Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung: Eine organisations- und wissenschaftssoziologische Fallstudie [1 ed.] 9783428436996, 9783428036998

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Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung: Eine organisations- und wissenschaftssoziologische Fallstudie [1 ed.]
 9783428436996, 9783428036998

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RAINALD VON GIZYCKI

Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung

Soziologische Band 21

Schriften

Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung Eine organisations- und wissenschaftssoziologische Fallstudie

Von D r . Rainald von Gizycki

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gizycki, Rainald von Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung: e. organisations- u. wissenschaftssoziolog. F a l l studie. — 1. Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1976. (Soziologische Schriften; Bd. 21) I S B N 3-428-03699-9

Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03699 9

Michèle

M a n d a r i n e n g e d i c h t

Wie sehnt' ich mich oft nach der Süßigkeit des vaterländ'schen Gefühles, w e n n ich auf harten Matratzen lag i n der schlaflosen Nacht des Exiles. M a n schläft sehr gut u n d t r ä u m t auch gut i n unseren Federbetten, hier f ü h l t die deutsche Seele sich frei von allen Erdenketten. Sie f ü h l t sich frei u n d schwingt empor zu den höchsten Himmelsräumen, oh deutsche Seele, w i e stolz ist dein F l u g — i n Deinen nächtlichen Träumen! Franzosen u n d Russen gehört das Land, das Meer gehört den Britten, w i r aber besitzen i m Luftbereich des Traums die Herrschaft — unbestritten. Hier üben w i r die Hegemonie, hier sind w i r unzerstückelt, die anderen Völker haben sich auf platter Erde entwickelt.

Heinrich Heine

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung entstand während meiner Mitarbeit in der „Arbeitsgruppe Wissenschaftspolitik" der Universität Heidelberg i n den Jahren 1972 und 1973. Sie wurde i m Februar 1974 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg unter dem Titel „Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte: Organisations- und wissenschaftssoziologische Betrachtungen zur Abspaltung wissenschaftlicher Fachgesellschaften (1822 -1914)" als Dissertation angenommen (Referent: Professor Dr. Helmut Schelsky; Koreferent: Professor Dr. Norbert Fügen). Für Hinweise und Anregungen danke ich besonders Herrn Dr. Frank Pfetsch und Professor Dr. Helmut Schelsky. Zurückblickend betrachte ich meine Arbeit als einen mutigen Versuch, eine historisch-empirische Fallstudie durch Einbettung i n organisationssoziologische Hypothesen und systemtheoretische Konzepte i n dreierlei Hinsicht für künftige Forschungen zu erschließen: — Darstellung und Interpretation bisher unbekannter wissenschaftsgeschichtlicher Ereignisse; — Verallgemeinbarkeit des untersuchten Einzelfalles für die Untersuchung sozialer Organisationen der Wissenschaft; — Ergiebigkeit des historischen Einzelfalles für die Modifikation vorhandener Theorieansätze, seien sie „Middle-Range"-Theorien der Organisations- und Wissenschaftssoziologie, oder formale „grand theories", wie die neuere Systemtheorie. Der „ M u t " eines solchen Analyseentwurfs zielt primär auf die Uberwindung der Schwierigkeit, eine i m Selbstverständnis autonome und prinzipiell freie Wissenschaftsorganisation i n den Begriffsapparat einer stringent auf Formalisierung, Verallgemeinerung und Gesetzmäßigkeit gerichteten Systemtheorie einzuholen. Das Problem besteht hierbei hauptsächlich i n der Überführung allgemeiner Systembegriffe i n operationale und falsifizierbare Arbeitshypothesen, die dem Gegenstand entsprechend zu formulieren und anzuwenden sind. Dabei wurde die Annahme vertreten, daß „Systemtheorie" einen kognitiv-heuristischen Erklärungsansatz darstellt, und keine A-priori-Festschreibung

8

Vorwort

des Untersuchungsgegenstandes als allemal schon bestehendes „System" impliziert. Dadurch bleibt einerseits die Offenheit des Systemansatzes für induktiv herbeigeführte Korrekturen gewahrt, und ergibt sich andererseits die Möglichkeit der ergänzenden Verwertung von Theorien, die sich teilweise, wie die Konflikttheorie, als gegen die Systemtheorie gerichtete Erklärungsansätze verstehen. Der Versuch außerdem, die durch Theorieüberschuß gekennzeichnete gegenwärtige Diskussion der Wissenschaftsforschung i n Deutschland („Finalisierungsthese", „Wissenschaft als Handlungssystem", „Normale Wissenschaft", „Wissenschaft als Arbeitsprozeß", „Theorie des Forschungsprogramms") m i t einer theorierelevanten historischen Fallstudie zu konfrontieren, scheint lange überfällig. Kelkheim, i m M a i 1976 Rainald von Gizycki

Inhaltsübersicht

Vorwort

7

I . Einführung und Aufbau der Arbeit I I . Theoretische Problemstellung

11 14

1. Neuere Ansätze zur Erklärung der Differenzierung von Organisationen

14

2. Gesamttheoretisches Rahmenmodell

19

3. Funktionsanalyse u n d Ergebnisübersicht

21

I I I . Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft

27

I V . Methodisches Vorgehen und Materiallage

34

V. Was ist Abspaltung?

39

V I . Das Indifferenzverhältnis

42

1. Widerstand der D N Ä

43

2. M i t w i r k u n g von Einzelpersonen

45

3. Abschließende Gründungstätigkeit V I I . Fakultative Symbiose V I I I . Das Symbioseverhältnis

47 49 53

1. W a r u m symbiotische, nicht indifferente Gründung?

54

2. Die Statuten symbiotischer Gesellschaften u n d der Einzelfall der Pathologischen Gesellschaft

60

3. Systematisierung der Loslösung

64

I X . Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe 1. Forschungsexpansion u n d Enge der Sektionen

65 68

2. Vernachlässigung der Disziplin innerhalb der D N Ä

69

3. Institutionelle

70

Verselbständigung

4. Disziplinspezifische Umgebung

72

5. Universitätsausbildung

78

10

Inhaltsübersicht 6. Widerstand der D N Ä u n d Generationsprobleme

80

7. V o r b i l d anderer Gesellschaften

81

8. Mandarinen-Ideologie

82

X . Allgemeine Grünäungseinflüsse

93

1. Situation der Wissenschaft

93

2. Politische Lage: Reichsgründung

97

3. Geopolitisches

98

X I . Die Rückwirkungen der Abspaltung auf die Fachgesellschaften X I I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die D N Ä 1. Das Verhältnis von P r i m ä r - u n d Sekundärdifferenzierung a) Verlauf u n d Erklärungsfaktoren der Abspaltungskurve b) Rückwirkung der Abspaltung auf das Sektionsleben

102 106 106 106 111

2. Reformdiskussion u m 1890

116

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die D N Ä nach 1890

118

a) Diskussion über Abteilungs- u n d Gesellschaftssitzungen

120

b) Pressure-Group-Aktivität der D N Ä nach 1900

121

c) Der Deutsche Ausschuß f ü r den Mathematischen u n d N a t u r wissenschaftlichen Unterricht 122 d) Einflußnahme der Gesellschaften auf die interne Organisation der D N Ä 124 e) Das Verhältnis der D N Ä zu den Fachgesellschaften v o n 1920 bis zum 2. Weltkrieg 127 X I I I . Systemtheoretische Analyse

130

1. Fachgesellschaften als Orientierungshilfe

130

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung

135

Anhang

143

Literaturverzeichnis

147

I. Einführung und Aufbau der Arbeit Es ist die allgemeine Absicht dieser Studie, einen Beitrag zur Erkenntnis der Entstehung, Anpassung und Veränderung einer der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Organisationen Deutschlands i m 19. Jahrhundert zu leisten. Sie versucht dabei die Wandlung von Struktur und Funktion der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte" (DNÄ) als Anpassung an die „scientific revolution" der experimentellen Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts zu begreifen, und m i t Hilfe organisations- und wissenschaftssoziologischer Theorien zu erklären. Die Arbeit w i l l also zugleich zwei Ziele erreichen: Einerseits erstrebt sie zum ersten M a l eine historisch-soziologische Gesamtdarstellung der Entwicklung der Naturforscherversammlung von ihrer Gründung bis zum Anfang des 1. Weltkrieges (mit Ausblicken auf ihren heutigen Zustand), andererseits bemüht sie sich u m die Verwertung und K o r rektur der i n organisations- und wissenschaftssoziologischen Theorien erarbeiteten Konzepte und Hypothesen anhand einer konkreten und geschichtlich bedeutsamen Einzelfallstudie. W i r gehen von der häufig beobachteten Tatsache aus, daß i n der Zeit von 1825 bis 19141 alle Zweige der Naturwissenschaften und der Medizin i n den frühindustriellen Ländern, besonders aber i n Deutschland, eine bis dahin unbekannte, relativ rasche Expansion verzeichneten 2 . Die beiden Aspekte dieses naturwissenschaftlichen Wachstums, die exponentielle Zunahme der Zahl professioneller Wissenschaftler einerseits 3 , sowie die das einzelne Bewußtsein bald überfordernde A k k u m u lation des Wissensstoffes andererseits, sollen i n ihrer Auswirkung auf die Naturforscherversammlung untersucht werden, speziell i m Hinblick auf: 1. A r t und Ausmaß der Differenzierung der D N Ä i n einzelne Sektionen, i m folgenden auch als „Primärdifferenzierung" definiert. 1

Also von Liebigs Laboratoriumsgründung an der Universität Gießen bis zum ersten Weltkrieg. 2 Vgl. Schäfer, A l f r e d : „Die Entwicklung der internationalen wissenschaftlichen physiologischen Zeitschriften von i h r e m Beginn bis zum Jahre 1950 u n d das Problem der »Literaturflut 4 Inaug. Diss., Münster 1954. s Vgl. Price, Derek de Solla: L i t t l e Science — B i g Science, Columbia UP, New Y o r k 1963.

12

I. Einführung und Aufbau der Arbeit

2. Subjektive und objektive Gründe sowie theoretische Erklärungen für die sich von der Naturforscherversammlung abspaltenden wissenschaftlichen Fachgesellschaften, weiterhin auch „Sekundärdifferenzierung" benannt 4 . Unser Hauptinteresse gilt der Sekundärdifferenzierung; w i r werden aber ständig auf die Primärdifferenzierung zurückkommen. I h r Verhältnis zueinander w i r d speziell i m Kapitel X I I , „Rückwirkung der Abspaltung auf die D N Ä " , behandelt. Zunächst eine kurze Zusammenfassung des Aufbaus der Arbeit. I m ersten Teil des folgenden Kapitels sollen kurz die bisher i n der organisationssoziologischen Literatur erarbeiteten relevanten theoretischen Ansätze umrissen werden, auf die w i r später teilweise zurückkommen werden. Es folgt die Darstellung eines Rahmenmodells, das die Grundlage sowohl für die theoretische Analyse als auch für die Einordnung der empirischen Entwicklungsstufen der Naturforscherversammlung abgibt. Danach fassen w i r die Ergebnisse der Arbeit auf der Basis einer komparativen Funktionsanalyse von Humboldtuniversität und D N Ä zusammen. I m empirischen Teil (Kap. I I I bis X I I ) werden nach einem Uberblick über die Gründung der D N Ä sowie Materiallage und Methode der Studie die beiden Hauptkategorien „Indifferenz" und „Symbiose" zur Beschreibung der Abspaltung von Fachgesellschaften eingeführt, die i n den beiden folgenden Kapiteln ausführlich abgehandelt werden. Einzelne prototypische Gesellschaftsgründungen werden darin zur Illustration bestimmter wissenschaftssoziologischer Aspekte wiederholt hervorgehoben. Ausgehend von Selznicks Konflikttheorie w i r d i m neunten Kapitel eine Liste von organisationsinternen Abspaltungsgründen präsentiert, die i m zehnten Kapitel durch allgemeine wissenschaftliche, soziale und geopolitische Gründe ergänzt wird. I m elften und zwölften Kapitel w i r d die Rückwirkung der Abspaltung der Fachgesellschaften auf diese selbst einerseits, und auf die Naturforscherversammlung andererseits untersucht. Die systemtheoretischen Schlußbetrachtungen teilen sich i n zwei Intentionen — einmal soll die Funktion der Fachgesellschaften als „Orientierungshilfe" (Luhmann) für die Mitglieder des sozialen Systems der scientific community von anderen Steuerungsmechanismen abge-

4 Die Begriffe „ P r i m ä r - " u n d „Sekundärdifferenzierung" sollen bereits i n der Benennung i h r Verhältnis zueinander verdeutlichen. Sie lassen sich nirgends der L i t e r a t u r entnehmen, sind aber aus einem Weiterdenken des Smelserschen Ansatzes zu gewinnen.

I. Einführung und Aufbau der Arbeit

13

hoben werden (Systemreferenz: der einzelne Wissenschaftler); darüber hinaus sollen sie die Relevanz der Luhmannschen Reduktionstheorie und anderer Systemkonzepte für eine Erklärung der organisatorischen Entwicklung der D N Ä überprüfen (Systemreferenz: die Organisation). I m Anhang schließlich folgt eine Listenaufzählung aller 38 abgespaltenen Gesellschaften m i t Anmerkungen über ihr Verhältnis zur DNÄ.

I I . Theoretische Problemstellung 1. Neuere Ansätze zur Erklärung der Differenzierung von Organisationen Seit Adam Smith sein berühmtes Beispiel über die Stecknadelproduktion zur Beschreibung der damals beginnenden industriellen Arbeitsteilung veröffentlichte, hat das Phänomen der Differenzierung und Spezialisierung bis heute Sozialwissenschaftler aller Sparten beschäftigt. Max Weber führte die festgesetzte Verteilung verschiedener Tätigkeiten als hervorragendes Merkmal seines Idealtyps der Bürokratie i n die Organisationssoziologie ein. Die zunehmende Komplexität und Größe einer Organisation, so lautet seine zentrale These, führt unvermeidlich zur „Bürokratisierung" i m Sinne des Anwachsens hierarchisch geordneter, spezialisierter Verwaltungspositionen. Die moderne i n den USA beheimatete Organisationssoziologie hat dieses Thema aufgegriffen und ausgeweitet auf die Untersuchung primitiver Arbeitsteilung, industrieller Organisationen, dezentralisierter Verwaltungsagenturen der Bundesregierung, städtischer Schulen und neuerdings Colleges und Universitäten 1 . Allgemeine Theorien über Struktur, Funktion und Wachstum von Organisationen wurden bisher fast ausschließlich induktiv anhand empirischer Arbeiten i m Bereich von Staat und Industrie entwickelt. Die Schwierigkeit der Verwertung solcher Theorien für die Darstellung der Entwicklung der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Dachgesellschaft des 19. Jahrhunderts liegt sowohl i n der Einpassung des Gegenstandes wie i n der Unvollkommenheit der Theorien selbst. I m folgenden werden daher nur solche Ausschnitte dieser Theorien erörtert, die verwertbar erscheinen und i m Hinblick auf das Thema eine Erweiterung oder Abgrenzung zulassen. William Starbucks inzwischen klassischer A r t i k e l behandelt die verschiedenen Ansätze und empirischen Untersuchungen zur Erklärung des Wachstums von Organisationen m i t besonderer Betonung des Formalisierungs- und Differenzierungsprozesses i m Zeitablauf 2 . Für uns ist ι Z u r Anwendung auf Universitäten vgl. Blau, Peter: The Organization of Academic Work, John Wiley Interscience, 1973. 2 Starbuck, W i l l i a m : "Organizational G r o w t h and development", i n : March, James (Hrsg.): Handbook of Organizations, Chicago 1965; S.451 -533.

1. Differenzierung von Organisationen

15

speziell das dialektische Zusammenspiel der Variablen Größe, Differenzierung, Partizipation und Koordination interessant, wobei w i r klären wollen, i n welcher Form und m i t welcher Konsequenz sich die m i t wachsender Größe zunehmende Differenzierung und anschließende „Notwendigkeit der Koordinierung" vollzieht. Als Leitthese soll dabei der Satz gelten: "Most organizations, when they discover undesirable consequences of their current formal structures, endeavor to corret these consequences by changing their structures 3 ." I n einer kürzlich veröffentlichten Monographie hat Peter Blau seine bisherigen Arbeiten über staatliche Wohlfahrts- und Versicherungsagenturen i n den USA zusammengefaßt 4 und dabei auf zwei Grundgesetze organisatorischer Differenzierung hingewiesen: — Zunehmende Größe bewirkt strukturelle Differenzierung i n Organisationen auf verschiedenen Ebenen und m i t abnehmenden Katen®. — Strukturelle Differenzierung i n Organisationen wiederum erfordert eine Vergrößerung des bürokratischen Apparats, da intensivierte Kommunikations- und Koordinierungsprobleme i n komplexen Strukturen der administrativen Aufmerksamkeit bedürfen 6 . Außerdem weist Blau auf den logistischen Verlauf der Differenzierungskurven seiner untersuchten Organisationen hin. W i r werden sehen, daß diese aus der Analyse nichtwissenschaftlicher Organisationen gewonnenen Resultate zum Teil auch auf den Differenzierungsprozeß der NaturforscherverSammlung zutreffen: Das Wachst u m der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (Größe) bewirkt zunehmende Differenzierung der D N Ä auf den beiden Ebenen der wissenschaftlichen Sektionsbildung und Gründung von Fachgesellschaften. Die so anwachsende Komplexität der DNÄ-Struktur w i r d 1890 durch Zusammenlegung von Sektionen und Formalisierung ihrer Organisation i n einem erfolglosen Reformversuch bekämpft. Auch der logistische Kurvenverlauf kennzeichnet sowohl die Primär- wie die Sekundärdifferenzierungskurve der DNÄ. Neil Smelser, aus historischer Perspektive argumentierend, kommt der Beschreibung des organisatorischen Differenzierungsprozesses, wie er sich i m Verlauf eines Jahrhunderts i n der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte abspielte, am nächsten; er soll daher ausführlich zitiert werden: 3 Ibid., S. 479. Blau, Peter u n d Schoenherr, Richard: The Structure of Organizations, Basic Books, London 1971. 5 Ibid., S. 301. β Ibid., S. 312. 4

16

II. Theoretische Problemstellung

"The theory of structural differentiation is an abstract theory of change. When one social role or organization becomes archaic under changing historical circumstances, i t differentiates by a definite and specific sequence of events into two or more roles or organizations which function more effectively i n the new historical circumstances. The new social units are structurally distinct from each other, but taken together are functionally equivalent to the original unit. . . . A n y sequence of differentiation is set i n motion by specific disequilibrating conditions. I n i t i a l l y this disequilibrium gives rise to symptoms of social disturbance, which must be brought into line later by mechanisms of social control. Only then do specific ideas, suggestions and attempts emerge to produce the more differentiated social units 7 ." Obwohl Smelser seine Ungleichgewichtstheorie aus der allgemeinen Entwicklung der frühindustriellen englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts abgeleitet hat, zeichnet sie rein formal ein erstaunlich prägnantes B i l d vom Prozeß der Sektionsbildung und Abspaltung selbständiger wissenschaftlicher Gesellschaften von der DNÄ. Unsere spätere Schilderung w i r d zeigen, daß sich die D N Ä unter dem Einfluß „historischer Umstände" (Wissensexpansion) i n „mehrere Organisationen" (Fachgesellschaften) aufspaltete, und daß diese neuen „sozialen Einheiten" gegenüber der alten Einheitsorganisation „funktional äquivalent" waren. Das dadurch innerhalb der D N Ä ausgelöste „Ungleichgewicht" w i r d vergebens durch Maßnahmen „sozialer Kontrolle" (Formalisierung) zu verhindern gesucht. Erst nach der Desintegrationsphase der D N Ä i n den 30er Jahren stellt sich ein neues Gleichgewicht ein. Organisationssoziologisch relevanter, wenn auch historisch unergiebiger, ist das von Peter Selznick entwickelte Delegationsmodell, das freilich nur modifiziert verwendbar scheint. Die aus organisatorischer Kontrollnotwendigkeit abgeleitete Delegation von Autorität führt u. a. zu einer „bifurcation of interests" unter den „subunits" der Organisation. Die Aufrechterhaltung der Bedürfnisse der Untereinheit erfordert ein Engagement für das Ziel dieser Einheit, vorrangig gegenüber dem Engagement für das übergeordnete Gesamtziel. Die Bedürfnisse der Individuen sind an die Erreichung des Ziels der Untereinheit geknüpft. Der Kampf der „subunits" u m interne Kontrolle führt zur Erarbeitung von Subunit-Ideologien, die wiederum zu erhöhtem Engagement der Individuen für das Ziel und die Interessen der Untereinheit führen 8 . 7

S. 2. 8

Smelser, N. J.: Social change i n the industrial revolution, Chicago 1959;

Selznick, Peter: Leadership Peterson 1957; bes. S. 9 u n d 15.

in

Administration,

Evanston/Ill.,

Row,

1. Differenzierung von Organisationen

17

Wenn auch die für industrielle Betriebe wichtigen Prämissen der Kontroll- und Autoritätsdelegation i n freiwilligen Organisationen wie der Naturforscherversammlung nur eine untergeordnete Rolle spielen, so t r i t t doch deutlich eine aus der Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit wissenschaftlicher Bestrebungen i n einer Mammutorganisation resultierende „Interessenbifurkation" oder Konstellation von Zielkonflikten auf, die sich zunächst i n den Sektionssitzungen und schließlich i n der Abspaltung von Gesellschaften manifestiert. I n Anlehnung an Smelsers Theorie hat W. O. Hag ström die Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen (specialties) ebenfalls unter dem Aspekt des Zielkonflikts analysiert. Er unterscheidet dabei solche Fächer, die zwar ihre eigenen Forschungsziele für wichtiger halten als andere, aber doch die übergeordneten Ziele der Mutterdisziplin akzeptieren („reformers"), und solche, die sich den zentralen Zielen der übergeordneten Disziplin widersetzen („rebels"). Das Stadium der Rebellion ist die Voraussetzung für die Geburt einer neuen, unabhängigen Disziplin: " A rebellious specialty is formally included w i t h i n a larger discipline but its members reject the claim that its goals are or should be the goals of the larger discipline . . . This usually leads to claims for facilities and rewards. . . . This, i n turn, leads to organizational as opposed to informal conflict 9 ." I n der Tat scheint nach unseren Ergebnissen der Wunsch nach eigenen „facilities", die differenzierte Zieldefinition des neuen Faches (Sektion) gegenüber der Mutterdisziplin (Mutterorganisation) mit dem konsequenten Streben nach separater Organisation und wissenschaftsspezifischer Umgebung Zielkonflikte i n der Naturforscherversammlung ausgelöst zu haben, die erst nach vollendeter Arbeitsteilung zwischen „rebels" und Mutterorganisation beendet waren. I m Rahmen seiner allgemeinen Konflikttheorie erwähnt Ralf Dahrendorf den Konflikttyp „Ganzes contra Teil", den w i r hier zur vorgängigen Systematisierung von Etappen der Konfliktentfaltung heranziehen können 10 . Allerdings handelt es sich bei der Abspaltung von Gesellschaften und deren Rückwirkung auf die alte Einheitsorganisation gerade u m den Ubergang von Dahrendorfs Konflikttyp „Ganzes contra Teil" zum Typ „Gleicher contra Gleichen", so daß w i r zwei Konfliktphasen unterscheiden müssen, innerhalb deren sich die konkreten Konflikte i n fünf Etappen entfalten. 9 Hagstrom, W. Α.: The Scientific Community, Basic Books, New Y o r k 1965; S. 193. 10 Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft u n d Freiheit, Piper & Co, München 1961.

2 v. Gizycki

18

II. Theoretische Problemstellung

Innerhalb der ersten Phase, solange die potentiellen Gesellschaften als Sektionen oder symbiotische Gesellschaften noch Teil des Ganzen bleiben, vollzieht sich i n der ersten Etappe die Manifestierung von Konflikten durch Zieldefinition 1 1 . I n dieser Etappe lassen sich die „beiden Seiten der Konfliktfront" aufgrund erkennbarer, den jeweiligen Konfliktgruppen inhärenter „Interessen" (z.B. Bearbeitung spezieller Forschungsgebiete) unterscheiden. I n der zweiten Etappe der Konfliktentfaltung kommt es zur „Kristallisierung" der Konflikte durch Zielverwirklichung. Während i n der ersten Etappe die Interessen noch diffus bleiben können, treten i n der zweiten organisierte Interessengruppen auf, die ihre Ziele (ζ. B. wissenschaftsspezifische Umgebung, universitäre Ausbildung) durch systematische Rekrutierung von Mitgliedern und enge Kommunikation zu realisieren suchen. A n die Stelle von Dahrendorfs „ausgebildeten Konflikten" t r i t t i n der dritten Etappe die Strategie der Konfliktvermeidung durch Zielauslagerung. I n diesem Stadium vollzieht sich die Bildung indifferenter Gesellschaften durch Gründung separater Organisationsformen, durch eigene personelle und materielle Ausstattung sowie durch Institutionalisierung unabhängiger Ziele (ζ. B. Standesinteressen). I n der zweiten Phase der Konfliktentfaltung treten sich Naturforscherversammlung und Einzelgesellschaft als „Gleicher contra Gleichen" gegenüber. Jetzt w i r d der vorher vermiedene Konflikt i n der vierten Etappe durch Zielrücklagerung — aus der Sicht der D N Ä : Außenlenkung — unterdrückt, d.h. die eigentlichen Gegensätze werden nicht gelöst, sondern durch Oktroyierung der Ziele der Einzelgesellschaften (ζ. B. Ausnutzung der D N Ä als pressure-group) zurückgedrängt. Erst i n der letzten Etappe der zweiten Konfliktphase t r i t t eine Konfliktregelung durch Zielabgrenzung (Arbeitsteilung) ein. Die Naturforscherversammlung desintegriert und reduziert ihre Funktionen auf bloße Allgemeinsitzungen, während die Fachgesellschaften die „leere Hülse" der D N Ä abstoßen und selbst als Mutter neuer Untereinheiten auftreten (ζ. B. Sekundärabspaltung).

u Ibid., S. 218 ff. „ Z i e l " ist i m Folgenden identisch m i t „ Z i e l der U n t e r einheit". Dahrendorf geht allerdings speziell auf Zielkonflikte nicht ein, so daß w i r hier die Begründung der Konflikte durch Änderungen der Zielkonstellation von Untereinheit u n d Gesamtorganisation hinzufügen müssen. Auch seine Konfliktetappen haben w i r hier weiter differenziert. Die ersten drei „Etappen" dieser Konfliktanalyse implizieren auf höherer Allgemeinheitsstufe die Anpassungs-, Unruhe- u n d Trennungsphasen, die w i r weiter unten speziell anhand der Abspaltung der pathologischen Gesellschaft darstellen werden.

2. Gesamttheoretisches Rahmenmodell

19

2. Gesamttheoretisches Rahmenmodell Zur Erörterung der Bildung der Sekundärdifferenzierung innerhalb der D N Ä werden w i r den konflikttheoretischen Ansatz von Selznick/ Dahrendorf mit dem historischen Ungleichgewichtsmodell von Smelser verbinden. Die Rolle der Wissensdiffusion i m Rahmen der D N Ä Sektionen und der verselbständigten Gesellschaften werden w i r m i t Hilfe von Luhmanns Reduktionstheorie erläutern. A l l e vorgenannten Ansätze sollen i m Rahmen des folgenden Modells zur Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Naturforschergesellschaft herangezogen werden: Genetisch-kausales Schaubild

PrimärdiffeFormalisierenzierung — • rung (Koordinierung, (Sektionen) Reform) \ Λ

Wachstum der Wissenschaft

\

V Außenlenkung der Organisationsziele — und der Primärdifferenzierung

Desintegration (Entdifferenzierung)

Ψ

akkumulation

SekundärKonflikte differenUntereinheit vs. Gesamt- - - zierung (Fachgeorganisation sellschaf(Ungleichten als „Oriengewicht) tierungshilfe")

> Untersuchte Zusammenhänge, Ausprägung der Variablen Ausgehend von der unabhängigen Grundvariable „Wachstum der Wissenschaft" (deren Interdependenz m i t den Universitäten unberücksichtigt bleibt), werden w i r deren doppelte Ausprägung i m Wissensund Sozialsystem i n Beziehung setzen zur Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Dabei werden w i r von der Annahme geleitet, „daß bei der Ausdehnung der medizinischen (und naturwissenschaftlichen) Wissenschaften der Uberblick und die Beherrschung des Gesamtgebietes nur mehr 2*

20

II. Theoretische Problemstellung

durch die Zusammenarbeit von Fachgenossen (also Spezialisierung) ermöglicht w i r d " 1 2 . Bei der Untersuchung der organisationsinternen Konfliktgründe für die Abspaltung der Gesellschaften finden w i r diese Annahme durch die wiederholte Betonung des „Bedürfnisses" zur Bildung einer Gesellschaft und die daraus resultierende Suche nach wissenschaftsspezifischer Umgebung bestätigt. Kennzeichnend ist folgende Ansprache von Olshausen am Gründungstag der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie: „Meine Herren! Ihr zahlreiches Erscheinen hier, die große Zahl der angemeldeten Vorträge und neuer Mitglieder beweist, daß die Gründung unserer Gesellschaft einem Bedürfnis entsprang und mächtig beizutragen verspricht zur Förderung unseres Faches. Niemand fürchtet heute mehr, daß unser Fach nicht hinreichend Stoff für einen Spezialkongreß biete, oder daß die Zusammenschließung i n einem solchen die Gefahr einer Isolierung von den übrigen Gebieten der Medizin involviere 1 3 ." Das interdependente Wachstum von Personenzahl und wissenschaftlichen Aussagen der Naturwissenschaften w i r d aus der Sicht Smelsers als „sich wandelnde historische Umstände" gedeutet, denen sich die D N Ä durch Differenzierung und Formalisierung ihrer Struktur anzupassen sucht. Während das Ansteigen der Mitgliederzahlen und andere Faktoren 1 4 zu einer 500 °/oigen Zunahme der Sektionsdifferenzierung führte, wurde vor allem durch die exponentielle Wissensakkumulation ein zweiter Differenzierungsprozeß innerhalb der D N Ä eingeleitet, der sich i n der Entstehung dauerhafter wissenschaftlicher Spezialorganisationen (Fachgesellschaften) manifestierte. Das dabei hervorgerufene organisationsinterne Ungleichgewicht, das sich für Smelser als „sozialer Aufruhr" darstellt, werden w i r als Variante des Zielkonflikts zwischen Untereinheit (Spezialdisziplin) und Gesamtorganisation analysieren, wie er von Selznick allgemein diskutiert wird. Dabei zeigt sich, daß es zunächst zur eigenständigen Zieldefinition innerhalb der Sektionen kommt; daß anschließend eine Zielabgrenzung und Zielauslagerung i n Fachgesellschaften eintritt; daß eine teilweise Rücklagerung der Gesellschaftsziele i n die D N Ä zu beobachten 12 Neuburger, M a x : „Die Entwicklung des wissenschaftlichen Vereinswesens u n d seine Bedeutung f ü r den medizinischen Fortschritt", Wiener Klinische Wochenschrift, 1937; S. 669. I n : Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft f ü r Gynäkologie, Halle 1886; S.4. 14 Vgl. Pfetsch, F r a n k & Zloczower, A v r a h a m : Innovation u n d Widerstände i n der Wissenschaft, Düsseldorf 1973.

3. Funktionsanalyse und Ergebnisübersicht

21

ist; daß schließlich die Desintegration der D N Ä den Prozeß der Ausdifferenzierung von Fachgesellschaften beendet. Der Lebens- und Leidensweg einer wissenschaftlichen Institution von ihrer Entstehung bis zur Desintegration aufgrund ungenügender A n passungsfähigkeit wurde unter ähnlichen Gesichtspunkten von Roger Hahn anhand der Pariser Académie des Sciences untersucht 15 . Während i m ersten Jahrhundert ihres Bestehens die Akademie ihre wissenschaftliche Aufgabe i n der Diffusion und Produktion neuen Wissens sah 16 , verlor sie nach vergeblichen Reformversuchen i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Druck der „scientific revolution" beide Funktionen an Forschungsinstitute und wissenschaftliche Fachgesellschaften 17 . Ihre Funktion beschränkte sich zunehmend auf die Wiedergabe ausgewählter wissenschaftlicher A r t i k e l i n einem „receuil classique et choisi", womit sie den wissenschaftlichen Fortschritt nicht länger bestimmte, sondern lediglich zur Kenntnis nahm. "Considered as the nerve center of science, the Academy now has passed through its f u l l life cycle from b i r t h to fossilization 18 ." Der D N Ä sollte ein ähnliches Schicksal widerfahren.

3. Funktionsanalyse und Ergebnisübersicht Der Vorgang der Abspaltung von Fachgesellschaften infolge interner Konfliktbildung innerhalb der D N Ä w i r d i m folgenden als prototypischer sozialer Prozeß der Entwicklung einer wissenschaftlichen Organisation durch zunehmende Differenzierung ihrer Untereinheiten aufgefaßt. Er exemplifiziert die Abhängigkeit des Fortschritts der Wissenschaft von der Innovationsbereitschaft ihrer Institutionen und umgekehrt. Der Differenzierungsprozeß der Wissenschaft ist das Ergebnis des komplementären Verhältnisses von akkumuliertem Wissensbestand einerseits und institutioneller Innovationsbereitschaft andererseits. Ist die erste Bedingung nicht erfüllt (wegen der „Jugend" der Wissenschaft), so t r i t t m i t hoher Wahrscheinlichkeit auch die zweite nicht ein. Da es sich u m eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung handelt (es kommen außerwissenschaftliche Faktoren hinzu), ist das „ A l t e r " einer Wissenschaft freilich keine Garantie für ihre Institutionalisierung. Hahn, Roger: The A n a t o m y of a Scientific Academy of Sciences, 1666- 1803; Berkeley 1971. ie Ibid., S. 3. 17 Ibid., S. 306, 317. " Ibid., S. 312.

Institution. The

Paris

22

II. Theoretische Problemstellung

Gemäß dieser These müssen w i r immer zwei Aspekte i m Auge behalten, wenn w i r den Prozeß der Entstehung und Fortentwicklung wissenschaftlicher Disziplinen verfolgen: erstens den der Theorie. Methode und logischen Struktur einer Disziplin (Wissenssystem) und zweitens den Gesichtspunkt ihrer Institutionalisierung i n der Primäroder Sekundärorganisation des wissenschaftlichen Sozialsystems 19 . Die Institutionalisierung einer Disziplin i n der Primärorganisation der Wissenschaft, d. h. ihre Vertretung durch eine Privatdozentur oder einen Lehrstuhl an der Universität, werden w i r i n dieser Arbeit weitgehend außer acht lassen 20 . Die wachsende Produktion naturwissenschaftlichen Wissens, wie sie primär in den Laboratorien, Instituten und Seminaren der Universitäten stattfindet, w i r d als gegeben betrachtet und ihre Auswirkung auf die Sekundärorganisationen untersucht, die das so produzierte Wissen unter die scientific community verteilen ( = Diffusion) und auf diese Weise ihrerseits zur Vorbereitung und Anregung weiterer Wissensproduktion beitragen. Diese von der Wissensproduktion separat institutionalisierte Wissensdiffusion i m face-to-face Kontakt der Wissenschaftler ist das historische Resultat eines langwierigen Prozesses funktionaler Ausdifferenzierung: Die Diffusionsfunktion verlagerte sich zunächst von den Akademien i n die Naturforscherversammlungen, und wurde schließlich von den Fachgesellschaften einzelner Disziplinen übernommen. Dieser historische Werdegang institutioneller Spezialisierung, der auf dem Weg zur völligen Verselbständigung sowohl die Lehr- wie Produktionsfunktion der Wissenschaft „abschüttelte" und die Diffusionsfunktion autonom institutionalisierte, lief mit dem rasch ansteigenden naturwissenschaftlichen Wissenspegel parallel. Von der Zeit der Privatkorrespondenz (vor 1600) über die Verknüpfung von Forschung und Diffusion (in den Akademien des 17. Jhs.) bis zur Errichtung der ersten selbständigen Diffusionsgesellschaften auf nationaler Ebene (Ende 18., beginnendes 19. Jh.) hat sich der Wissensbestand exponentiell vervielfacht. Zur Verbreitung neuer Forschungsergebnisse und zur Erleichterung weiterer Wissensakkumulation bot sich i m 19. Jahrhundert der Zusammenschluß interessierter Fachleute 21 i n Dachgesell19 Die Begriffe „ P r i m ä r - " u n d „Sekundärorganisation" w u r d e n übernommen von: Parsons, Talcott u n d Platt, Gerald: "Considerations on the A m e r i can Academic System", Minerva, vol. V I , No. 4, 1968; S. 506. 20 Z u r Institutionalisierung von Innovationen i n Universitäten vgl. die vier Modelle von Clark, Tery N.: "Institutionalization of innovations i n Higher Education: Four Models", Administrative Science Quarterly, Vol. 13, No. 1, June 1968; S. 1 - 25. 21 Allgemein hat die F u n k t i o n solcher Zusammenschlüsse Otto von Gierke beschrieben i n : Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, B e r l i n 1868.

3. Funktionsanalyse und Ergebnisübersicht

23

schaften an, die eine gegenseitige Befruchtung und Ergänzung der i m Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindlichen Einzeldisziplinen ermöglichten. Eine soziologische Gesamtschau der Entwicklung der Naturforschergesellschaft von 1822 bis 1914 muß sich als „evolutorische Funktionsanalyse" einer sich wandelnden wissenschaftlichen Sekundärinstitution verstehen 22 . Dazu bietet sich ein Vergleich i m Kontext m i t der Funktionsentwicklung der Primärinstitution Universität an. Es war sicherlich kein Zufall, daß nur wenige Jahre nach Errichtung der Humboldt-Universität i n Berlin eine Organisation gegründet wurde, deren Ziele gleichfalls dem Geist des Idealismus entstammten und eine Reform der Wissenschaften anstrebten. Freilich lagen diese Ziele auf verschiedenen Ebenen und beschränkten sich bei der Naturforscherversammlung auf den Bereich von Naturwissenschaft und Medizin. Während die Humboldt-Universität Bildung durch Wissenschaft vermitteln wollte und zur Verwirklichung dieses Ziels „Einsamkeit und Freiheit" als ihre „soziale Grundformel" institutionalisierte 2 3 , trug die Naturforsch er ver Sammlung zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse durch Institutionalisierung der „Geselligkeit" von Fachgenossen i n spezialisierten Sektionen bei. Allgemein ausgedrückt: So wie sich die Ziele beider wissenschaftlicher Institutionen ergänzten, indem die eine die Ergebnisse der anderen verbreitete, so komplementierten sich ihre sozialen Normen durch vorübergehende Aufhebung der Vereinzelung des einsam produzierenden Forschers i m Zusammenwirken m i t Kollegen zum Zwecke gegenseitiger Anregung. Professoren und Privatgelehrte sämtlicher deutscher Universitäten, die oft nicht einmal an der eigenen Universität wissenschaftlichen Kontakt m i t den Kollegen benachbarter Disziplinen pflegten, oder daran durch das Lehrstuhlprinzip gehindert wurden, trafen sich zwanglos auf den Naturforscherversammlungen zum Gedankenaustausch über gemeinsame Forschungsprobleme. Rudolf Leubuscher hat die Notwendigkeit der Ergänzung dieser beiden wissenschaftlichen Sozialnormen herausgestellt: „Das wissenschaftliche Denken und Arbeiten ist, als ein selbständiges, zuerst ein einsames, aber der einsame Gedanke bedarf, um sich groß zu ziehen, des anregenden, des erläuternden Einflusses anderer, er gewinnt erst eine rechte Bedeutung, wenn er, von Anderen aufgenommen, dem Produzierenden objektiv entgegentritt 2 4 ." So trugen die sozialen Gegen22 Die folgende Darstellung läßt sich von Helmut Schelskys „Funktionsanalyse der Universität" (Kap. 18 i n „Einsamkeit u n d Freiheit") leiten. Die Begriffe „ F u n k t i o n " u n d „ Z i e l " werden i m Folgenden synonym benutzt. 2 3 Schelsky, S. 55/56. 24 Leubuscher, R.: Die Associationen der Ärzte. I n : Die medizinische Reform, No. 28, 12. Jan. 1849, S. 178 f. Zitiert nach H e l m u t Siefert, S. 15.

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II. Theoretische Problemstellung

pole Einsamkeit und Geselligkeit als „Sozialideen" (Schelsky) verschiedener Institutionen zunächst gemeinsam zum erfolgreichen A u f schwung der deutschen Wissenschaften i m 19. Jahrhundert bei. Als neue Lebensformen mußten sich beide von den „vorhandenen sozialen Rollen polemisch abgrenzen", u m sich erfolgreich gegen ihre „Gegner" durchzusetzen 25 . Während die Sozialidee der Humbolduniversität gegen das „akademische Bergwerk" der Aufklärung m i t ihrem Nützlichkeitsideal gerichtet war, mußte sich die Naturforscherversammlung „polemisch" gegen die veralteten Strukturen der Leopoldina abgrenzen. Es scheint, daß eine solche agressive Verwirklichung neuer Sozialformen der Trägerschaft durch eine eng zusammengehörige Ingroup bedarf, da sowohl die Gründergruppe der Berliner Universität u m Humboldt, Schleiermacher, Schelling und Fichte als auch die 21 Gründer der Naturforscherversammlung u m Oken und Schwägrichen 2 * i n sozialer und intellektueller Hinsicht wichtige, handlungsrelevante Gemeinsamkeiten aufweisen. Die moderne Organisationssoziologie betont als Voraussetzung für den Erfolg von Organisationsgründen besonders zwei Aspekte, die darauf Bezug nehmen: erstens müssen die Gründer alternative Handlungsformen finden oder erlernen, die vorhandene Arrangements durch bessere ersetzen können, die sich aber nicht leicht i n der gegebenen sozialen Umwelt verwirklichen lassen; zweitens müssen sie ihre Gegner erfolgreich bekämpfen können, besonders jene, deren „vested interests" sich mit den alten Strukturen verknüpfen 2 7 . Zur Gründungszeit bestand die Hauptfunktion der D N Ä i n der Zusammenfassung aller naturwissenschaftlicher und medizinischer Bestrebungen, die sich i n ihren Allgemeinsitzungen widerspiegelte. I n den ersten sieben Jahren ihres Bestehens ist die Einrichtung spezialisierter Sektionen daher nicht vorgesehen, zumal sich die meisten Disziplinen der Naturwissenschaften noch i n einem relativ primitiven Entwicklungsstadium befanden. Dieser Zustand entspricht dem der „Funktionseinheitlichkeit" der klassischen Universität i m 19. Jahrhundert. 25

Schelsky, S. 54; zu Okens polemischen Attacken gegen die Leopoldina, vgl. Isis, Heft 111, S.364f. 26 Vgl. die Gründerliste bei Zaunick, R.: „ Z w e i Briefe Lorenz Okens v o m J u n i 1821 an den Leipziger Biologen Friedrich Schwägrichen i m Rahmen der Dokumente zur Vorgeschichte der Leipziger Gründungstagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte, Nova Acta Leopoldina, N. F. 29, S. 56. 27 Vgl. Stinchcombe, A r t h u r L . : Social Structure and Organizations, i n : Handbook of Organizations, S. 146.

3. Funktionsanalyse und Ergebnisübersicht

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Während die Mehrzahl der Sozialgebilde des 19. Jahrhunderts (Familie, Gemeinde etc.) i n einer zunehmend komplexeren Gesellschaftsstruktur mehr und mehr Funktionen an eigenständige neue Organisationen abgeben, stellt Schelsky für die Entwicklung der Universitäten i m 19. Jahrhundert eher eine „Funktionsbereicherung" fest, die sich aus der normativen K r a f t der Leitbilder „Einheit der Wissenschaft" und „Einheit von Forschung und Lehre" erklären läßt. Eine Funktionsbereicherung t r i t t i m 19. Jahrhundert auch i n der Naturforscherversammlung auf, denn neben sozialen und repräsentativen Aufgaben integriert sie zunächst informell alle neu entstehenden Disziplinen und Spezialgebiete der Naturwissenschaft und Medizin i n den Katalog ihrer Sektionen, ohne organisatorische Kontrollen einzubauen. Als Folge der expandierenden Primärdifferenzierung w i r d der institutionelle Zusammenhang der D N Ä einem immer stärkeren „Spaltungsdruck" ausgesetzt, so daß es schließlich zur Verselbständigung sich differenzierender Funktionen i n den Einzelgesellschaften kommt. Schelsky hat diesen Vorgang analog für die Universitäten m i t folgenden Worten beschrieben: „Unter Differenzierung und Verselbständigung der Funktionen verstehen w i r dabei den Vorgang, daß sich ehemals einheitlich und unter einer ganzheitlichen Zielvorstellung vollzogene institutionelle Tätigkeiten i n Teilprozesse aufspalten, die jeweils ihr eigenes normatives Leitbild entwickeln, bewußt als Vorgang eigener Sachgesetzlichkeit organisiert und vollzogen werden und daher die Tendenz haben, ein eigenes . . . eingespieltes Personal zu beanspruchen 28 ." W i r werden zeigen, daß sich die Abspaltung wissenschaftlicher Fachgesellschaften von der Naturforscherversammlung unter ähnlichen Prozessen der Entwicklung autonomer Zielvorstellungen und Rekrutierung eigenen Personals mit der Folge eines DNÄ-internen Reformversuchs vollzog. Nach weitgehender Abgabe ihrer Primärfunktion, der Diffusion neuer Forschungsergebnisse, an die Einzelgesellschaften, versuchte die D N Ä durch Strukturreform und Funktionsänderung dem Schicksal der Desintegration zu entgehen. Vorübergehend schien die Reform zu gelingen, d. h. eine restliche Diffusionsfunktion blieb erhalten, da die organisationsinterne Koordinierungstendenz auf die Bereitwilligkeit der Fachgesellschaften traf, die Naturforscherversammlung ausschließlich i n ein Forum der Kooperation mit Nachbardisziplinen umzufunktionieren. 28 Schelsky, S. 202.

