Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas: Erzählkommunikative Studien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählungen in II Reg 18¿20 und Jer 37¿40 [Reprint 2019 ed.] 3110117355, 9783110117356

In der Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (BZAW) erscheinen Arbeiten zu sämtlichen Ge

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Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas: Erzählkommunikative Studien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählungen in II Reg 18¿20 und Jer 37¿40 [Reprint 2019 ed.]
 3110117355, 9783110117356

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Kapitel I. Einführung und Problemstellung
Kapitel II. Erzähltextanalytische Grundlagen
Kapitel III. Literarischer Kontext und Aufbau der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems (ABBJ-Erzählung) in II Reg 18,9f.*13-19,37*
Kapitel IV. Rekonstruktion der Erzählsituation der ABBJ-Erzählung
Kapitel V. Der kompositorische Zuschnitt der ABBJ-Erzählung auf die Belagerungspause von 588 und ihre spezifischen Identifikationsangebote für diese Erzählsituation
Kapitel VI. Zum Trägerkreis und zur Adressatenschaft der ABBJ-Erzählung
Kapitel VII. Zusammenfassung und Ausblicke
Verzeichnis der Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Register der Namen und Sachen
Register der hebräischen Ausdrücke
Register der Bibelstellen

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Christof Hardmeier

Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas Erzählkommunikative Studien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählungen in II Reg 1 8 - 2 0 und Jer 3 7 - 4 0

w _G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990

Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von Otto Kaiser 187

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

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der Deutschen

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Hardmeier, Christof: Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas : erzählkommunikative Studien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählungen in II Reg 18—20 und Jer 37—40 / Christof Hardmeier. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ; 187) Zugl.: Bielefeld, Univ., Habil.-Schr., 1987 ISBN 3-11-011735-5 NE: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft / Beiheft

ISSN: 0934-2575 © Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren 1983-87 und wurde von der Kirchlichen Hochschule Bethel im Wintersemester 1987/88 unter dem Titel "Die Polemik gegen Ezechiel und Jeremia in den Hiskija-Jesaja-Erzählungen. Studien zur Funktion und zur Rhetorik der historischen Tendenzerzählungen in II Reg 18-20 und in Jer 37-40 mit einer erzähltexttheoretischen Grundlegung" als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript •wurde für den Druck im Anfangs- und Schlußteil leicht überarbeitet, der Haupttext durch die Versetzung ausführlicher Klammerbemerkungen in die Fußnoten formal entlastet. Seit 1987 erschienene Literatur ist nur in Ausnahmefällen berücksichtigt -worden. Bei der Überarbeitung habe ich dankbar Anregungen aufgenommen, die der Referent, Herr Prof. Dr. F. Crüsemann, der Korreferent, Herr Prof. Dr. J. Jeremias und die Fachgutachterin für den linguistischen Teil, Frau Prof. Dr. E. Gülich zu bedenken gaben. Ihnen sei vor allem Dank für die Mühen der Begutachtung. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. O. Kaiser, der die Arbeit ohne Zögern in die BZAW-Reihe aufgenommen hat. Das ursprüngliche Habilitationsvorhaben galt dem Thema "Anlaß und Hintergrund der Verschriftung von Jesajas Verkündigung", was v.a. an der Entstehung der "Denkschrift" Jesajas Qes 6,1-8,18*) als Literaturdokument und weiterer Wortsammlungen erforscht werden sollte. Die 1981 erschienene Neuauflage des Jesaja-Kommentars von O. Kaiser (ATD 17) mit seiner entschlossenen Spätdatierung der protojesajanischen Kerntexte forderte dabei die methodische Frage nach Authentizitätskriterien im besonderen von narrativ strukturierten Texten wie der "Denkschrift" vehement heraus. Im Rahmen der Vorbereitungen zu zwei interdisziplinären Seminaren zur Erzähltextanalyse zusammen mit Frau Gülich an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld konnte ich mich in den Jahren 1982/83 mit den jüngsten Entwicklungen der empirischen Erzählforschung eingehend vertraut machen. Vor allem Frau Gülich und Frau Prof. Dr. U.M. Quasthoff verdanke ich entscheidende Anstöße zu dem eigenen Versuch einer methodologischen Grundlegung der Analyse literarischer Erzähltexte. Vom Sommer 1983-1985 gewährte mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein zweijähriges Habilitanden-Stipendium. Ohne die dadurch ermöglichte Beurlaubung von meinem Dienst an der Kirchlichen Hochschule Bethel wäre diese Arbeit nie zustande gekommen. Die Beurlaubung hing jedoch ferner davon ab, daß sich Herr Oberstudienrat A. Wittstock aus

VI

Vorwort

Mainz bereitgefunden hatte, für zwei Jahre meine Hebräischkurse und Proseminarverpflichtungen in Vertretung zu übernehmen, und für diese Zeit zusammen mit seiner Frau nach Bielefeld umgezogen war - ein unschätzbarer Freundschaftsdienst. Den Rahmen des Üblichen sprengte auch die Bereitschaft der Gutachter bei der DFG, daß sie eine Schwerpunktverlagerung im Laufe der Arbeit gutgeheißen haben. Was ursprünglich als Propädeutik gedacht war, die Analayse der Hiskija-Jesaja-Erzählungen auch im Blick auf die These von O. Kaiser, geriet alsbald zum zentralen Thema. In Erprobung der entwickelten Methode zog mich ein fortschreitender Prozeß der Aufdeckung und Entschlüsselung von Situationsbezügen in diesen Erzählungen in seinen Bann und machte eine entsprechende Analyse auch der Erzählung von Jer 37-40 als Quellentext erforderlich. Weg und Ergebnisse dieser Detektivarbeit liegen nunmehr vor. Mit kritischem Rat und gelegentlich auch mit heilsamer Skepsis haben v.a. meine beiden Freunde Frank Crüsemann und Prof. Dr. Rainer Albertz den langen Weg begleitet. Was ich diesen freundschaftlichen Gesprächen verdanke, läßt sich nicht in kurze Worte fassen. Herrn Jeremias danke ich für manche Ermutigung und Klärung auf diesem, u.a. auch im Spannungsfeld zur Entwicklung einer "Dialogfähigen ComputerKonkordanz" beschrittenen Weg. Das vorliegende Buch wäre nicht ohne die Hilfe und Unterstützung vieler anderer zustande gekommen. Besonders erwähnt seien die Vikarin, Frau M. Frettlöh und der Vikar, Herr A. Ruwe. Sie haben beide mit Engagement und hilfreicher Kritik das Manuskript gelesen, die per Computer erstellten Register vorbereitet und waren mit Akribie dem Tippfehlerteufel auf der Spur. Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern des Rechenzentrums der Universität Bielefeld, im besonderen Herrn Nolting, ferner Herrn Schönebäumer von der Firma "digitron" in Bielefeld sowie Herrn Dr. U. Gleßmer aus Hamburg, die mir mit Rat und Tat bei der Drucklegung des elektronisch gespeicherten Manuskripts im Dickicht von Zeichensätzen, Schrifttypen und Formatierungsproblemen zur Seite standen. Hand in Hand damit hat Herr Prof. Dr. H. Wenzel vom Verlag W. de Gruyter in Berlin ein großes Entgegenkommen gezeigt, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlags haben mich in diesem noch mit vielen Tücken behafteten Verfahren der Buchproduktion von Diskette bereitwillig unterstützt. Auf ganz andere Weise betroffen von einem sich habilitierenden Zeitgenossen sind Freundeskreis, Familie und andere Menschen, die dringender denn je im alltäglichen Umgang miteinander auf gemeinsam gelassene Zeit, auf teilnahmefähige Offenheit und unverplante Muße angewiesen sind. Ihnen war ein sich habilitierender Vater, ein oft von inneren Spannungen besetzter und in Gedanken versunkener Lebenspartner, ein Freund und Mitstreiter, der häufig keine Zeit zu haben wähnte, eine besondere Zumutung. Mehr als einmal stellte ich mir die Frage, ob und warum wissenschaftliche Leistungen mit einem so hohen Preis an Absorption, Isolation und

Vorwort

VII

Alltagsentfremdung erkauft werden müssen, als wären Wissenschaftler geborene Asketen. Daß wir uns darüber austauschen konnten, ohne fertige Antworten zu finden, hat wesentlich dazu beigetragen, diesen Lebensabschnitt eines problematischen Einzelkämpfertums in der Obhut des HTIK rrnK "IttfK einigermaßen unbeschadet zu bewältigen. Neben vielen Ungenannten danke ich vor allem meiner Frau Ursula und meinen Kindern Ruth und Martin, daß sie diesen kargen Zeiten besonders in den letzten Jahren der Doppelbelastung ab 1985 standgehalten und mir soviel Verständnis entgegengebracht haben. Auch den Studentinnen und Studenten sowie meinen Kollegen an der Kirchlichen Hochschule Bethel mußte ich in diesen Jahren manches schuldig bleiben, was die Lehrtätigkeit und den wissenschaftlichen Austausch untereinander erst zu einer sinnvollen und befruchtenden Begegnung werden läßt. Ihre Geduld und ihr stillschweigendes Verständnis haben mit zum Gelingen beigetragen.

Bielefeld-Bethel, im Oktober 1989

Christof Hardmeier

Inhalt Vorwort

V

Kapitel I

Einführung und Problemstellung

1

1.1

Die Ausgangsfragestellungen im Horizont der Jesajaforschung

1

1.2

Die Entwicklung von Kriterien der Erzähltextanalyse und die exemplarische Untersuchung der HKJ-Erzählungen

5

1.3 1.3.1

Die Aporien der Erforschung der HKJ-Erzählungen Die historische Fragestellung nach der Glaubwürdigkeit der geschichtlichen Überlieferung in den HKJ-Erzählungen Die Probleme der quellentheoretischen Betrachtungsweise

8 13

1.4.1 1.4.2

Die A usgangspunkte, der A uft>au und der Beitrag dieser Arbeit zur Forschung Die wesentlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen Der Aufbau der Arbeit und ihr Beitrag zur Forschung

17 17 19

Kapitel II

Erzähltextanalytische Grundlagen

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5

Ausgangspunkte Zum Textbegriff Schriftkonstituiertes Erzählen als kommunikative Handlung Erzählsituation und erzählte Situation Zur aktuellen Relevanz von Erzählungen Der Text als historisches und literaturgeschichtliches Primärdatum

1.3.2 1.4

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Strukturelemente von Erzählungen als Beobachtungskriterien der Erzähltextanalyse Die kognitiven Strukturen Die Verlaufsstruktur der "thematischen Geschichte" Die Gestaltungsverfahren unter dem dreifachen narrativen Zugzwang Zur Übertragbarkeit der narrativen "Zugzwänge" auf schriftlich konstituierte Erzählungen des Alten Testaments

8

23 23 23 25 26 28 29

33 35 38 45 49

X 2.2.5 2.2.6 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.1.1 2.3.2.2

2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.3.3 2.3.3.4

2.3.3.5

2.4

2.4.1 2.4.2 2.4.3

Inhaltsverzeichnis Identifikationspotentiale und Vergegenwärtigungsaspekte von Erzählungen aus zweiter Hand Zusammenfassung und Folgerungen

51 58

Kriterien der Erzähltextgliederung 60 Die Gliederungsmerkmale nach E. Gülich und W. Raible 63 Kommunikationsbezogene Merkmale 63 Geschichtenbezogene Merkmale 66 Textinterne Merkmale 67 Schritte der Gliederung von Erzähltexten und die semantisch-pragmatischen Rückschlüsse 69 Status und Charakter der Gliederungsmerkmale 69 Exkurs: Zu den Fragestellungen und zur Entwicklung einer Textgrammatik des Althebräischen 72 Zum Verfahren der Erzähltextgliederung und zu den semantisch-pragmatischen Rückschlüssen aus der makrostrukturellen Gliederung 74 Die Reliefs der Detaillierung und der Kondensierung als Ausgangspunkte einer pragmatischen Erzähltextinterpretation . . . . 76 Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der Ereignisträger 77 Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der temporal-lokalen Situierung von Szenen und ihrer Kennzeichnung . . 77 Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der Ereigniskette . . . 78 Die Reliefs der Detaillierung und der Kondensierung in ihrem Verhältnis zueinander als Ausdruck des Gesamtcharakters einer Erzählung 79 Anhaltspunkte und Möglichkeiten der pragmatischen Erzähltextinterpretation 80 Zu den sprachlichen Repräsentationsformen der kommunikations- und geschichtenbezogenen Gliederun&merkmale Repräsentationsformen von eingeführten Ebenen der Kommunikation Repräsentationsformen von Episoden- und Iterationsmerkmalen Repräsentationsformen der Konstellationsveränderung von Ereignisträgern — Pro- und Renominalisierung

83

. . .

83 83 85

XI

Inhaltsverzeichnis Kapitel III

3.1 3.1.1 3.1.2

3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.2.1 3.2.1.3 3.2.1.4

3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3

3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3

Literarischer Kontext und A ufbau der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems (ABBJ-Erzählung) in II Reg 18,9f.*13-19,37*

87

Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Rahmen des DtrG. Der "Königsrahmen" als unmittelbarer Kontext der Hiskija-Jesaja-Erzählungen Exkurs: Zur literaturgeschichtlichen Betrachtung des DtrG. in der Forschung Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen Der Anfang der ABBJ-Erzählung in II Reg 18,9f.* II Reg 18,9f.* im Kontext der Rahmennotizen von II Reg 18,1-12 Die Dubletten in II Reg 18,9f. und ihre literarischen Bezugsfelder Die literaturgeschichtliche Signifikanz der Stilunterschiede in den Datierungsdubletten von II Reg 18,9f. II Reg 18,9.10aa als Erzähleröffnung der ABBJ-Erzählung II Reg 18,13a als Naht der Einarbeitung von II Reg 18,13b-16 in die ABBJ-Erzählung - eine induktive literaturgeschichtliche Hypothese zu II Reg 17f. Die ABBJ-Erzählung im Verhältnis zu II Reg 20

88 89 91

. . . . . .

