt das Gefühl wider, wenn eine Person sich gemocht und gebraucht fühlt (Rudow, 2014). Auch wenn die einzelnen Konzepte eine unterschiedliche Einteilung vornehmen, lässt sich festhalten, dass Wohlbefinden ein mehrdimensionales, subjektives Konstrukt ist. Im Vergleich zur Gesundheit als Störungsfreiheit stellt diese Konzeptualisierung keine Negativdefinition mehr dar, sondern nutzt einen positiven Gesundheitsbegriff (Ulich & Wülser, 2015). Neben der Konkretisierung des Begriffs Wohlbefinden ist ein weiterer Kritikpunkt an der Definition der WHO, dass es sich um einen utopischen Idealzustand handelt und Gesundheit kein statischer Zustand ist (Kaluza, 2011; Ulich & Wülser, 2015). Gesundheitskonzepte, die den dynamischen und prozesshaften Charakter hervorheben, beschreiben Gesundheit als Gleichgewichtszustand (Homöostase) oder aber als Flexibilität (Heterostase) bzw. Anpassung. So beschreiben Udris, Kraft, Mussmann und Rimann (1992, S. 13) Gesundheit basierend auf system- und handlungstheoretischen Grundlagen als „transaktional bewirkter Zustand eines dynamischen Gleichgewichts (Balance) zwischen dem Individuum, seinem autonomen Potenzial zur Selbst-Organisation und Selbst-Erneuerung und seiner sozial-ökologischen Umwelt“. Die Autoren betonen, dass der Gleichgewichtszustand nicht statisch ist, sondern „im Sinne einer Anpassung an oder einer zielgerichteten Veränderung der Umweltbedingungen“ ständig wieder hergestellt werden muss. Dabei rücken sie die Ressourcen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit in den Vordergrund. Sie folgen hiermit dem Modell der Salutogenese von Antonovsky (1996), welches den Fokus auf Faktoren lenkt, die Gesundheit erhalten und fördern. Dabei gibt es im Rahmen seines HeterostaseModells keine dichotomen Zustände der Krankheit und Gesundheit, da für ihn „Krankheiten zur Normalität des Lebens gehören“ (A. Franke, 2012, S. 170). So befinden sich Menschen nicht in einem Gleichgewicht, sondern in einem Ungleichgewicht, welches ständige Anpassung von Ihnen erfordert. Gesundheit und Krankheit fasst Antonovsky als Endpunkte auf einem Kontinuum auf, auf welchem Personen an einem bestimmten Punkt zu bestimmten Teilen gesund und

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2 Theoretische Grundlagen

nicht gesund sind. Wo sich eine Person auf dem Kontinuum befindet, bestimmen dabei vor allem seine „Generalisierten Widerstandsressourcen“ (Ulich & Wülser, 2015, S. 39). Als letzte Dimension führt A. Franke (2012) Gesundheit als Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung an. Im Rahmen dieser Perspektive werden Personen als gesund bezeichnet, wenn sie den eigenen und fremden Anforderungen sowie den Rollenerwartungen gerecht werden. Unter dieser Dimension lässt sich auch Gesundheit als Handlungsfähigkeit erfassen. Basierend auf der Handlungsregulationstheorie beschreibt Gesundheit „die Entwicklung der allgemeinen Handlungsfähigkeit (…), die ihren Ausdruck findet, in der Fähigkeit, langfristige Ziele zu bilden, in der Fähigkeit, stabil-flexibel mit sich verändernden Umweltbedingungen umzugehen und in der Fähigkeit, körperliche Prozesse und Handlungen aufeinander abzustimmen“ (Ducki & Greiner, 1992, S. 188). Auch bei dieser Definition findet sich die systemtheoretische Sichtweise wieder, da Personen ihr Handeln unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen, aber auch unter Beachtung der inneren körperlichen Bedingungen planen und durchführen. Diese Gesundheitsdefinition rückt dabei einerseits die individuelle Verantwortung in den Vordergrund, das eigene Handeln auch entsprechend der Körpersignale zu gestalten. Andererseits betonen die Autoren, dass Lebensbedingungen vorliegen müssen, die ein gesundheitsförderliches Verhalten überhaupt zulassen (Ducki & Greiner, 1992). Wieland (2013) hebt letztgenannte Aspekte noch einmal hervor, indem er zwischen individueller und organisationaler Gesundheitskompetenz unterscheidet. Individuelle Gesundheitskompetenz beschreibt „die individuellen Erfahrungen, Erwartungen und Fähigkeiten, die eigene Gesundheit durch geeignete Maßnahmen zu erhalten und zu fördern und gesundheitlichen Beschwerden und Erkrankungen aktiv und wirksam zu begegnen“, während organisationale Gesundheitskompetenz die Fähigkeit der Organisation bezeichnet, die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern (Wieland, 2013, S. 110). 2.1.2

Gesundheit und Krankheit als mehrdimensionales, komplexes Konstrukt

Insgesamt wird deutlich, dass Gesundheit ein mehrdimensionales und komplexes Konstrukt ist und nicht einfach von Krankheit zu trennen ist. Rudow (2014) fasst die verschiedenen Perspektiven in einem Stufenkonzept zusammen, welches auch

2.1 Gesundheit und Krankheit

11

als Rahmenmodell in dieser Arbeit Verwendung findet. In Anlehnung an Rudow (2014) ist Gesundheit sehr hoch bzw. Krankheit sehr niedrig ausgeprägt, wenn (1) keine Erkrankungen vorliegen: Hier liegt das Verständnis von Krankheit als objektivierbarer Zustand und Normabweichung vor. Krankheitsanzeichen und Krankheitsbilder werden z. B. in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der WHO klassifiziert (Becker, 2006; Brandenburg & Nieder, 2009), sodass sie von Experten diagnostizierbar werden können. Rudow (2014, S. 17) unterscheidet bei den Erkrankungen noch zwischen körperlichen Erkrankungen und psychischen Störungen sowie psychosomatischen Beschwerden. Körperliche Erkrankungen umfassen “Erkrankungen von Organen oder Organsystemen, bei denen eine komplexe, länger anhaltende und diagnostizierbare Funktionsstörung vorliegt, welche mit Leidensdruck (Schmerzen, Behinderungen usw.) verbunden ist.” Psychische Störungen zeigen sich als “ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster, das mit momentanem Leidensdruck (…) oder einer Beeinträchtigung (…) oder einem erhöhten Risiko zu sterben, einhergeht” (Wittchen, 2011, S. 32). Psychosomatische Beschwerden sind Beschwerden, die sowohl durch organische wie psychische Störungen ausgelöst werden. (Rudow, 2014). Häufig sind sie allerdings das Resultat von Beanspruchung, haben psychischen Ursprung und äußern sich als Schmerz oder Unbehagen (Ford, Cerasoli, Higgins & Decesare, 2011; Spector & Jex, 1998). (2) keine Befindensbeeinträchtigungen vorliegen: Hierunter fasst Rudow (2014, S. 18) „Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, indem sie zumindest temporär Arbeitsunzufriedenheit und subjektives Leiden bis hin zum Schmerz hervorrufen“. Damit wird auch das subjektive Empfinden und Erleben des Individuums berücksichtigt. In Abgrenzung zum Begriff Krankheit lässt sich dies als Kranksein verstehen, welches somit das subjektive Krankheitsgefühl beschreibt (Brandenburg & Nieder, 2009, S. 16). (3) Wohlbefinden vorliegt: Wohlbefinden soll in dieser Arbeit im Sinne von Abele und Becker (1991), wie oben bereits beschrieben, als psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden verstanden werden. Im Gegensatz zu fehlenden Befindensbeeinträchtigungen wird Gesundheit als Wohlbefinden positiv formuliert.

12

2 Theoretische Grundlagen

(4) Handlungsfähigkeit vorliegt: Somit wird in der letzten Stufe Gesundheit als Entwicklung der persönlichen Handlungsfähigkeit berücksichtigt, was vor allem die Eigenverantwortung des Individuums aber auch geeignete Rahmenbedingungen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit hervorhebt. Abbildung 1 fasst diese Komponenten zusammen, wobei Gesundheit und Krankheit als mehrdimensionales Kontinuum im Sinne des Modells der Salutogenese betrachtet werden können. Im Rahmen der Abbildung werden die vier genannten Stufen in drei Kontinuen überführt. Das Wohlbefinden und die Befindensbeeinträchtigungen stellen dabei ein Kontinuum dar, bei dem Ersteres den positiven und Letzteres den negativen Pol beschreibt. Aufgrund der Komplexität der Definition ist die Operationalisierung nicht leicht, der dargestellte Bezugsrahmen ermöglicht es aber, operationalisierbare Gesundheitsindikatoren systematisch in diesen Rahmen einzuordnen (Ulich & Wülser, 2015).

krank

gesund

Erkrankungen

Keine Erkrankungen

Beeinträchtigungen des Wohlbefindens

Wohlbefinden

Fehlende Handlungsfähigkeit

Handlungsfähigkeit

Abbildung 1: Mehrdimensionales Gesundheits- Krankheitskontinuum (eigene Darstellung)

2.2

Arbeitsleistung

Nachdem im vorherigen Abschnitt unterschiedliche Dimensionen von Gesundheit und Krankheit vorgestellt wurden, widmet sich dieser Abschnitt der zweiten in dieser Arbeit betrachteten Konsequenz von Präsentismus, der Arbeitsleistung. Individuelle Arbeitsleistung stellt eine der zentralen Größen in Organisationen dar, denn nur durch die Arbeitsleistung der Mitarbeiter können Organisationen ihre

2.2 Arbeitsleistung

13

Ziele, wie zum Beispiel höhere Produktivität, bessere Verkaufszahlen oder eine höhere Dienstleistungsqualität erst erreichen (Campbell & Wiernik, 2015; Rudow, 2014; Staufenbiel, 2007). Hohe Arbeitsleistung ist aber auch für Individuen lohnenswert, da mit ihr Zufriedenheit mit der Arbeit, Stolz und Erfolgserlebnisse verbunden sind (Sonnentag & Frese, 2002; Staufenbiel, 2007). Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Unterschied zwischen Leistungsverhalten und Leistungsergebnis beschrieben, bevor die unterschiedlichen Dimensionen des Leistungsverhaltens vorgestellt werden. 2.2.1

Unterscheidung von Leistungsverhalten und Leistungsergebnis

Grundsätzlich sollte bei der Konzeptualisierung von Arbeitsleistung zwischen dem Leistungsverhalten (von einigen Autoren auch als Prozessaspekt der Arbeitsleistung bezeichnet, z. B. von Sonnentag & Frese, 2012) und dem Leistungsergebnis unterschieden werden (Nerdinger & Schaper, 2014; Sonnentag & Frese, 2002). Ersteres beschreibt das Verhalten von Individuen bei der Arbeit, welches zur Erreichung der Organisationsziele beiträgt. Dabei beinhaltet diese Definition auch eine bewertende Komponente, denn das Verhalten kann als positiv oder negativ in Bezug auf die organisationale Zielerreichung gewertet werden (Campbell & Wiernik, 2015; Motowidlo, Borman & Schmit, 1997). Im Gegensatz dazu beschreibt das Leistungsergebnis die Resultate aus dem Leistungsverhalten, die häufig auch als Effektivität bezeichnet werden. So kann beispielsweise die Anzahl an erfolgreichen Herzoperationen als Leistungsergebnis eines Herzchirurgen gewertet werden, die Durchführung der Operationen als das Leistungsverhalten (Sonnentag & Frese, 2002). Neben der Effektivität berücksichtigt auch die Arbeitsproduktivität das Leistungsergebnis. Die Produktivität unterscheidet sich aber von der Effektivität darin, dass das Leistungsergebnis (Output) ins Verhältnis zum geleisteten Einsatz (Input) gesetzt wird (Jex, 1998; Staufenbiel, 2007). Das Leistungsverhalten und das Leistungsergebnis stehen zwar in einem positiven Zusammenhang zueinander, können aber auch deutlich voneinander abweichen. So ist das Leistungsergebnis auch abhängig von Zuständen und Bedingungen, die außerhalb des Einflussbereichs der Person liegen. Sonnentag und Frese (2002) illustrieren diese Abweichung anhand eines Beispiels. Ein Verkäufer zeigt sich im Umgang mit seinen Kunden nur mäßig überzeugend und kunden-

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2 Theoretische Grundlagen

freundlich, erreicht aber trotz seines mittleren Leistungsverhaltens durch eine allgemein hohe Nachfrage sehr gute Verkaufszahlen und damit ein sehr gutes Leistungsergebnis. Somit ist es möglich, dass „das Ergebnis als Leistungsmerkmal dem Mitarbeiter zugeschrieben wird, obwohl es (zumindest zu einem Teil) nicht von ihm beeinflusst oder verursacht wurde“ (Staufenbiel, 2007, S. 531). Nerdinger und Schaper (2014, S. 444) führen darüber hinaus noch Schwierigkeiten der „zeitlichen Zurechnung“ an. So können die Ergebnisse des Leistungsverhalten auch erst zeitlich verzögert sichtbar werden, sodass Leistungsergebnisse möglicherweise nicht das aktuelle Leistungsverhalten widerspiegeln. Aufgrund der beschriebenen Probleme herrscht in der Arbeits- und Organisationsforschung ein breiter Konsens, das Leistungsverhalten „als Bezugspunkt von psychologischen Analysen oder betrieblichen Interventionen“ zu betrachten (Nerdinger & Schaper, 2014, S. 444, vgl. auch: Sonnentag & Frese, 2012). Für Campbell und Wiernik (2015) umfasst die individuelle Arbeitsleistung somit nur das Leistungsverhalten und sie betonen, dass das Konstrukt nicht mit seinen Ursachen wie beispielsweise Kompetenzen oder seinen Konsequenzen wie den Leistungsergebnissen konfundiert werden sollte. 2.2.2

Dimensionen des Leistungsverhaltens

Das Leistungsverhalten an sich ist wiederum ein mehrdimensionales Konstrukt, für das eine Vielzahl unterschiedlicher Konzeptualisierungen vorliegt (Campbell & Wiernik, 2015). Obwohl das Leistungsverhalten je nach Tätigkeit höchst unterschiedlich aussehen kann (so unterscheidet sich beispielsweise die Durchführung von Herzoperationen deutlich von Verkaufsgesprächen), besteht aber eine breite Übereinstimmung, dass Leistungsverhalten die Dimensionen der Aufgabenleistung und der Kontextleistung beinhaltet (Sonnentag & Frese, 2012)3. Aufgabenleistung (task performance) definieren Motowidlo et al. (1997) als Aktivitäten und Handlungen, die zum Kerngeschäft der Organisation beitragen. Dabei können die Handlungen direkt das Kerngeschäft betreffen, indem sie Rohmaterialien in Güter oder Dienstleistungen überführen oder aber sie haben eine unterstützende Funktion. Unter Letztgenannte fallen Tätigkeiten wie bei-

3

Die genauen Bezeichnungen unterscheiden sich allerdings je nach Konzeptualisierung (Cambell & Wiernik, 2015)

2.2 Arbeitsleistung

15

spielsweise Führung, Planung, Koordination oder aber das Einstellen neuer Mitarbeiter, die für eine effektive und effiziente Durchführung der Kernaktivitäten sorgen. Insgesamt werden diese Aktivitäten als Teil des Arbeitsvertrags zwischen dem Mitarbeiter und dem Arbeitgeber erwartet und entsprechen damit den Anforderungen der Stellenbeschreibung (Sonnentag, Volmer & Spychala, 2008). Somit wird Aufgabenleistung häufig auch als Intra-Rollenverhalten (in-role behavior) bezeichnet (Koopmans et al., 2011), da es den formalen Erwartungen der Arbeitsrolle entspricht (Nerdinger, 2000; van Dyne, Cummings & McLean Parks, 1995). Campbell (1990) unterteilt auch Aufgabenleistung in mehrere Subdimensionen. So können fünf seiner acht empirisch ermittelten Dimensionen der Aufgabenleistung zugeordnet werden: die Erfüllung tätigkeitsspezifischer Aufgaben, die Erfüllung tätigkeitsunspezifischer Aufgaben, das schriftliche und mündliche Kommunizieren, Führung sowie Management- und Administrationsaufgaben. Dabei kann die Relevanz einzelner Dimensionen je nach Tätigkeit variieren. So spielen Führung und Managementaufgaben bei Personen ohne Führungsverantwortung weniger eine Rolle (Sonnentag et al., 2008; Staufenbiel, 2007). Die Kontextleistung beschreibt Aktivitäten und Handlungen, welche die organisationale, soziale und psychische Umgebung fördern, in der die Aufgabenleistung ausgeführt wird (Motowidlo et al., 1997, S. 76, vgl. auch: Organ, 1997). Hierunter fassen Motowidlo et al. (1997) Aktivitäten, die das Klima fördern, Hilfeleistung und Kooperation, das Einhalten von organisationalen Regeln, das Unterstützen und Verteidigen organisationaler Ziele sowie die Übernahme von Aufgaben, die nicht formal als Teil der Arbeitstätigkeit angesehen werden können. Hieraus wird deutlich, dass auch Kontextleistung ein mehrdimensionales Konstrukt ist. Neben dem Konzept der Kontextleistung von Motowidlo et al. (1997) bestehen noch ähnliche Konzepte mit anderen Begriffsbezeichnungen wie Organizational Citizenship Behavior (OCB) oder Extra-Rollenverhalten (Nerdinger, 2000; Organ, 1997). Beide Begriffe beschreiben für die Organisation zuträgliches Verhalten, setzen aber einen anderen Fokus. Extra-Rollenverhalten beschreibt freiwilliges, über die Rollenerwartungen hinaus gehendes Verhalten (van Dyne et al., 1995). OCB ist ein freiwilliges, nicht formal vorgeschriebenes Verhalten, welches auch nicht in Zielvereinbarungen oder Anreizsystemen festgelegt ist. Somit besteht auch „kein direkter oder formeller Anspruch auf eine Kompensierung durch Belohnungen“ (Staufenbiel & Hartz, 2000, S. 74, vgl. auch Organ, 1997). Die zusätzlichen Aspekte in den letztgenannten Definitionen blieben allerdings

16

2 Theoretische Grundlagen

nicht kritiklos. So können sich Rollenwartungen unterscheiden, je nachdem wer befragt wird (der Mitarbeiter, die Führungskraft, der Kollege). Zudem wird das unter OCB erfasste Verhalten von einer Vielzahl an Befragten gar nicht als ExtraRollenverhalten, sondern als Intra-Rollenverhalten bewertet. Auch der Zusatz des fehlenden Anspruchs auf Belohnung bzw. der fehlenden Festlegung im Anreizsystem führte zu definitorischen Schwierigkeiten. So fließt OCB im Rahmen von Leistungsbeurteilungen durch Führungskräfte mindestens genauso stark ein wie Aufgabenleistung (Podsakoff, MacKenzie, Paine & Bachrach, 2000). Aufgrund der genannten Probleme gleicht Organ (1997) seine Definition von OCB an die Definition von Motowidlo et al. (1997) an. Er schließt die Aspekte des OCB als freiwilliges Extra-Rollenverhalten und ohne Anspruch auf Belohnung aus der Definition aus, wenngleich er anmerkt, dass dies als empirische Frage zu testen sei (Organ, 1997). Trotz des Angleichens der Definitionen stellt Motowidlo (2000) fest, dass häufig noch die Originaldefinition von Organ Anwendung findet. Er weist daraufhin, dass diese definitorischen Unterschiede vor allem aufgrund verschiedener Ausgangsfragestellungen der verschiedenen Autoren entstanden. Die Subdimensionen erfassen allerdings zum großen Teil identische Aspekte. Somit solle vielmehr auf die in einer Forschungsarbeit verwendeten Dimensionen von Kontextleistung fokussiert werden (Motowidlo, 2000). Eine häufig zitierte Konzeptualisierung der Dimensionen ist die Einteilung von Organ und seinen früheren Doktoranden (Podsakoff, Whiting, Podsakoff & Blume, 2009). Auf Basis mehrerer empirischer Arbeiten entwickelte sich ein mehrdimensionales Konstrukt mit anfangs zwei Dimensionen -

Altruismus: „Hilfeleistungen für Kollegen, Kunden und Vorgesetzte“ (Nerdinger & Schaper, 2014, S. 446) und

-

Gewissenhaftigkeit (häufig auch Compliance): ein „über die normalen Anforderungen hinaus gehendes pflichtbewusstes und gewissenhaftes Verhalten“ (Staufenbiel & Hartz, 2000, S. 75).

Später kamen zusätzliche Dimensionen hinzu wie -

Sportsmanship (Unkompliziertheit): „die Bereitschaft, vorübergehende Unannehmlichkeiten und Frustrationen zu ertragen, ohne sich zu beklagen“ (Staufenbiel & Hartz, 2000, S. 76),

2.2 Arbeitsleistung

17

-

Civic virtue (Bürgertugenden): „die Teilhabe am ‚öffentlichen Leben‘ der Organisation“ (Nerdinger & Schaper, 2014, S. 446),

-

Courtesy (Arbeitsrelevante Höflichkeit): „sich zuerst mit anderen abstimmen, bevor Handlungen gezeigt werden, die deren Arbeitsbereich betreffen“ (Nerdinger & Schaper, 2014, S. 446),

-

Cheerleading: das Anerkennen und Bestärken der Leistung der Kollegen,

-

Peacekeeping: Handlungen, die interpersonelle Konflikte vermeiden, vermindern oder beilegen (Organ, Podsakoff & MacKenzie, 2006).

In Bezug auf die letzten drei Dimensionen stellte sich aber im Rahmen von Faktorenanalysen heraus, dass diese gemeinsam mit Altruismus als eine Dimension des helfenden Verhaltens (helping behavior) zusammengefasst werden können (Organ et al., 2006). Eine etwas breitere und allgemeinere Einteilung dieser Faktoren (dies bezog sich ursprünglich vor allem auf die ersten beiden Dimensionen Altruismus und Gewissenhaftigkeit) ist eine Trennung nach OCB-O und OCB-I. OCB-O ist ein auf die Organisation gerichtetes Verhalten, während OCBI Verhalten gegenüber anderen Individuen (z. B. Arbeitskollegen) bezeichnet (Podsakoff et al., 2009; Williams & Anderson, 1991). Unter Berücksichtigung dieser beschriebenen Konzeptualisierungen und weiterer Ansätze identifizieren Podsakoff et al. (2000) in ihrer Überblicksarbeit fast 30 verschiedene Dimensionen von Kontextleistung. Sie betonen, dass einerseits zwar konzeptionelle Unterschiede zwischen den Konstruktdimensionen vorliegen, aber andererseits auch identische oder sehr ähnliche Dimensionen verschiedene Begriffsbezeichnungen aufweisen. So fassen sie die Literatur zu insgesamt sieben Dimensionen zusammen: helfendes Verhalten, Sportsmanship, organisationale Loyalität, Gewissenhaftigkeit / Compliance, Eigeninitiative, Civic Virtue und Selbstentwicklung. Als sehr bedeutende Dimension heben die Autoren helfendes Verhalten hervor, da es in allen Konzeptualisierungen aufgegriffen wird. Zudem kann für das helfende Verhalten auch empirisch ein signifikanter Einfluss auf den organisationalen Erfolg nachgewiesen werden (Podsakoff et al., 2000).

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2 Theoretische Grundlagen Leistungsverhalten: Verhalten von Individuen bei der Arbeit, welches zur Erreichung der Organisationsziele beiträgt vgl. Campbell & Wiernik, 2015

Dimensionen des Leistungsverhaltens: Aufgabenleistung Aktivitäten und Handlungen, die zum Kerngeschäft der Organisation beitragen vgl. Motowildo et al. 1997

Intra-Rollenverhalten Verhalten, welches als Teil der Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmen der zugewiesenen Arbeitsrolle erwartet und gefordert wird vgl. Dyne et al. 1997

Kontextleistung Aktivitäten und Handlungen, welche die organisationale, soziale und psychologische Umgebung fördern, in der die Aufgabenleistung ausgeführt wird vgl. Motowildo et al. 1997 Extra-Rollenverhalten Ein für die Organisation förderliches Verhalten, welches freiwillig ist und über die Rollenerwartungen hinaus geht vgl. Dyne et al. 1997

Organizational Citizenship Behavior (OCB) Ein freiwilliges, nicht formal vorgeschriebenes Verhalten, welches nicht in Zielvereinbarungen oder Anreizsystemen festgelegt ist vgl. Organ, 1997

Weitere Dimensionen Kontraproduktives Verhalten absichtliche Handlungen, welche den legitimen Interessen einer Organisation schaden vgl. Nerdinger & Schaper, 2014

adaptives Verhalten Verhalten, welches zur Bewältigung und Unterstützung des organisationalen Wandels beiträgt vgl. Sonnentag & Frese, 2012

Leistungsergebnisse: die Resultate aus dem Leistungsverhalten vgl. Sonnentag & Frese, 2002

Produktivität: das Leistungsergebnis (Output) im Verhältnis zum geleisteten Einsatz (Input) vgl. Staufenbiel, 2007

Anmerkungen. Die in Fettdruck hervorgehobenen Definitionen bilden die Grundlage der vorliegenden Arbeit.

Abbildung 2: Überblick verschiedener Konzeptualisierung der Arbeitsleistung (eigene Darstellung).

2.2 Arbeitsleistung

19

Neben der beschriebenen Einteilung in Aufgaben- und Kontextleistung gibt es weitere Dimensionen des Leistungsverhaltens, die der Vollständigkeit halber kurz beschrieben werden, aber nicht den Fokus dieser Arbeit bilden. 4 Eine Übersicht der Dimensionen des Leistungsverhaltens und eine Abgrenzung von Leistungsergebnissen befindet sich in Abbildung 2. Koopmans et al. (2011) führen in ihrer systematischen Überblicksarbeit noch kontraproduktives Verhalten und adaptives Verhalten als häufig genannte Dimensionen an. Kontraproduktives Verhalten (counterproductive work behavior; Sackett & DeVore, 2001) beschreibt absichtliche Handlungen, welche den legitimen Interessen einer Organisation schaden. Dabei reicht es schon aus, wenn der Organisation oder ihren Mitgliedern prinzipiell ein Schaden entstehen könnte. Hiervon abzugrenzen sind langsames Ausführen der Arbeitstätigkeiten oder das Auslösen eines Arbeitsunfalls, wodurch der Organisation auch ein Schaden entstehen kann. Hierbei handelt es sich aber nicht um kontraproduktives Verhalten, solange Individuen nicht absichtlich langsam arbeiten oder absichtlich einen Unfall verursachen (Gruys & Sackett, 2003; Nerdinger & Schaper, 2014; Robinson, 2008). Auch kontraproduktives Verhalten ist ein multidimensionales Konstrukt, für das eine Vielzahl an verschiedenen Konzeptualisierungen und Begriffsbezeichnungen5, wie beispielsweise abweichendes Verhalten (Workplace deviance; Robinson & Bennett, 1995) oder Fehlverhalten (misbehavior in organizations; Vardi & Wiener, 1996), vorliegen. Robinson und Bennett (1995) identifizieren empirisch 45 Formen von kontraproduktivem Verhalten, welche sie in einer Vierfeldertafel zu vier Klassen zusammenfassen: Produktionsschädigung, Eigentumsschädigung, politische Abweichung und Aggressionen. Dabei beziehen sich die ersten beiden Verhaltensformen auf die Schädigung der Organisation und letztere auf einzelne Mitarbeiter. Zudem werden produktionsschädigende Verhaltensweisen (wie beispielsweise das zu frühe Verlassen des Arbeitsplatzes oder eine Krankmeldung, obwohl keine Krankheit vorliegt) sowie politisch abweichendes Verhalten (wie Schuld auf andere Mitarbeiter abwälzen) als geringfügige Schädigung eingeordnet. Eigentumsschädigung und Aggressionen werden hingegen als 4

Für tiefergehende Ausführungen zu kontraproduktivem Verhalten siehe Bennett und Robinson (2003) oder Robinson (2008) und zu adaptivem Verhalten siehe Pulakos, Arad, Donovan und Plamondon (2000). 5 Für eine Übersicht verschiedener Definitionen und Begriffsbezeichnungen siehe Nerdinger und Schaper (2014, S. 452).

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2 Theoretische Grundlagen

ernsthafte Schädigungen gewertet (Nerdinger & Schaper, 2014; Robinson & Bennett, 1995). Adaptives Leistungsverhalten beschreibt Arbeitsverhalten zur Bewältigung und Unterstützung des organisationalen Wandels (Sonnentag & Frese, 2012). Hierunter fällt beispielsweise das kreative Lösen von Problemen, der Umgang mit unsicheren und unvorhersehbaren Situationen, das Erlernen neuer Aufgaben und die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen (Koopmans et al., 2011). Hiervon zu unterscheiden ist proaktives Verhalten. Während adaptives Verhalten vor allem auf die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen abzielt, umfasst proaktives Verhalten „selbstinitiiertes, zukunftsorientiertes und problemorientiertes Verhalten in einem organisationalen Kontext“ (Nerdinger & Schaper, 2014, S. 446). Sonnentag und Frese (2002) ordnen proaktives Verhalten allerdings der Kontextleistung unter. So unterscheiden sie zwischen stabilisierender Kontextleistung, welche das reibungslose Funktionieren der Organisation sicherstellt, und proaktivem Verhalten, das Arbeitsprozesse verändert und verbessert (Sonnentag et al., 2008). Die hier beschriebenen Dimensionen stellen keine abschließende Darstellung aller möglichen Facetten des Leistungsverhaltens dar, sondern beschreiben in der Literatur häufig gewählte Einteilungen. Es wird allerdings deutlich, dass Leistungsverhalten vielschichtig und mehrdimensional ist. So ist es wichtig, bei der Untersuchung von Arbeitsleistung zumindest einen Teil dieser Vielschichtigkeit abzubilden. Abschließend ist Arbeitsleistung, genau wie Gesundheit (vgl. 2.1.1), kein statisches, sondern ein dynamisches Konstrukt. Das Leistungsverhalten verändert sich über die Zeit. Einerseits können Veränderungen zum Beispiel aufgrund von Lernprozessen entstehen. Andererseits kann Arbeitsverhalten aber auch kurzfristigen Schwankungen unterliegen beispielsweise aufgrund veränderter Ressourcen oder veränderter Arbeitsanforderungen (Dalal, Bhave & Fiset, 2014; Sonnentag & Frese, 2012). Darüber hinaus zeigen Personen in bestimmten Situationen eine besonders hohe Leistung. So wird zwischen typischer und maximaler Leistung unterschieden, wobei Letztere vor allem in Test- bzw. evaluativen Situationen zu beobachten ist (Klehe, Grazi & Mukherjee, 2015).

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung) 2.3

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Gesundheit und Arbeit(sleistung): Theorien ihrer Wirkungszusammenhänge

Gesundheit und Arbeitsleistung sind, wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben, dynamische Konstrukte, die fluktuieren und sich verändern können. Im folgenden Abschnitt sollen nun zum einen Theorien vorgestellt werden, die erklären, welche Wirkung die Arbeit auf die Gesundheit von Beschäftigten hat und wie sie diese verändern kann (Abschnitt 2.3.1). Zum anderen werden theoretische Ansätze beschrieben, welche Hinweise geben, wie sich Beanspruchung durch die Arbeit sowie der Gesundheitszustand von Beschäftigten auf die Arbeitsleistung auswirken können (Abschnitt 2.3.2). Somit wird ein Überblick über Theorien zur Beschreibung der Wirkungszusammenhänge von Gesundheit und Arbeit(sleistung) gegeben. Dieser Überblick erhebt dabei nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschreibt kurz die einschlägigen Konzepte, die für das weitere Verständnis dieser Arbeit zuträglich sind. Dabei werden solche Theorien ausführlicher beschrieben, die im Rahmen der empirischen Studien in Kapitel 4 zur Erklärung des Einflusses von Präsentismus auf die Gesundheit und das Leistungsverhalten verwendet werden. 2.3.1

Wirkung der Arbeit auf die Gesundheit

Um zu verstehen, wie sich Arbeit auf die Gesundheit auswirkt, wird zunächst das Belastungs-Beanspruchungskonzept (Rohmert & Rutenfranz, 1975) vorgestellt. Dieses Konzept führt die Begriffe Belastung und Beanspruchung ein und hat vor allem im deutschsprachigen Bereich zu einer einheitlichen Begriffsverwendung beigetragen, die auch als Grundlage in internationale Normen (wie beispielsweise ISO 6385 oder DIN EN ISO 10075) einfloss und somit weitreichende Bedeutung für die Gestaltung der Arbeit sowie für den betrieblichen Alltag besitzt (Oppolzer, 2010; Wieland, 2007; Zapf & Semmer, 2004). Es wird allerdings kritisiert, dass die Begriffe präziser gefasst werden sollten, weshalb im Anschluss Modelle zur Konkretisierung des Belastungsbegriffs vorgestellt werden (Glaser & Herbig, 2012). Darauffolgend werden Modelle beschrieben, die erklären, wie Belastungen zu Beanspruchungen bzw. Beanspruchungsfolgen führen, sich also auf den Beanspruchungsprozess fokussieren (Semmer, Grebner & Elfering, 2010). Diese vorgenommene Gliederung ist dabei nicht immer trennscharf. So geben auch Modelle

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2 Theoretische Grundlagen

zur Konkretisierung des Belastungsbegriffs Hinweise zum Beanspruchungsprozess. Diese Vorgehensweise soll aber dabei unterstützen, die Zusammenhänge und Unterschiede sowie die Schwerpunkte der verschiedenen Konzepte aufzuzeigen. Belastungs-Beanspruchungskonzept Im deutschsprachigen Raum hat sich ein Konzept durchgesetzt, welches zwischen Belastung und Beanspruchung unterscheidet. Belastungen beschreiben „objektive, von außen her auf den Menschen einwirkende Größen und Faktoren“ (Rohmert & Rutenfranz, 1975, S. 8). Sie stellen somit eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren dar wie beispielsweise Merkmale der Arbeitsaufgabe oder Arbeitsumgebung. Beanspruchung hingegen bezeichnet die Auswirkung der Belastung und ist „ein Zustand der Person“, welcher „nicht nur von der Dauer und Höhe der Belastung (…), sondern auch von individuellen Merkmalen (z. B. Gesundheitszustand, Grad der Ermüdung, Grad der Beherrschung einer bestimmten Tätigkeit), darüber hinaus aber auch vom Handeln der Person und von ihren Arbeitsstrategien“ (Semmer et al., 2010, S. 328) abhängt. Beide Begriffe sind als neutral zu verstehen. Sie beschreiben somit sowohl „angenehme wie auch unangenehme Auslöser bzw. Zustände“ (Semmer et al., 2010, S. 328). Somit wird auch von einer Doppelrolle der Beanspruchung gesprochen, da sie sowohl gesundheitsförderlich als auch -schädlich sein kann (Wieland-Eckelmann, 1996). Einerseits findet Beanspruchung bei jedem Arbeitshandeln statt bzw. ermöglicht dieses durch die Aktivierung und Bereitstellung von Ressourcen. Hierdurch werden Erfolgserlebnisse und Lernfortschritte erreicht. Andererseits können mit der Beanspruchung auch negative Folgen verbunden sein (Fehlbeanspruchung) wie beispielsweise Ermüdung sowie langfristig Beschwerden oder Erkrankungen, wenn Unter- oder Überforderung vorliegt (Joiko, Schmauder & Wolff, 2010). Es wird zwischen physischer und psychischer Belastung bzw. Beanspruchung unterschieden, wobei Oppolzer (2010, S. 85) anmerkt, dass die Trennung vor allem wissenschaftsgeschichtliche Ursachen hat und „physische wie psychische Faktoren bei der Arbeit stets untrennbar miteinander verknüpft sind“. Vor dem Hintergrund der veränderten Arbeitswelt gewinnen aber die psychischen Belastungen zunehmend an Bedeutung (Joiko et al., 2010; Oppolzer, 2010). Sie bezeichnen „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ (DIN EN ISO 10075, zitiert

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

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nach Rudow, 2014, S. 56). Psychische Beanspruchung ist die Auswirkung der psychischen Belastung und kann sich sowohl körperlich, psychisch oder verhaltensmäßig äußern (Ulich, 1992). Es werden zudem kurzfristige und langfristige Folgen unterschieden. Erstere werden häufig als Beanspruchungsreaktionen, Letztere als Beanspruchungsfolgen bezeichnet (Rudow, 1994). Als negative Beanspruchungsreaktionen werden psychische Ermüdung, ermüdungsähnliche Zustände sowie Stress unterschieden. Psychische Ermüdung beschreibt dabei eine „vorübergehende Beeinträchtigung der psychischen und körperlichen Leistungsfähigkeit“, die bei Betroffenen mit einem subjektiven Müdigkeitsgefühl einhergeht, während ermüdungsähnliche Zustände „in abwechslungsarmen Situationen auftreten“ (Oppolzer, 2010). Ein Beispiel für Letzteres ist Monotonie bei Unterforderung (Rudow, 1994). Für Stress liegt eine Vielzahl an unterschiedlichen Definitionen und Theorien vor, die Stress sowohl im Sinne negativer Belastung als auch Beanspruchung verstehen.6 In der vorliegenden Arbeit wird Stress als eine Beanspruchungsreaktion verstanden. Stress ist somit „ein subjektiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, eine aversive Situation nicht ausreichend bewältigen zu können“ (Zapf & Semmer, 2004, S. 1011). Davon abzugrenzen sind Stressoren, welche Einflussfaktoren beschreiben, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu Stress führen. Somit lassen sich Stressoren als Fehlbelastung und Stress als eine Form der Fehlbeanspruchung7 in das Belastung-Beanspruchungskonzept einordnen, in dem Belastung und Beanspruchung neutral und weitergefasst sind (Schaper, 2014; Zapf & Semmer, 2004). Insgesamt kann das Belastung-Beanspruchungskonzept mit seinen breit gefassten Begriffsdefinitionen als ein übergeordneter Rahmen verstanden werden, in welchem Begriffe präzisiert und spezifische Zusammenhänge formuliert werden sollten (Zapf & Semmer, 2004). Das Modell hebt dabei hervor, dass die Arbeit gesundheitsförderlich ist, aber in gewissen Fällen und je nach Ausgestaltung auch 6

Das Stresskonzept und das Belastung-Beanspruchungskonzept entstanden aus unterschiedlichen Disziplinen, deren Hintergründe und Theorien an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden können (Ulich & Wülser, 2015). Für eine tiefergehende Übersicht zu den Konzepten siehe Richter und Hacker (2017) sowie Zapf und Semmer (2004). 7 An dieser Stelle soll der Vollständigkeitshalber erwähnt werden, dass im Widerspruch zu in der Arbeit vorliegenden Definition von Stress Selye (1976) zwischen Distress und Eustress unterscheidet und somit sowohl angenehme wie unangenehme Zustände damit verbindet. Zapf und Semmer (2004, S. 1011) führen Probleme dieser Definition an, die vor allem mit dem zugrundeliegenden reaktionsbezogenen Stresskonzept von Selye verbunden sind, weshalb die Arbeit der Definition von Zapf und Semmer folgt.

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2 Theoretische Grundlagen

zu einer Verschlechterung der Gesundheit beitragen kann. Um konkretere Hinweise zu den gesundheitsschädigenden sowie –förderlichen Bedingungen zu erhalten, werden nun einige international anerkannte und empirisch belegte Modelle kurz vorgestellt. Modelle zur Konkretisierung des Belastungsbegriffs8 Das Job-Demand-Control Modell (JD-C Modell) von Karasek (1979) erklärt psychische Fehlbeanspruchung durch die Kombination von Arbeitsanforderungen (im Originaltext als job demands bezeichnet) und dem Entscheidungsspielraum (als job decision latitude oder control benannt). Unter Arbeitsanforderungen werden dabei Zeitdruck, die Arbeitsmenge und widersprüchliche Anforderungen erfasst, während der Entscheidungsspielraum die Aspekte der Entscheidungsverantwortung (decision authority) und Qualifikationsanforderungen (skill discretion) unter sich vereint (Glaser & Herbig, 2012; Ulich & Wülser, 2015). Durch eine Einteilung in jeweils hohe und niedrige Ausprägungen der Arbeitsanforderungen und dem Entscheidungsspielraum entsteht eine Typologie mit vier Kategorien: (1) ruhige Jobs mit einer hohen Ausprägung des Entscheidungsspielraums und einer niedrigen Ausprägung der Anforderungen, (2) passive Jobs mit jeweils niedrigen Ausprägungen, (3) stressige Jobs mit einer niedrigen Ausprägung des Entscheidungsspielraums und einer hohen Ausprägung der Arbeitsanforderungen, (4) aktive Jobs mit jeweils hohen Ausprägungen (Wieland, 2010). Basierend auf dieser Einteilung nimmt Karasek (1979) an, dass Personen in stressigen Jobs am meisten Fehlbeanspruchungen aufweisen („High-Strain“ Hypothese; Ulich & Wülser, 2015, S. 80). Personen in aktiven Jobs hingegen unterliegen trotz hoher Arbeitsanforderungen keinen Fehlbeanspruchungen. Durch den hohen Entscheidungsspielraum haben diese Tätigkeiten laut Karasek aktivierendes Potenzial und sind mit Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten verbunden. Die Haupteffekte des Modells (Arbeitsanforderungen erhöhen Fehlbeanspruchung, Entscheidungsspielraum reduziert Fehlbeanspruchung) wurden empirisch bereits mehrfach bestätigt. In Bezug auf die Wechselwirkung zeigen sich allerdings Widersprüche. So kom-

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Die hier vorgenommene Gliederung lehnt sich an das Vorgehen von Glaser und Herbig (2012) an, die die Modelle zur Präzisierung des Belastungsbegriffs und zur Bestimmung spezifischer Zusammenhänge heranziehen.

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

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men bisherige Studien zu dem Ergebnis, dass aktive Jobs nicht immer gesundheitsförderlich sind, sondern weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssen wie beispielsweise Selbstregulationsfähigkeiten, Qualifikationen oder Selbstwirksamkeit (Schaper, 2014; Wieland, 2007). Letzteres beschreibt ein „persönlichkeitspsychologisches Konstrukt, das sich auf die positive Einschätzung einer Person bezieht, Herausforderungen und Ereignisse in ihrer Umwelt im eigenen Sinn erfolgreich steuern zu können“ (Nerdinger, Blickle & Schaper, 2014, S. 578). Während Karasek vor allem die Bedeutung des Entscheidungsspielraums als Ressource in den Vordergrund rückt, wird im Modell beruflicher Gratifikationskrisen (effort-reward-imbalance model) von Siegrist (1996) „ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und als Gegenwert dafür erhaltener Belohnungen“ als Erklärung für Fehlbeanspruchung und Beanspruchungsfolgen betrachtet (Ulich & Wülser, 2015, S. 88). Den theoretischen Ausgangspunkt des Modells bildet das Prinzip der Reziprozität in sozialen Austauschbeziehungen, welches verletzt ist, wenn Personen hohe Anstrengungen aufbringen, aber nur geringe Belohnungen (Gratifikationen) dafür erhalten. Als Gratifikation werden im Modell drei verschiedene Formen berücksichtigt: „finanzielle Belohnung (Lohn, Gehalt), Belohnung durch Wertschätzung und Anerkennung und Belohnung in Form von gewährtem Aufstieg bzw. gewährter Arbeitsplatzsicherheit“ (Wieland, 2010, S. 888). Ein Ungleichgewicht von hohen Anstrengungen aber niedrigen Belohnungen, auch als Gratifikationskrise bezeichnet, führt zu negativen Emotionen und Stressreaktionen, die langfristig zu einer Verschlechterung der Gesundheit führen (Siegrist, 1996, 1998). Es stellt sich die Frage, weshalb Personen in beruflichen Situationen verbleiben, die von einer Gratifikationskrise geprägt sind. Hierfür sind im Modell drei Gründe angeführt. Ein gesundheitsschädigendes Ungleichgewicht wird dann aufrechterhalten, wenn Alternativmöglichkeiten fehlen oder aber strategische Vorteile damit verbunden sind. Darüber hinaus halten auch Personen mit einer übersteigerten Verausgabungsneigung (overcommitment) dieses Ungleichgewicht aufrecht. Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen weist deutliche Überschneidungen mit Konzepten bezüglich Fairness oder organisationaler Gerechtigkeit auf (Haupt, Backé & Latza, 2016). Auch diese Konzepte rücken das Austauschverhältnis bzw. das soziale Miteinander in den Fokus. Fairness und organi-

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2 Theoretische Grundlagen

sationale Gerechtigkeit werden im Deutschen sowie im Englischen häufig synonym verwendet. Colquitt und Zipay (2015) nehmen allerdings in ihrer aktuellen Überblicksarbeit eine Unterscheidung vor. Organisationale Gerechtigkeit bezieht sich dabei auf die Angemessenheit spezifischer Entscheidungsregeln und Fairness stellt ein globales Maß der Angemessenheit dar (Colquitt & Zipay, 2015). Organisationale Gerechtigkeit spiegelt dabei die erlebte, also subjektiv wahrgenommene Gerechtigkeit wider und wird in verschiedene Subdimensionen eingeteilt. Distributive Gerechtigkeit beschreibt die gerechte Verteilung von Einsätzen einer Person im Verhältnis zu den Gegenleistungen, die sie dafür bekommt (ähnlich zum Modell der beruflichen Gratifikationskrise). Die Verteilungsregel basiert hierbei auf dem Equity-Ansatz von Adams (1965) und das eigene „Aufwands-ErtragsVerhältnis“ wird im Vergleich zu anderen Personen bewertet (Nerdinger, 2013, S. 97).9 Prozedurale Gerechtigkeit zielt auf die Beurteilung von Prozessen ab, die zur Verteilung von Erträgen bzw. Belohnungen eingesetzt werden, während interpersonale Gerechtigkeit „die wahrgenommene Fairness des Verhaltens anderer“ beschreibt (Nerdinger, 2013, S. 94).10 Fairness und organisationale Gerechtigkeit beziehen sich also immer auf eine Austauschbeziehung und es wird bewertet, ob das Ergebnis des Austausches, der Prozess, der zum Austausch geführt hat, und das Verhalten im Rahmen der Austauschbeziehung gerecht ist. Insgesamt weisen die empirischen Belege daraufhin, dass organisationale Gerechtigkeit sowie ein Ungleichgewicht zwischen Anstrengungen und erhaltenden Belohnungen einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter haben (Haupt et al., 2016). Vor allem das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen wurde vielfach empirisch, u. a. in epidemiologischen Studien, bestätigt und das Ungleichgewicht als Risikofaktor verschiedener Krankheiten identifiziert (Haupt et al., 2016; Siegrist, 1998). So hängt die Fehlbeanspruchung davon ab, ob die Bewältigung der Arbeitsbelastungen als lohnenswert bzw. gerecht wahrgenommen wird (Wieland, 2010; Zapf & Semmer, 2004). Ein Modell, welches Ressourcen und Arbeitsanforderungen allgemeiner definiert und sowohl Belohnungen bzw. organisationale Gerechtigkeit als auch 9

Grundsätzlich sind auch andere Verteilungsregeln in der Literatur beschrieben worden wie beispielsweise eine Allokation nach Bedürfnissen. Allerdings basiert die Verteilungsgerechtigkeit meist auf dem Equity-Ansatz siehe Colquitt (2001); Maier, Streicher, Jonas und Woschée (2007). 10 In einigen Ausführungen wird die Dimension „interpersonale Gerechtigkeit“ noch in die interpersonale und informationale Gerechtigkeit unterteilt siehe Colquitt (2001); Colquitt und Zipay (2015).

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

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den Entscheidungsspielraum vereint, ist das Job Demands-Resources Modell (JDR Modell; Bakker & Demerouti, 2007). Dieses entstand als Reaktion auf die Kritik der vorherigen Modelle. Während im JD-C Modell und im Modell der beruflichen Gratifikationskrisen nur bestimmte, für das jeweilige Modell bedeutende Arbeitsanforderungen und Ressourcen wie beispielsweise der Entscheidungsspielraum hervorgehoben werden, argumentieren Bakker und Demerouti (2007), dass jede Berufsgruppe spezifischen Risikofaktoren für Stress ausgesetzt ist. Allerdings können diese unterschiedlichen Faktoren zwei generellen Kategorien zugeordnet werden: Arbeitsanforderungen (job demands) und Arbeitsressourcen (job resources). Erstere definieren die Autoren als „physische, psychologische, soziale und organisatorische Aspekte der Arbeit, die eine andauernde physische und / oder psychische Anspannung erfordern und demzufolge mit bestimmten physiologischen und / oder psychischen Kosten zusammenhängen“ (Demerouti, 2012, S. 52). Arbeitsanforderungen sind ähnlich wie der Belastungsbegriff zunächst neutral zu verstehen. Sie können sich aber in Arbeitsstressoren umwandeln, wenn sie so hohe Anstrengung und Anspannung erfordern, sodass sich Individuen nicht ausreichend von ihnen erholen können (Bakker & Demerouti, 2007). Arbeitsressourcen beschreiben „die physischen, psychologischen, sozialen und organisatorischen Arbeitsaspekte, die (1) für das Erreichen der arbeitsbezogenen Ziele funktional sind, (2) Arbeitsanforderungen und die damit zusammenhängenden physischen und psychischen Kosten reduzieren und (3) persönliche Entwicklung stimulieren“ (Demerouti, 2012, S. 52). Basierend auf dieser Einteilung nimmt das JD-R Modell an, dass „zwei psychische Hauptwirkungsprozesse“ bestehen, die die Entstehung von Fehlbeanspruchung sowie die Beeinträchtigung der Gesundheit und Motivation erklären (Schaper, 2014, S. 524). Beim ersten Prozess („health impairment process“; Bakker & Demerouti, 2007, S. 313) führen die Arbeitsanforderungen wie schlecht gestaltete Arbeitsbedingungen oder chronische Arbeitsstressoren dazu, dass psychische und physische Ressourcen der Individuen aufgebraucht werden, Individuen sich in einem Zustand der Erschöpfung befinden und dies langfristig zu einer Beeinträchtigung des Gesundheitszustands führt. In einem zweiten Prozess („motivational process“; Bakker & Demerouti, 2017, S. 274) wird die motivationale Wirkung der Arbeitsressourcen beschrieben. Arbeitsressourcen erhöhen das Arbeitsengagement, vor allem durch die Befriedigung von grundlegenden psychischen Bedürfnissen wie Autonomie, Kompetenz oder Anschluss an

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2 Theoretische Grundlagen

andere (Schaper, 2014). Arbeitsengagement beschreiben die Autoren dabei als einen psychischen Zustand, in welchem sich die Person voller Kraft fühlt, enthusiastisch und hingebungsvoll in Bezug auf ihre Arbeit ist und sich so sehr in die Arbeit vertieft, dass die Zeit verfliegt (Bakker & Demerouti, 2017). Neben den beschriebenen Effekten werden aber auch Wechselwirkungen im Modell berücksichtigt. So wird angenommen, dass Arbeitsressourcen die Wirkung der Arbeitsanforderungen auf die Fehlbeanspruchung abmildern. Diese Annahme entspricht dem JD-C Modell. Es werden allerdings neben dem Entscheidungsspielraum noch weitere Arbeitsressourcen berücksichtigt, die die gesundheitsschädigende Wirkung von Arbeitsanforderungen reduzieren können. Als zweite Wechselwirkung wird vermutet, dass Arbeitsressourcen vor allem dann motivationale Wirkung aufweisen, wenn die Arbeitsanforderungen hoch sind. Auch diese Annahme hat Überschneidungen mit dem JD-C Modell, denn dort wurde angenommen, dass aktive Jobs mit hohen Arbeitsanforderungen und hohem Entscheidungsspielraum durch ihr aktivierendes Potenzial mit Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten verbunden sind. Für die Hauptwirkungsprozesse sowie die Wechselwirkungen liegen bereits mehrfach empirische Belege für eine Vielzahl an unterschiedlichen abhängigen Variablen vor (beispielsweise Burnout, organisationales Commitment, Arbeitsengagement, Arbeitsleistung, Absentismus, Präsentismus). In Erweiterungen des Modells werden zudem auch personenbezogene Faktoren wie beispielsweise die Selbstwirksamkeit oder Verausgabungsneigung berücksichtigt. Zudem wird argumentiert, dass durch das aktive Gestalten der eigenen Arbeit (Job Crafting) auch reverse Wirkungsbeziehungen des Arbeitsengagements und der Fehlbeanspruchung auf die Arbeitsressourcen und –anforderungen möglich sind (Bakker & Demerouti, 2014, 2017). Auch das JD-R Modell blieb nicht kritiklos. So wird beispielsweise die unabhängige Modellierung der beiden Prozesse (health impairment process und motivational process) hinterfragt. Crawford, LePine und Rich (2010) führen an, dass es bereits empirische Belege für einen direkten Effekt der Arbeitsressourcen auf den gesundheitsbezogenen Prozess gibt. Dies lässt sich dadurch begründen, dass der Verlust oder die Androhung eines Verlustes von Arbeitsressourcen zu Stress führen kann. Für die Wirkung der Arbeitsanforderungen auf das Arbeitsengagement, also den motivationalen Prozess, liegen aber widersprüchliche Ergeb-

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nisse vor, was die Autoren der breiten Konzeptualisierung der Arbeitsanforderungen zuschreiben. Sie erweitern das JD-R Modell im Rahmen ihrer Meta-Analyse und unterscheiden Arbeitsanforderungen in „Hindrance“ Stressoren und „Challenge“ Stressoren (Crawford et al., 2010, S. 836). Challenge Stressoren bezeichnen dabei Arbeitsbelastungen, die zwar mit Anstrengungen, aber auch mit potenziellen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten oder zukünftigen Vorteilen verbunden sind. Als Beispiele hierfür können Arbeitsmenge oder Zeitdruck genannt werden. Hindrance Stressoren hingegen sind Arbeitsbelastungen, die das persönliche Wachstum, das Lernen oder die Zielerreichung behindern wie beispielsweise Rollenkonflikte oder die wahrgenommene Arbeitsplatzunsicherheit (Cavanaugh, Boswell, Roehling & Boudreau, 2000).11 Diese Einteilung, auch als Challenge Stressor-Hindrance Stressor Framework bezeichnet (LePine, Podsakoff & LePine, 2005), basiert theoretisch auf dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984). Dieses stellt die subjektive Bewertung von Belastungen für die Entstehung von Stress in den Vordergrund. Stress entsteht basierend auf persönlichen Bewertungen der Situation. In der Primärbewertung schätzen Individuen die Situation, welche als irrelevant, günstig / positiv oder stressend eingestuft werden kann, hinsichtlich ihres eigenen Wohlbefindens ein. Wird eine Situation als stressend eingeschätzt, können drei Fälle unterschieden werden: Schädigung, Bedrohung und Herausforderung. Im Rahmen der Sekundärbewertung wird beurteilt, ob die eigenen Ressourcen für eine erfolgreiche Bewältigung der Arbeitsbelastungen ausreichend sind. Basierend auf dieser Bewertung werden unterschiedliche Emotionen und Bewältigungsverhalten ausgelöst. Das Ergebnis der Bewältigung fließt dann in die Neubewertung der Situation ein, sodass es zukünftig in die Bewertung gleicher Situationen einbezogen werden kann (Knoll et al., 2013; Zapf & Semmer, 2004). Die Einteilung in Challenge und Hindrance Stressoren bezieht sich somit auf die Primärbewertung, wobei Schädigung und Bedrohung zu den Hindrance Stressoren zusammengefasst werden. Im Gegensatz zur Theorie werden die Arbeitsbelastungen aber a priori klassifiziert und es wird angenom-

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Eine ähnliche Einteilung wird auch im deutschsprachigen Raum vorgenommen. Basierend auf handlungsregulatorischen Modellen wird zwischen Regulationsanforderungen und Regulationsproblemen unterschieden. Regulationsanforderungen entsprechen den Challenge Stressoren, während Regulationsprobleme mit den Hindrance Stressoren gleichzusetzen sind. Regulationsmöglichkeiten als dritte Kategorie bezeichnen die arbeitsbezogenen Ressourcen siehe Zapf und Semmer (2004).

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2 Theoretische Grundlagen

men, dass verschiedene Personen im Durchschnitt dieselbe Bewertung vornehmen. Auch wenn es durchaus empirische Belege für diese a priori Einteilung gibt (Crawford et al., 2010; LePine et al., 2005), sollten nach Meinung von Webster, Beehr und Love (2011) Arbeitsbelastungen nicht durch die Forscher klassifiziert, sondern die subjektive Primärbewertung in empirischen Studien mit berücksichtigt werden. In ihrer empirischen Untersuchung zeigten sie nämlich, dass Arbeitsbelastungen gleichzeitig als Challenge wie auch als Hindrance Stressor wahrgenommen werden können. Alles in allem sind die dargestellten Modelle in der internationalen Forschung weit verbreitet und empirisch gut bestätigt. Sie konkretisieren die neutralen Belastungs- und Beanspruchungsbegriffe und heben wichtige Faktoren zur Entstehung von Beanspruchung hervor. Basierend auf den Modellen soll der Belastungsbegriff im weiteren Verlauf der Arbeit in Arbeitsstressoren (hinderliche und herausfordernde) und Arbeitsressourcen unterteilt werden. Arbeitsstressoren erfordern dabei immer auch Anstrengung und führen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu Fehlbeanspruchung. Allerdings sind herausfordernde Stressoren mit potenziellen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten oder zukünftigen Vorteilen verbunden, während hinderliche Stressoren diese Möglichkeiten behindern. Arbeitsressourcen hingegen sind funktional bei der Zielerreichung, fördern die persönliche Entwicklung und reduzieren die mit den Arbeitsstressoren verbundenen Fehlbeanspruchungen. Im Hinblick auf die Ressourcen sind vor allem der Entscheidungsspielraum sowie die organisationale Gerechtigkeit in ihrer Bedeutung hervorzuheben. Im Sinne von Webster et al. (2011) und Lazarus und Folkman (1984) ist die Einteilung, ob es sich um Arbeitsressourcen oder um herausfordernde bzw. hinderliche Arbeitsstressoren handelt, abhängig von der subjektiven Primärbewertung der Individuen. Modelle zur Beschreibung des Beanspruchungsprozesses Während im letzten Abschnitt der Belastungsbegriff konkretisiert wurde, wird nun beschrieben, wie Belastungen zu Beanspruchungsreaktionen und -folgen führen. Hierbei wird insbesondere die Rolle der Erholung im Anstrengungs-ErholungsModell von Meijman und Mulder (1998) hervorgehoben. Übereinstimmend mit dem Belastungs-Beanspruchungskonzept bildet die Ausgangslage des Anstrengungs-Erholungs-Modells von Meijman und Mulder

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(1998), dass jegliches Arbeitshandeln mit Beanspruchungsreaktionen verbunden ist. Diese Reaktionen können sowohl physiologischer (z. B. erhöhte Hormonausschüttung) oder psychischer Natur (z. B. Veränderung der Stimmung von Individuen) sein. Dabei sind das Ausmaß und die Richtung der Beanspruchungsreaktionen (angenehm bzw. unangenehm) abhängig von dem Zusammenspiel (1) der Arbeitssituation und den damit verbundenen Arbeitsbelastungen, (2) der Person und ihren verfügbaren personenbedingten Ressourcen und (3) dem Entscheidungsspielraum. (1) Unter der Arbeitssituation erfassen die Autoren die formalen Aspekte wie den Arbeitsauftrag, die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsumgebung und -beziehungen und die sich daraus ergebenen Arbeitsbelastungen in einer konkreten Situation. Der Umgang mit den Arbeitsbelastungen erfordert eine zielbezogene Bereitstellung von kognitiven und energetischen Ressourcen der Person (auch als psychische Regulation bezeichnet; Hacker, 2015). Dabei unterscheiden sich Arbeitshandlungen darin, wie sehr sie die Ressourcen in Anspruch nehmen, Anstrengung erfordern und somit mit Beanspruchungsreaktionen verbunden sind. Handlungen, die häufig geübt und verinnerlicht wurden oder für die gelernte Handlungsschemata aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können, erfordern weniger Anstrengung als neu zu erlernende oder komplexe Handlungen.12 Letztere benötigen viel Aufmerksamkeit, beanspruchen das in seiner Kapazität begrenzte Arbeitsgedächtnis und sind somit mit deutlich mehr Anstrengung verbunden (Meijman & Mulder, 1998). (2) Neben den Unterschieden in der Arbeitssituation und ihren Belastungen spielen aber auch die verfügbaren personenbedingten Ressourcen (im Modell als „work potential“ bezeichnet, S.8) eine Rolle für das Ausmaß und die Richtung der Beanspruchungsreaktionen. So ist es in einem Zustand der Aufgeregtheit oder unter Müdigkeit deutlich anstrengender, sich zu konzentrieren oder Probleme zu lösen. In diesen Fällen weicht der innere Zustand der Person von dem zur Bewältigung der Aufgabe benötigten Zustand ab. Je größer diese Dif-

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Hacker (2015) unterscheidet drei Ebenen der Handlungsregulation: die sensumotorische bzw. automatische, wissensbasierte bzw. perzeptiv-begriffliche und die intellektuelle Ebene. Zu einer ähnlichen Einteilung mit etwas anderen Begriffen kommt auch Rasmussen (1986). Für tiefergehende Ausführungen zur Regulation von Arbeitstätigkeiten siehe Hacker (2015) oder Sachse und Hacker (2014).

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2 Theoretische Grundlagen ferenz zwischen dem Ist- und Sollzustand der Person ist, desto größere Anstrengungen muss die Person aufbringen. Meijman und Mulder (1998) bezeichnen diese zusätzliche Anstrengung auch als kompensatorisch („compensatory effort“, S.16). Darüber hinaus unterscheiden sich Personen in dem Ausmaß ihrer verfügbaren kognitiven und energetischen Ressourcen. Überschreiten die durch die Aufgabe geforderten Ressourcen die vorhandenen Ressourcen einer Person, führt dies zu negativen Beanspruchungsreaktionen.