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II. Theoretische Problemstellung

Gleichzeitig zog die D N Ä neue Ziele an sich, u m einer neuen, von Fachgesellschaften geprägten Umgebung Rechnung zu tragen. Sie diente den wissenschaftlichen und standespolitischen Fachorganisationen als Vehikel und wissenschaftspolitischer Einigungspunkt. I n dieser Phase der „Außenlenkung" wurde die Einflußnahme der Fachgesellschaften auf Primärdifferenzierung und Organisationsziele der D N Ä institutionalisiert. Das zunehmende Gewicht und die erworbenen Erfahrungen des Eigenlebens der Fachgesellschaften führten schließlich zum fast völligen Funktionsverlust der D N Ä : Sektionstagungen, standes- und wissenschaftspolitische Interessenvertretung, Geselligkeit und Publikationen, alle disziplinspezifischen Tätigkeiten wurden von den Fachgesellschaften übernommen. Die D N Ä desintegrierte, ähnlich wie es Schelsky für die Universitäten voraussagt 29 , und schrumpfte i n ihrer Hauptfunktion auf die Abhaltung relativ unbedeutender Allgemeinsitzungen zusammen. Nach über einem Jahrhundert eindrucksvoller wissenschaftlicher Aktivitäten vollzog sich die Regression der D N Ä auf ihre Ausgangslage: ihre Bedeutung erschöpft sich heute wie zur Gründungszeit i m bloßen Versuch der Wahrung der Einheitlichkeit der Wissenschaft. Was freilich vor 150 Jahren sinnvoll war, w i r k t heute eher archaisch. Vom Stadium der Nichtdifferenzierung (Funktionseinheitlichkeit) führte der Weg für Universität und Naturforscherversammlung über die Phase der Primärdifferenzierung (spezialisierte Institute/Sektionen) und Sekundärdifferenzierung (Abspaltung der Fachgesellschaften/MaxPlanck-Institute) zur Phase der Entdifferenzierung bzw. Desintegration. Für die D N Ä haben w i r vier Etappen des stufenweisen Funktionsverlustes ab Ende des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet: — Stärkere Betonung der Allgemeinsitzungen gegenüber den Sektionssitzungen — Anerkennung Aktivitäten

des Einflusses

der

Fachgesellschaften

auf

DNÄ-

— Bildung einer eigenständigen Dachgesellschaft für die Fachgesellschaften — Aufgabe der spezialisierten Sektionssitzungen.

2» Ibid., S. 243 ff.

I I I . Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft

Eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte ist bisher weder aus ideenhistorischer noch organisationssoziologischer Sicht versucht worden. Eine Anzahl von Einzelberichten über spezielle Versammlungen oder Vorgänge i n der D N Ä sind von Medizinhistorikern verstreut über verschiedene Fachzeitschriften oder i n Dissertationen, Sammelbänden und Festschriften erstellt worden 1 . Die bisher ausführlichste Materialsammlung stammt von Heinz Degen, der seit Beginn der 50er Jahre regelmäßig über bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse der Naturforscherversammlung i n der „Naturwissenschafliehen Rundschau" berichtet. Er ist der einzige, der sich bereits i n drei A r t i k e l n explizit die Beschreibung der Abspaltung einzelner Fachgesellschaften von der D N Ä zum Thema gestellt hat 2 . Ähnlich wie sich die Reform der deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts durch die 1809 gegründete Humboldt-Universität nicht i m Rahmen der alten Wissenschaftsideen vollziehen konnte, sondern über diese hinausgreifend etwas „Einmaliges und Zukunftweisendes" 3 b i l den sollte, kann die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte als Neugründung verstanden werden, die an die Stelle der Reform der seit 1652 bestehenden Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) trat. Wie zukunftweisend die von Lorenz Oken 1822 i n Leipzig konstituierte Gesellschaft gewesen ist, zeigt schon die Tatsache, daß sie (bis 1914)) direkt oder indirekt als Vorbild für die Gründung von fünfzehn 1 Vgl. die ausführliche Bibliographie i n : Schipperges, Heinrich (Hrsg.): Die Versammlung Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i m 19. Jahrhundert, Nr. 12, Schriftenreihe der Bezirksärztekammer Nord Württemberg, Stuttgart 1968, sowie die Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Naturforscherversammlung: Wege der Naturforschung 1822 - 1972, Springer-Verlag, B e r l i n 1972 (Hrsg. Hans Querner u n d Heinrich Schipperges). 2 Degen, Heinz: „Rudolf Virchow und die Entstehung der Deutschen Gesellschaft f ü r Anthropologie", Naturwissenschaftliche Rundschau (NWR), Jg. 21, Okt. 1968; ders.: „Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte als Keimzelle Naturwissenschaftlicher u n d Medizinischer Vereinigungen", NWR, Jg. 19, Sept. 1966; ders.: „Die Entstehung der Deutschen Botanischen Gesellschaft", NWR, Jg. 27, Sept. 1974. 3 Schelsky, H e l m u t : Einsamkeit u n d Freiheit, Bertelsmann Universitätsverlag 1971, S. 53.

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III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft

weiteren „Naturforscherversammlungen" i n verschiedenen Ländern diente: England (1831), Frankreich (1833, 1872), Italien (1839, 1907), Skandinavien (1839), Ungarn (1841), USA (1847), Rußland (1861), Polen (1869), Tschechei (1880), Australien (1888), Südafrika (1901), Spanien (1908), Indien (1914)4. Vergleiche speziell mit der englischen „Association" werden uns später mitunter zum Beleg allgemeiner Thesen dienen. Die 1652 i n Schweinfurt gegründete „Academia Naturae Curiosorum" war u m die Jahrhundertwende nach Meinung eines ihrer Adjunkten, des Chemieprofessors Johann S. C. Schweigger, der Reform bedürftig, so daß er i m Oktober 1818 seine „Vorschläge zum Besten der Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher" veröffentlichte, m i t dem Plan zur Abhaltung von „akademischen Versammlungen der Naturforscher Deutschlands" 5 . Sein Ziel war keine Neugründung, sondern eine Erneuerung der Leopoldina durch die Schaffung eines wissenschaftlichen Vereinigungspunktes. Der Präsident der Leopoldina, Nees von Esenbeck, beklagt sich dennoch i n einem Brief an Schweigger, „daß I h r Vorschlag die Akademie als solche vernichtet, und etwas an ihre Stelle setzt, was vielleicht besser sein mag als sie — ich w i l l darüber nicht absprechen, sich aber doch erst bewähren muß. Was m i t Umgestaltung anfängt, endet gewöhnlich m i t Zerstörung . . A " Ob es persönliche Schwierigkeiten zwischen v. Esenbeck und Schweigger oder Probleme der Öffentlichkeitsarbeit waren, die eine solche Reform verhinderten, ist nicht mehr feststellbar; jedenfalls kommt die von Schweigger 1820 geplante Versammlung nicht zustande. Nach einem erneuten Vorschlag zur Gründung einer zweijährigen Wanderversammlung durch Bojanus i n der „Isis" 1819 greift Oken die Gründungspläne auf und propagiert sie weiterhin i n der von i h m herausgegebenen Zeitschrift „Isis". Oken orientierte sich dabei weitgehend am Vorbild der 1815 gegründeten „Allgemeinen Schweizerischen Gesellschaft für die gesamten Naturwissenschaften" sowie an dem bereits 1801 fehlgeschlagenen Versuch der Gründung eines vaterländischen Vereins der Naturforscher Schwabens7. 4 Die Gründungs- u n d Funktionszusammenhänge der verschiedenen nationalen Naturforschergesellschaften werden von m i r untersucht i n : "The Associations for the Advancement of Science i n the 19th Century: A comparative Study" (in Vorbereitung). 5 Vgl. den A r t i k e l von Zaunick, Rudolf i n : Nova Acta Leopoldina, N. F. Nr. 171, Bd. 29; 1964. β Nova Acta Leopoldina, N . F . Nr. 171, Bd. 29, 1964; S. 26. 7 I n der Spezialliteratur bisher unerwähnt bleibt eine These von Sauer, daß Oken eine Idee Graf Kaspar Sternbergs, eines Gründungsmitgliedes, zur A b h a l t u n g regelmäßiger Zusammenkünfte der Botaniker „ i n größerem S t i l " aufnahm, u n d daher Sternberg als „Anreger der Versammlungen deutscher Naturforscher u n d Ärzte" anzusehen ist. (Bericht über die am 4. März

III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft Als Oken 1822 den Vorsitz der ersten Tagung der Naturforscher i n Leipzig übernimmt, hat er 21 Gründungsmitglieder u m sich versammelt. Die „Idee" der neuen Organisation, die sich gegen die alte Institution der Leopoldina durchzusetzen hatte, bestand i n der Vorstellung, daß der Fortschritt der Wissenschaften durch Ideenaustausch und gegenseitige Anregungen der Wissenschaftler am besten gefördert werde, denn der einzelne Forscher „bleibt gewöhnlich i m engen Kreis seiner Arbeit, i n die er anfänglich geraten ist, lebenslänglich stecken, weil es i h m an Anregungen fehlt" 8 . Die primäre Funktion der Naturforscherversammlung kann i n der Tat als Diffusion neuen Wissens gekennzeichnet werden. Die auf den Tagungen ab 1828 i n fachspezifischen Sektionen versammelten Wissenschaftler erhielten Anregungen für weitere Arbeiten durch Aufnahme und Verarbeitung der neuesten Forschungsresultate ihrer Disziplinen. Als Beispiel mag die Quantentheorie dienen, die ebenso wie die Relativitätstheorie ihre schnelle Verbreitung und Anerkennung den Versammlungen der Naturforscher zu verdanken hat: „Das entscheidende Forum, vor dem Quanten- und Relativitätstheorie ihre Bewährungsprobe zu bestehen hatten, waren i m ,goldenen Zeitalter der deutschen Physik' die Versammlungen der Deutschen Naturforscher und Ärzte 9 ." Sowohl Einstein wie Planck referierten ihre Ergebnisse auf den Versammlungen, und erst mit Einsteins A u f t r i t t auf der Salzburger Naturforscherversammlung 1909 „trat das Quantenproblem erstmalig i n das helle Rampenlicht der physikalischen Bühne" 1 0 . Über 100 Physiker aus der ganzen Welt waren bei diesem Vortrag anwesend, unter ihnen die Kapazitäten der deutschen Physik wie Hahn, v. Laue und Hallwachs. Einsteins Referat über Wesen und Konstitution der Strahlung „beeindruckte die Hörer, zumindest die jüngeren, gewaltig" 1 1 . Auch i n anderen Disziplinen wurden hervorragende Entdeckungen erstmalig auf den DNÄ-Versammlungen vorgetragen 12 . Aus dieser Funktionsbestimmung (Diffusion) folgt, daß die Naturforscherversammlung auf die Akkumulation neuen Wissens m i t der 1901 von der Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, K u n s t u n d L i t e r a t u r i n Böhmen aus Anlaß ihres 10jährigen Bestandes abgehaltene Festsitzung; Festvortrag von August Sauer, Prag 1901; S. 33.) β Oken i n der „Isis" 1821; zitiert i n Nova Acta Leopoldina, N. F. Nr. 171, Bd. 29, 1964; S. 40. 9 Hermann, A r m i n u n d Benz, Ulrich: „Quanten- u n d Relativitätstheorie i m Spiegel der Naturforscherversammlungen 1906 - 1920", i n : Wege der Naturforschung (Hrsg. Querner u n d Schipperges), S. 125. 10 ibid., S. 130. u Ibid., S. 130. 12 Ibid., vgl. die A r t i k e l von Rudolph, Gerhard zur Physiologie u n d von Krätz, Otto zur Chemie.

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III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft

Wandlung ihrer Diffusionsmechanismen reagieren mußte. Wollte sie eine Verbreitung der neuesten Forschungsergebnisse unter die relevante „scientific community" ermöglichen, so mußte sie notwendig ihre Strukturen an die sich wandelnden historischen Umstände anpassen und permanente Änderungsprozesse durchmachen. Dazu dienten ihr i m Gegensatz zur Leopoldinischen Akademie sowohl die Primärdifferenzierung i n Sektionen wie die Sekundärdifferenzierung i n einzelne Fachgesellschaften. Eine skizzenhafte Gegenüberstellung der veralteten Vorstellungen und Strukturen der Leopoldina einerseits und der neuen Funktion der Naturforscherversammlung andererseits, verdeutlicht die Unterschiede beider Organisationstypen 13 : — Die Mitgliedschaft der Leopoldina war praktisch auf Ärzte beschränkt. Die D N Ä vereinigte Ärzte und Naturwissenschaftler aller Zweige. — Die Leopoldina beschränkte sich i n ihren Forschungsanregungen auf die enge Korrespondenz zwischen ihren Mitgliedern, veranstaltete aber keine gemeinsamen Sitzungen. Die D N Ä bot durch ihre Wanderversammlungen den Wissenschaftlern Gelegenheit zu persönlichem face-to-face-Kontakt auf den allgemeinen Sitzungen ebenso wie auf den Sektionssitzungen. — Die Leopoldina hatte weder den Vorteil eines festen Wohnsitzes noch den einer Wanderversammlung: sie wechselte ihren Sitz m i t dem Wohnort des jeweiligen Präsidenten. Die D N Ä hingegen konnte die wissenschaftlichen Institute, Obervatorien, Museen und sonstigen wissenschaftlichen Hilfsmittel des gesamten Deutschland und Österreich nutzen, indem sie ihre jährlichen Wander Versammlungen i n die wissenschaftlich attraktiven Orte verlegte. — Das größte wissenschaftliche Plus der Leopoldina, die Veröffentlichung von Forschungsberichten ihrer Mitglieder i n den „Miscellanea Curiosa", die sich m i t dem Journal des Savants der Académie des Sciences messen konnten, signalisiert gleichzeitig ihr größtes Minus: Sie sammelte lediglich abgeschlossene Arbeiten ein, ohne selbst die Richtung der Forschung innovativ anzuregen. Die D N Ä diente durch ihre Sektionsvorträge demgegenüber als Anreger par excellence, und eine Anzahl neuer und bedeutender Forschungs-

13 Z u r F u n k t i o n der Leopoldina vgl. Ornstein, M a r t h a : "The rôle of scientific societies i n the 17th century", Ph. D. — Dissertation, Columbia University, New Y o r k 1913. (Reprint 1963.)

III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft ergebnisse (u. a. von Helmholtz, Siemens und Virchow) wurde zum ersten M a l auf den Naturforscherversammlungen vorgetragen 14 . Insgesamt läßt sich feststellen, daß m i t der D N Ä eine von den Nachteilen der Leopoldina unbelastete, moderne und flexible Wissenschaftsorganisation ins Leben tritt, die zur ideellen Förderung der Naturwissenschaften weitaus besser geeignet war. Die sozialen Merkmale der 21 Gründer der Naturforscherversammlung lassen vermuten, daß es sich bei ihnen u m eine relativ homogene, kohärente In-group handelt, Der 1822 versammelte Gründerkreis spiegelt die für Deutschland damals typische Beherrschung der Naturwissenschaften durch die von Schelling begründete Naturphilosophie wider 1 5 . Der Initiator Lorenz Oken, bis 1819 Professor für Naturgeschichte an der Universität Jena, wegen seiner liberalen politischen Eskapaden (er nahm u. a. 1817 aktiv am Wartburgfest teil) und polemischen „Isis"-Sprache i m gleichen Jahr seines Lehrstuhls enthoben, gilt neben Steffens als einer der hervorragendsten deutschen Vertreter der Naturphilosophie 16 . Die Mehrheit der 21 DNÄ-Gründer neigte ebenfalls dieser Philosophie zu. Diese gemeinsame wissenschaftsphilosophische Grundanschauung sowie die langjährige persönliche und wissenschaftliche Bekanntschaft der meisten Gründer als Mitglieder der Leopoldina sind nur zwei Indizien des festen Zusammenhalts der Gründergruppe. Hinzu kommen das relativ geringe Durchschnittsalter von 41 Jahren (inkl. zwei Jungpromovierte und ein Privatdozent von 28/29 Jahren), gemeinsame biographische Daten (die Mehrheit ist i n Leipzig ansässig und promovierte i n Leipzig), sowie eine überraschend hohe Rekrutierung aus der etablierten Schicht der Hofärzte und ordentlichen Professoren. Oken trennte sich bald von den Versammlungen, die er für zu laut und anonym hielt, und an seine Stelle t r i t t ab 1828 Alexander von Humboldt. Damit ist auch für die Naturforscherversammlung der Übergang von der Naturphilosophie zur Experimentalwissenschaft symbolisiert, der sich i n der Struktur der D N Ä durch Einführung 14

Eine Zusammenstellung aller auf den allgemeinen Versammlungen der D N Ä gehaltenen Vorträge bis 1914 findet sich i n der Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen Deutscher Naturforscher u n d Ärzte, Bd. 1 : Die Vorträge der allgemeinen Sitzungen auf der 1.-85. Versammlung 1822 bis 1913. Zusammengestellt v o n Hermann Lampe u n d Hans Querner, Hildesheim 1972. 15 Vgl. Degen, Heinz: „Die Gründungsgeschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte", NWR, Jg. 8, Heft 12, 1955. 16 Z u Okens Biographie vgl. verschiedene Beiträge von Pfannenstiel, Max, vor allem sein Büchlein: Lorenz Oken. Sein Leben u n d Wirken., Freiburg 1953. Über Okens Auseinandersetzung m i t Goethe u n d dem Großherzog K a r l - A u g u s t berichtet u.a. Härtung, F r i t z : Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung K a r l Augusts 1775- 1828, Weimar 1923; S. 322 ff.

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III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft

spezialisierter Sektionen niederschlägt. Der nun folgende Aufschwung der Naturforscherversammlung, das Anwachsen der Sektionszahl von anfänglich 7 (1828) auf maximal 41 (1894), der starke Zustrom von Teilnehmern 1 7 , der 1886 auf über 4000 ansteigt, sowie ihre wachsende Bedeutung als Mutter sich abspaltender Fachgesellschaften sind eindeutige Indikatoren des Beitrags der Naturforscherversammlung zum Entstehen des neuen deutschen wissenschaftlichen Weltzentrums: "The persevering efforts of Alexander von Humboldt and the growing success of the meetings of the Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte did much to advance this development, which, by the middle of the century, was to make Germany, though politically still divided, the most active centre of Western science 18 ." A u f den i n der Mehrzahl i n Universitätsstädten abwechselnd i m Süden und Norden Deutschlands abgehaltenen DNÄ-Versammlungen wurden je nach Bedarf für die teilnehmenden Wissenschaftler Sektionen (ab 1890: Abteilungen) eingerichtet, i n denen die spezialisierten wissenschaftlichen Vorträge und Diskussionen stattfanden. Innerhalb der Sektionen herrschte wissenschaftliche Meinungsfreiheit, zumal i n einer Zeit allgemeiner Restauration keinerlei politische Themen angeschnitten wurden. I n einem Buch, das bisher i n der DNÄ-Literatur nur wenig berücksichtigt wurde, beschreibt Nöggerath nach seinen Tagebuchaufzeichnungen den internen Verlauf der 1837er Versammlung der Naturforscher i n Prag und geht dabei auf interessante soziale und wissenschaftliche Probleme der Sektionssitzungen ein 1 9 . Uberschwenglich behauptet er: „Uberhaupt aber ist die große Freiheit der Mitglieder, daß jeder seine wissenschaftliche Ansicht ungehindert vortragen kann, das köstlichste Palladium der Gesellschaft, welches irgend zu verletzen oder zu beschränken, sie selbst i n ihrem Geiste und nach und nach gar i n ihrem faktischen Bestände aufheben hieß 2 0 ." Die Informalität und Flexibilität, mit der die Sektionen gebildet wurden, w i r d von ihrem über 500 °/oigen Wachstum zwischen 1828 und 1894 zur Genüge belegt. Wie bedeutsam und keineswegs selbstverständlich diese breite, informelle Sektionsdifferenzierung war, zeigt ein Vergleich m i t der 1831 nach dem Vorbild der D N Ä gegründeten „British Association for the Advancement of Science" (BA): Die Zahl ihrer „sections" stieg während 17 Die Gründungsstatuten beschränkten „Mitglieder" auf Personen, die über die Inaug.Diss. hinaus als „Schriftsteller" tätig gewesen sind. 18 Taton, René: "Emergence and Development of some National scientific Communities i n the 19th Century", i n : International Social Science Journal, Vol. X X I I , No. 1, 1970; S. 100. 19 Nöggerath, Jacob: Ausflug nach Böhmen u n d die Versammlung der deutschen Naturforscher u n d Ärzte i n Prag i m Jahre 1837, Bonn 1838. so Ibid., S. 233.

III. Gründung und Struktur der Naturforschergesellschaft der Zeit von 1834 bis 1892 nur von sechs auf acht und bis 1914 weiter auf zwölf Sektionen an 2 1 . Die meisten der von den DNÄ-Sektionen vertretenen Fächer treten zunächst i n Verbindung m i t anderen Disziplinen auf. Eine Spaltung dieser „kombinierten Sektionen" i n ihre fachlichen Bestandteile bedeutet oftmals zugleich eine i m Rahmen der D N Ä vollzogene Verselbständigung einer Tochterdisziplin gegenüber ihrer Mutterdisziplin 2 2 . Vor oder nach den Sektionssitzungen, die bis 1900 das vorherrschende Strukturmerkmal der D N Ä darstellen, tagen die allgemeinen Sitzungen, die alle Teilnehmer zu den Eröffnungsreden, allgemein interessierenden wissenschaftlichen Vorträgen und Grundsatzdiskussionen vereinen. Nach 1900 treten zunehmend Zusammenlegungen von Sektionen auf, gemeinsame Sektionssitzungen finden statt, und die Allgemeinsitzung gewinnt an Bedeutung. Der Informalität der Zusammenkünfte entsprach auch die Sitte, für die Vorbereitung der künftigen Versammlung lediglich zwei am jeweiligen Versammlungsort ansässige Geschäftsführer zu wählen. So bestand bis zur Reform der D N Ä i m Jahre 1890 das Unikum, daß die für die Naturwissenschaften und die Medizin wichtigste deutsche Dachgesellschaft des 19. Jahrhunderts praktisch nur während der wenigen Septembertage ihrer Versammlung existierte, i n der Zwischenzeit aber weder einen Vorstand, noch einen festen Sitz, noch feste Mitglieder besaß. U m so erstaunlicher ist die Tatsache, daß aus dieser Gesellschaft 38 Tochtergesellschaften hervorgingen, deren Gründung, Entwicklung und Verhältnis zur Muttergesellschaft i m folgenden dargestellt und erklärt werden sollen.

21 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die B A bis auf „Physiology" lediglich die Naturwissenschaften vertrat. 22 Pfetsch, F r a n k & Zloczower, A v r a h a m : Innovation u n d Widerstände i n der Wissenschaft, Düsseldorf 1973; S. 20.

3 v. Gizycki

I V . Methodisches Vorgehen und Materiallage

I n den folgenden Kapiteln soll die Entstehung wissenschaftlicher Spezialgesellschaften beschrieben und erklärt werden, soweit sie auf die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zurückzuführen ist. Diese „Abspaltung" w i r d hier als besondere A r t der Differenzierung einer wissenschaftlichen Organisation verstanden. W i r nehmen an, daß sich eine deutsche wissenschaftliche Gesellschaft 1 von der D N Ä abgespalten hat, wenn sich zum Zeitpunkt oder kurz nach ihrer Gründung mindestens eine von zwei Kategorien von A b spaltungsindikatoren nachweisen läßt: 1. Die Gesellschaft hält ihre wissenschaftlichen Sitzungen statutengemäß oder tatsächlich i n Gemeinschaft mit einer Sektion der D N Ä ab (Symbiose). 2. Die Gesellschaft w i r d aufgrund eines Aufrufs, von Besprechungen oder Statutenbeschlüssen innerhalb der D N Ä oder i m Anschluß an eine ihrer Sitzungen gegründet (Indifferenz). A u f die Problematik dieser Kategorien werden w i r weiter unten eingehen; es w i r d aber bereits deutlich, daß ihre Überprüfung die Untersuchung der Gründungsvorgänge aller deutschen naturwissenschaftlichen und medizinischen Gesellschaften erfordert. Die Geschichte der Abspaltung ist gleichzeitig die Geschichte der Gründung deutscher wissenschaftlicher Gesellschaften und stellt insofern eine Fortsetzung der von M. Ornstein 2 für das 17. Jahrhundert und von H. Siefert 3 für die 1

Nach einer Definition von Ruske (Ruske, Walter: 100 Jahre Deutsche Chemische Gesellschaft, Verlag Chemie, 1967; S. 17) ist das Kennzeichen naturwissenschaftlicher, „fachlich orientierter" Vereinigungen, daß sie „ohne Absicht, bestimmte Standesinteressen wahrzunehmen, dem allgemeinen Fortschritt der Wissenschaften u n d dem näheren persönlichen K o n t a k t der Wissenschaftler untereinander dienen wollten". Obwohl seine Klassifikation wissenschaftlicher Gesellschaften i n geheime, gelehrte u n d wissenschaftliche Vereinigungen, sowie Standesvereinigungen u n d Vereinigungen m i t übergeordneten Aufgaben chronologisch stimmen mag, ist sie institutionellfunktional nicht so rigoros zu treffen. Die meisten wissenschaftlichen V e r einigungen nahmen sekundär auch Aufgaben der Standesvertretung w a h r (vgl. auch seine Darstellung der DNÄ-Gründung). 2 Vgl. Ornstein, Martha. 3 Siefert, H e l m u t : „Das naturwissenschaftliche u n d medizinische Vereinswesen i m deutschen Sprachgebiet (1750 - 1850) — Idee u n d Gestalt —", Med. Diss., Marburg 1967 (überarbeitete Fassung: Hannover 1969).

IV. Methodisches Vorgehen und Materiallage

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Zeit von 1750 - 1850 durchgeführten Arbeiten über die Entwicklung des deutschen wissenschaftlichen Vereinswesens dar. Es wurden daher alle naturwissenschaftlichen und ärztlichen Vereinigungen aus den Standardwerken von Domay 4 und M ü l l e r 5 zur Untersuchung herangezogen und eine Auswahl nach folgenden Kriterien getroffen: 1. Der Gründungszeitraum der Gesellschaft liegt zwischen 1822 (Gründung der DNÄ) und 1914. 2. Ziel der Gesellschaft ist die Förderung ihrer SpezialWissenschaft auf überregionaler Ebene. Als Nachweis dieser Überregionalität diente mindestens eines von drei Merkmalen: a) Die Gesellschaft ist als Wanderversammlung gekennzeichnet. b) Sie weist das A t t r i b u t „deutsch" i m Gesellschaftsnamen auf. c) Es bestehen entsprechende Hinweise i n den Verhandlungen der Gesellschaft. 3. Die wissenschaftlichen Fachgebiete der Gesellschaften stimmen m i t denen der Sektionen der Naturforscherversammlung weitgehend überein. Da die D N Ä bereits i m Jahre 1886 m i t 30 Sektionen fast alle bedeutenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer repräsentierte, haben w i r m i t der Erfassung der den Sektionen entsprechenden wissenschaftlichen Gesellschaften fast das gesamte Gebiet der damaligen Naturwissenschaften und Medizin eingeschlossen. Darüber hinaus wurden aber alle diejenigen Vereinigungen ermittelt, deren Spezialgebiete zwar nie eine selbständige oder kombinierte Sektion i n der D N Ä gebildet haben, die aber disziplinär eindeutig den Naturwissenschaften oder der Medizin zuzuweisen sind (ζ. B. Ornithologie, orthopädische Chirurgie, Röntgengesellschaft), so daß die naturwissenschaftlichen und medizinischen deutschen Fachgesellschaften fast hundertprozentig registriert wurden 6 . Leider geben die Verhandlungsberichte und Tageblätter der DNÄ, außer gelegentlichen persönlichen Stellungnahmen prominenter M i t 4 Domay, Friedrich: Handbuch der deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften, Wiesbaden (1964). 5 Müller, Johannes: Die wissenschaftlichen Vereine u n d Gesellschaften Deutschlands i m 19. Jahrhundert, 1. Bd., B e r l i n (1883-87); 2. Bd., B e r l i n (1917). 6 W i r konnten uns dabei vor allem auf die vollständige Sammlung w i s senschaftlicher Gesellschaften i m Kaiserreich stützen, die einer A r b e i t von Pfetsch zugrunde liegt: Pfetsch, F r a n k : Z u r Entwicklung der Wissenschaftsp o l i t i k i n Deutschland 1750 - 1914, Duncker & Humblot, B e r l i n 1974.

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IV. Methodisches Vorgehen und Materiallage

glieder, keinerlei Aufschluß über den Hintergrund der Abspaltung selbständiger Gesellschaften. W i r mußten uns daher vorwiegend auf die Verhandlungen oder Jahresberichte der einzelnen Gesellschaften stützen, soweit sie bei Domay oder Müller erwähnt oder durch Querverweise erfaßt wurden. Waren die Versammlungsberichte der Gründungsjahre nicht verfügbar, so wurden spätere, meist Jubiläumsberichte hinzugezogen; i n keinem Fall wurde allein auf Sekundärliteratur zur Geschichte der Gesellschaften zurückgegriffen. Wegen teilweise unüberwindbarer Schwierigkeiten i n der Literaturbeschaffung 7 mußten einige Beschränkungen thematischer und methodischer A r t i n Kauf genommen werden: 1. Es konnte nur eine komprimierte quantitative Aufbereitung der Daten vorgenommen werden. 2. Eine systematische Verfolgung der Orts wähl für die Versammlungen der Fachgesellschaften über die Gründungszeit hinaus wurde nicht geleistet, obwohl sie weiteren Aufschluß über die Verbundenheit der Gesellschaften mit der D N Ä gewährt hätte. 3. Eine systematische Durchsicht sämtlicher Verhandlungsberichte vom Gründungsdatum an, besonders i m Hinblick auf Statutenänderungen und Diskussionen über DNÄ-Zugehörigkeit innerhalb der Gesellschaften, konnte ebenfalls nicht geleistet werden. 4. Personelle Verflechtungen mit der D N Ä wurden bei allen abgespaltenen Gesellschaften nachgewiesen, aber nicht systematisch untersucht. Detaillierte Einzelfallstudien der anthropologischen, pathologischen und mathematischen Gesellschaft werden aber auch über die letzten drei Punkte Auskunft geben. Von den insgesamt i m betrachteten Zeitraum (1822 -1914) gegründeten 76 naturwissenschaftlichen und medizinischen deutschen Vereinigungen wurden 65 Fachgesellschaften untersucht, von denen 10 wegen unzureichender Literaturangaben unberücksichtigt bleiben mußten. Von den restlichen 55 Gesellschaften fallen neun (16 °/o) unter die Kategorie der symbiotischen und 29 (53 °/o) unter die Kategorie der indifferenten Gesellschaften. 17 (31 °/o) Gesellschaften wurden unabhängig von der D N Ä gegründet; darunter befinden sich vier Gesell-

? Es ist bedauerlich, daß ein Experte f ü r die Geschichte der D N Ä i n mehreren A r t i k e l n der Naturwissenschaftlichen Rundschau die Offenlegung seiner Literaturnachweise verweigert u n d damit den eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ( = Überprüfbarkeit) disqualifiziert.

IV. Methodisches Vorgehen und Materiallage Schäften, die durch eine gleichnamige Sektion i n der D N Ä vertreten waren*. Von allen zwischen 1822 und 1914 gegründeten 76 deutschen naturwissenschaftlichen und medizinischen Gesellschaften ging somit die Hälfte (38) aus der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte hervor. Von den untersuchten 55 wissenschaftlichen Fachgesellschaften spalteten sich sogar über 2/3 (69 °/o) aus einer Sektion der Naturforscherversammlung ab. Dieser statistische Überblick belegt die oft erwähnte hervorragende Bedeutung der D N Ä für das medizinische und naturwissenschaftliche Vereinswesen 8 und damit für das Wissenschaftsleben des 19. Jahrhunderts überhaupt 9 . Neben dieser Tätigkeit auf nationaler Ebene war die D N Ä indirekt auch an der Gründung lokaler Vereinigungen beteiligt, indem sie entweder zur Nachahmung ihrer Versammlungen anregte 10 oder ihre prominenten Mitglieder zur Gründung eigener Vereine veranlaßte 11 . Freilich scheint sich die Beteiligung der D N Ä bei lokalen Vereinsbildungen auf ihre Existenz als gelegentliches Imitationsvorbild beschränkt zu haben. Eine Untersuchung des „Ärztlichen Vereinswesens i n Deutschland" belegt bei der Mehrzahl der lokalen Gesellschaftsgründungen i m späten 19. Jahrhundert zwar die M i t w i r k u n g der nationalen ärztlichen Standesvertretung, des 1872 von der D N Ä abgespaltenen Ärztevereinsbundes, kann aber nur i n einem F a l l 1 2 eine aktive * Anmerkungen zu den einzelnen Kategorien u n d eine vollständige Liste der 38 abgespaltenen Gesellschaften m i t Gründungsdatum finden sich i m Anhang. 8 Dies hat besonders Herrlinger erkannt, der die D N Ä als „Muttergesellschaft fast aller großen theoretischen u n d klinischen Fachgesellschaften der deutschen Medizin" bezeichnet. (Herrlinger, R.: „Kurze Geschichte der A n a tomischen Gesellschaft", Anatomischer Anzeiger, Bd. 117, 1965; S. 2.) 9 Vgl. die A r t i k e l von Degen, Bochalli u n d Fischer i n der Naturwissenschaftlichen Rundschau 1954- 1968, sowie Pfannenstiel, M a x : Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte, B e r l i n (1958). 10 Vgl. Degen, Heinz: „Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte als Keimzelle naturwissenschaftlicher u n d medizinischer Vereinigungen", Naturwissenschaftliche Rundschau, Jg. 19, Sept. 1966. 11 So gründete Pagenstecher 1844 den „Verein der Ärzte des Reg.-Bez. Düsseldorf", Helmholtz 1851 i n Königsberg den „Verein für wissenschaftliche Heilkunde", von Graefe 1858 den „Verein Berliner Ärzte", aus dem zwei Jahre später unter Virchows u n d Langenbecks Führung die „Berliner M e dizinische Gesellschaft" hervorging, und Leyden gründete 1879 als Gegenpart zu Virchows Gesellschaft den „Berliner Verein f ü r Innere Medizin". 12 Dies w a r der 1865 gegründete Verein Schleswig-Holsteinscher Ärzte: „Den Anstoß zu seiner Gründung gab die von der Naturforscherversammlung

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IV. Methodisches Vorgehen und Materiallage

Verbindung zur D N Ä nachweisen. Da sich lokale Vereine neben der Wissenschaftsförderung primär die Interessenvertretung ihres Standes zum Ziel gesetzt hatten, mag die gegen eine Beteiligung an wissenschaftsferner Standespolitik gerichtete Mandarinen-Ideologie der D N Ä 1 3 an dieser zurückhaltenden Einflußnahme auf regionale Gründungen verantwortlich gewesen sein. Zunächst wollen w i r uns der allgemeinen Beschreibung der A b spaltungsvorgänge der 38 deutschen Gesellschaften widmen, u m anschließend die beiden Abspaltungstypen Indifferenz und Symbiose herauszuarbeiten.

(Sektion für Medizinalreform u n d öffentliche Gesundheitspflege) angeregte Bewegung." Graf, Eduard: Das ärztliche Vereinswesen i n Deutschland u n d der Deutsche Ärztevereinsbund, Festschrift zum 10. Internationalen M e d i zinischen Kongreß, Leipzig (1890), S. 74. 13 A u f diesen Ideologieverdacht werden w i r weiter unten eingehen.

V. Was ist Abspaltung?

Da w i r die Entstehung wissenschaftlicher Gesellschaften i n der D N Ä als eine besondere A r t der Differenzierung einer Organisation betrachten, können w i r uns nur teilweise Degens Systematisierungsversuch der Abspaltung anschließen, der ebenfalls auf das Verhältnis der Tochter zur Mutter abhebt. Degen unterscheidet implizit drei Abspaltungstypen: 1. Bei der Mehrzahl abgespaltener Gesellschaften ist die „Anhänglichkeit" an die Mutter typisch. 2. Die Mutter w i r d von einigen Gesellschaften als „eklige Gouvernante" angesehen. 3. Die Tochter w i l l „eilig von der Mutter fort" 1 . Obwohl Degen i n diesen Kategorien bereits die beiden Abspaltungstypen Symbiose und Indifferenz impliziert, legt er zu großes Gewicht auf die „Anhänglichkeit" der abgespaltenen Spezialgeseilschaften. I m Gegensatz dazu scheint nach unseren Ergebnissen das Bestreben einer i n Verbindung mit der D N Ä gegründeten Gesellschaft nicht der Verbleib bei der Mutterorganisation, sondern eine baldmögliche Verselbständigung gewesen zu sein. Nicht so sehr die „Anhänglichkeit an die Mutter" — die erst später einsetzte und verschiedene Formen annahm — sondern die Verwirklichung der Selbständigkeit des eigenen Fachgebietes war das primäre Ziel der Gesellschaften, wie es sich vor allem i m Streben nach „wissenschaftsspezifischer Umgebung" dokumentierte. Das w i r d besonders i n der Uberzahl derjenigen abgespaltenen Gesellschaften deutlich, die nur den „Anstoß" zur Gründung i n der D N Ä erhielten (29) und sich bald darauf verselbständigten. W i r werden bei dieser Kategorie von einem Verhältnis der Indifferenz zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft — bzw. von organisch-indifferenten Gesellschaften 2 — sprechen, sofern die DNÄ-Sektion zu Absprachen, ι Degen, NWR, H. 9, Sept. 1966; S. 350. Anstelle „organisch-indifferenter" Gesellschaften werden w i r der E i n fachheit halber weiterhin von „indifferenten" Gesellschaften sprechen. Es muß aber erinnert werden, daß diese Gesellschaften „organisch" aus der D N Ä ohne die Konsequenz engerer Beziehungen hervorgingen. 2

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V. Was ist Abspaltung?

Ausschußbildungen oder Gründungsbeschlüssen diente, aber keinerlei Dauerbeziehung zwischen der D N Ä und den neugegründeten Gesellschaften die Folge war. W i r sind nicht der Meinung von Degen, daß diese indifferenten Gesellschaften „unabhängig" von der D N Ä gegründet wurden, und können daher auch nicht seiner Charakterisierung indifferenter Gründungsvorgänge zustimmen: „Hervorragende Persönlichkeiten", sei es als wissenschaftliche Zugpferde oder i m Triumvirat, haben bei fast allen (indifferenten und symbiotischen) Gesellschaftsgründungen eine Rolle gespielt 3 , und Berlin als Ausgangspunkt „tatkräftiger örtlicher Naturforschervereinigungen" war der Sitz nicht nur der von i h m zitierten Physikalischen Gesellschaft zu Berlin, sondern gleichfalls der daraus i n Verbindung m i t der D N Ä 1898 gegründeten Deutschen Physikalischen Gesellschaft, die bis 1930 alle 2 Jahre i m September ihre wissenschaftlichen Vorträge i n der physikalischen Sektion der D N Ä halten ließ. Bei den neun zeitweise völlig i n die D N Ä integrierten Fachgesellschaften läßt sich eine ständige latente Bereitschaft zum Ausbrechen aus dem symbiotischen Verhältnis zur D N Ä erkennen 4 . Die Begriffe „Symbiose" und „Indifferenz" dienen hier als allgemeine Beschreibungskategorien für Abspaltungsvorgänge. Indifferenz deutet auf die Trennung von Mutter und Tochter nach Abschluß der Gründungsvorgänge hin, während Symbiose eine andauernde Gemeinschaft von Mutter und Tochter bezeichnet. W i r werden bei der Beschreibung der Abspaltungsvorgänge lediglich auf diese Dichotomie Indifferenz/Symbiose abstellen, da der Versuch, ein Einflußkontinuum zu erstellen, auf dem alle Gesellschaften nach dem Grad der M i t w i r k u n g der DNÄ-Sektion bei ihrer Gründung hätten angeordnet werden können, wegen des teilweise lückenhaften Materials aufgegeben werden mußte. Es hätte etwa folgende Kategorien umfaßt (jede Phase schließt die vorhergehende ein): Bloße mündliche Anregungen (Ophthalmologie), weitergehende Besprechungen und Statutenerarbeitung (Chirurgie), Gründungsbeschlüsse i m Anschluß an Sektionssitzungen (Anatomie), örtliche und zeitliche gemeinsame Tagungen (Meteorologie), völlige Integration nach der Gründung (Mathematik). Die ersten drei Phasen beschreiben das Indifferenz-Verhältnis, die letzten beiden das Symbiose-Verhältnis. 3 E t w a Virchow bei der 1897 gegründeten Deutschen Pathologischen Gesellschaft, die bis 1907 i n die D N Ä integriert war. 4 Dies k o m m t besonders gut i n der Entwicklung der Deutschen Geologischen Gesellschaft v o r ihrer Verselbständigung zum Ausdruck, w i e sie von Degen offenbar i n Anlehnung an die A r b e i t von E. K o k e n (Die Deutsche Geologische Gesellschaft i n den Jahren 1848 - 1890, B e r l i n 1901) beschrieben wurde.

V. Was ist Abspaltung? Es muß angemerkt werden, daß das Indifferenzverhältnis auch solche Gründungen einschließt, deren Anregungsidee außerhalb der D N Ä entsteht (z.B. Deutsche Chemische Gesellschaft), die zu ihrer Verwirklichung aber einer Rekrutierungsquelle bedarf, die zunächst fast ausschließlich die entsprechende DNÄ-Sektion darstellt. Nur wenige indifferente Gesellschaften tendieren mitunter zu einem „fakultativen Symbiose-Verhältnis" mit der DNÄ, wie z.B. die botanische und mineralogische Gesellschaft. Nicht enthalten i n diesen Kategorien, sondern mit als „unabhängige Gründungen" eingestuft wurden Gesellschaften, die offenbar zur Gründungszeit keinerlei personelle Verbindungen zur D N Ä besaßen, aber diese als rein ideelles Vorbild erwähnten. So heißt es i m Bericht über die erste Versammlung der deutschen Landwirte i m Jahre 1837: „Auch darf man nur auf die jährlichen Versammlungen der Naturforscher hinblicken, um zur Gründung einer ähnlichen Veranstaltung für die Landwirtschaft sich aufgefordert zu fühlen 5 ."

5 Amtlicher Bericht über die Versammlung deutscher L a n d w i r t e zu Dresden i m Oktober 1837, Dresden 1838; S. 2. Diese Gesellschaft ist allerdings auf der Liste i m Anhang nicht aufgeführt, da w i r keine ausreichenden Unterlagen über die Gründungsvorgänge besitzen.

V I . Das Indifferenzverhältnis 1

Die Entstehung wissenschaftlicher Gesellschaften i n den Sektionen der D N Ä ähnelt dem Gründungsablauf der Naturforscherversammlung selbst: Mitunter mißlingt die Abspaltung i m ersten Anlauf; junge Wissenschaftler oder Redakteure von Fachzeitschriften erkunden das Interesse an der Gesellschaftsbildung, erlassen Aufrufe und halten informelle Zusammenkünfte ab; es werden Ausschüsse zur Statutenerarbeitung gebildet und Einladungen verschickt; schließlich findet die konstituierende Sitzung der Gesellschaft und die erste selbständige Tagung statt. Der informelle Rahmen der DNÄ-Sektionen eignet sich hervorragend für die vorbereitenden Gründungstätigkeiten, wie die folgenden Worte von Varrentrapp auf der ersten Tagung des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zum Ausdruck bringen: „Wie konnte dies (seil, die Gründungs Vorbereitung) einfacher und natürlicher geschehen, als daß w i r auf der Naturforscherversammlung i n größerer Zahl zu gemeinsamer wissenschaftlicher Tätigkeit vereinte Ärzte für die Sache zu interessieren suchten. Die hygienische Sektion war von ihrem ersten Auftreten an die zahlreichst besuchte von allen Sektionen, das Interesse daran ist bis heute das gleiche geblieben 2 ." I m Verlauf der Gründungsaktivitäten einer Gesellschaft w i r d i m allgemeinen bereits prinzipiell über die Frage des künftigen Verhältnisses zur D N Ä entschieden. Nachdem zunächst 1868 der Versuch Schlömilchs gescheitert war, durch die Gründung einer Unterrichtssektion i n der D N Ä die Förderung des naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen intensiv zu betreiben, regt bereits 1881 J. C. V. Hoff mann die Gründung eines besonderen Vereins an; als er 1890 schließlich den Gründungsaufruf erläßt, fügt er der Einladung u. a. die Frage hinzu: „Sind Sie für Gründung eines selbständigen ,Vereins der deutschen Lehrer der Mathematik und 1 Wie oben definiert, beschreibt das Indifferenzverhältnis die Gründungsvorgänge selbständiger Gesellschaften, soweit sie sich i m Anschluß an die D N Ä abspielten. Da die gleichen Prozesse auch der Gründung symbiotischer Gesellschaften vorausgehen, n u r m i t der Folge eines relativ permanenten Zusammenlebens, sollen auch sie i n prototypischen Fällen hier als Beispiele angeführt werden. 2 Bericht über die erste Versammlung des Deutschen Vereins für ö f f e n t liche Gesundheitspflege i n Ffm., 1873; Braunschweig (1873); S. 7.