95 95 96 101 102 106

108 117

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau 120 Übersetzung und Textprobleme 120 Exkurs: Zum Verhältnis von K-und J-Version 124 Der Aufbau und die Gliederung der ABBJ-Erzählung unter dem Gesichtspunkt der geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale . . . 126 Die Profile der temporalen Kennzeichnungen und die Rahmenstruktur der ABBJ-Erzählung 127 Die Profile der lokalen Kennzeichnungen und die Abgrenzung von vier Teilszenen der Haupterzählung 129 Detaillierung und Kondensierung in der temporalen und und lokalen Reliefgebung der ABBJ-Erzählung — Der Kontrast zu II Reg 19,9^3-36^2 132 Das Inventar und die Kennzeichnungsprofile der Ereignisträger . . . . 134 Der Aufbau der Ereigniskette im Gesamtrahmen der ABBJ-Erzählung und in den vier Teilszenen der Hauptgeschichte . . . 1 3 9 Die thematische Geschichte. Planbruch und Auflösung als Brennpunkte der ABBJ-Erzählung . . . 142 Die Jerusalemszene (2.2) als dramatisches Kernstück der ABBJ-Erzählung zwischen Planbruch und Auflösung Der Aufbau der Jerusalemszene Die "Worte des Rabschake" als Redegegenstand und SchlUsselthema in der Jerusalemszene Der zweite Teil der Jerusalemszene (II Reg 19,1-7) als Kulminationspunkt der ABBJ-Erzählung

145 146 148 152

XII 3.5 3.5.1

Inhaltsverzeichnis Die Geschlossenheit der ABBJ-Erzählung und die integrale Zugehörigkeit von II Reg 18,14-16 II Reg 19,9^3-36^2 als sekundäre narrative Nachinterpretation der ABBJ-Erzählung

Kapitel IV Rekonstruktion der Erzählsituation der ABBJ-Erzählung 4.1 4.1.1 4.1.2

4.2 4.2.1

4.2.2 4.2.3

4.3 4.3.1 4.3.1.1 4.3.1.2 4.3.1.3 4.3.1.3.1 4.3.1.3.2 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.3 4.3.3.1 4.3.3.2 4.3.4

Der erzählte Ereignisverlaufder ABBJ-Erzählung und die historisch rekonstruierbare Ereignisgeschichte von 701 Die Hauptdifferenzen zwischen den erzählten und den historischen Ereignissen Die ABBJ-Erzählung als fiktive Geschichte mit "historischem" Anspruch Erzählstruktur und mögliche Erzählsituation der ABBJ-Erzählung Die Belagerung Jerusalems durch die Babylonier um 589-587 als wahrscheinliche Entstehungs- und Erzählsituation der ABBJ-Erzählung — erste Näherung Zum methodischen Problem der Korrelierung von Erzählstruktur und Erzählsituation Das Problem der literarischen Quellen zur Belagerungszeit von 589-587 Die Erzählung von der Gtfangenschafi und Befreiung Jeremias (GBJ-Erzählung) in Jer 34,7; 37,3-40,6 als historische Quelle Erzählanfang, innerer Aufbau und Erzählschluß von Jer 37ff. in Auseinandersetzung mit der Forschung Der Erzählanfang der GBJ-Erzählung Die innere Einheitlichkeit und die thematische Grundstruktur der GBJ-Erzählung Der Schluß der GBJ-Erzählung in 38,28b-40,6 Die integrale Funktion und Ursprünglichkeit von Jer 39,4-10 innerhalb der GBJ-Erzählung Jer 39,11-40,6 und der ursprüngliche Erzählschluß der GBJ-Erzählung Aufbau und Erzählstruktur der GBJ-Erzählung Die temporale Gliederung Die lokale Gliederung Die temporal-lokale Gliederung im Zusammenhang Die Konstellation der Ereignisträger in der GBJ-Erzählung Das Inventar der Ereignisträger Kennzeichnungshomogenität und redaktionelle Zusätze in 37,10 und 39,lf Die Handlungsprofile und die thematische Geschichte der GBJ-Erzählung

154 157

161

162 163 165

169

169 170 173

174 174 175 178 185 185 190 195 196 199 201 203 203 206 207

Inhaltsverzeichnis 4.3.5 4.3.5.1 4.3.5.2

4.3.5.3 4.3.5.4 4.3.6

4.3.6.1 4.3.6.2 4.3.6.3 4.3.6.4 4.3.6.4.1 4.3.6.4.2 4.3.6.4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.3.1 4.4.3.1.1 4.4.3.1.2 4.4.3.1.3 4.4.3.2 4.4.3.2.1 4.4.3.2.2 4.4.3.2.3 4.4.3.2.4 4.4.3.3

Funktion, Absicht und Erzählsituation der GBJ-Erzählung nach dem Fall Jerusalems in der Kolonie Gedaljas Die Klimax der GBJ-Erzählung (Jer 40,2-5) - ein Plädoyer für den Neuanfang im Lande unter Gedalja Das Portrait von Jeremias Gegnern und von Zidkija in der GBJ-Erzählung — Die Abrechnung mit der Vergangenheit im Blick auf die Gegner Gedaljas Die babylonfreundliche Tendenz der GBJ-Erzählung Der situative Hintergrund und die kommunikative Funktion der GBJ-Erzählung (Zusamenfassung) Fiktion und authentische Erinnerung in der GBJ-Erzählung — das literarische Verfahren der Szenenverdoppelung in Jer 37,11-38,28a (Teil 2.1) Zum Verhältnis von Erzählgestalt und authentischer Erinnerung Die erzählrhetorische Steigerungs- und Dramatisierungsfunktion der Szenenverdoppelung in Jer 37,11-38,28a (Teil 2.1) Die Szenenverdoppelung in Teil 2.1 als methodentheoretisches Problem in Auseinandersetzung mit der Forschung Fiktive Gestaltung und authentische Erinnerung in den verdoppelten Szenen in Teil 2.1 Erinnerungsgestützte Züge in Teil 2.1 und das historische Geschehen Fiktive Einzelzüge in Teil 2.1 Die Sonderstellung von Jer 38,1-6 als fiktive Szene

XIII

213 214

217 221 223

225 . . . 225 228 232 236 237 242 244

Die historischen Umrisse der Erzählsitmaion der ABBJ-Erzählungvon m 247 Zur Datierung der Katastrophe von Jerusalem um 587 247 Zur Vorgeschichte der Belagerung und Eroberung Jerusalems um 587 251 Die beiden Belagerungsphasen und die Belagerungspause von 588 . . . 257 Die historischen Umrisse der ersten Belagerungsphase 258 Die Hinweise in den Lachisch-Ostraka 258 Die Hinweise in den Büchern Ezechiel und Threni 262 Zidkijas Aufstand und die erste Belagerungsphase im Zusammenhang (Zusammenfassung) 268 Die historischen Umrisse der Belagerungspause und der zweiten Belagerungsphase 270 Die Situationshinweise in Jer 34,8-22* 271 Die Situationshinweise in Jer 32,6b-15 273 Die außenpolitische Grundsatzkontroverse über die Einschätzung des babylonischen Truppenabzugs in der Belagerungspause (Jer 37,6-9) . . . 277 Die zweite Belagerungsphase 283 Die Belagerungsphasen und die Belagerungspause von 588 (Zusammenfassung) 285

XIV Kapitel V

5.1

5.1.1 5.1.2 5.1.3

5.1.4 5.2

5.3

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4

5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.2.1 5.4.2.2 5.4.2.3 5.4.2.4 5.4.2.5

Inhaltsverzeichnis Der kompositorische Zuschnitt der ABBJ-Erzählung aufdie Belagerungspause von 588 und ihre spezifischen Identifikationsangebote für diese Erzählsituation Die thematische Geschichte der ABBJ-Erzählung als Gestaltung aus der Erfahrung?- und Problemperspektive der Belagerungspause von 588 Die Klimax und Auflösung der ABBJ-Erzählung (II Reg 19,7-9a) und die Problemkonstellation in der Belagerungspause Der Planbruch der ABBJ-Erzählung in II Reg 18,17 und die Erfahrungsperspektive von 588 (Ez 17,12ff.) Die Vorgeschichte von der vergeblichen Kapitulation Hiskijas in II Reg 18,13-16 im Lichte der Erfahrungen von 597 (Ez 17,12-14 und II Reg 24,lff.lOff.) Zusammenfassung und vorläufige Schlußfolgerungen Die Ereignisträger der ABBJ-Erzählung als Identifikationsarigebote in der Erzählsituation von 588 Die Lösung der ABBJ-Erzählung im zweiten Teil der Jerusalemszene (II Reg 19,1-7) im Vergleich zur Eröffnungsszene der GBJ-Erzählung in Jer 37,3-9 — Funktion und historischer Hintergrund Der parallele Textaufbau von II Reg 19,2-7 und Jer 37,3-9 Die unterschiedliche Akzentuierung von Fürbitteersuchen und Jahwebefragung Der gemeinsame historische Situationshintergrund von II Reg 19,2-7 und Jer 37,3-9 und seine Details Die Identifikationsangebote der Ereignisträger und die implizite Appellfunktion der Szene II Reg 19,2-7 Die Denunziation der Prophetien Ezechiels und Jeremias als feindliche Propaganda in den Rabschake-Reden Die Rolle der "Worte des Rabschake" in der Jerusalemszene und das Identifikationsangebot des assyrischen Propagandaredners . . . . Die erste Rabschake-Rede II Reg 18,19-25 Die Struktur der Kommunikationsebenen in der ersten Rabschake-Rede Die Argumentationsstruktur und Rhetorik der ersten Rabschake-Rede Der generelle Bezug der ersten Rabschake-Rede zur Erzählsituation von 588 Ezechiels Argument gegen den Pharao in Ez 29,6b.7 als Feindpropaganda in II Reg 18,21 Die Quintessenz von Jeremias Gerichtsbotschaft nach Jer 36,29 als pseudotheologische Feindpolemik in II Reg 18,25

287

288 288 291

295 299

303

307 307 309 315 318

321 321 329 330 333 336 339 346

5.4.3 5.4.3.1 5.4.3.2 5.4.3.3 5.4.3.3.1 5.4.3.3.2 5.4.3.4

5.4.3.4.1 5.4.3.4.2 5.4.4 5.4.4.1 5.4.4.2 5.4.4.3

Inhaltsverzeichnis

XV

Die zweite Rabschake-Rede II Reg 18,28*4-35 Der Aufbau der zweiten Rabschake-Rede Jeremias Warnung vor Selbsttäuschung (Jer 37,9) als Warnung aus Feindesmund (II Reg 18,29) Jeremias Ankündigung der Auslieferung "dieser Stadt" (Jer 38,3) als demoralisierende Propaganda des Feindes in II Reg 18,30 Zur Signifikanz der Diktion in Jer 38,3 Die Auslieferungsankündigung von Jer 38,3 als Wort aus der ersten Belagerungsphase Jeremias Aufruf und Rat zur Kapitulation (Jer 38,2.17f.) als feindliche Propaganda zur Demoralisierung der Bevölkerung in II Reg 18,31f. Die Ursprünglichkeit von Jer 38,2 im Kontext der Szene von Jer 38,1-6 Die Kapitulationsempfehlung von Jer 38,3 als Wort aus der ersten Belagerungsphase Die szenische Gesamtgestaltung der beiden Rabschake-Reden — Schlußfolgerungen Die Rolle des Volkes als besonders herausgehobener Adressat der zweiten Rabschakerede Die Stilisierungen der Rabschake-Reden als Botenreden des Königs von Assur und ihre Funktion Literaturgeschichdiche Konsequenzen für das Verhältnis der GBJ-Erzählung zur ABBJ-Erzählung

352 352

5.5

Der zeitgenössische Bezug und die Funktion der Kultund Götterpolemik in den Rabschake-Reden

5.5.1

Rabschakes Attacke gegen die hiskijanische (bzw. joschijanische) Kultreform in II Reg 18,22 Die Götterpolemik Rabschakes in II Reg 18,32*3-35 Der Aufbau der Polemik und ihre Bezüge zu II Reg 17,24ff Die hilflosen Götter von Hamat und Arpad (II Reg 18,34*1) und der zeitgeschichtliche Bezug Die Götter der Fremdvölker, die Samaria nicht gerettet haben (II Reg 18,34*2-*2.1), und der zeitgeschichdiche Bezug Die Funktion der Kult- und Götterpolemik Rabschakes in II Reg 18,22 und 32*3-35

5.5.2 5.5.2.1 5.5.2.2 5.5.2.3 5.5.3

Kapitel VI

Zum Trägerkreis und zur Adressatenschaft der ABBJ-Erzählung

6.1

Die Jerusalemer Beamten als Träger der ABBJ-Erzählung

6.1.1

Zu den Sammelbezeichnungen der Beamten in der ABBJ- und in der GBJ-Erzählung Die besondere Rolle der Jerusalemer Beamten in der ABBJ-Erzählung als Hinweis auf die Autor- bzw. Trägerschaft der Erzählung

6.1.2

358 361 363 366

369 372 374 379 380 384 387

392 394 399 399 403 405 406

409

409 409 414

XVI 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.2.3 6.2.2.4

6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.2.1 6.3.2.2 6.3.2.3

6.4

6.4.1 6.4.2 6.4.2.1 6.4.2.2

6.5

Inhaltsverzeichnis Die nationalreligiöse Position der Jerusalemer Beamten in der ABBJ-Erzählung Spiegelungen enttäuschter nationalreligiöser Rettungserwartungen vor dem Fall Jerusalems im Buche Threni Spuren nationalreligiöser Heilsprophetie vor dem Fall Jerusalems in II Reg 19,32f. Das Heilswort II Reg 19,32f. und sein unmittelbarer Situationsbezug Die Nachinterpretation der ABBJ-Erzählung in II Reg 19,9b-36ao als Rahmen von II Reg 19,32f Das Heilswort II Reg 19,32f. als möglicher Teil der ABBJ-Erzählung Der historische Kontext und die Funktion des Heilswortes in II Reg 19,32f. (Ergebnisse und Schlußfolgerungen) Der theologisch-politische Traditionshintergrund des Selbstportraits der Jerusalemer Beamten in der ABBJ-Erzählung Die "Walkerfeldstraße" Oes 7,3) als typologischer Ort der Glaubensentscheidung Der Hilkijade Eljakim und sein Kollege Schebna (Jes 22,15ff.) — eine gegenwartsrelevante Bezugnahme auf die Jesajaüberlieferung Der Hilkijade Eljakim nach Jes 22,20-23 als Reichsverweser in der frühen Joschijazeit Zum politischen Einfluß der Aristokratenfamilien Hilkijas und Schafans in joschijanischer und nachjoschijanischer Zeit Die Nennung von Schebna und Joach — Schlußfolgerungen aus den Bezugnahmen auf das Jesajabuch Die narrative Appellfunktion und das besondere Adressatenportrait des Königs in der ABBJ-Erzählung und im Epilog von II Reg 20,12-19* Die Appellfunktion der Jerusalemszene (II Reg 18,17-19,7) gegenüber dem König Das Adressatenportrait und die Appellfunktion des Epilogs zur ABBJ-Erzählung in II Reg 20,12-19* II Reg 20,12-19* als Epilog zur ABBJ-Erzählung Die Appellfunktion und das Adressatenportfait im Epilog von II Reg 20,12-19* Die narrative Botschaft der ABBJ-Erzählung und ihres Epilogs