(3) Schließlich heben die Autoren den Entscheidungsspielraum („decision latitude“, S.6) als wichtige Einflussgröße für die Beanspruchungsreaktionen hervor, auch wenn dieser eigentlich bereits Teil der formalen Aspekte der Arbeitssituation ist. Sie definieren Entscheidungsspielraum dabei deutlich breiter als Karasek (1979) und beschreiben ihn als die Möglichkeit, die Art und Weise der Zielerreichung selbstständig zu bestimmen.13 Wenn diese Möglichkeit formal vorliegt, muss sie allerdings auch von den Personen wahrgenommen und genutzt werden. Der Entscheidungsspielraum ermöglicht es, das Arbeitshandeln an den personenbezogenen Zustand und die Ressourcen der Person anzupassen. So können ermüdete Personen mit Entscheidungsspielraum an bestimmten Tagen beispielsweise langsamer arbeiten oder mehr Pausen machen, was weniger Anstrengung erfordert und somit mit geringeren Beanspruchungsreaktionen einhergeht. Diese durch die Inanspruchnahme der Ressourcen entstehenden Beanspruchungsreaktionen sind grundsätzlich reversibel, wenn Erholung erfolgt. Erholung beschreibt den Prozess, „durch den die Beanspruchungsfolgen vorangegangener Tätigkeiten ausgeglichen werden“ (Allmer, 1996, S. 42) und der Zustand vor der Beanspruchung wiederhergestellt wird (Demerouti, Bakker, Geurts & Taris, 2009; Semmer et al., 2010). Beanspruchung und Erholung wechseln sich im Tagesverlauf oder über längere Zeiträume im Sinne eines Beanspruchungs-Erholungs-Zyklus ab (Allmer, 1996; Wieland-Eckelmann & Baggen, 1994). So kann Erholung sowohl während der Arbeitszeit durch Pausen als auch in arbeitsfreien Zeiten wie Feierabend, Wochenende oder Urlaub erreicht werden (Ulich & Wiese,

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Damit entspricht ihre Definition eher dem Handlungsspielraum, welcher als Freiheitsgrade bzw. Wahlmöglichkeiten bei der Ausführung von Arbeitshandlungen beschrieben wird; siehe Ulich (1992).

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

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2011). Personen können ihren Anfangszustand an Ressourcen somit wiedererlangen, wenn sie sich ausreichend erholen. Allerdings gilt, umso höher die vorherige Beanspruchung, umso höher ist auch der Bedarf an Erholung. Zudem zeigt sich eine Nachwirkung arbeitsbedingter Anstrengung. Selbst wenn Personen den Arbeitsstressoren nicht mehr ausgesetzt sind, wirkt die Beanspruchung noch eine Weile nach. Meijman und Kollegen (1992, zitiert nach Meijman & Mulder, 1998) zeigten in ihrer Studie mit Fahrprüfern, dass diese an Tagen mit hohen Arbeitsstressoren auch in den Abendstunden nach der Arbeitstätigkeit noch erhöhte Adrenalinwerte im Urin aufwiesen. Diese andauernde Aktivierung führte dazu, dass die Erholung erschwert wurde. So berichteten die Personen an Abenden mit erhöhten Adrenalinwerten häufiger von Schlafproblemen und fühlten sich am nächsten Tag weniger erholt. Dies erklärt auch, wie Arbeitsstressoren langfristig zu Gesundheitsbeeinträchtigung (Beanspruchungsfolgen) führen können. Hohe Arbeitsstressoren oder aber auch ein suboptimaler psychophysischer Zustand der Person (zum Beispiel aufgrund von Ermüdungszuständen durch vorherige Anstrengung oder auch durch einen schlechten Gesundheitszustand) können dazu führen, dass die Arbeitsstressoren mehr personenbedingte Ressourcen benötigen als aktuell verfügbar sind. Damit die Arbeit dennoch erledigt werden kann, müssen Personen kompensatorische Anstrengung aufbringen, die zu erhöhten negativen Beanspruchungsreaktionen führen und einen erhöhten Bedarf an Erholung erfordern (Hockey, 1997; Meijman & Mulder, 1998). Dieser erhöhte Bedarf an Erholung kann unter Umständen nicht befriedigt werden, vor allem deshalb nicht, da Nachwirkungseffekte die Erholung erschweren. Somit kann es dazu führen, dass Personen nicht vollständig erholt sind und ihren nächsten Arbeitstag mit einem suboptimalen Zustand beginnen. Daraus kann sich eine Abwärtsspirale ergeben, die dazu führt, dass sich Beanspruchungen „aufkumulieren“ können (Fritz & Sonnentag, 2004). Die Ressourcen, die zur Bewältigung der Arbeitsstressoren gebraucht werden, werden also sukzessive geringer (Semmer et al., 2010). Wenn diese Störung des Beanspruchungs-Erholungs-Zyklus14 nicht durchbrochen wird, ergeben sich langfristig ir-

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Neben dem Anstrengungs-Erholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998) wird die Bedeutung von Erholung in ähnlicher Weise auch im „Arbeits-Erholungs-Zyklus“ von Wieland-Eckelmann und Baggen (1994) beschrieben.

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2 Theoretische Grundlagen

reversible gesundheitliche Folgen wie anhaltende Erschöpfung, Schlafentzug, andere psychosomatische Beschwerden und auch verminderte Arbeitsleistung (Fritz & Sonnentag, 2004; Meijman & Mulder, 1998). Auch tägliche Arbeitsstressoren auf einem „normalen“ Niveau können langfristig zu Gesundheitsverschlechterungen führen, wenn Personen sich nicht ausreichend erholen. Fehlende und unzureichende Erholung ist dabei eine Schlüsselvariable des Anstrengungs-ErholungsModells (Geurts & Sonnentag, 2006). Sie konnte auch empirisch als wichtiger Einflussfaktor und Mediator zwischen Arbeitsstressoren und Beanspruchungsfolgen wie der Verschlechterung der Gesundheit bestätigt werden (Sonnentag & Zijlstra, 2006; van Amelsvoort, Kant, Bültmann & Swaen, 2003). Auch wenn die Erholung für den Ausgleich von Beanspruchung von enormer Bedeutung ist, verweisen Semmer et al. (2010, S. 337) auf die Grenzen dieser „rein energetischen Betrachtungsweise“. Sie führen an, dass für einige Ergebnisse wie beispielsweise der schwache Zusammenhang zwischen der Anzahl an Arbeitsstunden und Gesundheit (Sparks, Cooper, Fried & Shirom, 1997; Virtanen et al., 2018) zusätzliche Erklärungsansätze notwendig sind. Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (vgl. die Ausführungen zum Modell beruflicher Gratifikationskrisen) gilt als ein solches „Brückenkonzept“. So spielt neben der Erholung auch der Ausgleich zwischen Anstrengung und Belohnung eine Rolle bei der Entstehung von Beanspruchungsfolgen. Somit gewinnen zusätzlich zur Erholung auch „Aspekte der Fairness, der Gerechtigkeit und der Reziprozität“ an Bedeutung (Semmer et al., 2010, S. 337). Das Vorliegen verschiedener Wirkmechanismen wird auch durch das JD-R Modell (vgl. Seite 27) gestützt, welches von zwei Hauptwirkungsprozessen ausgeht. Im ersten Prozess führen die Arbeitsstressoren zu Erschöpfung und langfristig zur Verschlechterung der Gesundheit, während im Rahmen des motivationalen Prozesses Arbeitsressourcen über das Arbeitsengagement das Wohlbefinden stärken (Bakker & Demerouti, 2007). Sowohl in den Modellen zur Konkretisierung der Arbeitsbelastung sowie in den Modellen zum Beanspruchungsprozess wird die Doppelrolle von Arbeit für die Gesundheit und das Wohlbefinden betont. Arbeitsbelastungen können gesundheitsschädlich sein, wenn Personen sich im Anschluss an ihre Arbeit nicht ausreichend erholen, das Arbeitsverhältnis als ungerecht wahrgenommen wird und Ressourcen fehlen, um mit den Belastungen gut umgehen zu können. Arbeit hat aber

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

35

auch eine gesundheitsförderliche Wirkung, da sie grundlegende psychische Bedürfnisse wie Autonomie, Kompetenz oder Anschluss an andere befriedigt (Schaper, 2014). Dies stimmt auch mit den Ergebnissen der Überblicksarbeit von Waddell und Burton (2006) überein, die der Frage nachgeht, ob Arbeit „gut“ für die Gesundheit und das Wohlbefinden ist. Sie fassen die Literatur aus verschiedenen Bereichen wie beispielsweise der Forschung zur Arbeitslosigkeit, Arbeiten mit Erkrankungen und Wiedereingliederung zusammen und halten fest, dass Arbeiten wichtige Funktionen erfüllt, die zuträglich für die Gesundheit und das Wohlbefinden sind: Mit ihr erhalten Personen finanzielle Ressourcen, es werden Bedürfnisse befriedigt und die Arbeit ist zentral für die individuelle Identität. 2.3.2

Wirkung der Gesundheit auf die Arbeitsleistung

Nachdem Modelle zur Wirkung der Arbeit auf die Gesundheit dargestellt wurden, werden nun Modelle zum Einfluss der Beanspruchungsreaktionen und des Gesundheitszustands von Individuen auf die Arbeitsleistung beschrieben. Grundsätzlich können sich Personen in ihrer Arbeitsleistung unterscheiden. Diese Unterschiede werden in der Literatur durch personenbezogene (wie kognitive Fähigkeiten, Wissen, Berufserfahrung, Persönlichkeit) und situationsbezogene Prädiktoren (wie Arbeitscharakteristika) erklärt (Sonnentag et al., 2008). Unterschiede ergeben sich allerdings nicht nur zwischen Personen (interpersonell), sondern die Arbeitsleistung kann sich ich auch innerhalb einer Person (intrapersonell) verändern, d.h. sie muss nicht unbedingt stabil sein. Dabei kann sich die Arbeitsleistung längerfristig, beispielsweise durch Lern- oder auch Alterungsprozesse, verändern oder kurzfristig (z. B. von Tag zu Tag, von Woche zu Woche) schwanken. Diese Schwankungen sind nicht unerheblich. So zeigen frühere Studien, dass ein großer Teil der Varianz in der Arbeitsleistung intrapersonellen Unterschieden zuzurechnen ist (Sonnentag & Frese, 2012). Die folgende Übersicht beschränkt sich auf Modelle zur Erklärung der Schwankungen der Arbeitsleistung, die für den empirischen Teil der Arbeit Relevanz besitzen.15

15

Für einen tiefergehenden Überblick zu Modellen zur Veränderung der Arbeitsleistung siehe Dalal, Bhave und Fiset (2014) oder Sonnentag und Frese (2012).

36

2 Theoretische Grundlagen

Zunächst wird erneut das Anstrengungs-Erholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998) als Erklärungsansatz herangezogen. Ergänzend zur Darstellung des Modells im vorherigen Abschnitt werden nun aber die Folgen für die Arbeitsleistung ausgeführt. Wie bereits beschrieben, können die zur Bewältigung der Arbeitsstressoren geforderten Ressourcen die verfügbaren Ressourcen einer Person überschreiten. In diesem Fall nimmt das Modell an, dass für Personen zwei Optionen bestehen, mit der Situation umzugehen, wenn sie Entscheidungsspielraum besitzen: (1) Sie können die Aufgabe uminterpretieren, sodass sie den Ressourcen entspricht. So können „Handlungsvereinfachung, Senkung des Anspruchsniveaus und der Verzicht auf die Erledigung von Sekundäraufgaben“ (Semmer et al., 2010, S. 334) dazu führen, dass die Arbeitsaufgabe zwar häufig mit einer höheren Fehleranfälligkeit oder schlechter erfüllt wird, aber dies mit den vorhandenen Ressourcen umsetzbar ist. (2) Alternativ können die Personen auch ihre Ressourcen anpassen, indem sie ihre Leistung mit kompensatorischer Anstrengung aufrechterhalten, was allerdings größere Beanspruchungsreaktionen sowie einen höheren Bedarf an Erholung zur Konsequenz hat. Eine Tendenz zur ersten Option wird vor allem durch Müdigkeit erreicht. Müdigkeit als Beanspruchungsreaktion wirkt nämlich häufig als Schutz, sich weiter zu verausgaben und hemmt die Leistungsbereitschaft (Hockey, 1997; Semmer et al., 2010). Zudem ist für eine Auswahl zwischen den zwei Optionen Entscheidungsspielraum erforderlich. Hat eine Person hingegen keinen Entscheidungsspielraum beispielsweise bei weitgehend standardisierten Arbeitstätigkeiten, so ist eine Uminterpretation ggf. nicht möglich, sodass Personen nur mit kompensatorischer Anstrengung reagieren können (Meijman & Mulder, 1998). Dies bedeutet zusammenfassend, dass Personen mit einem schlechteren Gesundheitszustand bzw. in Zeiten mit einem reduzierten Gesundheitszustand weniger Ressourcen zu Verfügung haben, mit den Arbeitsstressoren umzugehen und so schneller die verfügbaren Ressourcen überschritten werden. Dies ist aber nicht zwingend (zumindest kurzfristig nicht) mit einer Reduzierung der Arbeitsleistung verbunden, sondern hängt davon ab, welche der zwei Handlungsoptionen eine Person wählt.

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

37

Diese Auswahl ist aber nicht immer möglich, beispielsweise dann nicht, wenn die Person keinen Entscheidungsspielraum besitzt. Für die im Modell postulierten Annahmen finden sich bereits empirische Belege, die sowohl von Meijman und Mulder (1998) selbst als auch von Semmer et al. (2010) zusammengefasst werden. So gibt es Studien, die einerseits belegen, dass sich ermüdete Personen weniger anstrengen, weniger Zeit in unlösbare Probleme investieren, ihre Leistung sich bei arithmetischen Berechnungen oder bei Gedächtnis-Aufgaben verschlechtert und es zu mehr Arbeitsunfällen und Fehlern kommt. Andererseits scheinen Personen ihre Leistungsergebnisse kurzfristig trotz schwieriger Bedingungen aufrechterhalten zu können (Hockey, 1997). Als ein Hinweis für die Option der kompensatorischen Anstrengung kann ein von Meijman und Mulder (1998) zitiertes Experiment an Studenten aufgefasst werden. Dabei berichteten die Studenten für die Lösung von Aufgaben unter Müdigkeit und ohne Entscheidungsspielraum von deutlich mehr Anstrengung. Meijman und Mulder (1998) weisen aber darauf hin, dass auch trotz kompensatorischer Anstrengung nicht immer ein besseres Leistungsergebnis erreicht wird, sondern manchmal auch nur die Verschlechterung der Leistung gemindert werden kann. Neben dem Anstrengungs-Erholungs-Modell gibt auch das episodische Prozessmodell der Arbeitsleistung von Beal, Weiss, Barros und MacDermid (2005) Hinweise, weshalb die individuelle Arbeitsleistung aufgrund unzureichender Erholung oder eines schlechten Gesundheitszustands schwanken kann. Dieses Modell fokussiert auf kurze Einheiten von Leistungsverhalten (Episoden). Das Leistungsverhalten einer Episode wird dabei vorhergesagt durch das vorhandene Ressourcenlevel der Person und die Allokation dieser Ressourcen. Arbeitsleistung bzw. das Leistungsverhalten ist dann beeinträchtigt, wenn ein Individuum die notwendigen Ressourcen und die Aufmerksamkeit nicht auf die Arbeitsaufgabe richtet. Dabei heben Beal und Kollegen (2005) vor allem die Bedeutung von affektiven Erlebnissen hervor, die dazu führen, dass Individuen ihre Emotionen regulieren müssen und dies Ressourcen bindet, die sowohl für die Ausführung der Arbeitsleistung (Beal, Trougakos, Weiss & Green, 2006; Sonnentag & Frese, 2012), als auch für erneute Selbstregulation fehlen. Durch adäquate Erholung können die durch Inanspruchnahme verbrauchten Ressourcen allerdings wiederhergestellt werden (Beal et al., 2005). Im Falle unzureichender Erholung oder eines schlech-

38

2 Theoretische Grundlagen

ten Gesundheitszustands kann argumentiert werden, dass das vorhandene Ressourcenlevel einer Person reduziert ist und somit weniger Ressourcen für die Arbeitsleistung zur Verfügung stehen. Auch für die Aufmerksamkeitsregulation fehlen Ressourcen, sodass es Personen schwerer fällt, sich nicht ablenken zu lassen und sich auf die Arbeitsaufgabe zu konzentrieren und sich somit die Arbeitsleistung verschlechtert. Empirisch finden sich vor allem Belege aus Tagebuchstudien oder Experience-Sampling Studien16, die die Annahmen des Modells unterstützen (Beal et al., 2006; Binnewies, Sonnentag & Mojza, 2009b, 2010). Auch wenn es empirische Belege gibt, dass diese energetische Betrachtung sowohl für die Aufgaben- als auch die Kontextleistung gilt (Binnewies et al., 2010), wird die Kontextleistung bei der Beschreibung der Modelle eher vernachlässigt. Eine Theorie, die hingegen häufig zur Erklärung der Kontextleistung verwendet wird (Konovsky & Pugh, 1994; Spence, Ferris, Brown & Heller, 2011), ist die soziale Austauschtheorie (social exchange theory; Blau, 1964). Basierend auf der sozialen Austauschtheorie können Organisationen als soziale Marktplätze betrachtet werden. Mitarbeiter investieren Zeit sowie Anstrengung und erhalten eine angemessene Gegenleistung von der Organisation wie beispielsweise Gehalt. Dabei unterscheidet Blau (1964) zwischen ökonomischem (Anstrengung als Gegenleistung für Gehalt) und sozialem Austausch (organisationale Unterstützung als Gegenleistung für organisationale Selbstbindung). Individuen gehen dabei Austauschbeziehungen ein, um ökonomische und soziale Gegenleistungen von ihren Austauschpartnern (z. B. von der Organisation) zu erhalten (Rosen, Chang, Djurdjevic & Eatough, 2010). Unterstützung sowie eine faire Behandlung (unter anderem eine angemessene Bezahlung und Anerkennung) durch die Organisation wird somit als eine Belohnung gewertet, die im Gegenzug zu einer Verpflichtung führt, diese in Form von förderlichem Verhalten gegenüber der Organisation zu erwidern (Colquitt, 2012). Die Theorie wird dabei auch zur Erklärung der Wirkung negativer Beanspruchungsreaktionen auf die Arbeitsleistung angewandt (Rosen et al., 2010). So kann argumentiert werden, dass in Fällen, in denen nega-

16

Die Experience-Sampling Methode beschreibt eine Form der Befragung, bei der Teilnehmer (zufällig) mehrmals am Tag mehrere Fragebögen beantworten, meistens über mehrere Tage hinweg. Für tiefergehende Erklärungen zur Methode mit ihren Vor- und Nachteilen siehe Dimotakis, Ilies und Judge (2013), Reis und Gable (2000) oder Scollon und Kim-Prieto (2003). Für methodische Ausführungen zu Tagebuchstudien siehe Ohly, Sonnentag, Niessen und Zapf (2010).

2.3 Gesundheit und Arbeits(leistung)

39

tive Beanspruchungsreaktionen wie beispielsweise Stress oder Müdigkeit für Individuen mit der Arbeit einhergehen, die Austauschbeziehung wahrscheinlich als unausgeglichen wahrgenommen wird. So können die negativen Beanspruchungsreaktionen einerseits als zusätzliche Kosten gesehen und andererseits als Indiz gewertet werden, dass die Anforderungen seitens der Organisation die vorhandenen Ressourcen des Mitarbeiters übersteigen und somit ein unangemessenes Verhältnis zwischen der Anstrengung des Mitarbeiters und der Unterstützung sowie der fairen Behandlung seitens der Organisation besteht. Um ein angemessenes Verhältnis wiederherzustellen, reduziert der Mitarbeiter seine Anstrengung und somit die Arbeitsleistung (Cropanzano, Rupp & Byrne, 2003; Rosen et al., 2010). Dies entspricht auch der Argumentation des Modells beruflicher Gratifikationskrisen (vgl. Seite 31), welches annimmt, dass negative Beanspruchungsreaktionen aus einem Ungleichgewicht zwischen den Anstrengungen der Mitarbeiter und den Belohnungen seitens der Organisation entstehen. Somit heben diese Ansätze vor allem die Bedeutung der wahrgenommenen Gerechtigkeit in Organisationen hervor, da sie das Verhältnis des geleisteten Einsatzes zum Ertrag betonen. Insgesamt geben die Modelle Hinweise, dass Beanspruchungsreaktionen wie Müdigkeit oder Stress sowie ein schlechter Gesundheitszustand das Leistungsverhalten von Individuen beeinflussen können. Dies ist erklärbar durch fehlende Ressourcen, die für die Aufmerksamkeitsregulation sowie die Erledigung der Arbeitsaufgabe nicht zur Verfügung stehen. In solchen Fällen ist mit Handlungsvereinfachung, einer Senkung des Anspruchsniveaus oder eine Vernachlässigung von kleineren, weniger dringlichen Aufgaben zu rechnen. Meijman und Mulder (1998) betonen in ihrem Modell aber, dass Personen zumindest kurzfristig durch kompensatorische Anstrengung ihr Leistungsverhalten aufrechterhalten können. Zusätzlich zur energetischen Sichtweise können Schwankungen des Leistungsverhaltens aber auch als eine Reaktion auf ein unangemessenes Austauschverhältnis interpretiert werden.

3

Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Nachdem die Begriffe Gesundheit, Krankheit sowie Arbeitsleistung und grundlegende theoretische Modelle beschrieben wurden, setzt sich dieses Kapitel umfassend mit Präsentismus auseinander. Zunächst werden die verschiedenen Sichtweisen auf das Phänomen Präsentismus und die damit verbundenen unterschiedlichen Definitionen dargestellt, sodass im Anschluss die Begriffsbestimmung im Sinne der vorliegenden Arbeit und eine Abgrenzung von Absentismus erfolgen können. Darauf aufbauend wird der Forschungsstand zur Prävalenz (Abschnitt 3.4), zur Messung von Präsentismus (Abschnitt 3.3) sowie zu den Ursachen (Abschnitt 3.5) und Konsequenzen (Abschnitt 3.6) aufgearbeitet. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Darlegung bisheriger Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Präsentismus und der Arbeitsleistung sowie der Gesundheit gelegt. Um einen umfassenden und vor allem aktuellen Überblick über die Präsentismusforschung zu erhalten, dienen die Erkenntnisse bisheriger Übersichtsarbeiten (z. B. Lohaus & Habermann, 2018b; Skagen & Collins, 2016; Steinke & Badura, 2011) und die zwei Meta-Analysen von Miraglia und Johns (2016) sowie von McGregor et al. (2017) als Grundlage und werden durch Inhalte aktuellerer Studien ergänzt. Hierfür wurde eine Literatursuche in den verschiedenen Datenbanken (PsycINFO, PsycARTICLES, PSYNDEX, MEDLINE, Business Source Ultimate) ab dem Januar 2016 bis April 2018 durchgeführt.17

17

Als Suchstring wurden Synonyme des Begriffs Präsentismus (Präsentismus or presenteeism or "sickness presence" or "sickness attendance" or "krank arbeit*" or "ill* at work") mit dem Begriff Arbeit (work or Arbeit) mittels einer Und-Verknüpfung verbunden. Zudem wurden nur englischsprachige und deutschsprachige, begutachtete (peer-reviewed) Artikel berücksichtigt. Insgesamt ergab die Suche 179 Treffer, von denen nach Bereinigung von Duplikaten noch 163 Studien vorlagen. In einem nächsten Schritt wurden die Abstracts gescannt und 58 Studien aufgrund fehlender inhaltlicher Passung ausgeschlossen, sodass 105 Studien als relevant identifiziert wurden. Von den 105 Studien lagen 28 Primärstudien vor, die eine Verhaltensdefinition von Präsentismus nutzen. Zusätzlich zum Suchstring wurden neun weitere relevante Studien ergänzt. Eine tabellarische Übersicht zu den Ergebnissen der Primärstudien (36 Studien) sowie der Meta-Analyse von McGregor et al. 2017 befindet sich im Anhang.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Steidelmüller, Präsentismus als Selbstgefährdung, Gesundheitspsychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30681-6_3

42 3.1

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung Verschiedene Sichtweisen auf Präsentismus

Präsentismus ist ein vielschichtiges und interdisziplinär diskutiertes Phänomen, welches erst ab den 1990er Jahren wissenschaftlich zunehmend an Bedeutung erlangte (Miraglia & Johns, 2016).18 Dabei befassten sich verschiedene Forschungsdisziplinen in unterschiedlichen Gegenden aus unterschiedlichen Anlässen mit dem Phänomen. So entstand eine Vielzahl an Definitionen19, die sich grob zu zwei Hauptforschungssträngen zusammenfassen lässt (Johns, 2012; Jung, 2017; Lohaus & Habermann, 2018a; Steinke & Badura, 2011). Der erste Forschungsstrang entwickelte sich vor allem im nordamerikanischen Raum aus einer medizinischen Perspektive und dem Interesse heraus, steigende Gesundheitskosten für Unternehmen zu vermeiden (Johns, 2012). Dies ist vor allem im nordamerikanischen Raum von Bedeutung, da Unternehmen dort „maßgeblich an den Krankheitskosten ihrer Mitarbeiter beteiligt werden“ (Hägerbäumer, 2017, S. 80) In diesem Sinne wird Präsentismus definiert als Leistungsund / oder Produktivitätseinbußen aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung (Jung, 2017; Steinke & Badura, 2011). Eine häufig zitierte Definition von Hemp (2004, S. 49) lautet beispielsweise „the problem of workers‘ being on the job but, because of illness or other medical conditions, not fully functioning”. Jung (2017, S. 41) stellt fest, dass die Definitionen von Präsentismus für diesen „produktivitäts- und defizitorientierten“ Forschungsstrang weitestgehend homogen sind. So fokussieren die meisten Definitionen auf gesundheitliche 18

Der Begriff wurde auch vor den 1990er Jahren schon angewandt. Basierend auf dem Oxford English Dictionary Online tauchte der Begriff „presentee“ zunächst im Buch von Marc Twain im Jahre 1892 auf (Johns, 2010). Danach wurde der Begriff nur gelegentlich aufgegriffen (beispielsweise von Canfield und Soash, 1955; Smith, 1990; Uris, 1955) und bezeichnete die Anwesenheit auf der Arbeit als Antonym von Absentismus (Johns, 2012). Auch das Phänomen in seiner heutigen Bedeutung war vor den 1990er Jahren bereits bekannt. So berichteten Steinke & Badura (2011) in ihrer Überblicksarbeit bereits von ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen in Deutschland Ende der 1960er Jahre, welche feststellten, dass die Befragten trotz Krankheiten und Beschwerden arbeiten gingen. Eine systematische und wissenschaftliche Auseinandersetzung des Phänomens fand allerdings erst ab den 1990er Jahren statt. 19 Johns (2010) führt in seiner Überblicksarbeit neun verschiedene Definitionen von Präsentismus an, die sich inhaltlich voneinander unterscheiden. Jung (2017) findet 12 inhaltlich unterschiedliche Definitionen. McGregor, Sharma, Magee, Caputi und Iverson (2017) hingegen identifizieren 125 Studien, die unterschiedliche, im Wortlaut leicht abgewandelte Definitionen verwenden. Im Rahmen von ergänzenden Materialien stellen sie eine Liste der Definitionen zur Verfügung, die sie fünf Themen zuordnen siehe http://supp.apa.org/psycarticles/supplemental/ocp0000099/ocp0000099_supp.html.

3.1 Verschiedene Sichtweisen auf Präsentismus

43

Leistungsbeeinträchtigung. In einigen Fällen wird die Definition allerdings noch erweitert, indem auch Leistungsbeeinträchtigungen aufgrund anderer Faktoren wie beispielsweise Pflegebedürftigkeit der Kinder berücksichtigt werden (Quazi, 2013). Den Schwerpunkt dieses Forschungsstrangs bilden aber Studien, die den Einfluss einzelner Krankheiten auf die Arbeitsproduktivität und den damit verbundenen wirtschaftlichen Verlust in Unternehmen bestimmen. Dies bezieht sich vor allem auf Personen, deren Krankheitszustand noch nicht zum Fernbleiben von der Arbeit geführt hat (Schultz & Edington, 2007). Neben den häufig betrachteten chronischen Erkrankungen führen auch akute Krankheiten sowie gesundheitliche Risikofaktoren zu Einbußen in der Arbeitsproduktivität und damit einhergehenden Kosten (Howard, Howard & Smyth, 2012). Der zweite Forschungsstrang entstand im europäischen Raum vor dem Hintergrund zunehmender und weitreichender Restrukturierungen und Personalabbau-Maßnahmen. Präsentismus, als ein Verhalten trotz Krankheit zu arbeiten, wurde insbesondere als Reaktion zunehmender Arbeitsunsicherheit aus der Management- und Gesundheitsperspektive („occupational health“) untersucht. Der Fokus dieses Strangs liegt in der Untersuchung der Prävalenz und der Ursachen sowie Folgen dieses Verhaltens (Johns, 2012; Lohaus & Habermann, 2018a). Im Gegensatz zum produktivitäts- und defizitorientierten Forschungsstrang sind die Definitionen dieses „gesundheits- und verhaltensorientierten“ Strangs aber sehr heterogen (Jung, 2017, S. 38). So lässt sich dieser Strang in vier Gruppen von Definitionen unterteilen, die jeweils unterschiedliche Merkmale des Verhaltens betonen20: (1) Die erste Definition wird häufig verwendet (Preisendörfer, 2010) und beschreibt Präsentismus als das Verhalten, krank zur Arbeit zu gehen („attending work while ill“; Johns, 2010, S. 519). Sie ist sehr allgemein formuliert, bezieht weder Motive, Gründe oder Folgen des Verhaltens mit ein und schließt keine Form von Krankheit aus (Johns, 2010). Im deutschsprachigen Raum lassen sich dieser Gruppe beispielsweise die Definitionen von Zok

20

Andere Autoren kommen zu einer etwas anderen Einteilung. So unterscheiden Johns (2010) und Hägerbäumer (2017) fünf bzw. vier Gruppen der Definitionen beider Forschungsstränge, während Jung (2017) acht Gruppen nur für den gesundheits- und verhaltensorientierten Strang und insgesamt 12 verschiedene Gruppen von Definitionen identifiziert.

44

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung (2008b, S. 121), Wieland und Hammes (2010, S. 9), sowie von Hägerbäumer (2017, S. 92) zuordnen.

(2) Die zweite Gruppe grenzt die zuvor beschriebene Definition stärker ein und betrachtet nur solche gesundheitlichen Einschränkungen, „die berechtigten Anlass bieten, der Arbeit fernzubleiben“ (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 11). Präsentismus in diesem Sinne bezieht sich somit nur auf „schwere behandlungsbedürftige Krankheiten, welche eine Krankschreibung legitimiert hätten und zwingend erforderlich machen, aber Personen dennoch zur Arbeit gehen“ (Steinke & Badura, 2011, S. 18). Unter diese Gruppe lassen sich beispielsweise auch Definitionen von Aronsson, Gustafsson und Dallner (2000), Aronsson und Gustafsson (2005) und Bergström, Bodin, Hagberg und Aronsson et al. (2009) fassen. Diese Definitionen ergänzen zwar nicht explizit den Aspekt der „Legitimität des krankheitsbedingten Fehlens“ (Hägerbäumer, 2017, S. 87), aber verstehen Präsentismus als solche Fälle, in denen Personen besser zuhause bleiben und sich erholen sollten. Somit nehmen die Autoren eine Wertung vor und Präsentismus wird als grundsätzlich gesundheitsschädigend verstanden. Dies entspricht auch der deutschsprachigen Literatur zur interessierten Selbstgefährdung, welche vor allem die Folgen indirekter Unternehmenssteuerung wie Leistungsorientierung untersucht (Krause, Dorsemagen & Peters, 2010; Krause et al., 2012; Schulthess, 2017). Dabei beschreibt die interessierte Selbstgefährdung „Handlungen von Erwerbstätigen, welche mit dem Ziel der Bewältigung arbeitsbezogener Stressoren ausgeübt werden, jedoch gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Erkrankungen erhöhen und / oder notwendige Regeneration verhindern“ (Krause et al., 2015, S. 51–52). Präsentismus wird neben sieben weiteren Verhaltensweisen wie beispielsweise das „Ausdehnen der Arbeitszeit“ oder die „Einnahme stimulierender Substanzen“ als Facette der interessierten Selbstgefährdung verstanden.21

21

Die Literatur zur interessierten Selbstgefährdung verwendet in einigen Fällen auch die Definition im Sinne der ersten Gruppe – Präsentismus als Arbeiten trotz Krankheit (siehe beispielsweise Krause et al., 2012). Da Präsentismus als Facette der interessierten Selbstgefährdung betrachtet wird, welches in seiner Definition gesundheitsschädigend ist, wird die Literatur aber in die zweite Definitionsgruppe eingeordnet.

3.1 Verschiedene Sichtweisen auf Präsentismus

45

(3) Die dritte Gruppe erweitert die vorherigen Definitionen, indem sie nicht nur gesundheitliche Beeinträchtigungen, sondern auch anderweitige Beeinträchtigungen unter Präsentismus fasst. So verwenden Ulich und Nido (2014, S. 187) die Definition „Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz gesundheitlicher oder anderweitiger Beeinträchtigung, die eine Abwesenheit legitimiert hätte“. Vogt, Badura und Hollmann (2010) argumentieren, dass basierend auf dem Gesundheitsverständnis der WHO (vgl. Seite 8) als „vollkommendes physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden (…) auch ein Motivationsdefizit“ als Arbeiten trotz Krankheit gewertet werden kann. Sie führen als weitere Beispiele für Beeinträchtigungen auch private (in Bezug auf Partnerschaft oder Kinder) und finanzielle Sorgen an. (4) Bei der letzten Gruppe von Definitionen wird Gesundheit bzw. Krankheit gar nicht mehr betrachtet. Jung (2017) wie auch Steinke und Badura (2011) ordnen sie deshalb nicht mehr unter den gesundheits- und verhaltensorientierten Forschungsstrang und Jung (2017, S. 45) beschreibt diese Definitionen als „Präsentismus im weiteren Sinne“. Zu dieser Gruppe gehört unter anderem das Verständnis von Präsentismus als „unverhältnismäßig lange Anwesenheit am Arbeitsplatz“ (Steinke & Badura, 2011, S. 15). Dieses entstand in den 1990er Jahren in Großbritannien als Cary Cooper (1996) in seinem Beitrag „Hot under the collar“ die Folgen der Restrukturierung und damit einhergehenden Arbeitsunsicherheit beschreibt, die zu einer Präsentismuskultur mit exzessiven Arbeitszeiten führten. Darauf aufbauend entwickelten sich Definitionen von Präsentismus wie beispielsweise die Definition von Simpson (1998, S. 38): „the tendency to stay at work beyond the time needed for effective performance of the job”. Sie nimmt bei ihrer Untersuchung vor allem eine Geschlechterperspektive ein und stellt fest, dass ein Wettbewerb um die längsten Anwesenheitszeiten entsteht. Bei dieser Form von Präsentismus bleiben Personen zwar länger auf der Arbeit, jedoch erbringen sie nicht mehr Arbeitsleistung und sind somit weniger produktiv. Denn sie bleiben nur auf der Arbeit, um mit exzessiven Arbeitszeiten einen guten Eindruck auf die Kollegen oder den Chef zu machen. Physisch auf der Arbeit aber weniger produktiv ist auch Teil der Präsentismusdefinition von D'Abate und Eddy (2007). Sie beschreiben Präsentismus als Verhalten, private Angelegenheiten während der Arbeitszeit zu erledigen, was Wan, Downey und Stough (2014, S. 86) als „non-work related presenteeism“ bezeichnen. Somit kann Präsentismus in

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung Rahmen dieser Definition auch als eine Form des kontraproduktiven Verhaltens (vgl. S. 19) verstanden werden. Diese letztgenannte Definitionsgruppe beschreibt Präsentismus somit als unproduktives Arbeitsverhalten. Da die Studien aus diesem Bereich vor allem die Ursachen für das Verhalten untersuchen (Biron & Saksvik, 2009), wurde die Definitionsgruppe unter den verhaltensorientierten Forschungsstrang eingeordnet.

Zusammenfassend für den verhaltensorientierten Forschungsstrang kann festgehalten werden, dass allen Definitionen ein Verständnis von Präsentismus als Verhalten vorliegt. Die Personen sind physisch am Arbeitsplatz anwesend und das gezeigte Verhalten beruht auf einer Entscheidung der Individuen. Insgesamt wird dennoch deutlich, dass Präsentismus sehr unterschiedlich verstanden wird. Dabei unterscheidet sich nicht nur das Verständnis, sondern insbesondere im englischsprachigen Bereich auch die Begriffsverwendung. So werden zum Teil innerhalb derselben Definitionsgruppe andere Begriffe genutzt (beispielsweise presenteeism, sickness presence, sickness presenteeism, non-work presenteeism, non-sickness presenteeism, sickness attendance, inappropriate non-use of sick-leave, working through illness, reduced on the job productivity; vgl. Johns, 2012; Jung, 2017). 3.2

Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Absentismus

Im folgenden Abschnitt werden zur Übersicht nochmal die verschiedenen Sichtweisen und Definitionen in einer Abbildung zusammengefasst und von Absentismus abgegrenzt, bevor im Anschluss die in dieser Arbeit zugrundeliegende Präsentismusdefinition vorgestellt wird. Die Abbildung 3 stellt verschiedene Formen von Präsentismus und Absentismus dar, die anhand von drei Dimensionen beschrieben werden können. Die untere horizontale Achse (schwarz) beschreibt die An- und Abwesenheit am Arbeitsplatz. Fehlen Mitarbeiter an einem Arbeitstag, also sind abwesend vom Arbeitsplatz, wird dies als Absentismus (absenteeism; Johns, 2007) bzw. im deutschsprachigen Raum meist als Fehlzeiten bezeichnet (Brandenburg & Nieder, 2009; Jahn, 2014). So enthält die Spalte Abwesend in der Abbildung verschiedene Formen von Absentismus. Auch wenn es sich bei Absentismus um ein schon lange erforschtes Phänomen handelt, werden sehr unterschiedliche Definitionen und uneinheitliche Begriffe verwendet (Alexanderson, 1998; Brandenburg & Nieder,

3.2 Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Absentismus

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2009). So definieren Brandenburg und Nieder (2009, S. 13) Fehlzeiten als Zeiten, „in denen der Mitarbeiter seine Arbeitskraft dem Unternehmen nicht zur Verfügung stellt.“ Hierzu zählen beispielsweise auch Urlaubs- oder Fortbildungstage (Rudow, 2014). Johns (2007, S. 4) hingegen definiert es als „failing to report for scheduled work“ und bezieht somit nur solche Ereignisse ein, die gegen eine soziale Erwartung verstoßen, nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein. Somit zählen Urlaubstage im Rahmen dieser Definition nicht zu Fehlzeiten, da an einem Urlaubstag eine Anwesenheit auf der Arbeit nicht erwartet wird. Diese Unterschiede zeigen, dass verschiedene Gründe existieren, weshalb Mitarbeiter der Arbeit fern bleiben. Eine in der Literatur häufige Einteilung unterscheidet krankheitsbedingten von motivationsbedingten Absentismus. Ersteres erfassen Walter und Münch (2009, S. 142) unter dem Begriff Krankenstand (im Englischen meist als sickness absence bezeichnet) und meinen damit Abwesenheiten aufgrund eines schlechten Gesundheitszustands (Claes, 2014; Walter & Münch, 2009), während Letzteres der Motivation des Mitarbeiters („Blaumachen“) zuzuschreiben ist. Im deutschsprachigen Raum umfasst der Begriff Absentismus bei einigen Autoren auch nur die motivationalen Abwesenheiten (Rudow, 2014; Walter & Münch, 2009). Im Rahmen dieser Arbeit soll Absentismus aber als Oberbegriff synonym zu Fehlzeiten verstanden werden und der oben beschriebenen Definition von Brandenburg und Nieder (2009) folgen. Die Einteilung von Absentismus in krankheitsbedingte und motivationsbedingte Abwesenheit wird auch in der Abbildung vorgenommen. Auf der vertikalen Achse ist ein Kontinuum von gesund bis krank abgebildet. Ist eine Person gesund und abwesend von der Arbeit, kann dies als motivationaler Absentismus gewertet werden, sollten nicht andere Gründe vorliegen, die eine Abwesenheit legitimieren (z. B. Krankheit des Kindes, Urlaub, Fortbildung; vgl. Alexanderson, 1998). Andere legitime Gründe als ein schlechter Gesundheitszustand werden dabei als eigene Form von Absentismus – legitimer Absentismus – oberhalb des Gesundheits- Krankheits-Kontinuums in der Abbildung erfasst. Ist eine Person krank und abwesend von der Arbeit, zeigt sie krankheitsbedingten Absentismus. Johns (2007) merkt allerdings an, dass die Bezeichnung krankheitsbedingt nicht ausschließt, dass auch motivationale Einflüsse zur Entscheidung, der Arbeit fernzubleiben, geführt haben können. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle ein Kontinuum von gesund bis krank betrachtet, wie es auch Oppolzer (2010) vorschlägt.

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Oppolzer (2010) unterscheidet vier Punkte auf diesem Kontinuum. Die zwei Endpunkte, die in der vorliegenden Abbildung als gesund und krank bezeichnet sind, beschreibt er als „Zustand völliger Gesundheit und Beschwerdelosigkeit“ bzw. als „Zustand schwerer, manifester Krankheit, der sich aufgrund objektiver medizinischer Befunde und der subjektiven Empfindung infolge gravierender Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, krank zu sein, ausdrückt“ (Oppolzer, 2010, S. 176). Zwischen diesen Endpunkten liegen zwei weitere Punkte. Punkt B beschreibt dabei „das Auftreten einer Befindensstörung oder eines Unwohlseins“, während Personen mit einem Zustand im Sinne des Punkts C den Arzt aufsuchen und es somit zu einer Krankschreibung kommen kann. Aus dieser Einteilung wird deutlich, dass Oppolzer zwischen dem objektiven Vorliegen einer Erkrankung und dem subjektiven Empfinden (Kranksein) unterscheidet und somit zwei der drei Dimensionen des mehrdimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuums unter Abschnitt 2.1.2 (Erkrankung bis keine Erkrankung; Beeinträchtigung des Wohlbefindens bis Wohlbefinden) umfasst, die deshalb mit zwei Pfeilen in der Abbildung 3 dargestellt sind. Aus der Einteilung von Oppolzer ergeben sich drei Formen von Absentismus. Die erste Form vom Endpunkt gesund bis Punkt B entspricht dem motivationalen Absentismus. Melden sich Personen krank, obwohl sie gesund sind, handelt es sich laut Oppolzer (2010, S. 176) um „illegitime Kranke“. Zwischen den Punkten B und C handelt es sich um eine „Grauzone relativer Krankheit“. Personen fühlen sich gesundheitlich nicht gut und möchten eine Verschlimmerung ihres Zustands aber vermeiden. Oppolzer (2010, S. 177) bezeichnet diese Personengruppe als „bedingt legitim“ krank, da eine Abwesenheit nicht zwingend notwendig ist. Da es hier vor allem um die subjektive Wahrnehmung der Individuen geht, wird diese Form in dieser Arbeit als subjektiver krankheitsbedingter Absentismus bezeichnet. Objektiver krankheitsbedingter Absentismus umfasst hingegen den Bereich von Punkt C bis zum Endpunkt des Kontinuums krank. Für Oppolzer (2010) sind die Personen mit diesem Gesundheitszustand „behandlungsbedürftig“ (S. 177) krank. Es liegen „objektive medizinische Befunde“ (S. 177) wie subjektive Befindensbeeinträchtigungen vor und die Personen benötigen ärztliche Hilfe.

3.2 Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Absentismus

49

Abbildung 3: Dimensionen des An- und Abwesenheitsverhaltens (eigene Darstellung – Erweiterung der Darstellung von Kastner, 2013, S. 545)

Nachdem die Spalte Abwesend ausführlich beschrieben und die Formen von Absentismus definiert wurden, wird nun die Spalte Anwesend in der Abbildung näher betrachtet. Genau wie Absentismus können auch bei Präsentismus verschiedene Gründe unterschieden werden. So können neben Präsentismus aufgrund eines schlechten Gesundheitszustands auch andere Gründe zu Präsentismus führen. Letzteres wird im Rahmen dieser Arbeit als legitimer Präsentismus bezeichnet und umfasst die von der dritten verhaltensorientierten Definitionsgruppe (vgl. S. 45) vorgeschlagene Erweiterung der Präsentismusdefinition. Hierunter fallen

50

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

somit solche Fälle, bei denen Personen zur Arbeit kommen trotz Gründen, die neben Krankheit eine Abwesenheit legitimiert hätten (z. B. Krankheit des Kindes etc.). Hiervon abzugrenzen ist hingegen krankheitsbedingter Präsentismus, welcher wie sein Gegenspieler krankheitsbedingter Absentismus nochmal in zwei Unterformen unterschieden werden kann (BAuA, 2009). Objektiver krankheitsbedingter Präsentismus beschreibt das Arbeiten trotz eines Gesundheitszustands, der sich auf dem Kontinuum im Bereich von Punkt C bis zum Endpunkt krank befindet. Dies entspricht den verhaltensorientierten Definitionen von Präsentismus, die nur solche Fälle zählen, die eine Krankschreibung legitimiert hätten oder es besser gewesen wäre zuhause zu bleiben (zweite Gruppe, vgl. S. 44). Die allgemeine verhaltensorientierte Definition von Präsentismus, als Verhalten krank zu arbeiten, bezieht dabei sowohl den objektiven als auch subjektiven krankheitsbedingten Präsentismus mit ein. Die produktivitäts- und defizitorientierte Sichtweise wird in der Abbildung durch die dritte Achse berücksichtigt. Die obere horizontale Achse beschreibt ein Kontinuum, auf welchem eine Person keine bis volle Leistung erbringt. An Tagen, an welchen Personen abwesend sind, erbringen sie keine Arbeitsleistung. Personen, die legitimen oder krankheitsbedingten Präsentismus zeigen, können hingegen zu einem gewissen Teil noch ihre Arbeit ausführen, sodass sie im Graubereich zwischen der Erbringung voller und keiner Arbeitsleistung liegen (Miraglia & Johns, 2016). Sind Personen hingegen gesund, erbringen ihre Leistung aber nicht, da sie private Belange erledigen, zeigen sie kontraproduktives Arbeitsverhalten. Diese Form wird im Rahmen dieser Arbeit nicht als Präsentismus aufgefasst, sondern (wie unter Abschnitt 2.2.2) als eine Dimension des Leistungsverhaltens beschrieben. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Betrachtung von krankheitsbedingtem Präsentismus, welcher im Rahmen dieser Arbeit der allgemeinen verhaltensorientierten Definition folgend als das Verhalten, krank zu arbeiten verstanden wird. Diese Definition bietet gegenüber den anderen Definitionen einige Vorteile. (1) Sie ist klar begrenzt. Im Falle von legitimen Präsentismus hingegen bleibt unklar, welche Gründe legitim und somit als Präsentismus zu erfassen sind (Johns, 2010). Hier könnten durchaus subjektive oder auch unternehmenskulturelle Unterschiede bestehen, welcher Grund eine Abwesenheit legitimiert und somit zu Unklarheiten in Bezug auf das Konstrukt führen.

3.2 Begriffsbestimmung und Abgrenzung von Absentismus

51

(2) Sie beschreibt nur das Verhalten ohne eine Wertung vorzunehmen oder mögliche Konsequenzen dieses Verhaltens zu benennen (Hägerbäumer, 2017; Johns, 2010). Denn es ist vielmehr eine empirische Frage, welche Folgen mit dem Verhalten, krank zu arbeiten, einhergehen (Hägerbäumer, 2017). In diesem Zusammenhang kritisiert Johns (2012) vor allem die produktivitäts- und defizitorientierten Definitionen. Diese beinhalten bereits als Teil ihrer Definition, dass mit dem Arbeiten trotz Krankheit Leistungs- und Produktivitätseinbußen einhergehen und konfundieren somit Ursache und Wirkung. Deshalb wird im Rahmen dieser Arbeit eine Veränderung des Leistungsverhaltens oder der Produktivität als eine mögliche Folge von Präsentismus betrachtet, wie es auch im Modell von Johns (2010) abgebildet (vgl. Abschnitt 3.5) wird. (3) Sie nimmt keine Unterscheidung in objektiven und subjektiven krankheitsbedingten Präsentismus vor. Denn die „Beurteilung, wann Präsentismus vorliegt, der so schwerwiegend ist, dass er Beachtung finden sollte“ (Hägerbäumer, 2017, S. 88), ist schwer möglich. So können objektive Befunde durch den Arzt und das subjektive Befinden voneinander abweichen. Vor allem bei psychosomatischen Erkrankungen werden häufig keine oder nur minimale körperliche Befunde festgestellt, Betroffene fühlen sich aber sehr krank. Auf der anderen Seite bedeuten objektiv festgestellte Krankheiten nicht, dass sich die Personen krank fühlen und diese zu krankheitsbedingten Abwesenheiten führen müssen (A. Franke, 2012; Brandenburg & Nieder, 2009). Letztlich muss bei der Beurteilung, ob Präsentismus schwerwiegend und eine Abwesenheit besser gewesen wäre, immer auch die Arbeitssituation miteinbezogen werden (Hägerbäumer, 2017; Johns, 2010). So kann beispielsweise eine Wirbelsäulenverkrümmung bei einer Krankenschwester durch schweres Heben und Tragen zu starken Schmerzen führen, während dies bei einer Lehrerin unbemerkt bleibt (A. Franke, 2012). Dabei sind nicht nur spezielle berufsspezifische Unterschiede, sondern auch individuelle Arbeitsplatzmerkmale wie beispielsweise Handlungsspielräume zu beachten. Es scheint somit sinnvoll, bestimmte Aspekte als Einflussfaktoren oder Moderatoren bei der Untersuchung von Ursachen und Folgen von Präsentismus zu berücksichtigen, sie aber nicht mit in die Konstruktdefinition zu integrieren oder von vornherein auszuschließen.

52

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

(4) Schließlich hat sich diese Definition bereits in der Präsentismusforschung etabliert und wird häufig angewandt (Lohaus & Habermann, 2018a; Miraglia & Johns, 2016; Preisendörfer, 2010). Im Gegensatz zur Definition von Johns (2010, S. 519) als „attending work while ill“ wird im Rahmen dieser Arbeit aber die Formulierung Präsentismus als das Verhalten, krank zu arbeiten gewählt. Denn mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Flexibilisierung (Gerdenitsch, 2017) können Personen auch von zuhause aus arbeiten, sodass sie nicht zur Arbeit gehen müssen. So umfasst die folgende Präsentismusdefinition Personen, die krank arbeiten unabhängig von ihrem Ort (z. B. Homeoffice; vgl. hierzu auch Jung, 2017, S. 56). Als zweite „Seite einer Medaille“ (Jahn, 2014, S. 367) wird im Rahmen dieser Arbeit neben krankheitsbedingtem Präsentismus krankheitsbedingter Absentismus betrachtet, welcher den größten Teil der Fehlzeiten ausmacht (Brandenburg & Nieder, 2009). Aus Gründen der Lesbarkeit wird nun im weiteren Verlauf dieser Arbeit nur noch Präsentismus und Absentismus gesprochen. 3.3

Messung von Präsentismus

In den vorherigen Abschnitten wurde deutlich, dass eine Vielzahl an verschiedenen Definitionen und unterschiedlichen Sichtweisen (vgl. Abschnitt 3.1) von Präsentismus vorliegt, welche sich auch in der Erfassung von Präsentismus widerspiegelt (Çetin, 2016; Jung, 2017). So unterscheiden sich die Messinstrumente der beiden Hauptforschungsstränge – Präsentismus als Leistungs- und / oder Produktivitätseinbußen aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung und Präsentismus als Verhalten – grundlegend voneinander. Der folgende Abschnitt begrenzt sich allerdings auf die Darstellung der Messinstrumente, die Präsentismus als Verhalten erfassen, da dies auch der Arbeitsdefinition in dieser Arbeit entspricht. Für eine umfassende Beschreibung der Messinstrumente, die Präsentismus als Produktivitätsverlust verstehen, wird auf die Überblicksarbeiten von Steinke und Badura (2011), Tang (2015) oder Ospina, Dennett, Waye, Jacobs und Thompson (2015) verwiesen. Innerhalb des Verhaltensstrangs werden wenig validierte Messinstrumente verwendet. Präsentismus wird meist mittels Einzelitems erfasst, die in ihren Formulierungen leicht voneinander abweichen und dabei die Heterogenität der

3.3 Messung von Präsentismus

53

Definitionen innerhalb des Strangs widerspiegeln (Hägerbäumer, 2017; Jung, 2017). Um einen Überblick zu erhalten, wie Präsentismus aktuell erfasst wird und welche Messung am häufigsten verwendet wird, wurden vor allem aktuelle Studien in Bezug auf ihre Messung von Präsentismus kategorisiert. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Es lassen sich inhaltlich fünf Arten der Messung unterscheiden: (1) Einzelitems, die krankheitsbedingten Präsentismus ohne eine Wertung oder unter Einschluss von Ursachen und Konsequenzen erfassen. Es werden allerdings zum Teil leicht unterschiedliche Formulierungen verwendet, was darauf schließen lässt, dass sich noch keine spezifische Formulierung etabliert hat. (2) Einzelitems, die krankheitsbedingten Präsentismus erfassen, der eine Abwesenheit legitimiert hätte und somit die Dysfunktionalität von Präsentismus betonen. Um die Legitimität der Abwesenheit abzubilden, bedienen sich Autoren, die Befragungen im Gesundheitssektor durchführen, beispielsweise des Zusatzes, einem Patienten zu empfehlen, zuhause zu bleiben. In Bezug auf die Formulierung orientieren sich die meisten Einzelitems an der Frage von Aronsson et al. (2000), sodass dieses als Standard-Item für diese Art der Messung identifiziert werden kann. (3) Multi-Item Skalen, die vor allem die Schwere der Erkrankung abbilden und hauptsächlich im deutschsprachigen Raum Verwendung finden. Hierbei wird aktuell vor allem die validierte Skala von Hägerbäumer (2017) verwendet. Die basierend auf einer Literaturrecherche und qualitativen Interviews entstandene Skala bildet durch die Verwendung mehrerer Items auch den „Leidensdruck bzw. das Ausmaß der Symptome“, das Arbeiten gegen den Rat des Arztes und die Einnahme von Medikamenten mit ab (Hägerbäumer, 2017, S. 116). Im Rahmen ihrer Dissertation hat die Autorin die Skala ausführlich getestet. Dabei zeigte sich nach Eliminierung eines Items eine gute interne Validität (αStudie1 = .898; αStudie2

54

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung = .885) 22. Hinweise für eine gute Konstruktvalidität geben zudem die bestätigte Eindimensionalität sowie die signifikanten Zusammenhänge mit den Ursachen und Konsequenzen von Präsentismus, die fast alle, wie erwartet, bestätigt werden konnten. Dabei zeigten sich, wie von der Autorin vermutet, stärkere Zusammenhänge mit persönlichkeitsbezogenen Variablen als mit gesundheitsbezogenen Variablen. Der Zusammenhang mit der Einzelitem-Messung von Präsentismus war hingegen eher moderat (r = .494, p < .01) und die Modellgüte der konfirmatorischen Faktorenanalysen an der Grenze zu akzeptabel (Studie 1: χ² (df) = 42.358 (9), p < .001, RMSEA = .142, CFI = .951; Studie 2: χ² (df) = 56.074 (9), p < .001, RMSEA = .099, CFI = .972; Studie 3 mit zwei Messzeitpunkten: χ² (df) = 13.618 (9), p = .137, RMSEA = .056, CFI = .993, χ² (df) = 29.717 (9), p < .001, RMSEA = .118, CFI = .948). Insgesamt stellt die Skala aber ein ausführlich getestetes und valides Messinstrument von Präsentismus dar, welches auch über die Zeit (r = .61) eine gewisse Stabilität besitzt (Hägerbäumer, 2017). (4) Einzelitems, die neben krankheitsbedingtem Präsentismus auch anderweitige Gründe, die eine Abwesenheit legitimiert hätten, erfassen. (5) Messinstrumente, die vor allem den gefühlten Druck, trotz Krankheit zu arbeiten, betonen. Dieser Aspekt wird in der Messung mit zwei Items in den Studien von Lu und Kollegen erfasst, die Präsentismus auch im asiatischen Kulturkreis untersuchten (Lu, Cooper & Lin, 2013; Lu, Lin et al., 2013).

Insgesamt wird deutlich, dass sich bei der Messung von Präsentismus ähnliche Schwierigkeiten ergeben wie bei der Begriffsbestimmung (vgl. Abschnitt 3.2). Die Messungen unterscheiden sich allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der betrachteten Zeiträume und ihres Antwortformats. In Bezug auf die Zeiträume erfragen die meisten Items die Häufigkeit von Präsentismus oder die Anzahl an Tagen retrospektiv für die letzten 12 oder auch sechs Monate. In wenigen Fällen ist der betrachtete Zeitraum aber auch geringer (beispielsweise 22

In Einklang mit den Richtlinien zur Manuskriptgestaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (2016) werden Dezimalzahlen durch einen Punkt getrennt, sowie die führende Null bei Korrelationen, standardisierten Regressionskoeffizienten, Reliabilitäten und Signifikanzniveaus weggelassen.

3.3 Messung von Präsentismus

55

Collins, Cartwright & Cowlishaw, 2018; Dhaini et al., 2016; Strasser et al., 2017). Ein Problem der retrospektiven Messung liegt vor allem in den langen Zeiträumen von über einem halben Jahr, für welche die Erinnerungen der Individuen abgerufen werden sollen. Hierbei sind Verzerrungen durch fehlende Erinnerungen der Individuen denkbar (Johns, 2011; Skagen & Collins, 2016). Im Gegensatz zu Absentismusfällen, bei denen sich Mitarbeiter bei ihrem Arbeitgeber abmelden, dies dokumentiert wird und dies ggf. bei bestimmten Häufigkeitsüberschreitungen sogar zu Gesprächen mit der Führungskraft oder der Personalabteilung führt, wird das Arbeiten trotz Krankheit weder dokumentiert, noch mitgeteilt, sodass das Erinnern ggf. schwieriger ist. Die langen retrospektiven Zeiträume gehen aber auch mit methodischen Schwierigkeiten bei der Untersuchung von Ursachen und Konsequenzen einher. Vor allem bei Querschnittsstudien wird hierdurch die interne Validität gefährdet. Werden die Einflussfaktoren von Präsentismus zum Zeitpunkt der Befragung erfasst und Präsentismus bezieht sich aber rückwirkend auf die letzten 12 Monate, ist Präsentismus zeitlich seinen Prädiktoren vorgelagert. Dies ist unproblematisch, wenn die Prädiktoren zeitlich stabil sind. Allerdings können Arbeitsstressoren, Ressourcen sowie der Gesundheitszustand innerhalb eines Jahres durchaus schwanken. Für die Untersuchung der Folgen gilt, dass die Wirkung von Präsentismus möglicherweise nicht erkannt wird, wenn Präsentismus nur zu Beginn des Jahres gezeigt wurde, sich der Gesundheitszustand und die Arbeitsleistung nachdem kein Präsentismus mehr ausgeübt wurde, aber wieder normalisieren. Aufgrund der methodischen Schwierigkeiten empfehlen mehrere Forscher Präsentismus häufiger und bezogen auf kürzere Zeitspannen wie Tage oder Wochen abzufragen (Deery et al., 2014; Johns, 2011; Skagen & Collins, 2016; Ulich & Nido, 2014). Erste Hinweise auf mögliche Verzerrungen der retrospektiven Befragung über einen Zeitraum von sechs Monaten bietet die Studie von Strasser et al. (2017). In dieser erhoben die Autoren über einen Zeitraum von drei Wochen Präsentismus retrospektiv bezogen auf die letzte Woche und verglichen dies (hochgerechnet) mit einer Frage in Bezug auf die letzten sechs Monate. Es wurde deutlich, dass sich die Befragten bei der hochgerechneten wöchentlichen Präsentismusfrage häufiger in den Extremkategorien nie oder mehr als fünf Mal befanden. Allerdings betonen die Autoren, dass die drei Wochen auch in einen Zeitraum hoher Arbeitslast fielen und die Ergebnisse vorsichtig zu bewerten seien. So be-

56

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

steht hinsichtlich des Vergleichs verschiedener Zeitrahmen weiterer Forschungsbedarf (Strasser et al., 2017). Collins et al. (2018) weisen zudem daraufhin, dass der „optimale“ Erinnerungszeitraum (recall period) noch unbekannt ist. Zusätzlich zu den verschiedenen Zeiträumen werden auch unterschiedliche Antwortformate verwendet. So erfassen einige Autoren die Häufigkeit und andere die Dauer bzw. die Gesamtzahl an Tagen, an denen Personen krank arbeiteten. Zur Erfassung der Häufigkeit werden in der Regel bestimmte Kategorien vorgegeben. So geben beispielsweise Aronsson et al. (2000) vier Antwortmöglichkeiten zur Auswahl: (1) Nein, nie, (2) Ja, einmal, (3) Ja, zwei bis fünf Mal, (4) Ja, mehr als fünf Mal. Die Vorgabe von Antwortkategorien wird allerdings kritisiert, da es mit einem Informationsverlust verbunden ist, statistische Auswertungsmöglichkeiten einschränkt (Skagen & Collins, 2016) und das Antwortverhalten der Befragten beeinflussen kann (Arnold, 2015; Johns, 2011). Die Heterogenität der verwendeten Antwortkategorien und unterschiedliche Dichotomisierungen im Rahmen der Analyse erschweren zudem die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. So werden beispielsweise in einigen Studien Personen erst als Präsentisten aufgefasst, wenn diese mindestens zweimal krank zur Arbeit gegangen sind. Personen, die einmal, aber für eine lange Zeitdauer krank zur Arbeit kommen, werden somit nicht berücksichtigt (Jung, 2017). Generell erfassen mehr Studien die Häufigkeit und weniger die Dauer von Präsentismus, was Arnold (2015) kritisiert, da die Arbeitsproduktivität stärker von der Dauer und weniger von der Häufigkeit abhängt. Neben Arnold sprechen sich auch Skagen und Collins (2016) aufgrund der bereits geschilderten Nachteile der Häufigkeitsmessung für die Erfassung von Präsentismustagen mit einem offenen Antwortfeld aus. Neben der Anzahl der Präsentismustage oder der Erfassung der absoluten Häufigkeiten werden vor allem im deutschsprachigen Raum zudem „vage“ Quantifizierungen verwendet (z. B. nie bis sehr häufig; vgl. Hägerbäumer, 2017). Ein Vorteil ist hierbei, dass es die Auswahl für den Befragten erleichtert, allerdings haben die Befragten aufgrund der vagen Formulierung einen hohen Interpretationsspielraum, wodurch „die Daten nur bedingt für einen Vergleich von Verhaltensweisen“ (Porst, 2011, S. 117) zu gebrauchen sind. So kann eine Person, die häufig krank zur Arbeit geht, allerdings im letzten halben Jahr „nur“ dreimal krank arbeitete, dies als selten bewerten, während eine andere Person es als häufig empfindet.