1. Widerstand der DNÄ

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Naturwissenschaften' oder sind Sie für Anschluß an eine bereits bestehende Versammlung 3 ?" Die Mehrheit der Befragten lehnte auf der ersten Besprechung den Anschluß an irgendeine übergreifende Versammlung — Philologenoder Naturforscherversammlung — ab.

1. Widerstand der D N A Die Abspaltungsversuche von mindestens zwei wissenschaftlichen Gesellschaften scheiterten zunächst am Widerstand der D N Ä (Gynäkologie und Pharmazie). I n der konkreten Sprache der Gynäkologen schilderte der Vorsitzende der Deutschen Gynäkologischen Gesellschaft A. Mayer i n einer Eröffnungsansprache 1936 den mißlungenen Abspaltungsversuch seiner Gesellschaft i m Jahre 1876: „Der Geburtsprozeß unserer Gesellschaft war i m übrigen nicht so ganz einfach. . . . Trotz kunstgerechten Geburtsbeistandes durch die genannten großen Männer unseres Faches war das erwartete K i n d nicht lebensfähig, vielleicht eine Frühgeburt, vielleicht auch für die damalige Zeit eine Mißgeburt 4 ." M i t dem Argument, man könne die Gesellschaft nicht aus dem Gesamtrahmen der Medizin, wie ihn die Naturforscherversammlung darstelle, herauslösen, zumal das Fach für ein Eigendasein noch nicht groß genug sei, hatten sich „maßgebende Leute" wie Olshausen und Gusserow der Abspaltung erfolgreich widersetzt. Erst 1885, auf der D N Ä Versammlung i n Straßburg, gelang den Gynäkologen die Verselbständigung. Vor der Gründung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft i m Jahre 1890 durch Hermann Thoms von der chemischen Fabrik I D Riedel, hatte bereits 1884/85 der junghabilitierte Alexander Tschirch auf zwei DNÄ-Versammlungen vergeblich eine pharmazeutische Gesellschaft ins Leben zu rufen versucht. Die ständische Fachorganisation, der Deutsche Apotheker-Verein (DAV), konnte offenbar ihre wissenschaftliche Tätigkeit nicht aufrecht erhalten, weigerte sich aber, eine selbständige wissenschaftliche pharmazeutische Gesellschaft anzuerkennen. 1885 wurden daraufhin i n der pharmazeutischen Sektion der Straßburger Naturforscherversammlung vier Möglichkeiten erörtert: 3 Lorey, W i l h e l m : Der Deutsche Verein zur Förderung des mathematischen u n d naturwissenschaftlichen Unterrichts 1891 - 1938, F r a n k f u r t 1938; S. 10. 4 Archiv für Gynäkologie, Bd. 161, 2, 1936; S. 2.

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VI. Das Indifferenzverhältnis

1. Unterstützung der Sektion Pharmazie der D N Ä eventuell als Vorläuferin einer festeren Organisation. 2. Unterstützung der Sektion Pharmazie schlechthin als Ersatz einer pharmazeutischen Gesellschaft. 3. Gründung einer wissenschaftlichen Abteilung innerhalb des DAV. 4. Gründung einer selbständigen pharmazeutischen Gesellschaft 5 . Den negativen Ausgang der Diskussion faßte Tschirch resignierend zusammen: „Es bleibt also nur — ich stehe nicht an, die ein sehr klägliches Resultat zu nennen — die Sektion Pharmazie, sei es als Ziel oder als Durchgangsphase zu höheren Zielen 6 ." Bei dieser Entscheidung hatte offenbar die ablehnende Einstellung der DAV-Vertreter in der D N Ä eine wichtige Rolle gespielt. Prinzipiell versuchte die Naturforscherversammlung sowohl vor wie nach der „großen Reform" von 1890 die Abspaltung einer Gesellschaft zu verhindern 7 . Mitunter verstärkte freilich dieser Widerstand der D N Ä erst recht das Motiv der Abspaltung. Die Klagen über zunehmende disziplinäre Isolierung und Zersplitterung als Folgen des DNÄ-internen Abspaltungsprozesses reißen nie ab, und werden vor allem von His, Quincke, v.Bergmann und Virchow ausgesprochen, den Hauptakteuren innerhalb der D N Ä zur Zeit des Höhepunktes der Abspaltungsvorgänge i n den 80er Jahren. Virchow legte i n seinen Reden immer wieder die Betonung auf die synthetische Gesamtheit der Wissenschaften, obwohl er gleichzeitig die Notwendigkeit ihrer Differenzierung konzedierte. Diese Kompromißhaltung nahm er auch gegenüber der Anthropologischen Gesellschaft ein, deren Abspaltung er verurteilte, aber nicht verhindern konnte. Nachdem sich die Gesellschaft entgegen seiner Empfehlung zur lokalen Etablierung i m Jahre 1870 auf nationaler Ebene konstituiert hatte, nahm er als einer der aktivsten Mitglieder an den späteren Versammlungen teil 8 . Nach gelungener Abspaltung einer Gesellschaft versuchte die D N Ä mitunter den Prozeß rückgängig zu machen und sich die Gesellschaft 5

Schneider, Wolf gang: Geschichte der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, 1890- 1965, Verlag Chemie (1965); S. 13. β Pharmazeutische Zeitung, 30, 1885; S. 768. 7 Als Vertreter der Einheit der D N Ä treten dabei vor allem die M u t t e r disziplin, die restlichen Sektionen, die Geschäftsführer u n d prominenten Mitglieder auf. Die betroffene Sektion, deren Personal j a m i t der Gesellschaft oft identisch ist, spricht sich mitunter, wie i m F a l l der Chirurgie, einstimmig f ü r die Abspaltung aus. β Degen, H.: „Virchow u n d Anthropologie", NWR, Okt. 1968.

2. Mitwirkung von Einzelpersonen

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wieder „einzuverleiben". So mußte die Ophthalmologische Gesellschaft auf ihren Tagungen zwischen 1913 und 1932 regelmäßig das Ansinnen der D N Ä zurückweisen, m i t dieser gemeinsame Sitzungen abzuhalten. Offenbar hatte um diese Zeit bereits ein Lernprozeß bei den Gesellschaften eingesetzt, da man als Grund für die Ablehnung immer wieder die mögliche „Schädigung unserer Gesellschaft" anführte 9 . A m Anfang des Abspaltungsprozesses indifferenter sowie symbiotischer Gesellschaften steht i m allgemeinen die Besprechung junger oder prominenter Wissenschaftler eines Fachgebietes über die Möglichkeiten der Verselbständigung gegenüber der Mutterdisziplin und -organisation. Vom Zeitpunkt der ersten Anregung bis zur endgültigen Konstituierung einer Gesellschaft vergehen bis zu 24 Jahre. So regte Clebsch die Abspaltung der Mathematiker bereits 1867 auf der D N Ä Versammlung i n Frankfurt an, aber der Weg über die Kränzchenbesprechungen i n Karlsruhe, die Beteiligung am Jahrbuch für Fortgeschrittene der Mathematik, die Komiteebildung i n Berlin, den Heidelberger Aufruf und die Bremer Beschlüsse dauerte fast ein viertel Jahrhundert, bis man sich schließlich 1891 entschloß, eine symbiotische Verbindung zur D N Ä einzugehen 10 . Dieser Prozeß, der sich i n den meisten Fällen nicht mehr exakt nachvollziehen läßt, dauerte bei den Gynäkologen wegen des Widerstandes der D N Ä 9 Jahre, bei den Ophthalmologen 7 Jahre und bei den Astronomen 6 Jahre. Andererseits kann es innerhalb eines Jahres nach den ersten Besprechungen bereits zur Gründung kommen, wie bei der Pädiatrie i m Jahre 188311.

2. M i t w i r k u n g von Einzelpersonen

Obwohl sich der Gründungsgedanke zunächst bei Einzelpersonen entwickelt, sind meistens mehrere prominente Wissenschaftler als Zugpferde am abschließenden Gründungsvorgang beteiligt. Beely und Hoeftmann ζ. B. holten sich die Anregung zur Gründung der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft während ihres Aufenthaltes i n Amerika, aber ohne die Beteiligung von Hoffa und Lorenz als wissenschaftliche Kapazitäten der Orthopädie wäre die Gründung i m 9 Vgl. Esser, A l b e r t : Geschichte der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, München (1957). 10 Gutzmer, Α.: Geschichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Leipzig (1904). 11 Clement, W.: „Naturwissenschaftliche Pädagogik u n d Pädiatrie", i n : Schipperges (Hrsg.).

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VI. Das Indifferenzverhältnis

Jahre 1901 wohl nicht zustande gekommen, zumal v. Bergmann als Vorsitzender des Chirurgenkongresses die Abspaltung energisch zu verhindern suchte 12 . A u f ähnliche Weise benutzte Leyden den wissenschaftlichen Ruf von Frerichs, u m den Kongreß für Innere Medizin ins Leben zu rufen, und Spengel mußte Bütschli gegen dessen Bedenken vom Nutzen der Gründung einer Deutschen Zoologischen Gesellschaft überzeugen. Das beste Beispiel für eine fast hundertprozentige Personalverflechtung zwischen den Gründern einer Gesellschaft und den Mitgliedern der entsprechenden DNÄ-Sektion bietet die Entwicklung der Deutschen-Mathematiker-Vereinigung. I m Jahre 1867, als Clebsch zum ersten Mal die Abspaltung der Mathematiker auf der DNÄ-Versammlung in Frankfurt befürwortet, läßt sich dem Tageblatt entnehmen, das Clebsch, Eisenlohr, Wiener, Jordan, Brill, Weber, Zehfuß und Schlömilch die wissenschaftlichen Vorträge i n der mathematisch-astronomischen Sektion halten. Bis auf Schlömilch nehmen die gleichen Männer 1868 an dem die Gesellschaftsbildung vorbereitenden „mathematischen Kränzchen" i n Karlsruhe teil 1 3 . Folge dieses Kränzchens war ein 1872 gebildetes Komitee, dem u. a. die Herren Klein, Lampe, Schubert und später Cantor angehören, die gleichen Personen, die 1890 auf der Bremer Naturforscherversammlung die Gründungsbeschlüsse i n die Wege leiten. Der Ausschuß, der die Gründungsversammlung der anthropologischen Gesellschaft einberuft, setzt sich mit Virchow, Semper, Seligmann, Vogt und Pichler aus den 1869 an der Sitzung der Sektion Anthropologie und Ethnologie teilnehmenden Mitgliedern zusammen, und die Gründer sind größtenteils mit den Sektionsmitgliedern identisch 14 . Sobald die ersten Vorbehalte gegen eine Gesellschaftsgründung aus dem Wege geräumt sind und informelle Besprechungen unter Sektionsund Fachkollegen ein grundsätzliches Interesse an der Verselbständigung erwiesen haben, kommt es zum Aufruf zu einer konstituierenden bzw. satzungsberatenden Sitzung. Da von der Wirksamkeit des Aufrufs die über Sein oder Nichtsein entscheidende Teilnahme wissenschaftlicher Interessenten an der Gründungssitzung abhängt, ist die M i t w i r k u n g der Redakteure und Herausgeber von Fachzeitschriften i n diesem Stadium der Gründungsvorbereitung von unschätzbarem Wert. Das kommt deutlich i n der Initiative dieses Personenkreises bei der Gründung von mindesten vier abgespaltenen Gesellschaften zum Aus12

Baade, Peter: Die Geschichte der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft, B e r l i n (1939). 13 Gutzmer, S. 2. 14 Querner, Hans: Die Anthropologie auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher u n d Ärzte bis zur Gründung der Gesellschaft für Anthropologie, 1869; Festschrift: 100 Jahre Berliner Gesellschaft f ü r Anthropologie, Ethnologie u n d Urgeschichte 1869 - 1969, B e r l i n (1969).

3. Abschließende Gründungstätigkeit

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d r u c k l 5 . Der langjährige Herausgeber des „Ärztlichen Vereinsblattes für Deutschland", der später i m Geschäftsausschuß und Vorstand des Deutschen Ärztevereinsbundes tätige Hermann Eberhard Richter, erläßt 1872 folgenden „Aufruf an namhafte Ärzte", der auch i n anderen medizinischen Zeitschriften veröffentlicht wird:

„Nachdem schon Kreis-, Bezirks- und Zweigvereine als Vertreter des ärztlichen Standes bestehen, so ersucht man hierdurch die sämtlichen Vereine Deutschlands Einen oder Mehrere ihrer Mitglieder bei Gelegenheit der Naturforscherversammlung vom 12. bis 17. Aug. 1872 nach Leipzig zu entsenden, u m daselbst unter sich zu beraten: i n welcher Weise ein gemeinsamer Verband oder Mittelpunkt für sämtliche ärztliche Vereine Deutschlands eingerichtet werden könne . . . l e . " Selbstbewußt resümiert der Herausgeber des „Anatomischen A n zeigers", K a r l v. Bardeleben, 1866, i m Jahre der Gründung der anatomischen Gesellschaft: „ M i t Genugtuung darf der Herausgeber dieses Anzeigers konstatieren, daß die Erwägungen, welche ihn zur Herausgabe derselben . . . bestimmt haben, auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft maßgebend gewesen sind 1 7 ." Der streitsüchtige Herausgeber der „Deutschen Entomologischen Zeitschrift", Kraatz, gründet 1881 mit propagandistischem Aufwand und polemischen Spitzen seines Blattes gegen den verärgerten Berliner Entomologischen Verein auf eigene Faust die Deutsche Entomologische Gesellschaft 18 . Soweit nicht bereits am Gründungstage Fachzeitschriften bestehen, werden sie durch die Statuten als offizielle Organe der Gesellschaft ins Leben gerufen 19 .

3. Abschließende Gründungstätigkeit Dem Aufruf zur Gesellschaftsbildung folgt entweder sofort die konstituierende Sitzung, oder es werden auf der ersten Sitzung zunächst vorläufige Gründungsbeschlüsse gefaßt und ein Ausschuß zur Ausarbeitung der Statuten sowie ein provisorischer Vorsitzender gewählt. 15 Deutscher Ärztevereinsbund, Deutscher Verein der Irrenärzte, Anatomische Gesellschaft, Deutsche Entomologische Gesellschaft. ι« Ärztliches Vereinsblatt f ü r Deutschland, 1872, Nr. 1; S. 2. 17 Anatomischer Anzeiger, Jg. 1, 1886; S. 237. ι» Hannemann, H. J.: Bericht über die Hundertjahrfeier der Deutschen Entomologischen Gesellschaft, B e r l i n (1957). io Virchow wehrte sich vergebens gegen die offizielle Bindung des „Archivs für Anthropologie" an die anthropologische Gesellschaft.

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VI. Das Indifferenzverhältnis

Einzigartig war die briefliche Diskussion des Statutenentwurfs der Deutschen Zoologischen Gesellschaft. Anstelle der Einberufung einer beratenden Sitzung hatte der „Einführende" der zoolgischen Abteilung der DNÄ, Bütschli, die von i h m auftragsgemäß 1889 ausgearbeitete Satzung an die interessierten Sektionsmitglieder verschicken und von ihnen kommentieren lassen, bevor er 1890 zur Gründungsversammlung einlud 2 0 . Prototypisch für die Konstituierung einer symbiotischen Gesellschaft sind die dem Heidelberger Aufruf 1889 folgenden und der konstituierenden Sitzung i n Halle 1891 vorausgehenden sogenannten „Bremer Beschlüsse" der Mathematiker von 1890: „1. Es soll der Plan einer Vereinigung der deutschen Mathematiker i m Anschluß an die Organisation der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zur Verwirklichung gebracht werden. 2. Es sollen die Verhandlungen der Jahresversammlung i n eingehenderer Weise als bisher vorbereitet und der (seil, mathematisch-astronomischen) Abteilung bleibende Aufgaben zugewiesen werden 2 1 ." M i t der Annahme der Statuten durch die anwesenden Mitglieder einer Gründungsversammlung, die normalerweise i m Anschluß an die ordentliche Sektionssitzung der D N Ä stattfindet, ist eine neue Gesellschaft ins Leben gerufen und damit ein Differenzierungsexperiment gelungen, das Smelser m i t dem Satz kennzeichnet: " I f successful, these experiments produce one or more new social units 2 2 ." Diese neuen sozialen Einheiten wählen zunächst einen Vorstand, arbeiten eine Geschäftsordnung aus und bestimmen den Tagungsort der ersten wissenschaftlichen Versammlung. Indifferente Gesellschaften tagen prinzipiell unabhängig von der DNÄ, symbiotische Gesellschaften gemeinsam mit den entsprechenden Fachsektionen.

20 Ankel, W. E.: „Geschichte der Deutschen Zoologischen Gesellschaft", Zoologischer Anzeiger, 20. Suppl.Band ( = Verh. d. dt. zool. Ges. i n H a m b u r g 1956, Leipzig (1957). 21 Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1. Bd., 1890 - 91, S. 6. 22 Smelser, S. 3.

V I I . Fakultative Symbiose

Symbiotische Tendenzen kennzeichnen auch indifferente Gesellschaften insofern, als sie mitunter noch Jahre nach der Abspaltung vielfältige Zeichen der Verbundenheit mit der Mutterorganisation erkennen lassen1. Degen hat geschildert, wie Virchow die Wahl der Tagungsorte der Anthropologischen Gesellschaft mit den Versammlungsorten der D N Ä abzustimmen versuchte, u m den Mitgliedern den Besuch beider Veranstaltungen zu ermöglichen 2 . Die zunächst als indifferente Gesellschaft 1908 gegründete Mineralogische Gesellschaft richtet die Wahl ihrer Tagungsorte bis 1938 nach den Versammlungen der Naturforschergesellschaft und erliegt oftmals (z. B. 1912 und 1913) der Versuchung, ihre wissenschaftlichen Sitzungen mit denen der mineralogischen Sektion zusammenzulegen, also wenigstens vorübergehend ein fakultativ-symbiotisches Verhältnis zur D N Ä einzugehen. I n kurzen Kommentaren zur Ortswahl heißt es immer wieder ähnlich wie 1931 i n den Verhandlungen der Gesellschaft: „Da 1932 die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte voraussichtlich i n Wiesbaden sein wird, kommt als Tagungsort für die Deutsche Mineralogische Gesellschaft Frankfurt am Main i n Frage 3 ." U m ihren Mitgliedern i n den Monaten der DNÄ-Sitzungen (August oder September) freie Zeit zur Teilnahme zu gewähren, nehmen einige indifferente Gesellschaften darauf i n ihren Statuten Bezug: „Die Sitzungen der Gesellschaft finden, m i t Ausnahme der Monate August und September, am zweiten und vierten Montag jeden Monats statt 4 ." 1 Dies widerspricht nicht der Feststellung, daß die Abspaltung selbst ein Indiz der Verselbständigung ist, w i e es i n den M o t i v e n i m m e r wieder zum Ausdruck k o m m t ; vielmehr drückt sich darin die L o y t l i t ä t gegenüber den Nachbardisziplinen aus. 2 Degen: „Virchow u n d Anthropologie", NWR, 1968, S.411. 3 Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie und Petrographie, 15. Bd., B e r l i n 1931; S.3. 4 So § 17 der Statuten der Deutschen Chemischen Gesellschaft, i n : Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin, 1, 1868; S. 3.

4 ν Gizycki

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VII. Fakultative Symbiose

Solche Regelungen ermöglichen vorübergehende fakultative Symbiosesitzungen m i t der DNÄ, wie die der Mineralogischen Gesellschaft. Die unter der M i t w i r k u n g von Teilnehmern an den botanischen Sektionssitzungen der D N Ä 1882 gegründete Deutsche Botanische Gesellschaft (DBG) ist ein Musterfall fakultativer Symbiose. Da auch ihre Statuten die Monate August und September für die DNÄ-Teilnahme offenhalten, verlegt sie zunächst die Geschäftssitzung und Generalversammlung und schließlich die wissenschaftliche Sitzung (1884) auf die Tagungen der DNÄ. Bis 1907 liest man ähnlich wie 1904 i n den Berichten der Gesellschaft: „Die wissenschaftlichen Sitzungen der Generalversammlung werden gemeinsam mit den Sektionen 8 — für Pflanzenphysiologie — und 9 — für Systematik —, i n welche die botanische Sektion der Naturforscherversammlung i n Wien sich geteilt hat, abgehalten werden 5 ." Da die Gesellschaft sich keineswegs als Teil der D N Ä ansieht, betont sie die Freizügigkeit und Selbständigkeit ihres Anschlusses: „Die Geschäftsführung der Wiener Naturforscherversammlung hat zugestanden, daß die Mitglieder der DBG nach freier Wahl an beiden Sektionssitzungen der Versammlung teilnehmen können, auch ohne daß sie Mitglieder oder Teilnehmer der Naturforscherversammlung werden 6 ." Aus Anlaß der Umorganisation der D N Ä i m Jahre 1892 werden bereits Stimmen i n der DBG laut, den Brauch des Zusammentagens m i t der D N Ä völlig abzuschaffen. Die Entscheidung muß jedoch wegen geringer Mitgliederteilnahme an den DBG-Sitzungen bis 1907 hinausgeschoben werden. I n diesem Jahr stimmen 27 Mitglieder der Botanischen Gesellschaft für die Trennung, 17 Mitglieder sind für die Beibehaltung der fakultativen Symbiose. Da das Symbioseverhältnis jedoch nicht i n der Satzung verankert war, „genügte die absolute Mehrheit i n diesem Falle, da die Annahme des Antrages keine Satzungsänderung bedingt" 7 . Die Botanische Gesellschaft löst sich von der DNÄ. Ähnliche symbiotische Tendenzen m i t ihren Folgeproblemen lassen sich vorübergehend bei der dermatologischen Gesellschaft nachweisen. Die Tagung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft 1891 i n Leipzig war offenbar als A k t diplomatischer Höflichkeit gegenüber der drei Jahre zuvor verlassenen D N Ä w i l l k ü r l i c h vom Gesellschaftsvorstand auf den Monat September gelegt worden, u m die Mitglieder gleichzeitig zur Teilnahme an der i n Halle tagenden Naturforscherversammlung zu veranlassen. 5 Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft, Bd. 12, 1894; S. 145. β Ibid., S. 145. 7 Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft, 22, 1904; S. 5.

VII. Fakultative Symbiose

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Da der DNÄ-Vorsitzende Wilhelm His d. Ä. persönlich sein anatomisches Institut i n Leipzig für die Tagung der Dermatologen zur Verfügung gestellt hatte, konnte man die Einladung nicht abschlagen, ohne eine Verärgerung des DNÄ-Vorstands zu riskieren. Der Vorstand der Dermatologischen Gesellschaft hatte sich jedoch m i t der Anberaumung der Septembertagung über die Empfehlung seiner letzten Mitgliederversammlung hinweggesetzt und löste damit eine interne Diskussion aus, die offenbar so heikel war, daß der Vorstand sie ohne explizite Nennung der Hintergründe führen wollte. Der Vorsitzende Lipp sah sich zur Entschuldigung des Vorstandes mit den folgenden Worten gezwungen: „Als Versammlungsort des Kongresses für das laufende Jahr wurde Leipzig bestimmt und als Zeitpunkt seines Zusammentritts der Termin nach Ostern. Wieso es trotzdem kam, daß w i r erst i m September wieder zusammentreffen, die Umstände und Gründe hiervon des Breiteren darzulegen, bitte ich m i r als Sprecher des Vorstandes jetzt zu erlassen. W i r scheuen uns nicht, bei anderer Gelegenheit auf diesen Gegenstand näher einzugehen, wenn es verlangt werden sollte. Der Vorstand ist sich wohl bewußt, nicht ganz nach dem Wortlaut des § 2 der Statuten vorgegangen zu sein. Uber dem Wortlaut der Gesellschaftsstatuten steht aber nach Ansicht des Vorstandes i n seiner größten Mehrheit der Sinn und Zweck derselben und das vom Vorstand ebenfalls statutenmäßig stets zu wahrende Interesse der Gesellschaft 8 ." Offenbar als Beweis der eigenen Selbständigkeit nach dieser quasisymbiotischen Zwischenphase tagt man 1894 i n Breslau, weit fort von der Wiener Naturforscherversammlung, und 1895 i n Graz, ebenfalls weit entfernt von der Lübecker Tagung der Naturforscher. Die Anlehnung der Fachgesellschaften an die D N Ä kommt auch darin zum Ausdruck, daß i n den Verhandlungsschriften fast aller indifferenter und symbiotischer Gesellschaften, aber auch einiger unabhängig gegründeter Gesellschaften (z. B. i n den Verhandlungen der Deutschen BunsenGesellschaft von 1894/95) zur Information der Mitglieder die interessierenden Aktivitäten und Vorträge der entsprechenden DNÄ-Sektion abgedruckt werden. So enthält der „Anatomische Anzeiger" von 1887 das Verzeichnis der für die anatomische Sektion angemeldeten Vorträge, die Einladung zur DNÄ-Versammlung m i t den Einzelheiten der Anmeldung, sowie einen Abdruck sämtlicher i n den Sektionssitzungen der vorjährigen Naturforscherversammlung gehaltenen Vorträge. Auch i n der Form der Wanderversammlungen, i n den Bestimmungen über die Mitgliederrekrutierung und i n dem informellen persönlichen β Verhandlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 3. Kongreß, 1892; S.8.

4*

52

VII. Fakultative Symbiose

Ideenaustausch offenbart sich das Vorbild der Mutterorganisation. Die Gynäkologen übernahmen sogar den Brauch der Naturforscher, möglichst nur Geschäftsführer m i t Wohnsitz am Versammlungsort zu wählen.

Y I I I . Das Symbiose Verhältnis

Als nur halb gelungen muß man das DNÄ-interne Experiment der Differenzierung bezeichnen, wenn sich keine „distinkten sozialen Einheiten" entwickeln, sondern sich eine A r t „gesetzmäßiges dauerndes Zusammenleben verschiedenartiger Organismen zu gegenseitigem Nutzen" 1 herausbildet. Die Gesetzmäßigkeit solcher Verbindungen zwischen D N Ä und Tochtergesellschaft manifestiert sich i n dauerhaften gemeinsamen Tagungen. Während indifferente Gesellschaften nach Abschluß des Gründungsprozesses grundsätzlich ihre wissenschaftlichen Tagungen unabhängig von der Naturforscherversammlung abhalten, sind die wissenschaftlichen Sitzungen der symbiotischen Gesellschaften (jedenfalls i m Monat September) identisch m i t den Sektionstagungen der DNÄ. Aus folgenden Gründen scheint es dennoch gerechtfertigt, auch bei diesen Gesellschaftsgründungen von einem Prozeß der „Abspaltung" zu sprechen: — Die gleichen Vorgänge „sozialer Aufruhr" (Smelser) innerhalb der DNÄ, die auch die Vorbereitung der Gründung indifferenter Gesellschaften kennzeichnen, gehen der Bildung symbiotischer Gesellschaften voraus. — Während der Symbiosezeit werden oftmals unabhängig von der D N Ä ordentliche, außerordentliche oder Geschäftssitzungen der Gesellschaften abgehalten, deren Mitgliedschaft außerdem nicht automatisch identisch ist m i t der DNÄ-Mitgliedschaft 2 . — Spätestens nach einer bis zu 32 Jahren dauernden Symbioseperiode (Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin) verselbständigen sich auch diese Gesellschaften.

1 2

Definition von „Symbiose" lt. Großer Brockhaus (1957); S. 362.

Darauf ließ die Deutsche Pathologische ausländischen Mitglieder hinweisen.

Gesellschaft

besonders

ihre

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V I . Das

ieverhältnis

1. Warum symbiotische, nicht indifferente Gründung? Welches sind die besonderen Merkmale der neun symbiotischen Gesellschaften, wie sieht ihr Verhältnis zur DNÄ-Organisation aus, und wie schlägt sich ihre Eigenart i n den Statuten nieder? Die subjektiven und objektiven Gründe, die zur Bildung symbiotischer anstelle indifferenter Gesellschaften führen, sind mannigfaltig: 1. Man befürchtet als Konsequenz vollständiger Verselbständigung einen Prozeß gegenseitiger Erosion: entweder werde die Naturforscherversammlung unterhöhlt oder die Gesellschaftstagung zu wenig besucht werden. 2. Aus verkehrstechnischen Gründen w i r d die Teilnahme an einer zweiten selbständigen Tagung für zu mühselig gehalten. 3. Das Beispiel bereits gebildeter symbiotischer Gesellschaften spornt an, vor allem der Kontakt m i t verwandten Disziplinen i n der DNÄ. 4. Die relative „Jugend" der Wissenschaft läßt die Gründer befürchten, daß sie noch nicht i n der Lage sein wird, auf eigenen Beinen zu stehen, d. h. sie bedarf nicht i m gleichen Maße der „wissenschaftsspezifischen Umgebung" wie die indifferenten Disziplinen. Die drei erstgenannten Motive wurden bereits illustriert und kommen i n den folgenden Reden von Beyrich und Virchow zum Ausdruck. I n einer Ansprache zum 25-jährigen Bestehen der Deutschen Geologischen Gesellschaft faßt Beyrich 1874 die historischen Hintergründe der Verschmelzung seiner Gesellschaft m i t der Naturforscherversammlung zusammen: „Die Bestimmung (seil, der gemeinsamen Tagung) mußte i n das Statut aufgenommen werden teils i n Folge drängender Bemühungen eines Teiles der auswärtigen zur konstituierenden Versammlung hergereisten Geologen, teils i n Folge entschiedenen Verlangens von Anderen, welche ihren Z u t r i t t zu der Gesellschaft von der Annahme einer ähnlichen Bestimmung abhängig gemacht haben. Die Meinung war sehr verbreitet, es würde, wenn es auch nicht i n unserer Absicht läge, doch durch die Abhaltung besondere Versammlungen einer Deutschen Geologischen Gesellschaft die Teilnahme an den allgemeinen Versammlungen der Naturforscher und Ärzte einen Abbruch erleiden, und damit die Zersplitterung eines Instituts beginnen, welches sich eines allgemeinen Ansehens und einer großen Beliebtheit i n Deutschland erfreute®." Virchow, selbst einer der treuesten Anhänger der Naturforscherversammlung und eifriger Verfechter der Kompromißhaltung gegenüber 3 Zeitschrift der Deutschen Geologischen Gesellschaft, Bd. X X V I ; S . V I I .

l.Heft

(1873/74),

1. Warum symbiotische, nicht indifferente Gründung?

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Differenzierungsbestrebungen der Einzelwissenschaften, resümiert auf der ersten Tagung der Deutschen Pathologischen Gesellschaft 1898 i n Düsseldorf: „Ich möchte nur die Notwendigkeit betont haben, weshalb w i r zu der Gründung dieser besonderen Gesellschaft gelangt sind. W i r haben nicht einen so radikalen Schritt getan, wie i h n die K l i n i k e r getan haben, indem sie besondere Kongresse gründeten, die m i t der Naturforscherversammlung nichts zu t u n haben, sondern w i r sind hier als Mitglieder der Naturforscherversammlung, und i n unseren Statuten ist es vorgesehen, daß diese Verbindung als die regelmäßige zu betrachten ist, wenn auch außerordentliche Versammlungen vorbehalten sind. W i r haben die Meinung, daß w i r i n Zusammenhang bleiben müssen m i t der großen allgemeinen Versammlung 4 ." Die relativ dauerhafte fakultative Symbiose der Botanischen Gesellschaft m i t der D N Ä ging ebenfalls vor allem auf den Wunsch der Kontaktpflege m i t benachbarten Disziplinen und der Verhinderung der Bildung zweier wissenschaftlicher „Lager" zurück 5 . Das allen symbiotischen Gesellschaften gemeinsame Merkmal scheint — i m Gegensatz zu den indifferenten Gesellschaften — die subjektiv empfundene „Jugend", aber auch die objektive Unfertigkeit der kognitiven Grundlage ihrer Disziplin zum Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung gewesen zu sein. Die subjektiven Beweggründe spiegeln sich i n der wiederholten Forderung der Gesellschaftsvorstände nach verstärkter Universitätsausbildung und Abgrenzung der eigenen Wissenschaft gegenüber Nachbardisziplinen (bei gleichzeitiger Kontaktpflege) wider. Objektiv läßt sich die Unvollständigkeit einer Disziplin am Zeitpunkt ihrer Sektionsbildung i n der D N Ä und am Lehrstuhlangebot i n den Universitäten i m Vergleich zur Gesellschaftsgründung festmachen. Während drei der neun symbiotischen Gesellschaften die Einrichtung von Lehrstühlen oder Instituten oder den Einfluß auf die Hochschulausbildung zu einem ihrer Hauptziele erklären 6 , konnten w i r dieses Ziel nur bei sechs der 29 indifferenten Gesellschaften nachweisen. I n einer 1893 an führende Tageszeitungen verschickten Anzeige der symbiotischen Deutschen Mathematikervereinigung (DMV) heißt es: „Wenn auch der nächste und vornehmste Zweck der Jahresversammlung der D M V die Besprechung rein wissenschaftlicher Fragen ist, so 4

Verhandlungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft, 1899; S. 5. Degen, Heinz: „Die Entstehung der Deutschen Botanischen Gesellschaft", NWR, 1974. 6 Deutsche Gesellschaft f ü r Kinderheilkunde, Deutsche MathematikerVereinigung, Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin. 5

V I . Das

56

ieerhältnis

erscheint es doch naturgemäß, auch Fragen des mathematischen Unterrichts i n den Bereich der Diskussion zu ziehen, weil die Gesellschaft i n ihrer Vereinigung von Lehrern der Mathematik an Hoch- und Mittelschulen ein hervorragendes Interesse an solchen Einrichtungen nimmt, welche die Ausbildung der Lehramtskandidaten betreffen." Es folgt die Veröffentlichung einer Resolution der D M V : „ I m Hinblick darauf, daß die Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts i n mehreren deutschen Staaten demnächst abgeändert wird, gibt die D M V der Uberzeugung Ausdruck, daß eine gründliche und vertiefte wissenschaftliche Ausbildung die Grundlage jeder ersprießlichen Lehrtätigkeit ist, und hegt die Erwartung, daß die Änderung i n dem Sinne erfolge, daß eine solche voll gewährleistet w i r d 7 . " Diese Bemühungen waren keineswegs nur deklamatorischer A r t , wie die spätere Einführung des neuen Lehrfaches für angewandte Mathematik beweist: „Die D M V erkennt m i t Dank an, daß die deutschen Unterrichtsverwaltungen den von ihr wiederholt geäußerten Anregungen zum weiteren Ausbau der Einrichtungen für die angewandte Mathematik an den Hochschulen mehr und mehr Folge gegeben und ihrer Bedeutung durch Schaffung einer besonderen Lehrfähigkeit i n diesem Fache den erforderlichen Nachdruck verliehen haben . . A " I n der bereits zitierten Rede von 1898 versucht Virchow die Pathologie von der Anatomie abzugrenzen und doch deren Integration i n die Gesamtheit der Medizin zu berücksichtigen: „So möchte ich auch von uns sagen, daß, wenn w i r unsere Gesellschaft die »pathologische4 nennen, w i r jedoch keine Gesellschaft von professionellen Pathologen bilden wollen, sondern eine Vereinigung von Medizinern, i n der ein fester wissenschaftlich geschulter K e r n gegeben sein soll, u m den andere sich scharen können, welche i n gleicher Richtung forschen. . . . W i r müssen uns i m Beginn unserer Tätigkeit daran erinnern, daß, wenn jemand kommen und von uns sagen wollte: Das sind ja lauter Anatomen!, w i r i h m antworten dürfen: W i r wollen Pathologen sein und keine bloße Anatomen, . . A " Die Unfertigkeit einer Disziplin scheint sich objektiv i m Verhältnis zur D N Ä auch darin auszudrücken, daß ihr erst relativ spät die Bildung einer selbständigen Sektion gelingt. Erst zum Zeitpunkt der Gründung ihrer (symbiotischen) Gesellschaft oder kurz zuvor tagen die Geologen, 7 Jahresbericht der D M V , Bd. 3, 1892/3; S. 5. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Karlsruhe, 1911; Leipzig 1911; S. 168. » Verhandlungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft, 1899; S. 4. 8

1. Warum symbiotische, nicht indifferente Gründung?

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Medizinhistoriker, Pädriatiker und Gerichtsmediziner i n eigenen Sektionen. Wie jung die beiden symbiotischen Fächer Pädiatrie und Gerichtsmedizin zum Zeitpunkt der Gründung ihrer Gesellschaft waren, zeigt auch ein Vergleich mit der Einrichtung von Universitätslehrstühlen i n Deutschland: Die Pädiatrie erhält mit dem Vorsitzenden der 1883 gegründeten Gesellschaft für Kinderheilkunde, Otto Heubner, erst 1894 ein eigenes planmäßiges Ordinariat i n Berlin, und die Gerichtsmedizin ist erst sieben Jahre vor Gründung ihrer Gesellschaft i n Leipzig i m Jahre 1904 durch Kockel mit einem ordentlichen Lehrstuhl vertreten. Verbunden mit der relativen Unfertigkeit einer symbiotischen Disziplin ist ihre noch unausgebildete Entwicklung eigener Methoden, Theorien und Apparate, so daß die Notwendigkeit der Suche nach „disziplinspezifischer Umgebung" gering erscheint. Gesellschaften, die zum Zeitpunkt ihrer Gründung eine junge Wissenschaft vertreten, aber trotzdem ein indifferentes Verhältnis zur D N Ä eingehen, wie ζ. B. die Urologie oder Orthopädie, sehen sich dazu offenbar gezwungen, weil es ihnen nicht gelingt, eine eigene Sektion i n der Naturforscherversammlung zu bilden. Ähnliche Schwierigkeiten hatte zunächst die Pädiatrie, die i n einem offiziellen Antrag 1875 der Sektion für Innere Medizin das Recht absprechen mußte, die NichtKonstituierung der pädiatrischen Sektion zu verfügen 10 . Die Frage, ob sie ein indifferentes oder symbiotisches Verhältnis zur D N Ä eingehen sollte, beschäftigte besonders die Deutsche Laryngologische Gesellschaft lange über den Zeitraum ihrer Gründung hinaus. Da an diesem Beispiel zusätzlich die Problematik nord- vs. süddeutscher Gründungen, sowie das oftmals konfliktgeladene Verhältnis von Fachgesellschaft, Sektion und DNÄ-Vorstand deutlich wird, soll es ausführlicher dargestellt werden. Bereits 1894 war als erster der Verein Süddeutscher Laryngologen i n Heidelberg unter der M i t w i r k u n g von Jorasz gegründet worden. I n der Eröffnungsansprache betont Jorasz, daß die laryngologische Wissenschaft „die ihr m i t Recht zukommende Selbständigkeit und die ihr entsprechende Stellung nicht erlangt hat, und daß sie u m diese Güter besonders an den Hochschulen harte Kämpfe führen muß" 1 1 . 1905 w i r d i n Heidelberg unter Beteiligung der Süddeutschen die Deutsche Laryngologische Gesellschaft gegründet, während der Verein Süddeutscher Laryngologen bis zur Gründung des Gesamtvereins 1908, des Vereins Deutscher Laryngologen, bestehen bleibt. io Clement, Walter, S. 109. h Verhandlungen des Vereins Würzburg 1904; S. 3.

süddeutscher

Laryngologen

1894 - 1903,

58

V I . Das

ieverhältnis

Bei der Statutendebatte zur Gründung der Deutschen Laryngologischen Gesellschaft 1905 entspinnt sich eine heftige Auseinandersetzung u m die Frage des Verhältnisses zur Naturforscherversammlung. Der Vorsitzende Moritz Schmidt lehnt den Wortlaut eines entsprechenden Paragraphen ab, der auf Vorschlag des Süddeutschen Vereins lauten soll: „Die Sitzungen der Gesellschaft finden alle zwei Jahre i m Herbst statt." Dazu Schmidt: „Ich hege die Ansicht, daß die Gesellschaft möglichste Freiheit bekommen muß; wenn w i r heute beschließen, daß w i r immer m i t der Naturforscherversammlung tagen wollen, dann ist es uns nur durch eine Satzungsänderung möglich, etwas anderes zu tun. . . . Ich halte dafür, daß man der Gesellschaft darin Freiheit lassen muß, die Sitzungen zu bestimmen 12 ." Da sein Gegenvorschlag mit 12 Stimmen Mehrheit abgelehnt w i r d (44 :32), legt er unter Protest über den „gewalttätigen" Beschluß seinen Vorsitz nieder: „Ich betrachte das als eine Herabwürdigung der deutschen Gesellschaft. Keiner anderen Gesellschaft w i r d verboten, ihre Sitzungen selbst anzusetzen 13 ." Da die überstimmte Minderheit ihn lautstark und m i t Fußgetrappel unterstützt, und als schließlich der V o r w u r f der „Unterwerfung" unter die süddeutsche Gesellschaft aufkommt, versucht Thost die Mitglieder zu beschwichtigen: „Ich möchte bitten, eine friedlichere Stimmung walten zu lassen, nicht zwischen Süden und Norden zu unterscheiden, sondern sich auf den deutschnationalen Standpunkt zu stellen 1 4 ." Schmidt lehnt jedoch weiterhin die Übernahme des Vorsitzes ab: „Die Sache ist aber auch deswegen nicht formal, weil sich keine Gesellschaft gefallen lassen wird, sich von einer anderen Vorschriften machen zu lassen, wann sie ihre Sitzungen zu halten hat 1 5 ." Zwar kommt es schließlich zu einem Kompromiß, der eine zusätzliche unabhängige Jahrestagung vorsieht, doch der Streit entzündet sich i m übernächsten Jahr erneut an der Frage der Vereinigung der Abteilungen Otologie und Laryngologie der Naturforscherversammlung. Schmidt, der inzwischen laut Nachruf „an einem Herzschwächeanfall infolge Überanstrengung 16 " verstorben ist, w i r d von Fränkel abgelöst, der für eine Resolution der Gesellschaft „betreffs die Trennung der Laryngologie von der Otologie auf internationalen Kongressen und Naturforscherversammlungen 17 " eintritt. 12 Verhandlungen der Deutschen Laryngologischen Gesellschaft, Heidelberg 1905; S.3. 13 Ibid., S. 5; hier i r r t e Schmidt, der über die symbiotischen Gesellschaften offenbar nicht unterrichtet w a r bzw. sein wollte. 14 ibid., S. 5. is Ibid., S. 5. ι« Verhandlungen der Deutschen Laryngologischen Gesellschaft; Dresden 1907, S. 13. ι? Ibid., S. 13.

1. Warum symbiotische, nicht indifferente Gründung?

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Man hätte eine separate Gesellschaft gar nicht zu gründen brauchen, wenn man eine Vereinigung der beiden Disziplinen, wie sie vom D N Ä Vorstand erwogen werde, befürworte. „Ich glaube, w i r t u n am besten . . . i n diese Sektionen der Naturforscherversammlung nicht zu gehen. Mögen sie beschließen, was sie wollen. Wir, die Deutsche Laryngologische Gesellschaft, geben unseren Willen durch diesen Beschluß kund, und damit ist die Sache für uns erledigt 1 8 ." A u f diesen Vorschlag h i n w i r d beschlossen, „daß die Laryngologie i m Unterricht, auf wissenschaftlichen Kongressen und i n der Literatur als besondere Disziplin behandelt werde" 1 9 . Die von der laryngologischen Abteilung der D N Ä vorgeschlagene Vereinigung mit der Otologie w i r d als Ergebnis einer „zufälligen Mehrheit" abgetan. Träubel geht i n diesem Zusammenhang auf die „fragwürdige" Beschlußfindung i n den DNÄ-Abteilungen näher ein, deren K r i t i k uns bei der Abspaltung der Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege später wieder begegnen w i r d und daher hier zitiert sein soll: „Was nun die Sektionen anbelangt, so ist die Majorität i n denselben eine rein zufällige. Jedes Mitglied der Naturforschergesellschaft kann stimmberechtigt i n diesen Sektionen erscheinen. Es ist ganz gut möglich, daß dieser Beschluß (der Vereinigung von Laryngologie und Otologie) so oder so von Herren gefaßt wird, die unserer Disziplin an und für sich sehr fern stehen können. Wer die Naturforscherversammlung so lange kennt wie ich, weiß, daß bei solchen Gelegenheiten eine ganze Reihe Herren die allgemeine Praxis treiben, i n die Sektion hineinzugehen, weil sie diese Diskussionen interessieren, und sie sind vollkommen stimmberechtigte Mitglieder. Ich glaube nicht, daß w i r die Beschlüsse einer so vereinigten Sektion als für uns bindend erachten 20 ." Aufgrund dieser heftigen K r i t i k und nach weiteren Diskussionen i n den Sektionssitzungen bleiben die Laryngologie und Otologie i n der Tat bis 1914 trotz gegenteiliger Empfehlungen des Vorstandes der D N Ä als getrennte Abteilungen bestehen. A n diesen Reden wurden zwei Konfliktquellen deutlich: Erstens das prinzipielle Dilemma symbiotischer Gesellschaften, die sich i n ihrer wissenschaftlichen Entwicklung und Entscheidungsfreiheit durch externe Einflüsse des DNÄ-Vorstandes beschränkt fühlen, und zweitens der Versuch eines ohnmächtigen Vorstandes, seine an organisatorischen Bedürfnissen orientierten Beschlüsse (Reform durch Koordinierung) m i t Hilfe vorgeschobener loyaler Mitglieder in den Sektionen durchzusetzen. is ibid., S. 14. Ibid., S. 14; 1921 vereinigt sich dennoch der Verein Deutscher Laryngologen m i t der Deutschen Otologischen Gesellschaft. so Ibid., S. 14. 19

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V I . Das

ieverhältnis

2. Die Statuten symbiotischer Gesellschaften und der Einzelfall der Pathologischen Gesellschaft Das symbiotische Verhältnis der Fachgesellschaften zur D N Ä reicht von bloßer Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Tagungen bis zur vollkommenen institutionellen Überlappung und Identität mit den Sektionen. Die Identität von Sektions- und Gesellschaftssitzung kommt i n den folgenden Eröffnungsworten vor der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin deutlich zum Ausdruck: „ I n dem ich die anwesenden Herren des Vorstandes und die M i t glieder der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin noch einmal herzlich begrüße, eröffne ich hiermit die Verhandlungen der 31. Abteilung der 83. Naturforscher- und Ärzteversammlung und der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin 2 1 ." Bereits vor der Reform und strukturellen Formalisierung der D N Ä i m Jahre 1890/91 bedurfte die gemeinsame Tagung einer deutschen Gesellschaft m i t einer DNÄ-Sektion der informellen Zustimmung der Geschäftsleitung. Nach 1893 bestimmt die neue Geschäftsordnung der Naturforscherversammlung, daß der Wissenschaftsausschuß der D N Ä „etwaige Verhandlungen" m i t Gesellschaften zu führen habe, die m i t Sektionen gemeinsam zu tagen wünschen. Die Geschäftsführung ist zu unterrichten, und der Vorstand fällt die letzte Entscheidung. I n einem Kommentar zur 71. Naturforscherversammlung i n München 1899 heißt es daher i n den „Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft" (DPG): „ A u f Antrag des wissenschaftlichen Ausschusses der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hat die physikalische Sektion der Naturforscherversammlung folgenden Beschluß gefaßt und der Geschäftsleitung der Versammlung unterbreitet: ,Die physikalische Sektion spricht den Wunsch aus, daß auch i n Zukunft ihr Einführender sich vor der Versammlung m i t dem wissenschaftlichen Ausschuß der DPG i n Verbindung setzt und die Tagesordnung der einzelnen Sitzungen, sowie insbesondere auch die gemeinschaftlichen Sitzungen m i t anderen Sektionen i n Gemeinschaft m i t diesem abspricht 22 ." A n diesem Zitat w i r d bereits eine Tendenz deutlich, die w i r später als „Außenlenkung" der D N Ä durch die Fachgesellschaften bezeichnen 21 Vierteljahresschrift f ü r Gerichtliche Medizin u n d öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 43. Bd., 2. Suppl.Heft, Jg. 1912, S. 1. 22 Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Jg. 1, 1899; S. 209.