Kapitel VII Zusammenfassung und Ausblicke

419 421 423 424 427 431 432

437 438 . . . 440 440 443 446

450 450 453 454 458 460

465

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abkürzungen Literaturverzeichnis Register der Namen und Sachen Register der hebräischen Ausdrücke Register der Bibelstellen

XVII 469 471 481 493 495

Kapitel I Einführung und Problemstellung Angefangen hat dieses Forschungsvorhaben vor rund fünf Jahren mit der Frage nach Anlaß und Intention der Verschriftung von Jesajas Verkündigung. Wie und warum ist es bei Jesaja dazu gekommen, daß Prophetie zur Literatur geworden ist oder - noch schärfer gefaßt - sich besonders in der sog. "Denkschrift" Jesajas 0es 6,1-8,18*) genuin literarisch geäußert hat? Das Ergebnis des Projekts hat mit seinem Ausgangspunkt auf den ersten Blick kaum noch etwas zu tun: Die Vorlage einer Analyse der Hiskija-Jesaja-Erzählungen (= HKJ-Erzählungen) in II Reg 18-20 auf ihren zeitgeschichtlichen Entstehungshintergrund und ihre situative Funktion hin. 1 Diesem Überlieferungskomplex liegt in II Reg 18,9f.* 13-19,9a.36f.* eine historische Tendenzerzählung zugrunde, die mit großer Wahrscheinlichkeit in den politisch-theologischen Auseinandersetzungen während der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier entstanden ist. Die Erschließung und Aufdeckung dieses Situationszusammenhangs war ein Abenteuer eigener Art, das sich aus grundsätzlichen Aporien der exegetischen Forschung heraus entwickelt hat. An seinem Beginn stand nicht einmal die Ahnung, daß sich die Entstehungssituation und die Funktion dieser Tendenzerzählung so überraschend genau bestimmen lassen. Im Nachzeichnen dieser Aporien sollen im folgenden die Ausgangsfragen in der Forschung beleuchtet und die Problemstellungen dieser Arbeit entwickelt werden. 1.1

Die Ausgangsfragestellungen im Horizont der Jesajaforschung

Das ursprüngliche Interesse an den HKJ-Erzählungen lag in den Berührungspunkten zwischen der Jesajaüberlieferung in Jes 1-35 und Jes 36-39 par. Die übliche Bezeichnung dieser Überlieferung als "Jesajalegenden" verkennt die Tatsache, daß nicht Jesaja, sondern Hiskija bzw. seine Minister und ihre religiös-theologisch bestimmte Politik im Erzählmittelpunkt stehen bzw. die wunderbare Rettung Jerusalems durch Jahwes Eingreifen, wobei Jesaja zweifellos eine wichtige Rolle als Gottesmittler spielt. Vgl. auch H. Wildberger (1982, 1370) und R.E. Clements (1980, 52). Im Anschluß an Wildberger sprechen wir von "Hiskija-Jesaja-Erzählungen" (= abgekürzt "HKJ-Erzählungen").

2

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

II Reg 18-20 begründet.2 Wer die sog. "Denkschrift" Jesajas als genuin jc&ri/iprophetisches Erzähldokument untersuchen will,3 wird alsbald auch mit der Frage konfrontiert, welche Beziehungen zwischen diesem Textkomplex und den HKJ-Erzählungen bestehen.4 Seit O. Kaiser in seinem neuen Kommentar (51981) diese Frage sehr provokativ beantwortet hat, sind die HKJ-Erzählungen zu einem neuen Brennpunkt des Interesses geworden. Für Kaiser stellen die HKJ-Erzählungen den namengebenden Ausgangspunkt für die Jesajaüberlieferung überhaupt dar, die als ganze erst in exilisch-nachexilischer Zeit entstanden sein soll.5 Insbesondere soll der nach Kaiser dtr. beeinflußte Erzähler von Jes 7,1-17 an der Schwelle zum 5.Jh. in Jes 7,3 auf die Walkerfeld-Szene in II Reg 18,17 zurückgegriffen haben, um Ahas, der ohne Glauben und Vertrauen war, dem frommen Hiskija und seinen Ministern antitypisch gegenüberzustellen.6 Auch wenn Kaisers These kaum haltbar ist, wie unsere Arbeit u.a. zeigen wird, 7 sind die Fragestellungen umso gewichtiger, von denen Kaiser ausgeht. Für die Näherbestimmung des historischen Ortes besonders der Ägyptenworte im Jesajabuch besteht das grundsätzliche Dilemma, "daß sich die Situationen der Jahre 703-701 und 589-587 in wesentlichen Zügen entsprachen".8 Deshalb lassen sich die Jesajaworte zur Außenpolitik und/ oder deren Überarbeitungen "angesichts der sich fast regelmäßig wiederholenden außenpolitischen Konstellationen des Landes" (31983, 4) im Spannungsfeld zwischen den Großmächten an Nil und Euphrat historisch nur mit großen Schwierigkeiten einordnen. Dieses Dilemma gilt auch für die HKJ-Erzählungen, die in der Hauptsache Judas Konflikt mit Assur und die befreiende Hilfe Ägyptens zum Gegenstand haben. Allerdings führt Kaisers methodische Forderung, "dem Propheten grundsätzlich jedes Wort abzusprechen, das auch aus einer anderen Zeit erklärt werden kann" (31983, 4), angesichts dieser historischen Problematik fast zwangsläufig zu einer radika-

2

3 4 5

6 7 8

Vgl. die Parallelen von 7,3 und D Reg 18,17 sowie Jes 9,6bß und II Reg 19,31b, aber auch die Berührungspunkte zwischen Jes 10,5ff. und II Reg 18,32bff. Vgl. ferner zu dieser Frage nach dem Verhältnis der beiden Uberlieferungen schon J. Meinhold (1898,49ff.). Vgl. dazu C. Hardmeier (1983 und 1986b, 22-24). Vgl. dazu ausführlich P.R. Ackroyd (1982,16-20). Vgl. bes. a.a.O. 19f. Zur Fragestellung und zum methodischen Problem der Authentizitätskriterien vgl. schon O. Kaiser (31983, 3f.). A.a.O. 143f„ vgl. P.R. Ackroyd, a.a.O. Vgl. auch C. Hardmeier (1986b, 16-19). So (51981, 19). Es handelt sich in vorexilischer Zeit vor allem um die Krisen von 705-701, von 600-598 und 589-587. Weitere Parallelsituationen dieser geopolitisch bedingten Konfliktkonstellation in der Perserzeit stellt Kaiser in ders. (1973) zusammen. Vgl. ferner ders. (31983, 4.225.248) und (s1981, 19f.) sowie zum Grundproblem ähnlich R.E. Clements (1980, 25).

Ausgangsfragestellungen der Jesajaforschung

1.1

3

len Spätdatierung der Jesajaüberlieferung.9 Die Frage aber nach den Kriterien der Authentizität und nach einer historisch zuverlässigen Korrelierbarkeit von alttestamentlichen Texten mit bestimmten historischen Situationen bleibt damit um so schärfer gestellt. Ja, sie richtet sich im besonderen auch an die HKJ-Erzählungen. Von einer weiteren Seite der jüngsten Jesaja-Forschung her zeigt sich ein gesteigertes Interesse an den HKJ-Erzählungen und ihrer genauen zeitgeschichtlichen Einordnung. Zunehmend werden dem Propheten Jesaja alle oder zumindest ein großer Teil der assur- und völkerkritischen Worte abgesprochen und eine indirekte Heilsverkündigung Jesajas auf dieser Ebene bestritten. 10 Auf diesem Hintergrund wird die Frage akut, wann und wie es zu einem heilsprophetisch akzentuierten Jesajabild gekommen ist. Denn nur aufgrund dieses gewandelten Prophetenbildes konnten die breit und vielfältig belegten Heilsworte im Jesajabuch zu Recht unter den Namen des pointierten Gerichtspropheten gestellt werden - angefangen bei den Texten der Assur-Redaktion nach H. Barth (1977) über Deuterojesaja bis hin zu den nachexilischen Heilserwartungen. 11 W. Werner (1982), der diese Grundfrage aufwirft (a.a.O. 12), umreißt das Problem: "Man wird die Orakel gegen Assur vielmehr der legendarischen Ausgestaltung der Tätigkeit des Propheten im Jahr 701 v.Chr. zuordnen können und in Jes 37,6f. bzw. 37,33ff. die loci classici für eine derartige Jesajatradition erblicken dürfen." 12

9

O. Kaiser münzt mit seinem methodischen Grundsatz das Postulat eines positiven Authentizitätsnachweises von W. Schottroff (1970, vgl. Kaiser, a.a.O. 294) in einen prinzipiellen Spätzeitverdacht um, der nur schwer zu kontrollieren ist. Denn über Reinterpretationen läßt sich das Frühere stets und mit Leichtigkeit im Späteren aufheben, wie nicht zuletzt die messianische Jesajarezeption im Neuen Testament zeigt. Jes 7,14 als vormatthäische Bildung aus frühchristlich-prophetischen Kreisen zu erklären (vgl. Mt l,22f.), würde Kaisers methodischer Forderung völlig gerecht. Während Kaiser in ( 3 1983, 4) noch die "Verlegenheitsauskunft" abwehrt, "daß die ganze Jesajaüberlieferung ... an die Jesajalegenden geknüpft ist", wenn man das Aberkennungsprinzip konsequent anwendet, macht er in ( 5 1981) eben diese "Verlegenheitsauskunft" zur tragenden Hypothese seines Entwurfs (vgl. bes. S.19f. und 143f.), ohne seine früheren Bedenken aufzunehmen oder gar auszuräumen. Zur Kritik an diesem Grundsatz vgl. ähnlich H. Barth (1977,272f.).

10

Vgl. dazu die Forschungsüberblicke bei R. Kilian (1983) und C. Hardmeier (1986b, 6ff.) sowie zur Typologie der Fragestellung und der Lösungsmodelle W. Dietrich (1976,107-114).

11

Vgl. auch die interessante Problemskizze bei W. Dietrich (1976, 212, Anm. 58 und 59), ferner die Überlegungen bei R.E. Clements (1980, 23).

12

A.a.O. 194. Ahnlich wie O. Kaiser vertritt auch W. Werner eine Spätdatierung der gesamten heilsprophetischen Botschaft in Jes 1-35 in die nachexilische Zeit, ohne daß sein Ansatz überzeugt (vgl. zur Kritik C. Hardmeier, 1986b, 13-16).

4

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

Unbestreitbar wird in den HKJ-Erzählungen ein heilsprophetisches Jesajabild greifbar. Eine präzise zeitgeschichtliche Einordnung dieser selbständigen Überlieferungen, für deren Existenz das DtrG. aus der Exilszeit den terminus quo ante liefert, könnte einen aussagekräftigen Überprüfungsmaßstab für die ganz unterschiedlichen Redaktionshypothesen des Jesajabuches an die Hand geben, die in der jüngsten Forschung seit H. Barth (1977) und J. Vermeylen (1977/78) diskutiert werden. Während O. Kaiser und W. Werner eine Abhängigkeit der heilsprophetischen Wortüberlieferung in Jes 1-35 von den HKJ-Erzählungen postulieren, verzichten Barth und Vermeylen, die beide mit einer spätvorexilischen Heilsprophetie in der Joschijazeit rechnen, 13 auf eine nähere Verhältnisbestimmung dieser Redaktionen zur Erzählüberlieferung.14 Damit ist in der Forschung die Frage offen, ob das Jesajabild der HKJ-Erzählungen die heilsprophetische Sicht der Assur-Redaktion voraussetzt, ob diese Erzählungen der gleichen Zeit und dem gleichen Milieu wie diese Redaktion entstammen15 oder ob O. Kaiser und W. Werner mit ihren Abhängigkeitspostulaten doch im Recht sind, die den Ursprung des heilsprophetischen Jesajabildes wesentlich in den HKJErzählungen sehen. 16 Diese jüngste Entwicklung der Jesajaforschung hat das traditionelle Bild eines mehr oder weniger unumstrittenen protojesajanischen Grundbestandes stark ins Wanken gebracht. Eine Untersuchung zu Anlaß und Intention der Verschriftung von Jesajas Verkündigung konnte an der Klärung dieser redaktionsgeschichtlichen Fragen nicht vorbeigehen. Deshalb rückte

13

Vgl. die zusammenfassende Charakterisierung bei H. Barth (1977, 265-270 und 274). J. Vermeylens Ansatz (1977/78), der mit mehreren vorexilischen Überarbeitungen rechnet (vgl. 673-692), stimmt mit Barth nur in der Einordnung von Jes 8,23aß-9,6 in die Joschijazeit überein (vgl. a.a. O. 688-692 bzw. Barth, a.a.O. 170-178).