3.3 Messung von Präsentismus

57

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Erfassung von Präsentismus bisher wenig einheitlich erfolgte. Es unterscheiden sich dabei die Inhalte der Frage, der adressierte Zeitraum sowie das Antwortformat. Hierdurch wird eine Vergleichbarkeit bisheriger Ergebnisse allerdings erschwert. Als ein erster Hinweis der damit einhergehenden Vergleichbarkeitsschwierigkeiten kann die Studie von Çetin (2016) gewertet werden. In dieser werden vier inhaltlich verschiedene Itemformulierungen zu Präsentismus verglichen. Der Autor stellte fest, dass die verschiedenen Items zwar moderat bis hoch korrelierten, allerdings zum Teil ein unterschiedliches Muster an signifikanten Zusammenhängen mit den untersuchten Gründen und Konsequenzen aufwiesen. Die Ergebnisse müssen vor dem Hintergrund methodischer Schwächen allerdings mit Vorsicht betrachtet werden. So beruht die Befragung auf einer recht kleinen Gelegenheitsstichprobe (N= 145), was auch eine Ursache für die vielen nicht signifikanten Befunde sein kann. Zudem wurden die Skalen im Rahmen der Studie selbstentwickelt, sodass zunächst weitere Validierungsschritte für die Skalen zu den Ursachen und Konsequenzen von Präsentismus erforderlich sind. Trotz der methodischen Einschränkungen hebt die Studie hervor, dass ein einheitliches Verständnis zur Operationalisierung, zum zeitlichen Rahmen und dem Antwortformat zur Sicherung der Erkenntnisse notwendig ist. Hierfür ist es hilfreich, die Unterschiede hinsichtlich verschiedener Formulierungen, Zeitrahmen und Antwortformaten zu verstehen, damit sich zukünftig Forscher bewusst entscheiden können. Basierend auf dem bisherigen Kenntnisstand lassen sich allerdings schon einige Empfehlungen ableiten. Aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass vor allem die ersten beiden Arten der Messung international sehr verbreitet sind und sich etabliert haben, während Multi-Item Skalen vor allem im deutschsprachigen Raum verwendet werden. Zudem sollte die Messung gewählt werden, die die Definition des Konstrukts möglichst genau abbildet (Klein & Delery, 2012). Die in dieser Arbeit zugrunde liegende Arbeitsdefinition von Präsentismus als das Verhalten, krank zu arbeiten wird vor allem durch die zuerst beschriebene Art der Messung adäquat erfasst. Dabei ergeben sich bei dieser Einzelitem-Messung dieselben Vorteile, die auch bei der Verwendung der Arbeitsdefinition angeführt wurden (vgl. Abschnitt 3.2)23. Das Item erfasst den subjektiv wahrgenommenen Zustand, krank 23

Andere Autoren kommen zu einer anderen Meinung. So werten Steinke und Badura (2011) diese Art der Messung als zu grob. Ihrer Ansicht nach sollte die Schwere und Form der Erkrankung, wie es in

58

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

zu arbeiten. Es nimmt weder eine Wertung vor, noch schließt es mögliche Ursachen oder Konsequenzen mit ein (Hägerbäumer, 2017; Johns, 2010). Schließlich scheint als Antwortformat die Erfassung der Präsentismustage mittels eines offenen Antwortfeldes von Vorteil zu sein. Zwei wesentliche Kritikpunkte, die alle vorgestellten Messinstrumente in gleicher Weise betreffen, sollen an dieser Stelle noch erwähnt werden. Die Erfassung von Präsentismus ist nicht unabhängig vom individuellen Gesundheitszustand. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit häufiger oder mehr Tage krank zur Arbeit zu gehen, wenn der Gesundheitszustand schlecht ist. Hägerbäumer (2017, S. 117) spricht von einer „ Konfundierung des Verhaltens mit dem Gesundheitszustand“. Sie begegnet dem Problem, indem sie die Antwortoptionen nie bis sehr häufig, mit dem Beisatz „wenn ich krank war“ ergänzt. Allerdings ergeben sich bei dieser Form der Erhebung wieder die Nachteile der vagen Quantifizierung. Gerich (2015) schlägt ein relatives Maß vor, welches er Präsentismusneigung (presenteeism propensity) nennt. Bei diesem wird die Häufigkeit von Präsentismus durch die Häufigkeit von Krankheitsereignissen (Häufigkeit von Absentismus + Präsentismus) geteilt. Die Präsentismusneigung stellt damit die generelle Tendenz dar, sich im Krankheitsfall eher für Präsentismus zu entscheiden. In einer Simulationsstudie kann er überzeugend darstellen, dass die Präsentismusneigung besser geeignet ist als ein Häufigkeitsmaß, die Zusammenhänge zwischen den Ursachen und dem Entscheidungsverhalten für Präsentismus im Krankheitsfall darzustellen. Allerdings führt Gerich (2015) auch Nachteile an, die mit der Präsentismusneigung verbunden sind. Es werden nur Personen betrachtet, die mindestens einmal Präsentismus oder Absentismus zeigen, sodass sich die Stichprobe reduziert. Zudem ist das Maß vor allem für Personen mit wenigen Krankheitsereignissen ungenau. So liegt der Wert bei Personen mit nur einem Absentismus- oder Präsentismusereignis bei null oder eins. Das relative Maß teilt somit Personen, die einmal krank zur Arbeit gehen und ansonsten gesund sind, den gleichen Wert zu wie Personen, die sechs Mal Präsentismus und sechs Mal Absentismus zeigen. Basierend auf den Vor- und Nachteilen der Präsentismusneigung und der leichten Berech-

deutschen Multi-Item Skalen der Fall ist, mit erfasst werden. Wenn sie sich für ein Einzelitem aussprächen, würden sie der Formulierung von Aronsson et al. (2000) folgen (vgl. S. 16).

3.3 Messung von Präsentismus

59

nung scheint es ein gutes Maß bei der Untersuchung der Ursachen von Präsentismus zu sein, welches zusätzlich und als Vergleich zu den Präsentismustagen verwendet werden kann. Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Subjektivität im Rahmen der Präsentismusmessung. Wie bereits in Abschnitt 2.1 beschrieben, sind die Konstrukte Gesundheit und Krankheit immer auch zu einem großen Teil subjektive Empfindung. Dies führt dazu, dass Individuen unter Krankheit etwas anderes verstehen und somit auch unterschiedliche Angaben hinsichtlich Präsentismus machen können (Çetin, 2016; Whysall et al., 2018). Vingård, Alexanderson und Norlund (2004) finden Präsentismus deshalb problematisch. Personen können objektiv krank sein, sich aber nicht in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt fühlen. Diese werden vermutlich auch Präsentismus verneinen. So stellt sich die Frage, was „ausreichend“ krank bedeutet, damit es Präsentismus ist. Im Rahmen einer schriftlichen Befragung mit offenen Antwortkategorien versuchte Çetin (2016) diesen individuellen Bewertungsprozess besser zu verstehen. Befragte gaben an, folgende Kriterien zur Beurteilung ihres Gesundheitszustands im Entscheidungsprozess zwischen Präsentismus und Absentismus zu verwenden: Sie schätzten ein, ob sie den Tag durchhalten können, ob kritische Symptome vorliegen, bezogen die Dauer der Erkrankung, die Einschätzung eines Arztes, Schmerz und Leiden sowie eine mögliche Ansteckungsgefahr in ihre Entscheidung mit ein. Zudem fragten sie sich, was andere in ihrer Situation tun würden. Hieraus wird deutlich, dass neben „objektiven“ Kriterien wie der Meinung des Arztes auch subjektive Befindensmaße berücksichtigt werden, was der Gesundheitsdefinition in dieser Arbeit entspricht. Auch Befragungen der Kollegen oder Führungskräfte sind stark subjektiv. Allerdings ist für diese Auskunftsquellen die Krankheit möglicherweise gar nicht sichtbar und damit beobachtbar (Pichler & Ziebarth, 2017). So stellen Skagen und Collins (2016, S. 174) fest „the subjective nature of (…) [presenteeism] means that studies have to rely on self-reporting“. Schließlich kann noch angeführt werden, dass Individuen scheinbar sehr wohl in der Lage sind ihren Gesundheitszustand einzuschätzen. So zeigt sich sogar eine Einzelitem-Messung zum selbsteingeschätzten Gesundheitszustands als geeigneter Prädiktor Mortalität vorherzusagen und weist einen deutlichen Zusammenhang mit objektiven Gesundheitsmaßen wie Laborwerten auf (Benjamins, Hummer, Eberstein & Nam, 2004; Wu et al., 2013).

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 60

Tabelle 1: Übersicht der Messinstrumente – Verhaltensdefinition

Beschreibung / Definition Art der Messung

Alternativformulierung

Antwortformat

Referenzrahmen

1 Krankheits- Has it happened that you 12 Monate, Coming to work through Ja / Nein, have… bedingter illness or injury, 6 Monate, Anzahl Präsentismus How many times / days have Even though you were ill, Male mit vorohne Wertung you…. Work when you were gegebenen Ka- 3 Monate, tegorien, gone to work despite feeling sick, 4 Wochen, sick? (Angelehnt an Deme- Attend work despite you Anzahl Tage routi et al., 2009, S. 57) were ill, Work in spite of feeling ill and unfit for work

2 Obwohl das Has it happened that you It would have been rea- Anzahl Male 12 Monate, sonable to take sick leave, mit vorgegebeGefühl besteht, have… How many times / days have Should have reported in nen Kategorien6 Monate, sich besser / mit offenem sick, you… hätte krank Feeling sick enough to re- Antwortfeld, 1 Woche melden zu gone to work despite feeling quire you not to come Sollen Anzahl Tage that you really should have work, taken sick leave due to your Should have stayed away Dysfunkdue to your state of state of health? tionaler health, Präsentismus (Angelehnt an Aronsson et al., 2000, S. 960) Despite illness, I am not absent

Referenzen

Arnold, 2015; Demerouti et al., 2009; Collins et al., 2018; Conway et al., 2014; Janssens et al., 2013; Çetin, 2016; Dhaini et al., 2016, Manuel et al., 2017; Nielsen & Daniels, 2016; Schulz et al., 2017; Whysall et al., 2018, DGBIndex, EWCS

Bergström et al. 2009; Deery et al., 2014, Dellve et al, 2014, Gustafsson & Marklund, 2011, Hansen & Andersen, 2009, Taloyan et al., 2012, 2016, Çetin, 2016, Gragnano et al., 2017, Hägerbäumer, 2017, Hirsch et al., 2017; Panari & Simbula, 2016; Pohling et al., 2016; Rigotti et al., 2014; Oldenburg, 2012, Dudenhöffer et al., 2016, Strasser et al., 2017

3

2

Multi-Item Messung mit Schwere der Erkrankung

Dysfunktionaler Präsentismus objektiver krankheitsbedingter Präsentismus

Entgegen der Empfehlung, die man einem Patienten geben würde

Beschreibung / Definition

Ich bin trotz Krankheit am Arbeitsplatz erschienen. Ich habe gearbeitet, obwohl mir mein Arzt davon abgeraten hat. Ich habe trotz schwerer Krankheitssymptome (z. B. Schmerzen, Schüttelfrost, Fieber) gearbeitet. Ich habe trotz Krankheit den vollen Arbeitstag bzw. die volle Schicht gearbeitet. Ich habe aufgrund akuter Beschwerden Medikamente eingenommen, um arbeiten zu können. Obwohl ich krank war, habe ich mich zur Arbeit geschleppt. (Hägerbäumer, 2017, S. 116)

Have you ever gone to work with an illness for which you would have recommended a patient to stay at home? (Gustafsson Sénden et al. 2016, S. 2)

Art der Messung

Alternative deutschsprachige Messung wie von Emmermacher, 2009

Alternativformulierung

Relatives Maß (nie wenn ich krank war, bis sehr häufig wenn ich krank war)

Anzahl Male mit vorgegebenen Kategorien

Relatives Maß (selten bis immer),

Antwortformat

1 Woche

6 Monate,

12 Monate,

12 Monate

Lebenszeit,

Referenzrahmen

Hägerbäumer, 2017; Baeriswyl, Elfering & Berset, 2017, Dietz & Scheel, 2017; Knecht et al., 2017; Krause et al, 2015; Schulthess, 2017; Franke, 2012, Strasser et al., 2017, Gesundheitsmonitor, GKVBefragung

Gustafsson Sendén, Schenck-Gustafsson, Fridner, 2016; Thun & Lovseth, 2016

Referenzen

3.3 Messung von Präsentismus 61

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 62

Beschreibung / Definition Art der Messung

4 Krankheitsbe- How many times (…) did you dingter und le- attend work despite there were things normally compelling gitimer Präsentismus absence? (Cetin, 2016, S. 29) (aus anderen Gründen)

5 Sich zur Arbeit schleppen / zwingen

Alternativformulierung

Antwortformat

Referenzrahmen 6 Monate

12 Monate, How many days did you Anzahl Have you experience … 1. Although you feel sick, you work despite an illness or Male mit 4 Kainjury because you felt tegorien: Nie, 6 Monate still force yourself to go to bis mehr als 5 you had to? (Mazzetti, work. 2. Although you have physical Vignoli, Schaufeli und Mal symptoms such as headache orGuglielmi, 2017, S. 2) backache, you still force yourself to go to work. (Lu et al., 2013 S. 411)

Referenzen

Çetin, 2016

Lu et al., 2013, 2014, Mazzetti, Vignoli, Schaufeli und Guglielmi, 2017

3.4 Prävalenz und Bedeutung 3.4

63

Prävalenz und Bedeutung

Nachdem die verschiedenen Sichtweisen auf das Phänomen, die Messung von Präsentismus und die in dieser Arbeit verwendete Definition vorgestellt wurden, wird nun die Verbreitung sowie die Häufigkeit dieses Verhaltens sowie seine Bedeutung für Unternehmen in Deutschland beschrieben. Die Ausführungen zur Verbreitung und Häufigkeit basieren dabei auf den Ergebnissen einschlägiger und weitgehend repräsentativer Befragungen sowie eigener deskriptiver Auswertungen basierend auf frei verfügbaren Daten des Gesundheitsmonitors aus dem Jahr 2012. 3.4.1

Ergebnisse bisheriger Befragungen

In Deutschland hat es seit Anfang der 2000er Jahre bereits einige repräsentative Befragungen gegeben, die auch das Verhalten, krank zu arbeiten, erfassten und somit Angaben zur Häufigkeit bereitstellen. Im Rahmen dreier bundesweiter, repräsentativer Befragungen von knapp 2000 zufällig ausgewählten gesetzlichen Krankenversicherungsmitgliedern (GKV-Mitglieder) im Alter zwischen 16 bis 65 Jahren gaben im Jahr 2003 71 Prozent, im Jahr 2007 62 Prozent und im Jahr 2009 71 Prozent an „im vergangenen Jahr zur Arbeit gegangen zu sein, obwohl sie sich krank gefühlt haben“ (Schmidt & Schröder, 2010; Zok, 2008a, S. 4). Dabei war der Anteil bei Frauen und bei jüngeren GKV-Mitgliedern und bei Personen mit chronischen Erkrankungen höher als bei Männern, älteren Beschäftigten und solchen ohne chronische Erkrankung. Knapp ein Drittel der Befragten (im Jahr 2003 39.5 Prozent und im Jahr 2007: 33.3 Prozent, im Jahr 2009: 29.9 Prozent) ging sogar gegen ärztlichen Rat zur Arbeit und auch hierbei war der Frauenanteil höher. Bei zwei Befragungen im Rahmen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK im Jahr 2012 wurden auch Fragen zu Präsentismus gestellt. Hierbei handelt es sich um eine repräsentative, schriftliche Befragung, an welcher jeweils knapp unter 1800 Befragte im Alter zwischen 18 und 79 Jahren teilnahmen (GfK Health Care, 2012, GfK Health Care, 2013b). In der Frühjahrsbefragung waren davon 797 Personen mindestens 15 Stunden beschäftigt (Auszubildende und stundenweise Beschäftigte wurden nicht berücksichtigt) und zwischen 18 und 65 Jahre alt. 67 Prozent der Befragten gaben an, mindestens einmal zur Arbeit gegangen zu sein, obwohl Sie sich richtig krank gefühlt haben. 38 Prozent davon gingen sogar zweimal oder öfters krank zur Arbeit (vgl. auch

64

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Schnee & Vogt, 201324). Darüber hinaus gingen knapp 25 Prozent der Befragten mindestens einmal gegen den Rat des Arztes zur Arbeit. In der zweiten Befragung im Zeitraum November bis Dezember 2012, bei welcher 776 Voll- oder Teilzeitbeschäftigte im Alter zwischen 18 und 65 Jahren teilnahmen, war der Anteil der Präsentisten sogar höher. Allerdings wurde Präsentismus hier auch anders gemessen. So gaben 82 Prozent der Beschäftigten an, in den vergangen 12 Monaten selten, manchmal oder oft zur Arbeit gegangen zu sein, „obwohl Sie eigentlich krank waren / sich krank fühlten“ (GfK Health Care, 2013a, S. 5). Nur 18 Prozent gaben an, dies nie zu tun. Bei beiden Befragungen zeigte sich, dass Frauen häufiger angeben, krank zur Arbeit zu kommen als Männer (vgl. hierzu die Darstellung der Ergebnisse im Anhang). Bei einer bundesweit repräsentativen Telefonbefragung, beauftragt durch das Institut DGB-Index Gute Arbeit, im Jahr 2015 berichteten 68 Prozent der 4691 zufällig ausgewählten Beschäftigten, dass sie in den letzten 12 Monaten mindestens einen Tag zur Arbeit gekommen sind, „obwohl sie sich richtig krank gefühlt haben“ (DGB-Index Gute Arbeit, 2016, S. 2). Insgesamt arbeiteten sie durchschnittlich 12.1 Tage trotz des Gefühls krank zu sein, 47 Prozent der Befragten arbeiteten eine Woche oder mehr.25 Dabei zeigte sich auch bei dieser Untersuchung, dass Frauen generell häufiger von Präsentismus berichten als Männer. Zudem lagen Altersunterschiede vor. Hierbei lag der Präsentismusanteil der Beschäftigten unter 25 als auch über 56 Jahren unter dem Anteil der Gesamtbeschäftigten. Bei der älteren Gruppe zeigte sich aber, dass sie, wenn sie krank zur Arbeit gingen, durchschnittlich mehr Tage (20.2 Tage) krank arbeiteten. Bei den bisher beschriebenen Befragungen wurden unterschiedliche Erhebungsformen gewählt (Häufigkeiten sowie die Anzahl an Tagen), was einen direkten Vergleich erschwert. Eine repräsentative Befragung, die sowohl nach der

24

Die Studie von Schnee & Vogt (2013, S. 106) basiert auch auf den Daten des Gesundheitsmonitors und auch sie berichten von 38 Prozent der Befragten, die mindestens zweimal krank zur Arbeit gingen. 25 Diese Ergebnisse konnten in der Befragungswelle 2017 annähernd bestätigt werden, wie einer aktuellen Meldung der Website zu entnehmen ist (Meldung vom 18.02.2018: http://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++d638e0f8-154f-11e8-ad9b-52540088cada): 67 Prozent berichteten von mindestens einem Präsentismustag in den letzten 12 Monaten und 46 Prozent arbeitete mehr als eine Woche trotz Krankheit.

3.4 Prävalenz und Bedeutung

65

Häufigkeit als auch der Anzahl an Tagen von Präsentismus gefragt hat, ist die Erwerbstätigenbefragung des Berufsinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Diese richtete sich an erwerbstätige Personen ab 15 Jahren mit einer Tätigkeit von mindestens zehn Wochenarbeitsstunden und fand im Oktober 2011 bis März 2012 statt (LohmannHaislah, 2012). Von den 20.036 Befragten gaben rund 57 Prozent an, im letzten Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein. 36 Prozent der Befragten berichteten sowohl mindestens einmal von Präsentismus und krankheitsbedingten Absentismus im letzten Jahr. Durchschnittlich zeigten sie 3.7-mal Präsentismus mit durchschnittlich 11.5 Arbeitstagen insgesamt, während sie 1.8-mal bei Krankheit zuhause blieben, durchschnittlich 17.4 Arbeitstage im Jahr. Im Gegensatz zu den bisherigen Befragungsergebnissen zeigten sich allerdings keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. In Bezug auf das Alter deuteten die Ergebnisse daraufhin, dass Beschäftigte mit zunehmenden Alter mehr Tage krank arbeiteten, allerdings nahm „der Anteil der Beschäftigten, der nie krank zur Arbeit geht“ zu (Oldenburg, 2012, S. 137). Letzteres entspricht den Ergebnissen der Erhebungen der GKV-Mitglieder, da Präsentismus in diesen Befragungen mit einer Ja / NeinFrage erhoben wurde. Ebenfalls in Übereinstimmung mit den zuvor berichteten Ergebnissen zeigte sich, dass Personen, die von mehr gesundheitlichen Beschwerden berichteten auch häufiger und länger krank zur Arbeit kamen. Präsentismus kommt allerdings nicht nur in Deutschland vor, sondern wird auch in anderen Ländern beobachtet. Lohaus und Habermann (2018a) verglichen den in Studien genannten Präsentismusanteil aus verschiedenen Ländern (hauptsächlich in Europa und in den Vereinigten Staaten) und fanden Angaben von 30 bis 90 Prozent der Beschäftigten, die Präsentismus zeigen. Diese starken Unterschiede liegen aber unter anderem auch daran, dass die Studien unterschiedliche Messinstrumente verwenden und auf verschiedenen nicht repräsentativen Stichproben basieren. Im Rahmen europäischer Erhebungen von Eurofound (basierend auf den European Working Conditions Surveys – EWCS) zeigen sich allerdings auch länderspezifische Unterschiede. Bei der fünften Befragung im Jahr 2010 von knapp 44 000 Erwerbstätigen aus 34 Ländern berichteten 41 Prozent der männlichen und 45 Prozent der weiblichen Befragten, dass sie in den letzten 12 Monaten mindestens einen Tag krank arbeiteten. Bezogen auf Angaben beider Geschlechter war die Prävalenz von Präsentismus in Montenegro, Slowenien, Malta, Dänemark und Schweden mit über 50 Prozent am höchsten, in Italien, Portugal,

66

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Polen und Bulgarien mit unter 25 Prozent am niedrigsten. Die durchschnittliche Anzahl an Präsentismustagen betrug 3.1 Tage bezogen auf die Gesamtstichprobe. Im Vergleich dazu gaben 40 Prozent der Befragten aus allen europäischen Ländern an, krankheitsbedingt mit durchschnittlich fünf Tagen pro Jahr gefehlt zu haben (Eurofound, 2012 vgl. auch Arnold, 201526). Bei der sechsten Erhebung von Eurofound im Jahr 2015 sind die Angaben relativ ähnlich. 44 Prozent der Frauen und 41 Prozent der Männer berichteten mindestens einmal Präsentismus im vergangenen Jahr gezeigt zu haben. Im Ländervergleich war die Prävalenz von Präsentismus im Jahr 2015 vor allem in Malta, Dänemark und Frankreich sehr hoch, während sie in Portugal, Bulgarien und Polen sehr niedrig war. Deutschland liegt im Ländervergleich in der Mitte (Eurofound, 2017), wobei im Rahmen des EWCS mit unter 40 Prozent deutlich geringere Werte berichtet werden als in den repräsentativen deutschen Erhebungen (Eurofound, 2012). Tabelle 2 fasst die Ergebnisse der verschiedenen Studien noch einmal zusammen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass knapp die Hälfte bis zu zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland mindestens einmal pro Jahr krank zur Arbeit gehen und sie dies durchschnittlich 12 Tage im Jahr tun. Dabei scheint ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland sogar gegen den Rat des Arztes krank zur Arbeit zu gehen. Personen mit vorliegenden Erkrankungen oder Beschwerden arbeiten dabei häufiger und länger trotz Krankheit. Ob Geschlechts- oder Altersunterschiede vorliegen, scheint abhängig von der Messung von Präsentismus zu sein und ist somit nicht eindeutig.

26

Die Studie von Arnold (2015) basiert auf den EWCS-Daten des Jahres 2010. Dort wurden etwas geringere Zahlen berichtet, da der Autor die Stichprobe etwas einschränkte und Personen mit einer sehr hohen Anzahl an Präsentismustagen nicht berücksichtigte. So gaben laut seiner Studie durchschnittlich 35 Prozent an, mindestens einen Tag krank zur Arbeit gegangen zu sein mit durchschnittlich 2.4 Tagen.

3.4 Prävalenz und Bedeutung

67

Tabelle 2: Prävalenz von Präsentismus Anteil Gegen Rat des Arztes

Tage

Jahr

N

Anteil Mind. 1 Mal

2003

1986

71 %

40 %

-

2007

2000

62 %

33 %

-

2009

2000

71 %

30 %

-

2012

797

67 %

25 %

-

2012

776

82 %

-

-

BIBB/BAu A Erwerbstätigen-befragung

2012

20036

57 %

-

11.5

DBG-Index Gute Arbeit

2015

4691

68 %

-

12.1

2010

43 816

-

3.1

2015

43 850

-

-

Befragung

GKVMitgliederbefragung

Gesundheitsmonitor

European Working Conditions Survey (EWCS)

41 % 45 % 41 % 44 %

Messung Ist es im letzten Jahr vorgekommen, dass Sie… zur Arbeit gegangen sind, obwohl sie sich richtig krank gefühlt haben? Ihrer Arbeit nachgegangen sind, obwohl der Arzt Ihnen davon abgeraten hat? (Ja, Nein) Wie oft ist es bei Ihnen in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Sie … zur Arbeit gegangen sind, obwohl Sie sich richtig krank gefühlt haben? gegen den Rat des Arztes Ihrer Arbeit nachgegangen sind? (keinmal, einmal, zweimal oder öfter) Wie oft sind Sie in den vergangenen 12 Monaten zur Arbeit gegangen, obwohl Sie eigentlich krank waren / sich krank fühlten? (Oft, Manchmal, Selten, Nie) Sind Sie in den letzten 12 Monaten zur Arbeit gegangen, obwohl Sie sich aufgrund Ihres Gesundheitszustandes besser hätten krank melden sollen? (Ja, Nein) Wie viele Male waren das? Wie viele Arbeitstage waren das insgesamt? An wie vielen Tagen ist es bei Ihnen in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Sie gearbeitet haben, obwohl Sie sich richtig krank gefühlt haben? Haben Sie in den vergangenen 12 Monaten gearbeitet, wenn Sie krank waren? (Ja, Nein, Ich war nicht krank) An wie vielen Arbeitstagen?

Anmerkungen. Das Jahr bezieht sich auf den Erhebungszeitpunkt der Daten. N = Größe der Stichprobe.

68

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Insgesamt wird deutlich, dass neben dem Krankheitsstand auch Präsentismus als Indikator für die Gesundheit Berücksichtigung finden sollte, denn Präsentismus „ist kein Randphänomen, sondern tritt mindestens ebenso häufig auf wie Absentismus“ (Oldenburg, 2012). Eine alleinige Betrachtung des Krankenstands kann sogar zu Fehlschlüssen führen. Der Krankenstand in Deutschland erreichte 2007 seinen Tiefstand (vgl. Abbildung 4), allerdings berichteten über 60 Prozent der Befragten krank zur Arbeit gegangen zu sein, was nicht auf einen besseren Gesundheitszustand, sondern ggf. nur auf ein verändertes Verhalten bei Krankheit hindeutet (Zok, 2008b). Tage 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

0,0

Abbildung 4: Entwicklung des Krankenstands basierend auf Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung27 (eigene Darstellung)

3.4.2

Bedeutung aus Unternehmens- und arbeitsrechtlicher Perspektive

Nachdem Verbreitung und Häufigkeit des Verhaltens, krank zu arbeiten, beschrieben wurden, widmet sich dieser Abschnitt der Bedeutung von Präsentismus aus Unternehmens- und arbeitsrechtlicher Sicht.

27

Online abgerufen von: https://www.iab.de/de/daten.aspx, Stand 13.03.2018.

3.4 Prävalenz und Bedeutung

69

Trotz der Prävalenz wird Präsentismus als Indikator in Unternehmen bisher nur selten erfasst. Die bisher geringe systematische Erfassung von Präsentismus wird auch im Rahmen der Doktorarbeit von Thomas Jung (2017) bestätigt. Er führte im November 2013 eine schriftliche Befragung mit geschlossenen und teilweise offenen Fragen zur Bedeutung und Relevanz des Themas Präsentismus für Unternehmen durch, an welcher 125 Unternehmen teilnahmen. Jung befragte dabei vor allem Unternehmen, die bereits aktiv betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) oder betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) betrieben. Im Rahmen der Befragung gaben knapp 97 Prozent dieser Unternehmen an, systematisch Fehlzeiten zu erfassen und zu analysieren, aber nur acht Prozent, das „Erscheinen erkrankter Mitarbeiter am Arbeitsplatz“ (S. 251) zu erheben. Das Verständnis von Präsentismus aus Unternehmenssicht entsprach dabei weitestgehend dem Forschungsverständnis mit den zwei Hauptsträngen. So verstanden knapp 40 Prozent Präsentismus als Verhalten trotz Krankheit zu arbeiten, während 47 Prozent Präsentismus als Produktivitätsverluste ansahen. Vier Prozent der befragten Unternehmen war der Begriff allerdings unbekannt. Relativ einig (knapp 90 Prozent) waren sich die Unternehmen darin, dass Präsentismus „ein Problem ist, das es zu lösen beziehungsweise zu verhindern gilt“ (Jung, 2017, S. 251). So gaben auch 62 Prozent an, Präsentismus bei ihren strategischen und operativen Überlegungen oder im Rahmen von BGM-Maßnahmen zu berücksichtigen. Über ein Drittel der Unternehmen berücksichtigte es hingegen nicht. Die Befragten sahen Präsentismus nicht als ein existenzbedrohendes Problem, sowohl die Anwesenheit trotz Krankheit nicht, als auch die damit einhergehenden Produktivitätsverluste oder Verluste aus anderweitigen Gründen. Für den Umgang mit Präsentismus sahen die Befragten vor allem die Führungskraft in der Pflicht. Knapp 75 Prozent der Unternehmen schulte ihre Führungskräfte dementsprechend für den Umgang mit kranken und leistungsgeminderten Mitarbeitern, verbindliche Regeln oder Anweisungen bestanden aber nur bei 38 Prozent der Unternehmen. Insgesamt lässt sich auf Basis der Befragung festhalten, dass der Großteil der Unternehmen das Phänomen kennt und als handhabbare Führungsaufgabe wahrnimmt. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich die befragten Unternehmen aktiv mit der Gesundheit der Beschäftigten befassten und betriebliches Gesundheitsmanagement betrieben. Vor diesem Hintergrund deuten der geringe Anteil der systematischen Erfassung von Präsentismus und die fehlende Berücksichtigung bei einem Drittel der Befragten darauf hin, dass Präsentismus im Vergleich zu Absentismus

70

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

als Indikator in Unternehmen bisher noch vernachlässigt wird. Eine Vernachlässigung von Präsentismus ist aber durchaus kritisch zu sehen. So merkt Oldenburg (2012, S. 141) an, dass „Unternehmen und die Politik auf einem Gesundheitsauge blind“ bleiben, wenn sie nur krankheitsbedingten Absentismus betrachten. Auch aus arbeitsrechtlicher Perspektive lässt sich argumentieren, dass Arbeitgeber im Sinne ihrer Fürsorgepflicht Präsentismus in bestimmten Fällen nicht ignorieren sollten (Olbert, 2005). Grundsätzlich gilt aber zunächst, dass das Vorliegen einer Krankheit dem Arbeitnehmer noch nicht ermöglicht, der Arbeit fern zu bleiben und weiterhin Gehalt im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFzG) zu erhalten (Hromadka & Maschmann, 2015). Somit kann das Arbeiten trotz Krankheit arbeitsrechtlich durchaus verlangt werden. Eine berechtigte Abwesenheit, mit welcher auch eine Entgeltfortzahlung einhergeht, besteht allerdings, wenn Arbeitsunfähigkeit vorliegt28. Arbeitsunfähig bedeutet, dass „der Arbeitnehmer objektiv außerstande ist, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr aufnehmen oder fortsetzen könnte, dass sich sein Gesundheitszustand in absehbar naher Zeit verschlimmert. Arbeitsunfähig krank ist ferner, wer wegen der Ansteckungsgefahr für Dritte nicht weiterarbeiten darf“ (Hromadka & Maschmann, 2015, S. 327). Somit gilt, dass auch eine Schonung zur Vermeidung einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes und eine mögliche Ansteckung eine Abwesenheit von der Arbeit rechtfertigt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Krankschreibung durch einen Arzt ein „Beschäftigungsverbot“ für den Arbeitnehmer darstellt. Der Arbeitnehmer kann selbst entscheiden, ob er trotz der Erkrankung arbeiten möchte. In bestimmten Fällen muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer allerdings von der Arbeit abhalten und seiner Fürsorgepflicht, den Arbeitnehmer vor arbeitsbedingten Gefahren für seine Gesundheit oder sein Leben zu schützen, nachkommen. Olbert (2005) führt hierfür zwei Beispiele an. Im ersten Fall sollte der Arbeitgeber den Mitarbeiter nicht arbeiten lassen, wenn er erkennt, dass dieser andere Personen wie Arbeitskollegen oder Kunden anstecken und damit gefährden 28

Für einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung müssen zudem weitere Kriterien eingehalten werden. So ist es erforderlich, dass die Krankheit die „alleinige Ursache für die Arbeitsunfähigkeit“ ist, der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat, kein „Rechtsmissbrauch“ vorliegt und das Arbeitsverhältnis mindestens vier Wochen besteht. Für tiefergehende Ausführungen siehe Hromadka und Maschmann (2015, 326-330) oder Borchert (2010, S. 100-102).

3.5 Ursachen von Präsentismus

71

könnte. Als Beispiel für den zweiten Fall beschreibt er einen Arbeitnehmer, der aufgrund von Fieber „Schwächeanfalle oder auffallende Fehlleistungen erbringt“ (S. 532). Der Arbeitnehmer ist also deutlich arbeitsunfähig. Dies ist sowohl für den Arbeitgeber als auch den Mitarbeiter ersichtlich, aber der Mitarbeiter möchte trotzdem arbeiten. Auch in diesem Fall sollte der Arbeitgeber seinen Mitarbeiter also nicht arbeiten lassen. Bestehen auf Seiten des Arbeitgebers Zweifel, sollte dieser den Arbeitnehmer auffordern, zum Arzt zu gehen (Jung, 2017; Olbert, 2005). Somit wird deutlich, dass sich Unternehmen auch aus arbeitsrechtlicher Sicht mit dem Thema Präsentismus beschäftigen sollten. Denn verletzt der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht, können sich hieraus Schadenersatzansprüche für die Arbeitnehmer ergeben (Borchert, 2010). 3.5

Ursachen von Präsentismus

Damit Unternehmen aber entsprechend mit Präsentismus umgehen können, müssen sie wissen, warum Mitarbeiter krank zur Arbeit kommen. Präsentismus wird, genau wie Absentismus, von einer Vielzahl an Faktoren determiniert. Für Absentismus deckten Steers und Rhodes in ihren Überblicksarbeiten 209 bereits untersuchte Einflussfaktoren auf. Zudem bestehen in der Absentismusforschung eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien und Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen, die erklären, wie krankheitsbedingter Absentismus zustande kommt. Sie verstehen Absentismus als ein Fluchtverhalten von negativen Arbeitserlebnissen („pain-avoidance models“), als Anpassung an die Arbeitsbedingungen sowie im Rahmen von Sozialisationsprozessen („adjustment-to-work models“) oder als eine Form des Entscheidungsverhaltens („decision models“; Rhodes & Steers, 1990, S. 34). Darüber hinaus bestehen auch Modelle, die die verschiedenen theoretischen Ansätze integrieren. Die Präsentismusforschung hingegen war zu Beginn wenig theoriegeleitet (Johns, 2010). Inzwischen werden aber zunehmend vorhandene Theorien aus anderen Forschungsbereichen auf die Fragestellungen der einzelnen Studien übertragen (z. B. Stress- oder Motivationstheorien). Darüber hinaus existieren einige originär auf Präsentismus bezogene Modelle (Lohaus & Habermann, 2018a), die zum Teil Ergebnisse der Absentismusforschung mitberücksichtigen und erklären, weshalb Personen krank zu Arbeit kommen (beispiels-

72

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

weise das dynamische Modell von Johns, 2010, vgl. Abbildung 5). Der Fokus dieses Abschnitts liegt auf der Darstellung der aktuellen Präsentismusliteratur.29 Es wird zunächst kurz auf einige bekannte Modelle zur Erklärung von Präsentismus eingegangen, bevor im Anschluss der aktuelle Forschungsstand zu den Ursachen zusammengefasst wird. Die originär auf Präsentismus bezogenen Modelle sind alle sehr ähnlich aufgebaut und betrachten den Entscheidungsprozess. Sie sehen das Krankheitsereignis als auslösenden Faktor, der zu der Entscheidung zwischen Absentismus und Präsentismus führt. Der schlechte Gesundheitszustand bzw. die Krankheit ist somit eine Voraussetzung, um überhaupt (krankheitsbedingten) Absentismus und Präsentismus zeigen zu können. Die Entscheidung für Präsentismus anstatt Absentismus ist abhängig von weiteren Einflussfaktoren. Meist werden diese in personenbezogene und arbeitsbezogene Faktoren eingeteilt (Aronsson & Gustafsson, 2005; Hägerbäumer, 2017; Johansson & Lundberg, 2004; Johns, 2010). Aronsson und Gustafsson (2005) beispielsweise entwickelten eins der ersten Modelle basierend auf ihren Forschungsergebnissen aus den Jahren 2000 und 2005. Das Krankheitsereignis bzw. ein schlechter Gesundheitszustand stellt dabei die wichtigste direkte Determinante dar, die dazu führt, dass Personen zwischen den beiden Alternativen, Präsentismus oder Absentismus, entscheiden müssen. Bei einem gegebenen Gesundheitszustand können aber weitere Faktoren die Entscheidung für Präsentismus erhöhen oder verringern. Als personenbezogene Faktoren nennen die Autoren Schwierigkeiten, Nein zu sagen, und finanzielle Probleme, während geringe Ersetzbarkeit, geringe Ressourcenausstattung, in Konflikt stehende Arbeitsanforderungen oder Zeitdruck arbeitsbezogene Faktoren darstellen, die die Wahrscheinlichkeit von Präsentismus erhöhen. Neben den Ursachen greifen sie in ihrem Modell auch gesundheitliche Konsequenzen von Absentismus und Präsentismus auf. Sie führen an, dass krankheitsbedingter Absentismus einerseits gesundheitsfördernd sein kann, weil er Erholung ermöglicht. Andererseits können insbesondere langfristige Fehlzeiten den Wiedereinstieg in die Berufstätigkeit erschweren und Personen vom Arbeitsmarkt ausschließen, was auch gesundheitsschädigend sein kann. Somit kann das Arbeiten trotz Krankheit auch funktional

29

Für eine umfassende Darstellung der Ursachen und Modelle von Absentismus wird auf die Überblicksarbeit von Johns (1997) und das dritte Kapitel im Buch von Rhodes und Steers (1990) verwiesen.

3.5 Ursachen von Präsentismus

73

sein. Welche Auswirkung Präsentismus auf die Gesundheit hat, hängt davon ab, welche Arbeitsbedingungen (destruktive oder salutogene) vorherrschen. Das dynamische Modell von Johns (2010) zeigt deutliche inhaltliche Überschneidungen mit dem zuvor beschriebenen Modell. Es ist allerdings umfassender in der Darstellung der Einflussfaktoren und Konsequenzen (Hägerbäumer, 2017; Lohaus & Habermann, 2018a). Dabei wählte Johns (2010) vor allem solche Variablen aus, die er als wesentlich für die Entwicklung einer Präsentismustheorie erachtete und stützte sich zum Teil auf Ergebnisse der Absentismusliteratur (Johns, 2011). Denn basierend auf der Substitutionshypothese lässt sich argumentieren, dass ein Teil der Faktoren, die Absentismus reduzieren, Präsentismus fördern (Caverley, Cunningham & MacGregor, 2007). Den Ausgangspunkt des Modells von Johns (2010) bildet im Unterschied zum Modell von Aronsson und Gustafsson (2005) eine Person, die regelmäßig auf der Arbeit anwesend ist und ihre vollständige Arbeitsleistung erbringt. Diese regelmäßige, produktive Anwesenheit wird durch ein Krankheitsereignis gestört, welches sowohl akut, episodisch oder chronisch sein kann. Die Art der Krankheit beeinflusst allerdings nicht nur die Entscheidung zwischen Präsentismus und Absentismus, sondern kann im Zusammenspiel mit dem Kontext auch den Entscheidungsspielraum der Person stark einschränken. So bestimmt die Heiserkeit bei einem Sänger, dass dieser seine Arbeitsleistung nicht erbringen kann und somit der Arbeit fern bleiben wird. Solange die Krankheit das Arbeiten nicht unmöglich macht, bleibt hingegen ein Entscheidungsspielraum, sodass wiederum arbeitsbezogene und personenbezogene Faktoren die Entscheidung zwischen den beiden Verhaltensalternativen - Absentismus und Präsentismus - beeinflussen können. Als personenbezogene Einflussfaktoren führt Johns die Arbeitseinstellungen, Persönlichkeit, wahrgenommene Gerechtigkeit, Stress, wahrgenommene Legitimität von Absentismus, die Neigung zu einer Krankenrolle, gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugung und das Geschlecht an. Kontextvariablen hingegen sind Arbeitsstressoren, Arbeitsunsicherheit, das Belohnungssystem, die Politik und der Umgang mit Absentismus im Unternehmen, die Kultur bezogen auf Präsentismus und Absentismus, Gruppenarbeit, die Ersetzbarkeit und der Handlungsspielraum. Es wird deutlich, dass eine Vielzahl an unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Entscheidung wirkt und personenbezogene Faktoren mit Kontexteinflüssen zusammenspielen. Neben den Einflussfaktoren werden aber auch die Konsequenzen im Modell berücksichtigt. Hierbei beschränkt sich das Modell nicht nur auf die Folgen für die Gesundheit, sondern auch

74

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

auf die Konsequenzen von Absentismus und Präsentismus für die individuelle Arbeitsproduktivität sowie für „die eigenen und fremden Einstellungen und Interpretationen des gezeigten Fehlzeiten- oder Präsentismus-Verhaltens“ (Jung, 2017, S. 154). Durch die Berücksichtigung der Arbeitsproduktivität als Folge des Verhaltens, krank zur Arbeit zu gehen, gelingt es Johns (2010) die beiden Hauptforschungsstränge von Präsentismus in seinem Modell zu integrieren. Eine weitere Besonderheit des dynamischen Prozessmodells liegt darin, dass es keine statischen Zustände beschreibt, sondern Absentismus und Präsentismus als diskrete Ereignisse verstanden werden, die sich gegenseitig abwechseln und auch beeinflussen können, aber niemals zeitgleich auftreten (Johns, 2010). Wie bereits erwähnt, stellt das Modell eher eine Sammlung wichtiger Einflussvariablen und Konsequenzen von Präsentismus und Absentismus dar, die in einer umfassenden Theorie Berücksichtigung finden sollten. Es erklärt allerdings nicht, „wie die genannten Variablen zusammenwirken und warum Personen sich letztlich für das eine oder andere Verhalten entscheiden“ (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 67). Im Rahmen ihrer Dissertation erweitert Hägerbäumer (2017) das Modell von Johns, indem sie beispielsweise zwischen dem Krankheitsereignis und der Entscheidungsabwägung noch die Wahrnehmung der Krankheitssymptome ergänzt. Somit kommt sie der Forderung von Johns nach, auch die Subjektivität der Gesundheit zu berücksichtigten. Eine grafische Gegenüberstellung der drei Modelle befindet sich in Abbildung 5.

3.5 Ursachen von Präsentismus

75

(in Anlehnung an. Aronsson & Gustafsson, 2005, S.964) Personenbedingte Faktoren: Schwierigkeiten, Nein zu sagen, finanzielle Probleme

Schlechter Gesundheitszustand, Krankheit, Verminderte Kapazität

Entscheidung

Arbeitsbedingte Faktoren: Ersetzbarkeit, Ressourcen-ausstattung, in Konflikt stehende Anforderungen, Kontrolle, Zeitdruck

Krankheits-bedingter Absentismus

Person

• Arbeitseinstellungen • Persönlichkeit • Wahrgenommene Gerechtigkeit • Stress • Geschlecht

Uneingeschränkte Anwesenheit und Engagement

Krankheits-bedingter Präsentismus

• Wahrgenommene Legitimität von Absentismus • Neigung zu einer Krankenrolle • Gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugung

Krankheitsereignis

Präsentismus

• Akut • Episodisch • Chronisch

Absentismus

Kontext • • • •

Arbeitsstressoren Arbeitsunsicherheit Belohnungssystem Absentismuspolitik

• • • •

Absentismus- / Präsentismuskultur Gruppenarbeit Ersetzbarkeit Handlungsspielraum

Rückkehr zur Arbeit Ausschluss vom Arbeitsmarkt Andere Folgen Salutogene Faktoren Effekt auf Gesundheit? Destruktive Faktoren (in Anlehnung an Johns, 2010, S.532)

Individuelle Konsequenzen Produktivität Fremdattribution Selbstattribution Gesundheitliche Abwärtsspirale, Anwesenheit, Beschäftigungsdauer

76

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

(in Anlehnung an Hägerbäumer, 2017, S. 258) Allgemeiner Gesundheitszustand

Beeinträchtigung durch Krankheitssymptome

Befinden und Gesundheits-konzept

Wahrnehmung

Personenbezogene Faktoren

1 2 3 4 5 6

Alter Geschlecht Arbeitsstil Arbeitsethik Persönlichkeit Finanzielle Situation

Konsequenzen

Antizipation beruflicher und persönlicher Konsequenzen

Abwägungsprozess

Präsentismus Absentismus

Soziale Auswirkungen Belohnung vs. Sanktion Leistung/ Produktivität Gesundheit Fehlzeiten Einstellungen Arbeitsverhalten

Arbeitsbezogene Faktoren

z.B Arbeitsanforderungen, Arbeitsorganisation, Ersetzbarkeit, Regulationsmöglichkeiten, Führung, Soziale Beziehungen, Interdependenzen, Work-PrivacyKonflikt, Arbeitsunsicherheit

Merkmale der Organisation Personalpolitik, Fehlzeitenmanagement, Gesundheitsmanagement, Gesundheitskultur

Abbildung 5: Präsentismusmodelle von Aronsson und Gustafsson (2005), Johns (2010) und Hägerbäumer (2017)

Die Entscheidungsmodelle sind komplex und umfassen eine Vielzahl an unterschiedlichen Variablen, die eine empirische Überprüfung des gesamten Modells aber erschweren, weshalb in Studien nur Teilaspekte und einzelne Einflüsse untersucht werden (Jung, 2017). Die Studien sind zum Teil sehr heterogen in Bezug auf die Zusammensetzung der untersuchten Einflüsse, die Stichprobe und die Messung30, wodurch eine „Systematisierung“ erschwert wird (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 80) und zum Teil unterschiedliche empirische Ergebnisse vorliegen. So finden sich beispielsweise Belege für einen positiven, negativen und nicht signifikanten Zusammenhang des Handlungsspielraums und Präsentismus (vgl. beispielsweise Arnold, 2015; Aronsson & Gustafsson, 2005; Biron, Brun, Ivers & Cooper, 2006). Um einen Überblick über die Einflussfaktoren von Präsentismus zu erhalten und „generelle Trends, die über verschiedene Studien hinweg gelten, leichter zu erkennen“ (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 80), werden im Folgenden die 30

Im Folgenden werden nur Studien betrachtet, die die der Arbeit zugrundliegende Definition von Präsentismus als Verhalten verwenden. Ergebnisse zu Präsentismus als Produktivitätsverlust werden separat im Abschnitt zu den Folgen von Präsentismus (vgl. Abschnitt 3.6) behandelt.

3.5 Ursachen von Präsentismus

77

Ergebnisse der ersten Meta-Analysen zu Präsentismus von Miraglia und Johns (2016) vorgestellt. Dabei bildeten 61 Studien, 109 unterschiedliche Stichproben und 175 965 Personen insgesamt die Grundlage für ihre Meta-Analyse, in welcher sie 55 verschiedene Einflussfaktoren von Präsentismus betrachteten. Die Kategorisierung der Einflussfaktoren folgte einerseits der Logik der vorgestellten Entscheidungsmodelle, indem zwischen personenbezogenen und arbeitsbezogenen Faktoren unterschieden wurde. Andererseits stützten Miraglia und Johns (2016) ihre Annahmen auf das JD-R Modell. Sie überprüften nicht nur direkte Effekte der betrachteten Faktoren auf Präsentismus und Absentismus, sondern auch indirekte Effekte über die zwei Hauptwirkungsprozesse des JD-R Modells – den Gesundheits- und den Motivationspfad (vgl. S. 27). Dadurch gelingt es den Autoren, bisherige widersprüchliche Ergebnisse zu erklären. In den folgenden Abschnitten, die der Struktur des JD-R Modells folgend in personenbezogene Faktoren, Arbeitsstressoren und Arbeitsressourcen eingeteilt sind, werden die meta-analytischen Ergebnisse dargestellt und mit Erkenntnissen weiterer Überblicksarbeiten, der MetaAnalyse von McGregor et al. (2017) sowie Primärstudien ergänzt. In Bezug auf die Primärstudien werden insbesondere aktuelle Studien seit 2016 berücksichtigt. Eine Übersicht der Studien und ihrer Ergebnisse befindet sich in Tabelle 45 im Anhang. Im Anschluss an die Beschreibung der direkten Wirkungsbeziehungen werden indirekte Beziehungen und mögliche Vermittlungsvariablen vorgestellt. 3.5.1

Personenbezogene Faktoren

Als personenbezogene Faktoren wurden in der Meta-Analyse unter anderem die demografischen Variablen Geschlecht, Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Bildungsstand erfasst. Dabei kamen Frauen (ρ = .04), jüngere Beschäftigte (Alter: ρ = -.03) und Personen mit einem höheren Bildungsstand (ρ = .02) und einer längeren Betriebszugehörigkeit (ρ = .05) signifikant häufiger krank zur Arbeit. Allerdings waren diese Effekte klein und eher vernachlässigbar. So war der Geschlechtereinfluss für Absentismus in der Meta-Analyse deutlich stärker als für Präsentismus. Als Begründung für den Einfluss von Geschlecht argumentierten die Autoren, dass für Frauen ein erhöhtes Risiko für eine Reihe an chronischen Erkrankungen besteht. Somit ist die Wahrscheinlichkeit für Präsentismus und Absentismus erhöht. Allerdings zeigen Frauen auch eher gesundheitsbewusstes Verhalten und sind häufiger abwesend von der Arbeit als Männer (Miraglia & Johns,

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

2016). Dies erklärt, weshalb der Zusammenhäng zwischen Absentismus und Geschlecht stärker ist als der Zusammenhang zwischen Präsentismus und Geschlecht. Eine weitere Erklärung für den, wenn auch eher geringen, geschlechterspezifischen Unterschied im Präsentismusverhalten geben Gustafsson Sendén, SchenckGustafsson und Fridner (2016) in ihrer Untersuchung von 283 Allgemeinmedizinern in ambulanten Versorgungseinrichtungen in Schweden. So scheinen Frauen stärkere Vereinbarkeitskonflikte zwischen der Arbeit und der Familie wahrzunehmen als Männer, die dann dazu führen, dass sie eher krank zur Arbeit gehen. Auch die Angabe von Gründen für Präsentismus variiert zwischen Männern und Frauen. Frauen gaben signifikant häufiger an, aus Rücksicht auf die Kollegen (nur auf einem Signifikanzniveaus von p < 0.1) und auf die Patienten sowie aufgrund anhäufender Arbeit krank zur Arbeit zu kommen, während Männer keinen monetären Verlust riskieren wollten oder glaubten ihre Arbeit auch trotz Krankheit schaffen zu können. Zusätzlich zu den genannten demografischen Faktoren greifen Steinke und Badura (2011) in ihrer qualitativen Überblicksarbeit oder auch Jung (2017) sowie Lohaus und Habermann (2018a) im Rahmen ihrer Literaturzusammenfassungen noch den Beziehungsstatus bzw. die familiäre Situation als untersuchten Einflussfaktor auf. Hierbei berichteten sie von widersprüchlichen Ergebnissen. Während Zok (2004) Hinweise fand, dass alleinstehende Personen mit mindestens 18 Jahren und ohne Kinder seltener trotz Krankheit arbeiten als Personen in einer Beziehung, berichteten Singles in den Befragungen des Gesundheitsmonitors aus den Jahren 2007 und 2008 oder in der Untersuchung von Arnold (2015) häufiger von Präsentismus. Vogt et al. (2010, S. 193) erklären letzteres Ergebnis damit, dass Alleinstehende ihre Unterstützung im Krankheitsfalls eher auf der Arbeit finden und sie zu Hause „ein erhöhtes Risiko für depressive Verstimmung haben“. In der Untersuchung von Hansen und Andersen (2009) fand sich allerdings kein signifikanter Unterschied zwischen Alleinstehenden und Personen in einer Beziehung. Somit lässt sich schlussfolgern, dass der Beziehungsstatus / Familienstatus wie auch die in der Meta-Analyse beschriebenen demografischen Faktoren31 eher vernachlässigbar sind.

31

Für die Faktoren Geschlecht, Alter und Bildungsstand wurden auch inkonsistente Ergebnisse in den qualitativen Überblicksarbeiten / -kapiteln berichtet (Jung, 2017; Lohaus & Habermann, 2018; Steinke & Badura, 2011).

3.5 Ursachen von Präsentismus

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Neben den demografischen Variablen zeigten sich in der Meta-Analyse auch der Gesundheitszustand und individuelle Einstellungen zur Arbeit sowie die Persönlichkeit als signifikante Prädiktoren von Präsentismus. So stand der generelle Gesundheitszustand (ρ = -.31), wie auch die psychische Gesundheit (ρ = .05) in einem negativen Zusammenhang mit Präsentismus, während Depressionen positiv und signifikant mit Präsentismus (ρ = .20) korrelierten. Die Ergebnisse zeigten allerdings keinen stärkeren Einfluss der psychischen Gesundheit, wie eingangs von den Autoren vermutet wurde (Miraglia & Johns, 2016). Grundsätzlich ist der Einfluss von Gesundheit auf Präsentismus allerdings nicht überraschend, denn Krankheit ist die Voraussetzung, um überhaupt Präsentismus zeigen zu können. Die vorliegenden Zusammenhänge mit der Gesundheit können somit als Hinweise für die Konstruktvalidität betrachtet werden (Miraglia & Johns, 2016). Zusätzlich zum Gesundheitszustand korrelierten zudem wahrgenommener Stress als Beanspruchungsreaktion (ρ = .25) sowie die emotionale Erschöpfung (ρ = .36) als eine Dimension von Burnout in signifikanter Weise mit Präsentismus. Burnout beschreibt dabei „einen besonderen Zustand berufsbezogener chronischer Erschöpfung“ (Nerdinger et al., 2014, S. 563) und lässt sich durch drei Schlüsseldimensionen beschreiben: emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und persönliche Leistungseinbußen. Erstere Dimension, welche sich, wie zuvor beschrieben, als Einflussfaktor für Präsentismus bestätigt hat, zeichnet sich durch eine emotionale Überforderung und aufgebrauchte personelle Ressourcen aus. Depersonalisation meint die „negative, gefühlslose und zynische“ Reaktion anderen gegenüber, während letztgenannte Dimension den Zustand beschreibt, sich selbst als weniger kompetent und produktiv wahrzunehmen, was mit erheblichen Konsequenzen des Selbstwerts einhergeht (Maslach, 1998; Nerdinger et al., 2014, S. 563). Die Ergebnisse zu Stress und emotionaler Erschöpfung deuten darauf hin, dass auch Befindensbeeinträchtigungen Präsentismus erhöhen. Weniger eindeutig als der Einfluss von Gesundheit und Befindensbeeinträchtigungen ist hingegen, ob es bestimmte Krankheiten sind, die mit Präsentismus zusammenhängen. Wieland und Hammes (2010) fanden keinen Hinweis darauf. In ihrer Studie gaben die Befragten „Infektionen bzw. bakterielle Erkrankungen (…), Erkrankungen des Atmungssystems (…), sonstige Erkrankungen (…) und Muskel-Skelett-Erkrankungen“ (Wieland & Hammes, 2010, S. 69) als häufigste Erkrankungen sowohl für Präsentismus als auch für Absentismus an. Somit scheinen dieselben Krankheiten, die Absentismus auslösen, auch zu Präsentismus

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

zu führen. Whysall et al. (2018) bildeten in ihrer Studie mit 316 Mitarbeitern einer großen Organisation aus Großbritannien vier verschiedene Gruppen. Personen, die sowohl Präsentismus als auch Absentismus häufig zeigten, eine Gruppe, die nur wenige Tage Präsentismus und Absentismus zeigte und jeweils zwei Gruppen, bei denen nur eines von beiden hoch, das andere aber niedrig ausgeprägt war. In allen Gruppen wurden alle aufgeführten Krankheiten als mögliche Ursachen genannt. Die Autoren fanden aber signifikante Unterschiede bei den Häufigkeiten der Nennung. So fallen in die Gruppe hohe Absentismus- und Präsentismustage sowie in die Gruppe hohe Absentismus-, aber niedrige Präsentismustage häufiger Personen, die von Stress, Depressionen oder Rückenschmerzen berichteten. In der Gruppe mit hohen Präsentismus- aber niedrigen Absentismustagen sowie in der Gruppe, die beides hoch ausgeprägt hat, wurde häufiger von Nacken- und Schulterschmerzen berichtet. Es scheinen somit möglicherweise leichte Tendenzen vorzuliegen, dass bestimmte Krankheitsformen eher zu einem der vier genannten Verhaltensmuster von Präsentismus und Absentismus führen. Genauere Aussagen hierzu erfordern aber weitere Forschungsbemühungen. Im Hinblick auf die Arbeitsmotivation bzw. die Arbeitseinstellung zeigte sich, dass sowohl die Arbeitszufriedenheit (ρ = .12), affektives Commitment (ρ = .20) und Arbeitsengagement (ρ = .13) signifikante, positive Zusammenhänge mit Präsentismus aufweisen. So sind Personen motiviert trotz Krankheit zu arbeiten, wenn ihnen die Arbeit Spaß macht und sie zur Arbeit kommen wollen (Miraglia & Johns, 2016). In Studien, die Personen nach den Motiven hinter Präsentismus befragen, wird der Spaß an der Arbeit auch häufig als Grund genannt (Biron et al., 2006; Johansen, Aronsson & Marklund, 2014). In Bezug auf die Persönlichkeit bestand, entgegen der Vermutung von Miraglia und Johns (2016), ein signifikanter, negativer Zusammenhang zwischen Optimismus und Präsentismus (ρ = -.22). So scheint Optimismus als generelle „positive Erwartung im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen“ (Renner & Weber, 2005, S. 446) Stress zu reduzieren und förderlich für das Wohlbefinden und die Gesundheit zu sein, sodass Präsentismus verringert wird. Die Mediation über Gesundheit konnten Miraglia und Johns (2016) auch im Rahmen eines meta-analytischen Strukturgleichungsmodells bestätigen (vgl. Abschnitt 3.5.5). Für Gewissenhaftigkeit und Präsentismus wurde hingegen ein positiver, aber nicht signifikanter Zusammenhang gefunden.