2. Der Einzelfall der Pathologischen Gesellschaft

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werden: Die Sektionen werden durch vorformulierte Beschlüsse oder Wünsche der Mitglieder einzelner Gesellschaften präjudiziert und verlieren zunehmend an Selbständigkeit. Paragraph 4 der Statuten der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin bestimmt die Einzelheiten der Vorbereitung gemeinschaftlicher Tagungen folgendermaßen: „ F ü r die ordentlichen Tagungen t r i f f t der Vorstand die Vorbereitungen unter M i t w i r k u n g des ,Einführenden' der gleichnamigen Sektion der jeweiligen Naturforscherversammlung. Der Vorsitzende und der Einführende unterzeichnen gemeinsam die Einladung zu dieser Vereinigung und treffen vorläufige Bestimmungen über die Reihenfolge der dafür angemeldeten Vorträge 2 3 ." Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung bestimmt darüber hinaus i n den „Bremer Beschlüssen", daß die Mitglieder ihres Vorstandes M i t glieder der D N Ä sein müssen. U m den Wandel des Verhältnisses der symbiotischen Gesellschaften zur DNÄ, vor allem die Gründe für ihre schließliche Abkehr an einem Einzelfall zu demonstrieren, wollen w i r i m Folgenden den Werdegang der Statuten der Pathologischen Gesellschaft von ihrer Gründung bis zum Jahre 1907, der endgültigen Verselbständigung, verfolgen. Zunächst eine Auswahl des Wortlauts der Gründungsstatuten von 1897 24 : § 1 Die Deutsche Pathologische Gesellschaft verfolgt den Zweck, bei dem stetig wachsenden Umfang der Forschung einen M i t t e l p u n k t f ü r gemeinsame wissenschaftliche A r b e i t zu bilden u n d zur Vereinigung der Fachgenossen beizutragen. § 3 Die ordentlichen jährlich abzuhaltenden Tagungen werden i n zeitlicher u n d örtlicher Verbindung m i t den Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte abgehalten. Außerordentliche Tagungen werden . . . entweder i n B e r l i n oder i n einer anderen . . . Stadt stattfinden. §4 F ü r die ordentlichen Tagungen t r i f f t der Vorstand die Vorbereitungen unter M i t w i r k u n g des „Einführenden" der gleichnamigen Sektion der j eweiligen Naturforscherversammlung. § 6 Die während der ordentlichen Tagung stattfindenden wissenschaftlichen Sitzungen der Gesellschaft fallen m i t denen der Naturforscherver23 Vierteljahresschrift für Gerichtliche Medizin u n d öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 43. Bd., 2. Suppl.Heft, Jg. 1912; S. 381 f. 24 Verhandlungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft, 1897 -1907; die Gründungsstatuten der anderen symbiotischen Gesellschaften sind bis auf geringfügige Unterschiede gleichlautend. (Statuten jeweils ohne Seitenangabe.)

62

V I . Das

ieverhältnis

Sammlung zeitlich zusammen. Sondersitzungen greifen n u r insofern Platz, als Gegenstände zu verhandeln sind, welche sich auf die O r ganisation u n d V e r w a l t u n g der Gesellschaft beziehen . . . § 12 Der Einführende der pathologischen Sektion der künftigen N a t u r forscherversammlungen hat, insofern er M i t g l i e d der Gesellschaft ist, Anspruch auf einen dieser Vorstandsposten. § 17 . . . Jedoch w i r d schon jetzt grundsätzlich anerkannt, daß die pathologische Sektion der Naturforscherversammlung die Tagesordnung bestimmt u n d über die Reihenfolge der Vorträge entscheidet.

Erläuterungen zur Mitgliedschaft: „Auswärtigen, nicht deutschen Mitgliedern der Gesellschaft soll bei ihrer Aufnahme die . . . Nachricht zugestellt werden, daß die M i t g l i e d schaft der Pathologischen Gesellschaft nicht gleichzeitig auch diejenige der Naturforscherversammlung i n sich schließe."

Bereits 1899 heißt es i n den Verhandlungen der Pathologischen Gesellschaft, daß die Beteiligung an den Gesellschaftssitzungen i n unerwartetem Maße zugenommen habe, ein Beweis, daß das bei deren Gründung gesteckte Ziel wissenschaftlicher Zusammenarbeit und persönlicher Annäherung i n immer weiteren Kreisen Anklang und aktive Förderung gefunden habe. Bis 1902 ändert sich nichts am Inhalt der Gründungsstatuten. Noch 1903 scheint man an eine verstärkte Integration i n die D N Ä gedacht zu haben, denn § 12 w i r d verschärft: „Außerdem t r i t t jeweils der Einführende der Sektion für pathologische Anatomie der künftigen Naturforscherversammlungen dem Vorstande bei 2 * " 1904 t r i t t keine weitere Änderung ein. A u f der Dresdner Naturforscherversammlung 1905 findet eine Geschäftssitzung der Pathologischen Gesellschaft statt, deren Ergebnis i n einer Notiz der Verhandlungen zusammengefaßt w i r d : „Die vom Vorstand vorgeschlagenen Änderungen der Satzungen werden, nachdem sich die Herren v. Hansemann, Kretz und Pommer gegen, die Herren Ponfick, Aschoff-Beitzke und Orth für die fakultative Trennung der Deutschen Pathologischen Gesellschaft von der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte ausgesprochen, angenommen 26 ." Noch ist die Gesellschaft zerstritten und kann keine Mehrheit für eine völlige Lösung von der D N Ä bilden. Paragraph 3 der Statuten w i r d i m Anschluß an diese Entscheidung geändert: 25 Verhandlungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft, 1903, § 13 der Statuten. 2β Ibid., 1905; S. 352.

2. Der Einzelfall der Pathologischen Gesellschaft

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„Die alljährlich abzuhaltenden Tagungen werden entweder i n zeitlicher und örtlicher Verbindung mit der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte oder selbständig i n einer anderen Stadt des deutschen Sprachgebietes abgehalten 27 ." 1906 trifft man sich wieder m i t der D N Ä i n Stuttgart, w i l l jetzt aber die vorjährige Kompromißlösung aufheben und eine endgültige Trennung anstreben: „Es findet eine Besprechung über die Loslösung der Tagung der Deutschen Pathologischen Gesellschaft von der der Naturforscher und Ärzte statt. Der Vorstand w i r d beauftragt, für nächstes Jahr einen diesbezüglichen Antrag der Gesellschaft vorzulegen 28 ." 1907 findet die letzte gemeinschaftliche Sitzung m i t der Naturforscherversammlung i n Dresden statt. I n der Eröffnungsrede klagt v. Baumgarten über die notwendige Kürze und Gedrängtheit der Vorträge i n der Sektion und fährt fort: „Andererseits läßt diese Enge, i n die w i r m i t unseren eigensten A u f gaben durch die Verbindung unserer Tagungen m i t derjenigen der Naturforscherversammlung geraten, von neuem m i t großer Deutlichkeit die zwingende Notwendigkeit erkennen, endlich die Loslösung der ordentlichen Tagungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft von der der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu vollziehen . . 2«." A u f der anschließenden Geschäftssitzung beschließt der Gesellschaftsvorstand die Trennung von der Naturforscherversammlung. Als letztes Zeichen der Verbundenheit mit der D N Ä w i r d der Vorstand beauftragt, jährlich „ein geeignetes Referat für die Abteilung der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie aufzustellen und für geeignete Referenten zu sorgen 30 ." Neben der Abschaffung derjenigen Paragraphen, die auf die D N Ä Verschmelzung Bezug nehmen, w i r d als einziger ein neuer Paragraph 2 i n die Statuten eingeführt, der unseres Erachtens den Hauptgrund für die Lösung von der D N Ä zum Ausdruck bringt: „Die Tagungen finden i n der Regel i n einer Universitätsstadt... statt, i n der sich ein für die Abhaltung der Verhandlungen geeignetes pathologisches Institut befindet 31 ." 27 28 29 30 31

ibid. Ibid., 1906; S. 294. Ibid., 1907; S. 3. Ibid., 1907; S. 378. Ibid.

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V I . Das

ieverhältnis

Man kann infolge des starken Wachstums der Mitgliederzahlen und der disziplineigenen wissenschaftlichen Forschung (s. § 1 der Statuten!) auf das Gesamtforum der D N Ä verzichten und bedarf einer „disziplinspezifischen Umgebung", u m sich ausschließlich dem Spezialgebiet w i d men zu können. A u f der ersten 1908 i n K i e l stattfindenden selbständigen Tagung der Deutschen Pathologischen Gesellschaft kommentiert der Vorsitzende Heller den Abspaltungsvorgang mit den kritischen Worten: „Lange haben viele von uns der Trennung widerstrebt; aber die Gewalt der Tatsachen war mächtiger. Die Menge des von uns zu behandelnden Stoffes war so gewachsen, daß w i r oft nicht i n der Lage waren, an den Verhandlungen anderer uns nahe stehender Abteilungen teilzunehmen. Nur zeitlich und örtlich waren w i r mit ihnen verbunden, tatsächlich isoliert. W i r waren gezwungen, dem Vorbilde der Anatomen, Chirurgen, inneren Mediziner etc., welche sich längst eigene Tagungen geschaffen, zu folgen 3 2 ." Nur zehn Jahre (und Virchows Tod 1902) liegen zwischen Virchows zuversichtlicher Integrationsrede von 1897 und dieser Gründungsansprache Hellers.

3. Systematisierung der Loslösung Obwohl w i r bei anderen Gesellschaften diesen Prozeß nicht i m einzelnen nachvollziehen konnten, lassen sich analytisch drei verschiedene Stadien der Verselbständigung symbiotischer Gesellschaften konzipieren: — Anpassungsphase zunehmender Partizipation und Integration; — Unruhephase latenter Unzufriedenheit und fakultativer Trennungsversuche; — Trennungsphase endgültiger Verselbständigung mit Zeichen der Anerkennung für die Mutterorganisation 3 3 . Wenn w i r die Sektionen als symbiotische Vorläuferinnen der indifferenten Gesellschaften auffassen, können w i r vermuten, daß sich ähnliche Phasen vor der Abspaltung indifferenter Gesellschaften herausbildeten.

32 Ibid., 1908; S. 1. Die Geologische Gesellschaft scheint nach der Schilderung von K o k e n u n d Degen die gleichen Phasen durchlaufen zu haben. 33

I X . Zielkonflikte und DN Ä-bedingte Abspaltungsgründe Warum haben sich über einen Zeitraum von 93 Jahren 38 wissenschaftliche Fachgesellschaften nach dem Muster des symbiotischen oder indifferenten Verhältnisses von der Naturforscherversammlung abgespalten? Welche Gründe dafür lassen sich i m Selbstverständnis der Akteure oder i m objektiven wissenschaftlichen, sozialen oder politischen Geschehen nachweisen 1 ? Da sich die Gründungs Vorbereitungen oder die Gründung bei allen Gesellschaften i n Verbindung mit einer Naturforschersektion abspielten, und da der Nachweis der Abspaltungsmotive zu einem großen Teil den Gründungs- und Eröffnungsreden der Gesellschaftsvorsitzenden entnommen wurden, müssen w i r Degen widersprechen, wenn er behauptet: „Folglich wurde dann bei Gründung der betreffenden Vereinigung auf diesen (DNÄ-)Ursprung kein Bezug genommen 2 ." I m Gegenteil: Die Mehrheit der subjektiven Abspaltungsmotive 3 geht auf ein kritisches Verhältnis zur D N Ä zurück. Dementsprechend werden w i r zunächst die Gründungsimpulse erörtern, die i n der „archaischen Organisation" (Smelser) der D N Ä zu suchen sind, und anschließend allgemeine wissenschaftliche und geopolitische Umstände berücksichtigen. Folgende Liste von Abspaltungsgründen, die auf Zielkonflikte zwischen Untereinheit (Sektion) und Gesamtorganisation (DNÄ) verweisen, läßt sich aufstellen: 1. Das SpannungsVerhältnis zwischen dem Anwachsen der Forschungsergebnisse einer Disziplin und dem „engen Gewand" der Sektionen; 2. Die Vernachlässigung der Disziplin innerhalb der D N Ä oder durch die Mutterdisziplin; 3. Der Wunsch einer Disziplin nach „öffentlichem Erscheinen" oder „festerem Zusammenschluß", d. h. Ausbruch aus dem Sog und der 1 „ M o t i v " u n d „ Z i e l " werden i n diesem K a p i t e l insofern austauschbar benutzt, als sich die Abspaltungsmotive der Gesellschaften i n ihren neuen Zielen niederschlugen. 2 Degen, H.: „Die D N Ä als Keimzelle", S. 350. 3 W i r stellen vorwiegend auf die Gründe ab, die sich i m subjektiven Bewußtsein der Handelnden spiegeln, da sie zu den A k t i o n e n Anlaß geben, die eine Abspaltung zur Folge hatten. Vgl. das bekannte Thomas-Axiom: I f a person defines a situation as real, i t is real i n its consequences.

5 v. Gizycki

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe Anonymität der übergroßen Naturforscherversammlung tionelle Verselbständigung);

(institu-

4. Das Bedürfnis einer Wissenschaft nach „wissenschaftsspezifischer Umgebung", d.h. eigener Ortswahl für die wissenschaftlichen Tagungen; 5. Ein verstärktes Eintreten der Disziplin für universitäre Ausbildung, Einrichtung von Instituten und Lehrstühlen; 6. Der Widerstand innerhalb der D N Ä selbst, vor allem Generationsprobleme; 7. Das Beispiel anderer, bereits abgespaltener Gesellschaften; 8. Die „Mandarinen-Ideologie" der D N Ä : Standesvertretung und Wissenschaftstheorie. Einer dieser Gründe allein oder alle Gründe zusammen i n unterschiedlicher Gewichtung und Kombination können die Abspaltung verursachen. Bis Punkt 6 haben w i r die Abspaltungsgründe nach A r t einer Kausalkette aneinandergereiht: das Anwachsen der Forschung einer Disziplin kann zu ihrer relativen Vernachlässigung innerhalb der D N Ä führen; das bewirkt den Wunsch nach institutioneller Verselbständigung und wissenschaftsspezifischer Umgebung, was sich wiederum i n der Forderung nach intensiver Universitätsausbildung niederschlägt. Der Widerstand innerhalb der D N Ä und das Beispiel anderer Gesellschaften scheinen diese Gründe allgemein verstärkt zu haben. Die These einer die D N Ä beherrschenden Mandarinen-Ideologie, wie sie von Ringer für die Entwicklung der Sozialwissenschaften nachgewiesen wurde 4 , wollen w i r vor allem anhand ihrer Rolle i n Fragen der Standesvertretung und ihrer Stellungnahme i m „Tuberkulose-Streit" zu verifizieren versuchen. Obwohl nach dem Prinzip „de mortuis n i l nisi bene" die K r i t i k der D N Ä durch die abgespaltenen Gesellschaften i m allgemeinen recht glimpflich verläuft, und w i r deshalb relativ wenig über interne Konfliktsituationen erfahren können, scheint sich das Modell des Zielkonflikts der Untereinheiten mit der Gesamtorganisation als bestes Erklärungsmodell für das vielfältige Muster der Abspaltungsvorgänge anzubieten. Renate Mayntz hält Zielkonflikte für eine der wichtigsten Arten von Konflikten i n Organisationen, „die entweder dadurch entstehen, daß eine Organisation mehrere, nicht ganz miteinander vereinbare 4 Ringer, F r i t z : The Decline of the German Mandarins, Cambridge, H a r v a r d University Press 1969.

IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

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Ziele gleichzeitig verfolgt oder das verschiedene einflußreiche Gruppen innerhalb oder auch außerhalb der Organisation nicht darin übereinstimmen, welches Ziel die Organisation verfolgen soll 5 ". Eine Mischung aus beiden Konfliktarten scheint die Zielkonflikte innerhalb der Naturforscherversammlung gekennzeichnet zu haben, denn sie waren intensiv genug, u m „gegensätzliche Anforderungen an das Verhalten der ausführenden Mitglieder" 6 zu stellen, und diese dadurch zur Emigration und Bildung separater Einheiten zu zwingen. Einer der klügsten Beobachter DNÄ-interner Konfliktvorgänge war Virchow, der bereits 1869 erkannte, „daß die Gefahr nahe liegt, daß sich die Sektionen völlig emanzipierten und selbständig stellten, gewissermaßen gegen die Gesamtheit der Gesellschaft Revolution machten" 7 . Die von Selznick theoretisch erarbeitete „Interessenbifurkation" läßt sich i n vielen Fällen innerhalb der D N Ä konkret nachweisen. Während Selznick jedoch als Folge davon eine zunehmende Ideologisierung und gegenseitige Bekämpfung der Untereinheiten konstatiert, w i r d i n der D N Ä tatsächlich ein Prozeß der Konfliktvermeidung durch „rechtzeitige" Abspaltung ausgelöst. Mitunter sind es kleine Änderungen i m sozialen oder Wissenschaftsprogramm einer neugegründeten Gesellschaft, die auf ein vorhergehendes Konfliktpotential innerhalb der D N Ä verweisen. Eine Notiz i m „Correspondenz-Blatt" der Anthropologischen Gesellschaft lautet: „Bei der Frage über die Mitgliedschaft waren alle Stimmen über eine möglichste Ausdehnung derselben einig. Der Absicht des auf der Naturforscherversammlung zu Innsbruck zusammengetretenen Gründungskommittees entsprechend sollen politische Grenzen für den Beit r i t t nicht gelten, und ebensowenig die Beteiligung der Frauen ausgeschlossen sein 8 ." Wie schwierig sich die D N Ä andererseits i n der Anerkennung der Frauen tat, und m i t welcher K o m i k diese Restriktion verbunden war, hat Helga Rehse vortrefflich geschildert 9 . I m Gegensatz zur Anthroβ Mayntz, Renate: Soziologie der Organisation, H a m b u r g 1963; S. 74. β Ibid., S. 76. 7 Aus Virchows A n t w o r t auf den A n t r a g von Prof. Vogt, eine Deutsche Gesellschaft f ü r Anthropologie u n d Ethnologie zu gründen. I n : Tageblatt der 43. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Innsbruck, 1869, S. 222. β Correspondenz-Blatt der Deutschen Gesellschaft f ü r Anthropologie, Ethnologie u n d Urgeschichte, 1, 1870; S. 6. » Rehse, Helga: „Die Rolle der F r a u auf den Naturforscherversammlungen des 19. Jh.", i n : Schipperges (Hrsg.).

5*

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

pologischen und zu anderen deutschen Gesellschaften hat die D N Ä auch nie außerhalb des Deutschen Reiches und Österreichs getagt. Unter vielerlei kleineren Zielkonflikten haben lange Zeit die symbiotischen Gesellschaften zu leiden. Der Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereinigung z.B. bedauert 1893, daß die Naturforscherversammlung 1892 ausfiel und mit ihr die DMV-Tagung. Da die sechs Tage der DNÄ-Versammlung für die mathematische Ausstellung 1893 nicht ausreichen, sieht man eine Verlängerung über einen Monat vor 1 0 .

1. Forschungsexpansion und Enge der Sektionen W i r haben bereits bei der Beschreibung des Abspaltungsvorganges der Deutschen Pathologischen Gesellschaft gesehen, daß die Gedrängtheit der Vorträge und die Kürze der Sektionssitzungen als Haupthindernis für die Diffusion der rasch ansteigenden Forschungsergebnisse dieser florierenden Disziplin empfunden wurden. Auf der zweiten allgemeinen Versammlung der Anthropologischen Gesellschaft i n Schwerin 1871 scheint Virchow ein ähnliches Dilemma i n seiner A n sprache zu implizieren: „Der Versuch, eine Deutsche Anthropologische Gesellschaft m i t eigenem Leben herzustellen, war gewiß berechtigt den großen Leistungen gegenüber, welche auf den verschiedenen Gebieten, die sich gegenwärtig unter dem gemeinsamen Banner der Anthropologie zusammenscharen, i n Deutschland hervorgebracht worden sind. Es war umsomehr berechtigt, als . . . es allgemein den Anschein hat, als ob die Deutschen auf diesem Gebiete . . . zu den am meisten zurückgebliebenen Völkern gehören. Es geschah dies unzweifelhaft durch den Mangel einer geeigneten Organisation 11 ." Nach der Loslösung von der D N Ä atmen daher viele Gesellschaften auf, wie ζ. B. die geologische Gesellschaft: „Sie werden mir zustimmen, wenn ich das Urteil abgebe, daß sich nicht nur das Interesse an unseren allgemeinen Versammlungen, sondern auch mit i h m das Interesse an unserer Gesellschaft überhaupt seit der Lösung von der Versammlung der Naturforscher und Ärzte fortschreitend gehoben hat, und daß ein frischer lebendiger Geist i n den kranken Körper eingezogen ist 1 2 ." 10 Jahresbericht der D M V , Bd. 3, 1892/93; S. 5. 11 Correspondenz-Blatt der Deutschen Gesellschaft f ü r Anthropologie, Ethnologie u n d Urgeschichte, 6 - 1 0 , 1871; S. 42. ι 2 Ansprache v o n Beyrich, i n : Zeitschrift der Deutschen Geologischen Gesellschaft, l . H e f t , 1873/74, Bd. X X V I ; S. V I I .

2. Vernachlässigung der Disziplin innerhalb der DNÄ

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Die zeitlichen und räumlichen Begrenzungen der DNÄ-Tagungen standen vielfach i m Widerspruch zu den wissenschaftlichen Anforderungen florierender Sektionsdisziplinen.

2. Vernachlässigung der Disziplin innerhalb der DNÄ Die subjektiv empfundene Vernachlässigung der eigenen Disziplin kommt u. a. i n der wiederholten Betonung des „Bedürfnisses" zur Bildung einer unabhängigen Gesellschaft zum Ausdruck 1 3 : „Die Vertreter unserer Disziplin empfanden schon lange vor Gründung unserer Gesellschaft den Mangel eines festen, sicheren, längeren Bestand versprechenden Sammel- und Vereinigungspunktes, wie einen solchen eine wissenschaftliche Versammlung m i t einer bestimmten und zweckmäßigen Organisation gewährt 1 4 ." Oder: „ I h r zahlreiches Erscheinen hier, die große Zahl der angemeldeten Vorträge und neuer Mitglieder beweist, daß die Gründung unserer Gesellschaft einem Bedürfnis entsprang und mächtig beizutragen verspricht zur Förderung unseres Faches 15 ." M i t der Neubildung einer indifferenten Gesellschaft verlagert sich das Interesse der Wissenschaftler i m allgemeinen von den Sektionen auf die Spezialgesellschaft. Freilich kann die dadurch bewirkte Wiederbelebung einer vorher vernachlässigten Disziplin auch auf die D N Ä zurückwirken, wie i m Falle der Physiologie: die physiologische Sektion verzeichnet erst i m Jahre der Gründung einer selbständigen Gesellschaft einen überraschenden Zulauf, nachdem die Beteiligung der Physiologen an den Tagungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte i n all den vorausgehenden Jahren „nicht überwältigend" gewesen w a r 1 6 . I n der Hechtfertigungsrede zur Gründung der Deutschen Geographischen Gesellschaft kritisiert der Vorsitzende der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Nachtigall, die bereits bestehenden Vertretungen 13 I n den Eröffnungsreden der ersten Tagungen von sieben abgespaltenen Gesellschaften wurde explizit dieses „Bedürfnis" erwähnt. 14 Rede des Vorsitzenden Prof. Lipp, 1891, i n : Verhandlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 1892; S. 3. is Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, 1888; S. 4; Eröffnungsrede Prof. Olshausen. 16 Rothschuh, Κ . E.: „Fünfzig Jahre Deutsche Physiologische Gesellschaft (1904 - 1954)", Klinische Wochenschrift, Jg. 32, 1954. Dies w a r freilich die Ausnahme von der Regel, daß indifferente Neugründungen durch Mitgliederentzug zur Erosion der Sektionssitzungen beitrugen.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

der Geographen, die Deutsche Gesellschaft zur Erforschung Äquatorialafrikas und die geographische Sektion der D N Ä m i t den Worten: „Beide Institutionen haben sich i m Sinne der Einigungsidee bisher als unzureichend erwiesen. Die geographischen Sektionen der Naturforscherversammlungen vereinsamten i m Laufe des verflossenen Jahrzehnts mehr und mehr . . . 1 7 ." Die 1905 nach einer fakultativen Symbioseperiode von der D N Ä abgespaltene Botanische Gesellschaft erwartet „von dem Versuche, die Generalversammlung i n Zukunft unabhängig von der Naturforscherversammlung, zeitlich und örtlich von dieser getrennt, abzuhalten, ein besseres Ergebnis bezüglich der Beteiligung" 1 8 . Daß die Bildung einer separaten Gesellschaft m i t symbiotischem Verhältnis zur D N Ä auch objektiv m i t einer Zunahme des Interesses an der Disziplin einhergeht, zeigt die Entwicklung der Teilnehmerzahlen 19 der Sektion „Unfallheilkunde und gerichtliche Medizin", aus der 1904 die Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin hervorgeht: 1901: 28, 1902: 18, 1903: 10, 1904: 32, 1905: 18 Vorträge (höher als i m Vorjahr), 1906: 50. I m Jahr der Gründung schnellt die Teilnehmerzahl auf das Dreifache hoch und steigt i n den ersten beiden Jahren danach weiter an. Ähnlich ist die Entwicklung bei der Geschichte der Medizin, wo die Sektionsteilnehmerzahl i m Jahre vor der Gründung 11 beträgt und i m Gründungsjahr 1901 auf 27 ansteigt. Bei der Pathologie setzt der Teilnehmerandrang m i t etwas Verspätung ein: 1895: 18, 1896: 44, 1897 (Gründungsjahr): 41, 1898: 42, 1899: 59, 1901: 55, 1905: 87.

3. Institutionelle Verselbständigung Der Erkenntnis, daß der Expansion der Disziplin i n den Sektionen enge Grenzen gesetzt sind, folgen dann sehr bald die Forderungen nach Selbständigkeit, festerem Zusammenschluß, Öffentlichkeitsarbeit und Abkehr von der Anonymität der Naturforscherversammlung, die sich i n den Gründungsreden niederschlagen:

u Verhandlungen des 1. Deutschen Geographentages zu Berlin, 1881; B e r l i n (1882); S.5. 18 Berichte der botanischen Gesellschaft, 23, 1905; S. 3. Die Feststellung der Sektionsmitgliederzahlen ist selbst durch Auszählung anhand der DNÄ-Tageblätter nicht systematisch durchzuführen.

3. Institutionelle Verselbständigung

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„Von der Überzeugung durchdrungen, daß die Neurologie i n unserer Zeit zu einer Wissenschaft und Heilkunst ersten Ranges geworden ist, betrachten w i r es somit als eine unserer schönsten und vornehmsten Aufgaben, dafür zu arbeiten und dahin zu wirken, daß ihr auch nach außen hin die Anerkennung, Stellung und Vertretung gewährt wird, die ihr kraft ihrer Bedeutung gebührt 2 0 ." Roemer faßt die Gründungsimpulse, die zur endgültigen Abspaltung der Deutschen Geologischen Gesellschaft 1868 führten, i n einer Rede 1869 zusammen: „Schon längst hatte sich bei vielen Mitgliedern die Uberzeugung festgestellt, daß die Zwecke der Gesellschaft auf solchen besonderen Zusammenkünften sich besser würden erreichen lassen als bei der bisherigen Verbindung m i t der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte, auf welcher die große Zahl der Teilnehmer, die Ungleichartigkeit der Bestrebungen und die herkömmliche Feier größerer, gemeinschaftlicher Festivitäten störend und hemmend w i r k ten 2 1 ." I n der oben zitierten Rede auf dem Geographentag 1881 fährt Nachtigall fort: „Jahrbuch und Bibliothek würden ein wertvolles Band der Einigung bilden, und das Bewußtsein engerer Zusammengehörigkeit, höherer Leistungsfähigkeit und vermehrten Ansehens würden den Jahresversammlungen einen regeren Besuch sichern, als dessen sich die bisherige geographische Sektion der Naturforscherversammlung zu erfreuen hatte 2 2 ." Ähnlich lautet das Urteil Loreys über die Unterrichtsabteilung der DNÄ: „Diese Abteilungen konnten auf die Dauer doch nicht nach außen stark wirken, da ihnen eine stetige Organisation und ein literarischer Mittelpunkt fehlte 2 3 ." Der Sog, der von den übrigen Sektionen ausging und viele an Synthese und „Allgemeinbildung" interessierte Sektionsmitglieder zur Teilnahme an anderen Sitzungen trieb, stellte stets eine Gefahr für den Zusammenhalt einzelner Sektionen dar. Nicht der Kampf unter den Sektionen u m „Machtpositionen" (Selznick) innerhalb der DNÄ, 20

Eröffnungsrede von Oppenheim auf der 1. Jahresversammlung 1907, i n : Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte, 1907; S. 2. si Koken, E., S. 16, u n d Degen: „ D N Ä als Keimzelle", S. 356. 22 Verhandlungen des 1. Deutschen Geographentages zu Berlin, 1881, B e r l i n (1882); S.5. 23 Lorey, Wilhelm, S. 7.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

sondern deren gegenseitige Anhänglichkeit, der Versuch der Disziplinen miteinander i n Kontakt zu bleiben, steht der Bildung eines selbständigen Fachbewußtseins und eigenen Aktivitäten i m Wege; die Uberwindung dieser latenten Verschmelzungsgefahr einer Sektion m i t den übrigen Disziplinen der D N Ä ist daher für einige Gesellschaftsgründungen das ausschlaggebende Motiv. Das beste Beispiel hierfür liefern die Meteorologen, die vorübergehend ein symbiotisches Verhältnis zur D N Ä eingegangen waren: „Maßgebend für diesen Beschluß, schon jetzt von dem i m Statut als wünschenswert bezeichneten Modus des Zusammentagens m i t der Naturforscherversammlung abzugehen, war die bei der gegenwärtigen Versammlung stark zu Tage tretende gegenseitige Beeinflussung zweier Versammlungen. Die erste Vorstandssitzung verhinderte deren Teilnehmer an dem Besuche der Eröffnungs- und Hauptsitzung der Naturforscherversammlung, die Sitzung der Meteorologischen Gesellschaft fiel gleichzeitig m i t dem offiziellen Diner der Naturforscher zusammen, die öffentliche Sitzung der Meteorologischen Gesellschaft am Sonnabend, dem 20., wurde aus dem Grunde weniger zahlreich besucht, daß sämtliche Sektionen der Naturforscherversammlung i n vollster gleichzeitiger Arbeit sich befanden . . . Die Vorträge i n den meteorologischen Sektionen endlich litten i n ganz ausgesprochenem Maße unter der Hast und dem Drange, schnell fertig zu werden, u m i n anderen Sektionen teils Vorträge zu halten, teils solche hören zu können . . . Es ist aber wahrscheinlich nicht der Zweck und Kern einer Jahresversammlung der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, i m Galopp einige Vorträge durchzujagen und dann anderen Disziplinen Aufmerksamkeit zu schenken; w i r sind Meteorologen und wollen bei unseren Versammlungen Meteorologie treiben nach Herzenslust, ungestört durch Anderes. W i r begrüßen daher den Beschluß der Gesellschaft, i m nächsten Jahr m i t freien Händen i n München . . . tagen zu wollen 2 4 ." Die institutionelle Verselbständigung war fast immer Ausdruck und Ergebnis einer disziplinspezifischen Identitätssuche.

4. Disziplinspezifische Umgebung Solange eine Disziplin lediglich als Sektion innerhalb der D N Ä repräsentiert war, mußten ihre Vertreter wohl oder übel am gleichen Ort wie die D N Ä tagen. Daraus ergab sich oftmals ein intensiver Zielkonflikt zwischen dem Bemühen der Naturforscherversammlung, 24

Das Wetter, Meteorologische Monatsschrift für Gebildete alle Stände, l . J g . , Magdeburg (1885); S. 171.

4. Disziplinspezifische Umgebung

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eine für alle Wissenschaften geeignete Tagungsstätte zu finden, und den besonderen Erfordernissen der Einzeldisziplinen. Die Pathologische Gesellschaft sah sich primär aus diesem Grund zur Aufhebung des symbiotischen Verhältnisses zur D N Ä gezwungen. Zu dem Zeitpunkt, i n dem eine Wissenschaft „reif" genug ist, u m die legitime Forderung nach eigenen Forschungsmitteln, Instituten etc. zu stellen, setzt sich die informelle Sektionsdifferenzierung i m Prozeß der formellen Zielauslagerung durch Gesellschaftsgründung fort. Eine selbständige naturwissenschaftliche Disziplin bedarf der personellen und materiellen wissenschaftsspezifischen Umgebung für die Diffusion ihrer Erkenntnisse. Da dieses Bedürfnis i m Verhältnis zur D N Ä nur durch freie Wahl des Tagungsortes realisiert werden kann, führt der Zielkonflikt mit der Gesamtorganisation notwendig zu latenter Unzufriedenheit und schließlich zur völligen Trennung. I n der Diskussion u m die organisatorische Reform der Naturforscherversammlung i n den Jahren 1891 und 1892 wehrt Virchow alle Bestrebungen, die D N Ä i n eine Dachorganisation für wissenschaftliche Fachgesellschaften umzufunktionieren m i t folgendem Hinweis auf die Situation der Anthropologen ab: „ M i t der Anthropologie konnten w i r wirklich nicht i n die allgemeine Versammlung gehen . . . , w i r haben schon äußerlich kein Interesse daran, überall dahin zu gehen, wo Sie gerade hingehen; w i r haben unsere Territorien i m deutschen Vaterland, wo es uns daran liegt, unsere Wissenschaft zu fördern 2 5 ." Bettmann kommentiert die Bedeutung der Tagungsorte der Dermatologischen Gesellschaft von 1889 bis 1913 m i t den Worten: „Schon i n der Wahl der Kongreßorte liegt ein Programm, dessen erster Grundsatz es ist, dahin zu gehen, wo es möglichst viel zu sehen und zu lernen gibt 2 6 ." Ähnlich urteilt Robert Herrlinger über die anatomischen Versammlungen: Die Tagungsorte unterlagen keiner Regel, außer daß zunächst die anatomischen Institute vorgestellt werden sollten 27 . I n der bereits zitierten Rede von Roemer heißt es: „Auch der Umstand, daß auf solchen Geologenversammlungen auch kleinere, durch geologisches Interesse ihrer Lage anziehende Orte wählbar sind, während die Versammlungen der D N Ä nicht füglich 25 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte 1891 i n Halle, Leipzig (1891); S. X X X I I . 26 Archiv f ü r Dermatologie u n d Syphilis, C X X I . B d . , l . H e f t , 1915; S.4. 27 Herrlinger, R., S. 14.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

anderswo als i n größeren Städten gehalten werden können, fiel (seil, bei der Gründung) ins Gewicht 2 8 ." Die Ortswahl hat bei den Irrenärzten sogar den alleinigen Anstoß zur Gründung einer selbständigen Gesellschaft gegeben. I n der Einladung zur Gründungsversammlung 1860 heißt es: „Der von vielen Kollegen angeregte Zweifel, ob die diesjährige Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte i n Königsberg von Irrenärzten zahlreich werde besucht sein können, und der von vielen der Letzteren ausgesprochene Wunsch, eine solche Versammlung i m Interesse des psychiatrischen Berufes zustande kommen zu lassen, veranlaßt die Redaktion dieser Zeitschrift, ihre werten Fachgenossen zu einer Zusammenkunft an einem Orte i n der Mitte Deutschlands hierdurch einzuladen . . , 2 9 ." Die positive Reaktion der „Kollegen" war dem Kompromiß der Ortswahl zuzuschreiben: „Eine große Anzahl der Herren Kollegen hat sich bereiterklärt, an einer Versammlung Deutscher Irrenärzte teilzunehmen. Viele von ihnen m i t dem ausdrücklichen Bemerken, daß ihre Geschäfte eine längere Abwesenheit, wie dies die Teilnahme an der Naturforscherversammlung zu Königsberg notwendig machen würde, nicht zuließen. Damit nun auch diejenigen, welche jene Versammlung besuchen wollen, davon nicht abgehalten werden, und mit Rücksicht auf die Mehrzahl der Wünsche i n Betreff des Ortes unserer Versammlung, ist diese auf den 12. und 13. Sept. i n Eisenach festgestellt worden 3 0 ." Gegen die Vereinigung der dermatologischen Gesellschaft m i t der 1891 i n Halle tagenden Naturforscherversammlung spricht sich ein Mitglied m i t folgenden Worten aus: „Es fehlt hier die K l i n i k , es fehlt ein großes dermatologisches Material, welches für andere Orte eine Anziehungskraft gewesen wäre 3 1 ." Nöggerath hat die Vorgänge u m die Abstimmung über den nächsten Versammlungsort der D N Ä aus interner Perspektive beschrieben (1837). Jeder Sprecher würdigt i n der vorhergehenden Diskussion die verschiedenen wissenschaftlichen Vorzüge der von i h m gepriesenen Stadt, meistens aus der Sicht des eigenen Spezialgebietes: „Mein Bonner Kollege Geh. Hof rat Professor Harlaß erhob sich für Erlangen: er rühmte die dortigen Museen, den botanischen Garten, die klinischen Anstalten, 28 Koken, E., S. 16. 29 Allgemeine Zeitschrift f ü r Psychiatrie u n d Psychisch-Gerichtliche Medizin, Heft 1, 1860; S. 224. so Ibid., Heft 4; S.544. 3i Verhandlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 3. K o n greß, 1892; S. 9.

4. Disziplinspezifische Umgebung

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die Mitte Deutschlands usw." Die tatsächliche Wahl des neuen Kongreßortes der D N Ä hänge primär von folgenden Faktoren ab: „Ob der Wunsch von einer Stadt angedeutet oder ausgesprochen wird, die Gesellschaft bei sich zu sehen; ob dieselbe sich überhaupt für die Versammlung eigne durch naturhistorische und medizinische Anstalten, durch ihre Umgebung usw. 3 2 ." Aufgrund folgender Überlegungen können w i r vermuten, daß die Suche einer Disziplin nach — personeller, sachlicher und apparativer — wissenschaftsspezifischer Umgebung für die Diffusion ihrer Ergebnisse tatsächlich den entscheidenden Impuls zur endgültigen Abspaltung gegeben hat: Zunächst läßt sich diese Suche besonders ausgeprägt bei den indifferenten Gesellschaften nachweisen, weniger stark oder gar nicht bei symbiotischen Gesellschaften. Die Mitglieder der DNÄ-Sektionen sehen sich offenbar durch die Tagung an uninteressanten Orten i n ihrem Bestreben frustriert, geeignete Institute, Museen, Ausstellungen und Apparate zur Demonstration ihrer Vorträge, zur eigenen Fortbildung oder für Anregungen zu weiteren Forschungen zu finden. Die Astronomen unternehmen ungern den weiten Weg zu einer Tagungsstätte, die über kein Observatorium verfügt, auch Meteorologen bevorzugen Orte m i t Beobachtungsstationen, und Geologen richten ihr Augenmerk auf die landschaftliche Umgebung des Tagungsortes. Da keine Stadt für alle Wissenschaften gleich gute Demonstrationsund Arbeitsbedingungen bieten kann, ist zu erwarten, daß die Zahl der Teilnehmer an den einzelnen Sektionssitzungen m i t der wissenschaftsspezifischen Anziehungskraft einer Tagungsstätte korreliert ist. Diese These läßt sich i n der Tat durch einen Längsschnittvergleich der Entwicklung der Mitgliederzahlen i n den Sektionen belegen. Wenn hohe Mitgliederzahlen einer Sektion als Indikator der wissenschaftsspezifischen Attraktion eines Tagungsortes zu bewerten sind, so können w i r ein je nach Disziplin unterschiedliches Attraktionsmuster nachzeichnen, das die Verteilung der Wissenschaftszentren über die Städte des damaligen Deutschland widerspiegelt. Dabei ist es gleichgültig, ob die hohe Teilnehmerzahl durch die starke Präsenz der Fachvertreter an einem Ort oder durch die Anziehung auswärtiger Mitglieder zustande kommt, denn beides gibt Aufschluß über die Bedeutung des Tagungsortes für die jeweilige Disziplin. W i r können auf diese regionale wissenschaftliche Schwerpunktbildung nur durch Erläuterung einiger Beispiele eingehen. 32 Beide Zitate i n : Nöggerath, S. 263.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

Während die Physiker von 1822 bis 1864 jährlich m i t durchschnittlich etwa 52 Mitgliedern i n der physikalischen Sektion der D N Ä vertreten sind, nehmen sie an der Tagung i n Aachen 1847 mit 158 und an der Karlsruher Versammlung 1858 mit 113 Mitgliedern teil. Den absoluten Höhepunkt erreicht die Teilnahme der Physiker an der DNÄ-Versammlung i n Dresden 1907 m i t 203 Mitgliedern. Alle drei Städte, Aachen, Karlsruhe und Dresden, waren für Physiker außerordentlich interessant, da sie bereits damals polytechnische Vorläufer der späteren technischen Hochschulen besaßen. Weniger dezentralisiert sind die Schwerpunkte anderer Disziplinen, wie ζ. B. der Physiologie, die Berlin eindeutig als Wissenschaftszentrum bevorzugen. Seit Johannes Müller seinen Schülerkreis i n Berlin u m die Mitte des 19. Jahrhunderts aufbaute, galt Berlin i n der Tat als wissenschaftliches Weltzentrum der Physiologie. Die Anwesenheit von 4155 Teilnehmern auf der Berliner D N Ä Versammlung i m Jahre 1886, auf der i n 30 verschiedenen Sektionen und 131 Sitzungen 522 Vorträge gehalten wurden, beweist darüber hinaus, daß Berlin auch von den Botanikern, Chirurgen, Laryngologen, Dermatologen, Pathologen, etc. als zentrale Wirkungsstätte m i t attraktiver wissenschaftsspezifischer Ausstattung geschätzt wurde. Bei den Chemikern war es bereits seit den 70er Jahren üblich geworden, ihre Sektion i n den chemischen Universitätslaboratorien tagen zu lassen. Die Pharmakologen verdanken die Gründung ihrer Sektion ausschließlich dem günstigen Straßburger Tagungsort. Trotz langjähriger Bemühungen gelang ihnen die Gründung erst i m Jahre 1885 auf der Versammlung der Naturforscher i n der elsässischen Hauptstadt, wo ihnen die massive Unterstützung des bekannten Pharmakologen Oswald Schmiedeberg zuteil wurde. Er hatte das Straßburger Pharmakologische Institut zum führenden Universitätsinstitut Deutschlands entwickelt und erschien zur Sektionsgründung m i t der zahlreichen Mannschaft seiner wissenschaftlichen Schüler 33 . Wenn also das Hauptmotiv der Bildung von und Teilnahme an D N Ä Sektionssitzungen die Suche nach wissenschaftsspezifischer Umgebung zur Verbreitung der Forschungsresultate gewesen ist, liegt es nahe, das Hauptmotiv der Abspaltung wissenschaftlicher Gesellschaften aus den Sektionen i n der Frustration eben dieses Motivs zu vermuten. Die Tropenmediziner wollten nicht nur alle zehn oder zwanzig Jahre die allein i n Hamburg und Berlin verfügbaren disziplinspezifischen Ein33 Vgl. Wodarz, Frank-Rainer: Die Pharmakologie auf den Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte von 1865 bis 1900, Inaug.Diss., Mainz 1969; S.46ff.