14

Vgl. H. Barth, a.a.O. 4, Anm. 5. J. Vermeylen streift den Zusammenhang a.a.O. 704, Anm. 1. Zu unterscheiden, wenn auch nicht davon zu trennen, ist die im engeren Sinne redaktions- und kompositionsgeschichtliche Frage nach der Aufnahme der HKJ-Erzählungen in das Jesajabuch sowie nach dem Kompositionsstadium, in dem diese Aufnahme erfolgt ist, und nach ihrer Funktion (vgl. dazu v.a. O . H . Steck, 1985, 57-59 und 80 sowie P.R. Ackroyd, 1982 und R. Rendtorff, 1984). Unabhängig vom Stadium der Einarbeitung in die Jesajaüberlieferung dokumentieren die HKJ-Erzählungen ein heilsprophetisches Image Jesajas, von dem bereits frühere Stadien der Buchkomposition beeinflußt gewesen sind (vgl. bei Steck das Stadium des "unverbundene[n] Nebeneinander[s]" von Proto- und Deuterojesaja zuerst ohne [Stadium A], dann mit Jes 36-39 [Stadium B] "seit frühnachexilischer Zeit", a.a.O. 80).

15

So R.E. Clements (1980,92f. u. 95f.).

16

Sieht man von der Spätdatierung bei W. Werner und O. Kaiser ab, darf grundsätzlich auch nicht ausgeschlossen werden, daß die von H. Barth in die Joschijazeit datierte

Assur-Redaktion

ihrerseits

die HKJ-Erzählungen

bereits

voraussetzen

könnte. Vgl. zu den prinzipiell sich stellenden Fragen auch R.E. Clements (1980,15).

Kriterien der Erzähltextanalyse

1.2

5

die Frage nach den Kriterien der Authentizität von Texten im Blick auf die geplante Untersuchung der "Denkschrift" Jesajas ganz in den Mittelpunkt. Ein weiteres Problem ergab sich daraus, daß Jes 6,1-8,18* von seiner Grundstruktur her ein erzählender Text ist. Diese Offenbarungserzählung 17 ist allerdings ganz eigentümlich aufgebaut. Sie insgesamt als eine "richtige" Erzählung zu bezeichnen, würde auf Anhieb kaum jemandem in den Sinn kommen.

1.2

Die Entwicklung von Kriterien der Erzähltextanalyse und die exemplarische Untersuchung der HKJ-Erzählungen

Zur Frage nach Authentizitätskriterien gesellte sich die theoretische Frage nach der spezifischen Struktur und der kommunikativen Funktion von "Erzählungen". Die Fremdheit und die Analogielosigkeit der "Erzählung" von Jes 6,1-8,18* forderte besonders dazu heraus, sich auch allgemeintheoretisch über diesen Gegenstand Rechenschaft abzulegen, um den konkreten Textzusammenhang sachgemäß untersuchen zu können. Es stellte sich die methodentheoretische Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, um Erzählungen als integrale Ganzheit gegenstandsadäquat zu analysieren und ihre kommunikative Funktion sowie ihren situativen Bezugs- und Entstehungshintergrund zu erschließen. Diese methodische Aufgabe sollte aber nicht nur theoretisch abstrakt angegangen werden. Vielversprechender erschien der Weg, die erforderlichen Kriterien gleichzeitig in der Durchführung einer exemplarischen Textanalyse zu entwickeln und zu erproben. Im Sinne einer methodischen Propädeutik wurde deshalb die Analyse der HKJ-Erzählungen in Angriff genommen. Dabei handelt es sich nicht nur um "richtige" Erzählungen im Sinne eines Normalobjekts. Die Wahl dieses Erzählkorpus hat sich - wie skizziert - auch von der Problemlage der Jesajaforschung her besonders nahegelegt. Drei wesentliche Erwartungen haben sich an dieses Vorhaben geknüpft. Genauere allgemeine und theoretische Kenntnisse über das Funktionieren von Erzählkommunikation, die sich im Produzieren und Rezipieren von Erzähltexten vollzieht, geben am sachgemäßesten Aufschluß auch über das Mittel "Erzähltext" selbst, das in dieser Erzählkommunikation erzeugt worden ist. Was ein Erzähltext ist und wie er semantisch und ausdrucksformal strukturiert sein muß, kann am besten aus den Erfordernissen der Erzählkommunikation selbst hergeleitet werden. Im Blick auf die HKJ-Erzählungen sollten auf diesem Wege Kriterien für die Einheitlichkeit, für den inneren Aufbau sowie für Anfang und Ende von Teilerzählungen in diesem

17

Vgl. C. Hardmeier (1983,124ff.).

6

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

Überlieferungskomplex mit dem Ziel entwickelt werden, primär die Ganzheitlichkeit von Erzähltexteinheiten ins Auge zu fassen und diese positiv zu begründen. Diese Zielsetzung ist vorurteilskritisch ausgerichtet. Sie will der Gefahr begegnen, durch forschungsgeschichtlich bedingte, heteronome oder unsachgemäße Ad-hoc-Argumente Textstrukturen auseinanderzureißen, bevor sie auf ihre Ganzheitlichkeit hin überprüft worden sind. Auf dem Hintergrund von allgemeinen Kriterien der Erzähltextstruktur lassen sich zudem im Blick auf die Gattungsfrage bestimmte Typen bzw. besondere Eigenarten von konkreten Erzählungen besser beschreiben und miteinander vergleichen. Die zweite Erwartung hing damit zusammen: Analysekriterien, die an den Bedingungen und Erfordernissen der Erzählkommunikation gewonnen werden, sind besonders dazu geeignet, die kommunikative Funktion und die Situationsbezogenheit von Erzähltexten erschließbar zu machen. Wer im Interesse an der Authentizität von (Erzähl-)Texten vorrangig nach dem situativen Hintergrund ihrer Entstehung und nach ihrem primären Gebrauchszusammenhang fragt, findet den geeignetsten theoretischen Rahmen für seine Textbeobachtungen in einer kommunikations- und prozeßorientierten Erzählforschung. Sie begreift Erzähltexte primär als Produkte von pragmatisch-situativ verankerten Kommunikationsvorgängen und reflektiert deshalb in bevorzugter Weise dieses Vermittlungsverhältnis von Situation und Erzähltextstruktur. Eine dritte Erwartung hat sich auf das Textmaterial bezogen. Bei den HKJ-Erzählungen sind wir davon ausgegangen, daß sie vor ihrer Einarbeitung in die literarische Großkomposition des DtrG. als schriftlich konzipierte Erzählungen zunächst eine ganz aktuelle Funktion gehabt haben, die primär in den politisch-theologischen Auseinandersetzungen ihrer Entstehungszeit begründet lag. In der Textanalyse nach den entwickelten Kriterien war diese Annahme zu überprüfen. Sie hat in der Sache in einer Weise zu konkreten Ergebnissen geführt, die alle Erwartungen übertroffen haben. Damit hat sich aber zugleich auch die Tauglichkeit, die Fruchtbarkeit und der heuristische Wert des entwickelten erzählanalytischen Verfahrens bestätigt. In diesen Erwartungen lag auch die Wahl des erzähltheoretischen Ansatzes begründet, auf den sich unsere Gewinnung von Analysekriterien stützt. Es ist dies ein junger Zweig der linguistischen Erzählforschung, der sich vorrangig empirisch mit verschiedenen Formen von mündlichem Erzählen im Alltag beschäftigt, um aus den pragmatischen Bedingungen und Erfordernissen alltäglicher Erzählkommunikation u.a. zu einer Theorie des Erzählens und der Erzähltexte vorzustoßen. Diese neue Forschungsrichtung ist für die Bibelwissenschaften besonders attraktiv. Denn sie ist "based on an interaction-oriented, discourse-linguistic approach" und legt den Schwerpunkt des Interesses "not only in the narrative as a finished product but above all in narration as an interactive process". In den Blick genommen

Kriterien der Erzähl textanalyse

1.2

7

wird "both the formal aspects of narrative ... and the question of processing, i.e. whether and to what extent 'reality' is transformed as a result of narration", wie zwei Hauptrepräsentantinnen dieser Forschungsrichtung in der Bundesrepublik, E. Gülich und U.M. Quasthoff (1986b, 218) ihren Ansatz umschreiben. Da in der alt- und neutestamentlichen Exegese der Text als Datum und Ausgangspunkt der Forschung zwangsläufig eine zentrale Rolle spielt, ist die Textorientiertheit dieses Ansatzes neben seiner Kommunikationsorientiertheit von besonderer Bedeutung. Entsprechend ihrer empirischen Ausrichtung auf "Erzählen im Alltag" 18 bzw. "Erzählen in Gesprächen" 19 steht diese Forschung z.T. im Kontrast zu etablierten Richtungen der Erzählforschung in den Literatur- und Geschichtswissenschaften.20 Grundsätzlicher Natur sind die Differenzen zu allen strukturalistisch bzw. semiotisch orientierten Ansätzen der Narrativik. Diese vom französischen Strukturalismus inspirierte Erzählforschung 21 faßt den Erzähltext als statisches Objekt auf und ist vor allem an abstrakten semantischen Strukturen interessiert, die sich u.a. in erzählten Geschichten manifestieren, ohne daß die konkrete Sprachgestalt einer Erzählung und das Wie der erzählerischen Präsentation einer Geschichte eine Rolle spielen. Ebensowenig interessieren Entstehungssituation im einzelnen und der konkrete Kommunikationshintergrund einer Erzählung. 22 Diese nur sehr plakative Einordnung der noch jungen empirisch-linguistischen Erzählforschung in das weite Feld der Narrativik genügt, um eine Ortsbestimmung unseres Versuchs vorzunehmen, diesen Forschungszweig für die biblische Exegese fruchtbar zu machen. In zweifacher Hinsicht wird hier weitgehend Neuland betreten. — Zum einen gibt es m.W. noch keine Übertragungen dieses spezifischen Ansatzes auf die Analyse literarischer Texte im Bereich der Literaturwissenschaften, an die wir hier anknüpfen könnten. Um so wichtiger wird es sein,

18

So der Titel von K. Ehlich (Hg.) 1980.

19

Vgl. den Titel von U.M. Quasthoff (1980).

20

Vgl. den repräsentativen Band "Erzählforschung", E. Lämmert (Hg.) 1982 sowie W. Haubrichs (Hg.) 1976,1977 und 1978.

21 22

Vgl. dazu R. Baum (1977, 2lff.). Vgl. dazu die eingehende Kritik und die prinzipielle Abgrenzung zur strukturalistischen Erzählforschung von W . Kallmeyer/ F. Schütze (1977, 165). Die Vernachlässigung der Sprachgestalt bzw. der Textoberflächenstruktur sowie des Kommunikationszusammenhangs teilt der generative Ansatz der Erzählforschung (v.a. T.A. van Dijk), der sich an das Konzept der generativen Transformationsgrammatik anschließt, mit dem Strukturalismus (vgl. zu dieser Abgrenzung E. Gülich/ U.M. Quasthoff, 1985,173f.). Zur Charakterisierung der verschiedenen Forschungsrichtungen vgl. R. Baum (1977), zur Entwicklung einer pragmatisch orientierten Literaturwissenschaft in Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Richtungen der Narrativik ferner P. Bange (1986).

8

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

in Kap. 2 die notwendigen Modifikationen zu bedenken, die eine solche Übertragung erforderlich macht. Die Kritik von W.-D. Stempel (1986, 204206) an einem eigenen Modellversuch wird zu berücksichtigen sein. 23 — Zum zweiten können wir uns deshalb auch innerhalb der bibelwissenschaftlichen Aufnahmen von neueren Ansätzen der Narrativik kaum an Vorläufer anschließen. Darum braucht hier auch die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Rezeptionen - vor allem der strukturalistischen Erzählforschung - in der Exegese nicht im einzelnen geführt werden. 24

1.3

Die Aporien der Erforschung der HKJ-Erzählungen

Seit den Anfängen der historisch-literarkritischen Erforschung der HKJErzählungen, die durch die Arbeiten von B. Stade (1886) und J. Meinhold (1898) geprägt worden ist, bewegt sich die Forschungsdiskussion im Paradigma von zwei geradezu axiomatischen Fragestellungen und Betrachtungsweisen. Zum einen war und ist die Forschung auf die Frage nach der historischen Glaubwürdigkeit der HKJ-Erzählungen fixiert geblieben. Zum andern handelt es sich um eine quellentheoretische Betrachtungsweise, die in II Reg 18,13-19,37 von einem heterogenen Textbestand ausgeht. Zumeist wird die primär literarkritische Fragestellung mit der historischen Frage nach glaubwürdigen Informationen unentwirrbar und unreflektiert vermengt. Beide Blickrichtungen haben jedoch den Zugang zum Sinn und zur Funktion dieser Erzählungen wesentlich verstellt, was im folgenden in exemplarischer Auseinandersetzung mit der Forschung aufgezeigt werden soll.