3.5 Ursachen von Präsentismus

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Als weitere in der Persönlichkeit liegende Einflussfaktoren von Präsentismus, welche die Meta-Analyse von Johns & Miraglia (2016) nicht erfasst, wurden bisher zudem Neurotizismus, Kontrollüberzeugungen, die wahrgenommene Legitimität des Fehlens, persönliche Abgrenzungsschwierigkeiten (individual boundarylessness), eine übersteigerte Verausgabungsneigung (overcommitment), leistungsbezogener Selbstwert (performance-based self-esteem) und Arbeitssucht (workaholism) untersucht. Für Neurotizismus und Kontrollüberzeugungen fand Johns (2011) Hinweise für negative Zusammenhänge mit Präsentismus in einer Querschnittsbefragung von ehemaligen Absolventen einer Business School in Kanada (N = 444). So scheinen sowohl Personen mit einer hohen Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus, welche sich durch „Ängstlichkeit, Impulsivität, Selbstaufmerksamkeit, Reizbarkeit, Verletzlichkeit und Depressivität“ (Nerdinger et al., 2014, S. 574) auszeichnet, als auch Personen, die das Gefühl haben, in hohem Maße Kontrolle über ihren eigenen Gesundheitszustand zu haben und ihn beeinflussen zu können (Johns, 2011; Rudow, 2014), signifikant weniger häufig krank zur Arbeit zu kommen. Neurotizismus korrelierte allerdings positiv mit dem selbstberichteten Produktivitätsverlust aufgrund einer Erkrankung. Somit kommen Personen mit einer hohen Ausprägung an Neurotizismus zwar seltener krank zur Arbeit, berichten dann aber von höheren Produktivitätseinbußen. Darüber hinaus zeigten auch Personen, die Absentismus als legitimer ansehen als andere, weniger Präsentismustage (Johns, 2011). Des Weiteren liegen mehrere Belege vor, die Präsentismus mit einem übersteigerten Arbeitsengagement oder Schwierigkeiten, sich abzugrenzen, in Verbindung bringen. Die Schwierigkeit, Nein zu sagen, wurde bereits als Einflussfaktor im Modell von Aronsson und Gustafsson (2005) erfasst (vgl. Abbildung 5), welches auf empirischen Ergebnissen einer repräsentativen Querschnittsbefragung in den Jahren 2000 und 2001 in Schweden aufbaut. Sie vermuteten, dass Personen, die Schwierigkeiten haben, Wünsche und Erwartungen anderer Personen nicht zu erfüllen und gleichzeitig mit konfliktreichen Arbeitsanforderungen konfrontiert sind, häufiger krank zur Arbeit kommen. Sie fanden hingegen nur einen direkten Effekt der Abgrenzungsschwierigkeiten und keinen Interaktionseffekt mit konfliktreichen Arbeitsanforderungen. Hansen und Andersen (2008) identifizierten die übersteigerte Verausgabungsneigung im Sinne des Modells der beruflichen Gratifikationskrisen (vgl. S. 25) als wichtigsten personenbedingten Einflussfaktor für Präsentismus. Zudem berichteten in einer Untersuchung von jungen

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Erwachsenen in Schweden mit zwei Messzeitpunkten vor allem solche Personen, häufiger krank zur Arbeit zu gehen, deren Selbstwert von der erbrachten Arbeitsleistung abhängt (Löve, Grimby-Ekman, Eklöf, Hagberg & Dellve, 2010). Als Extremform fanden Schaufeli und Kollegen (2008; 2009), Hägerbäumer (2017) sowie Mazzetti, Vignoli, Schaufeli und Guglielmi (2017) einen positiven Zusammenhang von Arbeitssucht und Präsentismus. Arbeitssucht beschreibt dabei den zwanghaften, inneren Antrieb übermäßig viel, also exzessiv zu arbeiten (Schaufeli et al., 2009). So fühlen Arbeitssüchtige den Drang zu arbeiten auch im Krankheitsfall und zeigen somit Präsentismus, wofür die Autoren im Rahmen von Querschnittsbefragungen verschiedener Stichproben Bestätigung fanden (niederländische Assistenzärzte, N = 2115; Mitarbeiter in einem Krankenhaus in NRW, N = 268; Angestellte in italienischer Firma, N = 1065). Dabei wurde der Zusammenhang zwischen Arbeitssucht und Präsentismus noch verstärkt, wenn die Unterstützung durch die Führungskraft als gering wahrgenommen wurde (Mazzetti et al., 2017). Zusammenfassend weisen die Ergebnisse daraufhin, dass demografische Faktoren eher einen vernachlässigbaren Einfluss auf Präsentismus zeigen. Für bestimmte Persönlichkeitseigenschaften scheint hingegen ein moderater Einfluss vorzuliegen. Hierbei fällt auf, dass insbesondere Personen mit übersteigertem Arbeitsengagement, welche sich nicht von den Arbeitserwartungen abgrenzen können, häufiger Präsentismus zeigen. Zudem sind der Gesundheitszustand, sowohl physisch als auch psychisch, sowie Befindensbeeinträchtigungen wesentliche Prädiktoren von Präsentismus. Dies steht auch im Einklang mit den meta-analytischen Ergebnissen von McGregor et al. (2017), die zeigten, dass ein schlechter physischer (r = .30, 95% CI [.26–.34]) und psychischer Gesundheitszustand (r = .32, 95% CI [.29–.34]) sowie belastende personenbezogene Faktoren wie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften (r = .19, 95% CI [.15–.23]) in einem positiven Zusammenhang mit Präsentismus stehen. Allerdings sollte die Arbeitssituation nicht außer Acht gelassen werden, worauf der Interaktionseffekt in der Studie von Mazzetti et al. (2017) hindeutet. 3.5.2

Arbeitsstressoren

Arbeitsstressoren sind mit erhöhten Anstrengungen für Individuen verbunden und führen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu Fehlbeanspruchung. Sie können

3.5 Ursachen von Präsentismus

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sich dabei sowohl aus den Arbeitsbedingungen des spezifischen Arbeitsplatzes, aus der Interaktion mit anderen Personen oder aus strukturellen oder kulturellen Gegebenheiten der Organisation ergeben. Die Arbeitsplatzmerkmale betreffend zeigten im Rahmen der Meta-Analyse von Miraglia & Johns (2016) vor allem Arbeitsstressoren, die mit einem hohen Arbeitsaufkommen zusammenhängen, einen starken Einfluss auf Präsentismus. So korrelierten die Arbeitsmenge (ρ = .28), Unterbesetzung (ρ = .25), fehlende Ersetzbarkeit32 (ρ = .13) oder die Anzahl an Patienten (ρ = .20) signifikant und in positiver Weise mit Präsentismus. Auch physische (ρ = .13) sowie zeitliche Anforderungen auf der Arbeit wie Überstunden (ρ = .15), die Anzahl an Arbeitsstunden (ρ = .11) und Zeitdruck (ρ = .16) korrelierten positiv und signifikant mit dem Verhalten, krank zu arbeiten. Der Zusammenhang mit Schichtarbeit als eine Form der zeitlichen Anforderung war hingegen nicht signifikant und negativ (Miraglia & Johns, 2016). Die Ergebnisse der repräsentativen, deutschen BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung stimmen weitgehend mit den meta-analytischen Befunden überein, geben aber noch konkretere Hinweise zu den Einflussfaktoren. So zeigte sich in Bezug auf die physischen Belastungsfaktoren, dass das Arbeiten mit „mikrobiologischen Stoffen (4.5-mal 13.9 Tage – primär im Gesundheitswesen), unter starken Erschütterungen (4.7-mal, 19.0 Tage), bei schlechtem Licht (4.7mal, 17.0 Tage) und in Zwangshaltungen (4.2-mal, 14.5 Tage)“ zu mehr Präsentismustagen und häufigerem Arbeiten trotz Krankheit führte (Oldenburg, 2012, S. 139). Auch für psychisch belastende Arbeitsbedingungen, die sich zum Beispiel durch ein „Arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit“ oder „nicht Erlerntes/Beherrschtes wird verlangt“ sowie emotionale Anforderungen äußern, lagen positive Zusammenhänge mit Präsentismus vor. Die Autorin schlussfolgerte, dass „insbesondere zu hohe Anforderungen und zu hoher Termin- und Leistungsdruck dazu führen, dass Beschäftigte auch krank zur Arbeit gehen“ (Oldenburg, 2012, S. 139). Meta-analytisch hing auch die Übernahme von Führungsverpflichtungen positiv und signifikant mit Präsentismus zusammen (ρ = .05). Führungskräfte kommen also, wenn auch nur marginal, häufiger krank zur Arbeit als Beschäftigte 32

Dieser Faktor wurde in der Meta-Analyse in positiver Weise formuliert als „ease of replacement“. Um die Zuordnung zu den Oberkategorien zu erleichtern, wurde der Faktor in dieser Arbeit umgedreht und das Vorzeichen der Korrelation entsprechend angepasst.

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

ohne Führungsverantwortung (Miraglia & Johns, 2016). Neben den Führungsverpflichtungen scheinen auch Konflikte Präsentismus zu erhöhen. So korrelierten Rollenkonflikte (ρ = .05) wie auch Vereinbarkeitskonflikte zwischen Familie und Arbeit (Work to family conflict: ρ = .14; Family to work conflict: ρ = .18) positiv und signifikant mit Präsentismus. Für Rollenambiguität und Präsentismus zeigte sich hingegen ein negativer, signifikanter, aber vernachlässigbarer Zusammenhang (ρ = -.02). Insgesamt korrelierten die beschriebenen Arbeitsstressoren auf Arbeitsplatzebene mit Ausnahme von Schichtarbeit und Rollenambiguität positiv mit Präsentismus. Miraglia und Johns (2016) erklärten dies zum einem damit, dass Arbeitsstressoren zu Stress und einer Verschlechterung der Gesundheit führen können, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für Präsentismus erhöht (Gesundheitspfad des JD-R Modells). Zum anderen kann das Arbeiten trotz Krankheit auch als eine Investition betrachtet werden, um andere Verluste wie eine schlechte Arbeitsleistung zu vermeiden. Es fällt zudem auf, dass die Faktoren, die den stärksten Einfluss aufweisen, eher den herausfordernden Arbeitsstressoren (wie z. B. Zeitdruck, hohe Arbeitsmenge) im Sinne des Challenge Stressor-Hindrance Stressor Framework (vgl. Seite 29) zuzuordnen sind. Arbeitsstressoren können sich nicht nur durch die Arbeit an sich, sondern auch aus der Interaktion mit Kollegen und der Führungskraft ergeben. So können negative Erfahrungen im Rahmen von sozialen Beziehungen wie Diskriminierung (ρ = .10), Belästigungen (ρ = .16) oder Misshandlung (ρ = .20) Präsentismus erhöhen. Miraglia und Johns (2016) argumentieren, dass diese negativen Erfahrungen zu Stress und zu einem schlechteren Gesundheitszustand führen können und hierdurch Präsentismus steigern. Zudem treten die genannten Formen häufig in asymmetrischen Machtbeziehungen auf, die mit geringer Kontrolle seitens des Opfers verbunden sind. In einer aktuelle Studie argumentierten Manuel, Howansky, Chaney und Sanchez (2017), dass Stigmatisierung und Diskriminierung über mehrere Wirkmechanismen Präsentismus erhöhen. Im Rahmen einer einmaligen Befragung von 206 Frauen über Amazon Mechanical Turk 33 fanden sie empirische Belege dafür, dass Geschlechterdiskriminierung Präsentismus über eine 33

Hierbei handelt es sich um einen virtuellen Marktplatz. Auf dieser Plattform können Anbieter jegliche Formen von Arbeitsaufgaben am Computer wie beispielsweise auch Umfragen gegen meist geringe Bezahlung einstellen, die dann von den registrierten Nutzern bearbeitet werden kann. Für wissenschaftliche Einschätzung der Qualität dieser Daten siehe Cheung, Burns, Sinclair und Sliter (2017) oder Buhrmester, Kwang und Gosling (2011).

3.5 Ursachen von Präsentismus

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erhöhte Arbeitsunsicherheit, eine geringere Wahrnehmung der Autonomie und eine Erhöhung der Krankheitssymptome beeinflusst. Neben negativen Erfahrungen kann auch eine sehr enge Zusammenarbeit mit Kollegen (Kooperationsenge, Aufgabeninterdependenz), die mit gegenseitigen Abhängigkeiten bei der Arbeitserledigung einhergeht, zu mehr Präsentismus führen. So fand Hägerbäumer (2017) in zwei Studien signifikante, positive Zusammenhänge zwischen der Kooperationsenge und Präsentismus. Dies steht auch im Einklang mit Studien, die die Gründe von Präsentismus abfragen. Hierbei ist ein häufig genannter Grund für Präsentismus, den Kollegen „nicht zur Last fallen“ zu wollen (Collins & Cartwright, 2012; Hägerbäumer, 2017, S. 156; Johansen et al., 2014; Ulich & Nido, 2014). In Bezug auf die Führung wirken vor allem eine unfaire Behandlung durch die Führungskraft sowie Schuldzuweisungen als Präsentismus fördernde Stressoren. So lagen in der Panelstudie von Hägerbäumer (2017) signifikante positive Korrelationen zwischen belastendem Vorgesetztenverhalten und Präsentismus (auch für das sechs Monate zeitversetzt erfasste Präsentismusverhalten) vor. Auch Nyberg, Westerlund, Magnusson Hanson und Theorell (2008) finden in ihrer Untersuchung des Einflusses mehrerer Führungsstile (Integrität, inspirationale Führung, Teamintegration, autokratische Führung, selbstzentrierte Führung) auf Präsentismus und Absentismus in Schweden (N = 5141) tendenziell Hinweise darauf, dass Führung als Stressor Präsentismus beeinflusst. Nahmen Mitarbeiter ihre Führungskraft als selten integer wahr, berichteten sie von mehr Präsentismus. Allerdings scheinen andere Faktoren wie die Arbeitsbedingungen oder die Zufriedenheit bedeutender zu sein, denn der genannte Zusammenhang war mit Kontrolle der Arbeitsbedingungen bei Männern und Lebenszufriedenheit bei Frauen nicht mehr signifikant. Andere Studien erhoben nicht direkt das Führungsverhalten, fanden aber heraus, dass eine geringe Wertschätzung und Anerkennung für die Arbeitsleistung, was häufig die direkte Führungskraft vermittelt, mit dem Arbeiten trotz Krankheit positiv und signifikant zusammenhängt. Hierfür zeigten sich Belege in Studien mit verschiedenen Berufsgruppen (Ärzte, N = 1 311, Klein, 2013; Lehrer, N = 924, Dudenhöffer, Claus, Schöne, Letzel & Rose, 2016; verschiedene Unternehmen, N = 2983, Janssens et al., 2016). Dabei deuteten die Ergebnisse daraufhin, dass vor allem die Kombination von hoher Anstrengung und geringer Belohnung – die berufliche Gratifikationskrise im Sinne von Siegrist (vgl. S. 25)

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– ein Treiber für Präsentismus ist (Janssens et al., 2016; Klein, 2013; Strasser et al., 2017). Neben Arbeitsplatzmerkmalen und Merkmalen der Interaktion beeinflussen auch organisationale Faktoren wie organisationale Regelungen, Strukturen sowie die gelebte Unternehmenskultur Präsentismus. Formeller wie informeller Anwesenheitsdruck wirkt beispielsweise auf das Präsentismusverhalten von Mitarbeitern. Dieser Anwesenheitsdruck kann einerseits durch die Führungskraft, aber auch durch Strukturen und die Kultur in der Organisation ausgeübt werden. Ersteres untersuchten Dietz und Scheel (2017) im Rahmen einer Querschnittsuntersuchung im Wissenschaftsbereich in Deutschland. Der Anwesenheitsdruck durch die Führungskraft stand dabei in einer positiven Beziehung zu Präsentismus von Nachwuchswissenschaftlern. Es bestand allerdings nicht nur ein direkter, sondern auch ein indirekter Effekt, der über den wahrgenommenen Zeitdruck mediiert wurde. Auf der organisationalen Ebene erzeugen Regeln zum Umgang mit Absentismus Anwesenheitsdruck. So ist der strikte Umgang mit Absentismus wie die Überwachung oder Bestrafung der Abwesenheit nicht nur ein stark negativer Einflussfaktor von Absentismus (Johns, 2008), sondern korrelierte auch deutlich positiv mit Präsentismus (ρ = .39; Miraglia & Johns, 2016). Bestimmte Strukturen in Unternehmen, die zur Reduzierung von Absentismus eingesetzt werden, wurden in einer qualitativen Studie von Baker-McClearn, Greasley, Dale und Griffith (2010) näher beschrieben. So können Fehlzeiten- und Krankenrückkehrgespräche, die bei einer überschrittenen, von der Organisation festgelegten Anzahl an Fehltagen geführt werden müssen, sowie Leistungs- und Anwesenheitsprämien als Druck empfunden werden, krank zur Arbeit zu erscheinen (vgl. auch Collins & Cartwright, 2012; Munir, Yarker & Haslam, 2008). Die Autoren sprechen dabei auch von institutionell mediiertem Präsentismus, welcher durch den organisationalen Kontext (Organisationspolitik, Prozesse, die Organisationskultur und Führungsstile) ausgelöst wird. Auch Pfaff (2002) fand im Rahmen einer Kölner Studie zu Krankenrückkehrgesprächen und der Gesundheitspolitik in der Automobilindustrie Hinweise für den Zusammenhang zwischen Krankenrückkehrgesprächen und Präsentismus. So gaben im Rahmen einer quantitativen Befragung 55 Prozent der Befragten an, zu befürchten, dass sich „viele Mitarbeiter krank zur Arbeit ‚schleppen‘, um nicht an einem Krankenrückkehrgespräch teilnehmen zu müssen“ (Pfaff, 2002, S. 6). Allerdings kommt der Autor insgesamt zu dem Er-

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gebnis, dass die Wirkung der Gespräche von deren Ausgestaltung und Durchführung abhängt. So nahmen zwar 17 Prozent der Personen die Gespräche als belastend wahr, allerdings empfanden auch 30 Prozent der Befragten die Gespräche als Hilfe (Pfaff, 2002, vgl. auch Vogt et al., 2010). Für chronisch Erkrankte waren diese Gespräche allerdings meist belastender als für Personen ohne eine chronische Erkrankung. Auch die aktuellen Studie von Holland und Collins (2018) fand basierend auf 11 qualitativen Interviews mit Personen mit rheumatischer Arthritis, dass eine strikte Unternehmenspolitik, welche keine Anpassungen für chronisch erkrankte Mitarbeiter macht, den Anwesenheitsdruck und damit unfreiwilligen Präsentismus erhöht. Hierbei kommt es allerdings auch sehr auf die Interpretation und Anwendung der Regeln durch die direkte Führungskraft an. Führungskräfte, die bereits Kenntnisse und Wissen hinsichtlich der spezifischen Krankheit besitzen, reagieren dabei deutlich flexibler als Führungskräfte ohne dieses Wissen. Dies entspricht auch den Befunden der qualitativen Studie von Collins und Cartwright (2012). Führungskräfte scheinen trotz ähnlicher Abwesenheitspolitik unterschiedlich mit Personen umzugehen, die zu früh aus einer Abwesenheit zur Arbeit zurückkehren. Einige Manager schickten ihre Mitarbeiter wieder nach Hause, während andere es nicht taten. Auch die Studie von Nelson, Shaw und Robertson (2016) bestätigt das Zusammenspiel von Führung und organisationalen Rahmenbedingungen. Einerseits begrenzen Strukturen, Praktiken und die Organisationskultur die Möglichkeiten von Führungskräften die Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse der Mitarbeiter mit Erkrankung anzupassen und diese entsprechend zu unterstützen. Andererseits scheinen hierbei aber vor allem die Führungskräfte mit mehr Erfahrungen und besseren Kenntnissen über die Praktiken und Möglichkeiten in der Organisation erfolgreicher dabei zu sein, Mitarbeiter trotz Erkrankung zu unterstützen und sie in ihrer Tätigkeit zu erhalten. Neben Krankenrückkehrgesprächen spielen auch andere organisationale Rahmenbedingungen eine Rolle. In einer österreichischen Untersuchung von Gerich (2014) beeinflusste eine strenge Attestpflicht im Unternehmen positiv und signifikant die Präsentismushäufigkeit.34 Auch Böckerman und Laukkanen (2010) 34

In Bezug auf die Präsentismusneigung, die sich aus dem Verhältnis der Häufigkeit von Präsentismus einer Person zur Häufigkeit von Präsentismus und Absentismus ergibt, lag hingegen kein signifikanter Zusammenhang vor (Gerich, 2014).

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fanden in ihrer Untersuchung von finnischen Gewerkschaftsmitgliedern Belege für einen positiven Zusammenhang. So zeigten Mitarbeiter in Unternehmen mit einer lockeren Attest-Regelung (erst Abwesenheiten ab drei Tagen erfordern ein Attest) weniger Präsentismus. Allerdings war dieser Effekt knapp über dem Signifikanzniveau von p < .05. Zudem liegen Hinweise vor, dass flexible Arbeitszeitsysteme (wie Vertrauensarbeitszeit; Krause et al., 2012) eine Flexibilisierung des Arbeitsortes (Krause et al., 2015) oder auch unrealistische Zielvorgaben (Chevalier & Kaluza, 2015) Präsentismus als Form der interessierten Selbstgefährdung (vgl. S. 44) erhöhen können. Es wird argumentiert, dass mit den genannten Systemen eine stärkere Erfolgsorientierung im Unternehmen einhergeht, die Peters (2011, S. 108) als „indirekte Steuerung“ bezeichnet. So zählt, vergleichbar mit der Situation von unternehmerisch Selbstständigen, nur das Arbeitsergebnis, nicht aber wie viel Anstrengung oder Arbeitszeit die Beschäftigten in ihre Arbeit gesteckt haben. Die dadurch ausgelöste Leistungsdynamik, die aufgrund der höheren Eigenverantwortung der Mitarbeiter meist durch sie selbst verstärkt wird, führt dann zu selbstgefährdenden Verhaltensweisen dieser Mitarbeiter. In einer Querschnittsbefragung von 607 Hochschulabsolventen von Knecht, Meier und Krause (2017) wurde der Einfluss indirekter Steuerung in Unternehmen auf selbstgefährdende Verhaltensweisen, darunter u. a. Präsentismus, untersucht. Als Arbeitsstressoren indirekter Steuerung wurden Zielspiralen („stetig steigende Zielvorgaben“; Chevalier & Kaluza, 2015), enge Prozessvorgaben trotz Erfolgsorientierung und unsichtbare Leistung betrachtet. Letzteres beschreibt Arbeitsaufgaben, die zur Zielerreichung notwendig sind, allerdings in den Zielkennzahlen und im Endergebnis sowie für die Führungskraft nicht sichtbar sind wie beispielsweise administrative Aufgaben. Die drei Arbeitsstressoren korrelierten dabei positiv und signifikant mit Präsentismus und zeigten sich auch im Rahmen der Strukturgleichungsmodelle als signifikante Einflussfaktoren von Präsentismus. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt auch die Querschnittsuntersuchung von Schulthess (2017), in welcher 113 bonus-berechtigte leitende Angestellte eines international tätigen Industrieunternehmens mit Sitz in der Schweiz befragt wurden. Es zeigte sich, dass alle Arbeitsstressoren, darunter wahrgenommene Zielspiralen, Erfolgsdruck, die Arbeitsintensität sowie dysfunktionale Folgeaspekte von Zielen in einem signifikanten, positiven Zusammenhang mit Präsentismus stehen. Im Gegensatz dazu wiesen nur zwei der fünf

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betrachteten Ressourcen einen signifikanten negativen Zusammenhang mit Präsentismus auf, nämlich soziale Unterstützung und Zielqualität. Die Autorin schlussfolgerte, dass vor allem durch eine schlechte Ausgestaltung der indirekten Steuerungssysteme selbstgefährdendes Verhalten wie Präsentismus erhöht wird. Im Gegensatz zur Literatur der indirekten Steuerung, die flexible Arbeitsgestaltung aus dem Blickwinkel einer stärkeren Erfolgsorientierung und Präsentismus als Selbstgefährdung betrachtet, kommen Studien mit dem Fokus auf das Arbeiten mit chronischer Erkrankung zu dem Ergebnis, dass flexible Arbeitsgestaltung eine Anpassung der Arbeit an die spezifischen Umstände der Krankheit erleichtert (Holland & Collins, 2018; Irvine, 2011). So kann damit zwar auch eine Erhöhung von Präsentismus einhergehen, aber dies von den Betroffenen erwünscht sein, sodass Holland und Collins (2018) in diesem Fall von freiwilligem Präsentismus sprechen. In den qualitativen Interviews in der Studie von Holland und Collins (2018) wurde aber angemerkt, dass die reine zeitliche und örtliche Flexibilität zwar als hilfreich wahrgenommen wurde. Um die Arbeitsfähigkeit trotz Arthritis aber weiterhin aufrechtzuerhalten, müssten auch Anpassungen der Arbeitsverpflichtungen und Verantwortlichkeiten vorgenommen werden, was allerdings seltener der Fall war. So lässt sich festhalten: ob flexible Arbeitsgestaltung als Arbeitsstressor wahrgenommen wird, hängt von weiteren Faktoren und von der spezifischen Ausgestaltung im Unternehmen ab. Schließlich zeigte sich die wahrgenommene Arbeitsunsicherheit als ein Arbeitsstressor, welcher signifikant und positiv mit Präsentismus zusammenhängt (ρ = .08). Auch zeitliche Befristung zeigte als Quelle der Arbeitsunsicherheit einen positiven, wenn auch eher geringen Zusammenhang (ρ = .03). So kommen Mitarbeiter möglicherweise eher krank zu Arbeit, um ihr Engagement zu zeigen und eine Entlassung zu vermeiden oder eine Weiterbeschäftigung zu erreichen. Hägerbäumer (2017) unterscheidet zwischen qualitativer und quantitativer Arbeitsplatzunsicherheit. Während Letzteres die Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle beschreibt, fürchten Mitarbeiter im Sinne der qualitativen Arbeitsplatzunsicherheit, dass sie „wertgeschätzte Merkmale ihrer Arbeit (…) wie z. B. den Arbeitsort, die Gehaltsentwicklung oder die Art der Tätigkeit“ verlieren (Hägerbäumer, 2017, S. 175). Im Rahmen einer Querschnittsstudie bei einem Energie-Versorger zeigte sich die qualitative Arbeitsunsicherheit als einer der stärksten Einflussfaktoren der untersuchten Arbeitsstressoren von Präsentismus. Die Ergebnisse der deutschen

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung unterstützen die beschriebenen Befunde. So kamen Personen häufiger und mehr Tage krank zur Arbeit, wenn sie die wirtschaftliche Situation ihres Unternehmens als schlecht einschätzten (4.4-mal, 19.0 Tage) oder Personal im Rahmen von Restrukturierungsmaßnahmen abgebaut wurde (4.2-mal, 13.3 Tage, vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Zok, 2008b). Die „Verlagerungen von Unternehmensteilen[,] (…) Einführung neuer Computerprogramme, neuer Produkte oder neuer Technologien“ führten bei den Befragten hingegen kaum zu verändertem Präsentismusverhalten (Oldenburg, 2012, S. 140). Neben der Angst um den Arbeitsplatz können aber auch finanzielle Unsicherheiten Präsentismus beeinflussen (Miraglia & Johns, 2016). Personen mit einem geringeren Einkommen (Einkommen: ρ = -.02) oder mit persönlichen finanziellen Schwierigkeiten zeigten signifikant mehr Präsentismus (ρ = .10). In Bezug auf das Einkommen argumentiert Jung (2017, S. 191), dass vor allem bei Geringverdienern Kürzungen „durch Krankengeld oder den Wegfall von Zulagen und Provisionen“ bereits zu finanziellen Schwierigkeiten führen können und deshalb die Personen eher krank arbeiten. Zusammenfassend scheinen vor allem herausfordernde Arbeitsplatzmerkmale, die mit einer hohen Arbeitslast und / oder hohem Zeit- und Leistungsdruck verbunden sind, Präsentismus zu erhöhen. In ähnlicher Weise fördern auch indirekte Steuerungssysteme Präsentismus, wenn diese so gestaltet sind, dass sie eine ansteigende Leistungsdynamik im Unternehmen auslösen. Im Hinblick auf soziale Interaktionen gilt, dass vor allem eine starke, aufgabenorientiere Abhängigkeit zwischen den Kollegen sowie belastende Beziehungen und Konflikte (Rollen- und Vereinbarkeitskonflikte) positiv mit Präsentismus in Verbindung stehen. Auf der organisationalen Ebene stellten sich Organisationsstrukturen, welche einen Anwesenheitsdruck erzeugen, Arbeitsunsicherheit sowie Personalabbau im Rahmen einer Restrukturierung als Treiber von Präsentismus heraus. Dies steht auch im Einklang mit den meta-analytischen Ergebnissen von McGregor et al. (2017), die belastende Arbeitsfaktoren und belastende soziale Faktoren außerhalb der Arbeit (wie beispielsweise Vereinbarkeitskonflikte zwischen der Arbeit und der Familie) als signifikante Einflussfaktoren von Präsentismus definieren (Arbeitsfaktoren: r = .16, 95% CI [.14–.19]; soziale Faktoren: r = .19, 95% CI [.15– .23]).

3.5 Ursachen von Präsentismus 3.5.3

91

Arbeitsressourcen

Während sich die zuvor beschriebenen Arbeitsstressoren dadurch auszeichnen, dass sie mit Anstrengungen verbunden sind und mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu Fehlbeanspruchung führen, werden nun Arbeitsressourcen betrachtet. Diese sind funktional bei der Zielerreichung, fördern die persönliche Entwicklung und reduzieren die mit den Arbeitsstressoren verbundenen Fehlbeanspruchungen. So ist tendenziell anzunehmen, dass diese auch Präsentismus eher reduzieren. Als Arbeitsressourcen wurden in der Meta-Analyse von Miraglia & Johns (2016) die Kontrolle über die Arbeit, die Unterstützung und Beziehung zu den Kollegen und der Führungskraft, die organisationale Gerechtigkeit35 sowie die Bedeutung der Arbeit (work significance) betrachtet. Für letztgenannte Arbeitsressource zeigte sich meta-analytisch kein Einfluss auf Präsentismus (ρ = .00). Für die Kontrolle als Merkmal auf der Arbeitsplatzebene sind die Ergebnisse nicht ganz eindeutig. Kontrolle wird als die Möglichkeit beschrieben, die Art und Weise des Handelns und der Zielerreichung selbstständig zu bestimmen. Miraglia und Johns (2016) vermuteten einen direkten negativen Zusammenhang mit Präsentismus. Zum einen kann die Arbeitskontrolle als Ressource Fehlbeanspruchung reduzieren (vgl. beispielsweise JD-C Modell, S. 24) und somit vermittelnd über die Gesundheit Präsentismus verringern. Auf der anderen Seite argumentierten die Autoren, dass Personen mit einer hohen Kontrolle auf der Arbeit weniger Druck empfinden, trotz Krankheit zu arbeiten. Insgesamt zeigte sich allerdings nur ein sehr geringer, aber wie vermutet negativer, signifikanter Zusammenhang mit Präsentismus (ρ = -.03). Zudem lagen unterschiedliche Operationalisierungen vor, die teilweise andere Facetten hervorheben. Werden diese einzeln betrachtet, unterscheiden sich ihre Wirkrichtungen. So standen Partizipation (ρ = .03) und der Entscheidungsspielraum (ρ = .05) in positiver Beziehung mit Präsentismus, während Anpassungs- bzw. Handlungsspielraum (adjustment latitude; ρ = -.08) und Arbeitskontrolle negativ mit Präsentismus korrelierten (ρ = -.01). Diese unterschiedlichen Ergebnisse entsprechen auch den sich widersprechenden Befunden der Primärstudien und deuten insgesamt auf einen eher vernachlässigbaren Effekt

35

Abweichend von der Einteilung von Miraglia & Johns (2016) wurde organisationale Gerechtigkeit im Rahmen dieser Arbeit den Arbeitsressourcen zugeordnet. Die Autoren der Meta-Analyse fassten Gerechtigkeit gemeinsam mit Arbeitseinstellungen unter einer Kategorie zusammen.

92

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

von Kontrolle auf Präsentismus oder aber auf vorliegende Moderator- oder gegenläufige Mediationseffekte hin. Die wahrgenommene soziale Unterstützung wie auch eine gute Qualität der Beziehungen als die Interaktionen betreffende Faktoren zeigen hingegen ein eindeutiges Ergebnis. Diese Arbeitsressourcen standen signifikant und in negativer Weise in Zusammenhang mit Präsentismus. Miraglia und Johns (2016) erklärten die Ergebnisse damit, dass ein unterstützendes Arbeitsumfeld Mitarbeitern im Krankheitsfall Hilfestellung gibt, Arbeitsaufgaben übernimmt und auch die Auskunft über die Krankheit für die Mitarbeiter erleichtert. Dabei scheint die Unterstützung durch die Führungskraft (ρ = -.10) oder durch die Organisation (ρ = -.17) sowie die Führungsqualität (ρ = -.13) einen stärkeren Einfluss zu haben als die Unterstützung durch die Kollegen (ρ = -.07). Über die Meta-Analyse hinaus gibt es aber auch Hinweise, dass das Führungsverhalten entscheidend für Präsentismus ist. Dhaini et al. (2016) fanden im Rahmen ihrer Sekundärdatenanalyse von 3176 Pflegekräften aus 162 Pflegeeinrichtungen heraus, dass ein als unterstützend, partizipativ und anerkennend wahrgenommenes Führungsverhalten mit geringerem Präsentismus einhergeht. Auch F. Franke (2012) bestätigt die Bedeutung der Führungskraft. In ihrer Untersuchung von Mitarbeiter-Führungskraft-Dyaden (N = 512, 383 Mitarbeiter, 129 Führungskräfte) mit zwei Messzeitpunkten zeigte sich gesundheitsförderliche Mitarbeiterführung (health-oriented leadership) als signifikanter Prädiktor des Präsentismusverhaltens der Mitarbeiter vier Monate später. Unter gesundheitsförderlicher Führung werden drei Dimensionen zusammengefasst: das Verhalten (behavior), die Wichtigkeit (value) und die Achtsamkeit (awareness). Letztere beschreibt „die Fähigkeit der Führungskraft, den Gesundheitszustand und das Stresserleben der Mitarbeiter bewusst zu beobachten und die individuellen Stressanzeichen adäquat einschätzen zu können“ (Franke, Ducki & Felfe, 2015, S. 258). Die Dimension Wichtigkeit drückt aus, wie viel Bedeutung die Führungskraft der Gesundheit der Mitarbeiter beimisst, während Führungskräfte im Sinne der Dimension Verhalten ihre Mitarbeiter zu gesundheitsförderlichen Handlungen und Verhaltensweisen anregen, bzw. dieses durch entsprechende Ressourcen oder die Arbeitsgestaltung erleichtern. Die drei Dimensionen wiesen dabei alle einen signifikanten negativen Zusammenhang mit Präsentismus auf. Neben der Mitarbeiterführung wird beim Ansatz der gesundheitsförderlichen Führung aber auch die gesundheitsorientierte

3.5 Ursachen von Präsentismus

93

Selbstführung betrachtet. Auch diese teilt sich in die drei genannten Dimensionen auf, bezieht sich allerdings auf den Umgang mit der eigenen Gesundheit. Auch die Selbstführung beeinflusste das Präsentismusverhalten. Zudem liegen Hinweise vor, dass die gesundheitsorientierte Mitarbeiterführung die Selbstführung der Mitarbeiter beeinflusst, welche dann Präsentismus reduziert (F. Franke, 2012). Diese Ergebnisse werden auch von einer groß angelegten interkulturellen Interventionsstudie mit einer Vorher- und zwei Nachher-Messungen in Deutschland, Schweden und Finnland unterstützt. Die über mehrere Monate durchgeführte Intervention zielte darauf ab, die Beziehung zwischen den Mitarbeitern und ihren Führungskräften zu verbessern. In Deutschland wurden als Ergebnis der Intervention die authentische und gesundheitsförderliche Führung, aber auch das eigene Gesundheitsbefinden besser eingeschätzt als noch vor der Intervention. Zudem reduzierten sich auch die Krankheitstage und die Präsentismushäufigkeiten (Rigotti et al., 2014). Im Gegensatz dazu konnte im Rahmen der Panel-Studie mit zwei Messzeitpunkten von Hägerbäumer (2017) zwar ein signifikanter, negativer Zusammenhang von mitarbeiterorientiertem Führungsverhalten und Präsentismus für den ersten Messzeitpunkt bestätigt werden, ein zeitversetzter Zusammenhang von mitarbeiterorientierter Führung zum ersten Messzeitpunkt und Präsentismusverhalten sechs Monate später wurde hingegen nicht gefunden. So lässt sich festhalten, dass vor allem Führungsverhalten, welches auf die Gesundheit der Beschäftigten fokussiert ist, längerfristige Effekte bewirkt. Neben den Ressourcen auf der Arbeitsplatzebene und den Ressourcen aus der Interaktion mit Kollegen und der Führungskraft, können auch auf der organisationalen Ebene Ressourcen vorliegen, die Präsentismus reduzieren. Einerseits ist eine ausreichende Personalausstattung im Unternehmen wichtig, damit Mitarbeiter im Krankheitsfall auch vertreten werden können (Dhaini et al., 2016). Andererseits können auch betriebliche Maßnahmen der Gesundheitsförderung als organisationale Ressourcen betrachtet werden, welche in einem negativen Zusammenhang mit Präsentismus stehen. Sowohl Zok (2008b) als auch Hägerbäumer (2017) fanden Belege dafür, dass in Unternehmen mit Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung weniger Präsentismus gezeigt wird. Dies lässt sich damit begründen, dass diese Maßnahmen zu einer Verbesserung des Gesundheitszustands der Beschäftigten führen, aber auch das Entscheidungsverhalten der Beschäftigten ändern (Hägerbäumer, 2017). Das Vorhandensein dieser Maßnahmen kann den Beschäftigten signalisieren, dass die Organisation die Gesundheit für

94

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

wichtig erachtet und damit implizite Erwartungen an einen entsprechenden Umgang der Beschäftigten mit ihrer Gesundheit stellt. Letzteres weist auf den Einfluss der Organisationskultur und des -klimas auf das Verhalten im Krankheitsfall hin. Organisationskultur und -klima werden in der Literatur zum Teil synonym verwendet, obwohl sie sich konzeptionell voneinander unterscheiden (Schneider, González-Romá, Ostroff & West, 2017).36 Die Unternehmenskultur beschreibt ein Muster gemeinsamer und geteilter grundlegender Annahmen, Überzeugungen und Wertvorstellungen (Jones, 2013; Nerdinger, 2014), die das Denken, Handeln und die Emotionen in Organisationen prägen und lenken (Badura & Ehresmann, 2016). Sie ist historisch aus der Interaktion bestimmter Individuen sowie Ereignissen gewachsen (Schreyögg & Koch, 2010) und lässt sich nach Schein (2010) auf drei Ebenen mit unterschiedlicher Sichtbarkeit analysieren. So lassen sich Artefakte, welche gut sichtbare Rituale und Symbole beschreiben, Werte und tiefliegende, für die Mitglieder meist unbewusste Basisannahmen unterscheiden. Das Organisationsklima beschreibt hingegen die geteilte Wahrnehmung der Organisationspolitik, der Praktiken und Prozesse im Unternehmen (Schneider et al., 2017). Sie kann somit als Manifestation der Organisationskultur verstanden werden (Schein, 2010). Ein wichtiges Merkmal des Organisationsklimas ist, dass die Wahrnehmung von den Mitgliedern geteilt wird. Die individuelle subjektive Wahrnehmung der Politik, der Praktiken und Prozesse in Organisationen wird in Abgrenzung zum Organisationsklima als psychologisches Klima bezeichnet (Parker et al., 2003). Zudem wird in der Klimaliteratur häufig zwischen einem globalen Organisationsklima, welches die gesamte Organisation betrifft, und spezifischen Facetten des Klimas wie z. B. Sicherheits-, Dienstleistungsklima oder Gerechtigkeit im Unternehmen unterschieden (Schneider et al., 2017). In Bezug auf den Zusammenhang mit Präsentismus liegen sowohl für das Klima als auch die Organisationskultur bereits einige empirische Belege vor. So zeigte sich das individuell wahrgenommene (psychologische) Klima in Befragungen des Gesundheitsmonitors als einer der stärksten Prädiktoren von Präsentismus. Wurde das Klima in Organisationen positiv wahrgenommen, zeigten die Personen weniger Präsentismus (Vogt et al., 2010). Auch Chang et al. (2015) belegen, dass 36

Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den beiden Begriffen Organisationskultur und Organisationsklima siehe Denison (1996) oder Schneider, González-Romá, Ostroff und West (2017).

3.5 Ursachen von Präsentismus

95

die individuelle summative Wahrnehmung der Arbeitsumgebung (berechnet als Index der Dimensionen: berufliche Gratifikationskrise, Partizipation, Zeitdruck und Müdigkeit)37 einen signifikanten Zusammenhang mit Präsentismus aufweist. Auch für spezifische Facetten des Klimas kann eine reduzierende Wirkung auf Präsentismus belegt werden. Wahrgenommene organisationale Gerechtigkeit (vgl. S. 26) beispielsweise korreliert in der Meta-Analyse von Miraglia und Johns (2016) signifikant und negativ mit Präsentismus (ρ = -.13). Auch Pohling, Buruck, Jungbauer und Leiter (2016) identifizierten in ihrer Querschnittsuntersuchung von 885 Mitarbeitern aus 10 Finanzämtern in Deutschland Fairness als einen bedeutsamen Einflussfaktor des Verhaltens, krank zu arbeiten. Neben der Gerechtigkeit zeigte sich auch das Gesundheitsklima als Einflussfaktor von Präsentismus. Gragnano, Miglioretti, Frings-Dresen und Boer (2017) definieren Gesundheitsklima als die subjektive Wahrnehmung des Umgangs im Unternehmen mit der Gesundheit. Das Gesundheitsklima bildet dabei eine von drei Voraussetzungen (neben der Kompatibilität zwischen Arbeit und Gesundheit und externer Unterstützung), damit Individuen in der Lage sind, ihre gesundheitlichen und beruflichen Bedürfnisse in Balance zu bringen, was sie „Work-Health Balance“ nennen. Alle Dimensionen, darunter auch das Gesundheitsklima, zeigten positive Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden und dem generellen Gesundheitszustand sowie negative Zusammenhänge mit Präsentismus. Übereinstimmend mit der zuvor genannten Studie liegen auch unterstützende Befunde im Rahmen der Energieversorger-Studie von Hägerbäumer (2017) vor. Befragte in Unternehmen mit einem stark ausgeprägten Gesundheitsklima38 berichteten, weniger häufig krank zur Arbeit zu kommen. Der negative Einfluss des psychologischen Gesundheitsklimas auf Präsentismus kann auch durch die Studie von Schulz, Zacher und Lippke (2017) bestätigt werden. In ihrer Untersuchung von 6449 Mitarbeitern aus 621 Teams eines Krankenversicherers betrachteten sie neben dem psychologischen auch das teambezogene Gesundheitsklima. Dieses definieren sie als die geteilte 37

Chang et al. (2015) nehmen dies als Maß der organisationalen Kultur. Es entspricht im Rahmen dieser Arbeit aber eher dem psychologischen Klimabegriff. 38 Hägerbäumer (2017, S. 178) spricht im Rahmen ihrer Studie von Gesundheitskultur und nicht von Klima, was sie als tieferliegende Annahmen und Wertvorstellungen, „die sich im Umgang mit Fragen der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz entwickelt haben“ definiert. Die Messung der Gesundheitskultur findet allerdings auf der individuellen Ebene statt und erfasst eher die Wahrnehmung der Organisationspolitik und Praktiken rund um die Themen Gesundheit und Arbeitsschutz, sodass es in dieser Arbeit unter den Klimabegriff eingeordnet wird.

96

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Wahrnehmung, in welchem Maße sich das Team mit Gesundheitsthemen beschäftigt und es diese Themen wertschätzt. Dabei zeigte sich, dass auch das teambezogene Gesundheitsklima über das psychologische Klima hinaus einen signifikanten und negativen Einfluss auf Präsentismus hat. Es lässt sich festhalten, dass ein positiv wahrgenommenes Organisations- und Gesundheitsklima sowie eine gerecht und fair wahrgenommene Organisation als Ressourcen für die Mitarbeiter fungieren können und Präsentismus reduzieren. In Einklang mit einem positiv wahrgenommenen Klima als Ressource lassen sich auch Belege für die Organisationskultur als Ressource finden. Beckmann, Meschede und Zok (2016) untersuchten den Einfluss der Organisationskultur auf die Gesundheit und nahmen dabei vor allem eine aus Sicht der Beschäftigten „gute“ Organisationskultur in den Fokus. Sie folgten der Kulturdefinition nach Schein, erfassten aber nur die Werte-Ebene. Sie erhoben neun verschiedene Kulturdimensionen (wie beispielsweise Entscheidungsprozesse und Führungsstil oder Wettbewerbsorientierung). Wurde die Organisationskultur von den Befragten als positiv erlebt, gingen sie weniger häufig gegen den ärztlichen Rat krank zur Arbeit und fielen auch weniger häufig krankheitsbedingt aus. Dies entspricht den Befunden von Wieland, Hammes und Winkler (2012), dass in Organisationen mit einer hohen organisationalen Gesundheitskompetenz Beschäftigte signifikant weniger Präsentismus zeigen und Personen auch weniger häufig Angstmotive als Gründe für Präsentismus nennen. Die Gesundheitskompetenz von Organisationen beschreibt dabei die Fähigkeit, die organisationalen Bedingungen so zu gestalten, dass die Gesundheit der Mitarbeiter gefördert und erhalten wird. Dies kann im Sinne von Beckmann und Kollegen als „gute“ Organisationskultur aus Sicht der Beschäftigten beschrieben werden. Im Widerspruch dazu heben qualitative Untersuchungen von Dew, Keefe und Small (2005) sowie Ruhle und Süß (2017) hervor, dass es nicht die eine Präsentismus reduzierende bzw. erhöhende Organisationskultur gibt, sondern unterschiedliche Basisannahmen und Werte auch unterschiedliche Motive für Präsentismus auslösen können. Dies steht auch im Einklang mit Schein (2010), der Organisationskulturen generell als weder „gut“, noch „schlecht“ oder „erfolgsversprechend“ bezeichnet, sondern die Organisationskultur immer unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen betrachtet.

3.5 Ursachen von Präsentismus

97

Dew et al. (2005) untersuchten im Rahmen von Fokusgruppen- und Einzelinterviews verschiedene Organisationen in Neuseeland. Dabei entwickelten sie eine Typologie, die die Organisation als Bündel einer Vielzahl verschiedener Faktoren mit Präsentismus in Beziehung setzt. Sie unterschieden drei Arten von Unternehmenstypen, die sie als Heiligtum, Schlachtfeld und Ghetto bezeichneten. Ersteres beschreibt die Kultur in einem kleinen, privaten Krankenhaus, in welchem Mitarbeiter füreinander sorgen wie in einer Familie. Auch wenn dort weder Anwesenheitsdruck durch das Management herrscht, sogar im Gegenteil institutionalisierte Prozesse implementiert werden, Präsentismus zu vermeiden, erscheinen die Mitarbeiter aus Loyalität ihrer Familie gegenüber krank zur Arbeit. Die Metapher Schlachtfeld beschreibt die Unternehmenskultur in einem großen öffentlichen Krankenhaus. Dort besteht eine Distanz vom Management und die Zusammenarbeit ist geprägt von Konfrontationen und Streitigkeiten. Präsentismus wird hier eher als Teil der beruflichen Identität ausgeübt und aus Loyalität der Institution gegenüber. Der Typ Ghetto spiegelt die Gegebenheiten in einem kleinen Produktionsunternehmen mit schlechten Arbeitsbedingungen wider, in welchem die Mitarbeiter aus Angst und aufgrund des Drucks der Unternehmensleitung trotz Krankheit auf der Arbeit erscheinen. Es zeigt sich, dass verschiedene Kulturen in Organisationen mit unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und Formen der Zusammenarbeit, auch unterschiedliche Motive für Präsentismus auslösen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Ruhle und Süß (2017). Als Ergebnis ihrer Analyse von 28 Interviews identifizierten sie drei verschiedene Typen von Anwesenheitskulturen, welche sich durch ein geteiltes Verständnis zur Legitimität des Absentismus- und Präsentismusverhaltens auszeichnen. Der erste Typ beschreibt eine gesundheitsorientierte Kultur, in welcher Absentismus legitim, Präsentismus allerdings als nicht legitim angesehen wird. In Unternehmen mit dieser Kultur legt man einen großen Wert auf die Gesundheit der Mitarbeiter, es bestehen strukturierte Prozesse im Unternehmen, die Präsentismus unterbinden sollen und Führungskräfte kommen als Rollenvorbilder selbst auch nicht krank zur Arbeit. Dies stimmt überein mit den bereits berichteten Befunden zum Gesundheitsklima. Der zweite Typ wird als individuelle Entscheidungskultur bezeichnet. In Unternehmen mit einer solchen Kultur ist weder Absentismus noch Präsentismus illegitim, sondern die Entscheidung wird dem Individuum überlassen. Kulturen, die Präsentismus, jedoch nicht Absentismus für legitim erachten, werden von den Autoren Präsentismuskulturen genannt. Dieser Typ wird allerdings nochmal

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

in zwei Subgruppen unterteilt. In der unfreiwilligen Präsentismuskultur wird der Anwesenheitsdruck vom Management erzeugt, während in der freiwilligen Präsentismuskultur eher Motive wie Verantwortungsbewusstsein, Loyalität gegenüber den Kollegen oder Spaß an der Arbeit vorherrschend sind. Allerdings wird auch beim freiwilligen Präsentismuskultur-Typ Präsentismus vom Management erwartet. In beiden Subformen der Präsentismuskulturen beobachten die Befragten bei ihren Kollegen und Führungskräften als Rollenvorbildern, dass sie im Krankheitsfall zur Arbeit kommen. Diese Unterscheidung der Präsentismuskulturen entspricht auch den Befunden von Dew und Kollegen (Heiligtum vs. Ghetto) sowie der Unterscheidung von Holland und Collins (2018) in freiwilliges und unfreiwilliges Präsentismusverhalten. Fasst man die Befunde zu den Arbeitsressourcen zusammen, fällt auf, dass vor allem Faktoren Präsentismus reduzieren, die dafür sorgen, dass die individuelle Gesundheit stärker wertgeschätzt wird. So haben vor allem das gesundheitsorientierte Führungsverhalten, betriebliche Gesundheitsmaßnahmen und ein vom Individuum wie auch von allen Mitgliedern wahrgenommenes Gesundheitsklima eine reduzierende Wirkung auf das Verhalten, krank zu arbeiten. Darüber hinaus scheinen auch weitere Faktoren wie die wahrgenommene Unterstützung, eine gute Beziehungsqualität, Gerechtigkeit und Fairness im Unternehmen, die aus Mitarbeitersicht im Sinne von Beckmann et al. (2016) eine „gute“ Unternehmenskultur beschreiben, negativ mit Präsentismus zu korrelieren. Allerdings geben die qualitativen Studien Hinweise darauf, dass auch in einer sehr unterstützenden, von den Beschäftigten als positiv wahrgenommenen Kultur freiwilliger Präsentismus gefördert werden kann.

3.5 Ursachen von Präsentismus

99 Gesellschaftliche Faktoren

Arbeitsbedingte Faktoren

Landeskultur, Arbeitsmarktsituation, die sozialen Sicherungssysteme und die Gesundheitsversorgung

Organisationale Faktoren

Organisationale Faktoren

Arbeitsmerkmale

Arbeitsmerkmale

Demografische Variablen

Demografische Variablen

Kleine Unternehmen Unternehmen im öffentlichen Sektor Strikte Abwesenheitspolitik Indirekte Steuerungssysteme Flexible Arbeitsgestaltung (zeitlich, örtlich) Restrukturierung Arbeitsunsicherheit Diskriminierung / Belästigung / Misshandlung Führungsverpflichtung Belastendes Führungsverhalten Kooperationsenge / Interdependenz Arbeitskonflikte Vereinbarkeitskonflikte zwischen Arbeit und Familie Berufliche Gratifikationskrisen Arbeitsmenge Unterbesetzung Anzahl an Patienten Fehlende Ersetzbarkeit Physische Arbeitsanforderungen Zeitliche Anforderungen Z Geringes Einkommen / Finanzielle Schwierigkeiten Frauen Jüngere Personen Personen mit höherem Bildungsstand Personen mit längerer Betriebszugehörigkeit

Große Unternehmen Unternehmen im privaten Sektor Personalausstattung Organisationale Gerechtigkeit Organisationale Unterstützung Gesundheitsklima /-kultur Organisationale Gesundheitskompetenz Betriebliche Gesundheitsförderung Gesundheitsorientierte Führung Unterstützung durch die Führungskraft Qualität der Führungsbeziehung Unterstützung durch die Kollegen Arbeitskontrolle Rollenambiguität Schichtarbeit

Männer Ältere Personen Personen mit niedrigerem Bildungsstand Personen mit geringerer Betriebszugehörigkeit

Personenbezogene Faktoren

Einstellungen

Arbeitsengagement Arbeitszufriedenheit Commitment Pflichtbewusstsein

Befindensbeeinträchtigungen

Gesundheitszustand

Persönlichkeit

Persönlichkeit

Emotionale Erschöpfung / Wahrgenommener Stress Gewissenhaftigkeit Abgrenzungsschwierigkeiten Leistungsbezogener Selbstwert Arbeitssucht übersteigerte Verausgabungsneigung / Arbeitssuch

Neurotizismus Kontrollüberzeugungen Optimismus Wahrgenommene Legitimität des Fehlens

Anmerkungen. Die fett markierten Einflussfaktoren weisen eine Korrelation von r >.30 auf, grau geschriebene Einflussfaktoren sind nicht signifikante Zusammenhänge im Rahmen der Meta-Analyse von Miraglia & Johns (2016).

+ Präsentismus Abbildung 6: Einflussfaktoren von Präsentismus.

– Präsentismus

100 3.5.4

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung Weitere Einflussfaktoren

In ihrer Meta-Analyse haben Miraglia und Johns (2016) zusätzlich zu den Arbeitsstressoren, -ressourcen und personellen Faktoren auch deskriptive organisationale Variablen mit erhoben. So fanden sie signifikante, aber vernachlässigbare Unterschiede zwischen Unternehmen im öffentlichen sowie privaten Sektor und in Bezug auf die Organisationsgröße. In kleineren Organisationen (Organisationsgröße: ρ = -.02) und im öffentlichen Sektor (ρ = .02) kamen die Mitarbeiter häufiger krank zur Arbeit. Diese deskriptiven organisationalen Variablen geben allerdings keine Hinweise auf Ursachen, sondern lassen nur auf bestimmte Bedingungen und Arbeitsstressoren schließen, die eher in kleinen Unternehmen oder in bestimmten Sektoren (wie im öffentlichen Dienst) vorliegen. So argumentierten Cocker, Martin, Scott, Venn und Sanderson (2012) beispielsweise, dass in kleinen und mittelständischen Unternehmen die Gründer eine stärkere unternehmerische Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern, ihren Familien und sich selbst haben und eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Gründer und den Mitarbeitern vorherrscht. Sie fassten die Literatur zu Absentismus und der Unternehmensgröße zusammen und fanden heraus, dass Personen in kleinen Unternehmen tendenziell weniger Absentismus zeigen, da Beschäftigte geprägt durch die familiäre Atmosphäre in kleinen Unternehmen eine hohe Verantwortung und Bindung an die Organisation empfinden. Zudem scheint eine geringere Toleranz gegen Absentismus vorzuliegen, da der Zusammenhang der eigenen Leistung und der organisationalen Leistung klar und sichtbar ist und keine Anonymität durch den engen Kontakt mit den Kollegen sowie der Unternehmensleitung vorherrscht. Allerdings liegen auch Hinweise vor, dass Fehlzeiten aufgrund depressiver Symptome in kleinen Unternehmen tendenziell länger andauern und eine Rückkehr schwerer möglich ist, da in kleinen Unternehmen meist Möglichkeiten für einen Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung fehlen. In Bezug auf den Einfluss bestimmter Branchen und Berufsgruppen zeigten sich höhere Präsentismuszahlen im Gesundheits-, Bildungs- und im sozialen Bereich (Aronsson et al., 2000; Oldenburg, 2012). Es lässt sich schlussfolgern, dass vor allem die starke Beziehung zu anderen Personen wie Patienten bzw. Schülern und das damit verbundene Verantwortungsgefühl Präsentismus erhöhen. Zudem waren diese Bereiche auch stark von Personalkürzungen und Restrukturierungen betroffen (Aronsson et al., 2000; Steinke & Badura, 2011) Im Rahmen der

3.5 Ursachen von Präsentismus

101

BIBB/BAuA Beschäftigungsbefragung waren auch in der Landwirtschaft und bei Bauberufen höhere Präsentismushäufigkeiten und eine höhere Dauer von Präsentismus zu verzeichnen, was Oldenburg (2012, S. 138) dem starken „Termin- bzw. Zeitdruck“ dieser Branchen zuschreibt. Es wird deutlich, dass die deskriptiven Organisationsvariablen eher als grobe Indikatoren für eine Vielzahl an Einflussfaktoren gesehen werden können, was auch erklärt, weshalb der meta-analytische Effekt dieser Indikatoren eher vernachlässigbar war. Zusätzlich zu den bisher genannten Faktoren können auch politische, gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen außerhalb der Organisation Präsentismus beeinflussen (Cooper & Lu, 2016). In einem Vergleich von Vollzeit beschäftigten Mitarbeitern in Taiwan und Großbritannien zeigten sich signifikante Unterschiede in der Häufigkeit von Präsentismus. Die Autoren interpretierten das Ergebnis dahingehend, dass die durch chinesische Traditionen gelebten Werte hart arbeiten und Ausdauer zeigen zu einer Kultur langer Arbeitszeiten und vermehrtem Präsentismus führen. Krank zu arbeiten entspricht diesen Werten und kann in dieser kulturellen Umgebung auch als eine Taktik eingesetzt werden, seine Karriere zu erhalten oder zu fördern (Lu, Cooper et al., 2013). Neben kulturell verankerten Normen haben auch die Arbeitsmarktsituation, die sozialen Sicherungssysteme und die Gesundheitsversorgung Einfluss auf den Umgang der Organisationen mit Absentismus und Präsentismus sowie auf das individuelle Entscheidungsverhalten (Roe & van Diepen, 2011). So beeinflusst beispielsweise unterschiedliche Gesetzgebung zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall das Verhalten, krank zu arbeiten (Baker-McClearn et al., 2010; Irvine, 2011). Pichler und Ziebarth (2017) verglichen Veränderungen von Reformen zur Lohnfortzahlung in Amerika und Deutschland. Auf Basis von wöchentlichen Sekundärdaten von grippeähnlichen Erkrankungen in den USA ließ sich zeigen, dass durch den Zugang zu Lohnfortzahlungen in einigen Stadtgebieten insgesamt die Krankheitsraten sanken. Die Autoren interpretierten die Ergebnisse dahingehend, dass Personen aufgrund der Lohnfortzahlungen weniger häufig mit ansteckender Krankheit arbeiten gehen und hierdurch Ansteckungsraten und Infektionen in der Population verringert werden. Im Vergleich dazu analysierten sie Kürzungen in der Lohnfortzahlung in Deutschland. In Deutschland ist die soziale Sicherung im Vergleich zu den USA deutlich arbeitnehmerfreundlicher. Die Kürzungen von Lohnfortzahlungen in Deutschland führten dazu, dass sich die Absentismuszahlen insgesamt reduzierten. Allerdings war die Reduktion für Infektionskrankheiten geringer als für nicht ansteckende

102

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Muskel-Skelett-Erkrankungen. Die Autoren argumentierten, dass der geringere Rückgang bei den Infektionskrankheiten ein Hinweis auf ansteckenden Präsentismus sein könnte. Durch das Arbeiten trotz Grippe stiegen die Infektionen an, sodass hier der Rückgang der Krankheitstage geringer war als bei Muskel-SkelettErkrankungen. Eine Veränderung der sozialen Sicherungssysteme kann somit Kosten aufgrund von Fehltagen reduzieren, aber auch das Risiko erhöhen, dass Personen mit ansteckenden Krankheiten zur Arbeit kommen und somit zu einer Verbreitung der Erkrankung und damit steigenden Kosten führen (Pichler & Ziebarth, 2017). Zusammenfassend bestehen Treiber von Präsentismus auf verschiedenen Ebenen. In Abbildung 6 sind die verschiedenen Einflussfaktoren noch einmal zusammengefasst. Die Faktoren werden hierbei unterschieden in gesellschaftliche, arbeitsbezogene sowie personenbezogene Faktoren, die einerseits Präsentismus erhöhen, aber auch reduzieren können. So lässt sich festhalten, dass Präsentismus ein multikausales Konstrukt ist, dessen Einflussfaktoren sich auf mehreren Ebenen befinden und zusammenspielen (Claes, 2014; Jung, 2017). Mit Blick auf die Abbildung fällt zudem auf, dass neben dem Gesundheitszustand sowie der emotionalen Erschöpfung vor allem die arbeitsbezogenen Stressoren die stärksten Zusammenhänge (basierend auf der Meta-Analyse von Miraglia & Johns, 2016) aufweisen. Hierbei sind es vor allem aus Arbeitnehmersicht schlecht ausgestaltete Organisationsstrukturen und –bedingungen sowie belastende Beziehungen, die mit mehr Präsentismus einhergehen. Hierunter fallen u. a. auch solche Faktoren, die einen höheren Leistungsdruck für die Beschäftigten erzeugen. Letzteres passt auch zu den personenbedingten Treibern. So scheinen Präsentisten engagiert bis überengagiert zu sein. Faktoren, die Präsentismus reduzieren, sind in der Literatur bisher weniger aufgeführt. Dies stimmt auch mit den Ergebnissen der Meta-Analyse von Miraglia und Johns (2016) überein, in welcher die Ressourcen im Vergleich zu den arbeitsbezogenen Stressoren nur einen sehr geringen Einfluss auf Präsentismus zeigten. Insgesamt scheinen allerdings solche Faktoren Präsentismus zu reduzieren, die mit einer hohen Wertschätzung der individuellen Gesundheit einhergehen.

3.5 Ursachen von Präsentismus 3.5.5

103

Indirekte Wirkung vermittelt über Gesundheit und Motivation

Nachdem in den vorherigen Abschnitten vor allem die direkte Wirkung bestimmter Einflussfaktoren beschrieben wurde, werden im Folgenden mögliche Wirkmechanismen beschrieben, die in der Literatur bereits Anwendung fanden. Wie bereits erwähnt, überprüften Miraglia und Johns (2016) nicht nur direkte Effekte, sondern stellten auch ein meta-analytisches Strukturgleichungsmodell auf, mit welchem sie indirekte Mediationsbeziehungen untersuchten. Basierend auf dem JD-R Modell (vgl. S. 27) überprüften sie zwei parallele Wirkprozesse – einen vermittelnden Prozess über die Gesundheit (Gesundheitspfad) und einen über die Arbeitseinstellung (motivationaler Pfad). Um die indirekten Mediationsbeziehungen zu testen, wurden nun einerseits die generelle Gesundheit und andererseits Arbeitszufriedenheit als Mediatorvariablen verwendet. Diese wurden ausgewählt, da für die Berechnung des metaanalytischen Modells ausreichend Studien und eine hinreichende Stichprobengröße vorliegen müssen. So wären grundsätzlich auch andere Mediatoren wie die emotionale Erschöpfung und für den motivationalen Pfad das Arbeitsengagement oder Commitment denkbar gewesen, die im JD-R Modell häufig verwendet werden (Bakker & Demerouti, 2017). Aus demselben Grund wurden als Einflussfaktoren nicht alle Variablen einbezogen. Sie betrachteten die Arbeitsanforderungen und Kontrolle als übergeordnete Kategorien sowie die Arbeitsunsicherheit, finanzielle Schwierigkeiten, die Unterstützung durch die Kollegen und durch die Führungskraft, Optimismus sowie Geschlecht als Kontrollvariable. Das Modell führte insgesamt zu einer guten Modellgüte. Sie fanden Unterstützung für ihre Mediationshypothesen und es konnten 32 Prozent der Varianz von Präsentismus und 14 Prozent der Varianz von Absentismus durch ihr Modell erklärt werden. Die Ergebnisse des meta-analytischen Mediationsmodells sind in Abbildung 7 zusammengefasst.

104

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Abbildung 7: Ergebnisdarstellung des meta-analytischen Strukturgleichungsmodells von Miraglia & Johns, 2016. (übersetzte Darstellung in Anlehnung an Miraglia & Johns, 2016, S. 274)

Die zwei Mediationspfade können vor allem dazu beitragen, bisher widersprüchliche Ergebnisse zu erklären. So wirken nämlich die Arbeitsstressoren, die Arbeitsunsicherheit und finanzielle Schwierigkeiten indirekt über den Gesundheitspfad positiv auf Präsentismus, während sie vermittelnd über die Arbeitszufriedenheit Präsentismus reduzieren. Die Stressoren verschlechtern die Gesundheit und erhöhen somit das Risiko von Präsentismus, gleichzeitig reduzieren sie aber die Arbeitszufriedenheit und sorgen somit motivationsbedingt dafür, dass Personen weniger häufig krank zur Arbeit kommen wollen. In umgekehrter Richtung liegen die Zusammenhänge bei den personenbezogenen sowie arbeitsbezogenen Ressourcen vor. Optimismus, Unterstützung sowie die Arbeitskontrolle beeinflussen Präsentismus indirekt über die Arbeitszufriedenheit positiv, während der Einfluss vermittelnd über die Gesundheit negativ ist. Die Ressourcen haben also einen positiven Einfluss auf die Gesundheit, sodass die Wahrscheinlichkeit für Präsentismus reduziert wird, sorgen aber dafür, dass Personen zufriedener mit der Arbeit sind und damit trotz einer Erkrankung arbeiten wollen.