4. Disziplinspezifische Umgebung

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richtungen zu Demonstrierzwecken benutzen, wenn die Naturforscherversammlung zufällig wieder an diesen Orten tagte. Die Verselbständigung und der Doppelsitz i n Hamburg und Berlin boten die Gelegenheit, diese Ausstattung auf jeder Jahresversammlung für Zwecke der Ergebnisdemonstration und für Vorträge zugänglich zu machen. Die Wahl Berlins zum ständigen Wohnsitz durch sechs abgespaltene Gesellschaften geht u. a. auf diesen Wunsch der ständigen Inanspruchnahme der spezifischen wissenschaftlichen und personellen Ausstattung eines Ortes zurück. Der Wunsch, möglichst nur an Orten zu tagen, die der jeweiligen Wissenschaft die besten Diffusions- und Arbeitsbedingungen garantierten, geht bis auf die Gründung der D N Ä zurück, weist also eine lange Tradition auf. Bereits Bojanus betont i n seinem ersten Aufruf zur Bildung einer Gesellschaft mit zweijährigen WanderverSammlungen i n der Isis 1819 die Notwendigkeit der Wahl solcher Tagungsorte, „an welchen große wissenschaftliche Hilfsmittel zusammengebracht" 34 sind, und Oken erläutert den angemeldeten Gründungsmitgliedern kurz vor der Anreise i n seiner launigen Isis-Sprache: „Es versteht sich wohl von selbst, daß der Physiker und Chemiker nach einem Orte wie Leipzig nicht nötig hat, Apparate mitzubringen. Die Idee i m Kopfe, oder die Abhandlung i n der Tasche und ein freundliches Gesicht, ist hinlänglicher Reiseapparat 35 ." Später w i r d es zur Usance der Naturforscherversammlungen, möglichst nur an Universitätsorten zu tagen. Da uns besseres Anschauungsmaterial aus der DNÄ-Geschichte nicht zur Verfügung steht, wollen w i r kurz auf die Gründungsmotive der physiologischen Sektion der „British Association for the Advancement of Science" eingehen, die ein Musterbeispiel für die Relevanz wissenschaftsspezifischer Überlegungen darstellen. Bereits bei der Gründung der British Association i m Jahre 1831 war eine physiologische Sektion vorgesehen, die aber nach Errichtung der „British Medical Association" wenige Jahre später wieder fallen gelassen wurde. I m Jahre 1894 w i r d ihre Neugründung beschlossen m i t der Auflage, sie solle nur zusammentreten, wenn am Tagungsort geeignete Laboratorien für Experimentierzwecke zur Verfügung stünden: "Physiology is above all things a practical science. I t requires laboratories and means of demonstration." Da die B A aber vielfach 34 Abgedruckt 1964; S. 38. « Ibid., S. 41.

i n : Nova

Acta Leopoldina, N. F. N u m m e r

171, Bd. 29,

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

i n Ortschaften tagte, die weder über Universitäten noch Laboratorien verfügten, w i r d vorgeschlagen: "On this account we may w e l l imitate the practice of the British Medical Association, which establishes a section of physiology only when its meetings are held i n such a centre . . . to render the section useful and efficient 3 6 ." I n der Tat t r i t t die Sektion i n den Jahren 1895, 1898, 1900 und 1903 nicht zusammen, als die British Association i n den für die Physiologen relativ uninteressanten Städten Ipswich, Bristol, Bradford und Southport tagt. 5. Universitätsausbildung Während sich die Naturforscherversammlung als Gesamtorganisation schon deshalb wenig u m die Durchsetzung von universitären Interessen der einzelnen Disziplinen kümmern konnte, weil das weder ihren Statuten noch ihrem Selbstverständnis entsprach und bei der Mannigfaltigkeit der vertreten Disziplinen eines zentralen Komitees bedurft hätte (das erst nach der Jahrhundertwende gebildet wurde), konnten die Gesellschaften, sobald sie den informellen Rahmen der Sektionen i n eine festgefügte Organisation überführt hatten, ohne weiteres als „Interessengruppen" i n dieser Hinsicht tätig werden. Wenn diese neuen Aktivitäten auch nicht immer bewußt m i t dem DNÄ-Verhältnis i n Verbindung gebracht wurden, sind sie doch ein Zeichen größerer Handlungsfreiheit als zur Zeit der DNÄ-Angehörigkeit. A u f Antrag von Jessen beschließt die Versammlung Deutscher Irrenärzte bereits i m Jahre ihrer Gründung 1860, „daß dahin zu w i r k e n sei, daß baldmöglichst an allen deutschen Universitäten psychiatrische Lehrstühle und K l i n i k e n errichtet werden, womit aber zu verbinden sei, daß die Psychiatrie auch ein obligater Lehrgegenstand werde" 3 7 . Die Stellungnahme der Neurologen und Dermatologen zur Universitätsausbildung beweist ebenfalls ihr Selbstverständnis als wissenschaftliche Interessengruppe: „Da drängt sich uns die Frage auf, ob auch der öffentliche Unterricht i n diesen Fächern wirklich und überall ein Zweck entsprechender und ausreichender sei . . . A n nicht wenigen Universitäten i m Deutschen Reiche bestehen noch keine eigenen selbständigen K l i n i k e n für Dermatologie und Syphilidologie. Das Wirken von Privatdozenten an denselben ist zwar als ein höchst verdienstliches anzuerkennen, vermag aber nicht se Report of the B r i t i s h Association for the Advancement of Science, London 1894; S. 799 (beide Zitate). 37 Anhang zu Heft 5 der Allgemeinen Zeitschrift f ü r Psychiatrie u n d Psychisch-Gerichtliche Medizin, 1860; S. 19.

5. Universitätsausbildung

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den vom Staate mit allen Mitteln unterstützten Unterricht zu ersetzen. . . . A n Unterrichts- und Arbeitsräumen, an wissenschaftlichen Behelfen aller A r t , ist ein entschieden größeres Ausmaß erforderlich 38 ." I n einem Referat, das er auf Drängen des Vorstandes hält, behandelt Oppenheim auf der zweiten Versammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte 1908 „Die Stellung der Neurologie i n der Wissenschaft und Forschung, i n der Praxis und i m medizinischen Unterricht". Darin führt er u. a. aus: „ . . . so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß für die Ausbildung des Nervenarztes besondere Schulen, besondere Einrichtungen erforderlich sind, daß zum mindesten i n den großen Zentren jedes Landes derartige Lehrstätten geschaffen werden müssen, Lehrstätten, die, wenn möglich, an ein großes Krankenhaus angegliedert sind, aus einer klinischen und poliklinischen Abteilung bestehen und m i t allen erforderlichen Hilfsmitteln der Demonstration und dem ganzen Rüstzeug der Behandlung ausgestattet sind . . . Daß damit auch der neurologischen Forschung ein Herd, eine Heimat, ein Zentrum geschaffen wird, ist ein weiterer Erfolg, den w i r zu erstreben haben 39 ." Der zweite Jahrgang der „Meteorologischen Zeitschrift" von 1885, das Publikumsorgan der Deutschen Gesellschaft für Meteorologie, enthält bereits einen Sonderteil über „Meteorologie an den Hochschulen von Berlin, Halle, München und Dorpat i m WS 1885/86" und kommentiert die Vorlesung i n München: „ I n München, wo die energische Einführung der modernen Meteorologie i n den Kreis der deutschen Hochschulen ihren Anfang nahm, liest Herr Privatdozent Dr. Lang . . . 4 0 ." I n der Tat ist die wissenschaftliche Pressure-group-Tätigkeit der Fachgesellschaften ein allgemeines Phänomen, das nicht nur abgespaltene Gesellschaften betrifft. Der fast die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts währende Kampf der Technischen Hochschulen u m Anerkennung ihrer Stellung neben den deutschen Universitäten w i r d m i t besonderer Unterstützung naturwissenschaftlich-technisch orientierter Fachgesellschaften geführt, die sich die Forderung der Technischen Hochschulen auf Recht der Verleihung des Doktortitels zueigen machen 41 . se Ansprache des Vorsitzenden Lipp, 1891, i n : Verhandlungen der D e u t schen Dermatologischen Gesellschaft, 1892; S. 5/6. 8® Referat von Oppenheim 1908, i n : Verhandlungen der Gesellschaft D e u t scher Nervenärzte, 1908; S. 8 - 10. 40 Meteorologische Zeitschrift, 2. Jg., 1885; S.422; offizielles Organ der 1883 gegründeten Deutschen Meteorologischen Gesellschaft. So z.B. die Gesellschaft f ü r angewandte Chemie (später Verein D e u t scher Chemiker) i m Jahre 1889; vgl. Zs. f ü r angewandte Chemie, 1889; S. 560.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe 6. Widerstand der DNÄ und Generationsprobleme

Wie bereits erwähnt, konnte die besonders i n den 80er Jahren stark zunehmende Tendenz zur Verselbständigung ihrer Sektionen die D N Ä nicht gleichgültig lassen. Mitunter regte jedoch, wie i m Falle der Orthopädie, gerade der Widerstand der D N Ä erst recht zur Gründung einer selbständigen Gesellschaft an. Obwohl sich v.Bergmann nicht nur als Vorsitzender des Chirurgenkongresses, sondern auch als prominentes DNÄ-Mitglied der Abspaltung der Orthopäden i n verschiedenen Reden und durch Intervention bei den Mitgliedern des Gründungsausschusses energisch widersetzte, konnte er deren Gründung nicht verhindern, sondern spornte erst recht zu vermehrter A k t i v i t ä t an 4 2 . Besonders die ältere Wissenschaftlergeneration der betroffenen Disziplin verhält sich Neugründungen gegenüber zunächst äußerst skeptisch 43 . So geht die Initiative zur Gründung der Anatomischen Gesellschaft von den jüngeren Anatomen aus, die von den Älteren und Maßgebenden der Naturforschersektion keinerlei Unterstützung erhalten. Erst nach dem Tode von Henle, dem Hauptopponenten aus der älteren Generation, kann 1886 die Gesellschaft gebildet werden 4 4 . Die Sektion für Dermatologie und Syphilidologie der DNÄ, die nur zwei Jahre vor Gründung der Deutschen Gesellschaft für Dermatologie i m Jahre 1889 eingerichtet wird, setzt sich m i t Neisser, Lesser, Unna und Lassar vorwiegend aus jüngeren Mitgliedern zusammen, den Mitwirkenden an der späteren Gesellschaftsbildung 45 . Die „vier aktivsten" von den acht Zoologen (die Senioren nehmen später nicht mehr teil), die die Einladung zur Gründungsversammlung der Zoologischen Gesellschaft unterschreiben, sind alle unter 40 Jahre alt 4 6 .

42 Baade, P. (Berlin 1939); Manegold, K a r l - H e i n z : Universität, Technische Hochschule u n d Industrie, Schriften zur Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, Bd. 16, B e r l i n 1970. 43 A m deutlichsten ist dies i m F a l l der Berliner Physikalischen Gesellschaft: Sechs junge Physiker, v o n denen D u Bois-Reymond m i t 27 Jahren der Älteste war, entschlossen sich gegen den W i l l e n des Direktors des physikalischen Instituts, Gustav Magnus (43), zur Konstituierung der Gesellschaft. 44

Herrlinger, R., S. 4.

45

Schönfeld, Walther: Kurze Geschichte der Dermatologie u n d Venerologie u n d ihre kulturgeschichtliche Spiegelung, Oppermann-Verlag (1954). 4

« Ankel, W. E., S. 27.

7. Vorbild anderer Gesellschaften

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7. Vorbild anderer Gesellschaften Entscheidend für die Häufung der Gesellschaftsgründungen i n den 80er Jahren war das Vorbild bereits abgespaltener Gesellschaften, das verstärkend auf die übrigen Gründungsimpulse wirkte. Dabei ist zu unterscheiden zwischen solchen Gesellschaften, die unter aktiver — positiver oder negativer — M i t w i r k u n g anderer Gesellschaften gegründet wurden, und solchen, die sich i n ihren Statuten oder Gründungsreden lediglich auf das Beispiel bereits abgespaltener Gesellschaften beziehen. Zur ersten Kategorie gehören sieben Gesellschaften 4 7 , bei deren Entstehung sich vor allem der Chirurgenkongreß durch erbitterten Widerstand und die Anthropologische Gesellschaft durch hilfreiche Unterstützung auszeichneten 48 . Aus der zweiten Kategorie haben w i r bereits die Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin erwähnt, deren Statuten denen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft nachformuliert wurden. Das Vorbild der Pathologischen Gesellschaft w i r k t e sich auch weiterhin mit der Konsequenz eines Lernprozesses auf die Gerichtsmedizinische Gesellschaft aus: „Diejenige Vereinigung, welche für unsere Gesellschaft als Muster gedient hat, ist die Deutsche Gesellschaft für Pathologische Anatomie und Pathologie. Diese hat allerdings auf der gegenwärtigen Tagung eine prinzipielle Änderung beschlossen dahingehend, daß die Selbständigkeit der Gesellschaft gegenüber den Naturforscherversammlungen etwas anders zum Ausdruck gebracht w i r d als bisher. Diese enge Verbindung mit den Naturforscherversammlungen hatte doch einen Nachteil, den die Anatomen und Pathologen zu lösen wünschten, und ich möchte heute schon darauf aufmerksam gemacht haben, daß das auch möglicherweise der Gang bei uns sein könnte, wenn es Übung wird, und das könnte wohl der Fall sein, daß für die Naturforscherversammlung Versammlungsorte ins Auge gefaßt werden, welche außerhalb der 47

Geographie u n d Anatomie Orthopädie u n d Gynäkologie Pharmazie Paläontologie Tropenmedizin

— Besprechung auf der Anthropologenversammlung 1880 — Widerstand des Chirurgenkongresses »— Widerstand des Deutschen Apotheker-Vereins — Abspaltung von der Deutschen Geologischen Gesellschaft — Vorbereitung der Gründung auf dem internationalen Kongreß für Hygiene u n d Demographie.

48 Unterstützung gewährte allgemein eine Gesellschaft einer anderen, w e n n die Interessen der Letzteren vorher bereits auf deren Tagungen a r t i k u l i e r t werden konnten, aber sich nicht länger deren Zielen unterordnen ließen.

β v. Gtzycki

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

Universitätsstädte liegen. So könnte es zweckmäßig werden, daß w i r unsere Versammlungen i n die nächstgelegene Universitätsstadt verlegen, wenn auch zeitlich i m Anschluß an die Naturforscherversammlungen 4 9 ." Die Pathologische Gesellschaft befand sich zu dieser Zeit, wie w i r bereits gesehen haben, i n der „Unruhephase" ihres Verhältnisses zur D N Ä und hatte eine fakultative Lösung von der D N Ä beschlossen. Der Unruhebazillus steckte die Gesellschaft für Gerichtliche Medizin freilich nur vorübergehend an, denn sie blieb bis 1936 mit der Naturforscherversammlung vereinigt. Frerichs weist auf dem ersten Kongreß für innere Medizin 1882 auf die Bedeutung der Vorbilder Gynäkologie, Augenheilkunde und Otiatrik für die Gründung des Kongresses hin 5 0 , Lipp erwähnt auf der zweiten Tagung der Dermatologen das Beispiel der inneren Medizin, Ophthalmologie und Psychiatrie 51 , und Virchow vergleicht die Gründung der Pathologischen Gesellschaft mit der des Chirurgenkongresses. Man w i l l nicht mehr allein von der Mutter abhängig sein, nachdem die Nachbardisziplinen bereits auf eigenen Füßen stehen.

8. Mandarinen-Ideologie I m folgenden wollen w i r uns mit der „Mandarinen-Ideologie" der D N Ä unter drei Aspekten befassen: — Standesvertretung und Abspaltung von Gesellschaften — Rekrutierung von Mitgliedern — Einstellung zur Wissenschaftstheorie. Ringer versteht die praxisfeindliche Ideologie deutscher Universitätsprofessoren i m 19. Jahrhundert vor allem als Reaktion auf die Gefährdung ihres Status und neuhumanistischen Bildungsideals durch die plötzlich einsetzende Industrialisierung. Da diese „Kulturelite" ihren Status primär der akademischen Ausbildung verdankt und ihrerseits für die Ausbildung der wichtigsten Staatsberufe (Lehrer, Beamte, Juristen) verantwortlich ist, gibt Ringer i n Anlehnung an die Bezeichnung der gebildeten Beamtenelite i n China ihren Vertretern den Namen „Mandarine". 49 Ansprache von Prof. K r a t t e r auf der 1. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin i n Meran 1905, i n : Deutsche V i e r t e l jahreszeitschrift für Gerichtliche Medizin u n d öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 31. Bd., 1906; S. 208. 50 Verhandlungen des Kongresses f ü r Innere Medizin, 1882; S. 14. si Verhandlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 1892; S. 4.

8. Mandarinen-Ideologie

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Die zunehmend bürokratisch organisierte Monarchie sieht sich i n der Auseinandersetzung m i t der alten Aristokratie auf die Unterstützung durch die Mandarine angewiesen, die ihrerseits der Finanzierung und existentiellen Absicherung durch den Staat bedürfen. Es entsteht ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit: die Monarchie gewährt den Mandarinen ihren hohen Status, ihr Monopol über das tertiäre Berechtigungswesen und die geforderte Autonomie von Wissenschaft und Bildung, während die Mandarine den Staat als „Kulturstaat" legitimieren, loyale Staatsbürger ausbilden und sich selbst weitgehend mit der Monarchie identifizieren. Ihre auf Persönlichkeitsbildung gerichteten, von Idealismus und Neohumanismus geprägten Erziehungsideale sehen die Mandarine durch das nach Profit und Nützlichkeit strebende Besitzbürgertum, durch Arbeiterschaft und Kapitalistentum gefährdet. Da sie sich als Minderheit i m freien Wettbewerb u m die Staatsgunst nicht durchsetzen können, fordern sie allgemeine Enthaltsamkeit von Interessenund Standesvertretung und erklären sich selbst zu den legitimen Schöpfern und Interpreten der Richtlinien staatlichen Handelns. Nach Ringer kennzeichnen den Idealtyp der Mandarinen-Ideologie also zwei für unsere Betrachtung relevante Merkmale, die sich nur negativ definieren lassen: a) Abneigung gegen jede A r t direkter Standesvertretung, sowie gegen „Praxis" und „Materialismus" schlechthin; b) Abneigung gegen den „Positivismus" i n der Wissenschaft, verbunden mit elitären Bildungsvorstellungen 52 . Ein Unterscheidungsmerkmal i m Abspaltungsprozeß symbiotischer und indifferenter Gesellschaften scheint die Willigkeit und Fähigkeit der letzteren zur teilweise rigorosen Standesvertretung 53 gewesen zu sein. Bei acht indifferenten Gesellschaften konnten w i r bereits kurz nach der Gründungszeit eine rege A k t i v i t ä t i n dieser Hinsicht feststellen. U m die Vielfalt dieser Tätigkeit zu illustrieren, sollen hier einige Beispiele angeführt werden. Schlager und Zillner reichen auf der ersten selbständigen Versammlung der Irrenärzte i n Eisenach 1860 einen „Antrag betreffs Ausarbeitung einer Irrengesetzgebung" 54 ein. 62 Ringer, F., passim, bes. Einleitung u n d S. 257 f. sowie S. 295 f. 53 Unter Standesvertretung w i r d hier nicht die Deklamation zu Gunsten der eigenen Disziplin, sondern die beabsichtigte oder tatsächliche I n t e r vention beim Gesetzgeber zu Gunsten gewerblicher oder anderer Vorteile der Profession verstanden. 64 Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie u n d Psychisch-Gerichtliche-Medizin, Heft 4, 1860; S. 13.

6*

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

I n Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen führt die Geologische Gesellschaft kurz nach ihrer Trennung von der D N Ä äußerst emsige kartographische Vermessungen Preußens durch 55 , und die Deutsche Zoologische Gesellschaft nimmt als erste Aufgabe das Einreichen einer Petition an Kaiser Wilhelm wahr, i n der u m die Errichtung einer deutschen biologischen Station auf Helgoland gebeten w i r d 5 6 . Der Kongreß für innere Medizin nimmt i n den Paragraphen 1 seiner Statuten die Formulierung auf, daß „durch persönlichen Verkehr die wissenschaftlichen und praktischen Interessen der inneren Medizin zu fördern" seien, und Frerichs schließt den Kongreß 1882 mit den Worten: „Das Gefühl der Zusammengehörigkeit unseres Standes ist von Neuem wachgerufen und für die Vertretung unseres Standes ist ein neues wichtiges Organ geschaffen worden 5 7 ." Diese Beispiele lassen vermuten, daß die D N Ä die Vertretung von Standesinteressen und Durchführung praktischer Tätigkeiten tunlichst vermieden und dadurch einen zusätzlichen Anstoß zur Gründung von Gesellschaften gegeben hat. Dies w i r d besonders deutlich an drei Gesellschaften, deren Abspaltung auf diesen Aspekt der MandarinenIdeologie der D N Ä zurückzuführen ist: Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege, der Deutsche Ärztevereinsbünd und der Deutsche Geographentag. Vor allem die Vorgänge u m die Abspaltung der Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege sollen hier ausführlicher behandelt werden, da sie gleichzeitig die Bedeutung der MandarinenIdeologie für die Rekrutierungsweise von Mitgliedern aufzeigen. Wie eine öffentliche Anklage der DNÄ-Mandarine liest sich die „Einladung an Ärzte, Chemiker, Techniker und Ingenieure" zur Besprechung der Bildung eines Vereins für öffentliche Gesundheitspflege: „Neben der Fachpresse und der sichtlich wachsenden Heranziehung auch der politischen Presse hat das Bedürfnis der Zeit sich seine Organe bisher einerseits i n der seit 1867 bestehenden hygienischen Sektion des Kongresses Deutscher Naturforscher und Ärzte, andererseits i n provinziellen oder örtlichen Vereinen für öffentliche Gesundheitspflege geschaffen. Jene aber, als Teil eines älteren Ganzen, ist an dessen Lebensbedingungen gebunden; diese erstrecken sich lange nicht über das ganze Vaterland . . . Ein nationaler Verein ohne die tatsächliche Beschränkung der Sektion des Naturforscherkongresses auf gewisse Berufsstände würde alle Die zusammenfügen, welche i n dieser 55 Koken, E., S. 18. 50 Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, 1891; S . U . 57 Verhandlungen des Kongresses für Innere Medizin, 1882; S. 199.

8. Mandarinen-Ideologie

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weitesten Sphäre etwas Neues von Bedeutung mitzuteilen haben. Ohne daher den Wert und die Verdienste der hygienischen Sektion des Kongresses Deutscher Naturforscher und Ärzte zu unterschätzen oder ihren Fortbestand beeinträchtigen . . . zu wollen, sind die Unterzeichneten zur Gründung zusammengetreten eines ,Deutschen Gesamtverbandes für öffentliche Gesundheitspflege' 58 ." Die vorhergehenden und folgenden Ereignisse wollen w i r hier anhand eines Büchleins verfolgen, das von Varrentrapp 1868 veröffentlicht wurde 5 9 . Varrentrapp und Spiess hatten bereits i n einem Umlaufschreiben 1867, als die Sektion für öffentliche Gesundheitspflege zum erstenmal zusammentrat, die Bildung einer selbständigen Versammlung zur Diskussion gestellt: „ Z u r Bearbeitung der hier i n Betracht kommenden Fragen sind nämlich die geeigneten Kräfte aus einem weiteren Kreise von Männern herbeizuziehen, als w i r gewöhnlich bei den Deutschen Naturforscherversammlungen zusammentreten sehen. Nicht nur Ärzte, Chemiker, Meteorologen, auch Ingenieure, Verwaltungsbeamte, Staatsrechtler sind bei verschiedenen Fragen dieses Feldes beteiligt 6 0 ." Ein Jahr später befaßt sich die Sektion m i t diversen Fragen der Standesvertretung, vor allem m i t der Errichtung von lokalen Gesundheitsausschüssen, und versucht dazu Mehrheitsbeschlüsse herbeizuführen. Da jede aktive Standesvertretung eine vorhergehende Einigung der Standesvertreter über ihre konkreten Interessen und somit eine an Nutzenerwägungen orientierte Abstimmung unter den Beteiligten erfordert, muß ein solches Vorgehen dem an keinerlei Nützlichkeitsmaximen orientierten Wissenschaftsverständnis der DNÄ-Mandarine widersprechen. Die Sektion kann zunächst jedoch zu keiner Entscheidung i n Standesfragen gelangen, denn, so klagt Varrentrapp, „es sei nicht Sitte, bei der Naturforscherversammlung Beschlüsse zu fassen und abzustimmen", und fährt fort: „Ich habe bereits oben den Unterschied der hygienischen Sektion und den übrigen Sektionen hervorgehoben; diesen muß man i m Auge halten, das Ziel den Staats- und Ortsbehörden klar darzulegen, was die öffentliche Gesundheitspflege fordert. Man muß die Hygiene nicht zwingen, Separatkongresse zu halten 6 1 ." «« Bericht über die 1. Versammlung des Deutschen Vereins f ü r öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig (1873); S. 3. 59 Varrentrapp, Georg: Z u r Frage der Räthlichkeit der Abstimmungen i n einigen Sektionen der Versammlung Deutscher Naturforscher u n d Ärzte, B e r l i n (1869). eo Ibid., S. 5. ei Ibid., S. 15.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

Als schließlich doch i n der Sektion über Petitionen abgestimmt wird, erfolgt sofort die Reaktion der Mandarine i n einem Antrag: „ I n Erwägung, daß es gegen den bisherigen wohlbegründeten Gebrauch der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte ist, und nach der A r t der Zusammensetzung dieser Versammlung auch durchaus ungeeignet erscheint, wissenschaftliche Ansichten auf Grund von Majoritätsbeschlüssen durch Resolutionen auszusprechen, beantragen die Unterzeichneten die Aufnahme eines Paragraphen i n die Statuten folgenden Inhalts: ,Eine Fassung von Resolutionen über wissenschaftliche Fragen (seil, man meint: standespolitische!) findet in den allgemeinen sowohl, als i n den Sektionssitzungen nicht statt' und ersuchen die Geschäftsführer, diesen Antrag auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu bringen 6 2 ." Vor allem die Unterschrift einer Reihe von Mathematikern (u. a. Zehfuß und Weber), den Vertretern der „reinsten" Wissenschaft, fällt ins Auge. Da sie ohne sonderliche Kompetenz und offenbar ohne an den hygienischen Sitzungen teilgenommen zu haben, i n den Streit eingreifen, können w i r sie w o h l als Chefideologen der Mandarine identifizieren 63 . Dieser Antrag, der von Zenker u. a. mit der Begründung verteidigt wird, derartige Resolutionen entsprächen nicht der „Würde dieser Versammlung", w i r d zunächst durch Ubergang zur Tagesordnung erledigt. Wie sehr jedoch die Mandarine dieser Präzedenzfall irritierte, beweist die spätere Aufnahme des exakten Wortlauts dieses Antrages i n die Statuten (1871), der einzigen Statutenänderung bis 1890. 62 ibid., S. 17. 63 M a n k a n n sogar von einer Entwicklung zur Vorherrschaft der Mathematiker i n der D N Ä u n d i n den Naturwissenschaften sprechen. F ü r diese These gibt es sechs Hinweise: 1. Der beschriebene F a l l ihrer Reaktion auf die Tätigkeit der Sektion für öffentliche Gesundheitspflege; 2. Die führende Beteiligung von Mathematikern an der B i l d u n g des wissenschaftlichen Ausschusses der D N Ä (1890); 3. Die I n i t i a t i v e der Mathematiker (Gutzmer, Klein) bei der Einsetzung der Unterrichtskommission, die Übernahme des Damnu-Vorsitzes durch Gutzmer, die Lenkung der Schulreform, der Einsatz f ü r die Änderung des naturwissenschaftlichen Prüfungswesens an den Hochschulen; 4. Die Präsidentschaft des DMV-Vorstandsmitglieds K l e i n i n der internationalen Unterrichtskommission, die u. a. die Situation der N a t u r w i s senschaften i n Deutschland untersuchte; 5. Die überragende Bedeutung der D M V bei der Einführung neuer L e h r stühle, u. a. der angewandten Mathematik und der D i d a k t i k der N a t u r wissenschaften (1920); 6. Die engen Verbindungen der Mathematiker über den Damnu u n d die D M V zum preußischen K u l t u s m i n i s t e r i u m (Schlömilch w a r Schulrat i m preußischen K u l t u s m i n i s t e r i u m von 1874 - 1885).

8. Mandarinen-Ideologie

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Schließlich reicht die Sektion nach der Innsbrucker DNÄ-Versammlung 1869 beim norddeutschen Bundestag — und 1871 auch beim Reichstag — eine Petition zur Bildung städtischer Gesundheitsausschüsse und zur Errichtung eines statistischen Zentralamts ein, die später zur Bildung des Reichsgesundheitsamts führt. Damit ist gleichzeitig das Signal zur endgültigen Abspaltung von der Naturforscherversammlung gegeben. Auf der Gründungsversammlung der Gesellschaft 1873 faßt Varrentrapp noch einmal seine Meinung stellvertretend für die „Praktiker" und Mandarinengegner zusammen: „Unter solchen Umständen ist wohl die Zeit gekommen, sich zu fragen, ob für das, was w i r ferner gemeinsam zu erstreben haben, die hygienische Sektion der Naturforscherversammlung ausreicht. I n einer fast nur aus Ärzten und Naturforschern zusammengesetzten Versammlung gibt es sich von selbst, daß zumeist die m i t der Hygiene zusammenhängenden physiologischen und pathologischen Fragen Erörterung finden. Handelt es sich aber u m andere Gegenstände, u m Reinhaltung von L u f t und Boden, u m Entwässerung, Fabrik- oder Baupolizei, so stehen nicht mehr die Ärzte, sondern die Bautechniker, die Ingenieure etc. i n erster Linie. . . . U m das was unser Ziel ist, ins Werk zu setzen, scheint es demnach, daß es nach jeder Seite geraten ist, fortan einen größeren Kreis zur Bearbeitung i n richtiger Weise abzustecken, die eine Seite, die wissenschaftliche Erörterung, die Aufstellung hygienischer Forderungen u. dergl. der eigentlich wissenschaftlichen Versammlung, der Sektion der Naturforscherversammlung zu überlassen, dagegen alle praktischen Kräfte hier zu vereinigen, um die praktische Seite dieses Feldes zu bebauen 64 ." Die Lösung des Zielkonflikts durch Zieldifferenzierung und -auslagerung w i r d hier direkt angesprochen. Die idealistisch gesinnten Mandarine der D N Ä konnten nur noch die Abspaltung der Hygieniker befürworten, nachdem sich deren Sektion mit anwendungsorientierter Tätigkeit und praktischer Interessenvertretung schon wissenschaftsimmanent (öffentliche Gesundheitspflege) befassen mußte. Ein ähnlicher Vorgang läßt sich trotz ihrer praxisnäheren Zielrichtung auch i n der „British Association for the Advancement of Science" nachweisen, die ihre Sektion „Economics and Statistics" ständig kontrollierte, u m ihre Wissenschaftlichkeit zu garantieren. Als 1833 trotz vieler Bedenken die Sektion gegründet wird, muß sie sich mit einer recht amüsanten Auflage abfinden: " I t was resolved, that the 64 Bericht über die 1. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig (1873); S. 8.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

inquiries of this Section should be restricted to those classes of facts relating to communities of men which are capable of being expressed by numbers, and which promise, when sufficiently multiplied, to indicate general laws 6 5 ." Motiviert u. a. durch diese Auflage, spaltet sich i m nächsten Jahr die Statistical Society von der B A ab, die einzige nachweisbare Abspaltung einer Fachgesellschaft von der B A überhaupt bis 1914. Die Sektion bleibt zwar bestehen, gibt aber i m Jahre 1908 erneut Anlaß zu Untersuchungen und Anträgen auf Änderung der Satzung, u m „unwissenschaftliche" Mitglieder der B A ausschließen zu können. Die Ubereinstimmung dieser Vorschläge m i t der Mandarinen-Reaktion gegen die deutsche Sektion für öffentliche Gesundheitspflege ist frappierend, denn ein Blick i n das Sektionsprogramm der englischen Statistiker zeigt, daß es sich letztlich u m die gleichen Hintergründe handelte. Die Themen der Sektion „Statistics and Economics" lauteten u.a.: „On the Water Supply of London", „On the tea — consumption of the United Kingdom", „Importance of increasing punishment of habitual drunkards", „On increasing the Sanitory Condition of large towns" — waren also ähnlich praxisnahe wie die der entsprechenden DNÄ-Sektion. Eine entscheidende These über die Identität der Zielsetzung der „Associations for the Advancement of Science", unabhängig von ihrem nationalen Rahmen, läßt sich ebenfalls aus diesen Ereignissen ableiten: sie dienten primär der Diffusion wissenschaftlichen Grundlagen-Wissens, der Verbreitung erarbeiteter Forschungsresultate unter die scientific community. Infolge des erregenden Präzedenzfalles der öffentlichen Gesundheitspflege entwickelte sich i m gleichen Jahr (1873) die nationale ärztliche Interessenvertretung: der Deutsche Ärztevereinsbund. Er spaltete sich offenbar unter dem Eindruck der Bildung der Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege und der Schwierigkeit der Standesvertretung i m Rahmen der Naturforscherversammlung ab, wie i n den folgenden Bemerkungen des Vorstandsmitgliedes Richter zum Ausdruck kommt: „Bisher, seit 1868, ist diese Aufgabe (seil, „geistigen Druck" i m Sinne der Förderung der Standesinteressen auf die Behörden auszuüben) dem gesamten Deutschland gegenüber, von den Sektionen der Naturforscherversammlung übernommen worden. Sie haben insbesondere die zu Thesen formulierten Reformwünsche der deutschen Ärzte, sowie die Anträge auf Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege des 65

Report of the B r i t i s h Association for the Advancement of Science, London 1833, S. X X X V I I .

8. Mandarinen-Ideologie

89

Deutschen Reiches erörtert und als Petition an den Reichstag bzw. Reichsrath gebracht 66 ." Den Hauptgrund für die Notwendigkeit der Gründung einer autonomen Standesorganisation sieht Richter i n der oft kritisierten „Zufälligkeit" der Sektionsbildungen: „Denn i n Wirklichkeit waren diese willkürlich zusammengekommenen, vom bloßen Zufall gemischten Sektionsberatungen doch nichts weniger als rechtlich-kompetente Vertreter der ärztlichen Meinung 6 7 ." Der 1881 gegründete Deutsche Geographentag entschloß sich ähnlich wie die Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege u. a. aus Widerstand gegen den beschränkten Rekrutierungsmodus der D N Ä zur Gründung einer selbständigen Gesellschaft. Die Gründungseinladung empfahl die Trennung von den Jahresversammlungen der DNÄ, da „die Lehrer der Erdkunde an den Gymnasien und Realschulen zur Zeit der Naturforscherversammlung, i m September, durch ihre Amtspflichten gebunden seien 68 ." Man geht sogar so weit, der Naturforscherversammlung vorzuwerfen, die Septembertagungen gewählt zu haben, u m den Stand der Lehrer von ihren Versammlungen auszuschließen. Während die Mitgliedschaft der Naturforscherversammlung über die „Inauguraldissertation" hinaus an eine wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit gebunden w a r 6 9 , bestimmte ζ. B. der Paragraph 3 der Statuten der Anthropologischen Gesellschaft lapidar: „Mitglied der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft w i r d Jeder, welcher einen Jahresbeitrag von einem Thaler oder mehr bezahlt 7 0 ." Nach ausgiebiger Diskussion über den Mechanismus der Mitgliederrekrutierung gelangt die Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege zu folgender Formulierung: „Zweck des Vereins ist die praktische Förderung der Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege. Zur Erreichung dieses Zweckes soll eine jährlich wiederkehrende Versammlung alle diejenigen Männer vereinigen, die auf wissenschaftlichem oder technisch-praktischem Gebiete oder als Verwaltungsbeamte der öffentlichen Gesundheitspflege ββ Ärztliches Vereinsblatt, 2, 1872; S. 9. «7 ibid., S. 9. ββ Verhandlungen des 1. Geographentages zu B e r l i n 1881, B e r l i n (1882); S.U. β» Teilnehmen konnten dagegen alle, die sich „wissenschaftlich m i t N a t u r kunde u n d Medizin beschäftigen" (§ 6 der Statuten). 70 Correspondenz-Blatt der Deutschen Gesellschaft f ü r Anthropologie, Ethnologie u n d Urgeschichte, 1, 1870; S. 3 f.

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IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

ihre Teilnahme zuwenden 71 ." Dementsprechend w i r d als erster Vorsitzender der Frankfurter Oberbürgermeister Hobrecht gewählt. Neben der Abneigung gegenüber der Wahrnehmung praktischer Standesinteressen, dem damit verbundenen exklusiven Rekrutierungsmodus und der Ablehnung der Integration angewandter Forschungsdisziplinen, scheint sich die Mandarinen-Ideologie der D N Ä durch ihren antipositivistischen Standpunkt i n der Wissenschaftstheorie ausgezeichnet zu haben 72 . Bei der Statutenbesprechung zur symbiotischen Gründung der Geologischen Gesellschaft bildet sich die Ansicht heraus, daß „mehr die Pflege der theoretischen Wissenschaft, einschließlich der Krystallographie" zu erstreben sei, und „daß es nicht Ziel der Gesellschaft sei, die praktische Fühlung m i t Bergbau, Ackerbau und Gewerbe herzustellen, sondern daß dieses den Landesanstalten zufalle" 7 3 . Nach der Trennung von der D N Ä hat sich diese Haltung, wie w i r oben gesehen haben (Beteiligung an Vermessungen etc.), geändert. Kompromißbereiter gegenüber dem Anwendungsaspekt seiner Disziplin ist erwartungsgemäß die Stellungnahme des ersten Präsidenten der indifferenten Deutschen Chemischen Gesellschaft, A. W. von Hof mann: „Die neue Gesellschaft sei ganz eigentlich dazu bestimmt, den Vertretern der spekulativen und angewandten Chemie Gelegenheit zum gegenseitigen Ideenaustausche zu geben, u m auf diese Weise die Allianz zwischen Wissenschaft und Individuum auf's Neue zu besiegeln 74 ." Die Parteinahme der D N Ä i m Bakteriologie-Streit Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt über die Bildung einer „Ständigen Tuberculose-Commission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte" i n Braunschweig 1897. Die eindeutige Verurteilung des positivistisch-experimentellen Vorgehens von Robert Koch durch den Vorsitzenden dieser Kommission, Hueppe, exemplifiziert einen weiteren Aspekt der Mandarinen-Ideologie : „Daß dessen soziale überall

derartige roh empirische Behandlungen eines Problems, bei Lösung die ärztliche Erfahrung nicht über dem Versuch, die Seite nicht über der ärztlichen übersehen werden darf, schon auf entschiedensten Widerstand stoßen und nicht mehr gläubig

71 Bericht über die 1. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig, 1873; S. 12. 72 Dies mag teilweise ein Überbleibsel der romantischen, besonders von Oken geförderten Naturphilosophie sein. ™ Koken, E., S. 9. 74 Bericht der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin, B e r l i n (1868); S. 3.

8. Mandarinen-Ideologie

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hingenommen werden, daß man jetzt von allen Seiten Versuchen begegnet, die Grenzen des Experiments zu erkennen und das Problem erkenntnistheoretisch durchzuarbeiten, und damit einen wirklich naturwissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, erscheint als ein großer Fortschritt 7 5 ." I n der Eröffnungsrede zur Tagung dieser Kommission i n Hamburg 1901 schreckt Hueppe nicht vor der persönlichen Anfeindung von Koch zurück: „Gerade der Vortrag von Koch (seil, auf dem Londoner TuberkuloseKongreß 1900) hat wieder i n einer erstaunlichen Weise zum allgemeinen Bewußtsein gebracht, daß trotz 20jähriger Arbeit noch tiefgreifende MißVerständnisse vorhanden sind, ja, daß die bakteriologische Orthodoxie unter Führung von Koch sich trotz der 20 Jahre seit der Entdeckung des Tuberkel-Bazillus nicht einmal zu einer klaren Fragestellung durchgearbeitet hat. Fast könnte man sagen, nichts gelernt und sogar das früher selbst Erarbeitete wieder vergessen! Sonst ist es wohl unverständlich, weshalb Koch jetzt den Ast absägte, auf dem er bis dahin sicher saß 76 ." Diese ungewöhnliche Polemik läßt sich zu einem guten Teil der hartnäckigen Verteidigung der Mandarinen-Ideologie zuschreiben, zumal der internationale Kongreß i n seiner Mehrheit hinter Koch stand. Unter vier Aspekten haben w i r den Verdacht der MandarinenIdeologie der D N Ä bestätigt gefunden: — Nicht symbiotische, DNÄ-integrierte, sondern indifferente Gesellschaften haben sich aktiv m i t praktischen Fragen der Standesvertretung beschäftigt. — Die Abspaltung von drei indifferenten Gesellschaften ist vorwiegend der Durchsetzung von Standesinteressen gegen den Widerstand der Naturforscherversammlung zuzuschreiben. — Die Mitgliedschaft „praxisnaher" Berufe i n indifferenten Gesellschaften steht i m Gegensatz zur selektiven Rekrutierungsweise der DNÄ. — Die offiziell vertretene Wissenschaftstheorie der D N Ä war tendenziell gegen den „Positivismus" gerichtet und verhinderte lange die Eingliederung anwendungsorientierter Disziplinen. Ein weiteres Merkmal der Mandarinen-Ideologie, wie sie Ringer darstellt, ist das Interesse an der engen Verbundenheit m i t dem ?

5 V o r w o r t von Hueppe zu den „Verhandlungen der ständigen TuberculoseCommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n H a m burg 1901", B e r l i n (1902); S . V I . 7« Ibid., S. 2.

92

IX. Zielkonflikte und DNÄ-bedingte Abspaltungsgründe

„Kulturstaat", vor allem mit Monarchie.

der erblichen oder

konstitutionellen

Die tönenden „Hochs" der Naturforscherversammlungen auf Kaiser, Könige und Herzöge scheinen diese Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, da sie nicht allein als Zeichen der Abhängigkeit von deren H u l d und finanzieller Gnade verstanden werden können. Nach 1893 w i r d die offizielle Huldigungsbekundung der Versammlung gegenüber Kaiser Wilhelm sogar zur jährlich geübten Eröffnungsroutine. W i r haben i n diesem Kapitel eine Vielfalt wichtiger Faktoren betrachtet, die mit unterschiedlicher Gewichtung die Abspaltung wissenschaftlicher Gesellschaften von der D N Ä herbeigeführt haben und auf Zielkonflikte innerhalb der Naturforscherversammlung verweisen. Obwohl eine exakte quantitative Aufbereitung der Daten nicht vorgenommen wurde, scheint uns die oben angeführte Kausalkette zur Erklärung der Abspaltungsgründe aus zwei verbundenen Hauptgliedern zu bestehen: dem Anwachsen des Wissensbestandes und der Suche nach wissenschaftsspezifischer Umgebung. Erst i n dem Maße, i n dem eine Disziplin ihren Gegenstand und ihre Methoden selbständig definiert und aufgrund eigener Paradigmabildungen zu akkumulierten Forschungsergebnissen gelangt, w i r d sie den Wunsch nach wissenschaftsspezifischer Umgebung i m Konflikt mit der Muttergesellschaft durchzusetzen versuchen.

X. Allgemeine Gründungseinflüsse Unabhängig von den Situationen des Zielkonflikts innerhalb der D N Ä gab es für die Gesellschaften eine Reihe von externen Gründungsanlässen, mit denen w i r uns i m folgenden beschäftigen wollen. Sie haben teilweise auf das Verhältnis zur D N Ä zurückgewirkt, sind aber ursprünglich durch das soziale und kognitive System der Wissenschaft oder durch politische Umstände angeregt worden. Siefert unterscheidet i n seiner Arbeit über „Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen i m deutschen Sprachgebiet (1750 bis 1850)" u. a. drei „Gründungsimpulse": 1. Die Situation der Wissenschaft 2. Die politische Lage 3. örtliche Gegebenheiten 1 . W i r wollen uns i m folgenden mit diesen Impulsen beschäftigen, ohne die bereits nachgewiesene „Initiative einzelner Privatpersonen" oder die m i t „Gedenktagen" oder „Festessen" identifizierten „formalen Anlässe" zu berücksichtigen, die Siefert zusätzlich untersucht.