1.3.1

Die historische Fragestellung nach der Glaubwürdigkeit geschichtlichen Uberlieferung in den HKJ-Erzählungen

der

Seit der Entdeckung und Erstübersetzung der Sanherib-Annalen vor gut 100 Jahren hat sich das Forschungsinteresse an den HKJ-Erzählungen vor allem darauf konzentriert, die politischen Ereignisse von 701 anhand der biblischen Quellen (Wort- und Erzählüberlieferung im Jesajabuch bzw. par. II Reg 18,13-20,19) im Vergleich mit den assyrischen Nachrichten möglichst genau zu rekonstruieren. 25 Dabei ging es im Prinzip immer um die Frage,

23

24

25

Vgl. den zur Diskussion gestellten Versuch an Am 7,10-17 bei C. Hardmeier (1985 und 1986a). Vgl. die Überblicke bei R.C. Culley (1985) und H.D. Preuß (1982c) sowie die grundsätzlichen Anfragen bei M. Sternberg (1985, lff.), der in die gleiche Richtung einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse vorstößt wie diese Arbeit. Vgl. R.E. Clements (1980, 9). Zu den Quellen vgl. TUAT I, 388-391 und dort die

Aporien der Erforschung

1.3.1

9

welchen Teilen der HKJ-Erzählungen in welchem Umfang ein historisch zuverlässiges Bild von den Ereignissen der assyrischen Bedrohung Jerusalems entnommen werden kann. Weil hier der Frageansatz selbst zur Debatte steht und nicht die verschiedenen Antworten, die in seinem Rahmen versucht worden sind, genügt es, summarisch die Hauptlösungstypen dieser historischen Fragestellung kurz darzustellen. Für die ausführliche Diskussion dieser Lösungen und ihre immanente Kritik ist auf B.S. Childs (1967, 12-18), W. Dietrich (1976, 101-106), R.E. Clements (1980) und R. Liwak (1986) zu verweisen. Der erste, in der älteren Forschung und im angelsächsischen Raum vieldiskutierte Lösungsansatz geht davon aus, daß die drei bzw. zwei Quellen (A, B1 und B2, bzw. A und B) zwei verschiedene Ereignisse bezeugen. 2 6 Dabei ist die Zwei-Kampagnen-Theorie vom Erklärungsansatz zu unterscheiden, wonach Sanherib nach plötzlichem Sinneswandel trotz Unterwerfung und Tributzahlung Hiskijas (Quelle A, II Reg 18,14-16) noch im Jahre 701 Jerusalem belagert und einzunehmen versucht hat (Quelle B, II 18,17-19,37). Dagegen rechnet die erste Theorie mit einer zweiten Kampagne Sanheribs gegen Jerusalem um 690 (Quelle B) und sieht in der Quelle A die Ereignisse von 701 bezeugt. Gegen beide Varianten dieses Lösungsansatzes erheben sich so viele historische Einwände, daß dieser Ansatz in der neueren Forschung einhellig abgelehnt wird. 2 7 Der zweite Lösungsansatz, der in der heutigen Forschung zur communis opinio geworden ist, geht von der historischen Zuverlässigkeit der als Annalennotiz verstandenen Quelle A aus und sieht in den Quellen B1 (II 18,17-19,9a.36f.) und B2 (l9,9b-35) spätere legendäre Bezeugungen ein und desselben Ereigniszusammenhangs von 701. Unterschiede bestehen im einzelnen nur in der Frage, ob und wieweit man insbesondere der Quelle B1 noch historisch zuverlässige Einzelnachrichten bzw. Erinnerungen entnehmen kann. Diese "Quelle" blickt zwar bereits auf die Ermordung Sanheribs um 681 zurück (vgl. 19,37) und betrachtet die Ereignisse von 701 aus einer mindestens zwanzigjährigen Distanz. Dennoch steht sie nach fast einhelliger Auffassung diesen Ereignissen noch nahe genug, so daß man

Dokumentation der Fundorte, Textausgaben und Übersetzungen. Bereits Meinhold hat dieses bis heute dominante Fragenparadigma eingeleitet (vgl. 1898, 3f.); vgl. dazu die beiden jüngsten Monographien von B.S. Childs (1967, bes. 11-19) und R . E . Clements (1980, 9ff.), ferner die Sichtung der ganzen Diskussion bei R. Liwak (1986) sowie die posthume Veröffentlichung von E. Vogt (1986). Zur Aufteilung in "Quellen" vgl. unten 1.3.2. Zur Zwei-Kampagnen-Theorie, ihren Vertretern, ihrer Kritik und Widerlegung vgl. B.S. Childs (1967, 15-17), W . Dietrich (1976, 103) und R.E. Clements (1980, 14f.22); zur Theorie vom Sinneswandel Sanheribs entsprechend Childs, a.a.O. 12-14, Dietrich, a.a.O. 102f. und Clements, a.a.O. 14 und 22. Beide Theorien werden weder bei O . Kaiser ( 3 1983, 297f.) noch bei H . Wildberger (1982, 1375f.l393-1396) oder R . Liwak (1986) weiter diskutiert (vgl. einzig den kurzen Hinweis bei Liwak, a.a.O. 148).

10

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

in Einzelteilen mit historisch glaubwürdiger Erinnerung oder gar authentischem Textmaterial zu rechnen geneigt ist. 28 Während H. Wildberger mit einem hohen Anteil an historisch authentischem Material rechnet, 29 betont O. Kaiser die historische Distanz. Nach einem literarkritisch fragwürdigen Kriterium scheidet Kaiser alle "theologisierenden Aussagen" (a.a.O. 304, vgl. 302) aus dem Textkomplex als späte nachexilische Reflexion aus, um damit eine ursprüngliche "untheologische" (vgl. 302) Grunderzählung herauszufiltern, die "noch eine gewisse, wenn auch bereits verschwimmende Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 701 und der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts voraussetzt)" (305) und "mindestens in ihrer mündlichen Gestalt noch in spätvorexilischer Zeit wurzeln" soll (a.a.O.). 30 R. Liwak(1986) diskutiert diese Lösungen (a.a.O. 147ff.), beschränkt sich aber im Prinzip auch nur darauf, für verschiedene Einzelzüge der Erzählungen unterschiedliche Grade von historischer Glaubwürdigkeit festzustellen. Selbst B.S. Childs rechnet mit historisch zuverlässigen Reminiszenzen insbesondere in Quelle B1 (a.a.O. 82f. und passim), ohne aber zum Messer literarkritischer Vivisektion zu greifen. Childs arbeitet einerseits "a large layer of the material which reflects ancient tradition with a genuinely historical setting" heraus und zeigt andererseits, "that newer elements have entered into the account(sc. later theological reflection on the tradition, a.a.O. 85) and have been formed into a unified (Hervorh. v. mir) story which bears the stamp of the Dtr. author" (93). Wie sehr B.S. Childs die jüngste Diskussion grundlegend bestimmt, zeigt sich zum einen an H. Wildbergers Behandlung der Rabschake-Reden. Im Anschluß an Childs schließt er für die Form der Rabschake-Reden aufgrund der Strukturverwandtschaft mit der in den Nimrud-Briefen bezeugten diplomatischen Aktion von Tiglatpileser III gegen Babylon31 auf eine historisch glaubwürdige Tradition (vgl. oben Anm. 29). Zum andern wird Childs' Einfluß auf O. Kaiser daran deutlich, daß Kaiser mit der gleichen Unterscheidung von historischer Tradition und ihrer theologischen Reflexion wie Childs arbeitet. Allerdings bedeutet es bei Wildberger wie bei Kaiser einen gravierenden Rückschritt, die "historischen" Elemente auch auf der Textebene "literarkritisch" von Späterem zusätzlich

Vgl. dazu B.S. Childs, a.a.O. 14f. und dort die Anfragen an diesen Lösungsansatz: 1. "how the tradition of Jerusalem's deliverance (18,17ff.), could have been sustained in the face of an abject defeat" (15)? 2. Wenn man auch in B1 genuin historisches Material vermutet, "then unexpressed motivations must be supplied to link the stories together." (a.a.O.) 3. weist Childs (a.a.O.) auf erhebliche Spannungen zwischen der Darstellungsperspektive in den Sanherib-Annalen und den Nachrichten der Quelle A hin; vgl. ähnlich W. Dietrich, a.a.O. 104f., ferner R.E. Clements, a.a.O. 14.20f.53 und 62 (vgl. 91). Vgl. a.a.O. 1385-1393 und dort den Versuch, aus der Rede des Rabschake einen historischen Kern herauszuarbeiten (ausführlicher begründet in ders., 1979b). Warum alle theologische Reflexion "spät" sein soll und aus welchen Tradierungsbedürfnissen sich eine untheologisch-historische Grunderzählung, wie sie O. Kaiser rekonstruiert (a.a.O. 302-305), in der mündlichen Erzähltradition gehalten haben soll, bleibt ohne Erklärung. Die Unterscheidung von theologischen und untheologischen Teilen übernimmt Kaiser von B.S. Childs (vgl. dazu das Folgende). Vgl. Childs, a.a.O. 79-82, der von "diplomatic disputation" spricht.

Aporien der Erforschung

1.3.1

11

scheiden zu wollen unter Zerstörung der ganzheitlichen Textstruktur, ohne für eine solche Scheidung andere als eben diese inhaltlich "historischen" Kriterien zu haben. Das auch sonst in der deutschen alttestamentlichen Forschung zu einer zweifelhaften Renaissance erwachte reduktionistische Erklärungsmodell der alten Literarkritik erweist sich hier besonders als fruchtlose und irreführende Verkleidung eines Sachverhalts, den Childs unter Wahrung der Textintegrität sehr viel einleuchtender zu erklären vermag: "The Dtr.redactor of II Kings 19 not only stood within a circle of tradition, but he made creative use of them to illustrate his own theology of history. Once again the author fused older and newer elements into a whole" (a.a.O. 93). - Auch die Monographie von R.E. Clements (1980) stützt sich ausdrücklich auf die Analyse von Childs (vgl. a.a.O. 53ff.), ohne neue exegetische Einzelerkenntnisse beizusteuern.

Es ist das Verdienst von B.S. Childs, die Aporien in ihrer methodischen Grundsätzlichkeit aufgezeigt zu haben, in die sich die unmittelbar an historischen Einzelnachrichten interessierte Forschung ein ganzes Jahrhundert lang fruchtlos verirrt hat (vgl. bes. a.a.O. 11-18). Sein Fazit lautet: "it seems unlikely that a satisfactory historical solution will be forthcoming without fresh extra-biblical evidence" (120). Aufgrund dieses Negativergebnisses muß die Forschung nach Childs zuerst die folgenschwer vernachlässigte VorAufgabe in Angriff nehmen, to "clarify the exact nature of the sources which have been used for a historical reconstruction".32 Childs' eigenes Ziel ist es, auf dem Wege einer formkritischen Analyse ("form critical study") aller auf die Ereignisse von 701 bezogenen biblischen Texte eine Urteilsbasis zu gewinnen "for understanding the development of Israel's traditions from the early oral stages, through written formulation, to its final incorporation into larger historical works" (a.a.O. 19). Darin folgt ihm konsequent R.E. Clements, a.a.O. 11 und 17ff. Zu Recht betont Childs, "that the problem in the history of tradition is distinct from the problem of determining historicity". Deshalb warnt er davor, "to understand these texts exclusively from an historical point of view". Denn "this predominant historical interest has obscured the understanding of the manner in which the texts themselves really function" (a.a.O. 121). Somit muß zuerst ein Verständnis erarbeitet werden, "of how Israel's traditions regarding the events developed" (19).

Damit hat B.S. Childs die literaturgeschichtliche Frage im weitesten Sinne nach der Art der Quellen, nach der in ihnen zur Sprache kommenden Sicht der erzählten Ereignisse sowie nach den Traditionen solcher Sichtweisen in der biblischen Uberlieferung, kurzum die Frage, "in which (manner) the texts themselves really function" (a.a.O. 121), in der ganzen Tragweite ihrer methodischen Grundsätzlichkeit der Frage nach der Historizität von Einzelnachrichten vorgeordnet, die diese Quellen enthalten. Denn nur auf dem Hintergrund der Beurteilung einer Quelle als ganzer ist der Indizwert bzw. die Glaubwürdigkeit von darin enthaltenen Einzelnachrichten für die

32

A.a.O. 18, vgl. R.E. Clements (1980,11 und 17ff.).

12

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

Rekonstruktion historischer Ereignis- und Sozialzusammenhänge angemessen zu beurteilen. 33 Childs liegt mit diesem unverzichtbaren methodischen Postulat auf der gleichen Linie wie P.R. Ackroyd (1968b), der die Grundsatzfrage, die hinter diesem Postulat steht, in den folgenden Zitaten auf den Punkt gebracht hat: "The attempt to get back to the original form of a narrative, or to get back to the tpsissima verba of a prophet, or the original sequence of events ... does not automatically supply us with a more authentic or more intelligible or more correct assessment of what the events were or what the words meant" (a.a.O. 21). Ackroyd warnt vor einer doppelten Gefahr: "On the one hand, we have to guard against the insidious dangers of harmonisation and simplification. On the other hand, we have to recognize that the more ancient is not necessarily the more true. The truth about an event or about a person is discoverable only as a result of a much more complex process of investigation of the materials available to us. It involves a careful examination of what they are, and a judicious assessment of what they mean. The event or the person which we are seeking to elucidate stands behind the materials which we have" (2lf.).

Die ganze Forschung, die die Ereignisse von 701 anhand der HKJ-Erzählungen zu rekonstruieren bemüht war oder sich mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit und der Authentizität von Einzelzügen bzw. von textlichen Einzelteilen dieser Uberlieferung abgemüht hat, hätte sich den Schweiß dieser Mühen sparen können, wenn sie die methodischen Überlegungen von B.S. Childs und P.R. Ackroyd selber angestellt oder in ihrer Tragweite zur Kenntnis genommen hätte. Insbesondere alle - bis in jüngster Zeit - diskutierten Vorschläge, den Textzusammenhang der HKJ-Erzählungen nach Kriterien der historischen Zuverlässigkeit oder Unglaubwürdigkeit der darin enthaltenen Nachrichten auch noch literarkritisch zu sezieren, ohne zuvor einen Gedanken auf die Frage nach der Ganzheit und nach der Art der Erzählüberlieferung selbst zu verschwenden, kranken an ihren eigenen methodisch unreflektierten Voraussetzungen. Deshalb ist die methodentheoretische Reflexion für den Erkenntnisfortschritt und für die Zielsetzung von historisch-exegetischen Untersuchungen von sehr viel zentralerer Bedeutung, als dies weithin angenommen wird. Da aber auch B.S. Childs und R.E. Clements auf halbem Wege hinter ihren methodischen Ansprüchen zurückbleiben, ist das zweite Paradigma einer unzureichend reflektierten Betrachtungsweise zu beleuchten.

Vgl. dazu auch die in die gleiche Richtung zielende Unterscheidung der "synchronen" und "diachronen" Fragestellung in der Exegese bei E. Blum (1980).

Aporien der Erforschung

1.3.2

1.3.2

13

Die Probleme der quellentheoretischen Betrachtungsweise

Ein zweiter, bis heute im Prinzip unangefochtener Ausgangspunkt der Forschung an den HKJ-Erzählungen ist von B. Stade (1886) begründet worden: die literarkritische Aufteilung des Textkomplexes von II Reg 18,1319,37 in zwei bzw. drei "Quellen": 34 — 1. das Stück II Reg 18,13*-16 (Quelle A), das meist als historisch zuverlässige Annalennotiz interpretiert wird und in der Parallelüberlieferung Jes 36 fehlt, — 2. die Erzählung 18,17-19,9a.36f. (Quelle Bl), die nach einhelliger Auffassung zumindest in Teilen historisch authentische Züge trägt und — 3. die stark legendäre Parallelüberlieferung 19,9b-35 (Quelle B2) mit geringem historischem Quellenwert, in die das Stück 19,21-31 eingearbeitet ist. 35 Weil wir auch in dieser zweiten Hinsicht, was die Textgliederung und -abgrenzung in II Reg 18-20 betrifft, andere Wege gehen werden, 36 die diese klassische communis opinio nicht zum Ausgangspunkt nehmen, kann hier auf die Darstellung und Diskussion der diesem Betrachtungsmodell immanenten Probleme verzichtet werden. Sie werden ebenso im Zusammenhang unserer Klärung von Kontext und Aufbau der HKJ-Erzählungen zu diskutieren sein, wie die redaktionsgeschichtliche Konzeption von E. Würthwein (vgl. oben Anm. 35). Für die Kritik der quellentheoretischen Betrachtungsweise und für die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, genügt die exemplarische Auseinandersetzung mit B.S. Childs und R.E. Clements,

34

Zur Diskussion und zu den Modifikationen von B. Stades Ansatz vgl. B.S. Childs (1967, 69-76), ferner H. Wildberger (1982, 1374-1377) und zuletzt die Hinweise bei R. Liwak (1986, 147f.).