3.5 Ursachen von Präsentismus

105

Unterstützung für diese beiden Wirkmechanismen findet sich auch in Modellen anderer Autoren. So liefert die Forschung von Gerich (2014, 2015) Hinweise, dass Gesundheit ein gesonderter Wirkmechanismus ist. Er bezeichnet die gesundheitsbezogenen Faktoren, die in gleicher Weise Präsentismus wie auch Absentismus beeinflussen, als Vulnerabilität. Diese Vulnerabilitätsdeterminanten sind zu unterscheiden von Faktoren, die den Entscheidungsprozess zwischen Präsentismus und Absentismus im Krankheitsfall beeinflussen. Noch näher an der Idee von Miraglia und Johns (2016) befindet sich das aus der Absentismusforschung entstandene Modell von Steers und Rhodes (1978; vgl. auch Rhodes & Steers, 1990). In ihrem empirisch hergeleiteten Modell stellen sie zwei Hauptdeterminanten der Anwesenheit am Arbeitsplatz heraus: die Motivation, zur Arbeit zu erscheinen (motivation to attend) und die Fähigkeit, dies zu tun (ability to attend). Da sich ihr Modell allerdings nicht nur auf krankheitsbedingten Absentismus beschränkt, zählen neben Erkrankungen auch Transportprobleme und Familienverantwortlichkeiten als mögliche Gründe, weshalb Personen nicht zur Arbeit kommen können (ability to attend). Die Anwesenheitsmotivation wird wiederum durch zwei wesentliche Faktoren beeinflusst: die Zufriedenheit mit der Arbeitssituation als sogenannter Sog-Faktor (pull factor) und der Anwesenheitsdruck als Schub-Faktor (push factor). Dies entspricht auch der Einteilung von Lu und Lin et al. (2013). Sie unterscheiden Annäherungs- und Vermeidungsmotive, die beide dazu führen, dass Personen krank zur Arbeit kommen. Im Fall der Annäherung (approach) kommen Personen aus eigenem Antrieb zur Arbeit, aus Loyalität ihrem Arbeitgeber oder Kollegen gegenüber, während im zweiten Fall das Motiv vorherrscht, Unannehmlichkeiten wie soziale Missbilligung oder den Verlust der Arbeitsstelle zu vermeiden. Dies entspricht somit eher den Schub-Faktoren. Insgesamt lassen sich somit drei Wirkmechanismen unterscheiden. Zwei motivationale Mechanismen, denen jedoch unterschiedliche Motive zugrunde liegen. Bei Ersterem werden Personen aus eigenem Antrieb, aus Spaß an der Arbeit oder aus Loyalität zur Arbeit hingezogen (Sog- Faktoren). Beim zweiten Wirkmechanismus sorgen der wahrgenommene Anwesenheitsdruck und die Angst vor negativen Konsequenzen dafür, dass Personen krank zur Arbeit kommen (SchubFaktoren). Auch Miraglia und Johns (2016) schlagen im Rahmen der Diskussion in ihrer Meta-Analyse die gefühlte Verpflichtung, zur Arbeit zu kommen, als weiteren Mediator vor. Der dritte Mediator beschreibt die Wirkung über die Gesundheit. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands erhöht allerdings sowohl

106

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Präsentismus als auch Absentismus, wirkt also hier für Präsentismus und Absentismus in dieselbe Richtung. Für die verbleibenden zwei Mechanismen gilt aber, dass Präsentismus erhöht, Absentismus aber reduziert wird. Die Wirkung ist demnach in entgegengesetzter Richtung und bestätigt somit die Substitutionshypothese. Alle drei Mechanismen werden von Oppolzer (2010) aufgegriffen. Er beschreibt als Determinanten der Anwesenheit auf der Arbeit das „Zusammenspiel von sozialem Sollen, individuellem Wollen und persönlichem Können“ (Oppolzer, 2010, S. 181), welches geprägt wird durch die betriebliche Situation und auch mit dieser interagiert. Es lässt sich somit festhalten, dass Präsentismus nicht nur ein multi-kausales Konstrukt ist, sondern auch verschiedene Wirkmechanismen bestehen, die den Einfluss einer Vielzahl von Faktoren auf das Verhalten, krank zu arbeiten, erklären. Insgesamt ist bei der Interpretation dieser Faktoren als Ursachen von Präsentismus allerdings auch Vorsicht geboten. So beruhen die Ergebnisse zum größten Teil auf Querschnittsstudien, die keine kausalen Rückschlüsse ermöglichen. Die Meta-Analyse von Miraglia und Johns (2016) basiert mit Ausnahme von fünf Studien nur auf Querschnittsstudien, sodass auch reverse Kausalbeziehungen denkbar sind. Einige der in der Meta-Analyse genannten Zusammenhänge wie die Korrelationen von Präsentismus und Produktivität, Arbeitsleistung sowie Absentismus werden deshalb auch erst im folgenden Abschnitt als mögliche Konsequenzen von Präsentismus berichtet. 3.6

Konsequenzen von Präsentismus

Nachdem die Ursachen von Präsentismus umfänglich dargestellt wurden, werden im folgenden Abschnitt die Konsequenzen des Verhaltens beschrieben. Hierbei ist das Verhalten nicht nur mit Folgen für die Individuen verbunden, sondern es hat auch Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit Kollegen und der Führungskraft, auf die Organisation sowie die Gesellschaft (Claes, 2014; Lohaus & Habermann, 2018a). 3.6.1

Konsequenzen für Individuen

Das Verhalten, krank zu arbeiten, hat für die ausübenden Individuen weitreichende Folgen. Diese sind allerdings nicht nur nachteilig, sondern Präsentismus kann auch förderlich für Individuen sein. Dies wird auch in der explorativen Studie von Çetin

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

107

(2016) deutlich. Der Autor befragte 126 Personen aus unterschiedlichen Branchen aus Istanbul im Rahmen einer schriftlichen Befragung mit offenen Antwortfeldern zu ihrer Einschätzung, welche positiven und negativen Konsequenzen mit Präsentismus verbunden sind. Als negative Folgen nannten die Befragten eine Verschleppung oder Verschlimmerung der Krankheit, eine reduzierte Arbeitsleistung, eine negative Beeinflussung und Ansteckung Dritter (z. B. Kunden oder Kollegen), reduzierte Motivation und Arbeitszufriedenheit sowie eine höhere Wahrscheinlichkeit von Arbeitsunfällen. Als positiv schätzten sie hingegen ein, dass durch das Arbeiten trotz Krankheit der Aufwand einer Krankschreibung vermindert wird, sich die Arbeit nicht auftürmt, dass die Führungskraft das Verhalten als positiv bewertet und die Personen ihre Stärke sowie Identifikation mit der Arbeit zeigen können. Zusätzlich zu dieser Studie finden sich in der Literatur weitere Hinweise, dass Präsentismus die Arbeitseinstellung, sowie das Arbeitsverhalten, das Wohlbefinden und die Gesundheit beeinflusst. Einfluss auf die Arbeitseinstellungen In Bezug auf die Arbeitseinstellungen wurden bisher vor allem die Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitszufriedenheit, das Arbeitsengagement und das Commitment untersucht. Karanika-Murray, Pontes, Griffiths und Biron (2015) argumentieren, dass Präsentismus als Entscheidung unter Druck und als Arbeiten mit limitierter Kapazität die Arbeitszufriedenheit negativ beeinflusst. Die Ergebnisse ihrer Querschnittsstudie in Großbritannien (N=158) stützten ihre Hypothese. Dabei deckten sie zwei Wirkmechanismen auf. Präsentismus reduziert das Arbeitsengagement und erhöht die Arbeitssucht, was beides zu einer geringeren Arbeitszufriedenheit führt. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Querschnittsstudie, sodass nicht auf Kausalität geschlossen werden kann und die Beziehungen zwischen den Variablen auch andersherum vorliegen könnte (vgl. 3.5.1). Darüber hinaus betrachten zwei Studien von Lu und Kollegen die Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitszufriedenheit. In ihrer cross-kulturellen Querschnittsstudie zwischen chinesischen und britischen Arbeitnehmern fanden sie zwar eine negative Korrelation und einen negativen Beta-Koeffizienten im Rahmen der hierarchischen Regressionsanalysen. Letzterer ist allerdings nicht signifikant (Lu, Cooper et al., 2013). Dem widersprechen die Ergebnisse ihrer zweiten Untersuchung von Mitarbeitern aus Taiwan mit zwei Messzeitpunkten mit einem Abstand von zwei Monaten. Die Autoren stützten sich auf das Anstrengungs-Erholungs-Modell (vgl.

108

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Seite 31) von Meijman und Mulder (1998) und stellten die Annahme auf, dass das Arbeiten trotz Krankheit negative affektive Reaktionen hervorruft, welche dann zur Unzufriedenheit führen, wofür sie empirische Belege fanden. Die Veränderung von Präsentismus (errechnet durch die Häufigkeit von Präsentismus zum zweiten Messzeitpunkt minus der Häufigkeit zum ersten Messzeitpunkt) hatte einen signifikanten negativen Einfluss auf die Veränderung der Arbeitszufriedenheit. Darüber hinaus lieferten Strukturgleichungsanalysen im cross-lagged-panel Design Hinweise auf eine reziproke Beeinflussung von Präsentismus und Arbeitszufriedenheit. Auch für den Einfluss von Präsentismus auf das Arbeitsengagement liegen längsschnittliche Belege vor. In zwei Tagebuchstudien von Christian et al. (2015) zeigten Schmerzen als spezifisches Symptom bei Erkrankungen einen signifikanten negativen Einfluss auf das Arbeitsengagement. Dabei untersuchten sie diesen Zusammenhang sowohl bei Personen mit chronischen Schmerzen als auch in einer nicht-klinischen Stichprobe mit unregelmäßigen, akuten Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen). Den Einfluss von Präsentismus auf das organisationale Commitment der Mitarbeiter untersuchten Collins et al. (2018). In einer Befragung von 568 Mitarbeitern aus sieben Organisationen des öffentlichen und privaten Sektors in Großbritannien korrelierte häufiges Arbeiten trotz Krankheit (> 5 Tage in den letzten 3 Monaten) signifikant und negativ mit organisationalem Commitment im selben und im Folgejahr. Insgesamt weisen die Studien somit daraufhin, dass Präsentismus positive Arbeitseinstellungen wie Arbeitszufriedenheit, das Arbeitsengagement oder Commitment reduzieren kann. Darüber hinaus hat Präsentismus nicht nur einen Einfluss auf die Arbeitseinstellungen, sondern scheint auch das private Umfeld zu belasten. So fanden zwei Querschnittsstudien mit Stichproben aus Italien von Mazzetti et al. (2017) und Panari und Simbula (2016) einen positiven Zusammenhang zwischen Präsentismus und dem wahrgenommenen Vereinbarkeitskonflikt zwischen Arbeit und Familie. Dieser scheint dabei besonders stark zu sein, wenn auch die Unterstützung durch die Führungskraft als gering wahrgenommen wird (Mazzetti et al., 2017). Allerdings liegen für diesen Zusammenhang nur Querschnittsstudien vor, sodass die Ergebnisse auch als Hinweis gelten können, dass Vereinbarkeitskonflikte Präsentismus erhöhen (vgl. 3.5.2). Hier sind Längsschnittstudien notwendig, die die möglicherweise vorherrschenden Wechselbeziehungen aufdecken können.

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

109

Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden Bezüglich des Einflusses von Präsentismus auf die Gesundheit und das Wohlbefinden betonen die meisten Studien die gesundheitsschädigende Wirkung von Präsentismus. So liegen mehrere aktuelle Querschnittstudien vor, die Präsentismus als vermittelnde Variable zwischen den Arbeitsstressoren und dem Gesundheitszustand sowie dem Wohlbefinden sehen (Baeriswyl, Krause, Berset & Elfering, 2017; Hägerbäumer, 2017; Knecht et al., 2017; Panari & Simbula, 2016). Vor allem Arbeitsstressoren, die mit indirekten Steuerungssystemen verbunden sind, führen durch vermehrte Selbstgefährdung (u.a. Präsentismus) der Mitarbeiter zu Erschöpfung (Knecht et al., 2017). Baeriswyl et al. (2017) fanden Hinweise für die vermittelnde Wirkung von Präsentismus auf den Zusammenhang zwischen Arbeitsmenge und emotionaler Erschöpfung sowie auf den Zusammenhang zwischen kollegialer Unterstützung und Erschöpfung. Die Querschnittsstudien lassen allerdings keine Rückschlüsse auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu, sodass für eine Beurteilung des Einflusses von Präsentismus auf die Gesundheit und das Wohlbefinden Längsschnittstudien betrachtet werden sollten. Skagen und Collins (2016) fassten diese Längsschnittstudien in ihrer systematischen Überblicksarbeit zusammen. Die Autoren identifizierten 12 Studien mit mindestens zwei Messzeitpunkten, die Präsentismus explizit gemessen haben und in Zeitschriften mit Begutachtungsverfahren erschienen sind. Die Ergebnisse der Studien werden im Folgenden kurz dargestellt. Eine Übersicht der Studien aus der Überblicksarbeit, aktualisiert um weitere Studien, befindet sich in Tabelle 3. Die Wirkung von Präsentismus auf den selbsteingeschätzten Gesundheitszustand untersuchten fünf Studien, die alle eine Einzelitem-Messung zur Erfassung des Gesundheitszustands einsetzten. So berichteten Mitarbeiter aus dem öffentlichen und privaten Sektor in Schweden, die mindestens zweimal krank arbeiteten, nach 18 und 36 Monaten von einem schlechteren Gesundheitszustand. Die Zusammenhänge blieben signifikant trotz Kontrolle des Gesundheitszustand, der Vitalität und der Krankmeldungen zu Beginn der Befragung (Bergström, Bodin, Hagberg, Lindh et al., 2009). Auch zwei weitere Studien mit repräsentativen Stichproben aus Schweden bestätigten den Zusammenhang. Für Personen, die mehr als zweimal bzw. fünfmal zur Arbeit gingen, obwohl es für ihren Gesundheitszustand besser gewesen wäre, sich krank zu melden, erhöhte sich das Risiko eines schlechteren Gesundheitszustands signifikant nach einem Jahr (Gustafsson & Marklund,

110

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

2011) bzw. nach zwei Jahren (Dellve et al., 2011). Auch in Deutschland zeigte sich Präsentismus als signifikanter Prädiktor eines schlechten Gesundheitszustands sechs Monate später (Hägerbäumer, 2017). Die Ergebnisse der repräsentativen Befragung in Schweden von Taloyan et al. (2012) deuten zwar auch in dieselbe Richtung, allerdings war der Effekt von Präsentismus auf den Gesundheitszustand nicht mehr signifikant, wenn für emotionale Erschöpfung kontrolliert wurde. So kann vermutet werden, dass Erschöpfung die Verschlechterung des Gesundheitszustands durch Präsentismus erklärt. Einige Studien unterscheiden zudem den Einfluss von Präsentismus auf die psychische und die physische Gesundheit. Für die psychische Gesundheit liegen Hinweise aus sieben Studien vor. So zeigte sich bei Mitarbeitern aus verschiedenen Organisationen in Dänemark, die mehr als sieben Tage krank zur Arbeit gingen, ein 2.45-fach höheres Risiko nach zwei Jahren an einer Depression zu erkranken. Dieser Zusammenhang blieb signifikant trotz Kontrolle für demografische, gesundheitsbezogene Variablen sowie Variablen der psychosozialen Arbeitsumgebung und dem Anzeichen von reduzierter psychischer Gesundheit zu Beginn der Studie. Als mögliche Erklärung führten Conway, Hogh, Rugulies und Hansen (2014) an, dass Präsentismus zum einen, basierend auf den AnstrengungsErholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998), eine Spirale erhöhter Anstrengung und fehlender Erholung einleitet, die dann langfristig in eine Depression mündet. Zum anderen kann Präsentismus aber auch auf bestimmte Persönlichkeitseigenschaften hindeuten, die eher mit gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen und einem höheren Risiko für Depressionen verbunden sind. Eine dritte Erklärung könnte die mit Präsentismus einhergehende reduzierte Leistungsfähigkeit sein, die dann die Beziehungen auf der Arbeit und das eigene Selbstwertgefühl verschlechtert. Vor allem hinsichtlich der Wirkmechanismen besteht aus Sicht der Autoren somit noch Forschungsbedarf (Conway et al., 2014). Neben Depressionen werden auch Burnout und psychisches Wohlbefinden als Konsequenzen von Präsentismus betrachtet. So berichten Personen, die mindestens zweimal trotz Krankheit arbeiteten, zwei Jahre später von einem höherem Burnoutgefühl (Dellve et al., 2011). Auch Demerouti, Le Blanc, Bakker, Schaufeli und Hox (2009) untersuchten den Einfluss von Präsentismus auf die Burnout-Dimensionen emotionale Erschöpfung und Depersonalisation (vgl. S. 81) im Rahmen einer Befragung in einem niederländischen Krankenhaus (N=258) mit

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

111

drei Messzeitpunkten. Hierbei hatte Präsentismus zum zweiten Messzeitpunkt signifikante, positive Zusammenhänge mit emotionaler Erschöpfung und Depersonalisation ein halbes Jahr später. Präsentismus zum ersten Messzeitpunkt hatte allerdings keinen signifikanten Effekt auf emotionale Erschöpfung zum zweiten Messzeitpunkt. Hier lag aber ein reverser Effekt von emotionaler Erschöpfung auf Präsentismus ein Jahr später vor, sodass insgesamt Hinweise für reziproke Wirkbeziehungen der beiden Konstrukte bestehen. Emotionale Erschöpfung scheint das Risiko, krank zu arbeiten, zu erhöhen, was dann wieder zu einer erhöhten Erschöpfung ein halbes Jahr später führt. Für Depersonalisation fanden die Autoren keine Wechselbeziehungen, allerdings bestand ein signifikanter, negativer Zusammenhang von Präsentismus zum ersten Messzeitpunkt und Depersonalisation zum dritten Messzeitpunkt, was von den Autoren „als statistisches Artefakt interpretiert wurde“ (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 118). Für zwei Studien mit kürzeren Untersuchungsabständen liegen allerdings widersprüchliche Hinweise vor. Während Lu und Lin et al. (2013) für die Veränderung von Präsentismus vom ersten auf den zweiten Messzeitpunkt zwei Monate später einen signifikanten negativen Einfluss auf die Veränderung der Erschöpfung und der psychischen Gesundheit fanden, war der Zusammenhang zwischen Präsentismus und diesen beiden Indikatoren für psychische Gesundheit drei Monate später in einer zweiten Studie von Lu und Kollegen (2014) nicht signifikant. Auch Collins et al. (2018) beobachten in ihrer Untersuchung nur einen, knapp auf einem Signifikanzniveau von p < 0.1, vorliegenden Zusammenhang von häufigem Präsentismus (> fünf Tage) und psychischem Wohlbefinden ein Jahr später. Deutlicher sind hingegen die Ergebnisse von Gustafsson und Marklund (2011). Basierend auf ihrer Untersuchung in Schweden mit drei Messzeitpunkten (von 2004 bis 2006) finden sie Belege, dass Personen, die mehr als fünf Mal krank zur Arbeit gingen, ein Jahr später ein schlechteres psychisches Wohlbefinden aufwiesen. Werden Präsentismus und Absentismus in Kombination betrachtet, zeichnet sich ab, dass vor allem die Personen von einem schlechteren psychischen Wohlbefinden berichten, die häufig Präsentismus, aber wenig Absentismus zeigen. In der Gruppe mit hohem Präsentismus, aber niedrigen Absentismushäufigkeiten dominierten dabei vor allem Männer, Fachpersonal, „Unersetzbare“ und Personen mit höheren Vereinbarkeitskonflikten zwischen Beruf und Familie (Gustafsson & Marklund, 2014). In Bezug auf die physische Gesundheit liegen weniger Ergebnisse vor. Während sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Präsentismus (> 2 Mal)

112

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

und physischen Beschwerden zeigte (Gustafsson & Marklund, 2011), widersprechen sich die Befunde der Studien von Lu und Kollegen. Die Veränderung von Präsentismus vom ersten Messzeitpunkt zum zweiten zwei Monate später steht zwar signifikant und negativ in Beziehung mit der Veränderung der physischen Gesundheit (Lu, Lin et al., 2013), der Zusammenhang zwischen Präsentismus und der physischen Gesundheit drei Monate später ist allerdings nicht signifikant. Als Hinweis für den Einfluss von Präsentismus auf die physische Gesundheit kann auch noch die Studie von Kivimäki et al. (2005)39 gewertet werden. Männliche Personen, die im Rahmen eines Screenings zu Beginn der Befragung zwar einen schlechten Gesundheitszustand angaben, allerdings in den folgenden drei Jahren keine krankheitsbedingten Fehltage zeigten, wurden hierbei als Präsentisten identifiziert. Es stellte sich heraus, dass für diese Gruppe ein doppelt so hohes Risiko bestand, neun Jahre später „eine schwere bis tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erleiden“ (Steinke & Badura, 2011, S. 71) im Vergleich zu Personen mit moderaten Absentismustagen. Trotz der von Steinke und Badura (2011) angeführten Mängel der Studie (wie z. B. eine reine Männer-Stichprobe, keine direkte Erfassung von Präsentismus) kann sie trotzdem als Beleg gelten, dass Präsentismus einen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen darstellt.

39

Da Präsentismus in dieser Studie nicht direkt gemessen wurde, ist die Studie nicht in Tabelle 3 erfasst.

Bergström et al., 2009 (Zwei Studien)

Referenz

„going to work despite illness“ (S. 1179)

“ Has it happened over the previous 12 months that you have gone to work despite feeling that you really should have taken sick leave due to your state of health?” (S. 11811182)

Präsentis- Präsentismusmusdefinition Messung

Studie 2 = ein Jahr, 2 Jahre

Untersuchter Abstand Studie 1 = 18 und 36 Monate

Mitarbeiter aus dem öffentlichen und privaten Sektor in Schweden für Präsentismus >5 Mal

für das Folgejahr,

für Präsentismus > 2 Mal, nach 18 und 36 Monaten

Länger als 30tägiger Arbeitsausfall

Absentismus (Dauer, Häufigkeit) ✔

befinden

Psychische ArbeitsGesundheit/ Physische Gesundheit fähigkeit Wohl-



Forschungs- Selbst eingedesign, schätzte zeitlicher Gesundheit Abstand

Ergebnisvariablen

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 113

Tabelle 3: Übersicht über Studien zum Einfluss von Präsentismus auf das Wohlbefinden und die Gesundheit

Referenz

Collins, Cartwright & Cowlishaw, 2018

Präsentismusdefinition

“ attending work while ill” (S. 68)

PräsentismusMessung

“ Over the last 3 months how many working days have you been coming to work through illness or injury?” (S. 73) (Dummykodiert für Analysen 0 Tage, 1-5 Tage und < 5 Tage

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand 56840 Mitarbeiter aus sieben Organisationen des öffentlichen und privaten Sektors in Großbritannien (Polizeikräfte, Primary Care Trust, Produktion), Untersuchter Abstand = 1 Jahr

befinden

Psychische Gesundheit/ Wohl-

Ergebnisvariablen Selbst eingeschätzte Gesundheit ✔

p < .1

für Präsentismus > 5 Tage,

Physische Gesundheit

Arbeitsfähigkeit

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)

Im Abstract wurden 552 Mitarbeiter angegeben. Im Text wurde aber eine Stichprobengröße von N = 568 im Rahmen der Berechnung der Strukturgleichungsmodelle berichtet.

40

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 114

„attending “ How many 227 Mitarbeiwork while times during the ter aus einem ill“ (S. 352) past 12 months Notruf Callhave you gone to center in work despite feel- Großbritaning that you re- nien mit Unally should have ternehmenstaken sick leave daten zu den because of your Fehltagen state of health?” Untersuchter (S. 358) Abstand = 12 Monate

Deery et al., 2014

Drei Kategorien: Unter0 Tage, 1-7 Tage, suchter > 7 Tage Abstand = 2 Jahre

“ How many 1271 Mitarworking days beiter aus have you gone to verschiedework even though nen öffentliyou were ill dur- chen und priing the last 12 vaten Untermonths?” nehmen in (S.596) Dänemark

Forschungs- Selbst eingedesign, schätzte zeitlicher Gesundheit Abstand

„Phenomenon that people, despite complaints and ill-health that should prompt them to rest and take sickleave, go to work in any case” (S.595)

Präsentismus- Präsentismusdefinition Messung

Conway et al., 2014

Referenz

für Präsentismus > 7 Tage



befinden

Psychische ArbeitsGesundheit/ Physische Gesundheit fähigkeit Wohl-

Ergebnisvariablen



Durchschnittliche Fehlzeitenlänge

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 115

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 116

Referenz

Dellve, Hadzibajramovic und Ahlborg, 2011

Präsentismusdefinition

“ Attending work in spite of being sick” (S. 1918)

PräsentismusMessung

“ How many times during the last year have you gone to work when you should have been on sick leave due to your health condition? Answers: None/onc e/2–5 times/>5 times)” (S. 1921) >zweimal

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand Stichprobe aus dem Gesundheitssektor in Schweden (N= 1820) Untersuchter Abstand = 2 Jahre

Selbst eingeschätzte Gesundheit ✔

Physische Gesundheit



Arbeitsfähigkeit

Ergebnisvariablen Psychische Gesundheit/ Wohlbefinden ✔

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)



Mindestens 2 Wochen aktuell oder mindestens 60 Tage im letzten Jahr

„phenomenon of employees staying at work when they should be off sick” (S.50)

“ a phenomenon that entails people choosing to go to work despite being ill” (S. 153)

Gustafsson & Marklun d, 2011

258 Krankenschwestern aus einem niederländischen Krankenhaus Untersuchte Abstände = 1 Jahr und 6 Monate

Forschungs- Selbst eingedesign, schätzte zeitlicher Gesundheit Abstand

“ Has it haprepräsentative ✔ pened over the Zufallsstichfür Präsenprevious 12 probe in tismus > 5 months that you Schweden Mal have gone to mit drei work despite feel- Messzeiting that you re- punkten ally should have taken sick leave Untersuchter because of your Abstand = 1 state of health?” Jahr (S.156) Dichotom: 0 = nie, einmal, 1 = >zweimal

“ Has it happened over the previous 12 months that you have gone to work despite feeling sick?” Dichotom: 0 = Nein, 1 = Ja

Präsentismus- Präsentismusdefinition Messung

Demero uti et al., 2009

Referenz

für Präsentismus > 5 Mal



für den Abstand von 6 Monaten



befinden





Psychische ArbeitsGesundheit/ Physische Gesundheit fähigkeit Wohl-

Ergebnisvariablen



Anzahl Tage, mehr als eine Woche

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 117

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 118

Referenz

Präsentismusdefinition

PräsentismusMessung Selbst eingeschätzte Gesundheit

Physische Gesundheit

Arbeitsfähigkeit

Ergebnisvariablen Psychische Gesundheit/ Wohlbefinden

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)

Anzahl der krankheitsbedingten Fehltage letzten 6 Monate

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand

Eigene entwi- 234 Berufstäckelte Skala mit tige des Inforden zeitlichen mations- und Rahmen von 12 MeinungsfreiMonaten bei der heitspanel „Soersten und 6 Mo- zioland“ Untersuchnaten bei der ter Abstand zweiten = 6 MoMessung nate



Hägerbäumer, 2017

„Verhalten von Berufstätigen, trotz Vorliegen von Krankheitssymptomen weiter ihrer Arbeitstätigkeit nachzugehen“ (S.92)

Länger ✔ als 2 für Prä- Wosentis- chen mus > 5 am Mal Stück oder über 2 Monate am Stück



Hansen & Andersen, 2009

“ going to work despite illhealth” (S. 397)

„How many repräsentative times during the Stichprobe aus last 12 months Dänemark (N= have you gone to 11838) mit Rework even gisterdaten zu though it would krankheitsbehave been rea- dingten Fehlsonable to take zeiten sick leave? Untersuchter (S.399) Drei Kategorien:< 2 Abstand = 1,5 Mal, Zwischen Jahre 2-5, > 5 Mal

„The relation between presenteeism and different types of future sickness absence“ (S. 132)

“ attending work while ill, or succinctly put, ‘ unhealthy and present’ ” (S. 406)

Lu et al., 2013

Forschungs- Selbst eindesign, geschätzte zeitlicher Gesundheit Abstand

“ Have you experi- 245 Mitarbeience the following ter aus verin the last 6 months? schiedenen 1. Although you feel Organisatiosick, you still force nen in yourself to go to Taiwan work. 2. Although you Untersuchter have physical symp- Abstand = 2 toms such as head- Monate ache or backache, you still force yourself to go to work.” (S. 411)

a single question as- Mitarbeiter sessing how often aus sieben employees came belgischen working Unternehmen despite being ill dur- (N = 2983) ing the last year (S. mit Unterneh135) mensdaten zu den krankheits-bedingten Fehlzeiten Untersuchter Abstand = 1 Jahr

Präsentismus- Präsentismusdefinition Messung

Janssens et al., 2013

Referenz



Psychische Gesundheit/ Wohlbefinden



kurze Fehlzeiten nur für Frauen

für Präsentismus > 5 Mal



Mehr als 15 Tagen oder häufige kurze Fehlzeiten (< 3 Tage)

Physische Arbeits- Absentismus (Dauer, Gesundfähigkeit Häufigkeit) heit

Ergebnisvariablen

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 119

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 120

Lu et al., 2014

“ employees are physically present but they actually feel they should take sick leave” (S.165)

Präsentismusdefinition

Siehe Lu et al., 2013

PräsentismusMessung

Referenz

Strasser et al., 2017

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand 245 Mitarbeiter aus Taiwan und 100 Mitarbeiter vom Festland in China Untersuchter Abstand = 3 Monate

Untersuchter Abstand = 3 Wochen

1) Präsentismus 1629 (NWoche 3 retrospektiv be- = 1196) Mitarbeiter in 11 zogen auf die letzten 6 Monate Geschäftsbe(Mobile Office, reichen von Swiss Life in Büro) der Schweiz

„Anwesenheit bei der Arbeit trotz gesundheitlicher oder anderweitiger Beeinträchtigung, die eine Abwesenheit legitimiert hätte“ (S. 37)

Selbst eingeschätzte Gesundheit

n.s.

Physische Gesundheit

Arbeitsfähigkeit

Ergebnisvariablen Psychische Gesundheit/ Wohlbefinden n.s.

Absentismus (Dauer, Häufigkeit)



Anzahl Tage der letzten 3 Wochen

“ going to work despite feeling unhealthy” (S. 1)

Drei Kategorien: 0 Tage, 1-7 Tage, > 7 Tage

“ How many days in total during the last 12 months did you go to work despite thinking that you should have reported in sick considering your health status?” (S. 2)

Präsentismus- Präsentismusdefinition Messung

Untersuchter Abstand = 2 Jahre

Repräsentative Stichprobe aus Schweden (N = 7445) (nach Kontrolle emotionaler Erschöpfung)

(nach Kontrolle emotionaler Erschöpfung)

Mehr als 7 Tage

Physische Arbeits- Absentismus (Dauer, Gesundfähigkeit Häufigkeit) heit n.s.

Psychische Gesundheit/ Wohlbefinden

n.s.

Forschungs- Selbst eindesign, geschätzte zeitlicher Gesundheit Abstand

Anmerkungen. ✔ = Es wurde ein signifikanter Zusammenhang gefunden. n.s. = Es liegt ein nicht signifikanter Zusammenhang vor. N = Stichprobengröße.

Taloyan et al., 2012

Referenz

Ergebnisvariablen

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 121

122

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Für die Auswirkung von Präsentismus auf die zukünftige Arbeitsfähigkeit deuten die folgenden beiden Studien in dieselbe Richtung. Personen, die mehr als zweimal krank zur Arbeit kamen, berichteten ein Jahr bzw. zwei Jahre später von einer geringeren Arbeitsfähigkeit (Dellve et al., 2011; Gustafsson & Marklund, 2011). Allerdings scheinen auch längere Absentismuszeiten zu einer geringeren Arbeitsfähigkeit zu führen (Gustafsson & Marklund, 2011, 2014). Dies passt zu den Annahmen des Modells von Aronsson und Gustafsson (2005). So kann krankheitsbedingter Absentismus zwar gesundheitsfördernd sein, weil er Erholung ermöglicht, aber lange Fehlzeiten können auch den Wiedereinstieg in die Berufstätigkeit erschweren und Personen vom Arbeitsmarkt ausschließen, worauf der zeitverzögerte Einfluss auf die selbsteingeschätzte Arbeitsfähigkeit einen Hinweis gibt. Belege für die erholende Wirkung von Absentismus liefern Dellve et al. (2011). Moderater Absentismus (bis zu sieben Tage) in Kombination mit maximal einmal Präsentismus wirkte sich gesundheitsförderlich aus. Die von den Autoren bezeichnete „ausgewogene Anwesenheit“ erwies sich in ihrer Studie als ein protektiver Faktor hinsichtlich eines schlechten Gesundheitszustands, Burnout, krankheitsbedingtem Absentismus und einer reduzierten Arbeitsfähigkeit zwei Jahre später. Die meisten der betrachteten Studien befassen sich aber mit dem Zusammenhang von Präsentismus und zukünftigem Absentismus, worüber ein relativ klares Bild besteht. Grundsätzlich scheinen Personen, die häufiger krank arbeiten, in den folgenden drei Wochen (Strasser et al., 2017) sowie in den folgenden sechs Monaten (Hägerbäumer, 2017) mehr Tage krankheitsbedingt auszufallen. Hierbei finden sich Belege, dass Präsentismus nicht nur generell zu mehr Absentismus führt, sondern auch zu einer längeren Ausfalldauer. So erwies sich in zwei schwedischen Studien das Risiko für Ausfallzeiten von mindestens zwei Wochen, mehr als 60 Tagen innerhalb des letzten Jahres (Dellve et al., 2011) oder Ausfallzeiten von mehr als einer Woche (Gustafsson & Marklund, 2011) als signifikant höher, wenn Personen mindestens zwei Mal krank arbeiteten. Auch Hansen und Andersen (2009), Bergström, Bodin, Hagberg und Aronsson et al. (2009) sowie Janssens, Clays, Clercq, Bacquer und Braeckman (2013) finden signifikante Zusammenhänge nach Kontrolle weiterer Einflussfaktoren. Häufiges Arbeiten trotz Krankheit (< fünf Mal) scheint zu einem ca. 1.5-fach höheren Risiko eines länger

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

123

als 30-tägigen Arbeitsausfalls im Folgejahr zu führen (Bergström, Bodin, Hagberg, Aronsson et al., 2009). Hansen und Andersen (2009) finden zudem in ihrer Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe aus Dänemark (N = 11 838) mit Registerdaten zu krankheitsbedingten Fehlzeiten, dass häufiges Arbeiten, obwohl es besser gewesen wäre, sich krank zu melden (< fünf Mal) das Risiko von krankheitsbedingten Ausfallzeiten länger als zwei Wochen und länger als zwei Monate in den folgenden 1.5 Jahren deutlich erhöht. Bei den Ausfallzeiten von über zwei Monaten steigt die Wahrscheinlichkeit sogar um 74 Prozent an. Abweichend von den bisherigen Studien unterscheiden Janssens et al. (2013) den Einfluss von Präsentismus auf kurzfristige und langfristige Absentismuszeiten. In ihrer Untersuchung von Mitarbeitern aus sieben belgischen Unternehmen (N = 2 983) mit Unternehmensdaten zu den krankheitsbedingten Fehlzeiten zeigten sich signifikante positive Zusammenhänge zwischen häufigem Präsentismus (< fünf Mal) und krankheitsbedingten Fehlzeiten von mehr als 15 Tagen im darauf folgenden Jahr. In Bezug auf die Häufigkeit von Fehlzeiten mit weniger als drei Tagen zeigte sich nach Kontrolle weiterer Einflussvariablen nur für Frauen ein erhöhtes Risiko, wenn sie mehr als fünf Mal krank zur Arbeit gingen. So scheint der Einfluss von Präsentismus auf die längeren Absentismuszeiten stärker zu sein als auf die kurzfristigen und häufigeren Ausfalltage. Dies entspricht auch den Vermutungen der Autoren, die annehmen, dass Präsentismus die Erholung verhindert und hierdurch zu einer Verschlimmerung und Verschleppung der Erkrankung und zu zukünftig längerfristigen Ausfällen führt. Dies stimmt auch mit der Untersuchung von Deery et al. (2014) überein, in welcher Präsentismus positiv mit einer höheren durchschnittlichen Fehlzeitendauer verbunden war. Dabei vermittelte Präsentismus den Zusammenhang von Arbeitsstressoren (Arbeitsüberlastung und Anwesenheitsdruck) und der durchschnittlichen Fehlzeitendauer. Deery et al. (2014) deckten aber zudem noch die distributive Gerechtigkeit als protektiven Faktor auf. Präsentismus führte somit nicht zu längeren durchschnittlichen Fehlzeiten, wenn die Organisation als fair wahrgenommen wurde. Als Ausnahme zum Rest der vorgestellten Studien ist der Zusammenhang von Präsentismus und dem krankheitsbedingten Absentismus zwei Jahre später in der Studie von Taloyan et al. (2012) nach Kontrolle der emotionalen Erschöpfung nicht mehr signifikant. Dies könnte aber erneut darauf hindeuten, dass Erschöpfung als Mediator fungiert. Insgesamt legt die aktuelle Forschung dar, dass Präsentismus auf unterschiedliche Gesundheitsindikatoren wirkt. Allerdings bestehen methodische

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Schwierigkeiten, die einen Vergleich der Studien erschweren. So wird Präsentismus unterschiedlich erfasst und kategorisiert, es werden verschiedene Kontrollvariablen genutzt und unterschiedliche Zeiträume betrachtet (vgl. auch Tabelle 3). Vor allem im Hinblick auf die kurzfristige Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit liegen wenige und widersprüchliche Erkenntnisse vor. Trotz der methodischen Schwierigkeiten und dem noch bestehendem Forschungsbedarf bewerten Skagen und Collins (2016) vor allem die Zusammenhänge von Präsentismus und dem selbsteingeschätzten Gesundheitszustand sowie zukünftigen Absentismus als gesichert. Darüber hinaus deuten die meisten Studien zudem auf eine Dosis-Wirkung hin. Je höher die „Präsentismus-Dosis“ (> fünf Mal oder > sieben Tage), desto höher ist auch das Risiko einer Verschlechterung der Gesundheit. Die bisher dargestellten Studien sehen Präsentismus vor allem als Risikofaktor. Allerdings wird zunehmend betont, dass Präsentismus auch gesundheitsförderlich sein kann. Einige wenige Studien finden Belege für eine salutogene Wirkung von Präsentismus. Im Rahmen eines Quasi-Experiments verglichen Howard, Mayer und Gatchel (2009) Beschäftigte mit einer chronischen Muskel-Skelett-Erkrankung, die während eines Rehabilitationsprogramms „mindestens drei Monate (…) 20 Prozent ihrer ursprünglichen Arbeitszeit“ (Jung, 2017, S. 216) arbeiteten, mit Teilnehmern, die nicht arbeiteten. In der Befragung nach einem Jahr zeigte sich, dass die Präsentisten im Vergleich zu den Absentisten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit wieder in ihren Beruf zurückkehrten und ihre Arbeitsstelle behielten. Zudem war ein höherer Anteil der Präsentisten nach einem Jahr wieder Vollzeit tätig und übernahm die vollen Arbeitsverpflichtungen. Steinke und Badura (2011) verweisen allerdings auf methodische Schwächen der Studie. So überschneiden sich die unabhängige und abhängige Variable inhaltlich und auch die Vergleichsgruppen weisen signifikante Unterschiede auf. Weitere Hinweise für die salutogene Wirkung von Präsentismus ergeben sich aber auch aus Studien von de Vries, Reneman, Groothoff, Geertzen und Brouwer (2012a), de Vries, Brouwer, Groothoff, Geertzen und Reneman (2011) und Holland und Collins (2018). Erstgenannte Studie verglich Personen, die trotz chronischer Erkrankung arbeiten, mit krankgeschrieben Mitarbeitern, die auch an chronischen MuskelSkelett-Erkrankungen litten. Es stellte sich heraus, dass Präsentisten von einer signifikant höheren Selbstwirksamkeit und höheren Schmerz-Akzeptanz berichten als Absentisten, also insgesamt besser mit ihren Schmerzen umgehen können. Einschränkend für die Gültigkeit und Übertragbarkeit der Ergebnisse weist Jung

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

125

(2017) allerdings daraufhin, dass die Stichprobe insgesamt ein hohes Durchschnittsalter besitzt und es sich um eine Querschnittsstudie handelt. Die beiden letztgenannten Studien haben ein qualitatives Design und weisen darauf hin, dass Personen mit chronischen Erkrankungen (wie rheumatische Arthritis oder Muskel-Skelett-Erkrankungen) arbeiten gehen möchten, da es für ihr Wohlbefinden förderlich ist. So gaben die Befragten an, dass für sie Arbeit einen hohen Stellenwert einnimmt, da sie durch diese Anerkennung erhalten, sich selbst verwirklichen, sich als nützlich empfinden und dadurch ihr sozialer Status erhalten bleibt. Arbeit wurde aber auch als Therapie wahrgenommen, da sie vom Schmerz ablenkt, strukturiert und soziale Kontakte ermöglicht. Als weitere Motive, trotz chronischer Schmerzen zu arbeiten, wurden zudem noch das Einkommen und die gefühlte Verantwortung genannt (de Vries et al., 2011). Somit kann das Arbeiten trotz Krankheit unter bestimmten Umständen gesundheitsförderlich sein. Dies entspricht auch den Ergebnissen der Überblicksarbeit von Waddell und Burton (2006), in welcher sie betonen, dass Menschen mit einer chronischen Erkrankung oder mit einer Behinderung, wenn es ihre Einschränkung zulässt, ermutigt und unterstützt werden sollen, weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen. Hierfür ist es wichtig, gewisse Rahmenbedingungen zu schaffen, die freiwilligen Präsentismus fördern, aber nicht zu unfreiwilligem Präsentismus führen (Holland & Collins, 2018). Arbeitsmodifikationen, höhere Flexibilität, Unterstützung durch die Führungskraft, die Förderung der Selbstmanagement-Fähigkeiten der Beschäftigten mit chronischer Erkrankung sowie spezifische Unterstützungsangebote seitens des Arbeitsgebers stellen sogenannte Erfolgsfaktoren dar, die das Arbeiten trotz chronischer Erkrankung ermöglichen und erleichtern (Beatty & McGonagle, 2016; de Vries et al., 2011; de Vries, Reneman, Groothoff, Geertzen & Brouwer, 2012b; Holland & Collins, 2018). Nelson et al. (2016) merken zudem an, dass auch Führungskräfte einen gewissen Freiraum und Handlungsspielraum benötigen, damit sie Unterstützung leisten, die Arbeitsbedingungen anpassen und entsprechend kommunizieren können. Neben den Befunden zu Beschäftigten mit chronischer Erkrankung belegt die qualitative Studie von Torp, Vinje und Haaheim-Simonsen (2016), dass das Arbeiten trotz Erkrankung nicht nur für Beschäftigte mit chronischer Erkrankung förderlich sein kann. In Interviews berichteten Forscher verschiedener privater und unabhängiger Forschungsinstitute in Norwegen, dass sie auch trotz Krankheit arbeiten. Allerdings empfanden sie dies nicht als schädigend für ihr Wohlbefinden.

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3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Durch die hohe Autonomie in ihrem Handeln konnten sie dies freiwillig entscheiden und arbeiteten nur in dem Maße, wie es für sie zuträglich war. Zudem führen weitere Studien bestimmte protektive Faktoren an, die die negative Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit abfangen können. So liefern Studien erste Hinweise auf Selbstwirksamkeit (Lu et al., 2014) und Unterstützung durch die Führungskraft (Lu, Cooper et al., 2013) als protektive Faktoren. Insgesamt scheint Präsentismus, welcher Erholung unterbindet, langfristig zu einer Verschlechterung der Gesundheit und längeren Ausfallzeiten zu führen. Für bestimmte chronische Erkrankungen sowie in einem unterstützenden und an die Krankheit angepassten Arbeitsumfeld kann das Arbeiten trotz Krankheit allerdings auch gesundheitsförderlich sein. Einfluss auf die Arbeitsleistung und die Arbeitsproduktivität Um den Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsproduktivität zu beschreiben, werden zunächst einige einschlägige Studien41 aus dem Literaturstrang beschrieben, welcher Präsentismus als gesundheitsbedingte Leistungs- und Produktivitätsbeeinträchtigung definiert (vgl. S. 42). Dieser Literaturstrang weist dabei einen deutlich größeren Anteil an Studien in der Präsentismusforschung auf als der Verhaltensstrang (Steinke & Badura, 2011).42 Dabei verfolgt diese Forschung das Ziel die versteckten Kosten von schlechter Gesundheit aufgrund damit einhergehender Produktivitäts- und Leistungseinschränkungen aufzudecken und somit gezielt Inventionen zur Reduzierung dieser Kosten gestalten zu können (z. B. durch entsprechende Medikation oder Gesundheitsmaßnahmen im Unternehmen; Howard et al., 2012; Schultz & Edington, 2007). Für die folgende Arbeit ist dieser Forschungsstrang von Relevanz, da er erste Hinweise geben kann, inwiefern das Arbeiten mit einer Erkrankung die Leistung bzw. Produktivität von Individuen beeinflussen kann. Dabei stammen die meisten Studien aus dem amerikanischen Raum und untersuchen vor allem Leistung- und Produktivitätsbeeinträchtigungen verschiedener chronischer Erkrankungen (Steinke & Badura, 2011). 41

Für einen tiefergehenden Überblick zu Präsentismus als gesundheitsbedingte Leistungs- und Produktivitätsbeeinträchtigung wird auf die Überblicksarbeiten von Howard, Howard und Smyth (2012), Schultz und Edington (2007) und Schultz, Chen und Edington (2009) verwiesen. 42 Dies zeigt auch die eigene Literatursuche, bei welcher in den Jahren von 2016 bis 2018 nur ca. 33 Prozent der Studien dem Verhaltensstrang und somit der deutlich größere Anteil dem „produktivitätsund defizitorientierten“ Forschungsstrang zu zuordnen ist.

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

127

Im amerikanischen Raum sind hier beispielweise die Studien von Stewart et al. (2003), Goetzel et al. (2004) sowie Collins et al. (2005) zu nennen. Erstere führten eine große Telefonbefragung in den USA (American Productivity Audit) durch, bei welcher sie 28 902 Beschäftigte zu ihren gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlusten befragten. Die Produktivitätsverluste durch Präsentismus erfassten sie dabei mit dem Work and Health Interview (WHI). Die Befragten beantworteten sechs Fragen beispielsweise zu ihrer Konzentration und der Schnelligkeit der Arbeitsausführung und gaben hierdurch Auskunft darüber, inwiefern diese Aspekte in den letzten zwei Wochen aufgrund ihres Gesundheitszustands eingeschränkt waren. Hieraus errechneten die Autoren dann die verloren gegangene Produktivitätszeit („lost productive time“, S. 1224). Aus der Befragung ergab sich, dass knapp unter 40 Prozent der Befragten von unproduktiven Zeiten aufgrund ihres Gesundheitszustands berichteten. Im Schnitt verloren sie in der Woche 1.32 Stunden ihrer Arbeitszeit. Der durchschnittliche Zeitverlust der krankheitsbedingten Fehlzeiten pro Woche belief sich im Vergleich dazu nur auf 0.54 Stunden pro Mitarbeiter. Stewart et al. (2003) schlussfolgerten, dass der größte Teil des Produktivitätsverlustes auf Präsentismus zurückzuführen ist, was für den Arbeitgeber oft unsichtbar ist. Sie fanden allerdings auch personenbedingte und berufsbedingte Unterschiede, sodass Interventionen an die spezifischen Subgruppen angepasst werden müssen. Auch in der Studie von Collins et al. (2005; ins Deutsche übersetzt von Baase, 2007) wird deutlich, dass das Arbeiten mit einer Erkrankung zu Produktivitätsverlusten führt. Im Rahmen der Befragung von fünf Standorten der amerikanischen „Dow Chemical Company“ (N = 7797) berechneten die Autoren eine Minderung der Produktivität von durchschnittlich 18 bis 36 Prozent je nach untersuchter Krankheit bezogen auf einen Zeitraum von vier Wochen. Zur Berechnung nutzen sie die Stanford Presenteeism Scale (SPS; Koopman et al., 2002). Hierbei handelt es sich, wie beim WHI, ebenfalls um eine Selbsteinschätzung durch die Befragten. Teilnehmer sollten einschätzen, „wie häufig ihre Primärerkrankung ihre Arbeitsfähigkeit in den letzten vier Wochen beeinträchtigt hat“ und „wie viel Prozent ihrer normalen Arbeitsproduktivität (…) sie in Anbetracht ihrer Primärerkrankung in den letzten vier Wochen erreichen“ konnten (Baase, 2007, S. 48). Insgesamt waren Depressionen und Angstzuständen mit den höchsten Einschränkungen (Präsentismus + Absentismus) verbunden.

128

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

In Übereinstimmung mit diesen Ergebnissen weist auch die auf Informationen aus fünf Primärstudien und zwei Datenbanken beruhende Studie von Goetzel et al. (2004) darauf hin, dass vor allem Depressionen neben anderen Krankheiten wie Allergien, Migräne / Kopfschmerzen, Arthritis sowie Asthma zu besonders hohen Kosten führen. Durch den Vergleich der fünf Primärstudien mit unterschiedlichen Messinstrumenten zur Erfassung des Produktivitätsverlusts machten die Autoren jedoch auch auf enorme Schwankungen bei den Angaben des Produktivitätsverlusts aufmerksam. So ergaben sich bei einer durchschnittlichen Schätzung 61 Prozent der Gesamtkosten durch gesundheitsbedingte Produktivitätseinschränkungen bei der Arbeit, während es bei einer konservativen Schätzung lediglich 18 Prozent waren. Neben Studien aus dem US-amerikanischen Raum liegen auch einige Studien aus Deutschland vor. Im Rahmen einer repräsentativen Telefonbefragung von ca. 2000 Erwerbstätigen, durchgeführt durch die Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA), berichteten 27 Prozent von gesundheitlichen Problemen. Von diesen nahmen 59 Prozent gesundheitsbedingte Produktivitätsverluste in den letzten sieben Tagen wahr, während 15 Prozent aufgrund der Krankheit bei der Arbeit gefehlt hatten. Zur Messung des gesundheitsbedingten Produktivitätsverlusts wurde der Work Productivity and Activity Impairment Questionnaire (WPAI; Reilly, Zbrozek & Dukes, 1993) eingesetzt, welcher die Teilnehmer fragte „wie stark (…) sich ihre gesundheitlichen Probleme in den letzten sieben Tagen auf ihre Produktivität (Leistung) bei der Arbeit auswirkten“ (Bödeker & Hüsing, 2007, S. 93). Dabei ergab sich ein durchschnittlicher Produktivitätsverlust von 20 Prozent, der aber deutliche, personen- und berufsbedingte Schwankungen aufwies. Im Vergleich dazu war der Anteil der Personen, die von Gesundheitsbeschwerden und von gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlusten berichteten, in der Studie von Iverson, Lewis, Caputi und Knospe (2010) deutlich höher. Von den 667 Beschäftigten einer „deutschen Zentrale eines multinationalen Konsumgüterherstellers“ gaben ca. 97 Prozent an, innerhalb der letzten drei Monate mindestens unter einer von 13 abgefragten Gesundheitsbeschwerden, im Durchschnitt sogar unter 4.87 Beschwerden, gelitten zu haben (Steinke & Lampe, 2017, S. 132). Am häufigsten wurden dabei Stress, Schlafstörungen, Nacken- / Rückenschmerzen, Erkältung, Kopfschmerzen und depressive Verstimmung genannt. Bei knapp zwei Dritteln waren die Beschwerden mit einer reduzierten Arbeitsproduktivität in den letzten

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

129

vier Wochen verbunden. Hochgerechnet auf ein Jahr verloren sie durch gesundheitsbezogene Produktivitätseinbußen durchschnittlich 22.39 Arbeitstage, während es für Absentismus nur 5.11 Tage waren. Allerdings müssen diese Zahlen vor dem Hintergrund der Unternehmenssituation interpretiert werden, welche von Restrukturierungen und damit eingehenden Personalentlassungen geprägt war. Deutlich geringer war der gesundheitsbedingte Produktivitätsverlust in der Studie von Wilke, Elis, Biallas und Froböse (2015). In ihrer Befragung in einem mittelständischen Chemie-Unternehmen in Deutschland (bereinigtes N = 262) lagen die Produktivitätsverluste bezogen auf einen Zeitraum von 14 Tagen nur bei insgesamt 4.1 Prozent, wobei auch sie deutliche Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht und den Arbeitsbereich fanden. Auch diese Studie setzte wieder ein anderes Messinstrument zur Erfassung der Produktivitätseinschränkungen ein. Sie nutzt den Work Limitations Questionnaire (WLQ; Lerner et al., 2001), welcher mittels 25 Items die gesundheitsbedingten Beeinträchtigungen in vier verschiedenen Anforderungsbereichen – „Zeitmanagement, körperliche, mental-interpersonelle und Leistungsanforderungen“ (Wilke et al., 2015, S. 36) erfasst. „Die Befragten schätzen somit nicht ihre (reduzierte) Produktivität“ (Steinke & Lampe, 2017, S. 142) ein, im Rahmen der Auswertung wird allerdings eine Summe der Einzelitems gebildet, die als verlorene Produktivität zu interpretieren ist. Alle vorgestellten Studien deuten somit auf Produktivitätsverluste durch das Arbeiten trotz Krankheit hin, die in der Regel sogar höher sind als die mit krankheitsbedingtem Absentismus verbundenen Produktivitätsverluste. Dies gilt nicht nur für chronische, sondern konnte auch für akute Krankheiten wie grippeähnliche Krankheiten oder auch saisonale Krankheiten wie Allergien (Howard et al., 2012) sowie für gesundheitliche Risikofaktoren wie Rauchen oder Bewegungsmangel (Burton, Conti, Chen, Schultz & Edington, 1999; Burton et al., 2005) festgestellt werden. Allerdings verwenden die Studien unterschiedliche, fast immer auf Selbstauskunft beruhende Messinstrumente und weisen deutliche Schwankungen in Bezug auf die Angabe der Höhe der Produktivitätsverluste auf. Dabei lassen sich diese Unterschiede nicht nur durch den organisationalen Kontext oder unterschiedliche Stichproben erklären. Denn auch Studien, die mehrere Instrumente verwendeten (z. B. Johns, 2011 oder Sanderson, Tilse, Nicholson, Oldenburg & Graves, 2007), fanden deutliche Unterschiede und nur moderate Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Messinstrumenten (Brooks, Hagen, Sathyanarayanan, Schultz & Edington, 2010). Die aktuelle Studie von Thompson

130

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

und Waye (2018) verglich beispielsweise acht Messinstrumente, welche nur moderat korrelierten, obwohl sie dasselbe Konstrukt wiederspiegeln sollten. Im Rahmen vertiefender Multitrait-Multimethod-Analysen kamen sie zudem zu dem Ergebnis, dass die Konstruktvalidität als nicht zufriedenstellend angesehen werden kann, da keines der drei Kriterien von Campbell und Fiske (1959) für adäquate Konstruktvalidität bestätigt werden konnte. So wiesen unterschiedliche Dimensionen von Produktivität, die mit demselben Instrument gemessen wurden, höhere Zusammenhänge auf als dieselben Dimensionen mit unterschiedlichen Instrumenten. Dies deutet darauf hin, dass Übereinstimmungen vor allem durch ähnliche Vorgehensweisen in der Methodik und weniger durch die gleichen Konstruktinhalte erklärt werden können. Neben der unzureichenden Konstruktvalidität führt Johns (2012) in seinem Buchkapitel „Presenteeism: A Short History and a Cautionary Tale“ weitere Schwächen dieses Forschungsstrangs an. Wie schon in Abschnitt 3.2 angeführt, kritisiert Johns bereits die Definition des Konstrukts, da in dieser seiner Meinung nach die Ursache (das Arbeiten trotz Krankheit) und die Konsequenz (der daraus entstehende Produktivitätsverlust) konfundiert werden und die psychologische Forschung zur Arbeitsleistung weitgehend ignoriert wird. Das Konzept des Produktivitätsverlusts erfasst nämlich in der Regel nur das Leistungsergebnis, welches ins Verhältnis zum geleisteten Einsatz gesetzt wird (vgl. Abschnitt 2.2.1). Dies setzt aber voraus, dass das Leistungsergebnis sowie der geleistete Einsatz auf der individuellen Ebene quantifizierbar und beschreibbar sind, was allerdings für nur wenige Arbeitstätigkeiten zutrifft und vor allem bei komplexen und wissensintensiven Tätigkeiten schwierig einzuschätzen ist (vgl. auch Brooks et al., 2010 oder Steinke & Badura, 2011). Johns (2012) merkt an, dass die Arbeits- und Organisationspsychologie deshalb eher verschiedene Dimensionen des Leistungsverhaltens betrachtet (vgl. Abschnitt 2.2.2), diese Mehrdimensionalität allerdings im produktivitäts- und defizitorientierten Forschungsstrang von Präsentismus meist unberücksichtigt bleibt. Darüber hinaus bemängelt er, dass eine theoretische Fundierung, die erklärt, warum und unter welchen Bedingungen es zu Produktivitätsverlusten kommt, mehrheitlich fehlt. Als Referenzwert für eine Verringerung der Produktivität dient zudem in der Regel die „100-Prozent-Leistung“. Allerdings schwankt auch die Arbeitsleistung von gesunden Mitarbeitern (Jung, 2017). So können neben Erkrankungen auch andere Gründe für eine reduzierte Produktivität

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

131

vorliegen (Brooks et al., 2010). Beispielsweise berichteten Personen mit einer hohen Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus von deutlich höheren Produktivitätsbeeinträchtigungen (Johns, 2011, für den Einfluss des Sozialkapitals vgl. Steinke & Lampe, 2017). Den Produktivitätsverlust alleine dem Gesundheitszustand zu zuschreiben, könnte somit zu einer Überschätzung des Zusammenhangs von Gesundheit und Produktivitätseinschränkungen führen. Johns (2012) führt zwei Gründe an, weshalb eine Überschätzung für diese Art der Präsentismusdefinition und Messung wahrscheinlich ist. Zum einen ist die Produktivität für die meisten Arbeitstätigkeiten schwierig zu erfassen und ist somit bedingt durch die Vagheit anfällig für Kontexteffekte.43 Zum anderen werden Personen meist direkt befragt, inwiefern ihr Gesundheitszustand ihre Produktivität beeinflusst. Hierbei ist anzunehmen, dass die Befragten bereits eigene Vorstellungen haben, wie die beiden Konstrukte zusammenhängen. Diese impliziten Theorien beeinflussen das Antwortverhalten, sodass der Zusammenhang überschätzt werden könnte (Johns, 2012). Hinweise für die Überschätzung liefert die Meta-Analyse von McGregor et al. (2017), in welcher untersucht wird, ob die Art der Operationalisierung die Zusammenhänge zwischen Präsentismus und seinen Einflussfaktoren moderiert. Hierbei waren die Zusammenhänge signifikant höher, wenn Präsentismus als gesundheitsbedingter Produktivitätsverlust gemessen wurde. Die Autoren interpretieren dies als Überschätzung, die sich vor allem deshalb ergibt, da hinter dieser Operationalisierung eigentlich zwei Konstrukte stecken (das Verhalten, krank zu arbeiten und die Folge hieraus). Auch die Ergebnisse der Studie von Whysall et al. (2018) deuten in diese Richtung. Die Autoren erhoben sowohl Präsentismus als Verhalten, in dem sie die Anzahl an Tagen in den letzten 12 Monaten erfragten und den wahrgenommen gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlust bezogen auf die letzten 12 Monate. Bei einem Vergleich der berechneten Kosten beider Operationalisierungen ergaben sich deutliche Unterschiede. Obwohl für die angegeben Präsentismustage mit einer Produktivität von null Prozent gerechnet wurde, waren die durchschnittlichen Kosten mit £659.61 pro Person pro Jahr noch deutlich geringer als die durchschnittlichen Kosten basierend auf dem Produktivitätsverlust-Maß (mit £4 058.93).

43

Kontexteffekte beschreiben die Beeinflussung des Antwortverhaltens der Befragten durch die zuvor gestellten Fragen (Porst, 2011). Für tiefergehende Erklärungen siehe Callegaro, Manfreda und Vehovar (2015) oder Porst (2011).

132

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Studien, wie die von Whysall et al. (2018), die das Verhalten, krank zu arbeiten sowie den Produktivitätsverlust als dessen Folge gemeinsam in einer Studie, aber getrennt voneinander erheben und untersuchen, liegen bisher nur in begrenzter Anzahl vor. Miraglia und Johns (2016) identifizierten im Rahmen ihrer Meta-Analyse lediglich fünf solcher Studien, die zusammengefasst allerdings auf eine signifikant positive Beziehung zwischen Präsentismus als Verhalten und dem Produktivitätsverlust (ρ = .28) hindeuten. Auch die aktuelle Studie von Pohling et al. (2016) deutet in eine ähnliche Richtung. Die Querschnittsstudie von 885 Mitarbeitern aus zehn Finanzämtern in Deutschland fand nicht nur in der gleichen Höhe wie in der Meta-Analyse eine signifikante positive Korrelation zwischen Präsentismus und dem gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlust. Sie konnten im Rahmen von Strukturgleichungsmodellen auch zeigen, dass Präsentismus als Verhalten den Zusammenhang zwischen Gesundheit (gemessen über Wohlbefinden sowie Muskel-Skelett-Beschwerden) und gesundheitsbedingtem Produktivitätsverlust vermittelt. Im Gegensatz dazu kommen Studien, die den Zusammenhang von Präsentismus und der Arbeitsleistung untersuchen, zu widersprüchlichen Ergebnissen. In Bezug auf die globale Arbeitsleistung zeigt sich meta-analytisch kein signifikanter Zusammenhang mit Präsentismus (ρ = -.01, n.s.), allerdings beruht das Ergebnis erneut auf lediglich vier Studien. Miraglia und Johns (2016) vermuteten zwar, dass der Produktivitätsverlust stärker mit Präsentismus zusammenhängt als die generelle Leistungsbeurteilung. Allerdings stellten sie trotzdem die Hypothese auf, dass sie in einer signifikanten, negativen Beziehung zueinander stehen, was sie jedoch nicht bestätigen konnten. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu den Studien von Dellve et al. (2011), Collins et al. (2018) und Niven und Ciborowska (2015). Die ersten beiden Studien beziehen sich dabei auf die selbsteingeschätzte Arbeitsleistung. So berichten Dellve et al. (2011) von einem signifikanten Zusammenhang von mehrmaligem Präsentismusverhalten und der reduzierten Arbeitsleistung durch Krankheitssymptome zwei Jahre später und in der Studie von Collins et al. (2018) korrelierte Präsentismus mit der Arbeitsleistung im selben und im Folgejahr, wobei letzterer Zusammenhang nur auf einem Niveau von p < .1 signifikant war. Niven und Ciborowska (2015) betrachteten in einer Querschnittsbefragung von 1205 Pharmazeuten in Großbritannien den Einfluss von Präsentismus auf die Häufigkeit von leichten und ernsthaften Fehlern während der Arbeit.