1. Situation der Wissenschaft Da Siefert unter „Situation der Wissenschaft" lediglich eine „spannungsvolle Unfertigkeit" des Wissenssystems versteht und das Wissenssystem analytisch nicht vom Sozialsystem der Wissenschaft abhebt, bleibt bei i h m ein wichtiger Impuls zur Gesellschaftsgründung unberücksichtigt: das Beispiel ausländischer Vereine oder internationaler Kongresse 2. Die zahlreiche Teilnahme ausländischer Wissenschaftler an den Kongressen der D N Ä 3 reflektiert die über politische Grenzen hinausgehende Kommunikationsstruktur der Wissenschaft ebenso wie die ι Siefert, H., S. 82. Das mag auf die Tatsache zurückgehen, daß Siefert fast ausschließlich lokale Vereine untersucht u n d die wenigen damals existierenden deutschen Gesellschaften k a u m berücksichtigt. 3 Neben den europäischen Ländern w a r besonders Rußland seit 1834 stark vertreten; 1886 entsandte es 55 Teilnehmer auf die Berliner Versammlung. 2

94

X. Allgemeine Gründungseinflüsse

weltweite Bedeutung der deutschen Naturwissenschaft und Medizin. Trotz des nationalbewußten Charakters der allgemeinen Naturforscherversammlungen wurde der Kontakt m i t dem Ausland gesucht und dadurch ein Vergleich der eigenen wissenschaftlichen Errungenschaften und Organisationsformen m i t denen des Auslands ermöglicht. So konnten bei der Entstehung von neun indifferenten und symbiotischen deutschen Gesellschaften ausländische Vereine „Pate" stehen 4 . Roemer rechtfertigt seine eigene Zustimmung zur Bildung der Deutschen Geologischen Gesellschaft m i t den Worten: „ F ü r mich war endlich auch das Beispiel der Wanderversammlung der französischen geologischen Gesellschaft . . . bestimmend gewesen, der Neuerung das Wort zu reden 5 ." Hofmann, der Gründer der Deutschen Chemischen Gesellschaft, hatte i n England Anregungen erhalten: „Während einer langen Reihe von Jahren habe er sich regelmäßig an den Sitzungen der ,Chemical Society 4 i n London beteiligt, und die Anregung, welche er aus deren Zusammenkünften m i t nach Hause genommen habe, könne er nicht dankbar genug anerkennen 6 ." Beely und Hoeftmann holen sich die Anregungen zur Gründung der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft während ihres Amerikaaufenthaltes bei der 1887 gegründeten „American Orthopedical Association" 7 . I n der Eröffnungsrede zur ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin erläutert der Vorsitzende Strassmann: „M. H., als w i r es unternommen haben, eine Deutsche Gesellschaft für gerichtliche Medizin zu gründen, da haben w i r nichts getan, was etwa neu und ohne Beispiel wäre. Schon seit einer Reihe von Jahren bestehen und blühen i n einer Anzahl anderer Länder nationale Gesellschaften der gleichen A r t . . . Was i n Frankreich, Belgien, England möglich gewesen ist, sollte auch i n den Ländern deutscher Zunge zu erreichen sein 8 ." Immer wieder finden sich Hinweise darauf, daß die ausländische Wissenschaft der deutschen voraus sei und daher die Gründung einer 4

Hierzu gehören auch die Deutsche Tropenmedizinische Gesellschaft, die auf dem internationalen Kongreß für Hygiene u n d Demographie 1907 m i t gegründet wurde, u n d die Ophthalmologische Gesellschaft, deren Gründer sich vorher beim Internationalen Ophthalmologischen Kongreß Anregungen geholt hatten. s Koken, E., S. 16. β Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin, B e r l i n (1868); S. 2. ? Baade, P., S. 16. 8 Vierteljahreszeitschrift f ü r Gerichtliche Medizin u n d öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 31. Bd., 1906; S.205.

1. Situation der Wissenschaft

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entsprechenden deutschen wissenschaftlichen Gesellschaft erforderlich sei. Dieses vom Nationalbewußtsein mitdiktierte Konkurrenzempfinden dürfte eine entscheidende Wurzel des Aufschwungs der deutschen Naturwissenschaften i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen sein 9 . Eine Aufstellung der Gründungsdaten vergleichbarer französischer, englischer und deutscher Fachgesellschaften ergibt i n der Tat, daß die deutschen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts gegenüber den französischen durchschnittlich zwanzig Jahre jünger sind (Basis: 21 Gesellschaften), gegenüber den englischen sogar 23 Jahre (Basis: 20 Gesellschaften). Diese Tatsache läßt vermuten, daß die Naturforscher Versammlung m i t ihren Sektionssitzungen einen Ersatz für frühzeitige Gesellschaftsbildungen bot, daß die D N Ä also möglicherweise als Verzögerungsfaktor auftrat. Jeder wissenschaftlichen Gesellschaftsbildung geht ein Anwachsen des Wissensstoffes der betroffenen Disziplin und ihrer sozialen Begleitstruktur voraus. Es kommt zunächst zur Etablierung einer Fachzeitschrift, zur Einführung von Privatdozenturen, außerordentlichen und ordentlichen Lehrstühlen an Universitäten, zur Sektionsbildung und Gründung einer selbständigen Gesellschaft, zum Neubau eines Universitäts-Instituts und schließlich zur Anerkennung der Disziplin als obligates Prüfungsfach 10 . Zum Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung w i r d also i m allgemeinen keine neue Spezialwissenschaft geboren, sondern diese muß bereits mit der „Reduktion der Komplexität" (Luhmann) ihres akkumulierten Wissensbestandes beginnen. Durch persönlichen Ideenaustausch und gegenseitiges Kennenlernen sowie durch den i n Vorträgen vermittelten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung 11 dienten die 9 Die Wirkungsweise des internationalen Konkurrenzmechanismus i m Verhältnis des wissenschaftlichen „Zentrums" zur „Peripherie" habe ich an anderer Stelle beschrieben: "Centre and Periphery i n the international Scientific Community: Germany, France and Great B r i t a i n i n the 19th Century", Minerva, Vol. X I , No. 4, Oct. 1973. 10 Dieser durchschnittliche Werdegang einer medizinischen Disziplin läßt sich aus den Daten von H.-H. Eulner ablesen. (Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes, Enke Verlag, Stuttgart 1970.) Vgl. auch Pfetsch, F r a n k R. u n d A v r a h a m Zloczower: Innovation u n d Widerstände i n der Wissenschaft, Düsseldorf 1973. 11 Viele weltbekannte Entdeckungen w u r d e n zunächst i n Gesellschaftsvorträgen lanciert, bevor sie Allgemeingut wurden. Die Vorträge von H e l m holtz (1847), Siemens (1866) u n d Planck (1900) vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft gehören zu den großen Ereignissen der Physik.

96

X. Allgemeine Gründungseinfüsse

Gesellschaftssitzungen bereits damals wissenschaftlicher Informationen.

dieser

Steuerung

der

Fülle

So erklärte Oppenheim 1906 auf der Stuttgarter Vorbesprechung zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: „Das Spezialfach der Neurologie hat eine solche Ausdehnung angenommen, daß es einer gesonderten Behandlung, getrennt von der inneren Medizin einerseits, von der Psychiatrie andererseits fähig und würdig ist. Die Zahl der Ärzte, die zwei so ausgedehnte Wissensgebiete wie die Neurologie und innere Medizin i n sich vereinigen könnten, w i r d immer geringer 12 ." Die Absicht der Steuerung der Informationsflut kommt deutlich i m ersten Paragraphen der Gründungsstatuten der Deutschen Chirurgischen Gesellschaft zum Ausdruck: „Die Deutsche Chirurgische Gesellschaft hat den Zweck, bei dem stets wachsenden Umfange der Wissenschaft, die chirurgischen Arbeitskräfte zu einigen, durch persönlichen Verkehr den Austausch der Ideen zu erleichtern und gemeinsame Arbeiten zu fördern 1 8 ." Der Vorsitzende des deutschen Kongresses für innere Medizin, Frerichs, zielt i n der Gründungsansprache 1882 auf die gleiche Problematik: „So können w i r uns heute fragen, ob noch Einer von uns imstande sei, auch nur die Hälfte der ärztlichen Weltliteratur zu lesen und i n sich zu verarbeiten? Wenn schon durch diese Fülle des Stoffes eine gewisse Teilung der Arbeit geboten wurde, so kommt noch, was mehr ins Gewicht fällt, hinzu, daß der gesonderte Ausbau der Einzelfächer i n der Tat durch dauernde, zum Teil umfängliche Leistungen bewiesen hat, wie fruchtbringend die geteilte Arbeit werden könne." Frerichs kommt i m weiteren Verlauf seiner Rede auch auf das Selbstbewußtsein der Disziplin zu sprechen, die sich zum Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung als völlig eigenständig betrachtet: „ W i r begrüßen mit Freude die Errungenschaften der pathologischen Anatomie, Chemie, experimentellen Pathologie, welche wertvolle zum Teil unschätzbare, grundlegende Tatsachen uns lieferten . . . ; allein, w i r bleiben Herren i m eigenen Hause, bedürfen keiner Vormundschaft . . . Die innere Heilkunde hat genügsam erfahren, welche Folgen die Fremdherrschaft brachte, mochte sie ausgeübt werden von der

12 50 Jahre Deutsche Gesellschaft f ü r Neurologie, Lübeck (1958); S. 7. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft f ü r Chirurgie, 3. Kongreß 1874, B e r l i n (1874); S . X I V . 13

2. Politische Lage: Reichsgründung

97

Philosophie, der Physik, der pathologischen Anatomie, der Chemie oder schließlich der experimentellen Pathologie 14 ." Bei jüngeren Disziplinen läßt sich an der Gesellschaftsbildung gleichzeitig ein Teil des Prozesses der Entstehung einer neuen Wissenschaft durch Ausdifferenzierung aus der Mutterdisziplin ablesen: „Allmählich aber trat immer gebieterischer die Notwendigkeit eines engeren Anschlusses der Orthopäden untereinander hervor. Es lag dieses zum Teil in dem so segensreichen, gewaltigen Aufschwung der Chirurgie: stets neue Gebiete wurden derselben eröffnet, neue Triumphe feiert dieselbe. Dadurch aber wurde das Gebiet der Chirurgie immer ausgedehnter, immer schwerer zu übersehen, so daß es nur noch wenigen vergönnt ist, das ganze Feld gleichmäßig zu beherrschen. Auch hier bildet sich . . . zum Teil eine A r t Spezialistentum: der ist geübter i n der Hirnchirurgie, der andere i n der Bauchchirurgie, der dritte bevorzugt die Leberchirurgie usf. Natürlich ist es dann nur, daß die wenigsten noch Zeit haben, daneben sich u m orthopädische Apparate zu bekümmern, und selbstverständlich ist es auch, daß auf dem Chirurgenkongreß . . . die Orthopädie i m gewissen Sinne zu kurz kommen mußte 1 5 ." Die hier angesprochene sozialpsychologische und kognitive Funktion der Gesellschaften für den einzelnen Wissenschaftler, die Überschaubarkeit des disziplinären Wissensstoffes und damit die Teilnahme und Orientierung an der vordersten Forschungsfront zu ermöglichen, und i h m gleichzeitig die diffuse Angst vor der Wissenskomplexität durch die angebotene Spezialisierungschance zu nehmen, scheint einen Teil der sozialen Basis wissenschaftlicher Paradigmabildung auszumachen.

2. Politische Lage: Reichsgründung Neben wissenschaftsimmanenten Impulsen ist vor allem die „politische Lage" (Siefert) als bedingender Faktor für Gesellschaftsgründungen zu nennen. W i r wollen hier nur kurz auf das hervorstechendste politische Ereignis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingehen: die Reichsgründung 1871. Bei mindestens vier Gesellschaften bedurfte es des Vorbildes der politischen nationalen Einigung, u m auch auf wissenschaftlicher Ebene zur „gesamtdeutschen Lösung" zu schreiten. 14 Verhandlungen des Kongresses für Innere Medizin, 1882; S. 15; ebenso deutlich Virchow: „ W i r wollen nichts als Pathologen sein . . . (s.o.). is Zeitschrift f ü r Orthopädische Chirurgie, X I . Bd., Stuttgart (1903); S. 1. Interessant ist, daß die Orthopädie nie als selbständige oder kombinierte Sektion i n der D N Ä aufgetreten ist.

7 v. Gizycki

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X. Allgemeine Gründungseinflüsse

H.E.Richter erkennt dies i n seinem Kommentar zur Bildung des Ärztevereinsbundes : „Die Frage nach dem Sinn und Zweck unseres deutschen ÄrzteVerbandes läßt sich eigentlich ganz einfach beantworten: nachdem ganz Deutschland zu einem Reichskörper geeinigt ist, müssen die Ärzte ebenfalls aus ihrem bisherigen Partikularismus ausscheiden und zu einer einheitlichen Körperschaft, zu gemeinsamem Wirken zusammentreten 1 6 ." I n der Eröffnungsrede zum dritten Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie geht der Vorsitzende v. Langenbeck auf diesen Impuls ein: „Die vollendete Einigung Deutschlands gab den Anstoß zur Einigung unserer Kräfte i n diesem Verein, und zur Wahl der Hauptstadt des Deutschen Reiches als Versammlungsort 17 ." Diese politischen Gründungsmotive hatten jedoch lediglich sekundäre Bedeutung.

3. Geopolitisches Berlin als ständigen Wohnsitz haben trotz enger Bindungen vieler Vereinigungen an die Reichshauptstadt nur sechs deutsche Gesellschaften gewählt: die Deutsche Chemische Gesellschaft, die Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege, die Chirurgische Gesellschaft, die Deutsche Physikalische Gesellschaft, die Pharmazeutische Gesellschaft und die Deutsche Geologische Gesellschaft 18 . Daß dies nicht häufiger geschah, lag einmal am Vorbild der D N Ä Wanderversammlungen und zum zweiten an den ständigen Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Süddeutschen u m die Abhaltung der Tagungen i n ihren „Grenzen". Die D N Ä ist selbst ein ausgezeichnetes Beispiel für die aus solchen Konflikten resultierende Kompromißhaltung, indem sie 1890 Leipzig zum ständigen Wohnsitz wählte, u m nicht die Süddeutschen durch die Wahl Berlins zu verärgern. Einen ähnlichen Kompromiß mußten die Internisten i n der Wahl ihres ständigen Tagungsortes schließen: ι« Ärztliches Vereinsblatt, 2, 1872; S.9. 17 Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 1874; S. 1. ι® Z w e i weitere stationäre Gesellschaften sind die Ophthalmologische Gesellschaft (Heidelberg) u n d der Kongreß f ü r Innere Medizin (Wiesbaden). Die Tropenmediziner tagten abwechselnd i n Hamburg u n d Berlin, die U r o logen i n Wien u n d Berlin.

3. Geopolitisches

99

„Nichts lag den Gründern ferner als politische Überlegungen, gleichwohl blieb sie (seil, die Gesellschaft) i n den ersten Jahren ihrer Entwicklung nicht ganz ungestört davon infolge gewisser Spannungen zwischen nord- und süddeutschen Eigenheiten, die dazu führten, daß die süddeutschen K l i n i k e r trotz ihres Wissens um die rein medizinischen Zwecke der Gesellschaft sich zunächst gegen die — vermeintlich — »norddeutsche4 Gründung sträubten. Dieser Tatsache übrigens verdankt Wiesbaden seine Wahl zur Kongreßstadt 19 ." I n einem Brief an K . C. v. Leonhardt schreibt B. Cotta: „Daß Süddeutschland bei der Begründung dieser deutschen geologischen Gesellschaft i n Berlin garnicht persönlich vertreten war, wurde allgemein bedauert. Was kann wohl der Grund davon sein?" Postwendende A n t w o r t Leonhardts: „Vielleicht, daß ihnen Berlin zu entlegen und zu wenig gelegen ist 2 0 ?" Zwar waren die Gründungen i n Berlin erfolgreicher, wie u. a. der gescheiterte nationale Gründungsversuch Tschirchs und die gelungene spätere Berliner Gründung der Pharmazeutischen Gesellschaft durch Thoms beweisen, aber dafür wurden deren wissenschaftlichen Tagungen über lange Zeit von den Süddeutschen boykottiert, die diese Gesellschaften oftmals für norddeutsche Privatveranstaltungen hielten 2 1 . I n der einen oder anderen Weise haben lokale Berliner Vereine bei der Gründung fast aller von der D N Ä abgespaltenen deutschen Gesellschaften mitgewirkt, sei es durch ihr wissenschaftliches Vorbild, sei es als Vorläufer, die auf der Gründungsversammlung Mitglieder und Räumlichkeiten zur Verfügung stellten, sei es durch die sofortige Verschmelzung des Berliner Vereins mit der neugegründeten deutschen Gesellschaft, oder durch die spätere Vereinigung des Berliner Vereins mit der Deutschen Gesellschaft. Der chronologischen Aufzählung aller Berliner Vereinsgründungen bis 1890 bei Graf 2 2 ist zu entnehmen, daß nur die Chirurgen und Irrenärzte eine deutsche Gesellschaft vor einer lokalen Berliner Gesellschaft gründeten, während alle anderen durch die abgespaltenen 19 Eröffnungsansprache von K . Hansen auf dem 63. Kongreß f ü r Innere Medizin 1957 i n Wiesbaden, i n : Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1957; S. 3. 20 Koken, E., S. 14. 21 So w u r d e n z. B. die Tagungen des Kongresses für Innere Medizin lange Zeit von Süddeutschen nicht besucht. E i n zusätzlicher G r u n d hierfür liegt natürlich i n den damals noch unterentwickelten Verkehrsverhältnissen. 22 Graf, E., S. 61 ff.

7*

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X. Allgemeine Gründungseinflüsse

Gesellschaften repräsentierten Disziplinen, soweit sie überhaupt i n Berlin Fuß faßten, dort vorher durch eigene Vereine vertreten waren. Berlin diente offensichtlich als Experimentierfeld, da es hier leichter war, eine treue Mitgliederschar zu rekrutieren, die später auf ganz Deutschland ausgedehnt werden konnte. Wenn erst ein fester Kern von Mitgliedern i n Berlin geworben war, stand man auf festen Beinen, u m sich ggf. das Epithet „deutsch" i m Gesellschaftsnamen zuzulegen und dennoch „zu Berlin" anzufügen. Der nächste Schritt war die tatkräftige Unterstützung einer eigentlich deutschen Gesellschaft: die Deutsche Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege zu Berlin stand bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege Pate, die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin ermöglichte die Bildung des Deutschen Geographentages. Wenn nicht bereits auf der Gründungsversammlung der deutschen Gesellschaft die Auflösung des Berliner Vorläufers beschlossen wurde (Deutsche Physikalische Gesellschaft, Deutsche Botanische Gesellschaft), konnte es auf diese Weise zu einem — meist konfliktgeladenen — Nebeneinander zweier „deutscher" Gesellschaften kommen, das erst m i t der späteren Verschmelzung beendet wurde. Die Deutsche Ornithologengesellschaft vereinigte sich 1875 m i t der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft zu Berlin zur „Allgemeinen Deutschen Ornithologischen Gesellschaft", und nach Jahren erbitterter Auseinandersetzungen, die zu Gerichtsbeschlüssen über Vermögensverteilung und Namensgebung führten, einigten sich der Berliner Entomologische Verein und die Deutsche Entomologische Gesellschaft 1912 als Namen für ihre gemeinsame Vereinigung auf das — bis heute geltende — Begriffsmonstrum „Deutsche Entomologische Gesellschaft (Berliner Entomologischer Verein 1856, Deutsche Entomologische Gesellschaft 1881 i n Wiedervereinigung)". I n den Statuten wirkte sich diese Vereinigung oder ein fester Berliner Sitz oftmals durch Privilegierung der Berliner Mitglieder aus. Die Deutsche Chemische Gesellschaft ζ. B. zählt i n ihren Statuten vier Kategorien von Mitgliedern auf: Ehrenmitglieder, i n Berlin wohnende Mitglieder, Auswärtige Mitglieder und Teilnehmer 2 3 . Die Physikalische Gesellschaft machte nur den Unterschied zwischen der „Gruppe der Berliner Mitglieder" und der „Gruppe der auswärtigen Mitglieder" 2 4 . I n beiden Gesellschaften mußten die Berliner 23 Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu B e r l i n (1868); S. 3 f. 24 Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft i m Jahre 1899, Jg. 1, 1899; S. 5 f.

3. Geopolitisches

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zwar höhere Beiträge bezahlen, erhielten dafür aber besondere Einladungen und bevorzugtes Stimmrecht bei der Vorstands- und M i t gliederwahl. So bestimmt Paragraph 7 der Gründungstatuten der Chemischen Gesellschaft, daß lediglich die i n Berlin ansässigen M i t glieder Stimmrecht haben, die Bibliothek benutzen, und Vorschläge zur Aufnahme neuer Mitglieder machen können. Unsere erweiterte Liste von Gründungsdeterminanten hat gezeigt, daß nicht nur Zielkonflikte zwischen den Interessen der Gesamtorganisation der Naturforscherversammlung und den spezialisierten Sektionsinteressen, sondern auch allgemeine wissenschaftliche, politische und geopolitische Umstände zur Entstehung der naturwissenschaftlichen und medizinischen deutschen Fachgesellschaften i m 19. Jahrhundert beigetragen haben. Da w i r hier besonders den Aspekt der Differenzierung einer Organisation i m Auge haben, wollen w i r uns i m folgenden m i t der Rückw i r k u n g der Abspaltung auf die Mutter- und Tochtergesellschaft befassen, soweit sie sich bereits kurz nach der Gründungszeit bzw. nach dem Höhepunkt der Abspaltungen nachweisen läßt.

X I . Die Rückwirkungen der Abspaltung auf die Fachgesellschaften Die unterschiedlichen Reaktionen der abgespaltenen Gesellschaften auf ihre neue Unabhängigkeit lassen sich auf einen Nenner bringen: Es wurde allgemein das wissenschaftliche Gesamtforum der D N Ä vermißt, vor allem der Kontakt m i t den Nachbardisziplinen. Vier Indikatoren lassen vermuten, daß die indifferenten Gesellschaften bald nach ihrer Gründung den Schmerz der Abtrennung ebenso empfanden wie das Glück der Selbständigkeit: 1. Das Bemühen, durch Tagungen i n örtlicher Nähe m i t der DNÄ, durch Abdrucken der DNÄ-Einladungen, Festlichkeiten und Vortragsankündigungen i n den Gesellschaftszeitschriften, sowie durch gemeinsame Jubiläumstagungen die Beziehung zur D N Ä nicht völlig abbrechen zu lassen. Da hierauf bereits an verschiedenen Stellen hingewiesen wurde, können w i r auf eine weitere Erörterung verzichten. 2. Die Mitgliedschaft und leitende Tätigkeit prominenter schaftler i n mehreren Gesellschaften.

Wissen-

3. Die Teilnahme deutscher Gesellschaften an internationalen Kongressen. 4. Die Zusammenschlüsse deutscher Gesellschaften untereinander, gemeinsame Tagungen oder gegenseitige Mitgliedschaften. Während die einzelnen Mitglieder der wissenschaftlichen Gesellschaften Ergänzung und Kompensation für die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an den DNÄ-Sitzungen durch ihre A k t i v i t ä t i n verschiedenen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Kongressen suchten, fanden die Gesellschaften Ersatz für die Naturforscherversammlung i n gemeinsamen Tagungen oder i n der Teilnahme an internationalen Kongressen. Wie eng die Verbindung unter den Wissenschaftlern war und wie einfach sich die Bildung von „cercles sociaux" 1 i m face-to-face- Verkehr auf Tagungen, Kongressen und sozialen Ereignissen vollziehen konnte, ι Crane-Hervé, Diana: „ L a diffusion des innovations scientifiques", Revue Française de Sociologie, Χ , 1969.

XI. Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Fachgesellschaften

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zeigt eine kursorische Untersuchung der Vereinsmitgliedschaft von drei prominenten Naturwissenschaftlern: Virchow, Helmholtz und Du BoisReymond. Ihre leitende Tätigkeit i n je fünf Gesellschaften, deren Disziplinen keineswegs als „benachbart" gelten können, ist gleichzeitig Ausdruck einer Suche nach Einheit und Synthese der Wissenschaften, wie sie von Ringer den Mandarinen zugeschrieben w i r d 2 . Virchow und Helmholtz hatten zunächst ihre eigenen „Heimgesellschaften" (Berliner Medizinische Gesellschaft bzw. Verein für Wissenschaftliche Heilkunde), die sie zur Vertretung ihrer wissenschaftlichen Schulmeinungen benutzen konnten. I m Streit u m die BlutserumTherapie mit Behring ζ. B. konnte sich Virchow auf die Zustimmung „seiner" Gesellschaft stützen, obwohl sein Prioritätsanspruch offenbar zu Unrecht bestand 3 . Alle drei, Helmholtz, Virchow und Du Bois-Reymond, trafen sich regelmäßig nicht nur auf den DNÄ-Veranstaltungen, sondern auch auf Tagungen der Berliner Physikalischen Gesellschaft, der Vorläuferin der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Virchow war Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender sowohl der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte wie der Deutschen Pathologischen Gesellschaft. Helmholtz war Mitglied der Anthropologischen, Otologischen und Ophtalmologischen Gesellschaft, Du Bois-Reymond wirkte bei der Gründung der Meteorologischen, Physiologischen und Chemischen Gesellschaft mit. Alle gehörten außerdem einer Anzahl ausländischer Gesellschaften als „corresponding members" an. Schon bald nach der Gründung mußten die Gesellschaften die Erfahrung machen, daß sie zwar die Freiheit vom engen Sektionsleben und und anderen Beschränkungen der Naturforscherversammlung errungen hatten, daß sie aber gleichzeitig sich zu isolieren drohten vom Gesamtkörper der Wissenschaften. I n dieser Phase erklang bei den Beteiligten oftmals der Ruf nach Einheit aller Wissenschaften, so daß die Gelegenheit zur Teilnahme an internationalen Dachverbänden, auf denen alle medizinischen oder naturwissenschaftlichen Disziplinen vertreten waren, regelmäßig wahrgenommen wurde. Gleichzeitig dienten die spezialisierten internationalen Fachkongresse, wie sie seit 1852 en vogue waren, dem besseren Kennenlernen des 2 Ringer, F., S. 384 f.; auch die Beteiligung einzelner Wissenschaftler an einer Vielzahl von Gesellschafts- u n d Sektionsgründungen, z.B. Tschirchs an der pharmazeutischen u n d botanischen Gesellschaftsgründung, ist Ausdruck solcher Zusammenschau (Gründerpersönlichkeiten). 3 Zeiss, H. u n d Bieling, R.: Behring: Gestalt u n d Werk, B e r l i n (1940); S. 118 f.

XI. Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Fachgesellschaften internationalen Forschungsstandes der eigenen und angrenzenden Disziplinen, indem auf ihnen gemeinsame Spezialprobleme behandelt wurden. Vor allem die Tagungen des internationalen medizinischen Kongresses, einer A r t supranationaler D N Ä der Mediziner, erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit bei den deutschen Fachgesellschaften 4. Es entwickelten sich dabei ähnliche symbiotische Verhältnisse zu den internationalen Tagungen wie zur DNÄ. So beantragte Pick 1891 auf der dritten Jahresversammlung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, „ob es nicht besser wäre, nur diejenigen Zusammenkünfte der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft als »Kongresse4 zu bezeichnen, bei denen die Gesellschaft mit eigener wissenschaftlicher Tätigkeit auftritt, so daß der diesmalige Kongreß als zweiter und nicht als dritter zu bezeichnen wäre" 5 . Er wollte damit die gemeinsame Tagung seiner Gesellschaft m i t der dermatologischen Sektion des X . internationalen medizinischen Kongresses i n Berlin, 1890, nicht als eigenständige wissenschaftliche Tagung anerkennen. Ähnlich verhielten sich die anderen deutschen medizinischen Gesellschaften, die fast alle auf diesem Kongreß vertreten waren 6 . Der Wunsch nach selbständigen Sektionen, wie er allemal innerhalb der Naturforscherversammlung zutage trat, w i r d m i t gleichen Argumenten auf internationalen Kongressen vorgetragen: „Auch bei dem i m Jahre 1900 i n Paris stattfindenden internationalen medizinischen Kongreß w i r d die Otologie keine eigene Sektion bilden, sondern als Untersektion neben einer solchen für Laryngo-Rhinologie bestehen. Ich möchte die Erwägung unterbreiten, der Kongreßleitung den Wunsch auszusprechen, daß die Otologie eine selbständige Sektion bilden möge 7 ." Ebenso wichtig wie die Teilnahme an internationalen Kongressen waren aber die Zusammenschlüsse und gemeinsamen Tagungen einiger deutscher Gesellschaften untereinander, die auf diese Weise ihren Kontakt zu den Nachbarwissenschaften institutionalisierten und Ersatz für das fehlende Forum der D N Ä schafften. 4 Besonders Virchow hat die Konkurrenz der internationalen Kongresse zur D N Ä k l a r erkannt. 5 Verhandlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, 1892; S. 2. 6 Verhandlungen des X . Internationalen Medizinischen Kongresses, Bd. 1, 1890; S . X I . 7 Verhandlungen der Deutschen Otologischen Gesellschaft, 1898; S. 5/6; A n t r a g von Dr. Hartmann.

XI. Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Fachgesellschaften

105

Die tropenmedizinische Gesellschaft tagte während der ersten Jahre ihres Bestehens i n gemeinsamen Sitzungen m i t dem deutschen Kolonialkongreß; die Orthopädische Gesellschaft tagte trotz gegenseitiger Animositäten i n unregelmäßigem Abstand m i t dem Chirurgenkongreß; die Zoologen versuchten immer wieder, ihre Versammlungen mit denen der Botaniker abzustimmen; die Laryngologen trafen sich regelmäßig mit den Otologen, die Physiker tagten m i t den Mathematikern, und die Deutsche Meteorologische Gesellschaft war Mitglied des Deutschen Geographentages, m i t dem sie auch gemeinsame Sitzungen abhielt. Das Beispiel der Meteorologischen Gesellschaft belegt besonders gut die These des Kompensationsmechanismus, da ihre späteren Versammlungen m i t dem Deutschen Geographentag die vorhergehenden gemeinsamen Tagungen m i t der D N Ä ablösen; es illustriert auch i n komprimierter Form die Drei-Stadien-These der Abspaltung symbiotischer Gesellschaften (s. o.). Während die erste Jahresversammlung der Meteorologen 1884 statutengemäß gemeinsam m i t der Naturforscherversammlung stattfindet, w i r d auf der zweiten Tagung bereits eine fakultative Trennung von der D N Ä vorgeschlagen: „Mindestens alle zwei Jahre findet eine allgemeine Versammlung statt, i n der Regel i m Anschluß an die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte oder an den Deutschen Geographentag 8 ." Die Resolution w i r d angenommen, und bereits 1887 tagen die Meteorologen i m Anschluß an den 7. Geographentag, ohne je wieder zur D N Ä zurückzukehren. Auch das fakultative Symbioseverhältnis der Botaniker sollte nach Auffassung des Gesellschaftsvorstandes bereits 1899 durch gemeinsame Tagungen mit der Zoologischen Gesellschaft abgelöst werden: „Der Vorstand der Gesellschaft unterbreitet ferner der einberufenen Generalversammlung den Vorschlag, zunächst versuchsweise, und zwar für das Jahr 1899, die Generalversammlung von der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte loszutrennen. Die künftig auf einen anderen Zeitpunkt anzuberaumende Sitzung soll . . . ein gemeinsames Tagen m i t der Deutschen Zoologischen Gesellschaft ermöglichen 9 ." Wegen Beschlußunfähigkeit und geringer Teilnahme wurde die Ausführung dieser Entscheidung freilich bis 1904 aufgeschoben.

8 A n t r a g von Prof. Bezold, i n : Meteorologische Zeitschrift, 2. Jg., 1885; S. 309. » Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft, 16, 1898; S. 146.

X I I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die D N Ä Wie reagierte die Naturforscherversammlung selbst auf die starke Zunahme der Gesellschaftsgründungen i n den 80er Jahren? Wie versucht eine Organisation, des „inneren sozialen Aufruhrs" (Smelser) Herr zu werden? Wie läßt sich „die reformierende Wirkung solcher Neugründungen auf das alte Institutionsgefüge" (Schelsky) feststellen? Unter drei Aspekten wollen w i r diese Fragen erörtern: 1. Das Verhältnis von Primär- und Sekundärdifferenzierung 2. Die Reformdiskussionen u m 1890 3. Die Einflußnahme wissenschaftlicher Gesellschaften auf Zielsetzung und Organisation der D N Ä nach 1890

1. Das Verhältnis von Primär- und Sekundärdifferenzierung Sektionen und wissenschaftliche Fachgesellschaften stehen i n engem Wechselverhältnis. Während die Bildung von Gesellschaften z.T. erst durch die Sektionen der D N Ä ermöglicht wird, nehmen die Fachgesellschaften auf die weitere Sektionsbildung i n der D N Ä Einfluß. Die so „kontrollierte" Sektionsstruktur der D N Ä t r i t t weiterhin als Initiator für neue Gesellschaftsgründungen auf. I n diesem Kapitel soll daher er ortet werden: a) Verlauf und Erklärungsfaktoren der Abspaltungskurve b) Die Rückwirkung der Abspaltung auf das Sektionsleben. a) Verlauf und Erklärungsfaktoren

der Abspaltungskurve

Die Kurve der Gesamtzahl aller abgespaltenen deutschen Gesellschaften i m jeweiligen Jahr steigt von 1850 bis 1914 an, erreicht u m 1890 ihren Wendepunkt und scheint sich danach einer abflachenden logistischen Kurve anzunähern. Dementsprechend nimmt bis 1890 die Zahl zusätzlich gegründeter Gesellschaften zu und geht danach langsam zurück. Die folgende Graphik verdeutlicht diesen Kurvenverlauf:

1. Primär- und Sekundärdifferenzierung

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Vergleichen w i r diese Kurve m i t der Entwicklung der Sektionszahlen, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Bis 1895 steigt die Zahl zusätzlich gebildeter Sektionen (Differenz des Zu- und Abgangs von einem Jahr zum anderen) an, u m danach allerdings stark abzunehmen und u m 1900 sogar einem absoluten Rückgang der Abteilungszahl Platz zu machen (der mathematisch errechnete Wendepunkt liegt bereits i n den 70er Jahren). Da sich eine ausführliche Erörterung des Sektions-Kurvenverlaufs der D N Ä i n einer Arbeit von Pfetsch und Zloczower findet 1 , wollen w i r hier nur kurz auf die organisatorische Formalisierungs- und Koordinierungstendenz der D N Ä eingehen, die nach der Reform von 1890/92 die Bildung neuer Sektionen erschwerte und damit auch die Abspaltungschancen neuer Gesellschaften beeinträchtigte. Die Zusammenlegung der neu gebildeten Abteilungen zu Fachgruppen und deren Zusammenfassung i n den beiden Hauptgruppen der Medizin und Naturwissenschaft i m Reformjahr 1892 diente bereits der administrativen Koordination wissenschaftlicher Differenzierungsprozesse. Darüber hinaus wollte der Vorstand aber unter dem Eindruck früherer Zersplitterungstendenzen jede weitere Abteilungsbildung erschweren oder verhindern, wie die folgenden beiden Beispiele belegen. Auf der DNÄ-Tagung 1901 hatte der Vorstand erstmals eine Zusammenlegung der beiden Abteilungen Otologie und Laryngo-Rhino1 Vgl. den Beitrag von Pfetsch i n : Pfetsch, F r a n k u n d Zloczower, A v r a h a m (Düsseldorf 1973).

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die logie verfügt und war dabei auf den erbitterten Widerstand beider Disziplinen gestoßen. Schwartze (Otologie) kommentiert bedauernd den Vorstandsbeschluß: „Inwieweit dies den Wünschen der zur Versammlung Erschienenen entspricht, entzieht sich meiner Kenntnis; ich für meinen Teil bin aber der Meinung, daß diese Vereinigung für die wissenschaftlichen Vertreter dieser Disziplin nicht erwünscht ist 2 ." Er weist darauf hin, wie schwierig es i m Jahre 1872 gewesen sei, dem Vorstand die Bildung einer otologischen Sektion abzuringen, und hält die Vereinigung, und damit den Verlust der Selbständigkeit, für „eine Beeinträchtigung eines guten, traditionell begründeten Rechtes". Die Zusammenarbeit mit der Laryngologie sei nur „eine vorübergehende Phase i n der wissenschaftlichen Entwicklung der Ohrenheilkunde". Auch die Laryngologen protestieren später gegen die Vereinigungsbemühungen des Vorstandes; nachdem die Deutsche Laryngologische Gesellschaft für den Kompromiß des separaten Weiterbestehens der otologischen und laryngologischen Abteilung m i t gegenseitiger Einladungsoption eingetreten war, kommentiert ihr Mitglied Fränkel diesen Beschluß: „Es ist das i n der Tat ein wünschenswerter, geradezu idealer Zustand. Die allgemeine Leitung der Naturforscherversammlung hat vielleicht ein Interesse daran, die Zahl der Sektionen zu verringern. Sonst aber liegt gar kein Interesse vor 3 ." Angesichts der vielfältigen Widerstände muß der Vorstand seine Absichten schließlich aufgeben, und die Otologie bleibt bis 1914 ebenso wie die Laryngo-Rhinologie als selbständige Abteilung der D N Ä erhalten. A u f der gleichen Versammlung 1901 bleiben die Vertreter der Unfallheilkunde aus Protest gegen die vom Vorstand beschlossene Vereinigung ihrer Disziplin m i t der Abteilung für gerichtliche Medizin der Versammlung fern. Allerdings haben sie damit keinen Erfolg, denn die Zusammenlegung w i r d von den Gerichtsmedizinern befürwortet: „ I m Interesse der Einheit und Zentralisation begrüßen w i r es, daß durch das Festhalten des Vorstandes an dem ursprünglichen Programm eine weitere Zersplitterung und Dezentralisierung verhindert wurde 4 ." 2 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n H a m b u r g 1901, Leipzig 1902; S. 322. Auch die beiden folgenden Zitate. 3 Verhandlungen des Vereins Deutscher Laryngologen, Dresden 1907; S. 13. 4 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Hamburg 1901, Leipzig 1902; Ansprache Deppisch, S. 543.

1. Primär- und Sekundärdifferenzierung

109

Diese organisationsinterne Integrations- und Koordinierungstendenz führte bis 1914 zu einem relativ gleichbleibenden Bestand von durchschnittlich 32 Abteilungen und bedingt zu einem großen Teil den abflachenden Verlauf auch der Sekundärdifferenzierungskurve. Die von vielen soziologischen Fortschrittstheoretikern festgestellte Entwicklung der Wissenschaft i n Form einer exponentiellen bzw. logistischen K u r v e 5 — gemessen an allen bisher verfügbaren K r i t e rien 6 — w i r d durch den Verlauf beider Differenzierungskurven bestätigt 7 . Die 70er und beginnenden 80er Jahre des 19. Jahrhunderts waren die Sternstunden des naturwissenschaftlichen Fortschritts gemessen an der institutionalisierten Spezialisierung ihrer Disziplinen. Die Zeit vor und nach dieser Periode war durch einen relativen Stillstand i m Differenzierungsprozeß gekennzeichnet, d. h. durch beginnende A k k u mulation bzw. nachfolgende Synthetisierung des Wissensstoffes. Neben dieser allgemein-hypothetischen Erläuterung des Kurvenverlaufs beider Differenzierungsarten soll besonders auf zwei Faktoren zur Erklärung der uns speziell interessierenden Abspaltungskurve hingewiesen werden: Erstens kommt ein Faktor zum Tragen, der auch den Verlauf der Sektionskurve bestimmt, nämlich die Tatsache, daß sich die D N Ä lange gegen die Integrierung angewandter Fächer wehrte. Da besonders Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der Ubergang zu den angewandten Aspekten einzelner Disziplinen stattfindet, während die Grundlagenforschung ihr Differenzierungstempo verlangsamt, macht sich diese Tatsache für die D N Ä i m Rückgang abgespaltener Gesellschaften bemerkbar. Die Stagnation der Sektionszahlen innerhalb der D N Ä führt also automatisch zu einem Rückgang der Zahl direkt abgespaltener Gesellschaften. Ein weiterer bedeutender Faktor ist das Einsetzen eines Prozesses, der als Sekundärabspaltung oder Tertiärdifferenzierung bezeichnet werden kann, und etwa i n den 90er Jahren spürbar wird. „Sekundärabspaltung" deutet auf die A b spaltung einer neuen Gesellschaft von einer alten hin, wobei die alte Gesellschaft ihren Ursprung meistens der D N Ä verdankt, so daß die D N Ä indirekt bei der neuen Gründung Pate steht. 5 Vgl. Price, Derek de Solla: L i t t l e Science — Big Science, op. cit.; S. 22. (Nach seiner These geht der zunächst exponentielle Verlauf i n einen l o gistischen über.) 6 „Manpower" u n d Zahl der neugegründeten Journale dienten bisher p r i m ä r als Indizes.

? Dieser charakteristische S-Form-Verlauf k a n n auch bei der Sektionsentwicklung anderer „Associations for the Advancement of Science" beobachtet werden.

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Bereits u m die Jahrhundertwende beginnt sich eine Anzahl wissenschaftlicher Gesellschaften vom Kongreß der inneren Medizin abzuspalten. Die Botaniker bilden 1903 die „Freie Vereinigung für Pflanzengeographie und systematische Botanik", die Deutsche Gesellschaft für angewandte Entomologie w i r d 1913 von der Deutschen Zoologischen Gesellschaft gegründet, die Paläontologische Gesellschaft entsteht 1913 aus der Gründung einiger Mitglieder der Geologischen Gesellschaft. Nach dem ersten Weltkrieg scheint diese A r t der „Abspaltung" die normale Erscheinung geworden zu sein. Die Gesellschaft für Kreislaufforschung spaltete sich 1928 von den Internisten ab, die Gesellschaft für physische Anthropologie 1925 von den Anatomen, die Gesellschaft für technische Physik von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Waren die Fachgesellschaften zunächst unter dem Druck des i n den Einzeldisziplinen immer stärker zunehmenden Wissens und der damit verbundenen Notwendigkeit der Errichtung einer unabhängigen, disziplinspezifischen Diffusionszentrale entstanden, so wirkten sie nach ihrer Gründung auf das Differenzierungsmuster der D N Ä zurück. Entstanden zunächst als Erfahrungsfiltrat einer fast unbeschränkten Differenzierungsperiode informeller Sektionsbildungen, w i r k t e n die wissenschaftlichen Gesellschaften schließlich (spätestens nach 1890) auf die Sektionsbildung selbst zurück, indem sie sich quasi als Differenzierungsraster auf die D N Ä legten. Dadurch übten sie eine eindeutige „soziale Kontrolle" auf den weiteren Differenzierungsprozeß der D N Ä aus. Neue Sektionen konnten ohne Zustimmung der Einzelgesellschaften nicht mehr gebildet werden; letztere gewannen dadurch an Eigengewicht und bildeten ihre eigenen „Ableger". W i r können jetzt zusammenfassen, worin die „besondere A r t " der Differenzierung der D N Ä i n Form der Abspaltung von Gesellschaften besteht: Die Abspaltung stellt eine Verdoppelung des Differenzierungsvorgangs dar, indem sie quasi als Kontrollinstrument für das informelle Differenzierungsexperiment der Sektionen fungiert. Die informelle, der autonomen Evolution der Wissenschaften adäquate „Primärdifferenzierung" der Sektionen, deren zufälliger Charakter von den Akteuren oft gerügt und zu wenig gelobt wurde, unterliegt der institutionellen Kontrolle i n Form der „Sekundärdifferenzierung" distinkter sozialer Einheiten, die als Festform der Wissenschaft ins Leben treten. Diese Festform der Sekundärdifferenzierung kann als Ergebnis der teilweise hektischen Differenzierungsexperimente der Sektionen, als Reduktion der relativ unkontrollierten Komplexität der Primärdifferenzierung verstanden werden.

1. Primär- und Sekundärdifferenzierung Während eine Vielzahl von Sektionen aufblühte und ging und das Differenzierungsausmaß und -tempo der weitem das der Gesellschaften überstieg 8 , blieb das Gesellschaftsdifferenzierung auf ein überlebensfähiges schränkt.

111 wieder unterSektionen bei Spektrum der M i n i m u m be-

Zwei Indikatoren lassen diese Kontroll- und Abschlußfunktion der sekundären Gesellschaftsdifferenzierung gegenüber der zunächst i m Experimentierstadium befindlichen primären Sektionsdifferenzierung erkennen: Erstens gab es unter den abgespaltenen Gesellschaften keine einzige, die nach ihrer Gründung wieder eingegangen wäre. Die Pharmakologenvereinigung tagte zwar nur zwischen 1900 und 1907, wurde aber bereits 1920 i m Anschluß an die D N Ä wiedergegründet. Ansonsten sind uns nur die relativ kurzlebige Gesellschaft für Psychiatrie und Gerichtliche Psychologie, die 1854 gegründete Vorläuferin des sechs Jahre später gegründeten Deutschen Vereins der Irrenärzte; der nur drei Jahre (1859 - 1862) bestehende Verein Deutscher Zahnärzte; ein Konkurrenzunternehmen zum Central-Verein deutscher Zahnärzte, sowie die neun Jahre nach ihrer Gründung (1889) aufgelöste Deutsche Odontologische Gesellschaft bekannt 9 . Die zweite Tatsache, die auf die soziale Kontrolle der Sektionsdifferenzierung durch die Gesellschaften hindeutet, ist die Bestimmung der neuen Geschäftsordnung der D N Ä nach 1890, die ausschließlich den wissenschaftlichen Vereinen (indifferent und symbiotisch) das Recht der Einrichtung neuer Sektionen innerhalb der Naturforscherversammlung zugesteht. Damit ist eine außengelenkte Organisation par excellence entstanden, die ihr eigenes Wachstum nicht mehr intern kontrollieren kann, sondern einen gegebenen Differenzierungsstand einfriert und den Gesellschaften die Initiative zur Entwicklung von Innovationen überlassen muß.

b) Rückwirkung

der Abspaltung

auf das Sektionsleben

I m folgenden wollen w i r kurz prüfen, wie groß i m Durchschnitt der zeitliche Abstand vom Zeitpunkt der ersten Sektionsbildung bis zur Gesellschaftsbildung war, und wie sich die Sektionen nach der Gründung einer selbständigen Gesellschaft weiter entwickelten. β z.B. folgende Sektionen bildeten nie deutsche Spezialgesellschaften: Conchyliologie, Agrikulturchemie, Geodäsie, Rhinologie, Klimatologie, K r i stallographie, Kartographie, Petrographie. • Vgl. Fretzdorff, Jürgen: Die Zahnärztlichen Vereine i n Deutschland. V o n den Anfängen bis zur Gründung des Vereinsbundes Deutscher Zahnärzte, Inaug.Diss., M a r b u r g 1969; S. 16 f.