35

Die Darstellung folgt hier den Ergebnissen von B.S. Childs, a.a.O. 69ff.; vgl. etwas anders O . Kaiser ( 3 1983, 298f.). Daneben stehen die jüngsten Textaufteilungen a) von E. Würthwein (1984, 404ff. und 413ff.), der von der Theorie einer mehrfachen dtr. Redaktion des DtrG. nach dem Ansatz von R. Smend und seinen Nachfolgern inspiriert ist (vgl. a.a.O. 485ff. und zur Auseinandersetzung unten 3.1.2), sowie b) von M. Hutter (1982a), der II Reg 18,17-19,14 als Texteinheit betrachtet und sich für seine Abgrenzung im wesentlichen an den P e tuchot und S e tumot sowie an gewissen - nach seiner Meinung textstrukturierenden - Leitwörtern orientiert (vgl. den Bericht über seine Arbeit, 1982b, 24f.). Unsere Klärung des Aufbaus von II Reg 18,9f.*13-19,37* wird zeigen, daß Hutters Textabgrenzung, die "die Einheitlichkeit des Textes zumindest bis 2Kön 19,14 hervorheben (möchte)" (a.a.O. 24), arbiträr und ohne textgemäße Grundlage ist. Bei Hutter springt die naive Korrelierung von vermutetem historischem Ereignisverlauf und Textabgrenzung besonders in die Augen. Sie fällt weit hinter das methodische Postulat von B.S. Childs und P.R. Ackroyd (vgl. oben) zurück. Deshalb verzichten wir auf eine weitere Auseinandersetzung.

36

Vgl. unten Kap. 3.

14

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

gerade weil beide F o r s c h e r b e t o n e n , daß die literarische F r a g e n a c h A r t u n d C h a r a k t e r der Q u e l l e n t e x t e v o r r a n g i g u n d für sich gestellt w e r d e n m u ß , u m ggf. die historische Zuverlässigkeit u n d Glaubwürdigkeit der darin enthaltenen N a c h r i c h t e n beurteilen zu k ö n n e n . Im Anschluß an B.S. Childs stellt sich R.E. Clements (1980) die Aufgabe, "to understand the literary origin of the Isaiah narrative of 2 Kings 18:17-19:37, and to evaluate it, not simply from the point of view of its factual veracity, but from the point of view of its theological ideas and its source of origin" (11). Dabei konzentriert sich Clements auf die Quelle B. In ihr sieht er "a piece of 'narrative theology', rather than a historical narrative proper" which "has clearly been woven together from two roughly parallel accounts (usually termed B1 and B2)" (21). In seinem Ergebnis beurteilt Clements die Quelle B1 als "story which has been strongly oriented in a particular theological manner, but which does not seriously depart from the facts of what happened in the important year" (56). Die theologischen Hauptlinien kommen nach Clements vor allem in B2 zum Tragen (vgl. 56-61), so daß er die Quelle B insgesamt als "story of Jerusalem's deliverance" charakterisiert (93) mit der spezifisch theologischen Bedeutung, that "God had defended his own reputation and honour in protecting Jerusalem, and he had displayed the unique importance which he attached to the dynasty of David". 37 S o w o h l R . E . C l e m e n t s als auch B.S. Childs bleiben jedoch hinter i h r e m eigenen m e t h o d i s c h e n A n s p r u c h auf halbem W e g e z u r ü c k . 3 8 Z u m einen gehen beide - z w a r leicht modifiziert, i m wesentlichen aber u n h i n t e r f r a g t 3 9 - v o n der Q u e l l e n s c h e i d u n g in II R e g 1 8 , 1 3 - 1 9 , 3 7 aus, wie sie B. Stade ( 1 8 8 6 ) s c h o n v o r h u n d e r t J a h r e n begründet hat. N u n wird niemand an den v o n Stade gemachten T e x t b e o b a c h t u n g e n v o r b e i k o m m e n . D e n n o c h verstellt das quellentheoretische E r k l ä r u n g s m o d e l l v o n v o r n h e r e i n den Blick für Fragen, die z u r E r s c h l i e ß u n g der literarischen Eigenart der Textüberlieferung allererst gestellt u n d geklärt w e r d e n müssen. E s geht dabei z . B . u m die K l ä r u n g der literatur- u n d auslegungsgeschichtlichen Beziehung v o n T e x t t e i l e n zueinander, die sich in sprachlich-stilistischer Hinsicht oder zusätzlich auch v o n der e r z ä h l t e x t i m m a n e n t e n S t r u k t u r her als heterogene Teile erweisen. Selbst wenn der schon von B. Stade (1886) als "bekannt" vorausgesetzte "Einschub" in 18,14-16 "aus einer anderen und zwar aus einer sehr guten und alten Quelle" (172) stammen sollte, müßte eine ganzheitliche Erzähltextinterpretation vorrangig den Stellenwert prüfen,

37

A.a.O. 62f., vgl. 93f. Zur Zuordnung von II 18,13-19,37 zur Assur-Redaktion der Joschijazeit vgl. a.a.O. 61f.92f.95ff. und oben Anm. 13.

38

Zu B.S. Childs vgl. oben 1.3.1. Clements hebt in Abgrenzung zu einer rein historischen Interpretation und Bewertung von Erzählungen folgendes hervor: "In a very fundamental way ... they present an insight into the way in which men viewed their historical experience and regarded those religious and political institutions which affected their lives and determined their destiny" (a.a.O. 18). Vgl. Childs, a.a.O. 69-76.

39

Aporien der Erforschung

1.3.2

15

den dieser Einschub in der Logik der erzählten Ereignisse und, davon abgeleitet, in der Ereignisperspektive des Autors hat, unabhängig davon, daß er sich mit dem historisch rekonstruierbaren Ereignisablauf gerade nicht zur Deckung bringen läßt. 40 Aber auch die Betrachtung des Erzählteils B2 als eigenständige Quelle und Parallelüberlieferung verstellt von vornherein den Blick für die ernsthaft zu prüfende Möglichkeit, daß B2 eine von B1 abhängige und korrigierend auf sie bezogene Nachinterpretation darstellen könnte, die nie selbständig existiert hat. 41 E i n Z w e i t e s k o m m t hinzu: B.S. Childs stellt z w a r den auffallend h o h e n Anteil

an direkten

Reden

gegenüber

den narrativen Teilen f e s t 4 2

und

bestimmt die besonders breit entfalteten Rabschake-Reden als Gattungsexemplare der "diplomatic disputation" (79-82). F ü r seine an theologischen T r a d i t i o n e n interessierte G e s a m t i n t e r p r e t a t i o n (vgl. a . a . O . 19) spielt dieses augenfällige E r z ä h l s c h w e r g e w i c h t jedoch praktisch keine Rolle. E s w i r d als "historische T r a d i t i o n " v e r b u c h t , die als vorhandenes Material theologisch reflektiert w i r d . 4 3 N o c h e x t r e m e r zeigt sich diese T e n d e n z bei R . E . Clements. E r erhebt faktisch die " Q u e l l e " B 2 z u m Interpretationsschlüssel der ganzen B - E r z ä h l u n g ( a . a . O . 5 6 - 6 3 ) u n d erklärt die Befreiung Jerusalems v o n der assyrischen B e d r o h u n g z u m Z e n t r a l t h e m a (vgl. 62f. u n d 93), o b s c h o n dieses T h e m a v o r allem in B l , aber auch in B 2 als solches n u r knapp anklingt.

40

Handelt es sich dabei um ein altes Annalenstück, so ist z.B. auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß diese "Quelle" von Anfang an dem Erzähler als Material gedient hat, das er in seine Ereignisperspektive integriert hat. Sonst muß angenommen werden, daß Spätere diese Notiz nachgetragen haben. Beides bedarf der literaturgeschichtlichen Klärung und der textphänomenologischen Begründung. Die quellentheoretische Betrachtung überspringt jedoch diese Fragen.

41

Obschon B.S. Childs im Vergleich der "Quellen" B l und B2 die geradezu systematische Akzentverschiebung in B2 gegenüber B l klar herausarbeitet (a.a.O. 98), verwirft er anschließend die Möglichkeit, daß B2 direkt von B l Gebrauch gemacht haben könnte. Mit der Zurückführung auf eine gemeinsame mündliche Tradition beider "Quellen" (a.a.O. 103) will Childs die gleichartige Struktur beider Teile erklären und schließt eine literarische Abhängigkeit aufgrund von "many non-tendentious variations" aus (a.a.O.). Allerdings unternimmt Childs gar nicht erst den Versuch, die festgestellten Akzentverschiebungen in B2 daraufhin zu befragen, ob sie nicht Ausdruck einer gezielten Nachinterpretation sein könnten. - Auch O. Kaiser ( 3 1983) erwägt die Möglichkeit, "daß die zweite Erzählung die erste überhaupt voraussetzt" (301), zumal die quellentheoretische Erklärung nicht um die petitio principii herumkommt, "that the narrative introduction (sc. of B2) has been greatly reduced by the combination of sources" (B.S. Childs, a.a.O. 96), und auch andere Schwierigkeiten dieses Erklärungsmodell in Frage stellen (vgl. Childs, 74-76). - Die Verhältnisbestimmung der beiden "Quellen" bei R.E. Clements (a.a.O. 58f.) ist reine Konstruktion.

42

23 von 32,5 Versen, a.a.O. 78.

43

A.a.O. 85 und 93, vgl. bes. 122f.

16

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

Es ist Clements zwar darin Recht zu geben, daß dies das Basisthema beider Erzählteile, wenn auch explizit vor allem des zweiten Teils (B2) ist und den Rahmen der Gesamterzählung bestimmt. Doch kann man deshalb die Interpretation nicht auf dieses Thema und seine alleinige Profilierung in B2 reduzieren. Fragen bleiben: Was sollen die breit ausgeführten Rabschake-Reden in B l , die in B2 auf 3Vi Verse verkürzt werden, wenn man sie nicht einfach als "historischen" Ballast neutralisiert? Warum spricht Jesajas Heilsorakel in 19,6f. nur ganz indirekt von der Befreiung Jerusalems und eben nicht so grundsätzlich theologisch wie in 19,34? Was ist mit den Jerusalemer Ministern, die in Bl so breit im Vordergrund des Geschehens stehen aber in B2 mit keinem Wort erwähnt werden? D.h. grundsätzlicher gefragt: Werden bei Childs und Clements nicht nur die "theologischen" Rosinen aus dem nährenden Brei der Geschichte herausgepickt, als ließe sich beides so trennen, wie es dann O. Kaiser ( 3 1983) 302 im Anschluß an Childs auf seine Weise tut?

Methodisch geht es um die Frage, in welcher Weise auch die Proportionalität der Ereignisdarstellung in einer Erzählung interpretationsrelevant ist, wenn man dem methodischen Postulat verpflichtet bleibt, konsequent nach der literarischen Eigenart der Quellentexte zu fragen. In dieser Beziehung interpretieren B.S. Childs und noch extremer R.E. Clements den Erzählkomplex von II Reg 18,17-19,37 zum einen ganz und gar rahmenorientiert und zum andern nur endgestaltorientiert, indem - vor allem Clements - die Klimax von B2 zum Interpretationsschlüssel des ganzen Komplexes erhebt. Bei dieser Endgestaltorientierung erübrigt sich aber eigentlich die Frage nach disparaten Textteilen, die quellentheoretisch erklärt werden. Hier zeichnen sich paradigmatische Fragen der Forschung ab, die wir zum Schluß nur andeuten können. Droht die von B.S. Childs zum Programm erhobene Endgestalt-Betrachtung (vgl. 1979, 69ff.) nicht zumindest auch zur Tugend zu werden, die aus der Not geboren ist, auch wenn bei Childs die theologische Motivation fraglos im Zentrum steht? Es ist die Not, daß die quellentheoretische Betrachtungsweise der klassischen Literarkritik, die in einem redaktionsgeschichtlich verkleideten Neo-Literarkritizismus seit einigen Jahren eine Renaissance erlebt,44 in spezifischer Weise betriebsblind macht. Als Betrachtungsmodell verstellt sie den Blick sowohl für eine positive, kriteriengeleitete Rekonstruktion von literarischen Vorformen als auch für den Prozeß ihrer Weiterverarbeitung und ihrer kompositionellen Eingliederung in die Großformationen des AT wie z.B. das DtrG. Beides aber gehört zu einem vollen Bild einer alttestamentlichen Literaturgeschichte, in der sich das Leben und der Glaube des alten Israels in ihrer Vielfalt und ihrer Entwicklung spiegeln. Diese Literatur ist neben dem Judentum und z.T. dem Islam auch zum Fundament des Christentums geworden. In der reformatorischen Tradition des sola scriptura und in der Pointierung des sensus historicus gehört deshalb die Rekonstruktion der alttestamentlichen Literaturgeschichte zu den unverzichtbaren und zentra-

44

Vgl. C. Hardmeier (1986b, 13ff.) und unten 3.1.2.