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

133

Hierbei zeigte sich, dass Präsentismus die Fehlerhäufigkeit signifikant erhöht, Absentismus hingegen nicht. Nachdem zusätzlich für die zwei Maße psychischer Beanspruchung – Depressionen und Ängstlichkeit – kontrolliert wurde, war der direkte Effekt von Präsentismus nicht mehr signifikant. Allerdings bestand weiterhin ein signifikanter, indirekter Effekt auf die Häufigkeit der Fehler, vermittelt über Ängstlichkeit. Auch Studien, die Arbeitsleistung als mehrdimensionales Leistungsverhalten (vgl. Abschnitt 2.2.2) erfassen, widersprechen sich in ihren Befunden. Zwei Tagebuchstudien von Christian et al. (2015) wiesen darauf hin, dass Schmerzen als spezifisches Symptom bei Erkrankungen einerseits direkt das kontraproduktive Arbeitsverhalten beeinflussen. Andererseits erhöhen sie indirekt über das Arbeitsengagement und über die Erschöpfung der Ressourcen kontraproduktives Arbeitsverhalten und reduzieren die Kontextleistung. Die Autoren erklärten dies damit, dass Personen mit Schmerzen emotionale und kognitive Ressourcen aufbringen müssen, um ihre Gedanken zu den Schmerzgefühlen zu unterdrücken, und ihre Aufmerksamkeit von den Schmerzen hin zur Arbeitsaufgabe zu lenken, was aktuelle Energie kostet und potenzielle Ressourcen verbraucht, die ihnen für die Arbeitsaufgabe und zusätzliches freiwilliges Verhalten dann nicht zur Verfügung stehen (Christian et al., 2015). Darüber hinaus fanden Dhaini et al. (2017) im Rahmen ihrer querschnittlichen Sekundärdaten-Analyse (N = 3239 Pflegekräfte) Hinweise, dass Pflegekräfte, die krank arbeiten gingen, Aktivitäten der täglichen Pflege (wie z. B. die Überstützung bei der Hygiene sowie beim Essen von Patienten) vernachlässigten. Der Effekt von Präsentismus auf die Vernachlässigung grundlegender Pflegeaktivitäten (wie z. B. emotionale Unterstützung leisten oder Patienten nicht länger als 30 Minuten in ihrem Urin / Stuhl liegen zu lassen) war hingegen nicht signifikant, verfehlte aber nur knapp das Signifikanzniveau von p = .05. So deutet die Studie von Dhaini et al. (2017) insgesamt daraufhin, dass Präsentismus dazu führt, dass Teile der Arbeitsaufgaben und somit die Aufgabenleistung nicht hinreichend erfüllt wird. Lu und Lin et al. (2013) vermuteten zwar auch einen negativen Einfluss von Präsentismus auf die selbst eingeschätzte Aufgaben- und Kontextleistung mit einem Zeitabstand von zwei Monaten, konnten dies allerdings im Widerspruch zu ihrer Annahme und den zuvor berichteten Studien nicht belegen. Die Autoren ar-

134

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

gumentierten, dass der Zeitabstand von zwei Monaten möglicherweise zu lang oder aber zu kurz sein könnte, um Effekte abzubilden. So könnten Erholungsphasen innerhalb der zwei Monate den Effekt von Präsentismus überlagert oder aber die zwei Monate nicht ausgereicht haben, die Akkumulation der Müdigkeit im Sinne des Anstrengungs-Erholungs-Modells (vgl. Seite 31) abzubilden. Darüber hinaus führten sie an, dass auch die Arbeitssituation den Zusammenhang moderieren kann, sodass bestimmte Ressourcen die negative Wirkung von Präsentismus auf die Aufgaben- und Kontextleistung abschwächen. Çetin (2016) fand zudem Hinweise, dass auch der Grund für Präsentismus den Zusammenhang moderieren kann. In ihrer Studie zeigte sich, dass Präsentismus, der durch hohes Arbeitsengagement getrieben wird, positiv und signifikant mit der wahrgenommenen Arbeitsleistung in Beziehung steht, während durch Managementdruck induzierter Präsentismus hingegen eher mit reduziertem Commitment und reduzierter Leistung zusammenhing. Es lässt sich schlussfolgern, dass es für die Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung Unterschiede gibt, je nachdem ob Präsentismus freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Diese Annahme wird auch von dem konzeptionellen Modell von Biron und Karanika-Murray (2017) aufgegriffen, welches allerdings vier Formen von Präsentismus unterscheidet: (1) funktionaler Präsentismus, bei dem sowohl die Arbeitsleistung aufrechterhalten bleibt als auch die Gesundheit gefördert wird, (2) therapeutischer Präsentismus, der zwar förderlich für die Gesundheit ist, Personen aber nicht ihre volle Leistung erbringen können, (3) dysfunktionaler Präsentismus, bei welchem sich sowohl die Gesundheit als auch die Arbeitsleistung verschlechtert bzw. reduziert, (4) überambitionierter Präsentismus (over-achieving), bei welchem die Leistung nur auf Kosten der Gesundheit aufrechterhalten werden kann.

44

Studie 2

Christian, Eisenkraft und Kapadia, 2015

Studie 1

Christian, Eisenkraft und Kapadia, 2015

Referenz

Promotive extrarole behaviors: As you were being beeped, were you cooperative?” (S. 85)

“ Did you feel any physical pain or discomfort as you were beeped?”

Nicht explizit genannt

(S. 84)

Promotive extrarole behaviors consisted of items reflecting voice (…) and helping behaviors (S. 79)44

“ How much pain are you feeling right now?, using a 6-point scale (0 = “ no pain” to 5 = “ excruciating” )” (S. 78)

Nicht explizit genannt

Messung Arbeitsleistung

PräsentismusMessung definition Präsentismus

500 Family Study on work and home lives of dualcareer American families (N = 650 Teilnehmer, 6820 Beobachtungen), Experience-Sampling-Methode Untersuchter Abstand = weniger als ein Tag

Befragung von 85 Personen mit chronischen Schmerzen über drei Wochen jeden Morgen und Nachmittag, ExperienceSamplingMethode Untersuchter Abstand = weniger als ein Tag

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand leistung

leistung

für den indirekten Effekt über Arbeitsengagement und Ressourcenerschöpfung



für den direkten Effekt,

n.s.

für den indirekten Effekt über Arbeits-engagement



für den direkten Effekt,

n.s.

Kontext-

Aufgaben-

Ergebnisvariablen

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 135

Tabelle 4: Übersicht über Studien zum Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung

Darüber hinaus erfassen sie auch noch kontraproduktives Arbeitsverhalten, welches in dieser Tabelle aber nicht dargestellt wird.

Referenz

Collins, Cartwright & Cowlishaw, 2018

definition

PräsentismusPräsentismus

Messung Arbeitsleistung

Messung

“ attending work while ill” (S. 68)

Three items of the “ Over the last 3 months how many WHO Health and working days have Work Perforyou been coming to mance Questionnaire: These items work through illwere: “ How ofness or injury?” ten did you find (S. 73) yourself not work(Dummy-koing as carefully as diert für Analyyou should?” ; sen 0 Tage, 1-5 “ How often was Tage und < 5 the quality of your Tage work lower than it should have been?” and “ How often did you not concentrate enough on your work?” (S. 72)

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand

Aufgaben-

leistung

Kontext-

Ergebnisvariablen

leistung

56845 Arbeiter aus ✔ sieben Organisatiofür Präsentismus nen des öffentli> 1 Tag, chen und privaten p < .1 Sektors in Großbritannien (Polizeikräfte, Primary Care Trust, Produktion), untersuchter Abstand = 1 Jahr

Im Abstract wurden 552 Arbeiter angegeben. Im Text wurde aber eine Stichprobengröße von N = 568 im Rahmen der Berechnung der Strukturgleichungsmodelle berichtet.

45

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 136

“ attending work despite illness” (S. 34)

“ Attending work in spite of being sick” (S. 1918

Dellve, Hadzibajramovic und Ahlborg, 2011

Dhaini et al., 2017

Präsentismusdefinition

Referenz

Messung Arbeitsleistung

“ the number of days Basel Extent of Ration(if any) in the previ- ing of Nursing Care ous four weeks care (BERNCA) instrument workers had attended “ The current study work in spite of feel- used two subscales to ing ill and unfit for describe rationing of work” (S. 34) nursing activities reKodiert 1 = größer 1 lated to direct resiTag, 0 = kleiner 1 dent care: ‘ Implicit Tag rationing of activities of daily living’ and ‘ Implicit rationing of caring, rehabilitation and monitoring’ .” (S.35)

leistung

leistung

für Präsentismus > 2 Mal



Kontext-

Aufgaben-

Ergebnisvariablen

✔ 3239 Pflegekräfte für die aus Schweizer Pflege-einrichtun- Subskala: acgen, erhoben in tivities of daily living 2012-2013 n.s. Querschnittsfür die Sekundärdaten Subskala: caring, re(SHURP Stuhabilitadie) tion, monitoring’

“ How many times „Have you had sympStichprobe aus during the last year toms, during the last dem Gesundhave you gone to month, which have de- heitssektor in work when you creased your perforSchweden (N= should have been on mance at work? (An1820) sick leave due to your swer: yes/no)” (S. 1922) Untersuchter Abhealth condition? stand = 2 Jahre Answers: None/once/2–5 times/>5 times)” (S. 1921)

Messung Präsentismus

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand

3.6 Konsequenzen von Präsentismus 137

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung 138

Lu, Lin & Cooper, 2013

“ attending work while ill, or succinctly put, unhealthy and present” (S. 406)

Präsentismusdefinition

“ Have you experience the following in the last 6 months? 1. Although you feel sick, you still force yourself to go to work. 2. Although you have physical symptoms such as headache or backache, you still force yourself to go to work.” (S. 411)

Messung Präsentismus

Job Performance Scale (23 items; Motowidlo & Van Scotter, 1994; Chih, Lee, & Chen, 2008, for the Chinese version), which included task performance and contextual performance (zit. nach Lu et al., 2013, S. 411)

Messung Arbeitsleistung

Referenz

Niven & Ciborowska, 2015

“ phenomenon whereby employees continue to attend work while unwell” (S. 207)

“ How many times during the last 12 months have you gone to work even though it would have been reasonable to take sick leave? seven options: not relevant, have not been sick over the previous 12 months (1), none (2), once (3), 2–3 times (4), 4–5 times (5), 6–10 times (6), and more than 10 times (7)” (S. 212), Dichotimisiert: 0 = kleiner 4, 1 = > 3

Errors: „How many times within the last 4 weeks have you made a minor work-related mistake when at work?” and “ How many times within the last 4 weeks have you made a more serious work-related mistake when at work (e.g., giving a patient the wrong medication, prescribing the wrong dosage of a medication, or prescribing medication of the wrong strength)?” (S. 213)

Forschungsdesign, zeitlicher Abstand

245 Mitarbeiter aus verschiedenen Organisationen in Taiwan

Untersuchter Abstand: 2 Monate

Aufgabenleistung

n.s.

Kontextleistung

Ergebnisvariablen

n.s.

1205 Pharmazeun.s. ten und Mitglieder (nach Konder “ Pharmatrolle psychicists‘ Defense scher BeanAssociation“ in spruchung) Großbritannie ✔

Querschnittsstudie

für den indirekten Effekt über Ängstlichkeit

Anmerkungen. ✔ = Es wurde ein signifikanter Zusammenhang gefunden. n.s. = Es liegt ein nicht signifikanter Zusammenhang vor. N = Stichprobengröße.

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

139

Insgesamt lässt sich auf Basis der Studien festhalten, dass Präsentismus zu Produktivitätsverlusten führt. Der Produktivitätsverlust scheint dabei ein sensibleres Kriterium zu sein als die Arbeitsleistung (Miraglia & Johns, 2016). Für die Arbeitsleistung sind die Ergebnisse zum Zusammenhang mit Präsentismus noch wenig eindeutig. Zur besseren Übersicht sind die betrachteten Studien zu Präsentismus und der Arbeitsleistung in Tabelle 4 zusammengefasst. Hierdurch fällt auf, dass, wie auch im Fall des Zusammenhangs von Präsentismus und der Gesundheit, verschiedene Messzeiträume und Operationalisierungen von Präsentismus und der Arbeitsleistung verwendet wurden. Zusammenfassend besteht weiterhin Forschungsbedarf zum Einfluss von Präsentismus als Verhalten auf die Arbeitsleistung sowie die Arbeitsproduktivität. Hierbei sollten neben dem Vorliegen des Zusammenhangs vor allem theoretische Erklärungen sowie Randbedingungen getestet werden. 3.6.2

Konsequenzen für Kollegen, Führungskräfte, Kunden und die Familie

Präsentismus hat nicht nur Auswirkungen auf Individuen selbst, sondern beeinflusst auch die Personen, die im direkten Kontakt mit dem Präsentisten stehen. Im Fall von übertragbaren Krankheiten besteht das Risiko der Ansteckung. Dabei liegen Hinweise vor, dass Individuen auch bei ansteckenden Krankheiten weiterhin arbeiten gehen (Chiu et al., 2017; Meilicke, Gottberg, Krumm & Kilian, 2014) und dies die Verbreitung und Übertragung der Krankheit erhöht (Vanhems et al., 2011; Widera, Chang & Chen, 2010). Vor allem in Krankenhäusern sowie bei Ärzten scheint es weit verbreitet zu sein, auch trotz ansteckender Krankheit zu arbeiten. In einer Befragung im Gesundheitsbereich in den USA gaben 41.4 Prozent von 414 Personen an, mit grippeähnlichen Symptomen trotzdem weiterhin zur Arbeit erschienen zu sein. Pharmazeuten und Ärzte berichteten dies sogar in über 60 Prozent der Fälle (Chiu et al., 2017). Dies entspricht auch den Ergebnissen einer Umfrage von Ärzten in Norwegen, bei welcher in knapp 60 Prozent der Präsentismusfälle infektiöse Krankheiten als Ursache genannt wurden (Rosvold & Bjertness, 2016). Die Fallstudie in einer Pflegeeinrichtung gibt zudem Hinweise, dass hierdurch eine Verbreitung der Krankheit gefördert wird (Widera et al., 2010). Dabei besteht nicht nur eine Ansteckungsgefahr für die Kollegen oder die Führungskraft, sondern auch für Patienten. Vanhems et al. (2011) schätzten das relative Risiko für Patienten, eine grippeähnlichen Erkrankung zu bekommen, 5.48-fach höher

140

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

ein, wenn mindestens ein ansteckender Beschäftigter in der Krankenhauseinheit tätig war. Es besteht allerdings nicht nur die Gefahr einer Ansteckung. Die direkten Kollegen und die Führungskraft werden auch in anderer Weise durch Präsentismus beeinflusst. So lässt sich vermuten, dass sie die geringere Arbeitsproduktivität durch Präsentismus gegebenenfalls auffangen müssen und selbst eine Arbeitsintensivierung verspüren (Lohaus & Habermann, 2018a). Luksyte, Avery und Yeo (2015) fanden zudem Belege für emotionale und verhaltensbezogene Reaktionen bei Kollegen. Im Rahmen eines Experiments bei Studenten zeigten diese geringeres Arbeitsengagement und mehr kontraproduktives Arbeitsverhalten in Form von Leistungszurückhaltung, wenn sie bei einem Kollegen in ihrer Arbeitsgruppe, welcher ihnen basierend auf Geschlecht und ethnischer Herkunft ähnelte, Krankheitssymptome während des gemeinsamen Arbeitens beobachteten. Auch in einer zweiten Querschnittsbefragung fanden sie Hinweise, dass Studenten, die Präsentismus ihrer Kommilitonen in der Arbeitsgruppe beobachteten, kontraproduktives Arbeitsverhalten zeigten, wenn diese Kommilitonen ihnen ähnelten. Dabei stellte sich die Angst vor einer Ansteckung und die daraus ergebenen negativen Emotionen als vermittelnder Wirkmechanismus heraus (Luksyte et al., 2015). Präsentismus muss allerdings nicht nur negative Reaktionen der Kollegen hervorrufen. Im Vergleich zu Mitarbeitern, die krankheitsbedingt fehlen und in dieser Zeit keine Leistung erbringen, können Mitarbeiter, die Präsentismus zeigen, in Abhängigkeit von der Krankheit zumindest einen Teil zur Arbeit beitragen (Johns, 2010). Die Kollegen könnten Präsentismus somit durchaus als positiv bewerten. Hinweise hierfür liefert die experimentelle Studie von Patton, Mach und Johns (2013). Basierend auf verschiedenen Szenarien, die 400 Business-Studenten einer großen kanadischen Universität vorgelegt wurden, schienen die Befragten das Arbeiten im Krankheitsfall eher als eine Form der Kontextleistung zu bewerten, welcher sie mehr Sympathie entgegenbrachten als krankheitsbedingtem Absentismus. Hierbei wurden zudem zwei Krankheitsbilder miteinander verglichen: Depressionen und untere Rückenschmerzen. Entgegen der Vermutung der Autoren wurde den Personen im Szenario, die mit Depressionen krank arbeiteten, mehr Sympathie entgegenbracht als den Personen, die mit Rückenschmerzen zur Arbeit kamen. Allerdings schätzten die Befragten den damit einhergehenden Verlust der Arbeitsproduktivität bei den Personen mit Depressionen als höher ein. Die Studie

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

141

macht sichtbar, dass das Verhalten im Krankheitsfall auch positive emotionale Reaktionen bei den Kollegen auslösen und im Vergleich zu Absentismus sogar wünschenswert sein kann. Je nachdem, wie die Kollegen oder die Führungskraft das Verhalten bewerten und welche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Motive sie dem Präsentisten zuschreiben, kann dies auch mit Vorteilen für den Präsentisten verbunden sein. So kann Präsentismus auch als eine Form des Kontextverhaltens interpretiert werden (Johns, 2010) und dem Präsentisten beispielsweise hohes Engagement und ein hohes Commitment zugeschrieben werden. In Übereinstimmung mit dieser Vermutung nannten die Befragten in der Studie von Çetin (2016) als mögliche positive Folge von Präsentismus, dass das Verhalten durch den Vorgesetzten positiv bewertet wird, was möglicherweise auch mit in die Personalbeurteilung fließt. So kann die Bewertung und Attribution auch wieder mit Konsequenzen für die Individuen verbunden sein, wie es auch im Modell von Johns (2010) angeführt wird. Insgesamt liegen nur sehr wenige Studien vor, die die Auswirkung von Präsentismus auf Personen, die mit den Präsentisten in direkten Kontakt stehen, untersuchen. Zudem basieren die beiden Studien zu den emotionalen Reaktionen und möglichen Verhaltensweisen von Kollegen auf Studierenden-Stichproben, für die eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Beschäftigte fraglich ist. Trotz der geringen Studienlage zeichnet sich ab, dass Präsentismus das Ansteckungsrisiko erhöht und zu unterschiedlichen emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen von Kollegen führen kann. Ob die Kollegen eher Sympathie empfinden oder durch Präsentismus negative Reaktionen ausgelöst werden, hängt dabei von weiteren Faktoren ab wie der Art der Krankheit, der Ähnlichkeit zum Präsentisten sowie den kulturellen und organisationalen Rahmenbedingungen. Zusätzlich zu den bereits genannten Folgen führen Lohaus und Habermann (2018a) noch weitere potenzielle Konsequenzen für die Kunden und die Familie des Präsentisten an. So leidet auch die Kundenzufriedenheit, wenn Personen, die im direkten Kundenkontakt stehen, aufgrund ihrer Krankheit die Qualität ihrer Arbeit nicht aufrechterhalten können oder Fehler machen. Zudem sind Ansteckungsängste sowie emotionale Reaktionen auch bei Kunden denkbar. Auch die Familie kann von Präsentismus beeinflusst werden. So kann Präsentismus zu Sorgen und Beeinträchtigungen des „Familienlebens“ führen (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 31)

142 3.6.3

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung Konsequenzen für Organisationen und die Gesellschaft

Präsentismus hat über die individuellen und auf das Arbeitsteam bezogenen Konsequenzen hinaus auch weitreichende Auswirkungen auf organisationaler sowie gesamtgesellschaftlicher Ebene. Auch hier gilt, dass Präsentismus mit positiven und negativen Folgen verbunden sein kann (Miraglia & Johns, 2016). So kann für therapeutischen Präsentismus im Sinne von Biron und Karanika-Murray (2017), welcher gesundheitsförderlich für Individuen ist und für sie die Wahrscheinlichkeit erhöht ihre Arbeitstätigkeit weiterzuführen, angenommen werden, dass dieser auch für Organisationen und die Gesellschaft langfristige Vorteile bietet (Howard et al., 2009). Für Organisationen fallen beispielsweise keine zusätzliche Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten für neue Mitarbeiter an, zudem erhalten sie möglicherweise wichtiges Wissen und Erfahrungen in der Organisation. Auf gesellschaftlicher Ebene ließe sich argumentieren, dass hierdurch die Arbeitsfähigkeit erhalten bleibt und ggf. weniger Personen arbeitslos bzw. erwerbsunfähig werden, wodurch weniger Kosten anfallen. Darüber hinaus können „Präsentisten“ im Vergleich zu Personen, die krankheitsbedingt abwesend sind, zumindest einen Teil ihrer Arbeitsleistung erbringen (Miraglia & Johns, 2016). Gerade in Bezug auf Schlüsselpersonen könnten so wichtige Termine und Projekte weitergeführt werden, die im Falle ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit ggf. ins Stocken geraten könnten. Eine Vielzahl an Studien beleuchtet aber vor allem die negative Seite von Präsentismus. Am häufigsten adressieren sie dabei die mit Präsentismus einhergehenden Kosten für die Organisationen und in einigen wenigen Fällen auch die gesellschaftlichen Kosten für bestimmte Länder. Da die Berechnung der Kosten von Präsentismus auf der Literatur beruht, die Präsentismus als gesundheitsbedingten Produktivitätsverlust definiert, sollen an dieser Stelle nur einige einschlägige Beispiele und für die volkswirtschaftlichen Kosten eine Übersicht von Lohaus und Habermann (2018a) für Deutschland dargestellt werden. Hierbei ist einschränkend zu erwähnen, dass neben der bereits geschilderten Kritik an diesem Literaturstrang (vgl. S. 139) zusätzliche Schwierigkeiten bei der Umrechnung des Produktivitätsverlusts in Geldeinheiten auftreten46. So können die Kostenangaben nur als eine

46

Für einen vertiefenden Überblick zu den Kosten von Präsentismus sowie den methodischen Schwächen der Kostenschätzungen siehe beispielsweise Lohaus und Habermann (2018a), Schultz et al.

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

143

Approximation der wahren Kosten von Präsentismus betrachtet werden, „da die Zusammensetzung der Kosten durch Krankheit und der Produktivitätsausfälle sehr komplex ist“ (Hägerbäumer, 2017, S. 80). Die erste Schätzung der Kosten in einem deutschen Unternehmen wurde von Iverson et al. (2010) durchgeführt. In ihrer Studie errechneten sie somit nicht nur den Produktivitätsverlust (vgl. S. 139), sondern multiplizierten den auf das Jahr hochgerechneten Zeitverlust mit den durchschnittlichen Lohnkosten (54 791 Euro). Präsentismus und Absentismus führten zusammen somit zu Kosten von 8.78 Millionen Euro pro Jahr für das Unternehmen mit 1298 Mitarbeitern (ca. 6 764 Euro je Mitarbeiter47), wobei Präsentismus den deutlich größeren Anteil an diesen Kosten ausmachte (ca. im Verhältnis von 1 zu 4). Die Autoren merken zwar an, dass die besondere Unternehmenssituation bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden muss, da die Studie zu Zeiten der Finanzkrise stattfand und das Unternehmen bereits weitreichende Restrukturierungen und Personalabbau durchlaufen hatte. Allerdings ist die Kostenschätzung trotzdem eine konservative Schätzung, da Multiplikatoreffekte auf die Kollegen nicht berechnet wurden. Werden diese noch mitberücksichtigt, basierend auf Empfehlungen von Pauly, Nicholson, Polsky, Berger und Sharda (2008), erhöht sich die Kostenschätzung auf 14.4 bis 15.37 Millionen Euro (Iverson et al., 2010). Burnus, Steinhardt, Benner, Drabik und Stock (2012) schätzten die Kosten von Rücken- / Nackenbeschwerden sowie Stress für ein deutsches Versicherungsunternehmen. Im Gegensatz zur zuvor beschriebenen Studie basierte ihre Schätzung aber auf Produktivitätsverlust-Schätzungen aus früheren Studien. Diese lagen bei 5 Prozent für hohen Stress sowie 13 Prozent für Rücken- / Nackenbeschwerden. Multipliziert mit den durchschnittlichen Arbeitslohnkosten in der Versicherungsbranche im Jahr 2010 (57 743 Euro) ergaben sich für Stress Kosten in Höhe von 2770 Euro je Betroffenen und für Rücken- / Nackenbeschwerden Kosten in Höhe von 7501 Euro pro Jahr. Die Gesamtkosten durch den Produktivitätsverlust wurden somit auf ca. 4 Millionen Euro pro Jahr für das Unternehmen geschätzt. (2009), Brooks, Hagen, Sathyanarayanan, Schultz und Edington (2010), Steinke und Badura (2011) und Kigozi, Jowett, Lewis, Barton und Coast (2017). 47 Diese Zahl wurde nicht im Artikel von Iverson et al. 2010 angegeben, sondern durch die Division der Gesamtkosten von 8.78 Millionen Euro durch die Anzahl der Mitarbeiter berechnet.

144

3 Aktueller Überblick der Präsentismusforschung

Im Vergleich dazu schätzte die Beratungsfirma Booz & Company die Kosten von Präsentismus auf 2399 Euro, während es für krankheitsbedingten Absentismus nur 1199 Euro pro Mitarbeiter pro Jahr waren. Auch sie gaben an, eher konservative Schätzungen durchgeführt zu haben, wenn auch etwas unklar bleibt, wie sie zu den Ergebnissen kamen. Hochgerechnet auf die volkswirtschaftliche Größe für das Jahr 2009 benennen sie Kosten in Höhe von 129 Milliarden Euro für Deutschland für Präsentismus und Absentismus gemeinsam (Maar, Fricker, Hildebrandt & Drechsler, 2011). Um weitere, zumindest annäherungsweise Kostenschätzungen für die deutsche Volkswirtschaft zu erhalten, übertragen Lohaus und Habermann (2018a) die Ergebnisse früherer Studien auch aus anderen Ländern auf Daten aus Deutschland (z. B. durch Angaben des Statistischen Bundesamtes). Sie kommen zu Schätzungen von 7.2 Milliarden Euro bis zu maximal 143.6 Milliarden Euro an jährlichen Kosten für Deutschland bedingt durch gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlust. Die enorme Spannweite der Kosten weist erneut auf die starken Unterschiede in den Studien bereits bei der Messung des Produktivitätsverlusts hin, sodass die errechneten Werte mit Vorsicht zu interpretieren sind. So scheint zunächst eine Weiterentwicklung der Messinstrumente zur Ermittlung des gesundheitsbezogenen Produktivitätsverlusts „unabdingbar“ (Steinke & Lampe, 2017, S. 136), bevor genauere Angaben der damit verbundenen Kosten möglich sind. Neben den direkten Kosten können darüber hinaus aber auch indirekte Kosten entstehen. So können Folgekosten beispielweise aufgrund von Ansteckungen und einer Ausbreitung der Krankheit in der Organisation (Widera et al., 2010) und innerhalb des Landes entstehen. Pichler und Ziebarth (2017) geben mit ihrer Studie Hinweise, dass Präsentismus mit ansteckenden Krankheiten die Krankheitsraten beispielsweise in Stadtgebieten beeinflusst. Allerdings scheinen Personen weniger häufig mit ansteckender Krankheit arbeiten zu gehen, wenn sie entsprechende Sicherheiten wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. Somit bestehen politische Möglichkeiten durch die entsprechende Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme ansteckenden Präsentismus zu verringern. Eine Verbreitung der Krankheiten kann allerdings nicht nur über die Ansteckung anderer Mitarbeiter, sondern auch über die Weitergabe von Viren und Bakterien durch die Produkte von Organisationen erfolgen (Miraglia & Johns, 2016). Dies könnte auch mit einem Reputationsschaden für die Organisation verbunden sein, falls die Ur-

3.6 Konsequenzen von Präsentismus

145

sache für die Ansteckung zurückverfolgt werden könnte und öffentlich kommuniziert würde. Ein Reputationsschaden könnte der Organisation auch entstehen, wenn durch das Arbeiten trotz Krankheit die Produkt- und Servicequalität schlechter wird oder wenn dem Mitarbeiter ein Fehler unterläuft, der für eine Vielzahl an Menschen Konsequenzen mit sich bringt (z. B. bei Busfahrern oder Fluglotsen). Zusätzlich könnten durch eine mögliche Verschleppung der Krankheit, eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und längerfristige Ausfallzeiten sowie mehr Arbeitsunfälle weitere Folgekosten für Unternehmen, sowie volkswirtschaftliche Kosten durch eine stärkere Belastung der Sozialversicherungssysteme (z. B. weitere Behandlungskosten, Krankengeld) und möglicherweise geringere Steuereinnahmen anfallen. Diese hypothetischen indirekten Folgen von Präsentismus machen die Berechnung der Kosten allerdings noch komplexer und können zum jetzigen Zeitpunkt eher als „plausible Annahmen bzw. Befürchtungen“ ohne empirischen Nachweis verstanden werden (Lohaus & Habermann, 2018a, S. 125). Insgesamt kann aus der bisherigen Forschung allerdings abgeleitet werden, dass Präsentismus ein relevanter Kostenfaktor für Organisationen und für Volkswirtschaften ist, auch wenn eine genaue Höhe der Kosten nicht benannt werden kann.

4

Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Das vorherige Kapitel zum Forschungsstand von Präsentismus veranschaulichte, dass Präsentismus in der Wissenschaft zwar noch ein relativ junges Phänomen ist, durch seine weitreichenden Konsequenzen aber im Interesse unterschiedlicher Forschungsdisziplinen steht. Präsentismus wird von einer Vielzahl von Personen ausgeführt, sollte in Unternehmen aus arbeitsrechtlicher Sicht Beachtung finden und geht mit Konsequenzen für die Individuen selbst, für ihr Arbeitsteam, für Unternehmen sowie für die Gesellschaft einher. Das Verhalten, krank zu arbeiten, wird zudem aus einem Zusammenspiel von personenbezogenen, arbeitsbezogenen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst. Vor allem der starke Einfluss arbeitsbezogener Faktoren gibt Unternehmen einen Spielraum, auf das Präsentismusverhalten ihrer Mitarbeiter einzuwirken. Der Überblick über den Forschungsstand deckt auch Schwierigkeiten, Widersprüche und Lücken in der Präsentismusforschung auf. Die in diesem Kapitel dargestellten Studien adressieren einige dieser Widersprüche und Lücken. Die zwei empirischen Studien fokussieren dabei auf die individuellen Konsequenzen von Präsentismus und verfolgen das Ziel zusätzliche Evidenz zur Auflösung der Widersprüche hinsichtlich des Einflusses von Präsentismus auf die Arbeitsleistung sowie die Gesundheit zu erhalten. In Bezug auf den Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung liegen bisher widersprüchliche Befunde vor und nur sehr wenige Studien betrachten das Leistungsverhalten als mehrdimensionales Konstrukt (vgl. S. 135 ff.). Deshalb wurden im Rahmen dieser Arbeit zwei Dimensionen des Leistungsverhaltens, die Aufgabenleistung und die Kontextleistung, als Folgen von Präsentismus betrachtet. Hierbei wurde auf helfendes Verhalten als eine in der Literatur besonders bedeutsame Dimension von Kontextleistung abgestellt (vgl. Abschnitt 2.2.2). Um zu verstehen, warum Präsentismus das Leistungsverhalten beeinflusst, vergleichen die Studien zwei theoretischen Erklärungsansätze (vgl. Abschnitt 2.3.2) – das Anstrengungs-Erholungs-Modell und die soziale Austauschtheorie – und testen zwei Mediatoren. Zusätzlich ermöglicht die Betrachtung zweier Dimensionen, potenzielle Unterschiede in der Wirkung von Präsentismus auf die Kontextleistung und Aufgabenleistung zu erkennen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Steidelmüller, Präsentismus als Selbstgefährdung, Gesundheitspsychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30681-6_4

148

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Bezüglich des Einflusses von Präsentismus auf die Gesundheit widersprechen sich bisherige Studien, die kürzere Zeiträume (< sechs Monate) betrachteten (vgl. S. 112 ff.), weshalb dies erneut im Rahmen der beiden in diesem Kapitel dargestellten Studien überprüft wurde. Dabei wurden in den Studien unterschiedliche Maße für die Gesundheit verwendet. In der ersten Studie wurde ein subjektives Maß genutzt, welches vor allem Unterschiede auf dem Befindensbeeinträchtigungs-Wohlbefindens-Kontinuum abbildet und in physische und psychische Gesundheit eingeteilt werden kann. Die andere Messung in der zweiten Studie erfasste hingegen physische Symptome und ist, obwohl es sich auch um ein Selbstauskunftsmaß handelt, eher geeignet Krankheitsaspekte auf dem Krankheits-Gesundheits-Kontinuum zu beschreiben (vgl. Abschnitt 2.1.2). Wie auch in einigen anderen Studien (u.a. Conway et al., 2014; Lu, Lin et al., 2013; Lu et al., 2014) diente auch für die Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit das Anstrengungs-Erholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998) als theoretische Grundlage. Schwierigkeiten in der Präsentismusforschung wurden bereits im Rahmen des Literaturüberblicks vor allem hinsichtlich der Messung von Präsentismus herausgestellt (vgl. Abschnitt 3.3). So werden unterschiedliche Messinstrumente eingesetzt, die auch inhaltlich etwas unterschiedliche Schwerpunkte setzen, was eine Vergleichbarkeit der Studienergebnisse erschwert. Erste Hinweise, dass mit den verschiedenen Messungen auch unterschiedliche Ursachen und Konsequenzen verbunden sind, fand die Studie von Çetin (2016). Allerdings, auch wegen methodischer Limitationen der Studie, besteht weiterer Forschungsbedarf, verschiedene Messinstrumente mit ihren unterschiedlichen Formulierungen zu vergleichen. Die Kenntnis möglicher Unterschiede hilft frühere Ergebnisse besser einschätzen zu können und bei einer Entscheidung hin zu einem Konsens für eine Art der Messung zu unterstützen. Deshalb wurden in beiden hier vorgestellten Studien jeweils zwei unterschiedliche Maße zur Erfassung von Präsentismus eingesetzt. In beiden Studien wurden dabei die am häufigsten verbreiteten Definitionen von Präsentismus dargestellt. Da sich das Single-Item von Aronsson et al. (2000) bereits in der Präsentismusforschung etabliert hat, wurde eine äquivalente deutsche Übersetzung dieses Items in beiden Studien integriert. Um krankheitsbedingten Präsentismus ohne Wertung mit einzuschließen und damit die Arbeitsdefinition von Präsentismus in dieser Arbeit abzubilden, wurden zwei unterschiedliche

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

149

Maße eingesetzt, da sich hier noch keine Formulierung wirklich etabliert hat. Zusätzlich zu den inhaltlichen Unterschieden werden aktuell in der Präsentismusforschung auch unterschiedliche, meist sehr lange Betrachtungszeiträume bei der Messung verwendet, die einerseits mit Erinnerungsproblemen seitens der Befragten und daraus folgenden möglicherweise, ungenauen Angaben verbunden sind und andererseits die interne Validität gefährden. Deshalb wird in mehreren Studien empfohlen, Präsentismus häufiger und bezogen auf kürzere Zeitspannen wie Tage oder Wochen abzufragen (Deery et al., 2014; Johns, 2011; Skagen & Collins, 2016; Ulich & Nido, 2014). Dieser Empfehlung folgend wurde Präsentismus gemeinsam mit seinen Folgen in dieser Arbeit wöchentlich über einen Zeitraum von 12 Wochen (Studie 1) bzw. über 10 Wochen (Studie 2) hinweg abgefragt. Durch die längsschnittliche, wöchentliche Erfassung können neben den methodischen Vorteilen hinsichtlich der Messung aber auch Ursache-Wirkungs-Beziehungen sowie die Dynamik der Konstrukte besser abgebildet werden (vgl. Abschnitt 4.2). Insgesamt sollen mit den beiden folgenden Studien somit sowohl inhaltliche Fragen zum Einfluss von Präsentismus auf die Arbeitsleistung und die Gesundheit wie auch methodische Fragen zur Messung von Präsentismus beantwortet werden. 4.1

Theoretische Herleitung der Hypothesen

Aufbauend auf dem Anstrengungs-Erholungs-Modell werden zunächst die Hypothesen für den Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit und darauffolgend auf die Arbeitsleistung erläutert. Diese Herleitung gilt für beide Studien. In der zweiten Studie wurde zusätzlich zum Anstrengungs-Erholungs-Modell allerdings noch eine alternative Erklärung basierend auf der sozialen Austauschtheorie für die Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung getestet, sodass im Anschluss an die gemeinsamen Hypothesen noch ergänzende Annahmen für die Studie 2 dargestellt werden. Unterschiede zwischen den beiden Messungen von Präsentismus wurden explorativ untersucht, sodass hierzu keine Hypothesen aufgestellt wurden.

150 4.1.1

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit (Studie 1 und 2)

Für die Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit bietet das AnstrengungsErholungs-Modell von Meijman und Mulder (1998) einen möglichen Erklärungsansatz. Wie bereits im Abschnitt 2.3.1 ausführlich beschrieben, erklärt das Modell, wie Arbeitsstressoren zu einer Verschlechterung im Befinden und zu gesundheitlichen Folgen wie beispielsweise psychosomatischen Beschwerden führen können. Übertragen auf Präsentismus bedeutet dies, dass Personen, die krank zur Arbeit kommen, mit einer reduzierten, suboptimalen Ressourcenausstattung arbeiten. Im Vergleich zu Tagen mit vollständiger Ressourcenausstattung können die Arbeitsstressoren die verfügbaren Ressourcen eher übersteigen. Um die Arbeit dennoch erledigen zu können, müssen Präsentisten kompensatorische Anstrengung aufbringen, die den sowieso schon bestehenden Bedarf an Erholung noch erhöhen. Aronsson und Gustafsson (2005) argumentieren deshalb auch, dass Präsentismus Möglichkeiten der Erholung unterbindet. Da ein erhöhter Bedarf an Erholung deutlich schwieriger zu befriedigen ist und Nachwirkungseffekte der Beanspruchung die Erholung erschweren, beginnen Individuen ihren nächsten Arbeitstag erneut unzureichend erholt und damit in einem suboptimalen Zustand. Somit kann Präsentismus eine negative Abwärtsspirale ins Rollen bringen bzw. verstärken, in der sich Beanspruchungen aufkumulieren und zu einem schlechteren Gesundheitszustand führen. Empirisch liegen für den direkten Zusammenhang von Präsentismus auf den späteren zukünftigen Gesundheitszustand bereits Belege vor. Wie zuvor im Abschnitt 3.6.1 zu den individuellen Folgen von Präsentismus ausführlich dargestellt (vgl. S. 112 ff.), bestehen zwar widersprüchliche Befunde, aber die Mehrzahl der Studien weist auf eine gesundheitsschädliche Wirkung von Präsentismus hin (Skagen & Collins, 2016). Hinweise finden sich sowohl für die psychische als auch die physische Gesundheit, wobei für letztere deutlich weniger Studien existieren (vgl. Tabelle 3). Die Literatur zeigt zudem, dass vor allem häufiges Arbeiten trotz Krankheit und eine hohe Anzahl an Präsentismustagen das Risiko für eine Verschlechterung der Gesundheit erhöhen. Auf der Grundlage des AnstrengungsErholungs-Modells ist zudem davon auszugehen, dass Präsentismus nicht sofort zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führt, sondern sich die Wir-

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

151

kung sukzessive entwickelt (Meijman & Mulder, 1998). Basierend auf dem Anstrengungs-Erholungs-Modell, gestützt durch die Empirie, lassen sich somit folgende Hypothesen ableiten: Hypothese 1a (Studie 1): Präsentismus weist einen negativen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand am Ende der Befragungszeit (in Woche 12) auf. Hypothese 1b (Studie 2): Präsentismus weist einen positiven Zusammenhang mit den physischen Beschwerden am Ende der Befragungszeit (in Woche 10) auf. Das Anstrengungs-Erholungs-Modell hebt vor allem die fehlende und unzureichende Erholung als Schlüsselvariable hervor (Geurts & Sonnentag, 2006), welche auch empirisch als wichtiger Einflussfaktor und Mediator zwischen Arbeitsstressoren und Beanspruchungsfolgen sowie der Verschlechterung der Gesundheit bestätigt wurde (Sonnentag & Zijlstra, 2006; van Amelsvoort et al., 2003). Unzureichende Erholung vermittelt somit basierend auf dem Modell den Zusammenhang zwischen Präsentismus und der Gesundheit. Ein guter Indikator, um die unzureichende Erholung als zentrale Wirkvariable im Anstrengungs-Erholungs-Modell abzubilden, stellt der Bedarf an Erholung dar (Need for recovery; Geurts & Sonnentag, 2006, S.484). Dieses Konstrukt beschreibt eine Vorstufe der Erschöpfung und spiegelt das Gefühl der Dringlichkeit bzw. das Bedürfnis wider, sich der Anstrengung entziehen zu wollen oder eine Pause zu brauchen (Jansen, Kant & Brandt, 2002; Sonnentag & Zijlstra, 2006). So lässt sich ableiten, dass Präsentismus zu einem höheren Bedarf an Erholung führt, welcher dann den Gesundheitszustand am Ende des Befragungszeitraums beeinflusst. Die theoretisch hergeleitete Mediationshypothese kann durch empirische Belege unterstützt werden. So finden sich zum einen Hinweise, dass Präsentismus zu einem höheren Bedarf an Erholung führt, zum anderen aber auch Hinweise für den Einfluss des Bedarfs an Erholung auf die Gesundheit. Querschnittstudien zeigen, dass Personen, die mehr Präsentismus ausüben, auch unerholter sind. So identifizierten Aronsson, Astvik und Gustafsson (2014) in ihrer Studie von 193 schwedischen Mitarbeitern aus dem sozialen Berufssektor mittels Clusteranalyse drei verschiedene Gruppen: die Erholten, die Unerholten und die mittlere Gruppe zwischen den anderen beiden Gruppen. Dabei stellten sie fest, dass sich die Gruppen in Bezug auf ihre krankheitsbedingten Fehl-

152

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

tage nicht unterschieden, die unerholte Gruppe allerdings signifikant häufiger Präsentismus zeigte. Eine weitere Clusteranalyse kam zu einem ähnlichen Ergebnis, Präsentismus wurde dort als eine Form einer Strategie zur Stressbewältigung („Coping“) angesehen, die auf kompensatorische Anstrengung im Umgang mit Stress setzt. Die Gruppe mit dieser Coping-Strategie zeigte häufiger Präsentismus und fühlte sich deutlich unerholter als die anderen Gruppen (Astvik & Melin, 2013). Zusätzlich können auch die Ergebnisse aus der Meta-Analyse von Miraglia und Johns (2016) als Beleg herangezogen werden. In dieser wurde zwar nicht direkt die unzureichende Erholung betrachtet, aber emotionale Erschöpfung als ein chronisches Erschöpfungsmaß gehörte zu den stärksten Korrelaten. Bei den querschnittlichen Studien bleibt allerdings unklar, ob Präsentismus zu unzureichender Erholung führt oder die Wirkbeziehung anders herum ist. Neben querschnittlichen bestehen aber auch erste längsschnittliche Hinweise, die die Hypothese unterstützen (vgl. Tabelle 3). So fanden Demerouti und Le Blanc et al. (2009) einen signifikanten Einfluss von Präsentismus auf emotionale Erschöpfung ein halbes Jahr später sowie Hinweise auf eine reverse Wirkbeziehung zwischen emotionaler Erschöpfung und Präsentismus. Emotionale Erschöpfung scheint das Risiko, krank zu arbeiten, zu erhöhen, was dann wieder zu einer erhöhten Erschöpfung ein halbes Jahr später führt. Auch Lu und Lin et al. (2013) bestätigten den Einfluss der Veränderung von Präsentismus auf die Veränderung der Erschöpfung zwei Monate später, wofür sie allerdings in ihrer Folgestudie (2014) mit einem Zeitabstand von drei Monaten keine Unterstützung fanden. Insgesamt scheinen die Ergebnisse aber in die Richtung zu deuten, dass Präsentismus einen positiven Einfluss auf den Bedarf an Erholung als Vorstufe der Erschöpfung hat. Hypothese 2a (Studie 1): Präsentismus weist einen positiven Zusammenhang mit dem Bedarf an Erholung am Ende der Befragungszeit (in Woche 11) auf. Hypothese 2b (Studie 2): Präsentismus weist einen positiven Zusammenhang mit dem Bedarf an Erholung am Ende der Befragungszeit (in Woche 9) auf. Auch für den zweiten Teil der Mediationshypothese gibt es bereits empirische Unterstützung. So zeigen Studien, dass Erholung von zentraler Bedeutung für die individuelle Gesundheit ist. Der Bedarf an Erholung scheint das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankung zu erhöhen (Kivimäki et al., 2006; van Amelsvoort

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

153

et al., 2003). Kivimäki et al. (2006) analysierten Sterbedaten zwischen den Jahren 1973 und 2000 und deckten ein signifikant höheres Risiko eines kardiovaskulären Tods für unerholte Personen auf. Darüber hinaus war Erholung ein Prädiktor für subjektive Gesundheitsbeschwerden in mehreren cross-sektionalen und prospektiven Studien (Sluiter, de Croon, Meijman & Frings-Dresen, 2003). Auch in Tagebuchstudien mit kürzeren Zeitabständen zeigte sich, dass erholende Tätigkeiten, die am Wochenende oder am Feierabend stattfinden das Wohlbefinden beeinflussen (Fritz & Sonnentag, 2005; Sonnentag, 2001; Sonnentag & Zijlstra, 2006). So berichteten in der Studie von Sonnentag (2001) Personen, die sich nach Feierabend noch mit ihrer Arbeit beschäftigten und sich nicht ausreichend erholten, von einem schlechteren Wohlbefinden als Personen, die sich in ihrer Freizeit erholten. Zusätzlich dazu können die Ergebnisse der Studie von Taloyan et al. (2012) als Indizien für die Mediationswirkung von unzureichender Erholung gewertet werden. Der Effekt von Präsentismus auf den selbstberichteten Gesundheitszustand war mit Kontrolle für emotionale Erschöpfung nicht mehr signifikant, was auf eine mögliche vermittelnde Wirkung der Erschöpfung hinweisen könnte. Gestützt durch das Modell und die empirischen Belege werden folgende Annahmen aufgestellt: Hypothese 3a (Studie 1): Der Bedarf an Erholung (in Woche 11) weist einen negativen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand am Ende der Befragungszeit (in Woche 12) auf. Hypothese 3b (Studie 2): Der Bedarf an Erholung (in Woche 9) weist einen positiven Zusammenhang mit den physischen Beschwerden am Ende der Befragungszeit (in Woche 10) auf. Hypothese 4a (Studie 1): Der negative Zusammenhang zwischen Präsentismus und dem Gesundheitszustand am Ende der Befragungszeit (in Woche 12) wird mediiert durch den Bedarf an Erholung (in Woche 11). Hypothese 4b (Studie 2): Der positive Zusammenhang mit Präsentismus und den physischen Beschwerden am Ende der Befragungszeit (in Woche 10) wird mediiert durch den Bedarf an Erholung (in Woche 9). Die Hypothesen zur Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit sind in Abbildung 8 zusammengefasst.

154

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Abbildung 8: Forschungsmodell zur Wirkung von Präsentismus auf die Gesundheit.

4.1.2

Einfluss von Präsentismus auf das Leistungsverhalten (Studie 1 und 2)

Das Anstrengungs-Erholung-Modell von Meijman und Mulder (1998) dient auch als Erklärung für den Einfluss von Präsentismus auf das Leistungsverhalten. Wie bereits in den vorherigen Hypothesen argumentiert wurde, arbeiten Präsentisten mit einer reduzierten, suboptimalen Ressourcenausstattung, sodass die Arbeitsstressoren die verfügbaren Ressourcen wahrscheinlich übersteigen. Das Anstrengungs-Erholungs-Modell nimmt nun an, dass Personen zwei mögliche Optionen haben mit dieser Situation umzugehen. Die erste Möglichkeit besteht darin, das Anspruchsniveau zu senken, die Genauigkeit oder die Schnelligkeit bei der Bearbeitung der Aufgabe zu reduzieren oder aber den Fokus nur auf die Haupttätigkeiten zu richten und mögliche sekundäre Aufgaben zu vernachlässigen (Hockey, 1997; Meijman & Mulder, 1998). Dies führt in der Regel zu einer Verschlechterung des Leistungsverhaltens. Hieraus lässt sich schließen, dass in Zeiten, in denen Personen Präsentismus zeigen, ihr Leistungsverhalten reduziert ist. Auch auf Basis des episodischen Prozessmodells der Arbeitsleistung von Beal et al. (2005) lässt sich dieselbe Schlussfolgerung ableiten. Das Modell nimmt

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

155

an, dass das Leistungsverhalten durch das vorhandene Ressourcenlevel und die Allokation der Ressourcen determiniert wird (vgl. S. 37). Arbeiten Personen mit einer Erkrankung, sind ihre Ressourcen reduziert, sodass sie für die Erledigung ihrer Arbeitstätigkeit sowie zur Aufmerksamkeitsregulation weniger Ressourcen bereitstellen können und ihre Arbeitsleistung sinkt. Die bisherigen empirischen Belege zu diesem Zusammenhang sind allerdings nicht ganz eindeutig. So liegen bisher nur wenige Studien vor, die den Einfluss von Präsentismus als Verhalten auf die Arbeitsleistung untersuchen. Wie bereits in Abschnitt 3.6.1 beschrieben, kommen diese Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen (vgl. Tabelle 4 im Abschnitt 3.6.1). So lagen sowohl in der MetaAnalyse von Miraglia und Johns (2016) als auch in der Studie von Lu und Lin et al. (2013) keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Arbeitsleistung und Präsentismus vor. Die Ergebnisse von Christian et al. (2015), Dellve et al. (2011), Dhaini et al. (2017) und Niven und Ciborowska (2015) hingegen weisen darauf hin, dass Präsentismus sowohl die Aufgaben- als auch die Kontextleistung reduziert. Bei den letztgenannten beiden Studien handelt es sich um Querschnittsstudien, sodass Ursache-Wirkungsbeziehungen hier nicht klar zu benennen sind. Bezüglich der Längsschnittstudien (mit Ausnahme der Studie von Christian et al., 2015) fällt zudem auf, dass in den Studien längere Zeitabschnitte zwischen der Präsentismusmessung und der Leistungsmessung betrachtet wurden. Auf Basis der Theorien lässt sich allerdings vermuten, dass die Veränderung des Leistungsverhaltens zeitnah zum Präsentismusverhalten stattfindet. Die Literatur, die Präsentismus als Produktivitätsverlust definiert, betrachtet hingegen kürzere Zeitspannen und kommt zu einem klareren Bild. Hier scheint das Arbeiten mit einer Erkrankung deutlich mit Einschränkungen der Produktivität einherzugehen. Allerdings sind diese Ergebnisse aufgrund der methodischen Einschränkungen (vgl. S. 139) vorsichtig zu interpretieren. Insgesamt wird auf Basis der Theorien vermutet, dass Präsentismus mit kurzfristigen Schwankungen des Leistungsverhaltens einhergeht: Hypothese 5 (Studie 1 und 2): In Wochen, in denen Personen (häufiger) krank zur Arbeit kommen, zeigen sie eine geringere Aufgabenleistung. Hypothese 6 (Studie 1 und 2): In Wochen, in denen Personen (häufiger) krank zur Arbeit kommen, zeigen sie eine geringere Kontextleistung.

156

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Alternativ zur ersten Möglichkeit können Personen auch ihre Ressourcen anpassen, indem sie kompensatorische Anstrengung aufbringen, was allerdings größere Beanspruchungsreaktionen sowie einen höheren Bedarf an Erholung zur Konsequenz hat. Präsentismus führt somit zu einem höheren Bedarf an Erholung, was bereits in Hypothese 2a und 2b hergeleitet wurde. Diese zweite Möglichkeit hat auch Implikationen für die Arbeitsleistung. Ziel der kompensatorischen Anstrengung ist es die Arbeitsleistung aufrechtzuerhalten, sodass angenommen werden kann, dass die Arbeitsleistung in derselben Woche durch die aufgebrachte kompensatorische Anstrengung weniger stark beeinträchtigt ist. Allerdings verschlechtert sich durch die kompensatorische Anstrengung das Aufwands-Ertrags-Verhältnis (Wieland-Eckelmann & Baggen, 1994; Zapf & Semmer, 2004). Zudem können Individuen das erhöhte Anstrengungslevel in der Regel nur für kurze Zeitperioden aufrechterhalten und der gesteigerte Aufwand ist mit Nachwirkungen verbunden (Hockey, 1997; Zapf & Semmer, 2004). So kann argumentiert werden, dass nach einer Woche, in der trotz Krankheit gearbeitet wurde und Personen kompensatorische Anstrengung aufgebracht haben, das Wochenende wahrscheinlich nicht ausreichen wird, sich von den Anforderungen zu erholen. Zudem erfordern auch Erholungstätigkeiten häufig Selbstregulationsfähigkeiten, die durch die erhöhte Anstrengung in der Woche allerdings schon verbraucht sind (Semmer et al., 2010). Die Dauer und Qualität der Erholung sind somit wahrscheinlich unzureichend und Personen starten auch ihre Folgewoche unerholt und mit einem suboptimalen psychophysischen Zustand. Erneut kompensatorische Anstrengungen aufzubringen und zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren, wird nur mit sehr hohen Schwierigkeiten umsetzbar sein, sodass Individuen eher zur ersten Möglichkeit greifen werden, die mit einer Reduzierung der Arbeitsleistung einhergeht. Zudem besitzen Gefühle der Müdigkeit die psychologische Funktion, die Leistungsbereitschaft zu hemmen und weitere Verausgabung der Ressourcen zu verhindern (Meijman & Mulder, 1998; Semmer et al., 2010). So ist anzunehmen, dass eine Reduzierung der Arbeitsleistung zeitversetzt erfolgt und der Bedarf an Erholung diese zeitversetzte Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung mediiert. Empirische Belege für den Zusammenhang von Präsentismus und dem Bedarf an Erholung wurden bereits bei der Herleitung der Hypothesen 2a und 2b angeführt. Es liegen aber auch Befunde für den Zusammenhang zwischen dem

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

157

Bedarf an Erholung und der Arbeitsleistung vor. Studien, die das Gefühl, sich in der Freizeit erholt zu haben, als positiven Indikator für Erholung untersuchten, geben hier bereits Hinweise. Eine Tagebuchstudie von Sonnentag (2003), an welcher 147 Mitarbeiter aus sechs verschiedenen Organisationen des öffentlichen Dienstes teilnahmen, verdeutlichte, dass Personen, die sich erholter fühlten, am nächsten Arbeitstag mehr Arbeitsinitiative und eine höhere Lernbereitschaft aufwiesen, was durch das Arbeitsengagement mediiert wurde. Eine weitere Tagebuchstudie von Binnewies et al. (2009b) bestätigte auch den direkten Effekt von Erholung auf die Aufgabenleistung sowie auf das helfende Verhalten als eine Dimension der Kontextleistung. Sie untersuchten, ob der Zustand der Erholung am Morgen die Arbeitsleistung des Tages vorhersagt und konnten diese Annahme in einer Untersuchung von 99 Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes stützen. Erholung am Morgen zeigte einen positiven Zusammenhang mit der Aufgabenleistung, dem helfenden Verhalten und mit der persönlichen Initiative des folgenden Arbeitstages. Dabei moderierte der Handlungsspielraum die Beziehungen, indem der Zusammenhang für Personen mit einem niedrigen Handlungsspielraum nicht signifikant war. Neben der Wirkung von Erholung auf die Arbeitsleistung des Tages finden sich auch Hinweise für den Einfluss unzureichender Erholung am Wochenende bzw. zu Beginn der Woche auf die Arbeitsleistung in der Folgewoche. Fritz und Sonnentag (2005) untersuchten den Effekt von Wochenend-Erlebnissen auf Burnout, Wohlbefinden und die Arbeitsleistung nach dem Wochenende. Dabei befragten sie 87 Mitarbeiter des medizinischen Notfalldienstes zu drei verschiedenen Zeitpunkten, nämlich am Ende der Woche, am Wochenende und nach dem Wochenende. Sie zeigten, dass Stressoren in der Freizeit die Aufgabenleistung sowie die Lernbereitschaft nach dem Wochenende negativ beeinflussen, während soziale Aktivitäten am Wochenende positiv auf die Aufgabenleistung wirken (Fritz & Sonnentag, 2005). Binnewies et al. (2010) unterstützen die zuvor berichteten Ergebnisse. Ihre vierwöchige Befragung von 133 Arbeitnehmer aus fünf Organisationen in Deutschland ergab, dass Erholung zu Beginn der Woche helfendes Verhalten, persönliche Initiative sowie die Aufgabenleistung positiv beeinflusst. In Bezug auf die Aufgabenleistung war dieser Effekt allerdings nur im Regressionsmodell, nicht aber in dem Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell signifikant. Zusammenfassend bestätigen die Studien den Einfluss von Erholung auf verschiedene Dimensionen der Arbeitsleistung sowohl für den täglichen als auch für den wöchentlichen Betrachtungszeitraum.

158

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Neben den kurzfristigen Effekten finden sich auch Belege für eine verschobene, längerfristige Wirkung von Erholung auf die Arbeitsleistung. In einer weiteren Untersuchung von Binnewies, Sonnentag und Mojza (2009a), in der 358 Mitarbeiter aus Nonprofit-Organisationen zweimal im Abstand von sechs Monaten befragt wurden, konnte ein positiver Effekt von Erholung auf die Veränderung der Aufgabenleistung nach sechs Monaten bestätigt werden. Allerdings galt diese Beziehung nur für Aufgabenleistung. Kontextleistung, darunter auch helfendes Verhalten, wurde nicht durch die Erholung vorhergesagt. Demerouti, Taris und Bakker (2007) betrachteten den Bedarf an Erholung. In ihrer Untersuchung von 123 Mitarbeitern in den Niederlanden mit zwei Messungen im Abstand von einem Monat führte der Bedarf an Erholung zu einem geringeren Konzentrationslevel einen Monat später und die geringere Konzentration reduzierte die Aufgabenleistung einen Monat später. Als Indiz für die Mediationswirkung von unzureichender Erholung kann die Studie von Christian et al. (2015) gewertet werden. Die Autoren fanden Hinweise, dass eine Verringerung der Ressourcen und das Arbeitsengagement als Mediatoren die Beziehung zwischen Schmerzen und der Kontextleistung sowie kontraproduktivem Arbeitsverhalten vermitteln. Insgesamt deuten die theoretischen wie auch die empirischen Hinweise darauf hin, dass der Bedarf an Erholung einen negativen Effekt auf die Arbeitsleistung hat und auch als Mediator zwischen Präsentismus und der Arbeitsleistung fungiert. Basierend vor allem auf den empirischen Ergebnissen der Tagebuchstudien wird deutlich, dass fehlende Erholung schon innerhalb derselben Woche die Arbeitsleistung beeinträchtigt. So ist davon auszugehen, dass die kompensatorische Anstrengung zwar den Leistungsabfall mindert, aber nicht vollkommen verhindert. Es kann vermutet werden, dass der Bedarf an Erholung die negative Beziehung zwischen Präsentismus und der Arbeitsleistung sowohl für dieselbe Woche als auch für die kommende Woche mediiert: Hypothese 7 (Studie 1 und 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Aufgabenleistung derselben Woche wird mediiert durch den Bedarf an Erholung. Hypothese 8 (Studie 1 und 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Kontextleistung derselben Woche wird mediiert durch den Bedarf an Erholung.

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

159

Hypothese 9 (Studie 1 und 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Aufgabenleistung der Folgewoche wird mediiert durch den Bedarf an Erholung. Hypothese 10 (Studie 1 und 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Kontextleistung der Folgewoche wird mediiert durch den Bedarf an Erholung. In der bisherigen Erholungsforschung lassen sich einige widersprüchliche Ergebnisse in Bezug auf den Einfluss von Erholung auf die verschiedenen Dimensionen der Arbeitsleistung erkennen. Es stellt sich die Frage, ob unzureichende Erholung Aufgabenleistung und Kontextleistung nicht im gleichen Maße beeinflusst (Sonnentag, Niessen & Neff, 2011).48 Binnewies et al. (2009a) fanden beispielsweise keinen Effekt der selbsteingeschätzten Erholung auf die Kontextleistung und vermuteten, dass Kontextleistung stärker durch die Arbeitsmotivation anstatt durch fehlende Ressourcen beeinflusst wird. Aus einer theoretischen Perspektive lässt sich aber argumentieren, dass Individuen versuchen, ihre primären Arbeitstätigkeiten aufrechtzuerhalten (Demerouti et al., 2007; Hockey, 1997) und Sekundäraufgaben somit eher vernachlässigt werden (Semmer et al., 2010). Um die primären Ziele zu erreichen, werden weniger Ressourcen auf die Unterstützung der Kollegen gerichtet, sodass helfendes Verhalten stärker von unzureichender Erholung betroffen wird. Konträr dazu argumentierten Halbesleben und Bowler (2007) gestützt durch Theorie der Ressourcenerhaltung, dass erschöpfte Personen mehr helfendes Verhalten zeigen als Aufgabenleistung, um Hilfestellung und damit Ressourcen als Gegenleistung von Arbeitskollegen und der Führungskraft zurückzubekommen, was sie in ihrer empirischen Untersuchung auch bestätigen konnten. Aufgrund der unterschiedlichen empirischen Ergebnisse und widersprüchlichen theoretischen Herleitungen werden mögliche Unterschiede in Bezug auf den Einfluss des Bedarfs an Erholung sowie Präsentismus auf die beiden Dimensionen der Arbeitsleistung explorativ getestet und keine expliziten Hypothesen formuliert.

48

Eine Unterscheidung der Wirkung auf die Aufgaben- und Kontextleistung wurde von den Gutachtern und dem Editor im Rahmen eines Begutachtungsverfahrens der Zeitschrift “Journal of Organizational Behavior“ angeregt.