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Bei der Berechnung eines Indikators für die durchschnittlich genutzte Abspaltungszeit, d.h. für den Zeitraum zwischen erster Sektionsgründung (kombiniert oder selbständig) und korrespondierender Gesellschaftsgründung (symbiotisch oder indifferent), kommen w i r zunächst auf den Durchschnitt von 30,5 Jahren unter Berücksichtigung aller relevanter Disziplinen. Dieser Durchschnitt schließt aber die Erstgründungen der DNÄ-Sektionen von 1828 ein, die aufgrund ihres geringen Wissensstandes lange Zeit kein Bedürfnis zur Bildung eigener Gesellschaften empfanden; ihr Durchschnitt liegt daher mit 59 Jahren weit über dem Gesamtdurchschnitt und schließt das Extrem der Mineralogie ein, die 80 Jahre (1828 - 1908) benötigte, u m eine eigene Gesellschaft zu gründen. Die Durchschnittsspanne der Restgesellschaften beträgt 19 Jahre, darunter drei Disziplinen mit nicht mehr als zwei Jahren (Anthropologie, medizinische Statistik und Geschichte der Medizin). Wenn, wie w i r an anderer Stelle vermerkt haben, die durch die Wissensexpansion bewirkte Suche einer Disziplin nach wissenschaftsspezifischer „Diffusionsumgebung" als primärer Abspaltungsfaktor für eine Fachgesellschaft zu betrachten ist, kann die Zeit von 19 Jahren als gesamte Inkubations- oder Reifeperiode einer Disziplin innerhalb der D N Ä interpretiert werden, die der institutionellen Verselbständigung ihrer Diffusionsfunktion vorausgeht. Diese Reifeperiode überschneidet sich empirisch mit ihrer Reifeperiode i m Produktionsbereich der Universität, wo sie von der Privatdozentur zum ordentlichen Lehrstuhl gelangen muß. Die Dauer der DNÄ-bezogenen „Diffusionsreife" einer Disziplin ist mit durchschnittlich 19 Jahren bedeutend kürzer als die für zehn medizinische Disziplinen errechnete „Produktionsreife" von 27 Jahren vom Privatdozenten über den außerordentlichen Professor bis zum Ordinariat 1 0 . Die Mitgliederzahlen i n den Sektionen der symbiotischen Gesellschaften steigen, wie w i r bereits gesehen haben, i m Jahre der Gründungsversammlung teilweise sprunghaft an (bei der gerichtlichen Medizin von 10 auf 32 Teilnehmer) und bleiben danach relativ hoch. Für die Sektionen indifferenter Gesellschaften läßt sich die Rückw i r k u n g der Gesellschaftsgründung nicht durch Zu- oder Abnahme der Sektionsteilnehmerzahlen nachweisen, da eine systematische M i t gliederauszählung nur selten möglich ist. Aber die Anpassung der Sektionsbezeichnung an den Gesellschaftsnamen, die zeitweise Aus10 Die Ziffer f ü r die Produktionsreife wurde auf der Basis der Daten von Pfetsch berechnet, wobei n u r die Disziplinen berücksichtigt wurden, für die sich tatsächlich alle drei Stufen der Institutionalisierung an einer deutschen Universität nachweisen lassen. (Vgl. Pfetsch, F r a n k u n d Zloczower, Avraham.)

1. Primär- und Sekundärdifferenzierung

113

Setzung der Sektionssitzungen oder die völlige Abschaffung von Sektionen nach der Gesellschaftsgründung sind eindeutige Indikatoren solcher Rückwirkung. Einmalig war der Versuch der Ornithologen, durch vorbereitende Besprechungen zur Gründung einer eigenen Gesellschaft der Naturforscherversammlung die Bildung einer ornithologischen Sektion quasi aufzuzwingen, obwohl eine solche weder vorher noch nachher bestand. Gottschalk faßt die Gründungsvorbereitungen i n den beiden Sätzen zusammen: „Hier i n Cöthen tagte auf Baldamus' Betreiben i m Herbst 1845 die erste Versammlung deutscher Ornithologen unter dem Vorsitz Naumanns. Die Versammlung wurde als ,ornithologische Sektion der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 4 aufgefaßt 11 ." Das zeitweilige Aussetzen der entsprechenden Sektionssitzungen der D N Ä kurz nach der Gesellschaftsbildung geht auf die gegenseitige Verquickung der Mitgliederrekrutierung zurück und verdeutlicht die Erosion der Naturforscherversammlung durch diese Neugründungen, die 1890 Anlaß zu einer grundsätzlichen Reform geben. Ein Jahr nach ihrer Gesellschaftsgründung 1884 hatten z.B. die Meteorologen noch als selbständige Sektion getagt; i n den nächsten Jahren tauchen sie jedoch bis 1893 nicht wieder i n der Sektionsliste auf. Auch die Anatomen kommen erst drei Jahre nach der Gründung ihrer Gesellschaft wieder i n einer selbständigen Sektion zusammen. Während die Disziplin der 1890 gegründeten Pharmazeutischen Gesellschaft bis 1888 durch eine eigene Sektion vertreten ist, fallen ihre Sitzungen i n der D N Ä von 1889 bis 1892 völlig aus. Auch die Astronomen, Pharmakologen, Entomologen und Anthropologen bleiben nach der Gründung ihrer Gesellschaft zunächst den Sektionssitzungen der Naturforscherversammlung fern. Nach dieser kurzen Phase der Identifikation m i t der neuen Unabhängigkeit scheint man sich allgemein wieder des Nutzens des Gesamtforums der D N Ä zu erinnern, der nun vor allem i m Kontakt m i t den Nachbardisziplinen liegt. Das Interesse an den Tagungen der eigenen Sektion steht nun hinter dem Interesse an den Nachbardisziplinen zurück, so daß man sich — von Ausnahmen junger Disziplinen abgesehen — mit der Bildung kombinierter Sektionen zufriedengibt 12 . Die Meteorologen, Anatomen, Physiologen, Internisten und Entomologen, u m nur einige zu nennen, tagen vom Gründungszeitpunkt ihrer Gesellschaften bis 1913 nur noch i n kombinierten Sektionen. u Journal f ü r Ornithologie, Jg. 65, Januar 1917; S. 101. 12 Eine deutliche Ausnahme bildete die laryngologische Gesellschaft. 8 v. Gizycki

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die Die Diskussion innerhalb der Fachgesellschaften u m die weitere Sektionsentwicklung der D N Ä läßt sich am Beispiel des Vereins zur Förderung des Unterrichts i n der Mathematik und den Naturwissenschaften exemplarisch nachvollziehen. A u f seiner sechsten Versammlung i n Danzig 1897 Verein gegen die Abschaffung der DNÄ-Abteilung für und naturwissenschaftlichen Unterricht aus, nachdem der Antrag auf der Abteilungssitzung gestellt worden

spricht sich der mathematischen ein entsprechenwar:

„ A u f der vorjährigen Naturforscherversammlung zu Frankfurt/Main war bekanntlich von Seiten der Abteilung für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht selbst der Antrag gestellt worden, diese Sektion nach Ablauf der gegenwärtigen Organisationsperiode, also i m Jahre 1898, eingehen zu lassen. Zur Begründung dieses Antrags war hingewiesen worden einerseits auf die außerordentlich geringe Beteiligung an den Sitzungen, andererseits auf die Tatsache, daß diese Richtung durch den ,Verein zur Förderung des Unterrichts i n der Mathematik und i n den Naturwissenschaften 4 schon genügend vertreten sei. Gegen diesen Beschluß war inzwischen von verschiedenen Seiten erfreulicherweise Einspruch erhoben worden. Insbesondere hat jener Verein nicht nur die von Herrn Direktor Wernicke, dem diesjährigen Einführenden der pädagogischen Sektion, ausdrücklich ausgesprochene Einladung zum Besuch der Abteilungssitzungen angenommen, sondern auch auf seiner diesjährigen Hauptversammlung i n Danzig m i t folgenden . . . Thesen sich einstimmig einverstanden erklärt: 1. Die Versammlung richtet an die Abteilung X I X der Naturforscherversammlung das Ersuchen, Sorge zu tragen, daß auch nach 1898 die Abteilung bestehen bleibt. 2. . . . 3. Ein von der Versammlung zu wählendes . . . Vereinsmitglied w i r d delegiert, u m den Sitzungen der Abteilung X I X der Naturforscherversammlung beizuwohnen und über diese Versammlung überhaupt i n den ,Unterrichtsblättern 4 zu berichten 13 . 44 A u f der folgenden Sitzung der Abteilung, 1898, macht der Einführende darauf aufmerksam, „daß eine Aufhebung der pädagogischen Abteilung schon u m deswillen höchst bedauerlich sein würde, als gerade bei dieser Abteilung stets eine Anzahl allgemeininteressierender Vorträge angemeldet werde, die sich i n den anderen Sektionen schwer unterbringen ließen. Für das Weiterbestehen der Abteilung erscheine es jedoch zweckmäßig, ihre Sitzung nicht getrennt von allen anderen abzuhalten, sondern sie m i t denen der mathematischen und physikalischen Sektion möglichst zu vereinen 14 . 44 is Unterrichtsblätter f ü r Mathematik u n d Naturwissenschaften, 1898, 1; S. 13. 14 Ibid., S. 13/14; die Sektion tagte bis 1913 selbständig.

I V . Jg.,

1. Primär- und Sekundärdifferenzierung

115

Selbst unabhängig von der D N Ä gegründete Gesellschaften sind bemüht, die Sektionssitzungen der Naturforscherversammlung zu fördern. So fordert ζ. B. die Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie (später: Verein Deutscher Chemiker) ihre Mitglieder 1888 auf: „Es ist wünschenswert, daß die Mitglieder zahlreich die Naturforscherversammlung i n K ö l n besuchen 15 ." Nicht immer waren die Fachgesellschaften überzeugt, daß die Rettung ihrer Sektion erforderlich sei, zumal wenn deren Konstituierung die Möglichkeit der Teilnahme an anderen DNÄ-Sektionssitzungen zu verhindern drohte. Die Abschaffung der bis dato selbständigen tropenmedizinischen Sektion i m Jahre 1909 liefert hierfür die beste Illustration: „Da, wenn nicht besondere Einladungen vorliegen, Berlin und Hamburg als Sitzungsorte abwechseln sollen, und die tropenmedizinische Gesellschaft nicht m i t der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zusammen tagen kann, so wurde beschlossen, dem Vorstand der letzten Gesellschaft die Aufhebung der Sektion für Tropenhygiene (Nr. X I X ) zu empfehlen. Hierbei war der Wunsch ausschlaggebend, durch gleichzeitige eigene Sitzungen die Mitglieder nicht an dem Besuche der Vorträge i n den verschiedenen Sektionen der großen Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu hindern 1 6 ." Wie bedeutsam die hier angesprochene Funktion der D N Ä als „Gesamtforum" war, haben w i r an verschiedenen Stellen erwähnt: manche Gesellschaften (Meteorologie) spalteten sich ab, u m den Sektionsmitgliedern den Besuch anderer Sektionen zu gestatten; manche Gesellschaften (Tropenhygiene) forderten später die Abschaffung der eigenen Sektion, u m die Teilnahme an den übrigen Sektionssitzungen zu ermöglichen; und fast alle Gesellschaften suchten Kontakt m i t Vereinigungen der Nachbardisziplinen, u m Ersatz für die verlassene Naturforscherversammlung zu finden. Diese institutionalisierte Interdisziplinarität der D N Ä leistete dreierlei: erstens erleichterte sie die Anregung und Verbreitung neuen Wissens über die disziplinären Grenzen hinaus zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Disziplinen bereits über hochentwickelte Theorien, Methoden und Paradigmen verfügten; zweitens w i r k t e sie verstärkt der disziplinären Isolierung der Forscher an den Universitäten entgegen; und drittens ermöglichte sie das Überleben der D N Ä durch einen allmählichen Funktionswandel, der i n den dreißiger Jahren zur völligen Auflösung der Sektionen führte. is Zeitschrift f ü r Angewandte Chemie, Heft 12, 1888; S.454. 16 Beiheft I zum Archiv f ü r Schiffs- u n d Tropenhygiene, Bd. X I I I , 1909; S. 14.

8*

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die 2. Reformdiskussion um 1890 I n welcher Form reagierte die Naturforscherversammlung auf das teilweise Veröden ihrer Sektionen, auf das Ansteigen der Sektionsdifferenzierung und der Gesellschaftsabspaltungen? Daß die Klagen der DNÄ-Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder über die zunehmende Abspaltung und „Zersplitterung" (Quincke) ihrer Institution nicht aus der L u f t gegriffen waren, soll eine kurze statistische Übersicht belegen. Während 1828 auf der Berliner Versammlung nur sieben Sektionen gebildet wurden, waren es 1893 bereits vierzig, eine Zunahme von über 500 Prozent. Obwohl sich diese Entwicklung i n Etappen vollzieht, ist i n den 80er Jahren ein sprunghaftes Ansteigen der Sektionszahlen zu verzeichnen. A u f der von über 4000 Teilnehmern besuchten Berliner Versammlung 1886 wurden bereits 30 Sektionen eingerichtet, nachdem noch i n den 70er Jahren durchschnittlich nicht mehr als 21 Sektionen bestanden. Noch deutlicher spricht die Statistik der abgespaltenen Gesellschaften: I n den 80er Jahren spalteten sich insgesamt elf Gesellschaften ab, genauso viele wie während des gesamten Zeitraums vorher (s. Graphik S. 107). Angesichts dieser „aufrührerischen" Ereignisse kann es nicht verwundern, daß die Naturforscherversammlung unter Führung ihres aktivsten Mitgliedes, Virchow, Maßnahmen zur sozialen Kontrolle des „überschäumenden" Differenzierungsprozesses i n die Wege leitete. Vier Jahre vor dem Umbau der Gesellschaft zu einer Organisation „ m i t regelmäßigem Haupt und beständigen Gliedern" hatte Virchow die „große Diskussion" bereits auf der Berliner Versammlung 1886 eingeleitet: „Aber auch die Sektionen haben dem Drange nach gesonderter Tätigkeit nicht genügt. Fast Jahr für Jahr haben sich i n voller Selbständigkeit besondere Vereinigungen gebildet, welche i n der Form ,deutscher Gesellschaften 4 gewissermaßen losgetrennte Sektionen darstellen. Dieser Dualismus hat gewisse Nachteile: Die Spezialgesellschaft entzieht, wie es i n diesem Jahr bei der Geologie sichtbar geworden ist, der Sektion und somit der Naturforscherversammlung Kräfte und umgekehrt 1 7 . 4 4

17 Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n B e r l i n 1886, Leipzig 1886; S. 80.

2. Reformdiskussion um 1890

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Nach ausführlichen, zum Teil erbittert geführten Diskussionen 18 einigt man sich 1890 schließlich i m wesentlichen auf vier einschneidende Veränderungen der DNÄ-Organisation: — Leipzig w i r d fester Sitz der Gesellschaft, — Es w i r d eine feste Mitgliedschaft eingeführt und Mitgliedsbeitrag erhoben, — Ein Vorstand, Schatzmeister und wissenschaftlicher Ausschuß werden gebildet, — A n Stelle der ad hoc gebildeten Sektionen werden feste Abteilungen ( = Fachgruppen) eingerichtet, die i n der medizinischen und naturwissenschaftlichen Hauptgruppe zusammengefaßt sind. Die i n diesen vier Änderungen implizierte Absicht der Reformer, die Naturforscherversammlung zu festigen und ihrer internen Organisation eine gewisse Dauerhaftigkeit und Regelmäßigkeit zu verleihen, die i m deutlichen Gegensatz zu ihrer früheren Informalität stehen sollte, scheint die Charakterisierung dieses Prozesses als „Institutionalisierung" oder „Formalisierung" der D N Ä zu rechtfertigen. Daß diese Reorganisation der Naturforscherversammlung tatsächlich primär als Reaktion auf die objektiv vorhandene und subjektiv empfundene „Gefahr" der Unterhöhlung der DNÄ-Organisation durch die abgespaltenen wissenschaftlichen Gesellschaften zu verstehen ist, läßt sich an den folgenden Diskussionen ablesen. Besonders die Argumente von Virchow und Helmholtz i n der Statutendebatte 1889 bis 1891 belegen diese These. Zunächst Virchow 1889: „Nun, verehrte Anwesende, wenn w i r u m uns blickten und uns fragten, wie es denn eigentlich stand, so konnten w i r uns ja nicht verhehlen, daß zwei sehr große Gefahren inzwischen entstanden waren, die auch auf den Verlauf der Naturforscherversammlung einen sehr schwerwiegenden Einfluß ausgeübt hatten. Die eine bestand i n dem Aufwachsen zahlreicher SpezialVersammlungen und Spezialgesellschaften, welche sich aus dem gemeinsamen Bande loslösten und eine Sonderexistenz begannen. W i r haben auf dem Gebiete, sowohl der Medizin, wie der Naturwissenschaften, man kann fast sagen, m i t jedem Jahre, neue Spezialvereine entstehen sehen, und es ließ sich nicht verkennen . . . , daß i n der Tat mit dem Ausscheiden namhafter Persönlichkeiten und oft ganzer Gruppen von hervorragenden Forschern die betreffenden Sektionen verödeten und ein äußerst unfruchtbares Leben führten. Die andere Gefahr, die allmählich immer größer geworden ist, ist die internationaler Kongresse." is Vgl. Tageblätter der Deutschen Naturforscher

u n d Ärzte, 1886 -1892.

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X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die

Dieser außerordentlich prägnanten Diagnose folgt Virchows Therapie, die nach seinen früheren Stellungnahmen nicht mehr überraschen kann: „Diese beiden Gefahren der wissenschaftlichen Verbindungen haben sich nun namentlich i n den letzten 10 Jahren so außerordentlich gesteigert, daß ich es für gänzlich aussichtslos halte, irgend nur daran zu denken, diese vielen einzelnen Tätigkeiten wieder aufzulösen. Aber ich war immer ein Vertreter der Auffassung, daß es endlich auch einmal wieder für diese vielen Vereinigungen einen gemeinsamen Boden geben müsse, auf dem sie zusammenwirken können, und auf dem sie diejenige Verbindung suchen, welche notwendiger Weise zwischen den verschiedenen Einzelwissenschaften bestehen soll 1 9 ." Bedeutend pessimistischer sieht Helmholtz die Abspaltungsvorgänge: „Aber alle diejenigen Abteilungen, welche sich auf die einzelnen Wissenschaften beziehen und an einzelnen Wissenschaften hervorragendes Interesse haben und wirklich arbeiten wollen, haben sich getrennt von der Naturforscherversammlung. . . . Die Arbeitslustigen haben sich also vereinzelt und ihre Separatversammlungen gegründet, i n denen sie ihre Zwecke verfolgen. Ich muß sagen, ich finde das einen ungesunden Zustand, und das gibt nicht die Hoffnung auf eine Dauer dieser Naturforscherversammlung und eine weitere und höhere Entwicklung derselben 20 ." Da sich Virchow und Helmholtz als Initiatoren und Wegbereiter der Reform exponierten und die Formalisierung der D N Ä erfolgreich gegen alle Widerstände „durchboxten", können w i r davon ausgehen, daß die neuen Statuten für Helmholtz „eine weitere und höhere Entwicklung" der D N Ä garantieren und für Virchow die „Verbindung zwischen den verschiedenen Einzelwissenschaften" sichern sollten, die sie von den abgespaltenen Gesellschaften bedroht fühlten.

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ nach 1890 Hatte die Reform tatsächlich den gewünschten Erfolg? Konnte der Abspaltung weiterer Separatversammlungen und deren negativer Ausw i r k u n g auf die Naturforscherversammlung m i t diesen Maßnahmen wirksam begegnet werden? Entwickelte sich die D N Ä zu einer Dachgesellschaft für wissenschaftliche Fachgesellschaften? 19

Tageblatt der 62. Versammlung Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Heidelberg 1889, Leipzig 1890; S. 122 f. 20 Ibid., S. 157.

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

119

Eine vorläufige A n t w o r t auf diese Fragen gibt bereits der Geschäftsführer der 80. Naturforscherversammlung 1908 i n Köln, Tilman, i n seiner Eröffnungsansprache: „ I n einem Punkte, den Virchow auch schon öfter betont hat, bleiben unsere Wünsche unerfüllt. Die Spezialköngresse haben eine geradezu unheimliche Ausdehnung angenommen, hält man doch jetzt schon Kongresse für einzelne Krankheiten ab 2 1 ." Tatsächlich läßt sich allerdings ein geringer Rückgang der Zahl zusätzlich abgespaltener Gesellschaften nach 1890 feststellen; die Gesamtzahl der nach 1890 i m Zusammenhang m i t der D N Ä gegründeten deutschen Fachgesellschaften steigt langsamer an als vor 1890. Dafür steigt freilich die Zahl unabhängig von der D N Ä gegründeter Gesellschaften u m so stärker an 2 2 . Sowohl die direkt abgespaltenen wie die unabhängig von der D N Ä gegründeten Gesellschaften beginnen u m die Jahrhundertwende auf die Naturforscherversammlung institutionalisierten Einfluß zu nehmen. Diese Einflußnahme stellt sich für die D N Ä als „Außenlenkung" 2 3 durch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften dar, die sich bereits 1891 i n dem Antrag einer Gruppe Hallenser Mediziner abzeichnet. Dieser Antrag zielt darauf ab, den Paragraphen 1 der Statuten der Naturforscherversammlung, der den wissenschaftlichen Zweck der Gesellschaft umreißt, m i t folgender Formulierung zu ergänzen: „Sie (seil, die DNÄ) stellt sich insbesondere die Aufgabe, die zur Pflege der Naturwissenschaften i n Deutschland bestehenden Fachgesellschaften i n lebensvolle Verbindung und Wechselwirkung zu setzen 24 ." Diesen Zusatz bringt der Vorstand (His) nicht zur Abstimmung, da er ihn für „zu unpräzise formuliert" hält. Auch wenn dieser Antrag auf Anerkennung der bereits beginnenden Außenlenkung der D N Ä durch indifferente und symbiotische Fachgesellschaften nicht zur Debatte kommt, w i r d das Ausgeliefertsein der Versammlung an die Interessen der Gesellschaften bald offenbar. Die Aktivitäten der D N Ä nach 1890 werden i n zunehmendem Maße durch 21 Eröffnungsansprache zur 80. Versammlung der D N Ä 1908 i n K ö l n durch den Geschäftsführer Prof. Tilmann, i n : Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte zu Cöln 1908, Leipzig (1909); S . U . 22 Vgl. Pfetsch, S. 296. 2 3 „Außenlenkung" ist f ü r Riesman eine F o r m der Charaktertypisierung des modernen Menschen, der i m Gegensatz zum innengelenkten Menschen w i e ein Radargerät die Impulse seiner U m w e l t auffängt, u m danach sein eigenes Verhalten zu orientieren. (Riesman, David: Die einsame Masse, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, 1962; S. 137 ff.) 24 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Halle 1891, Leipzig (1891); S. X X X V .

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die die Aufnahme der von den Einzelgesellschaften von außen eingebrachten Zielvorgaben bestimmt. Dafür gibt es insbesondere fünf Anhaltspunkte: a) Die ständig geführten Diskussionen über die Funktion der Abteilungssitzungen i m Vergleich zu den Tagungen der wissenschaftlichen Gesellschaften b) Die zunehmende Pressure-Group- Aktivität der D N Ä nach 1900 c) Die Tätigkeit der Unterrichtskommission und des Deutschen Ausschusses für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht d) Die explizite Gewährung privilegierter Einflußnahme der Gesellschaften auf die Organisation der D N Ä durch mehrere Änderungen der Geschäftsordnung nach 1890 e) Das Verhältnis der D N Ä zu den Fachgesellschaften nach 1920. a) Diskussion über Abteilungs-

und Gesellschaftssitzungen

I n seiner Kölner Eröffnungsrede 1908 mahnt der DNÄ-Geschäftsführer Tilmann, daß der Höhepunkt der Spezialisierung medizinischer Disziplinen erreicht und die Ausbildung eines „allgemein gebildeten wissenschaftlichen Arztes" zu erstreben sei. Er fährt fort: „Diese Bewegung w i r d am besten gefördert durch regelmäßigen Besuch der Naturforscherversammlung — auf den Naturforscherversammlungen durch möglichste Pflege der gemeinsamen Sitzungen mehrerer Sektionen, wo der Austausch der Meinungen . . . verhindert, daß die Spezialitäten i n ihrem Fach zu weit gehen und den Zusammenhang mit der Wissenschaft verlieren 2 5 ." Die Abteilungssitzungen sollen also zu bloßen Allgemeinsitzungen umfunktioniert bzw. zusammengelegt werden. Daß damit gleichzeitig eine unliebsame Konkurrenz für die wissenschaftlichen Gesellschaften i n Form spezialisierter Sektionssitzungen abgeschafft werden soll, kommt auf der DNÄ-Versammlung vier Jahre später zum Ausdruck. I n der Eröffnungsrede 1912 stellt der Geschäftsführer Starck zunächst die besondere Bedeutung der DNÄ-Versammlungen i m Vergleich zu den Gesellschaftstagungen heraus, „denn sie ist die einzige Versammlungsstelle, auf welcher den einzelnen Disziplinen noch Gelegenheit zur gegenseitigen Aussprache gegeben ist". Er folgert daraus, daß zwischen der Naturforscherversammlung und den wissenschaftlichen Vereinigungen Arbeitsteilung einzuführen sei: 25 Verhandlungen der Gesellschaft 1908 zu Cöln, Leipzig (1909); S . U .

Deutscher Naturforscher

und

Ärzte

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

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„Es w i r d zu erwägen sein, ob man etwa durch Ubereinkunft der Kongreßleitungen nicht das Ziel erreichen kann, daß grundsätzlich die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte die Stätte der Wissenschaft bedeutet, auf welcher ausschließlich i n gemeinsamen Sitzungen solche für die Mehrzahl der Abteilungen beider Hauptgruppen (seil, der naturwissenschaftlichen und medizinischen) bedeutsame Fragen erörtert werden, während die Spezialkongresse sich mit der Detailarbeit ihres speziellen Faches befassen 26 ." Tatsächlich treten die gemeinsamen Sitzungen der jeweiligen Hauptgruppen bzw. mehrerer Abteilungen, zusammengefaßt i n einer A b teilungsgruppe wie Zoologie, Botanik, Mineralogie, nach 1893 immer stärker i n den Vordergrund und scheinen u m 1910 bereits den Vorrang gegenüber den spezialisierten Abteilungssitzungen einzunehmen. Den wissenschaftlichen Spezialkongressen w i r d damit die Sorge u m eine starke Konkurrenz auf ihrem Fachgebiet abgenommen, während die D N Ä einen zunehmenden Funktionsverlust erleidet. b) Pressure-Group-Aktivität

der DNÄ nach 1900

Noch deutlicher t r i t t die Einflußnahme wissenschaftlicher Gesellschaften auf die Ziele der Naturforscherversammlung i n der nach 1900 verstärkten Tätigkeit der Naturforscherversammlung als (primär wissenschaftsorientierte) Interessengruppe zutage. Man interveniert ohne Scheu i n wissenschafts- und sogar i n standespolitischen Fragen beim Staat, den man aus guten Gründen früher auf Distanz gehalten hatte. A u f der 84. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte i n Münster beschließt der Vorstand folgende Petition an den preußischen Kultusminister einzureichen: „Die 84. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte hält es für wünschenswert, daß die medizinische Fakultät an der westfälischen Wilhelms-Universität Münster weiter ausgebaut werde, und bittet Ew. Exellenz, die Wiederherstellung der medizinischen Fakultät, die Münster vor 100 Jahren besessen hat, tunlichst bald i n die Wege leiten zu wollen 2 7 ." Aus Anlaß der befürchteten Ausrottung der Robben und Walfische i n der Arktis w i r d folgende Resolution akzeptiert: „Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte stimmt den praktischen Vorschlägen P. Sarasins aufs Wärmste bei. Sie empfiehlt 2« Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher zur 84. Versammlung i n Münster 1912, Leipzig (1913); S. 19. 27 Ibid., S. 29.

und

Ärzte

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X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die

Jagdschutzgesetze und die Errichtung von Reservatsgebieten i m Wege internationaler Vereinbarungen. Der Vorstand behält sich vor, bei den zuständigen Stellen diesbezügliche Eingaben zu machen 28 ." Diese Anträge gehen fast immer auf die Initiative von Mitgliedern deutscher Fachgesellschaften i n den Sektionen zurück, die auf diese Weise die Naturforscherversammlung als Vehikel zur Durchsetzung ihrer Ziele benutzen, u m m i t dem Rückhalt der Naturforschergesellschaft ihre Interessen wirkungsvoller vertreten zu können. c) Der Deutsche Ausschuß für den Mathematischen und Naturwissenschaftlichen Unterricht Direkt t r i t t der Einfluß der Gesellschaften bei der Bildung einer aus 12 Mitgliedern zusammengesetzten Unterrichtskommission der D N Ä i n Erscheinung, die 1904 zur Ausarbeitung von Reformvorschlägen für den naturwissenschaftlichen Unterricht an den Schulen und Universitäten gebildet wird, und zwischen 1905 und 1907 der Naturforscherversammlung ihre Berichte zur Diskussion vorlegt 2 9 . Während bereits an der Abfassung des Berichts vorwiegend prominente Mitglieder wissenschaftlicher Spezialgesellschaften mitwirken, soll nach Auflösung der Kommission ein allgemeiner Unterrichtsausschuß für die Durchführung der Reformvorschläge sorgen, „ i n den außer der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte die großen mathematischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Vereine und Gesellschaften Deutschlands und der Verein Deutscher Ingenieure Vertreter entsenden" 30 . Dieser Vorschlag der Kommission w i r d vom Vorstand der D N Ä zum Beschluß erhoben, und die aufgeforderten wissenschaftlichen Gesellschaften erklären sich zur Beteiligung bereit. So konstituiert sich auf der Naturforscherversammlung 1908 i n K ö l n der Deutsche Ausschuß für den Mathematischen und Naturwissenschaftlichen Unterricht (Dammi), der bis zum Zweiten Weltkrieg an der Reform des schulischen Berechtigungswesens und — durch einen Unterausschuß — an der Neuordnung des naturwissenschaftlichen Prüfungswesens für Lehramtskandidaten an den Universitäten aktiv m i t w i r k t . 28 ibid., S. 35. Eine Zusammenfassung dieser Vorschläge findet sich i n „Die Tätigkeit der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte", Leipzig, Teubner 1907, Hrsg.: A . Gutzmer. 3° Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Dresden 1907, Leipzig (1908); S. 29. 29

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

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Die Arbeiten des Ausschusses regen zu einer der umfangreichsten Reformbewegungen der deutschen Schulen an und geben zu ausführlichen Pressediskussionen und Aktivitäten der Kultusminister Anlaß 3 1 . Während die Kosten der Unterrichtskommission allein von der Naturforscherversammlung getragen werden, beteiligen sich alle M i t gliedsgesellschaften an der Finanzierung des Damnu. Er setzt sich bei der Gründung 1908 zunächst aus 16 Gesellschaften zusammen, die 1909 auf 18, 1910 auf 20 und 1912/13 auf 21 Gesellschaften anwachsen. Unter den 21 Gesellschaften i m Jahre 1912 befinden sich 14 abgespaltene Gesellschaften, die mit Ausnahme der Gesellschaft für gerichtliche Medizin alle symbiotischen Gesellschaften einschließen. Nachdem bereits 1907 und 1908 i m Anschluß an die Reformvorschläge der Unterrichtskommission lebhafte Beratungen auf den allgemeinen Naturforscherversammlungen über die Hochschulausbildung künftiger Lehrer stattgefunden hatten, legt auch der Damnu jedes Jahr seine Berichte dem DNÄ-Vorstand und der Versammlung vor. Dabei zeichnet sich besonders die Gesellschaft zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts durch ihre Initiativen und Beiträge aus. Die einzelnen Gesellschaften nehmen die Anregungen des Damnu auf und treten durch eigene Forderungen nach intensiverer Ausbildung der Lehramtskandidaten ihrer Disziplin an den Hochschulen und für Verbesserung der Prüfungsordnungen und Universitätseinrichtungen hervor. So beschließt der Deutsche Geographentag 1909 seine „Thesen zur Ausbildung der Lehrer der Erdkunde (Geographie) auf der Universität", und der Verein Deutscher Chemiker w i l l 1908 für die „Verbesserung des technologischen Unterrichts an den Universitäten" bei den deutschen Unterrichtsverwaltungen eintreten. Der ausgedehnte Wirkungsbereich und die regen Bemühungen des Damnu, mit Hilfe von Petitionen bei den zuständigen staatlichen Stellen seine Forderungen nach Ausweitung des naturwissenschaftlichen Schulunterrichts und Änderung der Prüfungsbestimmungen für künftige Lehrer durchzusetzen, bleiben nicht ohne Erfolg. Bereits i m März 1908 erscheint ein Erlaß des preußischen Unterrichtsministeriums über die Ausgestaltung des naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen, der sich den Vorschlägen der Unterrichtskommission weitgehend anschließt. Diese kurze Skizze der Tätigkeit des von der D N Ä gebildeten Deutschen Ausschusses für den Mathematischen und NaturwissenNäheres darüber i n „Die Tätigkeit des Deutschen Ausschusses f ü r den mathematischen u n d naturwissenschaftlichen Unterricht i n den Jahren 1908 bis 1913", Heft 1 - 1 8 , Leipzig, Teubner 1914, Hrsg.: A . Gutzmer.

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die schaftlichen Unterricht hat nicht nur die Bedeutung der Gesellschaften i n ihrem Einfluß auf die allgemeinen Aktivitäten der Naturforscherversammlung, sondern auch deren Einflußnahme auf die Reform des naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen und Universitäten aufgezeigt. Hier soll auch eine weitere, bereits i m Jahre 1897 abgespaltene Vereinigung genannt werden, die sich ebenfalls u. a. die Reform der Ausbildung der Studierenden zum Ziel gesetzt hatte: Der „Verband der Laboratoriumsvorstände an deutschen Hochschulen". Er wurde auf der Braunschweiger DNÄ-Tagung 1897 von 17 Professoren gegründet, die sich vor allem „gewisser Mißstände bez. der Ausbildung der Chemiker" annehmen wollten. Seinen Zweck verfolgte der Verband gemäß den „Statuten zur Sicherung einer gründlichen Ausbildung der Studierenden", durch Verkehr m i t Behörden, durch Herausgabe einer Verbandszeitschrift und durch den „persönlichen Verkehr" der M i t glieder 32 .

d) Einflußnahme der Gesellschaften auf die interne Organisation der DNÄ Wie vollzog sich die Entwicklung zur Außenlenkung der D N Ä durch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften? Worin manifestierte sich dieser Einfluß, dessen Auswirkungen auf das Sektionsleben, die Reformdiskussion und die Entstehung des Damnu bereits erörtert wurden? Nachdem 1891 der Antrag einiger Mediziner abgelehnt wurde, die Naturforscherversammlung i n eine A r t Dachgesellschaft für wissenschaftliche Spezialgesellschaften umzufunktionieren, w i r d bereits 1893 eine Passage i n die neue Geschäftsordnung aufgenommen, die bestimmt, daß „etwaige Verhandlungen" mit den wissenschaftlichen Gesellschaften über die Abhaltung gemeinsamer Sitzungen mit den neu gebildeten Abteilungen der D N Ä vom wissenschaftlichen Ausschuß zu führen seien. I n den folgenden Jahren vollzieht sich die Umstrukturierung der einzelnen Abteilungssitzungen, deren Bedeutung immer stärker hinter den gemeinsamen Sitzungen von Unter- und Hauptgruppen zurücktritt. Es entwickelt sich eine A r t latenter Arbeitsteilung zwischen den Naturforscherversammlungen und den wissenschaftlichen Fachkongressen, die 1913 i n der Einführung des zweijährigen Turnus für die DNÄ-Versammlungen manifest wird.

32 Chemische Technologie an den Universitäten u n d technischen Hochschulen Deutschlands, Ferdinand Fischer, Braunschweig (1898); S.50ff.

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

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Da der Besuch der Abteilungssitzungen der D N Ä u.a. von der Bereitwilligkeit zur Teilnahme der i n den Gesellschaften zusammengeschlossenen Wissenschaftler abhängt, glaubt man, das Risiko leerstehender Abteilungen bereits 1902 durch die Ergänzung eines neuen Paragraphen 16 zur Geschäftsordnung ausschalten zu können. Darin w i r d bestimmt, daß „neue Abteilungen i n der Regel nur dann gebildet werden, wenn dies von einer bestehenden allgemeinen deutschen Spezialgesellschaft beantragt w i r d " . Symbiotische Beziehungen werden formalisiert und die Privilegien der Gesellschaften anerkannt: „Falls allgemeine (nicht lokale) deutsche oder deutsch-österreichische Spezialgesellschaften regelmäßig mit bestimmten Abteilungen zusammentagen oder sich an solchen beteiligen, so teilen sie dies dem Vorstande . . . mit. Ist der Vorstand hiermit einverstanden, so erhalten die Gesellschaften dadurch das Recht, i n Gemeinschaft m i t den Einführenden der betreffenden Abteilungen das Programm für die Abteilungen und für die Veranstaltungen der Abteilungen überhaupt festzusetzen, sowie dem Vorstand Vorschläge für die Vorträge i n den allgemeinen Sitzungen und den gemeinschaftlichen Sitzungen der Hauptgruppen zu machen 33 ." I m Jahre 1913 erreicht der Einfluß der Gesellschaften einen Höhepunkt, indem nicht nur den symbiotischen, sondern allen interessierten Gesellschaften formelle Mitverantwortung für die Abhaltung der wissenschaftlichen Sitzungen der Naturforscherversammlung und die interne Organisation der D N Ä eingeräumt wird. A u f den Sitzungen des Vorstandes und des wissenschaftlichen Ausschusses der D N Ä w i r d m i t Beteiligung der Gesellschaften folgende Resolution ausgearbeitet, die w i r wegen ihrer Bedeutung hier i n vollem Wortlaut wiedergeben: „Die Vertreter der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und der befreundeten Vereine empfehlen: 1. Daß i m Interesse der verschiedenen Disziplinen auf naturwissenschaftlichem und medizinischem Gebiete zum Zwecke der Verbesserung der Abteilungssitzungen auf der Naturforscherversammlung und u m auch dort gute allgemeine Vorträge zu ermöglichen, die großen allgemeinen Vereine auf naturwissenschaftlichem und medizinischem Gebiete sich gemäß des eventuell zu reformierenden § 16, Abs. 2 der Geschäftsordnung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte an der Organisation beteiligen. 33 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte i n Karlsruhe 1911, Leipzig (1912); 2. Teil, 2. Hälfte; S. 157. E i n erster Hinweis auf diese Änderung der Geschäftsordnung findet sich i m Tageblatt der D N Ä v o n 1902.

X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die 2. Daß diese Gesellschaften unter Änderung der Satzungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte i m Ausschuß der Gesellschaft entsprechend Vertretung finden. 3. Daß bei einer Änderung der Satzungen der Naturforschergesellschaft vorzusehen ist, u m vorbildlich für andere Gesellschaften zu wirken, die Naturforscherversammlung nur alle zwei Jahre tagen zu lassen, wobei es dann den anderen Gesellschaften überlassen bleibt, ob sie ihre jährlichen oder mehr jährlichen Versammlungen unabhängig oder gemeinsam m i t der Naturforscherversammlung halten wollen. 4. Daß die Tagung der Naturforschergesellschaft, wenn möglich, verkürzt und die geselligen Veranstaltungen vereinfacht werden. 5. Daß die Naturforschergesellschaft eine Zentralstelle für Veranstaltungen von Kongressen aller A r t auf medizinisch-naturwissenschaftlichem Gebiete organisiert, u m als Informationsstelle für alle derartigen Veranstaltungen zu dienen 34 ." Der Kalender dieser Vorschläge zur zweiten Reorganisation der D N Ä versucht ausschließlich, das Verhältnis zu den Fachgesellschaften neu zu regeln. Einerseits w i r d den Spezialgeseilschaften größere Freiheit i n der Wahl ihrer Tagungszeit gewährt, indem eine Überlappung und Konkurrenz ihrer Sitzungen i m gleichen Jahr m i t einer zweiten Veranstaltung der D N Ä vermieden wird. Andererseits versucht man, die Gesellschaften noch stärker an die Naturforscherversammlung zu binden, indem man ihnen weitere Privilegien einräumt und eine zentrale Informationsstelle für alle Gesellschaften am Sitz der Naturforschergesellschaft einrichtet. Die Veränderungen werden von den symbiotischen Gesellschaften befürwortet, wie die Reaktion der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) zeigt: „Einmal soll das Verhältnis jener wissenschaftlichen Vereine, die, wie die DMV, m i t der Naturforscherversammlung zu tagen pflegen, zur Gesellschaft i n dem Sinne geregelt werden, daß ihnen ein Einfluß auf die Leitung und Organisation der Versammlung, der bisher nur ein freiwillig eingestandener war, satzungsgemäß eingeräumt wird. Die Änderung ist jedenfalls lebhaft zu begrüßen 35 ." Diese Bereitschaft der Naturforscherversammlung, sich der Verschiebung des wissenschaftlichen Interesses von den Sektionen auf die 34 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte zur 85. Versammlung zu Wien, 1913; Leipzig (1914); S. 25. 35 Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1913; S. 2.

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

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Spezialgesellschaften durch Gewährung von direkter Einflußnahme anzupassen, hatte folgende Konsequenzen: erstens fungierte die D N Ä eine Zeitlang als latente Dachgesellschaft für die Einzelgesellschaften; zweitens anerkannte sie auf diese Weise den wissenschaftlichen Vorrang der Fachgesellschaften; und drittens bereitete sie die endgültige A b schaffung ihrer Abteilungssitzungen vor.

e) Das Verhältnis der DNÄ zu den Fachgesellschaften von 1920 bis zum 2. Weltkrieg A u f der ersten Versammlung der D N Ä nach dem 1. Weltkrieg (1920) werden die 1913 vorgeschlagenen Satzungsänderungen implementiert. Die Spezialgesellschaften erhalten Sitz und Stimme i n den Ausschüssen und Organen der DNÄ, bestimmen weitgehend den Inhalt und Ablauf der Abteilungssitzungen, und der zweijährige Turnus der DNÄ-Versammlungen w i r d eingeführt. Diese Einführung der zweijährigen Versammlungen zwingt die symbiotischen Gesellschaften zur allmählichen Loslösung von der DNÄ, da sie es für notwendig erachten, i n der Zwischenzeit selbständige Tagungen abzuhalten. Nachdem die Mathematiker und Physiker bereits innerhalb der D N Ä gemeinsame Gesellschaftssitzungen veranstaltet hatten, halten sie an diesem Verhältnis auch i n den Jahren fest, i n denen die Naturforscherversammlungen aussetzen. Zwischen 1920 und 1930 findet daher an allen ungeraden Jahren der Deutsche Mathematikertag i n Verbindung m i t dem Deutschen Physikertag unabhängig von der D N Ä statt. Auch nach der endgültigen Abspaltung beider Gesellschaften von der D N Ä i m Jahre 1930 bleibt diese Verbindung bis 1938 erhalten. I m gleichen Jahr (1930) verselbständigt sich ebenfalls die Gesellschaft für Geschichte der Medizin, und sechs Jahre später trennt sich die letzte symbiotische Gesellschaft von der Naturforscherversammlung, die Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin. I m Anschluß an die 20er Jahre, die hauptsächlich als Periode relativ unabhängiger Sekundärabspaltungen zu kennzeichnen sind 3 6 , scheint sich i n den 30er Jahren als Konsequenz der Außenlenkung eine erneute Umstrukturierung der DNÄ, ihre „Skelettierung" und „Desintegration", anzubahnen. 36 Allerdings gibt es vorübergehend quasi-symbiotische Bildungen w i e bei der pharmakologischen u n d Röntgengesellschaft, sowie mindestens zwei indifferente Gründungen: Deutsche Seismologische Gesellschaft 1922; Deutsche Gesellschaft f ü r Unfallheilkunde, ebenfalls 1922.

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X I . Die Rückwirkung der Abspaltung auf die

Unter „Skelettierung" ist die Rückführung der D N Ä auf die allgemeinen Sitzungen ihrer Hauptgruppen und die offizielle Abschaffung der Abteilungssitzungen zu verstehen. Obwohl die Allgemeinsitzungen bereits u m die Jahrhundertwende Vorrang besitzen, werden sie erst 1930 durch Änderung der Geschäftsordnung als Hauptstrukturmerkmal der D N Ä institutionalisiert 3 7 . Danach sollen keine Abteilungssitzungen mehr stattfinden, die schließlich nach dem zweiten Weltkrieg gar nicht erst wieder eingerichtet werden. „Desintegration" war möglicherweise eine unbeabsichtigte Konsequenz dieser Beschlüsse, die zur Tagung einzelner Gesellschaften „als Sektion der Naturforscherversammlung" führten. Das alte Symbioseverhältnis w i r d dadurch umgekehrt: wenige Abteilungen versuchen i n Symbiose m i t einzelnen Gesellschaften zu überleben. I m Grunde ist jedoch zu diesem Zeitpunkt die i n spezialisierte Einheiten m i t wissenschaftlicher Zielsetzung strukturierte „alte" D N Ä aufgelöst. Die Arbeitsteilung i m Bereich der Diffusion naturwissenschaftlicher Ergebnisse zwischen Allgemeinsitzungen der „neuen" D N Ä einerseits und Spezialsitzungen der Gesellschaften andererseits ist perfekt. I n den 30er Jahren kann die D N Ä daher auch die Einrichtung einer bereits 1913 ins Auge gefaßten „Zentralstelle für Veranstaltungen von Kongressen aller A r t " verwirklichen, da sie damit ihrer neuen Funktion der bloßen Zusammenführung von ihr unabhängiger Einzelgesellschaften und -disziplinen gerecht wird. Der von der D N Ä 1932 gegründete „Zweckverband der Deutschen Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Kongresse" bleibt m i t ihr i n loser Verbindung und nimmt die Funktionen eines Dachverbandes wahr. Die Statuten dieses „Zweckverbandes" bestimmen diese Funktion eindeutig: „Der Zweckverband verfolgt das Ziel, eine Verbindung zwischen den einzelnen Deutschen Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Gesellschaften herzustellen, durch die eine Zusammenarbeit ermöglicht und Unstimmigkeiten i n zeitlicher und sachlicher Beziehung vermieden werden 3 8 ." Die Mitglieder des Verbandes verpflichten sich zur Feststellung und gegenseitigen Abstimmung von Tagungsorten und -zeiten, die i n den Mitteilungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte veröffentlicht werden. Obwohl der Verband vom Vorstand der D N Ä geleitet wird, bildet er eine selbständige Einheit. s? Vgl. Karlson, Peter: „Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte 1920-1960", i n : Wege der Naturforschung (Hrsg.: Schipperges / Querner), S. 66. s» I n : Monatsschrift f ü r Kinderheilkunde, 56. Band, B e r l i n 1933; S . I V .