Ausgangspunkte und Aufbau der Arbeit

1.4.1

17

len Aufgaben der Forschung, die weder in der quellentheoretischen Betrachtungsweise befangen bleiben noch einseitig auf eine Endgestalt-Betrachtung reduziert werden darf, so unaufgebbar und zentral diese Fragestellung ist. 45 1.4 1.4.1

Die Ausgangspunkte, der Aufbau und der Beitrag dieser Arbeit zur Forschung Die wesentlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen

Auf dem Hintergrund der Kritik an den Arbeiten von B.S. Childs und R.E. Clements sowie der Aporien, in die eine verkürzte historische Fragestellung und die quellentheoretische Betrachtungsweise hineingeführt haben, sind die zentralen Punkte zu formulieren, von denen diese Arbeit ausgeht. 1. Entgegen den verschiedenen Trends der Forschung verfolgt unsere Arbeit die Zielrichtung, nach literaturgeschichtlichen Vor- und Ursprungsformen der historischen Erzählliteratur des AT zu fragen und für diese rekonstruierten Texteinheiten ihren genuinen Entstehungsort und ihre Primärfunktion in der Entstehungssituation zu bestimmen. Diese Zielrichtung ist "konservativ" im Sinne der klassischen Fragestellungen der historisch-kritischen Exegese nach den Ursprüngen der alttestamentlichen Literatur und nach den verba ipsissima. Aber sie versteht sich nicht in Konkurrenz oder im Gegensatz zur endgestaltorientierten Betrachtungsweise, weil nur beide Fragerichtungen zusammen und in Wechselbeziehung zueinander zu einem differenzierteren Bild der Literatur- und der sie fundierenden Sozialgeschichte des Alten Israels führen können. 2. Diese Arbeit versucht, das methodische Postulat von B.S. Childs und P.R. Ackroyd in seiner vollen Tragweite ernstzunehmen (vgl. oben 1.3.1), daß zuerst und vorrangig die Art des Quellenmaterials selbst sorgfältig zu untersuchen und seine ihm eigene Funktion zu bestimmen ist, um es zuverlässig als Zeugnis von historischen, sozial- und literaturgeschichtlichen Vorgängen auswerten zu können. Die Radikalisierung dieses Postulats führt in dreifacher Hinsicht über die klassischen Betrachtungsweisen wesentlich hinaus, was in den folgenden Punkten drei bis fünf zu umreißen ist. 3. Es ist das Defizit der quellentheoretischen und der neo-literarkritischen Betrachtungsweise, daß ihnen ein mechanistisches, additiv-/subtraktives Verständnis von der Produktion und der Verarbeitung von Texten in je neuen Kommunikationszusammenhängen zugrunde liegt.46 Dieses Defizit 45 46

Vgl. R. Rendtorff (21985, 304). Vgl. zur Textverarbeitung als Modell der Textüberlieferung C. Hardmeier (1978, 75-83).

18

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

hat seinen Hauptgrund darin, daß dem klassischen literarkritischen Ansatz ein positiver Textbegriff fehlt, 47 aus dem sich überhaupt erst sachgemäße Kriterien herleiten lassen, um im Zusammenhang die Ganzheit und Integrität oder die Heterogenität eines Textzusammenhangs sowie seine Binnengliederung und die Proportionalität seiner Teile zu bestimmen und zu begründen. Diese Aufgabe soll in Kap. 2 insbesondere für Erzähltexte in Angriff genommen werden. Die erzähltexttheoretische Grundlegung unserer Arbeit ist damit von einer zweiten Seite her motiviert. Nicht nur, um die kommunikative Funktion und den situativen Bezug einer Erzählung nach sachgemäßen Kriterien zu erschließen, ist diese Grundlegung notwendig (vgl. oben 1.2), auch die Gewinnung von textgemäßen Ganzheits- und Abgrenzungskriterien weckt diesen Theoriebedarf. Die groben und stumpfen Werkzeuge der Literarkritik, "Brüche und Spannungen", "Leitworte", "geprägte Wendungen" etc. sind durch eine (erzähl-)texttheoretische Fundierung zu verfeinern bzw. durch entsprechende Kriterien zu ersetzen. 4. Die Radikalisierung des Postulates von B.S. Childs und P.R. Ackroyd berührt zum zweiten auch die historische Fragestellung selbst. Nicht mehr die erzählte Geschichte und die darin enthaltenen Nachrichten einer Erzählung sind für uns das primäre historische Zeugnis und das zuerst interessierende Objekt der Nachfrage, sondern der Erzähltext selbst in seiner Entstehungssituation.48 Das primär Historische ist die Autorperspektive des Erzählten zum Zeitpunkt der Produktion des Textes, die sich in seiner spezifischen Struktur niederschlägt, und nicht der Informationsgehalt des Erzählten als solcher. Auch diese Schwerpunktverlagerung auf das primäre historische Datum "(Erzähl-)Text" selbst verlangt ein sehr viel feineres Instrumentarium zu seiner sachgemäßen Analyse und zur Erschließung seines situativen und kommunikativen Hintergrunds, von dem er historisch unmittelbar Zeugnis gibt. 5. Von verschiedenen Seiten her hat sich als dritter Aspekt die Notwendigkeit herauskristallisiert, eine (erzähl-)texttheoretisch begründete Exegese zu entwickeln. Diese Theorieorientierung hat aber nicht nur das Ziel, gegenstandsgemäße Analysekriterien zu gewinnen. Sie hatte in dieser Arbeit und hat darüber hinaus grundsätzlich auch eine primär heuristische Funktion. Wir verstehen "Theorie" in ihrem ursprünglichen Wortsinn als "Betrachtungsweise", als eine verallgemeinernde Anschauung vom Gegenstand, den wir konkret untersuchen. (Erzähl-)Texttheorie legt Rechenschaft über einen adäquaten Umgang mit dem konkreten Untersuchungsgegenstand ab und hebt die sachgemäßen Gesichtspunkte ins Bewußtsein, unter denen diese Texte vorrangig wahrgenommen und systematisch beobachtet werden. In diesem Prozeß einer methodisch-theoretisch kontrollierten

47

Vgl.C. Hardmeier (1985, 52f.) und (1986a, 9lf.).

48

Vgl. C . Hardmeier (1985, 60f.) und (1986a, 98f.) sowie unten 2.1.5.

Ausgangspunkte und Aufbau der Arbeit

1.4.2

19

Textwahrnehmung können Entdeckungen gemacht und entscheidende Spuren gefunden werden, die sich primär am Unscheinbaren oder Nebensächlichen abzeichnen, die aber bei einer unkontrollierten Textwahrnehmung oder aufgrund unhinterfragter Forschungsvorurteile zwangsläufig verdeckt bleiben.

1.4.2

Der Aufbau der Arbeit und ihr Beitrag zur Forschung

Werdegang und Ergebnisse dieser Arbeit haben deutlich gemacht, daß Erkenntnisfortschritte in der historischen Forschung nicht nur durch die Erschließung neuer Quellen und die Verbreiterung der Datenbasis erzielt werden können. Von bislang unterschätzter Wichtigkeit ist auch die sorgfältige methodologische und theoretische Reflexion der Erkenntnisvoraussetzungen. Denn insbesondere im vorliegenden Fall waren es in erster Linie zählebige Forschungsvorurteile sowie die mangelnde Kritik der eigenen Wahrnehmungs- und Beobachtungsgesichtspunkte von (Erzähl-)Texten, die den Blick für die überraschend konkrete Situationsbezogenheit des untersuchten Textes verstellt haben, da man im Prinzip schon lange mit Hilfe von systematischen Stellenvergleichen und Konkordanzarbeit auf diese Zusammenhänge hätte stoßen können. Aus diesen Gründen ist die vorliegende Arbeit auch nicht primär ergebnisorientiert aufgebaut. Sie ist in dem Sinne Verfahrens- und beobachtungsorientiert angelegt, daß die Leserinnen und Leser selbst ein Stück weit in diesen kriteriengeleiteten Beobachtungsund Aufdeckungsprozeß hineingenommen werden. Das folgende, zweite Kapitel legt die erzählanalytischen Grundlagen. Wenn hier vieles Selbstverständliche in einer nicht immer leicht zu verstehenden Begriffssprache der linguistischen Erzählforschung entfaltet wird, so geht es nicht um eine höhere Wahrheit oder um die wissenschaftliche Weihe des Trivialen, sondern um ein geordnetes und begrifflich-systematisches Nachdenken einer ganz alltäglichen Sache, die wir intuitiv alle mehr oder weniger beherrschen. Die theoretische Rekonstruktion alltäglicher Erzählkommunikation hat den Blick zu schärfen für die wesentlichen Strukturelemente von Erzähltexten, mit denen wir unsere Erzählkommunikation bestreiten und bereits schon die Menschen des alten Israels ihre narrativen Botschaften wirkungsvoll zu gestalten wußten. Der Forschungsbeitrag dieses Kapitels liegt im Versuch, Erkenntnisse der empirischen Erzählforschung, die an mündlichen Alltagserzählungen interessiert ist, für die Analyse von historisch-literarischen Erzähltexten fruchtbar zu machen und sie damit auf andere Forschungsgebiete und andere Objektbereiche zu übertragen. Im Bereich der bibelwissenschaftlichen Forschung soll damit ein sachgemäßes, an der Struktur des Gegenstandes selbst entwickeltes Instrumentarium der (Erzähl-)Textanalyse erstellt werden, das die alten Werkzeuge der Literarkritik überholt, indem es sie integriert und verfeinert. Wer das ent-

20

Kapitel 1

Einführung und Problemstellung

wickelte Verfahren zuerst in der Anwendung kennen lernen will und wem die Sprache des methodologischen und texttheoretischen Diskurses fremder ist, kann dieses zweite Kapitel mit Gewinn auch am Schluß lesen. Das dritte Kapitel ist dem Kontext und Aufbau der untersuchten Grunderzählung in II Reg 18f. gewidmet. Dabei gehen wir hinter die seit 100 Jahren mehr oder weniger konstant gebliebene Textaufteilung der quellentheoretischen Betrachtungsweise zurück, um nach den hier entwickelten Kriterien den Textzusammenhang als ganzen neu unter die Lupe zu nehmen. Ein neuer Beitrag zur Forschung in diesem Teil ist die Bestimmung des Textanfangs der Erzählung in 18,9 statt 13. Die Hauptfunktion des Kapitels ist es, konsequent textimmanent, d.h. in Beschränkung auf die Sprach- und die Inhaltsebene des Textbereichs vorwiegend deskriptiv-beobachtend die Kontextabgrenzung und die Binnenstruktur der Grunderzählung sowie ihre Gliederung zu erschließen. In der Anlage am komplexesten ist das vierte Kapitel. Zunächst geht es einerseits um die Bezüge der Erzählung zur erzählten Situation, wie sie sich historisch rekonstruieren läßt, und um die wesentlichen Widersprüche zu diesem Situationsbild, die den Fiktionsverdacht begründen (4.1). Andererseits werden in 4.2 der Rahmen und die Voraussetzungen reflektiert, in welchem die Korrelationen von Erzählstruktur und Erzählsituation erschlossen werden können. Das Quellenproblem für die Rekonstruktion der Erzählsituation macht einen umfangreichen, aber integralen Exkurs notwendig, in dem die Erzählung von der Gefangenschaft und Befreiung Jeremias (GBJ-Erzählung, Jer 37-40) einer genauen Analyse unterzogen wird. Denn diese Erzählung erweist sich als Hauptquelle für die Erzählsituation der untersuchten Grunderzählung in II Reg 18-20. Diese Quelle kann aber gemäß dem methodischen Grundpostulat unserer Arbeit nach B.S. Childs und P.R Ackroyd - nur zuverlässig ausgewertet werden, wenn sie ihrerseits umfassend auf ihre literarische Eigenart und die Primärfunktion in ihrer Entstehungssituation hin untersucht worden ist. Der große Teil 4.3 leistet diese Aufgabe unter Bewährung des entwickelten erzählanalytischen Verfahrens an einer weiteren Erzählung. Der Beitrag zur Forschung liegt in der Herausarbeitung des Erzählanfangs in Jer 34,7; 37,3ff., des Erzählschlusses in Jer 40,6 und der inneren Einheitlichkeit, die alle Textaufteilungen der jüngsten Forschung unwahrscheinlich machen. Vor allem kann eine klare Funktionsbestimmung dieser Erzählung geleistet werden (4.3.5). In 4.3.6 wird im Blick auf die Authentizitätsfrage eine Verhältnisbestimmung von erzählliterarischer Fiktion und ereignisgestützter Erinnerung in der GBJ-Erzählung vorgenommen. Abschnitt 4.4 kehrt zur Generalfrage des Kapitels nach der Erzählsituation zurück, die quellenkritisch und möglichst umfassend erhoben werden soll. Mit den Kapiteln drei und vier sind die Voraussetzungen geschaffen, in Kapitel fünf die Korrelation zwischen der erschlossenen Erzähltextstruktur mit ihren textimmanenten Identifikationsangeboten und der rekonstruier-

Ausgangspunkte und Aufbau der Arbeit

1.4.2

21

ten Erzählsituation von 588 in ihren vielfältigen Einzelzügen aufzuzeigen. In diesem Kapitel werden die erzählrhetorische Dynamik und Wirkweise der untersuchten Grunderzählung in ihrem detailgenauen Situationsbezug und ihren wesentlichen kommunikativen Funktionen sichtbar gemacht. Hier wird das Hauptergebnis einer kommunikationsorientierten und situationsbezogenen Erzähltextinterpretation entfaltet, das im Titel unserer Arbeit zusammengefaßt ist. Das sechste Kapitel vertieft das gewonnene Ergebnis in Richtung der literatursoziologischen Frage nach der Autor- und Adressatenschaft sowie nach ihrem gesellschaftlichen und theologisch-politischen Hintergrund. Hier zeichnen sich Umrisse einer tendenzbestimmten Erzählliteratur der Zidkija-Zeit ab, die als Mittel der Meinungsbeeinflussung und Meinungsbildung in den Grundsatzkontroversen um die Babylonpolitik von den einflußreichen Aristokratenfamilien der Hilkijaden und Schafaniden in der Jerusalemer "Öffentlichkeit" sowie am Königshof eingesetzt worden ist. Die vorliegende Arbeit ist einer Ökonomie der Forschung verpflichtet, die auf den ersten Blick unökonomisch zu sein scheint und mit größeren Mühen verbunden ist. Doch sind m.E. Forschungsfortschritte in Zukunft weniger von einer bunten Vielzahl von oft phantasiereichen Hypothesen zu erwarten, "wie es auch gewesen sein könnte", sondern eher von der Ausführlichkeit, Bedächtigkeit und methodischen Reflektiertheit der Verfahren, mit denen Hypothesen begründet oder historisch-literaturgeschichtliche Zusammenhänge entdeckt und verfiziert werden. Ein Mehr an Vergewisserung und an Bemühen um umfassende Verifikation scheint uns, eine auf längere Sicht bessere Ökonomie der Forschung zu sein.