160 4.1.3

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien Annahmen basierend auf der sozialen Austauschtheorie (Studie 2)

Der bisherige Erklärungsansatz für die Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung beruht auf einer rein energetischen Betrachtung. Allerdings sind auch andere Mechanismen denkbar. Vor allem zur Erklärung von Kontextleistung wird häufig auch die soziale Austauschtheorie verwendet (Konovsky & Pugh, 1994; Spence et al., 2011). Hierbei rückt das Austauschverhältnis zwischen der Organisation und dem Beschäftigten in den Vordergrund der Betrachtung. Individuen fühlen sich vor allem dann verpflichtet, förderliches Verhalten gegenüber der Organisation in Form von Aufgabenleistung und Kontextleistung zu zeigen, wenn sie eine entsprechende Gegenleistung von der Organisation in Form von organisationaler Unterstützung und fairer Behandlung erhalten (vgl. S. 38). Ein geeigneter Indikator, um die Qualität der Austauschbeziehung im Rahmen der Theorie abzubilden, stellt u.a. die distributive Gerechtigkeit dar, welche die gerechte Verteilung von Einsätzen einer Person im Verhältnis zu den Gegenleistungen beschreibt, die sie von der Organisation dafür bekommt (Nerdinger, 2013, vgl. S. 26). Organisationale Gerechtigkeit diente dabei schon als Erklärung für die Wirkung von Fehlbeanspruchung auf die Arbeitsleistung (Rosen et al., 2010) und kann auch als vermittelnde Variable für die Wirkung von Präsentismus auf die Aufgaben- und Kontextleistung angewandt werden. So kann basierend auf der sozialen Austauschtheorie argumentiert werden, dass Personen in Wochen, in denen sie krank zur Arbeit kommen, zusätzliche Anstrengung investieren, um ihre Arbeit erledigen zu können. Sie geben ihrer Arbeit somit höhere Priorität als ihrer eigenen Gesundheit. Die Personen investieren in diesen Wochen mehr Anstrengungen als in Wochen, in denen sie gesund arbeiten. Somit könnte die Gegenleistung seitens der Organisation als nicht ausreichend empfunden und eine geringere distributive Gerechtigkeit wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang kann Präsentismus daher als eine Verletzung der ausgeglichenen Austauschbeziehungen angesehen werden. Wie auch bei der Wirkung von Fehlbeanspruchung auf die Arbeitsleistung lässt sich argumentieren, dass die Anforderungen seitens der Organisation die vorhandenen Ressourcen der Mitarbeiter übersteigen. Somit scheint die Unterstützung seitens der Organisation nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den Anstrengungen der Mitarbeiter zu stehen. Um ein angemessenes Verhältnis wiederherzustellen, reduzieren die Mitarbeiter ihre Anstrengung und somit die Arbeitsleistung (Rosen et al., 2010).

4.1 Theoretische Herleitung der Hypothesen

161

Empirisch gibt es erst wenige Hinweise zu den beschriebenen Annahmen. Diese deuten allerdings auf die vermutete Beziehung hin. In ihrer Meta-Analyse nahmen Miraglia und Johns (2016) an, dass ein positiver Zusammenhang zwischen organisationaler Gerechtigkeit und Präsentismus vorliegt. Sie gingen davon aus, dass organisationale Gerechtigkeit dazu führt, dass Mitarbeiter gern zur Arbeit kommen und somit eher Präsentismus ausüben. Allerdings fanden sie in ihrer Meta-Analyse einen signifikanten negativen Zusammenhang (Miraglia & Johns, 2016). Dieses Ergebnis entspricht der oben formulierten Annahme, dass Präsentismus die Gerechtigkeit negativ beeinflusst. Allerdings kann dies nur als Hinweis für den Zusammenhang auf interpersoneller und nicht auf intrapersoneller Ebene gewertet werden. Ein weiteres Indiz für die oben formulierte Annahme bietet die Studie von Deery et al. (2014). In ihrer Studie zeigte sich, dass Präsentismus zu späteren Absentismus führt und distributive Gerechtigkeit diesen Zusammenhang verstärkt. Die Autoren betrachteten in ihrer Studie zwar keine Mediationswirkung von distributiver Gerechtigkeit, betonten aber, dass Personen, die krank zur Arbeit kommen, ihren Arbeitseinsatz reduzieren und sich von der Arbeit zurückziehen, wenn sie die Verteilung der Erträge und Belohnungen in ihrer Organisation als nicht fair wahrnehmen. Auch wenn die Ergebnisse nicht direkt die vermutete Beziehung prüfen, geben sie zumindest einen Hinweis darauf, dass einerseits auf Präsentismus ein reduzierter Arbeitseinsatz erfolgen kann und andererseits ein negativer Zusammenhang mit der organisationalen Gerechtigkeit besteht, somit wird auf Basis der theoretischen Herleitung in Kombination mit den empirischen Hinweisen folgende Hypothese aufgestellt: Hypothese 11 (Studie 2): In Wochen, in denen Personen (häufiger) krank zur Arbeit kommen, nehmen sie ihre Organisation als weniger gerecht wahr. Der Einfluss von organisationaler Gerechtigkeit auf die Arbeitsleistung wird damit erklärt, dass Personen bei einem ungerechten Verhältnis von geleistetem Einsatz zum Ertrag für eine Balance sorgen, indem sie ihren Einsatz reduzieren. Mehrere empirische Studien wie auch meta-analytische Ergebnisse geben Hinweise auf einen positiven Zusammenhang zwischen distributiver Gerechtigkeit sowohl mit der Aufgabenleistung als auch der Kontextleistung (Colquitt, Conlon, Wesson, Porter & Ng, 2001; Colquitt, LePine, Piccolo, Zapata & Rich, 2012; Colquitt et al., 2013). Auch in einer aktuellen Befragung von Mitarbeitern der Automobil- und Pharmaziebranche in China wurde ein direkter, positiver Einfluss

162

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

von organisationaler Gerechtigkeit auf die verschiedenen Dimensionen der Arbeitsleistung aufgezeigt. Die Leistung wurde in dieser Studie drei Wochen nach der Mitarbeiterbefragung durch die Führungskraft eingeschätzt und beinhaltete unter anderem die Aufgabenleistung und die Kontextleistung (Zhang, LePine, Buckman & Wei, 2014). Die betrachteten Studien fokussierten in der Regel auf Personenunterschiede in der organisationalen Gerechtigkeit, die sich auf die Arbeitsleistung auswirken. Basierend auf der sozialen Austauschtheorie werden allerdings nicht nur Personenunterschiede adressiert, sondern vor allem intrapersonelle Veränderungen. Darüber hinaus zeigten Holtz und Harold (2009), dass organisationale Gerechtigkeit über die Zeit hinweg schwankt. Sie erhoben organisationale Gerechtigkeit zu drei verschiedenen Messzeitpunkten mit einem Abstand von vier Wochen. Hierbei ließen sich 24 Prozent der Varianz der intrapersonellen Ebene zuordnen. Basierend auf der theoretischen Herleitung und den ersten Hinweisen auf der interpersonellen Ebene werden folgende Hypothesen abgeleitet: Hypothese 12 (Studie 2): In Wochen, in denen sich Personen gerechter behandelt fühlen, zeigen sie eine höhere Aufgabenleistung. Hypothese 13 (Studie 2): In Wochen, in denen sich Personen gerechter behandelt fühlen, zeigen sie eine höhere Kontextleistung. Werden die beiden Hypothesen 11 sowie 12 und 13 kombiniert betrachtet, ergeben sich somit folgende Mediationshypothesen. Hypothese 14 (Studie 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Aufgabenleistung wird mediiert durch organisationale Gerechtigkeit. Hypothese 15 (Studie 2): Die negative Wirkung von Präsentismus auf die Kontextleistung wird mediiert durch organisationale Gerechtigkeit. Abbildung 9 fasst alle formulierten Hypothesen bezüglich des Zusammenhangs zwischen Präsentismus und dem Leistungsverhalten zusammen.

4.2 Methodik

163

Abbildung 9 Forschungsmodell zur Wirkung von Präsentismus auf die Arbeitsleistung.

4.2

Methodik

Im folgenden Abschnitt wird das methodische Vorgehen der empirischen Untersuchung vorgestellt. Da die beiden Studien sehr ähnlich aufgebaut sind, werden diese gemeinsam in diesem Abschnitt beschrieben. Auf bestehende Unterschiede der beiden Studien wird besonders hingewiesen. 4.2.1

Auswahl des Studiendesigns

Um die vorhergenannten Hypothesen zu untersuchen, wurden zwei Längsschnittstudien durchgeführt. Eine längsschnittliche Untersuchung liegt vor, wenn die in den Hypothesen benannten Konstrukte mindestens zu drei verschiedenen Zeitpunkten erhoben werden (Ployhart & Vandenberg, 2010, 2010). Dies bietet den Vorteil, dass Veränderungsprozesse besser abgebildet und untersucht werden können (Dalal et al., 2014). Rückschlüsse auf Ursache- und Wirkungsbeziehungen sind im Vergleich zu Querschnittsstudien besser möglich (Aguinis & Edwards, 2014). Längsschnittstudien erlauben es, intrapersonelle von interpersoneller Wirkung zu unterscheiden (im Englischen wird dies als within-person und betweenperson effect beschrieben), denn Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Konstrukten können auf der interpersonellen Ebene (in Bezug auf Unterschiede zwischen Personen) eine andere Form, Richtung oder Stärke aufweisen als auf der

164

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

intrapersonellen Ebene (Unterschiede innerhalb einer Person). Ein Beispiel für Unterschiede in der Richtung der Beziehung ist der Effekt von körperlicher Betätigung auf den Blutdruck. Personen, die mehr Sport treiben als andere, haben einen niedrigeren Blutdruck, der Zusammenhang zwischen körperlicher Betätigung und Blutdruck ist hier also negativ. Auf der intrapersonellen Ebene hingegen ist diese Beziehung positiv, der Blutdruck ist höher in Situationen, wenn Personen sich körperlich betätigen. Neben der Richtung kann sich auch die Stärke der Beziehung auf den zwei Ebenen deutlich unterscheiden. So führten querschnittliche Untersuchungen zur Wirkung von Arbeitszufriedenheit und Arbeitsleistung nur zu einem moderaten positiven Zusammenhang, während im Rahmen von Tagebuchstudien ein deutlich stärkerer Zusammenhang gefunden werden konnte (Dalal et al., 2014; Ohly, Sonnentag, Niessen & Zapf, 2010). Die Beispiele zeigen, dass Theorien, die die Veränderungen innerhalb einer Person beschreiben, auch auf der intrapersonellen Ebene getestet werden sollten (Dalal et al., 2014). Im Vergleich zu Experimenten haben Längsschnittstudien allerdings den Nachteil, dass alternative Erklärungen für die untersuchte Wirkungsbeziehung nicht ausgeschlossen werden können. Die interne Validität ist somit gefährdet, da es in Feldstudien eine Vielzahl an Einflussgrößen gibt, die nicht alle kontrolliert werden können (Stone-Romero, 2011). Allerdings ist das Experiment als Untersuchungsdesign für die vorliegende Forschungsfrage ungeeignet, da das Verhalten, krank zu arbeiten, nur schwer manipulierbar ist oder eine Manipulation forschungsethisch fraglich erscheint. Die Längsschnittanalyse stellt somit ein geeignetes Untersuchungsdesigns zur Beantwortung der Forschungsfrage dar. Im Rahmen von Längsschnittstudien sollte der zeitliche Abstand und die Häufigkeit der wiederholten Messungen so gewählt sein, dass der Veränderungsprozess in dieser Zeit abgebildet wird (Hoffman, 2015; Ployhart & Vandenberg, 2010). Veränderungsprozesse können sich dabei grundlegend unterscheiden von systematischen, andauernden Veränderungen wie beispielsweise Lernen und Entwicklung bis hin zu eher kurzfristigen Fluktuationen, die ungerichtete Schwankungen um einen Personenmittelwert beschreiben (Hoffman, 2015). Letztere werden meist durch häufige Messungen mit geringerem Zeitabstand untersucht. Die

4.2 Methodik

165

sich daraus ergebenden Daten werden auch als intensive Längsschnittdaten49 bezeichnet (Walls & Schafer, 2006). Die vorliegenden Studien zielten eher darauf ab, kurzfristige Veränderung und Fluktuationen abzubilden. Um den Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit abzubilden, wurde eine Zeitdauer von ca. drei Monaten gewählt (Präsentismus beeinflusst den Gesundheitszustand zum Ende des Befragungszeitraums, also nach zehn bzw. zwölf Wochen) ähnlich wie auch in den Studien von Lu und Kollegen (2013; 2014). Basierend auf dem Anstrengungs-Erholungs-Modell wird angenommen, dass Präsentismus Erholung unterbindet und sukzessive Ressourcen abbaut. Dieser Prozess wird aber nicht sofort wirksam, sondern benötigt eine gewisse Zeitdauer (Meijman & Mulder, 1998). Im Gegensatz dazu wurde die Annahme aufgestellt, dass Leistungsschwankungen zeitnah durch Präsentismus beeinflusst werden, sodass hier ein zeitlicher Abstand zwischen den Befragungen von einer Woche ausgewählt wurde. Die Entscheidung für die Zeitabstände basierte allerdings nicht nur auf den Modellen, sondern es wurden auch praktische und methodische Aspekte berücksichtigt. Frühere Studien deuten bereits darauf hin, dass sowohl in Bezug auf die Arbeitsleistung als auch bezüglich der Arbeitsbeanspruchung der Abstand von einer Woche sinnvoll ist (Bakker & Sanz-Vergel, 2013; Madrid, Patterson, Birdi, Leiva & Kausel, 2014). Beispielsweise zeigte die Studie von Binnewies et al. (2010), dass die Erholung zu Beginn der Woche die wöchentliche Arbeitsleistung determiniert, was die Auswahl des Zeitrahmens von einer Woche unterstützt. Zudem spielt bei der Auswahl der Anzahl und des Abstands der Messung auch der Aufwand für die Teilnehmer eine Rolle (Dimotakis, Ilies & Judge, 2013). Krankheit und damit Präsentismus sowie Absentismus treten nicht sehr häufig auf. Deshalb werden Absentismus und Präsentismus auch als Phänomene mit geringer Basisrate bezeichnet (Johns, 2010). Der Zeitraum von einer Woche im Vergleich zu einer täglichen Erfassung erhöht die Wahrscheinlichkeit, ausreichend Präsentismusereignisse zu erfassen und ist trotzdem kurz genug, die Wirkung der Variablen abzubilden. Zudem kann durch die wöchentliche Befragung mit zwölf bis zehn Wiederholungen insgesamt ein längerer Zeitraum betrachtet werden als bei kürzeren Befragungsabschnitten, ohne die Teilnehmer zu sehr zu beanspruchen. Bei der Festlegung auf zwölf bis

49

Hierunter fallen Tagebuchstudien, die Experience Sampling Methode sowie Ecological Momentary Assessment.

166

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

zehn Wochen wurden zudem auch Aspekte der Stichprobengröße und der damit verbundenen Teststärke berücksichtigt. 4.2.2

Durchführung der Untersuchungen

Die erste Befragung erfolgte im Zeitraum vom 02.07.2015 bis zum 25.09.2015, während die zweite Befragung in der Zeit vom 24.11.2015 bis zum 05.02.2016 durchgeführt wurde. Die erste Studie fand in den Sommermonaten statt, während die zweite Studie im Spätherbst und Winter erfolgte. Der unterschiedliche Erhebungszeitraum kann möglicherweise auch Einfluss auf die untersuchten Zusammenhänge aufweisen. So sind die Sommermonate eine Zeit, in welcher Personen häufig verreisen, Urlaub nehmen und auch weniger Krankheitsereignisse vorkommen. Letzteres wird durch eine monatliche Statistik des Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK) zum Krankenstand bestätigt. Die Anzahl der ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeitstage der Jahre 2015-2017 waren in den Monaten Mai bis einschließlich September am niedrigsten (BKK Dachverband e.V.). Dopico et al. (2015) erklären diese saisonalen Unterschiede in ihrer Studie zum Teil durch eine saisonale Anpassung des Immunsystems. Ein Vergleich der Ergebnisse beider Längsschnittstudien ermöglichte es, ggf. saisonale Verzerrungen aufdecken zu können. Beide Befragungen wurde online mithilfe des Befragungsprogramms „Sosci Survey“ durchgeführt (Leiner, 2014) und richteten sich an eine Gelegenheitsstichprobe, die sich zum großen Teil aus Arbeitnehmern verschiedener Sektoren zusammensetzte. In der ersten Befragung wurden die Teilnehmer gemeinsam mit einer Masterandin (Besemann, 2015) und in der zweiten Befragung gemeinsam mit Studierenden im Rahmen eines Masterseminars rekrutiert. Die Teilnehmer wurden, wenn möglich, persönlich angesprochen und das Thema der Arbeit sowie die Vorgehensweise bei der Befragung erläutert. Der persönliche Kontakt wurde aufgebaut, da dadurch die Rücklaufquote erfahrungsgemäß höher ist als bei einer schriftlichen Kontaktaufnahme (Anseel, Lievens, Schollaert & Choragwicka, 2010; Sonnentag, 2006). Personen, die ihre Teilnahme zusagten, stellten ihre E-Mail Adresse zur Verfügung und erhielten dann per E-Mail den Link zur ersten Befragung. Darüber hinaus wurden die Teilnehmer gebeten, einen Internetlink auch in ihrem Bekannten- oder Arbeitskreis weiterzuleiten. Dieser Registrierungslink führte zu einer

4.2 Methodik

167

kurzen Beschreibung über die Inhalte, die Voraussetzungen für die Teilnahme sowie den Ablauf der Befragung und fragte die E-Mail Adressen ab. Die Registrierung bzw. die Angabe der E-Mail Adresse war notwendig, um die mehrmaligen Befragungen mithilfe einer automatischen Vergabe einer Kennung aus Zahlen und Buchstaben (die keine Rückschlüsse auf die Personen zulässt) durch das Befragungsprogramm einander zuordnen zu können (Leiner, 2014). Nach der Registrierung der E-Mail Adresse wurden auch die über das Schneeballprinzip rekrutierten Probanden zum ersten Fragebogen weitergeleitet. Abweichend zur ersten Studie registrierten sich alle Teilnehmer der zweiten Studie zunächst mit ihrer E-Mail Adresse, bevor sie zum eigentlichen Fragebogen weitergeleitet wurden. Vor dem Start des Fragebogens wurden alle Probanden kurz über das Forschungsprojekt und die Dauer der Befragung sowie die Kontaktdaten für Rücksprachen informiert. Zusätzlich wurde noch betont, dass es keine „richtigen oder falschen Antworten“ gibt und die Anonymität gewährleistet ist, wie es von Podsakoff, MacKenzie und Podsakoff (2012) empfohlen wird, um Methodenverzerrungen beispielsweise durch sozial erwünschte Antworten möglichst gering zu halten. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Befragung war, dass die Probanden berufstätig sind. In der zweiten Studie wurden zudem noch eine wöchentliche Mindestanzahl von zehn Arbeitsstunden pro Woche und feste Arbeitstage als Voraussetzungskriterien festgelegt. Nach der Teilnahme am ersten Fragebogen, in welchem insbesondere stabile Eigenschaften sowie demografische Daten abgefragt wurden, erhielten die Probanden jede Woche freitags eine E-Mail mit einem Link zu einem kürzeren Fragebogen. Der kürzere, wöchentliche Fragebogen erfasste die sich verändernden Variablen wie Präsentismustage, den Bedarf an Erholung sowie die Arbeitsleistung. In der zweiten Studie fielen zwei der wöchentlichen Befragungen auf den ersten Weihnachtsfeiertag und auf Neujahr. Deshalb wurde im ersten Fragebogen abgefragt, ob Personen an diesen gesetzlichen Feiertagen arbeiten müssen. Den Personen, die an diesen Tagen arbeiteten, wurde der wöchentliche Fragebogen trotz des Feiertages zugesandt. Alle anderen erhielten eine E-Mail mit Weihnachts- bzw. Neujahrswünschen und dem Hinweis, dass für diesen Zeitpunkt kein Fragebogen ausgefüllt werden muss.

168 4.2.3

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien Operationalisierung der Konstrukte

Um die Konstruktvalidität hoch zu halten, wurde in den Fragebögen eine Vielzahl bereits validierter Messinstrumente verwendet. Zudem wurden die fertigen Onlinefragebögen vor dem Versenden weitreichend überprüft (Schnell, Hill & Esser, 2013). Wissenschaftliche Mitarbeiter aus ähnlichen Forschungsbereichen wurden gebeten, Feedback zu den Fragebögen zu geben. Darüber hinaus überprüften fachfremde Personen den Fragebogen auf Verständlichkeit und Anwenderfreundlichkeit. Das Programm Sosci-Survey bietet hierfür einen Pretest-Modus an, in dem das Feedback direkt als Kommentar unter der jeweiligen Seite erfolgen kann (Leiner, 2014). Die Fragebögen wurden entsprechend angepasst. Insgesamt wurden alle Fragebögen in einem einheitlichen Layout gestaltet und es wurde auf möglichst einfache Bedienung und ein hohes Maß an Transparenz geachtet (Klöckner & Friedrichs, 2014). Alle Fragebögen hatten eine Fortschrittsanzeige und alle Angaben (bis auf Filterfragen) waren freiwillig bzw. konnten von den Befragten übersprungen werden. Es wurde somit bewusst darauf verzichtet, Fragen als Pflichtangaben im Onlinefragebogen zu programmieren, da dies zu höheren Abbrüchen führen kann und auch aus ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar ist (Callegaro, Manfreda & Vehovar, 2015). Die Fragebögen sind als PDF-Version auf dem der Arbeit beigelegten Datenträger gespeichert und einsehbar. Aufbau und Instrumente des ersten Fragebogens Im Anfangsfragebogen wurden vor allem relativ stabile Konstrukte erhoben, die neben der Erfassung des Gesundheitszustands als abhängige Variable einerseits zur Beschreibung der Stichprobe und andererseits zum Teil als Kontrollvariablen im Rahmen der Analyse dienten. Der Fragebogen war dabei in Abschnitte unterteilt, die die Fragen inhaltlich zu Modulen zusammenfassten. Dies sollte den Befragten die Beantwortung erleichtern, da sie sich so jeweils auf ein Thema konzentrieren konnten (Klöckner & Friedrichs, 2014). Um den Befragten zusätzlich eine bessere Orientierung zu ermöglichen und den Befragungsablauf nachvollziehbar zu machen, wurden die Fragenmodule jeweils mit kurzen Überleitungstexten versehen (Klöckner & Friedrichs, 2014; Porst, 2011). Der Fragebogen begann mit Fragen zur Arbeitssituation, da zum Einstieg in die Befragung einfache Einstellungs- oder Faktfragen empfohlen werden (Klöckner & Friedrichs, 2014). Zunächst wurden hierbei die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Studie

4.2 Methodik

169

mittels Filterfragen abgefragt. Für Personen, die die Voraussetzungen nicht erfüllten, endete der Fragebogen mit einem Dank für Ihre Teilnahme und einem Hinweis auf die Voraussetzungen. Für alle anderen Personen folgten weitere Fragen zur Arbeitssituation sowie, in weitere Abschnitte gegliedert, Fragen zur Persönlichkeit, zur Gesundheit der Teilnehmer, zur anstehenden Urlaubsplanung und abschließend zu demografischen Angaben sowie Angaben zur Organisation, bei der sie beschäftigt sind. Die verwendeten Messinstrumente der einmalig erhobenen Variablen sowie die Auswahl der Kontrollvariablen werden nun im Folgenden näher erläutert. Der Gesundheitszustand als abhängige Variable wurde in beiden Studien unterschiedlich erfasst. In der ersten Studie wurde die physische und psychische Gesundheit mit dem Short Form-12 Health Survey-SOEP (SF-12-S; Nübling, Andersen, Mühlbacher, Schupp & Wagner, 2007) erhoben. Der SF-12-S ist eine kostenfrei nutzbare Version des Soziökonomischen Panels zur Messung des subjektiven Gesundheitszustandes bzw. der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Weinhardt & Richter, 2013). Er beruht auf einer Kurzform des SF-36, der als international weitverbreiteter und häufig eingesetzter Fragebogen zur Messung der subjektiven Gesundheit gilt (Bullinger, Kirchberger & Ware, 1995; Erhart, Wille & Ravens-Sieberer, 2006). Der SF-12-S erfasst wie der SF-36 acht Dimensionen subjektiver Gesundheit (körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, Schmerz, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion und psychisches Wohlbefinden), welche zu einer physischen und psychischen Summenskala zusammengefasst werden können. Somit geht er über ein biologisches Verständnis von Gesundheit hinaus und berücksichtigt auch psychische und soziale Aspekte des Wohlbefindens (Weinhardt & Richter, 2013). Zudem ermöglicht der Einsatz des Fragebogens einen Vergleich des Gesundheitszustandes der eigenen Stichprobe mit Referenzwerten der Befragung des Sozioökonomischen Panels, einer großen repräsentativen Erhebung in Deutschland. Die Summenskala für die physische und psychische Gesundheit wurden entsprechend dem von Nübling, Andersen und Mühlbacher (2006)50 als SPSS-Syntax zur Verfügung gestellten Algorithmus berechnet.

50

Die Dokumentation entspricht inhaltlich der Veröffentlichung von Nübling, Andersen, Mühlbacher, Schupp und Wagner (2007). Die Dokumentation in deutscher Sprache enthält allerdings den SyntaxCode im Anhang, weshalb sie an dieser Stelle zitiert wurde.

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

In der zweiten Studie wurden physische Beschwerden als Indikator für den Gesundheitszustand mit einer validierten Skala von Spector und Jex (1998) gemessen. Beschwerden werden in der Literatur sehr häufig verwendet, um die Gesundheit von Befragten zu erfassen (Spector & Jex, 1998) und sind eher geeignet als der SF-12-S, Krankheitsaspekte auf dem Krankheits-Gesundheits-Kontinuum (vgl. Abschnitt 2.1.2) zu beschreiben. Bei der Skala von Spector und Jex handelt es sich um eine formatives Messmodell, bei dem gilt, umso mehr und umso stärker physische Symptome wahrgenommen werden, umso schlechter ist die Gesundheit des Befragten. In der Ursprungsversion der Skala wurden die Befragten gebeten, zu 18 verschiedenen Symptomen einzuschätzen, ob sie diese haben, hatten oder einen Arzt deshalb aufsuchten (Spector & Jex, 1998). In einer neueren Version wurden fünf Symptome eliminiert, da sie selten ausgewählt wurden und das Antwortformat in eine Häufigkeitsskala umgewandelt. Angaben zur Verwendung des Messinstruments sowie die deutsche Übersetzung wurden der Homepage von Paul Spector entnommen (Spector, 2017). Insgesamt wurden durch beide Studien mehrere Dimensionen von Gesundheit erfasst (vgl. Abschnitt 2.1.2). Um die Hypothesen beantworten zu können, musste Gesundheit allerdings mehrmals erhoben werden. In der ersten Studie erfolgten erneute Messungen alle vier Wochen, wobei nur die letzte und die erste Messung in die Datenanalyse einflossen. In der zweiten Studie wurde die Gesundheitsmessung zusätzlich zur Anfangsbefragung wöchentlich abgefragt. Hier wurden sowohl die erste und letzte Messung zur Beantwortung der Hypothesen 1 bis 4 genutzt als auch die wöchentliche Messung als Kontrollvariable für die Hypothesen 5 bis 15 verwendet. Neben dem Gesundheitszustand wurden in beiden Studien die Anzahl an Urlaubstagen und der Handlungsspielraum berücksichtigt; in der ersten Studie wurde zudem die qualitative und quantitative Überforderung und in der zweiten Studie die Komplexität der Arbeit als Kontrollvariablen erfasst. Die Anzahl der Urlaubstage wurden als Kontrollvariable erfasst, da sich Personen während des Urlaubs von arbeitsbezogener Beanspruchung erholen können (Fritz & Sonnentag, 2004; Ulich & Wiese, 2011) und Urlaub somit den Bedarf an Erholung als Mediatorvariable beeinflusst. Kühnel und Sonnentag (2011) zeigten beispielsweise in ihrer Untersuchung von 131 Lehrern mit vier Messwiederholungen, dass emotionale Erschöpfung nach dem Urlaub reduziert war, während Arbeitsengagement anstieg. Dieser positive Effekt war aber nicht von langer

4.2 Methodik

171

Dauer (Fade-out), was frühere Studien bestätigte (Fritz & Sonnentag, 2006; Westman & Eden, 1997). Neben dem Bedarf an Erholung könnte Urlaub aber auch einen Einfluss auf Präsentismus und den Gesundheitszustand haben, da Studien Hinweise geben, dass auch der Gesundheitszustand und Gesundheitsbeschwerden beeinflusst werden (Bloom et al., 2009; Bloom et al., 2010). In Bezug auf die Arbeitsleistung wurden bisher widersprüchliche Ergebnisse gefunden. So konnten Fritz und Sonnentag (2006) in ihrer Längsschnittuntersuchung (drei Messzeitpunkte) von 221 nichtakademischen Universitätsmitarbeitern frühere Zusammenhänge zwischen Urlaub und Aufgabenleistung nicht bestätigen. Allerdings zeigten sie, dass Urlaubserfahrungen das Ausmaß der Anstrengung beeinflussten. Insgesamt machen die Studien deutlich, dass die Anzahl an Urlaubstagen ein wichtiger Einflussfaktor ist, der in den Analysen Berücksichtigung finden sollte, insbesondere, da die erste Erhebung in den Sommermonaten und damit in einer relativ urlaubsreichen Zeit stattfand und die zweite Erhebung über die Weihnachtsfeiertage hinweg verlief. Die Anzahl der Urlaubstage wurde zu Beginn der Befragung mit zwei Fragen erhoben. Zunächst wurde mittels einer Filterfrage erfasst, ob in dem Befragungszeitraum Urlaub geplant war. Falls die Teilnehmer die Antwort bejahten, wurden sie zur nächsten Frage weitergeleitet, bei welcher sie gebeten wurden, die entsprechenden Zeiträume mit Datum anzugeben. Die Zeitangaben wurden dann in eine Variable „Urlaubstage pro Woche“ umgerechnet. Der Handlungsspielraum wurde als Kontrollvariable berücksichtigt, da auch im Anstrengungs-Erholungs-Modell seine Bedeutung hervorgehoben wird. So bestimmt der Handlungsspielraum, inwiefern Arbeitstätigkeiten an den entsprechenden Ressourcenzustand angepasst werden können. Eine hohe Standardisierung beispielsweise lässt wenig Spielraum, die Arbeit anders auszuführen (Meijman & Mulder, 1998). Besteht allerdings genügend Handlungsspielraum, ermöglicht dies Personen, ihre Arbeitsleistung anzupassen und sich nicht zusätzlich anstrengen zu müssen. Geurts und Sonnentag (2006) sprechen deshalb auch von einer Facette der internalen Erholung. Dabei wird Handlungsspielraum als die Möglichkeit verstanden, arbeitsbezogene Bedingungen und Tätigkeiten entsprechend der eigenen Ziele, Interessen und Bedürfnisse anzupassen und gilt als wichtige Ressource in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Individuen (Zapf & Semmer, 2004). Der Handlungsspielraum wurde basierend auf dem Instrument zur Stressbezogenen Arbeitsanalyse (ISTA) von Semmer, Zapf und

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Dunckel (1998) erhoben. ISTA ist ein „arbeitspsychologisches Verfahren zur Abschätzung von Belastungsschwerpunkten unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche“, welches umfangreich validiert wurde und im deutschsprachigen Raum häufig Verwendung findet (Semmer et al., 1998, S. 179). Im Rahmen von Modifikationen des Fragebogens wurde der Zeitspielraum als zusätzliches Konstrukt vom Handlungsspielraum abgegrenzt, um damit der besonderen Bedeutung des Zeitspielraums in Belastungssituationen Rechnung zu tragen. Der Handlungsspielraum wurde mit fünf Items erfasst, die die Häufigkeit und Intensität in Bezug auf die Entscheidungsmöglichkeiten in der Vorgehensweise und Reihenfolge während der Arbeit abbilden. Zusätzlich wurden auch drei der fünf Items von Zeitspielraum mit abgefragt. Die zwei weiteren Items wurden im Hinblick auf die Länge des Fragebogens nicht aufgenommen. Alle Items mit Ausnahme eines Items zum Handlungsspielraum wurden auf einer fünf-stufigen Antwortskala mit den Ausprägungen sehr wenig, ziemlich wenig, etwas, ziemlich viel, sehr viel abgefragt. Das Ausnahmeitem wies auch eine fünf-stufige Skala auf, die das Ausmaß der Kontrolle über die Arbeitsergebnisse abbildete (Semmer et al., 1998). Als weitere Kontrollvariablen in der ersten Studie wurden zudem die qualitative und quantitative Überforderung erfasst. Generell spielen Arbeitsstressoren im Rahmen des Anstrengungs-Erholungs-Modells eine bedeutende Rolle. So bestimmen die Arbeitsstressoren in Kombination mit den vorhandenen Ressourcen, ob kompensatorische Anstrengung erforderlich ist (Meijman & Mulder, 1998). Deshalb wurde auch Überforderung als Kontrollvariable in Studie 1 berücksichtigt. Überforderung wurde dabei mit Hilfe von sechs Items aus dem Fragebogen Salutogenetische Subjektive Arbeitsanalyse (SALSA) gemessen. SALSA ist ein Fragebogen, der die wahrgenommene Arbeitssituation valide erfasst und zudem sehr ökonomisch ist (Richter, Nebel & Wolf, 2006; Udris & Rimann, 1998). Der Fragebogen unterscheidet dabei zwischen qualitativer und quantitativer Überforderung, welche jeweils mit drei Items abgebildet werden. Inhaltlich erfasst das Messinstrument Aspekte des Zeitdrucks und hoher Arbeitsmengen sowie Aufgaben, die die eigenen Qualifikationen übersteigen. Die Antwortskala bildete eine fünf-stufige Likertskala von trifft überhaupt nicht zu bis trifft voll zu. In der zweiten Studie wurde zudem die Komplexität der Arbeit mit dem ISTA-Fragebogen erhoben. Wie bereits zuvor beschrieben, handelt es sich hierbei

4.2 Methodik

173

um ein gut validiertes und im deutschsprachigen Raum häufig eingesetztes Instrument. In der aktuellen Version 6.0 wird Komplexität mit fünf Items erfasst. Drei der fünf Items nutzen Situationsbeschreibungen, in denen zwei Extrempole komplexer (die Arbeit von Person B) bzw. nicht komplexer Arbeit (die Arbeit von Person A) beschrieben werden. Die Befragten schätzen dann ein, inwiefern ihre Arbeit den beiden Situationsbeschreibungen ähnelt und haben folgende Antwortkategorien zur Auswahl: genau wie der von A, ähnlich wie der von A, zwischen A und B, ähnlich wie der von B, genau wie der von B. Auch die Antwortkategorien der anderen beiden Items sind fünf-stufig: für das eine Item von sehr wenig bis sehr viel und für das andere Item von praktisch nie bis mehrmals in der Woche (Semmer et al., 1998). Zusätzlich wurde zudem in beiden Studien Präsentismus in der Anfangsbefragung mit einer Single-Item Messung erfasst, was für den Vergleich der Messinstrumente von Relevanz war. Der Befragungszeitraum bezog sich dabei früheren Studien folgend (vgl. beispielsweise Johns, 2011 oder Hägerbäumer, 2017) retrospektiv auf die vergangenen sechs Monate. In der ersten Studie wurde dabei die Formulierung von Aronsson et al. (2000) verwendet, während in der zweiten Studie folgende Frage in Anlehnung an Johns (2011) gestellt wurde: „Wie viele Tage haben Sie in den letzten sechs Monaten gearbeitet, obwohl Sie krank waren oder sich nicht gut gefühlt haben?“. Die Erhebung von Präsentismus in der ersten Studie ist dabei im Vergleich zur letzteren Messung stärker wertend formuliert und erfasst damit eher dysfunktionalen Präsentismus (vgl. Tabelle 1). Als Antwortformat wurde für beide Studien, wie auch empfohlen (Johns, 2011; Skagen & Collins, 2016), ein offenes Eingabefeld gewählt (vgl. auch die Beschreibung der wöchentlichen Präsentismusmessung auf S. 186). Aufbau und Instrumente des wöchentlichen Fragebogens Auch die wöchentlichen Fragebögen wurden in drei themenbezogene Abschnitte mit Fragen zum Arbeitsverhalten und zur Arbeitssituation, zu Aktivitäten und Empfindungen in der Freizeit sowie zur Gesundheit eingeteilt. Dabei wurde darauf geachtet, dass der wöchentliche Fragebogen möglichst kurz und damit der Aufwand für die Befragten so niedrig wie möglich bleibt. Deshalb wurden vor allem gekürzte und angepasste Messinstrumente oder Single-Items verwendet, wie es auch in Tagebuchstudien üblich ist (Ohly et al., 2010). Zu Beginn des Fragebogens

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

wurden die Befragten darauf hingewiesen, dass sich die Fragen auf die letzte Woche beziehen und Datumsangaben in Klammern angegeben. Die in den späteren Analysen berücksichtigten Konstrukte wurden wie folgt gemessen: Die Aufgabenleistung und die Kontextleistung wurde mit jeweils drei von sieben Items des Messinstruments von Williams und Anderson (1991) gemessen. Dabei wurden die Items mit höchster Faktorladung und inhaltlicher Passung ausgewählt und an den wöchentlichen Befragungszeitraum angepasst. Da es sich um ein englischsprachiges Messinstrument handelt, wurden zum Teil Übersetzungen von Staufenbiel und Hartz (2000) übernommen oder ergänzend Übersetzungen in Sinne des (Re-)Translate-Verfahrens vorgenommen. Das Messinstrument wurde ausgewählt, da es bereits in anderen Tagebuchstudien Verwendung fand (Binnewies et al., 2010; Nohe, Michel & Sonntag, 2014) und geeignet ist auch kurzfristige Schwankungen zu erfassen. Die Antwortmöglichkeiten reichten auf einer fünf-stufigen Skala von trifft gar nicht zu bis trifft völlig zu. Der Bedarf an Erholung wurde mittels vier von elf Items des Messinstruments von Van Veldhoven und Broersen (2003) erfasst. Das Messinstrument ist sehr reliabel (auch bei Veränderungen zumindest in kurzen Zeitabschnitten) und zeigte sich sensitiv in Bezug auf Veränderungen (de Croon, Sluiter & FringsDresen, 2006), weshalb es für die wöchentliche Befragung als geeignet eingestuft wurde. Die Items wurden übersetzt sowie rückübersetzt und an den wöchentlichen Befragungszeitraum angepasst. Das Antwortformat wurde von einer Auswahl zwischen Ja und Nein hin zu einer fünf-stufigen Antwortskala geändert, um mehr wöchentliche Varianz zu erfassen. Präsentismus wurde in beiden Studien mit zwei verschiedenen Messinstrumenten erfasst. Hierdurch wird ein Vergleich verschiedener Messinstrumente mit ihren unterschiedlichen Formulierungen ermöglicht, sodass Empfehlungen zur zukünftigen Messung von Präsentismus abgeleitet werden können. In beiden Studien wurden die am häufigsten verbreiteten Definitionen von Präsentismus dargestellt: krankheitsbedingter Präsentismus ohne Wertung und krankheitsbedingter Präsentismus, der eine Krankmeldung legitimiert hätte bzw. bei welchem eine gewisse Schwere der Erkrankung angenommen wird (dysfunktionaler Präsentismus; vgl. Abschnitt 3.1 und Tabelle 5). Letztgenannte Definition wird meist durch das Single-Item von Aronsson et al. (2000) abgefragt, welches sich in der Präsentismusforschung weitgehend etabliert hat (vgl. Abschnitt 3.3). Dieses Item wurde in

4.2 Methodik

175

beiden Studien eingesetzt und an den wöchentlichen Befragungszeitraum angepasst. In der ersten Studie wurde die Übersetzung von Hägerbäumer (2017) verwendet. Als Antwortformat wurden alle Tage der Woche aufgeführt und die Teilnehmer konnten für jeden Tag zwischen den Antwortalternativen Ja und Nein bzw. den Ausweichkategorien kein Arbeitstag und ich war nicht krank auswählen. Durch die Summierung der Tage mit der Antwort Ja konnte die Gesamtanzahl der Tage pro Woche ermittelt werden. In der zweiten Studie wurde die Übersetzung von Hägerbäumer (2017) etwas angepasst51, sodass sie etwas kürzer und somit schneller erfassbar für die Teilnehmer war (Porst, 2011). Im Gegensatz zur ersten Studie wurde in der zweiten Studie ein offenes Eingabefeld als Antwortformat sowie eine Ausweichoption zum Ankreuzen mit Ich war in der letzten Woche nicht krank bereitgestellt, da dies den Aufwand für die Befragten minimierte. Um krankheitsbedingten Präsentismus ohne Wertung mit einzuschließen und damit die Arbeitsdefinition von Präsentismus in dieser Arbeit abzubilden, wurden zwei unterschiedliche Maße eingesetzt, da sich hier noch keine Formulierung wirklich etabliert hat. In der ersten Studie wurde eine indirekte Messung gewählt, die zwei Fragen kombinierte. Mit einer Frage wurde der Gesundheitszustand der letzten Woche für jeden Tag einzeln abgefragt. Dies wurde mit der Frage zum generellen Gesundheitszustand aus dem SF-12-S erhoben (Weinhardt & Richter, 2013), die an den kürzeren Zeitraum anpasst wurde. Zur Beurteilung des Gesundheitszustandes konnten die Befragten dann für jeden Tag auf einer fünfstufigen Skala von sehr gut bis schlecht wählen. Mit einer zweiten Frage wurden zudem erfasst, ob die Befragten an einem bestimmten Tag anwesend auf der Arbeit oder abwesend von der Arbeit waren. Diese beiden Fragen wurden dann kombiniert zur Messung von Präsentismus, wenn die Befragten angaben, anwesend auf der Arbeit zu sein, aber ihren Gesundheitszustand als weniger gut oder schlecht beschrieben. Hierdurch konnten Präsentismustage identifiziert werden, die aufsummiert Präsentismustage pro Woche ergaben. In der zweiten Studie wurde ein direktes Maß in Anlehnung an Johns (2011) und in Anlehnung an ein Item des Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ; Nübling, Stößel, Hasselhorn, Michaelis & Hofmann, 2005) zur Erfassung von Präsentismus mit einem offenen

51

Ähnliche Varianten dieser kürzeren Version finden sich auch bei Johns (2011) und McKevitt, Morgan, Dundas und Holland (1997).

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Eingabefeld als Antwortformat gewählt. Durch den kürzeren Betrachtungszeitraum von einer Woche wird davon ausgegangen, dass die Befragten die Präsentismustage noch gut aus ihrem Erinnerungsvermögen abrufen können. Das offene Antwortformat vermeidet zudem einen Referenzrahmen vorzugeben, der einen Einfluss auf das Antwortverhalten der Befragten haben kann (Johns, 2010; Porst, 2011). Zur besseren Übersicht sind die vier verschiedenen Items zur Erfassung von Präsentismus in Tabelle 5 abgebildet. Um Präsentismus auch an Tagen mit Heimarbeit oder einer Dienstreise zu erfassen, wurden die Teilnehmer instruiert, auch Tage zu berücksichtigen, an denen zuhause gearbeitet wurde oder sie sich auf einer Dienstreise befanden. Neben Präsentismus wurde auch krankheitsbedingter Absentismus erhoben, da in der Literatur empfohlen wird, Präsentismus und Absentismus gemeinsam zu betrachten (Johns, 2010). Absentismus ist zudem aufgrund seiner erholenden Wirkung (Dellve et al., 2011) und seiner Bedeutung für die Arbeitsleistung eine wichtige Kontrollvariable (vgl. Abbildung 3). In der ersten Studie wurde Absentismus wie auch Präsentismus indirekt über die Frage zum Gesundheitszustand und der Auskunft über die Abwesenheit von der Arbeit errechnet. In der zweiten Studie wurde das Konstrukt parallel zur Präsentismusmessung mit einem an das wöchentliche Erhebungsformat angepasste Item erfasst, was sich an der Formulierung des Single-Items von Johns (2011) orientierte. Auch für Absentismus sollten die Anzahl der Absentismustage in ein offenes Antwortfeld eingetragen werden, wie es auch für diese Form der Messung empfohlen wird (Johns, 1994, 2010).

4.2 Methodik

177

Tabelle 5: Präsentismusmessung in den Studien 1 & 2 PräsentismusDefinition

Studie 1

Krankheitsbedingter Präsentismus mit Wertung Dysfunktionaler Präsentismus

1.

Sind Sie in der letzten Woche zur Arbeit gegangen, trotz des Gefühls, dass es aufgrund Ihres Gesundheitszustands besser gewesen wäre, sich krank zu melden? Antwortformat: Samstag: Ja, Nein, kein Arbeitstag, ich war nicht krank (…) Freitag: Ja, Nein, kein Arbeitstag, ich war nicht krank

Wie viele Tage haben Sie in der letzten Woche gearbeitet, obwohl sie sich besser krank gemeldet hätten? Antwortformat: Anzahl Tage: Ausweichoption: ich war in der letzten Woche nicht krank

Bezogen auf die Tage der letzten Woche wie würden Sie Ihren Gesundheitszustand beschreiben?

Wie viele Tage haben Sie in der letzten Woche gearbeitet, obwohl Sie krank waren oder sich nicht gut gefühlt haben?

Antwortformat: Samstag: Schlecht bis Sehr gut (… ) Freitag: Schlecht bis Sehr gut 2. Krankheitsbedingter Präsentismus ohne Wertung

Studie 2

Bezogen auf die letzte Woche, an welchen Tagen waren Sie anwesend am Arbeitsplatz bzw. abwesend vom Arbeitsplatz? Antwortformat: Samstag: abwesend vom Arbeitsplatz, anwesend am Arbeitsplatz, kein Arbeitstag (…) Freitag: abwesend vom Arbeitsplatz, anwesend am Arbeitsplatz, kein Arbeitstag

Antwortformat: Anzahl Tage: Ausweichoption: ich war in der letzten Woche nicht krank

Zusätzlich zu den beschriebenen Konstrukten wurden in der zweiten Studie noch die distributive Gerechtigkeit und die Arbeitsmenge wöchentlich abgefragt. Distributive Gerechtigkeit wurde mittels drei Items der Skala von Colquitt (2001) in der deutschen Übersetzung von Maier, Streicher, Jonas und Woschée (2007) verwendet, die an die wöchentliche Erhebung angepasst wurden. Hierfür wurden die drei Items verwendet, die die höchste Faktorladung aufwiesen.

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Die Skala ermöglicht es je nach Fragestellung, die Erträge selbst zu definieren (wie z. B. die Bezahlung oder Belohnung, Colquitt, 2001). Als Ertrag wurde die Anerkennung seitens der Organisation betrachtet, da angenommen wurde, dass diese wöchentlich stärker schwankt als die Bezahlung oder Karriereentscheidungen. Das Antwortformat war fünfstufig mit Ausprägungen von überhaupt nicht bis voll und ganz (Maier et al., 2007). Im Vergleich zur ersten Studie, in welcher qualitative und quantitative Überforderung zu Beginn der Befragungszeit erhoben wurden, wurde in Studie 2 die Arbeitsmenge als Kontrollvariable auf der intrapersonellen Ebene erfasst. Diese Änderung zur Studie 1 erfolgte aus zweierlei Gründen. Erstens ist anzunehmen, dass auch Arbeitsstressoren wie die Arbeitsmenge nicht zeitlich stabil sind. Frühere Tagebuch- und wöchentliche Studien finden hierfür Belege und zeigen, dass die Varianz der Arbeitsmenge zu einem hohen Maße der intrapersonellen Ebene zugerechnet werden kann (Bakker & Sanz-Vergel, 2013; Tadić, Bakker & Oerlemans, 2015). Deshalb wurde die Arbeitsmenge in der zweiten Studie wöchentlich erfasst. Zweitens wurde stärker auf eine Überschneidungsfreiheit mit anderen Konstrukten geachtet. Eine Schwierigkeit bei der Erfassung von Stressoren und ihren möglichen Folgen ist, dass diese konzeptionell aber auch methodisch oft überlappen (conceptual overlap). Zeitdruck beispielsweise, welcher auch als Teil der Überforderung in Studie 1 erhoben wurde, ist objektiv schwer zu erfassen. Deshalb wird meist das subjektive Befinden erfragt, was allerdings zu artifiziell hohen Zusammenhängen mit der Erschöpfung als Beanspruchungsreaktion führt. Häufig beinhaltet auch schon die Definition eines Konstrukts die Auswirkung dieses Stressors, wie es beispielsweise bei quantitativer und qualitativer Überforderungen der Fall ist (Zapf & Semmer, 2004). Zapf und Semmer (2004, S. 1082) empfehlen, Items möglichst „bedingungsbezogen“ zu formulieren. Es wird deshalb das Messinstrument von Spector und Jex (1998), welches keine subjektiven Einschätzungen der Arbeitsmenge (zu viel oder zu wenig), sondern Häufigkeiten abfragt („Wie oft erforderte es Ihre Arbeit sehr schnell zu arbeiten?) und somit weniger stark mit Beanspruchungsreaktionen konfundiert ist. Für die Befragung wurden somit fünf Items der deutschen Übersetzung (erhältlich von der Homepage von Paul Spector) an das wöchentliche Format angepasst. Das Antwortformat bildet eine fünf-stufige Skala von nie bis sehr oft.

4.2 Methodik

179

Zusätzlich wurden weitere Konstrukte erfasst, die aber, um die Komplexität der folgenden Analysen nicht weiter zu steigern, nicht mit in die Analyse einbezogen und somit auch nicht weiter berichtet werden. Beurteilung der Messinstrumente Um die Qualität der verwendeten Messinstrumente einschätzen zu können, wurden die Hauptgütekriterien zur Evaluation von Messinstrumenten – Objektivität, Validität und Reliabilität näher betrachtet (Bortz & Döring, 2010). „Objektivität ist definiert als der Grad, in dem das Untersuchungsresultat unabhängig ist von jeglichen Einflüssen außerhalb der untersuchten Person“ (Rammstedt, 2010, S. 240). Dabei kann zwischen Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität differenziert werden. Die Objektivität kann bei den Untersuchungen als relativ hoch eingeschätzt werden. Da Onlineumfragen verwendet wurden, erhielten die Probanden die gleichen standardisierten Instruktionen, sodass die Probanden wenig Spielraum in der Beantwortung der Fragebögen hatten. Zudem wurden die Antworten der Befragten automatisch auf dem Server von Sosci-Survey gespeichert, sodass es bei der Datenübertragung nicht zu manuellen Fehlern gekommen sein kann. Die Fragebögen enthielten auch kaum offene Antwortfelder, sodass fast keine subjektiven Kodierungen vorgenommen werden mussten. Auch bei der Interpretation der Ergebnisse wurden diese in Beziehungen zu früheren Ergebnissen und Vergleichswerten gesetzt, um eine hohe Interpretationsobjektivität zu gewährleisten (Rammstedt, 2010). „Validität kennzeichnet (…) die Gültigkeit bzw. konzeptionelle Richtigkeit eines Messinstruments“ (Weiber & Mühlhaus, 2014, S. 156). Die Validität einer Messung kann unterteilt werden in die Inhaltsvalidität, Kriteriumsvalidität und Konstruktvalidität, von denen nur letztgenannte annähernd getestet werden kann. „Inhaltsvalidität ist gegeben, wenn der Inhalt der Testitems das zu messende Konstrukt in seinen wichtigsten Aspekten erschöpfend erfasst“ (Bortz & Döring, 2010, S. 200). Die Inhaltsvalidität wird vor allem im Rahmen der Skalenentwicklung durch Experten und Pretests überprüft (Rammstedt, 2010). Im Rahmen dieser Studie wurden zum größten Teil gekürzte, aber validierte und häufig verwendete Messinstrumente genutzt, sodass Inhaltsvalidität angenommen werden kann. Kriteriumsvalidität „liegt vor, wenn zwischen der Messung eines Konstrukts und einem validen Außenkriterium eine hohe Übereinstimmung besteht“ (Weiber &

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Mühlhaus, 2014, S. 157). Im Rahmen dieser Studie wurden allerdings keine Außenkriterien zur Überprüfung der Kriteriumsvalidität erhoben, da geeignete Außenkriterien zum einen häufig nur schwer zu finden bzw. valide zu messen sind (Bortz & Döring, 2010) und diese die Fragebögen für die Probanden verlängert hätten. Somit kann keine Aussage zur Kriteriumsvalidität getroffen werden. Konstruktvalidität liegt vor, wenn -

das Netz von Beziehungen zu anderen Konstrukten sowie zu manifesten Variablen (nomologisches Netzwerk) bestätigt werden kann und

-

Messmethoden, die dasselbe Konstrukt messen, möglichst übereinstimmen (konvergente Validität) und

-

Messmethoden, die unterschiedliche Konstrukte messen, sich deutlich unterscheiden (diskriminante Validität).

Als Indikatoren für das Vorliegen der Konstruktvalidität können sowohl eine gute Gesamtbeurteilung des Modells als auch die Bestätigung der Faktorenstruktur gewertet werden (Rammstedt, 2010; Weiber & Mühlhaus, 2014). Zur Beurteilung der Modellgüte des Messmodells und zur Prüfung der durch die Messinstrumente vorgegebenen Faktorenstruktur wurden konfirmatorische Faktorenanalysen (KFA) berechnet. Im Rahmen der KFA wird die a priori durch die Messinstrumente festgelegte Struktur geprüft (Kline, 2011). So werden beispielsweise die Items zur Messung des Bedarfs an Erholung einem latenten Konstrukt Bedarf an Erholung zugeordnet. Die latenten Konstrukte (auch als Faktoren bezeichnet) sind nicht beobachtbar und direkt zu erfassen, weshalb diese mit Hilfe der Items operationalisiert werden. Die latenten Konstrukte können dabei in der Regel als Ursachen für die jeweiligen Messitems (Indikatoren) betrachtet werden, denn die Teilnehmer beantworten die jeweiligen Items auf Grundlage dieser realen Konstrukte, sodass der ausgewählte Wert durch das reale Konstrukt verursacht wird (Williams, Vandenberg & Edwards, 2009, S. 554). Diese Art des Messmodells wird als reflektives Messmodell bezeichnet. Außer dem Konstrukt physische Beschwerden basieren alle Konstrukte auf reflektiven Messmodellen. Bei den physischen Beschwerden handelt es sich um ein formatives Messmodell, bei welchem die Items das hypothetische Konstrukt bilden und somit seine Ursachen darstellen (Weiber & Mühlhaus, 2014). Für die formative Messung wurde, wie von Spector und Jex (1998) beschrieben, ein Summenwert (Index) gebildet. Bei den

4.2 Methodik

181

reflektiven Messmodellen wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Indikatoren das latente Konstrukt nicht fehlerfrei messen können. Deshalb liegt der KFA das Prinzip der Varianzzerlegung zugrunde. So werden die Varianzen der Indikatoren in Faktorladungen, welche die Beziehungen zwischen den Indikatoren und den Faktoren darstellen, und in Einzelrestvarianzen (auch Messfehlervarianzen genannt) zerlegt. Zur Berechnung der KFA wurden zwei Analyseschritte vorgenommen. In einem ersten Schritt wurden konfirmatorische Faktorenanalysen aller für die hypothesenprüfenden Analysen relevanten Konstrukte zum ersten Messzeitpunkt (bzw. im Rahmen der Anfangsbefragung) aufgestellt. Um festzustellen, ob die a priori durch die Messinstrumente festgelegte Struktur zur besten Modellgüte führt, wurden die Ergebnisse mit der Modellgüte alternativer Modelle verglichen (Steinmetz, 2014). In einem zweiten Schritt wurden konfirmatorische Mehrebenen-Faktorenanalysen (ML-KFA) berechnet. Dies war notwendig, da die Daten für die Hypothesen 5 bis 14 von Woche zu Woche analysiert wurden. Hierdurch liegt eine hierarchische Zwei-Ebenenstruktur vor, bei welcher die wiederholten Messungen jeweils den Personen zugeordnet werden können und somit „Daten einer Analyseebene hierarchisch in einer zweiten geschachtelt sind“ (Nezlek, Schröder-Abé & Schütz, 2006, S. 213). Die Personen bilden also die Einheiten der zweiten, übergeordneten Ebene und die wiederholten Messungen die Einheiten der ersten, untergeordneten Ebene (Laird & Fitzmaurice, 2015). Für diese Form der Daten muss die vorgegebene Faktorenstruktur sowohl auf der interpersonellen als auf der intrapersonellen Ebene getestet werden, was durch ML-KFA möglich ist. Die Besonderheit der ML-KFA liegt darin, dass die Varianz der Messvariablen in intra- und interpersonelle Komponenten getrennt wird, sodass separate Kovarianzmatrizen für beide Ebenen berechnet werden können, welche orthogonal und additiv sind (Heck & Thomas, 2015). Für beide Schritte wurde als Schätzalgorithmus die Maximum-Likelihood-Diskrepanzfunktion mit robusten Standardfehlern und robuster Chi-Quadrat-Teststatistik verwendet und zur Festlegung der Metrik wurde je eine Faktorladung je Konstrukt auf 1 restringiert. Für die beiden Präsentismusmessungen wurden jeweils separate KFA und ML-KFA berechnet, da sich hierdurch mögliche Unterschiede der beiden Messungen, insbesondere bei der späteren Hypothesenüberprüfung, aufdecken lassen. Somit wurden sowohl Präsentismus als auch Absentismus mit Einzelitems erfasst. Da auch bei Einzelitems nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Konstrukte fehlerfrei gemessen sind, aufgrund

182

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

des Einzelitems aber kein Messfehler geschätzt werden kann, wird in der Literatur empfohlen, Messfehlervarianzen festzulegen. Die Einschätzung der Höhe der Messfehlervarianz sollte dabei auf bisherigen Forschungsinformationen beruhen (Kline, 2011; Little, 2013). Für Präsentismus und Absentismus lagen Reliabilitätsangaben auf Basis der Meta-Analyse von Miraglia und Johns (2016) vor, sodass für diese Konstrukte Messfehlervarianzen entsprechend festgelegt wurden. 52 Zur Beurteilung der KFA und ML-KFA-Modelle wurden mehrere Gütekriterien herangezogen: der Chi-Quadrat-Test, der Root Mean Square Error of Approximation (RMSEA), der Comparative Fit Index (CFI) sowie der Standardized Root Mean Square Residual (SRMR). Letzteres Gütekriterium bietet sich vor allem für die ML-KFA an, da Mplus den SRMR getrennt für das intrapersonelle und interpersonelle Modell ausgibt und somit besser zu erkennen ist, auf welcher Ebene das Modell fehlspezifiziert ist (Heck & Thomas, 2015). Die Gütekriterien lassen sich in inferenzstatistische und deskriptive Kriterien einteilen. Der ChiQuadrat-Test (auch als „Likelihood-Ratio-Test“ bezeichnet) stellt „das wichtigste inferenzstatistische Gütekriterium“ dar (Weiber & Mühlhaus, 2014, S. 203). Dieser statistische Test prüft, ob sich die modell-implizierte Kovarianzmatrix signifikant von der empirischen Kovarianzmatrix unterscheidet. Der Prüfwert ergibt sich dabei aus der Multiplikation des Funktionswerts der Maximum-Likelihood-Diskrepanzfunktion mit der um 1 verringerten Stichprobengröße und folgt annähernd einer Chi-Quadrat-Verteilung. Somit lässt sich durch die Wahrscheinlichkeit p ablesen, dass „die Ablehnung der Nullhypothese eine Fehlentscheidung darstellt“ (Weiber & Mühlhaus, 2014, S. 204). Die Nullhypothese bedeutet in diesem Fall, dass die modell-implizierten Werte den wahren Werten der Grundgesamtheit entsprechen. Ein signifikanter Chi-Quadrat-Test spricht somit dafür, die Nullhypothese abzulehnen und signalisiert, dass die Diskrepanz der Matrizen überzufällig und somit das aufgestellte Modell fehlerhaft ist (Steinmetz, 2014; Weiber & Mühlhaus, 2014). Auch wenn der Chi-Quadrat-Test standardmäßig in wissenschaftlichen Publikationen berichtet wird, weist dieser als Gütekriterium Limitationen auf, 53 sodass die Berücksichtigung weiterer Gütekriterien und der Vergleich alter-

52

Zur Berechnung wurde folgende Formel verwendet: 𝑠 2 ∗ (1 − 𝑟), wobei s die Standardabweichung des Einzelindikators und r die geschätzte Reliabilität darstellt siehe Little (2013, S. 87). 53 Hierzu ist anzumerken, dass gegensätzliche Meinungen in der Forschungsgemeinschaft in Bezug auf den Chi-Quadrat-Test vorherrschen. Während beispielsweise Reinecke (2005) die Bedeutung des

4.2 Methodik

183

nativer Modellstrukturen empfohlen werden. Zum einen bedeutet ein nicht signifikanter Chi-Quadrat-Test nicht, dass das aufgestellte Modell wirklich korrekt ist. So könnten auch andere Modelle der empirischen Kovarianzmatrix entsprechen, weshalb Alternativmodelle getestet werden sollten. Zum anderen wird kritisiert, dass auch triviale und kleine Fehlspezifikationen bei großer Stichprobengröße zur Ablehnung des Modells führen und der Test auf Annahmen beruht, die häufig nicht in Gänze erfüllt sind. So kann der beobachtete Chi-Quadrat-Wert von der Stichprobengröße, der Größe der Korrelationskoeffizienten und Messfehlervarianzen sowie einer Verletzung multivariater Normalverteilung beeinflusst werden (Kline, 2011), wobei Letztere in dieser Arbeit durch das robuste Schätzverfahren berücksichtigt wurde. Der RMSEA, der SRMR und der CFI sind deskriptive Gütekriterien. Sie zählen zu den am häufigsten verwendeten, etablierten Kriterien (West, Taylor & Wu, 2012) und werden auch standardmäßig in Mplus und R-Statistics berichtet.54 Deskriptive Gütekriterien haben nicht das Ziel zu überprüfen, ob eine Diskrepanz vorliegt, sondern sie „versuchen (…) das Ausmaß der Abweichung zu quantifizieren.“ (Steinmetz, 2014, S. 29). Der RMSEA berücksichtigt zur Quantifizierung der Fehlspezifikation auch den Chi-Quadrat-Wert, basiert allerdings auf einer weniger strengen Annahme und bereinigt diesen um die Modellkomplexität (Weiber & Mühlhaus, 2014). Ein Wert nahe Null weist auf eine geringe Fehlspezifikation des Modells hin, wobei Werte bis 0.5 als Hinweise auf gute und bis 0.8 auf akzeptable Modelle gedeutet werden (West et al., 2012). Hu und Bentler (1999) hingegen sprechen sich für einen Richtwert von 0.6 aus. Der SRMR stellt eine standardisierte Variante des Root Mean Square Residual (RMR) dar. Dieses Gütemaß nutzt die Informationen aus der Residualmatrix (die Differenz zwischen der empirischen und der modellimplizierten Kovarianzmatrix), um die Fehlspezifikation zu quantifizieren. Auch für RMR und SRMR gilt, je geringer der Wert, umso besser spiegelt das Modell die Daten wider, wobei Werte, die kleiner als 0.8 sind, als akzeptabel angesehen werden (Weiber & Mühlhaus, 2014). Der CFI gehört zu den

Chi-Quadrat-Test aufgrund der Limitationen relativiert, rät Steinmetz (2014) dazu, einen signifikanten Chi-Quadrat-Test nicht zu unterschätzen. 54 Für eine umfangreiche Beschreibung möglicher Gütekriterien zur Evaluation von Strukturgleichungsmodellen werden interessierte Leser auf Reinecke (2005) sowie West, Taylor und Wu (2012) verwiesen.