3. Einflußnahme der Gesellschaften auf die DNÄ

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A u f der Gründungsversammlung des Zweckverbandes i n Wiesbaden am 16. September 1932 w i r d unter Bezugnahme auf die Aussetzung der DNÄ-Abteilungssitzungen die Institutionalisierung der Desintegration der D N Ä beschlossen: „Diese (die Abteilungen) können nach Maßgabe von Ort und Zeit durch Spezialgesellschaften oder wenn diese nicht m i t den Versammlungen tagen, i m Einverständnis mit ihnen i m Falle eines vorliegenden Bedürfnisses durch Einführende veranstaltet werden 3 9 ." Die DNÄ, so kann geschlossen werden, existiert i n den 30er Jahren nur noch i n Symbiose mit den Gesellschaften, wie bis dahin umgekehrt viele Gesellschaften nur i n Symbiose m i t der D N Ä lebten. Diese Entwicklung entspricht i n der Tat dem Spezialisierungsbedürfnis der Naturwissenschaft, deren Wissensbestand i n den Einzeldisziplinen weiter exponentiell angestiegen ist und nur i n hochspezialisierten Gesellschaften überschaubar bleibt.

s» Ibid., S. V.

9 v. Gizycki

X I I I . Systemtheoretische Analyse

I n Auseinandersetzung m i t Luhmanns Reduktions- und Systemtheorie soll i n diesem Kapitel zusammenfassend der Stellenwert der wissenschaftlichen Gesellschaften als einer von mehreren Steuerungsmechanismen (Orientierungshilfen) der scientific community aufgezeigt und die Relevanz der Systemtheorie für die Beschreibung und Erklärung der oben dargestellten organisations- und wissenschaftssoziologischen Phänomene erörtert werden.

1. Fachgesellschaften als Orientierungshilfe Während die D N Ä zum Zeitpunkt ihrer Gründung und bis zur Reform von 1890 die „effektivere" Organisation i m Vergleich zur Leopoldina darstellt, erweisen sich die Fachgesellschaften wiederum auf dem Höhepunkt der Wissensexplosion i m 19. Jahrhundert als geeigneter, die Diffusionsfunktion für die Einzeldisziplinen zu übernehmen. W i r wollen zum Abschluß zeigen, w o r i n genau diese Effizienz der Einzelgesellschaften für die scientific community bestand und welche Mechanismen ähnliche Funktionen ausüben. Die exponentiell ansteigende Literatur- und Informationsflut aller wissenschaftlicher Bereiche i m 19. Jahrhundert führt zur Uberforderung des Bewußtseins, da sie vom einzelnen nicht mehr effektiv verarbeitet werden kann. Der Sinn produzierter Forschungsresultate aber geht verloren, wenn er nicht auf dem Wege der Diffusion zu weiterer Forschung beizutragen vermag. U m der Expansion des Wissensstoffs i n einzelnen Forschungsgebieten gerecht zu werden, bemühen sich die betroffenen Wissenschaftler u m die Institutionalisierung der Diffusionsfunktion auf begrenztem intellektuellen Raum. Die institutionelle Differenzierung der D N Ä und der später entstehenden Fachgesellschaften dient der Uberschaubarkeit des Wissensstandes auf dem jeweiligen Forschungsgebiet, die durch schnelle

1. Fachgesellschaften als Orientierungshilfe

131

und persönliche Diffusion geleistet wird. Anderer Diffusionsmittel wie Bücher, A r t i k e l und Abstracts spielen dabei eine gleichartige Rolle 1 . Gegenüber der komplexen Expansion der Naturwissenschaften leisten die Diffusionsgesellschaften für den einzelnen Wissenschaftler demnach eine A r t „Reduktion der Komplexität" des akkumulierten Wissensbestandes2. Wislicenus drückt diese Erfahrung i n einer Rede vor der Naturforscherversammlung 1895 aus: „Der Prozeß der Spezialisierung ist ein naturgemäßer und daher vorläufig unaufhaltsamer; niemand von uns . . . kann sich i h m entziehen. Die nächste Grundlage wissenschaftlichen Fortschritts ist die Arbeit des Einzelnen. Immer aber findet sie nach dem Maße der M i t t e l und der persönlichen Kraft, früher oder später ihre Grenze. Da t r i t t die Zusammenkunft nächster Fachgenossen helfend und die Bearbeitung größerer Aufgaben organisierend ein 3 ." „Geholfen" w i r d dem Fachgenossen i m Sinne der Auswahl eines dem einzelnen Bewußtsein zugänglichen Wissensgebietes, also einer selektiven Orientierung seiner Erkenntnischancen. Dabei repräsentiert die Fachgesellschaft eine effektivere tionseinheit i m Vergleich zur DNÄ-Sektion, da sie formell siert, m i t eigenständigen Statuten und Publikationen versehen den Fachgenossen eine persönliche Dauerorientierung für die rung, Anregung und Auswahl seiner Forschungsthemen bietet.

Redukorganiist und Erörte-

Luhmann hält diese „rein tribalen Verhaltenmuster" wissenschaftlicher Gesellschaften heute für altertümlich, und bezweifelt ihre Potenz für die Lösung von Reduktionsproblemen 4 . Vielmehr hält er „Reputation" für den entscheidenden Mechanismus der Selbststeuerung der Wissenschaft, der durch Vorsortierung des wissenschaftlichen Informationsflusses Selektionshilfe leistet und die Komplexität des Wissensund Sozialsystems reduziert. Das Ersetzen dieser Orientierungshilfe durch wissenschaftliche Theorien hält er für problematisch, vor allem 1 Verschiedene Untersuchungen über die Verbreitung wissenschaftlicher u n d technologischer Entdeckungen bestätigen diese Aussage, z. B. James S. Coleman: Medical Innovation, A Diffusion Study, New Y o r k 1968; N. Price and L. W. Brass: "Scientific Research and the Innovative Process", Science, M a y 16, 1969. 2 Z u diesem Begriff u n d der folgenden Erörterung vgl. Habermas, J ü r gen & Niklas L u h m a n n : Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie; Suhrkamp, F r a n k f u r t / M . 1971; S.34ff. 3 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u n d Ärzte, 1895; S. 21. 4 Vgl. Luhmann, Niklas: „Selbststeuerung der Wissenschaft", i n : Soziologische Aufklärung, K ö l n u n d Opladen 1970; S. 232-252.

fl*

132

X I I I . Systemtheoretische Analyse

wegen der Gefahr der Doppelarbeit und des Uberholtwerdens, derzufolge das Tempo des Austausche neuester Ergebnisse gesteigert werden müßte 5 . Demgegenüber soll hier die These vertreten werden, daß alle drei wissenschaftsinternen Orientierungshilfen, Paradigma, Reputation und wissenschaftliche Gesellschaft (incl. „invisible college", Zeitschriften, Lehrstühle etc.) ihre je spezifischen Reduktionsbereiche i m Wissens- und Sozialsystem der scientific community besitzen und sich chronologisch offenbar i n dieser Reihenfolge entwickeln. Nach K u h n entsteht normale Wissenschaft m i t dem Auftreten eines Paradigmas, das durch Aufmerksamkeitslenkung und Vereinheitlichung der Bildung thematischer Relevanzen eine Gemeinsamkeit der Bearbeitung enger Problembereiche m i t ähnlichen Methoden und Denkweisen ermöglicht. Das Paradigma orientiert den „intellectual approach" des Wissenschaftlers, indem es sein Interesse i n der Vielfalt und Komplexität faktischer und theoretischer Perspektiven auf einen allgemein von der scientific community als normal angesehenen, engen Gegenstandsbereich konzentriert und die Methoden und Fragestellungen anhand tradierter Lösungsfälle vorschreibt: "The areas investigated by normal science are, of course, miniscule; the enterprise now under discussion has drastically restricted vision 6 ." W i r haben an verschiedenen Stellen i n dieser Arbeit darauf hingewiesen, daß sich die Gründer neuer Fachgesellschaften infolge des anwachsenden Wissensstoffes und der Schaffung paradigmatisch strukturierter Forschungsbereiche zur Bildung separater Vereinigungen entschlossen haben. Die Existenz paradigmatischer (oder jedenfalls praeparadigmatischer) Orientierungshilfen innerhalb der Mutterdisziplin oder i m Frühstadium der disziplinären Entwicklung scheint i n allen Fällen notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Gründungsmotiven gewesen zu sein. Eindeutig ist dieser Prozeß bei der Augen- und Ohrenheilkunde zu belegen, die erst nach Erfindung des Augen- bzw. Ohrenspiegels eigene Forschungsbereiche selbständig bearbeiten und separate Organisationseinheiten herausbilden konnten. Aus der bereits zum Gründungszeitpunkt von Gesellschaften vorherrschenden paradigmatischen oder primitiv strukturierten Sichtweise einzelner Disziplinen läßt sich auch deren aggressive Abgrenzung gegenüber Mutter- und Nachbardisziplin verstehen. Die wissenschaftlichen Gesellschaften sollten ja gerade dem junggeborenen Paradigma institutionelle Uberlebenschancen durch die 5 Ibid., S. 245. β K u h n , S. 24.

1. Fachgesellschaften als Orientierungshilfe

133

dauerhafte Diffusion seiner Ergebnisse eröffnen 7 , wozu die Sektionen nur provisorisch imstande waren. Wer als Wissenschaftler innerhalb des kognitiven Rahmens des Paradigmas wichtige Beiträge leistet, w i r d dafür von der scientific community belohnt. Reputation stellt sich also ein, wenn der Forscher zur Entwicklung und Ausfüllung des Paradigmas beiträgt und das i m Paradigma enthaltene Versprechen der Lösung künftiger Forschungsprobleme aktualisiert 8 . Übereinstimmung der beteiligten Forscher über den Inhalt und die Reichweite des Paradigmas ist also Voraussetzung für die Zuteilung von Reputation. Während das Paradigma als kognitiver Richtungsweiser die vorgängige Reduktion der „Sachkomplexität" leistet, t r i t t Reputation innerhalb dieses Mechanismus hinzu, u m die Rolle des Vermittlers zwischen erfolgreicher, paradigmatischer Bewältigung der Sachkomplexität einerseits und sozialer Komplexität andererseits zu spielen. Reputation vermittelt kognitive und soziale Orientierungshilfe, indem sie einerseits auf kognitiver Ebene entsteht,am einzelnen Wissenschaftler festgemacht ist, und sich andererseits auf sozialer Ebene auswirkt. Deutlich t r i t t diese Vermittlungsrolle der Reputation einzelner Wissenschaftler bei unserer Untersuchung der Gründung von Fachgesellschaften zutage. Die i m Rahmen eines — vor der Gesellschaftsbildung bestehenden — Paradigmas erworbene Reputation einzelner Forscher ermöglichte oftmals die Gründung neuer Gesellschaften, indem sie die Aufmerksamkeit der Fachgenossen auf die „Zugpferde" ihrer Disziplin richtete und damit den Erfolg der Neugründung garantierte 9 . Die Reduktionsfunktion der Reputation entsteht immer nur innerhalb des kognitiven Rahmens des Paradigmas und stellt daher eine A r t Sekundärreduktion dar, indem sie die von der Primärreduktion des Paradigmas geleistete Orientierung weiter reduziert. Dieser Zusammenhang läßt sich verdeutlichen, wenn man sich einen Neuling bei der Bearbeitung eines Forschungsproblems vorstellt. Da er i n der betroffenen Disziplin nicht sozialisiert wurde, verfügt er über keinerlei Wissen bezüglich der Reputationsträger dieser Disziplin. Er w i r d sich dennoch in der Informationsfülle anhand seiner Kenntnis des vorherrschenden Paradigmas orientieren können. Der allmähliche Erwerb 7 M u l l i n s hat bei seiner Untersuchung der „Bacteriophage"-Forschung nachgewiesen, daß ein „Gestalt-shift", d. h. die B i l d u n g einer informellen „paradigm-group", am Anfang der Entstehung einer neuen „specialty" steht. (Mullins, Nicholas C.: "The development of a scientific specialty", i n : M i nerva, Vol. X , No. 1, Jan. 1972.) β Vgl. M u l k a y , M. J.: The Social Process of Innovation, Macmillan 1972; S. 18 ff. » Hagstrom (S. 216 f.) betont ebenfalls die Rolle von Reputationsträgern bei der Gründung neuer Universitätsabteilungen.

134

X I I I . Systemtheoretische Analyse

von Reputationswissen durch Sozialisierung i m Laufe der Erarbeitung des Themas (Zitate!) w i r d seine Aufmerksamkeit zusätzlich auf die reputierten Experten des Forschungsgebietes lenken. Während der Reputation als Steuerungsmechanismus demnach nur eine Vermittlerrolle zukommt, die ihrer gleichzeitigen Abgelöstheit von und Verbundenheit m i t dem wissenschaftlichen Leistungshintergrund des Reputationsträgers entspricht, lassen sich den beiden anderen Mechanismen wissenschaftlicher Orientierungshilfe je verschiedene Funktionen zuordnen: Das Paradigma trägt durch Reduktion der kognitiven Sachkomplexität zur Aufrechterhaltung des Systems der Wissenschaft als Prozeß der Wahrheitsfindung bei; die wissenschaftlichen Gesellschaften tragen durch Reduktion der sozialen Komplexität zur Aufrechterhaltung des Systems der Wissenschaft als Zusammenschluß von Fachkollegen bei. Wenn Reputation wie angedeutet zwischen kognitivem und sozialem Kontext zu vermitteln hat indem sie paradigmaorientierte Reduktionsprozesse i n Leitbilder für soziales Handeln übersetzt, besteht die Gefahr ihrer Verselbständigung i m Sozialsystem der scientific community. Weingart hat dargestellt, wie sich Reputation i n Form der „Autoritätszuschreibung" verfestigen und dadurch an Eigenständigkeit gewinnen kann 1 0 . Eine Rückwirkung solcher Reputationslösung auf den kognitiven Hintergrund ist jedoch nicht zu erwarten, da das Paradigma i n diesem Bereich der scientific community als autonome Orientierungshilfe dient. Nicht schlechthin und einmalig „reputierte" Wissenschaftler dienen der scientific community als Orientierungshilfe, sondern lediglich solche Forscher, die ihre Mittlerfunktion durch ständige Auffüllung, Reduktion und Interpretation des Paradigmas aufrechterhalten können. Versagen sie i n dieser Funktion, treten reputierte Substitute oder das Paradigma selbst an ihre Stelle. Das Paradigma leistet selbständig für das kognitive System der Wissenschaft, was institutionalisierter „Sinn" nach Luhmann für alle Systeme leistet: Reduktion der Komplexität durch Stabilisierung einer „Innen-Außendifferenz", durch Anleitung zu einer „Strategie selektiven Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität" 1 1 . Das Paradigma konstituiert für den Wissenschaftler einen restringenten Sinn i n der 10 Weingart, Peter: „Selbststeuerung der Wissenschaft u n d staatliche Wissenschaftspolitik", i n : Kölner Zeitschrift für Soziologie u n d Sozialpsychologie, 22. Jg., 1970; 567-592. " Habermas / Luhmann, S. 12.

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung

135

Gesamtheit möglicher Sinngebungen, indem es i h m bei der Problemselektion hilft, seine Methoden und Techniken anleitet und i h n von der Angst der Bewältigung unüberschaubarer Komplexität befreit. K u h n drückt die evolutorische Konsequenz dieser Leitfunktion des Paradigmas folgendermaßen aus: "Those restrictions, born from confidence i n a paradigm, t u r n out to be essential to the development of science 12 ." Das Paradigma führt auf diese Weise zur Vereinheitlichung von Theorie und Ergebnisfindung, zur Erhöhung der Austauschgeschwindigkeit neuester Forschungsergebnisse und schließlich zur tendenziellen Angleichung der Verteilung des internationalen Wissensbestandes 13 .

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung I n der organisationssoziologischen Literatur lassen sich nur spärliche Ansätze zur theoretischen Verarbeitung der hier beschriebenen innerorganisatorischen Konfliktprozesse m i t der Folge einer institutionellen Desintegration finden. Unser Versuch einer Synthese der Erklärungsmodelle verschiedener Autoren (vor allem Selznick und Smelser) zum besseren Verständnis von „Aufstieg und Fall" der Naturforscherversammlung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Organisationssoziologie i n diesem Bereich noch keine theoretische Einheitlichkeit oder gar Vollständigkeit ihres empirischen Erklärungspotentials aufweist. Zwar wurde der Wandel oder Zerfall einzelner Organisationen unter dem Aspekt der Zieländerung oder Umweltanpassung vielfach analysiert 1 4 , und auch innerorganisatorische Konflikte sind von zahlreichen Autoren empirisch beobachtet und theoretisch verarbeitet worden 1 5 ; doch für eine Erklärung der hier interessierenden Vorgänge sind diese Ansätze aus folgenden Gründen unzureichend: Erstens handelt es sich bei den Einzelfallstudien nur selten u m freiwillige Vereinigungen 1 6 ; zweitens werden entweder Konflikte oder Zielverschiebungen studiert, is K u h n , S. 24. is v. Gizycki, R.: Centre and Periphery, S. 476. 14 Vgl. Selznick, P h i l i p : T V A and the grassroots, Berkeley 1949; Sills, D a v i d : The volunteers. Means and ends i n a national organization, Glencoe 1957; Messinger, Sheldon: "Organizational transformation — A case study of a declining social movement", ASR, Vol. 20, 1, 1955. 15 Vgl. March, James u n d Simon, Herbert: Organizations, London 1958; S. 124 f f.; Simon, Herbert: " O n the concept of organizational goal", A d m i n . Science Quart., 9, 1964; S. 16 f.; McCleery, Richard: Policy Change i n Prison Management, East Lansing 1959. ie Vgl. SUls (Glencoe 1957).

136

X I I I . Systemtheoretische Analyse

und selten beides i m Zusammenhang gesehen 17 ; drittens werden innerorganisatorische Konflikte, wie w i r bereits bei Selznick sahen, i m allgemeinen als Konflikte zwischen Subeinheiten untersucht 18 , und nicht als Konflikt zwischen Untereinheit und Gesamtorganisation. Den anspruchsvollsten und allgemeinsten (daher auch nur formalen) Erklärungsversuch für Struktur- und Funktionswandel von Organisationen liefert die Systemtheorie, deren Tradition auch Smelser und Selznick verpflichtet sind. W i r wollen die modernste Version dieses Ansatzes, wie sie von Niklas Luhmann vertreten w i r d 1 9 , hier kurz i n ihren relevanten Teilen darstellen, u m ihre Fruchtbarkeit für die theoretische Verwertung des empirischen Teils dieser Arbeit zu überprüfen. Dabei wollen w i r uns auf folgende Aspekte der funktional-strukturellen Systemtheorie beschränken: die Funktion von Organisationszwecken, das Problem der Unbestimmtheit organisatorischer Zweckformulierung, der Übergang von „Zweck/Mittel-Verschiebung" zu „Zweck/Mittel-Umkehrung", sowie die Bedeutung der Mitgliedermotivation für das Uberleben einer Organisation. Schließlich leiten w i r aus dieser kurzen Diskussion Hinweise zur Modifikation des Luhmannschen Theorieansatzes ab. Systeme sind nach Luhmann alle Identitäten, „die sich i n einer komplexen und veränderlichen Umwelt durch Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz erhalten" 2 0 . Zwecke übernehmen darin die Funktion der Reduktion von Komplexität und Veränderlichkeit der Umwelt, d. h. der — durch andere Mechanismen substituierbaren — Lösung des Grundproblems jedes Systems. Offensichtlich ist die D N Ä i n diesem Sinne ein „System": Sie mußte sich i n der komplexen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts durch Setzung eines spezifischen Zwecks behaupten. Die Vielfalt möglicher Ereignisse und Zustände der Umwelt (z. B. praktisch-alltäglicher Lebensorientierung) wurde durch Selektion eines bestimmten „Sinnes" auf wissenschaftliches Handeln reduziert, und damit auf ein begrenztes Format menschlichen Erlebens h i n orientiert. Die Ermöglichung der Erweiterung des Wissens durch Gewährleistung der face-to-face Diffusion neuer Erkenntnisse i n den Naturwissenschaften war bis 1914 der primäre Zweck der DNÄ, der das Verhalten der Mitglieder durch vorge17 Vgl. Mayntz, S. 74 ff. ι» Vgl. auch Irle, M a r t i n : Soziale Systeme, Göttingen 1963; S.91f., 104 f. i» Luhmann, Niklas: Zweckbegriff u n d Systemrationalität, Taschenbuch Wissenschaft, 12, 1973; S. 171 -284. 20 Ibid., S. 175.

Suhrkamp

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung

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gebene Normen und Sinnstrukturen bestimmte. Die Neutralisierung und Ausklammerung nichtwissenschaftlichen Sinnerlebens wurde durch implizite Setzung des abstrakten Diffusionszwecks erreicht. Dieser hielt die Organisation zunächst zusammen, diente ihren Mitgliedern als Verhaltensmotivation und ermöglichte eine adaptive Reaktion auf veränderte Wissenskonstellationen i n der Umwelt (ζ. B. i n der Universität). Als Ergebnis und Teil dieser Zwecksetzung diente die „sektionale" Innendifferenzierung der D N Ä zusätzlich der Reduktion von Umweltkomplexität. Durch den Prozeß der Primärdifferenzierung wurde eine Verstärkung der Selektionsleistung des Gesamtsystems bewirkt. Die Umstellung der D N Ä i m Jahre 1828 von einer einfachen, undifferenzierten zu einer i n fachspezifische Sektionen gegliederten Organisation stellt sich demnach als Ermöglichung der Abarbeitung zusätzlicher Umweltkomplexität dar 2 1 . Die relevante externe und unbeherrschbare Komplexität naturwissenschaftlichen Wissenspotentials wurde i n interne beherrschbare Komplexität umgewandelt 2 2 . Vom Standpunkt der einzelnen Sektionen waren alle übrigen Sektionen „Umwelt", die einen höheren Ordnungsgrad auf wies als die Außenumwelt der DNÄ. Dadurch wurden die Untereinheiten zu einer Vereinfachung ihres Systemhandelns und weiterer Verminderung der Unsicherheit und Komplexität befähigt. Zweckerfüllung ermöglicht als „Strategie der Unsicherheitsabsorption" die Sicherung des Systembestands. Wenn die Umweltbedingungen sich ändern, müssen die Zwecke nachziehen oder die Organisation w i r d untergehen. Bis zur großen Strukturreform von 1890/91 erfüllte die D N Ä ihren Zweck durch informelle Zergliederung des Gesamtzwecks i n sektionsspezifische Unterzwecke. Änderungen des Gesamtzwecks wurden ab 1890 verschiedentlich vorgenommen, um der komplexen Wissensexpansion, der Technisierung und Paradigmatisierung der Naturwissenschaften, sowie der dadurch mitverursachten Entstehung der Fachgesellschaften zu begegnen. Die Verfestigung der Sektionsbildung, die Außenlenkungsperiode und der Versuch, sich als Dachvereinigung der Fachgesellschaften zu etablieren, waren alles Bemühungen eines Systems, sich der veränderten Umweltkomplexität anzupassen. Auch die Betonung der Einheit aller Wissenschaften und die organisatorische Desintegration der D N Ä stellten Anpassungsprozesse i n Form der Funk21 Vgl. die interessante Untersuchung von Simpson, Richard u n d Gulley, W i l l i a m zum Einfluß von Umweltfaktoren auf die interne S t r u k t u r von freiwilligen Vereinigungen: "Goals, environmental pressures and organizational characteristics", ASR, 27, 1962. 22 Vgl. die Ausführungen von Oken u n d H u m b o l d t zur F u n k t i o n der Sektionssitzungen i n der Isis, 1829; S. 255 ff.

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X I I I . Systemtheoretische Analyse

tionsabgabe und -änderung dar, die schließlich i n die Regression auf eine undifferenzierte Organisationsform mündete. War diese primitive Organisationsweise ursprünglich Ausdruck des relativ primitiven Zustands der Wissenschaften selbst, so ist sie heute Ergebnis eines langwierigen Entdifferenzierungsprozesses und Ausdruck der Übernahme einer relativ insignifikanten Synthesefunktion i n dem hochkomplexen Wissensgebiet der Naturwissenschaften. Obwohl also ein radikaler Zweckwandel und Funktionsverlust seit der Gründung der D N Ä stattgefunden hat, führte dies trotz starker institutioneller Belastung nicht zur Liquidation oder Neugründung der Organisation. Der Grund dafür lag i n der ursprünglichen und nach der Reform beibehaltenen „Unbestimmtheit der Zweckformulierung" der DNÄ, die lediglich das persönliche Kennenlernen der Teilnehmer als Grundlage ihrer Versammlungen vorsah. Diesem explizit, aber äußerst vage formulierten Zweck entsprach zunächst die tatsächliche Funktion der Wissensdiffusion, die bis etwa 1914 i m Vordergrund stand. Die durch den Einfluß der Fachgesellschaften erzwungene Einführung von Zwei Jahresversammlungen ließ später ebenso die Beibehaltung der „Sinnrichtung" des Zweckes zu, wie die ausschließliche Regression auf die Abhaltung allgemeiner Sitzungen. Wahrscheinlich ermöglichte der hohe Grad der Zweckabstraktion, d. h. die hohe Dehnbarkeit der Zweckbestimmung, einerseits das Uberleben der D N Ä durch den Einbau eines elastischen Potentials genereller Umweltorientierung, wie er andererseits für ihre geringe Fähigkeit zur Präzision und Anerkennung konkreter, dauerhafter und konsistenter M i t t e l oder Zwecke der Untereinheiten verantwortlich war. Obwohl der diffuse Zweck der D N Ä i n der Funktion versagte, die Bestandsbedingungen des Systems konkret zu definieren, gelang i h m andererseits gerade dadurch zunächst die spontane Herausbildung und Duldung widersprüchlicher Unterzwecke i n den Sektionen. Diese Widersprüchlichkeit, die i n den materiellen, räumlichen und zeitlichen Diffusionsprämissen der einzelnen Disziplinen angelegt war, blieb solange folgenlos für die Organisation, wie die zur Durchführung der Unterzwecke erforderlichen M i t t e l aufgrund ihrer Geringfügigkeit miteinander vereint werden konnten. I m Grunde hatte die Abspaltungstendenz sich jedoch bereits i n den separaten Tagungen der Sektionschemiker in Universitätslaboratorien, der Astronomen i n erreichbaren Observatorien oder der Mediziner i n eigenen Instituten angekündigt, auch wenn sie unter dem Dach der Muttergesellschaft noch formal eine Einheitsorganisation bildeten. Trotz Koordinierungsbemühungen der Geschäftsführung mußte dieses Streben nach fachspezifischer Umgebung auf die Dauer den sachlichen, räumlichen und zeitlichen Rahmen der D N Ä sprengen, so daß separate Organisationen gegründet wurden.

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung

139

Erst recht mußten sich Konflikte anbahnen, als i m Vollzuge der Unterzwecke i n den Sektionen neue Interessen entstanden, die dem Gesamtzweck trotz seiner Abstraktheit offensichtlich widersprachen. Zwar ermöglichte die Zweckabstraktion mitunter (z.B. i n der Bereitschaft zur externen wissenschaftlichen Interessenvertretung nach 1900) auch i n diesem Bereich eine vorübergehende Anpassung, doch waren letztlich weder die Praxisorientierung noch das Bedürfnis nach eigenständiger Repräsentation oder universitärer Institutionalisierung i n den Zweckbegriff integrierbar. Die Unbestimmtheit der Zweckformulierung der D N Ä war also einerseits die Bedingung für die Möglichkeit der Entstehung konkreter struktureller Widersprüchlichkeiten, verhinderte aber andererseits den völligen Zerfall der Organisation. Sie ließ genügend Spielraum für aus diesen Widersprüchen und ihren Konsequenzen resultierende Zielund Strukturänderungen, u m ihr Uberleben zu garantieren, setzte ihnen aber keine konkreten Alternativen gegenüber. Die Sektionen als Untereinheiten der D N Ä bildeten eigene Identitäten zum Zwecke der Verkleinerung der Probleme, die dem Gesamtsystem gestellt waren. Diese Eigenidentität der Sektionen führte zur Idealisierung ihres Unterzwecks gegenüber dem Gesamtzweck i n einem Maße, der die Geschäftsführung als Vertreterin des Gesamtsystems vorübergehend zum Versuch ihrer Zerschlagung durch Zusammenlegung m i t anderen Sektionen veranlaßte. Es trat also bereits frühzeitig eine „Zweck/Mittel-Ver Schiebung" ein, indem die den Sektionen i m Rahmen des Gesamtzwecks zugeordneten Aufgaben und M i t t e l als Selbstzweck behandelt wurden. Diese Etappe der Zweck/Mittel-Verschiebung tat der Gesamtorganisation zunächst wenig Abbruch, war vielmehr die Voraussetzung für die effiziente Wahrnehmung der Diffusionsfunktion durch Reduktion der Komplexität des jeweiligen Fachgebietes i n den einzelnen Sektionssitzungen. Sie leitete freilich gleichzeitig die Sekundärdifferenzierung und schließlich die „Zweck/Mittel-Umkehrung" ein. Erst m i t der Zweck/Mittel-Umkehrung bahnte sich für die D N Ä eine radikale Umstrukturierung an. Nicht mehr der Unterzweck der Sektionen diente als M i t t e l dem Gesamtzweck, sondern er wurde Selbstzweck zugleich m i t der Degradierung des Gesamtzwecks zum M i t t e l für die Unterzwecke. Dieser Zustand kennzeichnete die Phase der Außenlenkung nach 1900, als die D N Ä den Zwecken der Fachgesellschaften dienstbar gemacht wurde. Damit hatten sich die Sektionen nicht nur emanzipiert, sondern i n Gestalt der Sekundärdifferenzierung auch das Gesamtsystem instrumentalisiert.

140

X I I I . Systemtheoretische Analyse

I m Anschluß an organisationssoziologische Arbeiten auf dem Gebiet der Beitragsmotivation hat Luhmann auf zwei Arten der Mitgliedermotivation hingewiesen: eine knüpft an den unmittelbaren Organisationszweck an, der gleichzeitig motivierend auf die Tätigkeit der M i t glieder einwirkt; die andere schließt alle vom Systemzweck unabhängigen, generalisierten Motivierungen (z.B. Geld, Status, Geselligkeit) ein 2 3 . I n freiwilligen Vereinigungen sind die persönlichen Motivationsstrukturen typischerweise zweckgebunden. Die Loyalität der Mitglieder gegenüber dem Systemzweck rangiert vor der Loyalität gegenüber der spezifischen Organisation, so daß sie ggf. dem Zweck i n andere Organisationen „nachwandern". Luhmann erwähnt explizit die „Sezessionsgefahr" von Mitgliedern als Folge der Aktualisierung oder Umformulierung von Systemzielen i n Organisationen, die m i t zweckbezogener Motivation arbeiten. Bedingungen für die Erhaltung des Mitgliederbestandes einer solchen Organisation sind nach Luhmann die Erfüllung aller Erhaltungsbedingungen des Systems durch die M i t glieder selbst, sowie das Fehlen allzu schwieriger Anpassungsprobleme. Die Mitglieder der Naturforscherversammlung waren primär der fachspezifischen Diffusion neuer Erkenntnisse verpflichtet und sahen diesen Zweck zunächst am wirksamsten i n der informell strukturierten D N Ä verwirklicht. Unzufriedenheit stellte sich bei vielen Mitgliedern erst ein als Folge der fehlenden materiellen, sachlichen und räumlichen Prämissen differenzierter Zielverwirklichung angesichts des schnell wachsenden Wissensbestandes sowie als Folge der Unfähigkeit und Unwilligkeit der DNÄ, zusätzliche Ziele zu integrieren. Da die Naturforschergesellschaft nur ungenügende neue Motivationsanreize (Betonung der Einheit der Wissenschaften) zur Verfügung stellte, waren die Mitglieder schließlich nicht mehr bereit, die für den alten Zweck erforderlichen Erhaltungsbedingungen durch ihre Mitarbeit zu gewährleisten und wanderten i n unabhängige Vereinigungen ab, deren Systemziele ihren persönlichen Motivationen entsprachen. Die Ähnlichkeit der „desintegrativen" Entwicklungsrichtung der Humboldtuniversität und der Naturforschergesellschaft, wie w i r sie oben beschrieben haben, geht offenbar auf die enge Motivationsbindung der Mitglieder beider Organisationen an den Systemzweck zurück 24 . Beide Organisationen bedurften des „Beitrags" von Individuen (Wissenschaftlern), die an ihren Leistungen interessiert waren, u m sich i n einer komplexen, veränderlichen Umwelt zu behaupten. Die Bedürfnisse der Wissenschaftler, die sie zu ihrem Beitrag motivierten, wurden 23 Luhmann, S. 138 - 143. 24 I n der Universität w i r d das u. a. durch die relativ niedrige Bezahlung der Professoren u n d die unbezahlte Tätigkeit der Privatdozenten belegt.

2. Systemanalyse der Naturforscherversammlung

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zunächst von den Zwecken der jeweiligen Organisationen (Diffusion bzw. Produktion neuen Wissens) abgedeckt. Als diese Bedürfnisse nicht mehr befriedigt wurden, nahmen sie die Chance wahr, separate Einheiten zu gründen (Einzelgesellschaften, Max-Planck-Institute) oder i n andere Organisationen abzuwandern, w e i l das Gleichgewicht von „Beitrag" und „Anreiz" i n der alten Organisation nicht gewahrt blieb 2 5 . Damit haben w i r einige der funktional-strukturellen Systemtheorie inhärenten Erklärungsmöglichkeiten für unseren Untersuchungsgegenstand angedeutet. Die empirisch beobachtete Entwicklung der D N Ä läßt sich teilweise problemlos m i t dem systemtheoretischen Begriffsinstrumentarium beschreiben, so daß je nach Systemreferenz und Richtung des Erkenntnisinteresses ein Mosaik von Perspektiven entsteht. Der einzelne Wissenschaftler wurde als Mitglied einer Organisation oder als Mitglied einer scientific community betrachtet und seine Motivation entweder i m Bezug zum Organisationszweck („Beitrag") oder zum kognitiven Wissenschaftssystem („Orientierungshilfe") untersucht. Die Organisation der D N Ä selbst wurde vom Standpunkt des Gesamtsystems oder der einzelnen Untereinheiten funktionsadäquat analysiert. Zwei wichtige Probleme bleiben jedoch ungelöst: Wie verhalten sich die aus der Sicht verschiedener Systeme (personales, kognitives, institutionelles System) angebotenen Interpretationsweisen zueinander? Wie kann die systematische mit der genetischen Analyse verbunden werden? Die Beantwortung der ersten Frage impliziert eine sachliche Erweiterung des Systemansatzes, während die zweite Frage eine Dynamisierung ihrer Begriffe fordert. Das erste Problem verlangt nach einer systemtheoretischen Begründung der Wahl und der Kontrolle des Wechsels einer Systemreferenz, so daß eine Klarstellung über die Erklärungsreichweite und Überlappung der Erkenntnisse jeweiliger Bezugsrahmen gewonnen werden könnte 2 6 . W i r sind dem zweiten Problem durch Formulierungen wie „zunächst" und „schließlich" ausgewichen, wobei w i r den Übergang des Systems 25 Vgl. Barnard, Chester: The functions of the executive, H a r v a r d U n i versity Press 1964, sowie March, James u n d Simon, Herbert (London 1958) die beide diese Gleichsgewichtstheorie vertreten. 26 Vgl. Luhmanns Einsichten i n dieser Hinsicht i n : Habermas, Jürgen u n d Niklas L u h m a n n : Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, F r a n k f u r t 1971; S. 369 f.

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X I I I . Systemtheoretische Analyse

vom Zustand t l zum Zustand t2 durch empirische Hinweise und ad-hoc Argumente zu erklären suchten. W i r konnten zwar empirisch belegen, daß die D N Ä ζ. B. eine Phase der Zweck/Mittel-Verschiebung und eine der Zweck/Mittel-Vertauschung erlebte, wurden aber beim Versuch der Analyse dieses Wandels von der Systemtheorie i m Stich gelassen. Die Systemtheorie vermag lediglich jeweilige Momentaufnahmen des Geschehens zu verdichten, es gelingt ihr jedoch keine eindeutige Erklärung der Veränderung von Systemen, da sie gerade die funktionale an die Stelle der genetischen Erklärung setzt. Diese Schwierigkeit ergibt sich trotz des anspruchsvollen Versuchs der funktionalistischen Systemtheorie, einerseits allgemeingültige Bestandsvoraussetzungen zu definieren, auf die die jeweiligen Leistungen des Systems bezogen sind, und andererseits i n einer Evolutionstheorie den Fortbestand des Systems erklären zu wollen. Während der erste Ansatz nach der Definition des Sollzustandes eines Systems fragt, muß der zweite Ansatz eben diesen Sollzustand auflösen und „Bestand" auf einem unbestimmten Kontinuum zwischen Geburt und Tod festmachen. Ein soziales System wie die Naturforschergesellschaft kann, wie w i r gesehen haben, tiefgreifende strukturelle Änderungen erfahren, ohne seine Identität oder seinen kontinuierlichen Bestand aufzugeben, da es nicht wie biologische Systeme „typenfest" fixiert ist 2 7 . Die Diffusion naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erwies sich zwar bis 1914 als Primärfunktion der DNÄ, aber als diese Funktion von anderen Organisationen zunehmend übernommen wurde, zeigte sich, daß es sich keineswegs u m eine „bestandskritische" funktionale Leistung handelte, sondern die Abstraktheit der Zweckformulierung einen Funktionswandel zuließ, der dem System das „Uberleben" ermöglichte.

27 Vgl. Luhmann, Niklas: „ F u n k t i o n u n d Kausalität", Kölner Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie 14, 1962.

Anhang

Das Gründungsverhältnis von 55 deutschen wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Naturforscherversammlung 1. Insgesamt: 76 deutsche wissenschaftliche Gesellschaften der Medizin u n d Naturwissenschaften, gegründet zwischen 1822 u n d 1914 2. Davon:

65 wissenschaftliche Fachgesellschaften i m engeren Sinne 1

3. Davon:

10 Fachgesellschaften gaben 2

4. Bleiben:

55 untersuchte Fachgesellschaften

ohne

ausreichende

Literaturan-

Davon: 5. 6. 7.

9 (16 %) statutengemäß oder tatsächlich symbiotisch 3 29 (53%) indifferent 17 (31 °/o) unabhängig

(S) (I)

4

CU)

1 Als „Fach" w i r d eine Disziplin — oder deren Untergebiet — verstanden, die i n den deutschen Universitäten oder i n den Naturforschersektionen zwischen 1822 u n d 1914 vertreten w a r (Ausnahme: Ärztevereinsbund). V e r eine w i e z. B. der Deutsche Verein f ü r Naturgemäße Lebensweise, der Deutsche Kolonialverein oder die Deutsche Dahliengesellschaft fallen nicht darunter. 2 Diese Gesellschaften können aufgrund der geringen Literaturhinweise oder der vertretenen Disziplinen als unabhängig v o n der D N Ä gegründet angesehen werden (s. Kategorie 7). 3 Hierzu zählen nicht Gesellschaften, die gelegentlich m i t der D N Ä gemeinsam tagten, aber nicht aus i h r hervorgegangen sind (z.B. die „Freie V e r einigung der österreichischen Nahrungsmittelchemiker u n d Mikroskopiker", die 1894 m i t der A b t e i l u n g „Chemische u n d Mikroskopische Untersuchung der Nahrungsmittel" tagte). 4 Hierunter fallen vier Gesellschaften, deren Disziplin durch eine gleichnamige Sektion i n der D N Ä vertreten w a r sowie zwei Gesellschaften (Mikrobiologie, Verdauungskunde), bei denen Verdacht auf Indifferenz besteht.

Anhang

144

Das Gründungsverhältnis von 55 Deutschen Wissenschaftlichen Gesellschaften zur Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte (1822 -1914)

Gesellschaftsname (1) Deutsche Ornithologische Gesellschaft (2) Deutsche Geologische Gesellschaft (3) Deutsche Gesellschaft f ü r Hydrologie (4) Deutsche Gesellschaft f ü r Psychiatrie u n d gerichtliche Psychologie (5) Centraiverein Deutscher Zahnärzte (6) Deutscher Verein der Irrenärzte (7) Astronomische Gesellschaft (8) Ophthalmologische Gesellschaft (9) Deutsche Chemische Gesellschaft (10) Deutscher Verein f ü r Medizinische Statistik (11) Deutsche Gesellschaft f ü r Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (12) Deutscher Geometer- Verein (13) Deutsche Gesellschaft f ü r Chirurgie (14) Deutscher Ärztevereinsbund (15) Deutscher Verein f ü r öffentliche Gesundheitspflege (16) Balneologische Gesellschaft (17) Deutsche Entomologische Gesellschaft (18) Deutscher Geographentag (19) Kongreß f ü r Innere Medizin (20) Deutsche Botanische Gesellschaft (21) Deutsche Gesellschaft f ü r Kinderheilkunde (22) Deutsche Meteorologische Gesellschaft (23) Deutsche Gesellschaft f ü r Gynäkologie

Gründungs- Verhältnis datum zur D N Ä * Bemerkungen** 1847

I

1848

S

1854

U

1854

S

1859

U

1860

I

1863 1863

I I

1867

I

1868

I

1870

I

1871 1872

U I

1872

I

1873

I

1878 1881

U I

1881 1882

I I

1882

I

1883

S

Fakultative Symbiose 1894 -1905 1883 -1913

1883

S

1883 -1885

1885

I

1848 -1867

1854 -1856

Anhang

Gesellschaftsname (24) Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft (25) Anatomische Gesellschaft (26) Deutsche Dermatologische Gesellschaft (27) Deutsche Odontologische Gesellschaft (28) Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (29) Deutsche Zoologische Gesellschaft (30) Deutscher Verein zur Förderung des MathematischNaturwissenschaftlichen Unterrichts (31) Deutsche MathematikerVereinigung (DMV) (32) Deutsche Otologische Gesellschaft (33) Deutsche Dendrologische Gesellschaft (34) Deutsche Bunsen-Gesellschaft (35) Deutsche Pathologische Gesellschaft (36) Deutsche Physikalische Gesellschaft (37) PharmokologenVereinigung (38) Deutsche Gesellschaft f ü r Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften (39) Deutsche Gesellschaft für Orthopädische Chirurgie (40) Vereinigung f ü r Angewandte Botanik (41) Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (42) Deutsche Gesellschaft f ü r Gerichtliche Medizin (43) Deutsche Physiologische Gesellschaft (44) Deutsche Gesellschaft f ü r Züchtungskunde (45) Deutsche Röntgengesellschaft (46) Deutsche Laryngologische Gesellschaft 10 v. Gizycki

145

Gründungs- Verhältnis* datum zur D N Ä Bemerkungen** 1885

U

1886 1889

I I

1889

U

1890

I

1890

I

1891

I

1891

s

1892

I

1892

υ

1894

υ

1897

s

1897 - 1907

1898

s

1898 - 1930

1900

I

1901

s

Fakultative Symbiose i n den 20er Jahren 1901 - 1930

1901

I

1902

u

1902

u

1904

s

1904

I

1905

u

1905

u

1905

I

Fakultative Symbiose 1891 1898 aufgelöst

Gemeinsame G r ü n dung der D N Ä u n d des Vereins der Schulmänner 1891 - 1930

1904 - 1936

Fakultative Symbiose 1907

Anhang

146

Gesellschaftsname (47) Freie Vereinigung f ü r Mikrobiologie (48) Deutsche Gesellschaft f ü r Urologie (49) Deutsche Tropenmedizinische Gesellschaft (50) Deutsche Gesellschaft f ü r Neurologie (51) Deutsche Mineralogische Gesellschaft (52) Deutsche Gesellschaft f ü r Photogrammetrie (53) Paläontologische Gesellschaft (54) Deutsche Gesellschaft f ü r Angewandte Entomologie (55) Deutsche Gesellschaft f ü r Verdauungskunde

Gründungs- Verhältnis* datum zur D N Ä Bemerkungen** 1906

U

1906

I

1907

I

1907

I

1908

I

1909

U

1912

u

1913

υ

1913

υ

Fakultative Symbiose 1911-1913

* Diese Spalte enthält die Abkürzungen f ü r Symbiotisch = S, Indifferent = I, Unabhängig = U. ** I n dieser Spalte ist bei symbiotischen Gesellschaften der Zeitraum des Symbiose-Verhältnisses angegeben. Unter „fakultativer Symbiose" w i r d eine vorübergehende spätere Symbiose verstanden, die i n den Statuten nicht explizit vorgesehen, aber m i t u n t e r durch Freilassung der Monate August u n d September ermöglicht w i r d .

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