184

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Evaluationskriterien, die das vorhandene Modell in Bezug zu einem Vergleichsmodell setzen, nämlich dem schlecht geeignetsten Modell für die Daten, auch Null Modell oder Independence Modell genannt, um die Fehlspezifikation abzubilden (Weiber & Mühlhaus, 2014). Als Null Modell wird ein Modell verwendet, das die Indikatoren als unabhängig voneinander betrachtet, also die Kovarianzen zwischen den Indikatoren auf null restringiert. Der CFI berechnet sich aus der Differenz der Werte der Diskrepanzfunktion beider Modelle unter Berücksichtigung der jeweiligen Freiheitsgrade. Der CFI kann Werte im Intervall von Null bis Eins annehmen, wobei Werte größer 0.95 auf ein geeignetes Modell schließen lassen (West et al., 2012). Einige Autoren interpretieren aber bereits Werte ab 0.90 als gute Modellgüte (Weiber & Mühlhaus, 2014). Auch die beschriebenen deskriptiven Gütekriterien sind nicht ohne Limitationen. Vor allem bei der Nutzung der Richtwerte ist Vorsicht geboten, da es sich hierbei nur um Daumenregeln handelt und unterschiedliche „Cut-Off“-Werte in der Literatur zu finden sind (Steinmetz, 2014). Durch die gemeinsame Betrachtung unterschiedlicher Gütekriterien kann die Modellgüte allerdings aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden (Kline, 2011) und so können mögliche Limitationen einzelner Gütekriterien ausgeglichen werden. In beiden Studien zeigte sich das Modell mit der theoretisch vorgegebenen Faktorenstruktur sowohl für die KFA als auch die ML-KFA im Vergleich zu der Modellgüte der Alternativmodelle überlegen (vgl. Tabelle 48 bis Tabelle 51 im Anhang). RMSEA, CFI, und SRMR verschlechterten sich tendenziell, sobald von der theoretisch vorgegebenen Faktorenstruktur abgewichen wurde (indem Konstrukte zu einem Konstrukt zusammengefasst wurden). Neben dem Vergleich der deskriptiven Gütekriterien wurden auch Chi-Quadrat-Differenztests berechnet. Bei diesem Test wird der Unterschied im Chi-Quadrat Wert von zwei Modellen evaluiert (Steinmetz, 2014).55 Mit Ausnahme von einem Fall, deuteten auch die Chi-Quadrat-Differenztests daraufhin, dass eine Veränderung der theoretisch vorgegebenen Faktorenstruktur zu einer signifikanten Verschlechterung der Modellgüte führt. Beim Ausnahmefall (vgl. Tabelle 49, fett hervorgehoben) handelte es sich um die Zusammenführung der indirekten Präsentismusmessung (ohne Wertung) und dem Bedarf an Erholung in der ML-KFA der ersten Studie. Bei 55 Da die Chi-Quadrat-Teststatistik im Rahmen der robusten Schätzung angepasst wurde, wurde auch eine Anpassung des Chi-Quadrat-Differenztests vorgenommen (Satorra und Bentler, 2001)

4.2 Methodik

185

einem Vergleich eines Modells, in welchem Präsentismus und der Bedarf an Erholung als ein Konstrukt betrachtet wurden, mit dem Modell der theoretischen Faktorenstruktur deutete zwar der Chi-Quadrat-Differenztest auf keine Verschlechterung der Modellgüte hin, der SRMR auf der intra- wie interpersonellen Ebene verschlechterte sich allerdings deutlich. Zudem lud auch das Präsentismusitem nur sehr schwach (within = .127, between = .482) auf den gemeinsamen Faktor. Daraus wurde abgeleitet, dass die theoretisch vorgegebene Struktur die Daten insgesamt besser widerspiegelt und es wurde mit dieser weitergerechnet. In Tabelle 6 sind die Gütekriterien der Modelle mit der theoretischen Faktorenstruktur beider Studien dargestellt. Das theoretische Modell schien zwar geeigneter zu sein, die Daten abzubilden als alternative Modelle, die Modellgüte insgesamt war allerdings nicht ganz zufriedenstellend. So kamen die Evaluationskriterien zu gemischten Ergebnissen. Der RMSEA und der SRMR sprachen dafür, dass das Modell die Daten gut widerspiegelt, wobei die Faktorenstruktur auf der intrapersonellen Ebene ein besseres Ergebnis lieferte als auf der interpersonellen Ebene. Der Chi-Quadrat-Test hingegen war signifikant und signalisierte, dass das Modell fehlerhaft ist und auch beim CFI lagen die Werte zum Teil unter dem CutOff-Wert von 0.95. Auch wenn die Cut-Off-Werte nur Daumenregeln sind und der Chi-Quadrat-Test vielfach in der Kritik steht, sollte das Ergebnis trotzdem ernst genommen und mögliche Modellfehlspezifikationen untersucht werden (Kline, 2011). Deshalb wurden die standardisierten Residuenmatrizen sowie die Modifikationsindizes näher betrachtet. Standardisierte Residuenmatrizen beinhalten die Differenzwerte zwischen der empirischen und der modellimplizierten Kovarianzmatrix. Diese Werte werden standardisiert, um eine Vergleichbarkeit trotz unterschiedlicher Metriken herzustellen. Hohe standardisierte Residuen deuten auf eine deutliche Abweichung von der empirischen Kovarianzmatrix hin und geben Hinweise, welche Beziehungen im Modell nicht richtig abgebildet werden (Steinmetz, 2014). Modifikationsindizes geben an, inwiefern die freie Schätzung eines fixierten Parameters den Chi-Quadrat-Wert verbessern würde. Beide Hinweise sollten allerdings mit Vorsicht betrachtet werden und eine Veränderung des Modells nur in Kombination mit einer theoretischen Begründung vorgenommen werden.

186

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Tabelle 6: Modellgüte der Faktorenanalysen– Studie 1 & 2 Modellgüte – Faktorenanalysen

X²/df

Sig.

Correct. Factor

CFI

RMSEA

SRMR

299

1.33

.000

0.994

.930

.041

.059

390.83

299

1.31

.000

1.009

.934

.040

.059

498.03

313

1.59

.000

1.0598

.970

518.78

313

1.66

.000

1.0678

744.23

475

1.57

.000

737.38

475

1.55

1221.31

604

1210.75

604



df

396.20

SRMR within

SRMR between

.016

.034

.063

.967

.017

.034

.063

1.002

.871

.051

.070

.000

1.003

.874

.050

.070

2.02

.000

0.980

.919

.022

.038

.086

2.00

.000

0.986

.920

.021

.038

.086

Studie 1 KFA KFA MLKFA MLKFA

PR dysfunktional PR ohne Wertung PR dysfunktional PR ohne Wertung

Studie 2 KFA KFA MLKFA MLKFA

PR dysfunktional PR ohne Wertung PR dysfunktional PR ohne Wertung

Anmerkungen. Correct. Factor = Correction Factor, df = Freiheitsgrade, Sig. = Signifikanzniveau.

Bei näherer Betrachtung zeigten sich einige Auffälligkeiten (Die Modifikationsindizes sind in Tabelle 52 bis Tabelle 55 im Anhang dargestellt). Bei den vier Items des Konstrukts Bedarf an Erholung schienen sich jeweils zwei Items näher zu stehen als den anderen Items, was sich auch inhaltlich begründen lässt. So spiegeln Item 1 und 2 inhaltlich eher das Gefühl der Erschöpfung (Item 1: „Es fiel mir schwer, mich am Ende eines Arbeitstages zu entspannen“; Item 2: „Am Ende eines Arbeitstages fühlte ich mich richtig ausgelaugt“) wider, während sich Item 3 und 4 auf das Vermeiden von sozialem Kontakt bzw. auf ein Verhalten in Bezug auf Dritte bezieht (Item 3: „Ich konnte anderen Leuten nicht wirklich viel Interesse entgegenbringen, wenn ich selber gerade erst nach Hause gekommen bin“; Item 4: „Wenn ich von der Arbeit nach Hause gekommen bin, musste ich für eine Weile in Ruhe gelassen werden“). Eine ähnliche Einteilung ist auch bei Burnout (vgl. S. 81) zu finden, welches die zwei Dimensionen emotionale Erschöpfung und Depersonalisation enthält (Schaper, 2014). Somit lässt sich argumentieren, dass auch der Bedarf an Erholung mehrdimensional ist, was in den folgenden Analysen entsprechend berücksichtigt wurde.

4.2 Methodik

187

Darüber hinaus schienen sich auch die Items 1 und 2 des Konstrukts Zeitspielraum inhaltlich ähnlicher zu sein, was zu einer Überschätzung der Korrelation mit dem dritten Item führt, wenn diese drei Items als ein latentes Konstrukt modelliert werden. Zudem lässt sich auch inhaltlich argumentieren, dass das dritte Item von Zeitspielraum eine große inhaltliche Überschneidung mit dem Handlungsspielraum aufweist. Betrachtet man die Formulierung des Items genauer, fällt auf, dass Item 3 weniger stark den Zeitbezug beinhaltet (Item 3: „Können Sie Ihren Arbeitstag selbständig einteilen?“) und somit auch inhaltlich zum Handlungsspielraum zugeordnet werden kann. Aufgrund der unklaren inhaltlichen Zuordnung und der damit einhergehenden Kreuzladung wurde dieses Items aus der weiteren Analyse herausgenommen. Diese Änderungen wurden in beiden Studien in gleicher Weise vorgenommen. Vor allem in Studie 2 finden sich allerdings noch weitere Schwierigkeiten in Bezug auf die Konstrukte Arbeitsmenge und Komplexität der Arbeit. Auch bei diesen Konstrukten fällt erneut auf, dass verschiedene inhaltliche Aspekte erfasst werden. Mit Blick auf die Arbeitsmenge erfassen zwei Items eher Zeitdruck (Item 3 und Item 1) anstatt der mengenmäßigen Belastung. Um das Modell nicht noch komplexer zu machen, wurden die zwei Items aus der weiteren Analyse ausgeschlossen anstatt erneut zwei Dimensionen zu bilden. Schließlich weicht das erste Item von Komplexität der Arbeit („Können Sie bei Ihrer Arbeit Neues dazulernen?“) deutlich von dem Inhalt der anderen Items des Konstrukts ab, die eher auf die Komplexität, Schwierigkeit sowie den Planungs- und Überlegungsaufwand der Arbeitsaufgabe abzielen, sodass auch dieses Item für die weiteren Analysen ausgeschlossen wurde. Die Veränderungen führten zu einer deutlichen Verbesserung der Modellgüte. Die Ergebnisse der KFA und ML-KFA sind in Tabelle 7 dargestellt. Auch wenn der Chi-Quadrat-Test weiterhin zum Teil signifikant ist, kann das Modell auch unter Berücksichtigung der Residuenmatrizen und Modifikationsindizes als akzeptabel bewertet werden.

188

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Tabelle 7: Modellgüte der Faktorenanalysen nach Anpassung – Studie 1 & 2 Modellgüte – Faktorenanalysen



df

X²/df

Sig.

Correct. Factor

CFI

RMSEA

SRMR

SRMR within

SRMR between

Studie 1 KFA KFA MLKFA MLKFA

Präsentismus dysfunktional Präsentismus ohne Wertung Präsentismus dysfunktional Präsentismus ohne Wertung

300.07

262

1.15

.053

0.991

.970

.028

.054

294.56

262

1.12

.081

1.007

.975

.026

.053

332.20

276

1.20

.012

1.065

.991

.009

.032

.054

348.95

276

1.26

.019

1.072

.988

.011

.032

.055

483.92

342

1.41

.000

0.995

.916

.044

.064

479.21

342

1.40

.000

0.995

.918

.043

.065

729.13

436

1.67

.000

0.979

.952

.018

.030

.075

714.29

436

1.64

.000

0.987

.954

.017

.030

.075

Studie 2 KFA KFA MLKFA MLKFA

Präsentismus dysfunktional Präsentismus ohne Wertung Präsentismus dysfunktional Präsentismus ohne Wertung

Anmerkungen. Correct. Factor = Correction Factor, df = Freiheitsgrade, Sig. = Signifikanzniveau.

Nachdem die Dimensionalität des Modells überprüft wurde, wurde als letzter Schritt zur Beurteilung der Messung nun die Reliabilität der Messung betrachtet. Diese bezeichnet die Zuverlässigkeit bzw. die „Genauigkeit, mit der eine Skala ein Merkmal misst“ (Rammstedt, 2010, S. 242). Dabei ist die Reliabilität hoch, wenn ein Messinstrument konsistent in verschiedenen Situationen einsetzbar ist und bei einem unveränderten Merkmal bei einer wiederholten Messung zu demselben Ergebnis führt (Field, 2013; Peters & Dörfler, 2014). Zur Beurteilung der Zuverlässigkeit der Messung wurden die Indikatorreliabilität und die Faktorreliabilität (auch als Composite oder kongenerische Reliabilität bezeichnet; Cho, 2016) betrachtet. Hierbei kann es zu Verzerrungen kommen, wenn die hierarchische Struktur der Daten nicht berücksichtigt wird (Geldhof, Preacher & Zyphur, 2014; Heck & Thomas, 2015), weshalb die Kriterien für die wöchentlich gemessenen Konstrukte separat für beide Ebenen berechnet wurden. Die Indikatorreliabilität setzt die Varianz des Indikators, die durch das latente

4.2 Methodik

189

Konstrukt erklärt wird, ins Verhältnis zur Gesamtvarianz eines Indikators und sollte größer als 0.4 sein, damit der Indikator als geeignete Messung des latenten Konstrukts gewertet werden kann. Werden die standardisierten Ergebnisse zur Berechnung der Indikatorreliabilität verwendet, errechnet sich diese aus der quadrierten Faktorladung des Items. Die Faktorreliabilität dividiert die Varianz, die durch das latente Konstrukt erklärt wird, durch die Gesamtvarianz. Die Faktorreliabilität bezieht sich im Vergleich zur Indikatorreliabilität auf die Konstruktebene und berücksichtigt somit alle Indikatoren eines Konstrukts. Dabei werden Werte größer als 0.6 als akzeptabel gewertet (Weiber & Mühlhaus, 2014). Mit Ausnahme der ersten Dimension des Bedarfs an Erholung (im Folgenden als Erschöpfungsdimension bezeichnet) in Studie 2 lagen alle Faktorreliabilitäten beider Studien über dem Schwellenwert von 0.6, sodass insgesamt auf eine Zuverlässigkeit der Messinstrumente geschlossen werden kann. Eine Übersicht der Faktor- und Indikatorreliabilitäten beider Studien befinden sich in Tabelle 8 und Tabelle 9.

190

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Tabelle 8: Indikator- und Faktorreliabilitäten – Studie 1

Konstrukt Qual. Überforderung 1 Qual. Überforderung 2 Qual. Überforderung 3

Indikator .386 .615 .640

Faktor .781

Quan. Überforderung 1 Quan. Überforderung 2 Quan. Überforderung 3

.508 .563 .327

Zeitspielraum 1 Zeitspielraum 2

.777 .808

.772

Handlungsspielraum 1 Handlungsspielraum 2 Handlungsspielraum 3 Handlungsspielraum 4 Handlungsspielraum 5

.548 .383 .634 .594 .208

.813

Bedarf an Erholung 1 Bedarf an Erholung 2

Between .861 .928 .870

within .438 .694 .629

Bedarf an Erholung 3 Bedarf an Erholung 4

1.00a .856

.963

.548 .570

.717

Kontextleistung 1 Kontextleistung 2 Kontextleistung 3

1.00a .318 .728

.860

.659 .350 .691

.794

Aufgabenleistung 1 Aufgabenleistung 2 Aufgabenleistung 3

.949 1.00a .719

.960

.762 .771 .621

.884

.721

Anmerkungen. Die fett markierten Werte liegen unterhalb der Cut-Off Werte in der Literatur. a = die Fehlervarianz auf der Between-Ebene wurde auf 0 festgesetzt.

4.2 Methodik

191

Tabelle 9: Indikator- und Faktorreliabilitäten – Studie 2

Konstrukt Komplexität 1 Komplexität 2 Komplexität 3 Komplexität 4

Indikator .508 .368 .468 .115

Faktor

Zeitspielraum 1 Zeitspielraum 2

.397 .874

.771

Handlungsspielraum 1 Handlungsspielraum 2 Handlungsspielraum 3 Handlungsspielraum 4 Handlungsspielraum 5

.590 .373 .584 .582 .073

.783

Bedarf an Erholung 1 Bedarf an Erholung 2

Between .714 .840 .734

within .303 .569 .500

Bedarf an Erholung 3 Bedarf an Erholung 4

1.00a .773

.940

.530 .457

.661

Arbeitsmenge 1 Arbeitsmenge 2 Arbeitsmenge 3

.346 1.00a .856

.888

.180 .564 .584

.692

Distributive Gerechtigkeit 1 Distributive Gerechtigkeit 2 Distributive Gerechtigkeit 3

.994 1.00a .897

.988

.593 .707 .672

.658

Kontextleistung 1 Kontextleistung 2 Kontextleistung 3

.569 .958 .870

.901

.212 .497 .585

.699

.684

Aufgabenleistung 1 .960 .621 Aufgabenleistung 2 .972 .957 .642 .811 Aufgabenleistung 3 .711 .506 Anmerkungen. Die fett markierten Werte liegen unterhalb der Cut-Off Werte in der Literatur. a = die Fehlervarianz auf der Between-Ebene wurde auf 0 festgesetzt.

192

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Dabei waren die Reliabilitäten auf der interpersonellen Ebene deutlich höher als auf der intrapersonellen Ebene, was häufig bei konfirmatorischen Mehrebenenanalysen der Fall ist (Heck & Thomas, 2015). Allerdings ist hierbei anzumerken, dass zur Schätzung des gesamten Modells einige Fehlervarianzen auf der interpersonellen Ebene auf null gesetzt wurden. Dieses Vorgehen ist üblich bei Mehrebenen-Strukturgleichungsanalysen, da die Messfehlervarianzen auf der interpersonellen Ebene häufig sehr klein sind und dies zu Schätzproblemen führen kann. Um Modellkonvergenz zu erreichen, werden somit häufig sehr kleine Messfehler auf null fixiert (Heck & Thomas, 2015). Das Vorgehen hat allerdings auch Konsequenzen für die Reliabilität und muss als Limitation betrachtet werden (Geldhof et al., 2014). Bei der Erschöpfungsdimension in der zweiten Studie lag die Faktorreliabilität auf der intrapersonellen Ebene mit 56 = .569 zumindest nahe an der benannten Schwellengrenze und die interpersonelle Reliabilität lag mit  = .840 deutlich über dem Grenzwert. Da keine deutliche Abweichung von dem in der Literatur genannten Cut-off Wert vorliegt und es sich hierbei lediglich um zwei Items zur Messung der Dimension handelt, wurde keine Änderung vorgenommen. Mögliche Schwierigkeiten dieser Messungen werden im Rahmen der Limitationen der Arbeit diskutiert (vgl. Abschnitt 4.5). In Bezug auf die Indikatorreliabilitäten lagen nicht alle Items über dem geforderten Mindestwert. Allerdings sollte die Eliminierung von Items aufgrund schlechter Indikatorreliabilität nicht ohne sachlogische Gründe vorgenommen werden (Weiber & Mühlhaus, 2014). Inhaltlich ließ es sich aber nur für einen besonders deutlich betroffenen Indikator begründen. Im Fall von Item 5 des Handlungsspielraums fällt auf, dass sich dieses inhaltlich deutlich von den anderen Items unterscheidet und somit die geringe Indikatorreliabilität erklärt. Während die anderen Fragen auf die Wahlmöglichkeiten, den eigenen Einfluss und Freiheiten abzielen, erfasst Item 5 das Ausmaß, inwiefern die Arbeitsergebnisse durch die Person selbst kontrolliert werden. Hierbei lässt sich argumentieren, dass der Handlungsspielraum durch die Selbstkontrolle nicht unbedingt vergrößert bzw. durch die Fremdkontrolle nicht unbedingt reduziert werden muss. Im Falle der Kontrolle der Arbeitsergebnisse durch die Führungskraft hängt die Einschränkung

56

In Anlehnung an die Simulationsstudie von Geldhof, Preacher und Zyphur (2014) wird für die Faktorreliabilität der griechische Buchstabe  genutzt.

4.2 Methodik

193

des Handlungsspielraums vom Führungsstil ab und ist nicht zwingend stark vermindert. Zudem können auch Restriktionen und Bewertungen der Arbeit durch Dritte (z. B. Kunden, Kollegen bei Zusammenarbeit etc.) den Handlungsspielraum einschränken, obwohl die eigentliche Ergebniskontrolle größtenteils durch die Person selbst erfolgt. Aus diesem Grund wurde Item 5 aus der weiteren Analyse herausgenommen. Die Reliabilität des Konstrukts Handlungsspielraum erhöhte sich durch die Eliminierung von Item 5 in Studie 1 von  = .813 auf  = .822 und in Studie 2 von  = .783 auf  = .819 und auch der Modellfit verbesserte sich tendenziell (vgl. Tabelle 56 im Anhang). Insgesamt konnte die Faktorenstruktur mit Ausnahme des Bedarfs an Erholung bestätigt werden, die Modellgüte kann als gut eingeschätzt und die Reliabilität als weitgehend zufriedenstellend gewertet werden, sodass die Qualität der Messinstrumente insgesamt als zufriedenstellend eingeschätzt werden kann. 4.2.4

Datenaufbereitung

Ausreißer und unaufmerksames Antwortverhalten Bevor die Analyse erfolgen kann, müssen die Daten zunächst entsprechend aufbereitet und geprüft werden (Peters & Dörfler, 2014). Vor allem Online- aber auch klassische „Paper-and-Pencil“ Fragebögen unterliegen der Gefahr, dass die Teilnehmer nicht aufmerksam genug lesen oder unmotiviert sind und somit nicht wahrheitsgemäß die Fragen beantworten. Unaufmerksames Antwortverhalten (Insufficient Effort Responding, Huang, Curran, Keeney, Poposki & DeShon, 2012; careless responding Meade & Craig, 2012, oder participant inattentiveness, Maniaci & Rogge, 2014) ist ein generelles Konzept und reicht von zufälligen Antworten bis zu systematischen Antwortmustern wie beispielsweise auf einer ungeraden Antwortskala nur mittig anzukreuzen. Dabei ist es nicht das Ziel des Teilnehmers, sich in einem besseren Licht darzustellen wie es beispielsweise bei Konzepten wie „Impression management“ oder „Faking“ der Fall ist (Huang et al., 2012). Unaufmerksames Antworten ist vor allem deshalb wichtig aufzudecken, da es die Beziehungen der zu untersuchenden Variablen verzerren kann (Huang, Liu & Bowling, 2015; Kam & Meyer, 2015). Zur Inspektion der Daten und um mögliche Ausreißer und unaufmerksame Probanden zu identifizieren, wurden mehrere

194

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Techniken eingesetzt (DeSimone & Harms, 2015; Newman, 2014; Peters & Dörfler, 2014). Mögliche Ausreißer sind zum einen Fehler wie beispielsweise Tippfehler der Teilnehmer beim Ausfüllen des Fragebogens und zum anderen Ausreißer, die nicht als Fehler identifiziert werden können, aber möglicherweise durch ihre extreme Ausprägung einen Einfluss auf die zu untersuchenden Beziehungen haben können (Aguinis, Gottfredson & Joo, 2013). Um mögliche Ausreißer zu erkennen, wurden zunächst Mittelwerte, Standardabweichungen, Minimum und Maximum sowie der Median für jedes Item beider Studien ausgegeben. Zusätzlich zur Betrachtung der deskriptiven Statistik wurde in der zweiten Studie noch ein spezielles Item zur Identifizierung unaufmerksamer Teilnehmer im Anfangsfragebogen eingefügt und im Rahmen der Datenaufbereitung ausgewertet. Das Item wurde unauffällig zwischen den anderen substanziellen Items auf der vierten Seite des Fragebogens platziert. Dabei soll der Teilnehmer die Antwortkategorie nicht selbst auf Basis seiner Einschätzung wählen, sondern einer klaren Instruktion folgen, die vorgibt, welche Antwortkategorie ausgewählt werden soll (DeSimone & Harms, 2015). So heißt es: „Bitte wählen Sie an dieser Stelle die Antwortkategorie „sehr viel“ aus“. Unaufmerksame Teilnehmer werden dadurch identifiziert, dass sie nicht die entsprechende Kategorie ausgewählt haben. Bei einem ersten Datenscreening in beiden Studien waren folgende Angaben auffällig: In zwei Fällen wurden unrealistische Datumsangaben gemacht (1886 als Geburtsjahr, Betriebszugehörigkeit seit dem Jahr 1918) und einige Probanden gaben unplausibel hohe wöchentliche Arbeitszeiten an (425, 475, 810 und 165 Stunden). Zudem gab es Eingabefehler bei der Angabe der Urlaubszeiten. Einige Probanden gaben Daten aus den Jahren 2014, 2016 und 2020 an, obwohl die Urlaubsangaben in dem aktuellen Befragungszeitraum liegen sollten. Ließen sich sinnvolle Begründungen und Annahmen für Werte treffen, wurden diese entsprechend korrigiert. So ist davon auszugehen, dass der Proband eigentlich 1986 anstatt 1886 als sein Geburtsjahr angeben wollte. Auch bei der Angabe der Arbeitszeit ist anzunehmen, dass anstatt 425 Stunden 42.5 Stunden gemeint waren. Dies lag vor allem deshalb nahe, da dieser Teilnehmer auch in anderen Wochen ähnliche Zeiten (41 sowie 42 Stunden pro Woche) angegeben hatte. Deshalb wurde der Fehler korrigiert und auf ganze Stunden abgerundet. Lagen hingegen keine Hinweise vor, wurden unplausible Angaben gelöscht.

4.2 Methodik

195

Darüber hinaus fiel auf, dass drei Teilnehmer in der zweiten Studie einen Fragebogen doppelt beantworteten. Bei zwei der drei Teilnehmer ging es um den Anfangsfragebogen. Vermutlich handelte es sich dabei um die Teilnehmer, die sich aufgrund von Eingabeschwierigkeiten an die Kontaktadresse wendeten und um erneutes Zusenden des Links zur Umfrage baten. Da ein Datensatz dieser Teilnehmer jeweils leer und der zweite ausgefüllt war, war offensichtlich, welcher Datensatz fehlerhaft war und somit entfernt werden konnte. Die dritte Person beantwortete den zweiten wöchentlichen Fragebogen doppelt. Diese Person wurde zusätzlich noch auf Basis des Instruktionsitems als unaufmerksam identifiziert und somit komplett aus der Datenanalyse ausgeschlossen. Anschließend wurden zur Identifikation von univariaten Ausreißern BoxWhisker Diagramme (auch Boxplots genannt) betrachtet. In einem Box-WhiskerDiagramm sind der Median, das erste und dritte Quartil, die Differenz des ersten und dritten Quartils sowie die Streuung über den Quartilen dargestellt, sodass Informationen über die Verteilung der Variablen sowie mögliche Ausreißer deutlich sichtbar werden (Eid, Gollwitzer & Schmitt, 2015). Durch die Box-Whisker-Diagramme wird deutlich, dass zwar einige Variablen sehr schief verteilt waren, die Ausreißer aber innerhalb sinnvoller Wertebereiche der einzelnen Variablen lagen. Insbesondere für Absentismus und Präsentismus ist eine rechtsschiefe Verteilung aber üblich (Coxe, West & Aiken, 2009; Johns, 2011). Zusätzlich kann auch die Zeit der Beantwortung als Technik genutzt werden, um unaufmerksames Beantworten der Fragen aufzudecken. Hierbei wird angenommen, dass sorgfältige Beantwortung der Fragen ein Minimum an Zeit beansprucht. Als Richtwert für die Zeit der Beantwortung, die auf nicht sorgfältiges Ausfüllen der Befragung schließen lässt, schlagen Huang und Kollegen weniger als zwei Sekunden pro Item vor (Huang et al., 2012). Um die Zeit pro Item zu errechnen, wurde die Gesamtzeit je Fragenbogen, die automatisch durch das Befragungsprogramm „Sosci Survey“ gespeichert wurde, durch die Anzahl der Items geteilt. Insgesamt gab es in der ersten Studie 40 und in der zweiten Studie 26 Datensätze, die besonders schnell ausgefüllt wurden. Bei näherer Betrachtung dieser Datensätze fällt aber auf, dass diese Datensätze eine hohe Menge an fehlenden Werten hatten oder es sich um wöchentliche Befragungen gegen Mitte bis Ende

196

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

der Befragungszeit handelte. Im ersten Fall erklären unbeantwortete oder übersprungene Fragen die schnellere Beantwortungszeit, während im zweiten Fall ein möglicher Übungseffekt eingetreten ist. Aufgrund des Übungseffektes, der durch das mehrmalige Beantworten der wöchentlichen Fragebögen entsteht, sowie des Überspringens von Fragen wird der Richtwert von zwei Sekunden als etwas zu streng gewertet und die Datensätze wurden nicht eliminiert. In der zweiten Studie wurde zudem noch das Instruktionsitem ausgewertet, wodurch sechs unaufmerksame Teilnehmer identifiziert wurden. Wie bereits erwähnt, war darunter auch der Teilnehmer mit einem doppelten Datensatz in der zweiten Befragungswoche. Allerdings gab es keine Überschneidungen mit den identifizierten Personen, die die Befragungen mit durchschnittlich weniger als zwei Sekunden pro Item beantworteten. Die Personen, die das Instruktionsitem falsch beantworteten, wurden aus der anschließenden Datenanalyse ausgeschlossen. Umgang mit fehlenden Werten und Beantwortungszeiträume Ein weiteres Problem, das bei der Datenauswertung berücksichtigt werden muss, sind fehlende Werte. Fehlende Werte kommen dadurch zustande, dass ein oder mehrere Individuen in einer Stichprobe ein oder mehrere Items nicht beantworten bzw. nicht an der Befragung teilnehmen, was dann in einer unvollständigen Datenmatrix resultiert (Newman, 2009). Vor allem die Stichprobenmortalität (häufig als Drop-out oder auch Attrition bezeichnet) – Teilnehmer nehmen an einer oder mehreren Folgebefragungen nicht mehr teil – spielt bei Längsschnittstudien eine Rolle (Nicholson, Deboeck & Howard, 2015). Wenn bestimmte Items systematisch nicht beantwortet werden oder bestimmte Personen systematisch aus der Befragung ausscheiden, könnte dies zu Verzerrungen der Parameterschätzungen führen und damit die interne Validität gefährden. In beiden Studien nahm die Anzahl der Teilnehmer über die zehn bzw. zwölf Wochen hinweg kontinuierlich ab (vgl. Tabelle 10 und Tabelle 11). In beiden Studien nahmen am Ende der Befragungszeit weniger als die Hälfte der Teilnehmer der Anfangsbefragung teil. In Studie 2 erhielt zudem die Mehrzahl der Befragten aufgrund der Feiertage in der vierten und fünften Woche keinen Fragebogen, nur drei Personen füllten diesen auch an den Feiertagen aus.

4.2 Methodik

197

Tabelle 10: Anzahl an Teilnehmern pro Woche und Beantwortungszeiträume – Studie 1

Anzahl der Wo- Teilche nehmer 1

140

Freitag 7.71%

2

134

64.18% 5.97%

DonMon- Diens- Mitt- ners- Freitag tag woch tag tag 12.86% 1.43% 0.00% 0.00% 0.00% 11.94% 14.18% 3.73% 0.00% 0.00% 0.00%

3

131

58.78% 14.50%

1.69%

4

137

59.85% 1.95%

4.58% 0.76% 0.00% 0.00% 13.14% 12.41% 2.92% 0.73% 0.00% 0.00%

5

116

61.21% 9.48%

7.76%

6

118

16.38% 4.31% 0.86% 0.00% 0.00% 58.47% 11.02% 11.02% 14.41% 3.39% 1.69% 0.00% 0.00%

7

113

58.41% 8.85%

1.62%

8

105

56.19% 1.48%

9.52%

9

98

59.18% 12.24%

10

91

58.24% 7.69%

11

84

6.71%

12

78

53.85% 12.82%

Samstag 5.71%

Sonntag 9.29%

1.69%

15.04% 5.31% 1.77% 0.00% 0.00% 14.29% 9.52% 0.00% 0.00% 0.00%

1.20% 12.24% 3.06% 1.02% 1.02% 1.02% 13.19% 13.19% 3.30% 3.30% 1.10% 0.00% 14.29% 1.71% 9.52% 4.76% 0.00% 0.00% 0.00% 5.13%

21.79% 3.85% 2.56% 0.00% 0.00%

Tabelle 11: Anzahl an Teilnehmern pro Woche und Beantwortungszeiträume – Studie 2

Woche

Anzahl der Teilnehmer

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

1

170 68.24%

17.65%

8.24%

4.12%

1.76%

0.00%

0.00%

0.00%

2

152 60.53%

18.42%

7.89%

10.53%

2.63%

0.00%

0.00%

0.00%

3

123 65.85%

17.07%

8.94%

5.69%

2.44%

0.00%

0.00%

0.00%

4

3 66.67%

33.33%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

5

3 100.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

6

133 56.39%

19.55%

10.53%

9.77%

3.76%

0.00%

0.00%

0.00%

7

114 58.77%

13.16%

12.28%

10.53%

4.39%

0.88%

0.00%

0.00%

8

111 54.05%

23.42%

9.91%

12.61%

0.00%

0.00%

0.00%

0.00%

9

114 57.89%

17.54%

13.16%

10.53%

0.88%

0.00%

0.00%

0.00%

10

99 58.59%

18.18%

9.09%

8.08%

6.06%

0.00%

0.00%

0.00%

198

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Um zu überprüfen, ob das Ausscheiden der Personen systematisch ist, wurde mittels unabhängiger T-Tests, Wilcoxon rank-sum Tests für nicht normalverteilte Daten sowie Chi-Quadrat-Tests für kategoriale Variablen zunächst überprüft (Field, 2013), ob es Unterschiede zwischen Personen gibt, die an der letzten Befragung noch teilgenommen haben und solchen, die an der letzten Befragung nicht mehr teilnahmen. In der ersten Studie lagen zwar leichte Tendenzen vor, aber die Unterschiede zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern in der letzten Befragungswoche waren nicht signifikant. So waren die Teilnehmer in der zwölften Woche tendenziell etwas älter, arbeiteten eine längere Zeit in der gleichen Organisation und zeigten mehr Präsentismus in den letzten sechs Monaten als die Nicht-Teilnehmer. Auch Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus war im Mittel bei den Teilnehmern etwas höher ausgeprägt als bei den Nicht-Teilnehmern. Ein ähnliches Bild lag auch bei der zweiten Studie vor, allerdings waren hier die Unterschiede signifikant. Personen, die an der letzten Befragung teilnahmen, waren im Durchschnitt gewissenhafter (MTeilnehmer = 6.07, MNicht-Teilnehmer = 5.67, t(208) = 3.460, p = .001), älter (MTeilnehmer = 40.78, MNicht-Teilnehmer = 31.75, t(167) = 5.591, p < .001), arbeiteten bereits länger bei Ihrem derzeitigen Arbeitgeber (M Teilnehmer = 10.45, MNicht-Teilnehmer = 4.77, t(144) = 4.539, p < .001) und rauchten weniger häufig täglich als Nicht-Teilnehmer (χ² (2, N = 218) = 6.143, p < .001). Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Gruppenvergleiche befindet sich in Tabelle 57 bis Tabelle 60 im Anhang. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine gewisse Systematik beim Ausscheiden der Personen im Laufe der Studie vorliegt, dessen Konsequenzen im Abschnitt zu den Limitationen dieser Arbeit (vgl. Abschnitt 4.5) diskutiert werden. Eine weitere Herausforderung bei der Erhebung von Längsschnittdaten im Vergleich zu Querschnittsstudien ist, dass der Zeitpunkt zur Beantwortung jeder Befragung zeitlich deutlich limitiert ist, da die Antworten der Befragten möglichst zeitnah an den im Fragebogen adressierten Zeitraum erfolgen sollten. Die Teilnehmer erhielten den wöchentlichen Fragebogen jeden Freitag und wurden gebeten, diesen möglichst am selben Tag noch zu beantworten. Allerdings hatten sie auch noch die Möglichkeit, den Fragebogen zu einem späteren Zeitpunkt auszufüllen. Insgesamt haben über 70 Prozent der Teilnehmer den Fragebogen von Freitag bis Sonntag beantwortet (vgl. Tabelle 10 und Tabelle 11). In Studie 1 gab

4.2 Methodik

199

es in der neunten Woche allerdings eine Person, die die Befragung erst am darauffolgenden Freitag ausgefüllt hat. Dieser Datensatz wurde aus der weiteren Datenanalyse herausgenommen, da diese Person beide Wochen am gleichen Tag beantwortet hat und somit keine zeitliche Trennung mehr zwischen der neunten und der zehnten Woche hätte stattfinden können. Abschließend wurden zur Vorbereitung für die im Ergebnisteil folgenden Analysen revers kodierte Items umcodiert, einige Variablen in ein für das Statistikprogramm R lesbares Format umgewandelt oder neu berechnet sowie die Daten im Wide-Format bzw. Long-Format je nach Analyseart angeordnet. 4.2.5

Stichprobe

Zusammensetzung der Stichprobe in Studie 1 Insgesamt nahmen 192 Personen an der ersten Befragung teil. Zwei Personen waren nicht berufstätig und die Befragung wurde für die beiden Probanden zu Beginn mit Hilfe einer Filterfrage abgebrochen. Eine Person beantwortete den Fragebogen der ersten Woche vor dem Anfangsfragebogen und wurde deshalb aus der Befragung herausgenommen. Somit umfasste die finale Stichprobengröße zu Beginn der Befragung 189 Personen, welche über den Zeitraum von 12 Wochen mit Berücksichtigung der Erstbefragung 1533 Datensätze erzeugten. Im Durchschnitt beantworteten die Teilnehmer 7 von 13 Fragebögen (12 wöchentliche und eine Anfangsbefragung). Die betrachtete Stichprobe aus 189 Teilnehmern setzte sich aus 90 Männern und 95 Frauen zusammen. Das Durchschnittsalter der Befragten betrug 35 Jahre mit einer Standardabweichung (SD) von 11.26 und einer Altersspannbreite von 19 bis 67 Jahren. Knapp unter 63 Prozent der Befragten waren im Alter zwischen 26 bis 35 Jahren, was allerdings nicht der Altersverteilung der Erwerbstätigen in Deutschland entspricht. In der Zielpopulation besteht eine leichte Mehrheit bei den Erwerbstätigen im Alter zwischen 45 und 55 Jahren (Brenscheidt & Nöllenheidt, 2015). 87 Prozent der Befragten hatten keine Kinder und ca. 75 Prozent lebten in einer festen Partnerschaft (verheiratet oder in einer festen Beziehung). 21 Prozent waren ledig, und ca. 3 Prozent getrennt lebend oder geschieden. Die Mehrheit der Befragten mit ca. 79 Prozent waren Arbeitnehmer (Angestellte, Arbeiter),

200

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

6 Prozent Beamte, 6 Prozent Selbstständige und 9 Prozent Auszubildende, Praktikanten oder Werkstudenten. 58 der 189 Teilnehmer hatten eine Führungsposition. Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit betrug 7.22 Jahre (SD = 8.61). Dabei lagen die geringste Betriebszugehörigkeit bei 0.2 Jahren und die längste Betriebszugehörigkeit bei 42.3 Jahren. Die vertragliche Wochenarbeitszeit war im Durchschnitt bei 36.32 Stunden pro Woche (SD = 8.92) mit einer Spannweite von 6 bis 60 Stunden pro Woche. Ca. 77 Prozent der Befragten arbeiteten zwischen 30 und 40 Stunden pro Woche, ca. 8 Prozent arbeiteten mehr als 40 Stunden pro Woche. Die Personen, die angaben, mehr als 50 Stunden pro Woche zu arbeiten, waren zum Zeitpunkt der Befragung selbstständig. Hier wurde im Fragebogen der Satz vermerkt, dass Selbstständige ihre übliche Wochenarbeitszeit angeben sollten, da es für selbstständig tätige Personen in der Regel keine vertragliche Regelung zur Arbeitszeit gibt. 7 Prozent der Befragten arbeiteten weniger als 20 Stunden in der Woche. Bezogen auf den Gesundheitszustand beschrieben ca. 67 Prozent der Befragten ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut. Keiner der Befragten gab einen schlechten Gesundheitszustand an. Um zu überprüfen, inwiefern der Gesundheitszustand der Stichprobe der Zielpopulation entspricht, wurden die Ausprägungen auf den Skalen zur Messung der physischen und psychischen Gesundheit des SF-12-S und die Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands mit den Werten einer repräsentativen Stichprobe des sozioökonomischen Panels (DIW Berlin, The German Socio-Economic Panel (SOEP), 2001) verglichen. Die Skalenwerte wurden hierfür auf Basis des Algorithmus von Nübling et al. (2006) berechnet, sodass die SOEP-Ergebnisse aus dem Jahr 2004 als deutsche Referenzwerte genutzt wurden. Basierend auf dem allgemeinen Gesundheitszustand schätzten die Probanden ihren Zustand etwas besser ein als die Teilnehmer des Sozioökonomischen Panels im Jahr 2004 – zum Vergleich gaben 47 Prozent einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand an (Andersen, Mühlbacher & Nübling, 2007). Auch der physische Gesundheitszustand lag über dem Referenzwert der SOEP-Ergebnisse (M =50, SD=10) mit einem Mittelwert von 54.73 (SD = 6.97). Der psychische Gesundheitszustand befand sich mit dem Mittelwert von 48.24 (SD=10.30) aber etwas unter dem Wert der Referenzgruppe (M=50, SD=10). Ähnlich wie auch bei den SOEP-Ergebnissen war der Gesundheitszustand bei den Männern im Mittel besser als bei den Frauen (Nübling et al., 2006), wobei dieser

4.2 Methodik

201

Unterschied bezogen auf die psychische Gesundheit deutlich stärker war (Differenz psychische Gesundheit ca. 3.4 Punkte, Differenz physische Gesundheit 1.7 Punkte). Zudem gaben 62 der Teilnehmer an, chronisch erkrankt zu sein. Eine genaue Aufstellung, welche Krankheiten genannt wurden, befindet sich in Tabelle 62 im Anhang. Beim Gesundheitsverhalten zeigte sich, dass die Mehrheit der Personen in der Stichprobe Nicht-Raucher war (ca. 68 Prozent) und gelegentlich oder regelmäßig Sport trieb (ca. 80 Prozent). Im Mittel sind die Probanden 6.57 Tage (SD = 10.02) in den zurückliegenden 6 Monate krank zur Arbeit zur Arbeit gegangen. Ca. 36 Prozent gaben an, dass sie im letzten halben Jahr gar nicht krank gewesen sind. Bei den Personen, die krank waren, gab es aber starke Unterschiede. Die Spannbreite lag hier zwischen 0 und 80 Präsentismustagen. Eine ausführliche Darstellung der Stichprobenzusammensetzung befindet sich im Anhang in Tabelle 61 und Tabelle 62. Zusammensetzung der Stichprobe in Studie 2 Insgesamt nahmen an der Anfangsbefragung der zweiten Studie 248 Personen teil. 20 Personen fehlten die Voraussetzungen der Berufstätigkeit, der festen Arbeitstage oder einer Mindestarbeitszeit von zehn Stunden, sodass die Befragung durch Filterfragen für sie frühzeitig beendet wurde. Sechs Personen wurden als unaufmerksame Teilnehmer identifiziert und aus dem Datensatz entfernt (vgl. Abschnitt 4.2.4). Somit umfasste die finale Stichprobe 222 Teilnehmer, die an der Anfangsbefragung teilgenommen haben und über die 10 Wochen 1243 Datensätze erzeugten. Im Durchschnitt beantworteten die Teilnehmer also 6 von 11 Befragungen (zehn wöchentliche und die Anfangsbefragung). Die betrachtete Stichprobe aus 222 Teilnehmern setzte sich aus 70 Männern und 146 Frauen zusammen. Die Teilnehmer waren im Durchschnitt 36 Jahre alt (SD = 12.27) mit einer Alterspanne von 20 bis 63 Jahren. Wie in Studie 1 befand sich die Mehrheit der Befragten mit 48.20 Prozent in der Altersklasse von 26 bis 35 Jahren, hatte keine Kinder und lebten in einer festen Partnerschaft (verheiratet oder in einer festen Beziehung). Die Mehrheit der Befragten mit ca. 78 Prozent waren zum Zeitpunkt der Befragung Arbeitnehmer (Angestellte, Arbeiter), 8 Prozent Beamte, 4 Prozent Selbstständige und 10 Prozent Auszubildende, Praktikanten oder Werkstudenten. 54 der 222 Teilnehmer gaben an, eine Führungsposi-

202

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

tion inne zu haben. Die Teilnehmer hatten durchschnittlich eine vertraglich festgelegte Arbeitszeit von 35.03 Stunden (SD = 9.28) mit einer Spannweite von 10 bis maximal 66 Stunden. Die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit lag bei 7.29 Jahren (SD = 9.09, Spannweite von 0.3 bis 41.7 Jahren). Die meisten der Befragten hatten ein unbefristetes Arbeitsverhältnis (77 Prozent) und ihre zu verrichtende Arbeit war im Wesentlichen Wissensarbeit (77 Prozent). Nur knapp 2 Prozent der Teilnehmer gaben an, dass ihre Arbeit vorwiegend körperlich ist. Zusätzlich zur Arbeitssituation der Befragten wurden in dieser Studie auch Informationen zu den Organisationen, in denen die Teilnehmer arbeiteten, abgefragt. Die meisten Teilnehmer (40 Prozent) arbeiteten in Organisationen im Dienstleistungssektor, 14 Prozent stammten aus der Industrie / dem Verarbeitenden Gewerbe und knapp 6 Prozent arbeiteten im Sektor Transport & Verkehr. Ein großer Teil konnte sich zudem keiner der Branchen zuordnen und wählte die Kategorie Sonstiges aus (35 Prozent). Die meisten Teilnehmer waren zudem in Organisationen mit weniger als 500 Mitarbeitern (55 Prozent) beschäftigt, während 45 Prozent in Organisationen mit mehr als 500 Personen beschäftigt waren. Darüber hinaus wurde erfragt, ab dem wievielten Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Unternehmen vorgelegt werden muss. Hier gaben knapp 60 Prozent an, dass dies ab dem dritten Tag zu erfolgen hat, während 18 Prozent dies bereits nach einem Tag vorlegen müssen und 12 Prozent eine andere Regel im Unternehmen implementiert haben. Bezogen auf den Gesundheitszustand beschrieben ca. 57 Prozent der Befragten ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut. Lediglich eine Person gab ihren Gesundheitszustand als schlecht an. Wie auch in Studie 1 schätzten die Teilnehmer ihren Gesundheitszustand etwas besser ein als die Teilnehmer des Sozioökonomischen Panels (Andersen et al., 2007). Zudem gaben 70 der Teilnehmer an, chronisch erkrankt zu sein. Beim Gesundheitsverhalten zeigte sich, dass die Mehrheit der Personen in der Stichprobe Nicht-Raucher waren (ca. 79 Prozent), 68 Prozent gelegentlich oder regelmäßig Sport trieben und knapp 43 Prozent meistens oder fast immer genügend schliefen. In Bezug auf Präsentismus und Absentismus in den letzten sechs Monaten gaben die Teilnehmer an, trotz Krankheit im Durchschnitt 6.66 Tage (SD = 6.86) gearbeitet zu haben mit einer Spannbreite von 0 bis 40 Tagen, während sie 5.24 Tage aufgrund einer Krankheit (SD = 5.22, Min.

4.2 Methodik

203

= 0, Max. = 25) nicht gearbeitet haben. Eine ausführliche Darstellung der Stichprobenzusammensetzung ist im Anhang (vgl. Tabelle 63 und Tabelle 64) zu finden. 4.2.6

Datenanalyse – Auswahl des Analyseverfahrens

Um die Fragestellungen der empirischen Studien mit Hilfe der Daten zu untersuchen, wurden Analysen in drei Schritten durchgeführt: Bevor die Hypothesen überprüft wurden, erfolgte in einem ersten Schritt zunächst ein Vergleich der beiden Messungen von Präsentismus je Studie. Hierbei wurden zum einen die beiden wöchentlichen Items mit den unterschiedlichen Formulierungen betrachtet. Zum anderen wurden die wöchentlichen Maße von Präsentismus auch einer Messung zu Beginn der Befragung rückwirkend auf das letzte halbe Jahr gegenübergestellt. Alle drei Maße wurden hierbei auf ein Jahr hochgerechnet, sodass sie auch mit Ergebnissen früherer Studien, von denen die meisten Präsentismus rückwirkend für die letzten zwölf Monate erfassen, verglichen werden können. Insgesamt wurden bei dem Vergleich Häufigkeitsverteilungen sowie Mittelwerte und Zusammenhänge mit anderen Variablen näher betrachtet. Im zweiten Schritt wurde der Einfluss von Präsentismus auf die Gesundheit geprüft (Hypothesen 1 bis 4). Hierfür wurden für beide Studien Strukturgleichungsmodelle aufgestellt, in denen der Gesundheitszustand (psychische und physische Gesundheit sowie physische Beschwerden) zum Ende der Befragungszeit als abhängige Variable betrachtet wurde. Der Gesundheitszustand zu Beginn der Befragung, der Bedarf an Erholung sowie die über den Zeitraum aggregierten Präsentismus- und Absentismustage wurden als Prädiktoren im Modell berücksichtigt. Hierbei wurde zum einen der direkte Effekt von Präsentismus auf die Gesundheit am Ende der Befragungszeit als auch der indirekte Effekt vermittelt über den Bedarf an Erholung getestet. Um einerseits Verzerrungen durch die Erhebung mittels Selbstauskunft (eine Form des Common Method Bias; Temme & Paulssen, 2009) zu verringern und andererseits die interne Validität zu erhöhen, wurden Präsentismus und der Bedarf an Erholung zeitlich um eine Woche von der abhängigen Variable (psychische und physische Gesundheit sowie physische Beschwerden) getrennt (Podsakoff et al., 2012; Stone-Romero, 2011). Auch wenn dies nicht Teil der Hypothesen war, wurden die beiden Dimensionen des Leistungsverhaltens

204

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

zum Ende der Befragung als abhängige Variable (kontrolliert um ihren Anfangszustand) in das Modell integriert. Zur Analyse dieser Wirkungsbeziehungen wurden Strukturgleichungsmodelle gewählt, da sich diese „strukturprüfenden multivariaten Analysemethoden“ (Weiber & Mühlhaus, 2014, S. 21) besonders eignen, komplexe Beziehungsmodelle durch simultane Schätzung mehrerer Gleichungen abzubilden (Geiser, 2011; Weiber & Mühlhaus, 2014). Neben der Überprüfung komplexer Modelle haben Strukturgleichungsmodelle noch den weiteren Vorteil, dass sie mögliche Messfehler berücksichtigen und so zu korrekteren Schätzungen führen (Geiser, 2011). Dies wird dadurch ermöglicht, dass Strukturgleichungsmodelle sowohl aus einem Messmodell als auch aus einem Strukturmodell bestehen und damit die Faktorenanalyse und Regressionsanalyse kombinieren (Williams et al., 2009). Das Messmodell bildet dabei ab, wie die einzelnen erhobenen Items das Konstrukt messen, während das Strukturmodell die in den Hypothesen formulierten Beziehungen zwischen den Konstrukten darstellt (Geiser, 2011). Eine Voraussetzung, um die Hypothesen zu testen, ist somit ein adäquates Messmodell, was im Rahmen von konfirmatorischen Faktorenanalysen bereits in Abschnitt 4.2.3 geprüft wurde. Um sicherzustellen, dass eine Veränderung im Gesundheitszustand nicht aufgrund einer Veränderung der Messung über die Zeit erfolgte, wurde zudem Messinvarianz getestet (Newsom, 2015). In einem dritten Schritt wurde der Einfluss von Präsentismus auf das Leistungsverhalten (Hypothesen 5 bis 15) analysiert. Der primäre Fokus lag hierbei nicht darauf, eine mittlere Veränderung der Leistung (Reduktion oder Wachstum) über den Befragungszeitraum von zehn bzw. zwölf Wochen hinweg zu beschreiben, sondern es sollten Fluktuationen des Leistungsverhaltens erklärt werden. Ein häufig eingesetztes Verfahren für die Analyse von Fluktuationen, beispielsweise im Rahmen von Tagebuchstudien, ist die Mehrebenenanalyse (Nezlek et al., 2006; Walls & Schafer, 2006), für die eine Vielzahl an unterschiedlichen Bezeichnungen vorherrschen wie beispielsweise „Random Coefficient Modelle“, „General Mixed Modelle“, „Hierarchical Linear Modelle“, „Variance Component Modelle“. Die Mehrebenenanalyse berücksichtigt die hierarchische ZweiebenenStruktur von Längsschnittdaten, in der Personen die Einheiten der zweiten, übergeordneten Ebene und die wiederholten Messungen die Einheiten der ersten, un-

4.2 Methodik

205

tergeordneten Ebene darstellen (Laird & Fitzmaurice, 2015). Diese Mehrebenenstruktur verletzt Annahmen konventioneller, inferenzstatistischer Verfahren wie die OLS-Regression und erfordert somit spezielle Analyseverfahren (Christ & Schlüter, 2012). So sind die einzelnen Messungen nicht unabhängig voneinander, denn die wiederholten Messungen derselben Person sind sich ähnlicher als Messungen unterschiedlicher Personen. Zudem kann eine fehlende Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur und der Trennung von interpersonellen und intrapersonellen Effekten zu falschen Schlüssen führen (Eid et al., 2015). Darüber hinaus eignet sich die Mehrebenenanalyse vor allem für Daten mit einer hohen Anzahl an wiederholten Messungen und einer kleinen Stichprobe sowie sehr variablen Messzeitpunkten, bei welchen es bei anderen Analyseverfahren wie beispielsweise latenten Wachstumsmodellen häufig zu Schätz- und Konvergenzproblemen kommt (Chou, Bentler & Pentz, 1998; Curran, 2017). Für die zwölf bzw. zehn-wöchigen Längsschnittstudien wird die Mehrebenenanalyse als ein geeignetes Verfahren angesehen. Da in der vorliegenden Untersuchung allerdings mehrere abhängige Variablen (Aufgabenleistung und Kontextleistung) betrachtet und Mediationshypothesen überprüft werden sollten, bot sich hierfür vor allem der Mehrebenen-Strukturgleichungsansatz (multilevel structural equation modeling; MSEM) an, wie es auch von Preacher und Kollegen empfohlen wird (2010; 2011). In ihrer Simulationsstudie zeigten sie, dass MSEM zu genaueren Ergebnissen führten als „traditionelle“ Mehrebenenansätze, die geeignet sind, Mediation zu testen (Preacher et al., 2011). MSEM kombiniert dabei die Vorteile von Strukturgleichungsmodellen mit Vorteilen der Mehrebenenanalyse (Heck & Thomas, 2015). Als Voraussetzung für die Durchführung der MSEM dient auch ein geeignetes Messmodell, was bereits in Abschnitt 4.2.3 geprüft wurde. Zusätzlich sollte eine gewisse Abhängigkeit der einzelnen Messungen von den jeweiligen Personen vorliegen, da ansonsten gar keine Mehrebenenanalyse notwendig ist (Heck & Thomas, 2015). Einen Hinweis hierauf gibt die sogenannte Intraklassenkorrelation (intraclass correlation; ICC). Diese beschreibt den Anteil der Gesamtvarianz, der durch die Gruppierung auf der zweiten Ebene, also durch personenbedingte Unterschiede, erklärt wird. Anders ausgedrückt spiegelt die Intraklassenkorrelation die erwartete Korrelation zwischen zwei zufällig ausgewählten Messzeitpunkten einer Person wider. Bei einem Wert von null sind die einzelnen Messungen völlig unabhängig von der Person. In diesem Fall wäre auch eine einfache Regressionsanalyse oder ein Strukturgleichungsmodell möglich (Hox,

206

4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Moerbeek & van de Schoot, 2017). Somit wurden vor der eigentlichen Hypothesenüberprüfung zunächst die ICC berechnet. Bei beiden Strukturgleichungsmodellen (MSEM und dem Modell mit Messwiederholung) wurden als Schätzalgorithmus die Maximum-Likelihood-Diskrepanzfunktion mit robusten Standardfehlern und robuster Chi-Quadrat-Teststatistik verwendet (dieses Verfahren wird in dem Statistikprogramm Mplus als MLR bezeichnet). Diese Schätzfunktion ist in der Lage, simultan Modellparameter sowie fehlende Werte zu schätzen (Newman, 2014) und ist robust gegen eine Verletzung der Normalverteilungsannahme (Christ & Schlüter, 2012; Heck & Thomas, 2015). Die Schätzung der fehlenden Werte mit der hierbei angewandten, sogenannten Full Maximum Likelihood Methode (FIML) zeigte sich den klassischen Verfahren wie fallweisem oder paarweisem Ausschluss selbst bei systematischem Fehlen von Werten als deutlich überlegen (Enders, 2010; Newman, 2014; Nicholson et al., 2015). Damit die Strukturgleichungssysteme identifizierbar sind, wurde zur Festlegung der Metrik der latenten Konstrukte je eine Faktorladung je Konstrukt auf 1 restringiert. Zur Beurteilung der Modelle wurden, wie auch bei der KFA und MLKFA in Abschnitt 4.2.3, der Chi-Quadrat-Test, der RMSEA, der CFI und der SRMR als Gütekriterien, sowie bei Modellvergleichen der Chi-Quadrat-Differenztest berücksichtigt. Alle Mehrebenen-Strukturgleichungsanalysen wurden mit dem Statistikprogramm Mplus, Version 8 (Muthén & Muthén, 1998-2017) durchgeführt. Die Datenaufbereitung und weitere Analysen erfolgten mit dem Statistikprogramm R (Rosseel, 2012). 4.3

Ergebnisse

Bevor die Hypothesen im Rahmen der Strukturgleichungsmodelle getestet werden, erfolgt zunächst ein Vergleich der Messinstrumente und Zahlen zu den Präsentismustagen.

4.3 Ergebnisse 4.3.1

207

Vergleich der Messungen von Präsentismus

Ergebnisse der Studie 1 Über die 12 Wochen hinweg berichteten die Teilnehmer im Mittel, an 3.1 Tagen (SD = 5.72) auf der Arbeit gewesen zu sein und einen nicht guten bis schlechten Gesundheitszustand wahrgenommen zu haben (indirekte Präsentismusmessung). Im Vergleich dazu gaben die Befragten an, durchschnittlich 2.45 Tage (SD = 4.37) zur Arbeit gegangen zu sein trotz des Gefühls, dass es aufgrund Ihres Gesundheitszustands besser gewesen wäre, sich krank zu melden (dysfunktionaler Präsentismus). Es lag ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Mittelwerten vor (t-Test für abhängige Stichproben: t (188) = 2.87, p = .059), allerdings nur auf einem Signifikanzniveau von p < .1. Wurden aber robuste Methoden angewandt (vgl. Field, 2013), lag das Signifikanzniveau deutlich unter p < .05. Allerdings fehlten nicht alle Befragten krankheitsbedingt oder gaben an, trotz Krankheit zu arbeiten. Insgesamt zeigten 62 Personen mindestens einen Tag krankheitsbedingten Absentismus innerhalb der 12 Wochen, während 101 Personen mindestens einen Tag trotz Krankheit arbeiteten und 93 Personen dysfunktionalen Präsentismus ausübten. Für beide Präsentismusmessungen waren zudem die Standardabweichungen größer als ihre Mittelwerte. Dies spiegelt die schiefe Verteilung der Konstrukte wider, welche für Zähldaten dieser Art üblich sind (Johns, 2011). Um einen Vergleich dieser Ergebnisse mit früheren Studien zu ermöglichen, wurden die Präsentismustage auf das Jahr hochgerechnet (dividiert durch 12, multipliziert mit 53 Wochen im Jahr 2015). Zusätzlich zu den beiden wöchentlichen Messungen wurde noch eine Messung von Präsentismus zu Beginn der Befragung betrachtet, die auch auf der Formulierung von Aronsson et al. (2000) basierte und retrospektiv auf die letzten sechs Monate bezogen war. Mit Blick auf die 6-Monats-Messung gaben 115 Personen (also ca. 61 Prozent der Befragten) an, mindestens einmal krank gearbeitet zu haben, obwohl es für ihre Gesundheit besser gewesen wäre sich krank zu melden. Tabelle 12 enthält die Hochrechnungen für die unterschiedlichen Messungen von Präsentismus. Hierbei fiel auf, dass die indirekte wöchentliche Messung eher mit dem Mittelwert der 6-Monats-Messung übereinstimmte als das von der Formulierung ähnlichere wöchentlich gemessene Item.

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4 Präsentismus und seine Folgen – zwei Längsschnittstudien

Tabelle 12: Präsentismus- und Absentismustage hochgerechnet auf 12 Monate

Variable

M

SD

Präsentismus indirekt, wöchentlich

13.69

25.26

Präsentismus indirekt, wöchentlich (nur Präsentisten)

25.63

29.85

Präsentismus dysfunktional, wöchentlich

10.82

19.3

Präsentismus dysfunktional, wöchentlich (nur Präsentisten)

21.99

22.65

Präsentismus dysfunktional, 6-Monats-Maß

13.15

20.04

Präsentismus dysfunktional, 6-Monats-Maß (nur Präsentisten)

14.54 20.59

Absentismus indirekt, wöchentlich Absentismus indirekt, wöchentlich (nur Absentisten)

4.74

10.1

14.46

13.1

Anmerkungen. M = M = Mittelwerte, SD = Standardabweichung; Nur Präsentisten = alle Personen mit 0 Präsentismustagen fließen nicht mit in die Berechnung; Nur Absentisten = alle Personen mit 0 Absentismustagen fließen nicht mit in die Berechnung

In Anlehnung an das Vorgehen von Strasser et al. (2017) wurden die Verteilungen der verschiedenen Messungen näher betrachtet. Hierdurch konnten weitere Unterschiede der verschiedenen Messungen aufgedeckt werden. In Abbildung 10 sind die Verteilungen der Items graphisch dargestellt und es wurde deutlich, dass bei den wöchentlichen Messungen mehr Personen den Extremkategorien und weniger den mittleren Kategorien zugeordnet wurden, während bei dem 6-Monats-Maß der größte Anteil der Befragten zwischen fünf und zehn Präsentismustagen aufwies.

4.3 Ergebnisse

209

60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00% keine Präsentismus indirekt