Kapitel II Erzähltextanalytische Grundlagen

2.1 2.1.1

Ausgangspunkte Zum Textbegriff

Bei der Interpretation alttestamentlicher Erzähltexte muß man zunächst davon ausgehen, daß es sich um schriftlich konstituierte Diskurseinheiten handelt. Dabei ist prinzipiell in Rechnung zu stellen, daß sich die Situation der Texterzeugung durch einen meist unbekannten Autor unterscheidet von der Situation der Textrezeption durch Leser oder - im Falle einer Vorlesekommunikation1 - durch Zuhörer. Deshalb kann aus einem schriftlich konstituierten Erzähltext unmittelbar nur erschlossen werden, was der Autor mit seiner Erzählung bewirken wollte und welche Adressaten er dabei im Auge gehabt hat; nicht aber das, was seine intendierten und schon gar nicht, was alle nicht-intendierten Leser von ihren Erwartungen her dem Text entnommen haben könnten und entnommen haben. Zugleich jedoch ist bei diesen literarischen Erzähltexten des AT davon auszugehen, daß sie in ihrer Struktur in hohem Maße den Verfahren und Repertoires der mündlichen Erzähltextkonstitution folgen, zumal wir es mit einer Erzählkultur zu tun haben, die der Mündlichkeit noch wesentlich näher stand. Als Bestandteil eines offenen kommunikativen Handlungsspiels2 ist ein Schrifttext ein in diesem Handlungsspiel entstehendes materiales Objekt, das im Unterschied zu mündlich geäußerten Texten (die erst im Zeitalter der Tonaufzeichnung konservierbar geworden sind) durch die schriftliche Speicherung der sprachlich verschlüsselten Sprechhandlung seine Entstehungssituation überdauert. In seinem Grundriß einer empirischen Literaturwissenschaft wendet S.J. Schmidt (1980) diesen materialen Textbegriff auf mündlich wie schriftlich konstituierte "sprachliche Kommunikatbasen" (= Texte) an und unterscheidet sie von den "sprachlichen Kommunikaten", die mit dem materialen Textobjekt auch den Textgehalt (Bedeutung, Sinn und Relevanz) umschließen, den Kommunikationsteilnehmer in der Produktion oder 1 2

Vgl. z.B. Jer 36,4-6.10. Vgl. C. Hardmeier (1978, 75-83).

24

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Rezeption eines Textes, d.h. im Textprozeß in actu realisieren (vgl. a.a.O. 70-72). Es ist hier weder möglich noch nötig, den ganzen kommunikationstheoretischen Rahmen von S.J. Schmidts Textbegriff zu entfalten. Es sei verwiesen auf die "Theorie kommunikativen Handelns" (a.a.O. 37-79), die in den wesentlichen Grundzügen bereits bei Schmidt (21976) entwickelt worden ist, sowie auf Referat und Rezeption dieser Theorie im Blick auf die alttestamentliche Exegese bei Hardmeier (1978).3 Unter einer sprachlichen Kommunikatbasis ist ein Text als materiales Objekt und Produkt einer Kommunikationshandlung zu verstehen, das als Kommunikationsmittel wesentliche Merkmale der Sprachlichkeit aufweist. 4 Demgegenüber umfaßt nach Schmidt das sprachliche Kommunikat nicht nur die "materiale Kommunikatbasis ( - Text)", sondern es schließt mit ein, was ein Kommunikationsteilnehmer im Akt der Produktion bzw. der Rezeption eines Textes dieser Kommunikatbasis an sprachlicher Bedeutung zuordnet, welche Sinnbezüge er dabei herstellt und welche Relevanz dieser bedeutungs- und sinnkonstituierende Akt für ihn bekommt (73f.). M.a.W. ist die sprachliche Kommunikatbasis als Text ein Objekt, das von der damit vollzogenen Kommunikationshandlung völlig abgelöst und im Extremfall - z.B. durch Abschreiben - auch reproduziert werden kann, ohne daß der Reproduzent auch nur die Sprache geschweige denn den Sinn und Inhalt des reproduzierten Textes zu verstehen braucht. Demgegenüber ist das sprachliche Kommunikat absolut gebunden an die Texterzeugungs- bzw. die Rezeptionshandlung von Kommunikationsteilnehmern und umfaßt Bedeutung, Sinnbezug und Relevanz, die ein Text in actu, d.h. im Erzeugungs- bzw. Aneignungsprozeß für den jeweiligen Teilnehmer bekommt.

Für Schrifttexte macht K. Ehlich (1983a, 32) besonders darauf aufmerksam, daß sie prinzipiell auf eine "zerdehnte() Sprechsituation" hin konzipiert sind, da jeder Text mit seiner schriftlichen Aufzeichnung eo ipso eine "sprechsituationsüberdauernde Stabilität* (a.a.O.) bekommt und auf diese Weise - aus was für Motiven auch immer - gedächtnisunabhängig gespeichert wird, "um in eine zweite Sprechsituation hineintransportiert zu werden" (a.a.O.).5 Insofern sind Schrifttexte stets gesondert daraufhin zu befragen, welche spezifische Funktion die Schriftverwendung als Speicherungsmittel hat, in welcher Weise in diesen Texten das Faktum der zerdehnten Sprechsi3

4 5

Vgl. a.a.O. 52-153, zum Textbegriff a.a.O. 83ff.l09ff., besonders 130-133. Mit der Unterscheidung von Textprodukt und Textprozeß wurde in C. Hardmeier (1978, 130f.) S.J. Schmidts Unterscheidung von "Textformular" und "Text-in-Funktion" aufgenommen (vgl. Schmidt, 21976, 150f.), die Schmidt in (1980, 70-74) genauer als "sprachliche Kommunikatbasis" (70-72) und "sprachliches Kommunikat" definiert. Vgl. S.J. Schmidt (1980) 7lf. K. Ehlich bindet seine Definition von Texten wesentlich an dieses Kriterium der "sprechsitmtionsüberdauemde(n) Stabilität" (1983a, 32), die einem Text erst überhaupt den Status eines von der Sprechsituation ablösbaren Objektes im Sinne einer "sprachlichen Kommunikatbasis" nach S.J. Schmidt (vgl. oben Anm. 3) verleiht.

Ausgangspunkte

2.1.2

25

tuation v o m A u t o r mitberücksichtigt w o r d e n ist u n d sich i m T e x t selbst direkt o d e r indirekt niederschlägt. Allerdings weitet K. Ehlich diesen Textbegriff, den er am Spezialfall des Boteninstituts gewonnenen hat und an der "Überlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung" (32) orientiert (a.a.O. 29-32), auch auf mündliche Textüberlieferungen aus, die sich im Unterschied zur altorientalischen Botschaftsübermittlung nicht auf die Reproduktion auswendiggelernter und damit wordautidentischer Texte beschränken (vgl. a.a.O. 33f.), wie sie ja im Medium der Schrift eo ipso gegeben ist. Durch diese begriffliche Ausweitung entstehen jedoch erhebliche Unscharfen, weil die "zerdehnte Sprechsituation" dann letztlich auch die "diachrone Überlieferung in vorschriftlichen Kulturen" umgreifen muß, in der das gesellschaftsnotwendige "Wissen" von spezialisierten Repräsentanten eines "'personalisierte(n) kollektive(n) Gedächtnisses)'" (33) "von einer Generation zur anderen übermittelt wird" (34), was die situationsabhängige Adaption dieses kollektiven Wissens und erst recht entsprechende Wordautveränderungen notwendig mit einschließt. Deshalb ist es ratsam, solche Überlieferungsprozesse ebenso wie alle Redaktions- und Kommentierungsprozesse in der schriftlichen Tradition als je neue und eigenständige kommunikative Handlungsspiele der Textverarbeitung zu beschreiben6 und den Textbegriff streng auf die dabei entstehende sprachliche Kommunikatbasis zu beschränken, die in ihrem Wortlaut als textliches Objekt greifbar und entweder auswendiggelernt oder schriftkonserviert (bzw. elektronisch gespeichert) reproduziert werden kann, ohne in ihrem Wortlaut verändert zu werden. Ehlichs Kategorie der "zerdehnten Sprechsituation" ist dann zu beschränken auf die Situationsorientierung eines Autors im Stadium der Texterzeugung/ der in seiner Vorstellung des indendierten Lesers aufgrund der fehlenden Kopräsenz von Autor und Leser und dem fehlenden gemeinsamen Zeigfeld (vgl. K. Ehlich, a.a.O. 29) die "zweite Sprechsituation" der lesenden Textaneignung stets antizipierend mitberücksichtigt, was sich u.U. auch direkt oder indirekt im verfaßten Text niederschlagen kann.

2.1.2

Schriftkonstituiertes E r z ä h l e n als k o m m u n i k a t i v e H a n d l u n g

A u c h schriftkonstituiertes E r z ä h l e n ist grundsätzlich als intentionales kommunikatives

Handeln

zu verstehen, das i m P r o z e ß der T e x t e r z e u g u n g

ein situativ b e s t i m m t e s Ereignis gewesen u n d in allen A k t e n der Textaneign u n g ein in neuer W e i s e situativ gebundenes Ereignis g e w o r d e n ist b z w . wird. D e m e n t s p r e c h e n d ist i m Sinne v o n S.J. Schmidt das dem E r z ä h l t e x t i m E r z e u g u n g s p r o z e ß z u g e o r d n e t e A u t o r - K o m m u n i k a t zu

unterscheiden

v o n allen L e s e r - K o m m u n i k a t e n , die sich i m Leseprozeß unter je veränderten Situationsbedingungen

einstellen.

Entscheidend

aber

ist,

daß

auch

die

schriftliche K o n s t i t u t i o n v o n E r z ä h l u n g e n sich an den Modellen des interaktiven m ü n d l i c h e n E r z ä h l e n s orientiert u n d orale Repertoires verwendet.

6

Vgl. C. Hardmeier (1978, 78-81).

7

Vgl. C. Hardmeier, a.a.O. 96f.

26

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Denn auch ein Autor konzipiert seinen Text im Blick auf eine von ihm imaginierte Leserschaft und bezieht deshalb im Konstitutionsprozeß nicht nur die Situationsdifferenz innerhalb der "zerdehnten Sprechsituation" mit ein, sondern er antizipiert über seine Adressatenhypothese8 auch mögliche Reaktionen dieser Leserschaft (z.B. Nachfrage, Bestätigung, Widerspruch, Langeweile oder Neugier). Dieser interaktive und kommunikative Aspekt des Erzählens ist in jüngster Zeit vor allem von der empirischen Erzählforschung herausgearbeitet worden.9 Er macht darauf aufmerksam, daß auch in schriftlichen Erzähltexten mit Leserrücksichten sowie mit rhetorisch-persuasiven Momenten zu rechnen ist, die sich möglicherweise an der Textstruktur festmachen lassen. Insbesondere diese Momente erlauben Rückschlüsse auf die Adressatenhypothese des Autors und lassen in besonderer Weise seine Erzählabsicht erkennen.10 Bei diesem Theorie- und Forschungsansatz interessieren Erzähltexte nicht in erster Linie als fertige Produkte mit ihren Inhalten und ihrer statischen Struktur, sondern als Medium und Resultat in einem interaktiven Prozeß der Erzählkommunikation, der sich auch in der Erzähltextgestalt niederschlägt und seine Struktur sogar primär bestimmt.11 Zur Anwendung dieses ethnomethodologischen Zugangs auf schriftliche Erzähltexte betonen E. Gülich und U.M. Quasthoff: "It can be argued that even written narrative texts should be analyzed processually in that textual structures are established through the reader's active (re-)structuring of information" (1985, 173). 2.1.3

Erzählsituation und erzählte Situation

Während die beiden erstgenannten Punkte für jede Art von Schriftkommunikation gelten, sehen wir das Spezifische einer - auch der schriftkonstituierten - Erzählkommunikation in der Bezugnahme auf Ereignis• und Handlungszusammenhänge, die zum Zeitpunkt des Erzählens als bereits abgeschlossen und vergangen vorgestellt werden, die ferner an spezifische Ereignisträger gebunden und sowohl zeitlich als auch lokal verortet sind. Soweit es sich um alltagsweltliche Verortungen handelt, ist jede Erzählung

8 9

10

11

Vgl. C . Hardmeier (1978) 97f. Vgl. dazu U.M. Quasthoff (1980, 45ff.) und (1981) sowie W. Kallmeyer (1981, 419f.) ferner E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985) und (1986b), speziell dies., (1986b, 220-222) und W.-D. Stempel (1986,203f.). Vgl. dazu U.M. Quasthoff (1980, l l l f . ) sowie E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985, 173-175). Vgl. E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985, 169f. und 172f.) sowie dies., (1986b, 218 und 220f.).

Ausgangspunkte

2.1.4

27

retrospektiv und zwingt zur grundsätzlichen Unterscheidung der Erzählsituation zum Zeitpunkt der Texterzeugung von dem erzählten Situationszusammenhang zur Zeit der dargestellten Ereignisse und Handlungen.12 Diese sind jedoch ihrerseits nur zuhanden in der spezifischen Erinnerungs- und Vorstellungsgestalt des Autors als selektiv erinnerte Ausschnitte einer vergangenen Wirklichkeit, die sich im Kopf eines Autors zu einem gestalteten Ensemble von Ereignissen verdichtet hat und als kognitive Geschichte zu bezeichnen ist. 13 Die fundamentale Bedeutung dieser an sich trivialen Unterscheidung von Erzählsituation und erzählter Situation tritt zutage, wenn man beide Situationsebenen in ihrem Verhältnis zueinander in Betracht zieht. Nach F. Schütze (1975, 12) beinhaltet "jede Geschichtenerzählung ... nicht nur eine Gesamtfigur vergangener Ereignisse, sondern zudem eine zumindest implizite Vermittlung dieser Ereignisse mit speziellen oder globaleren Problemkonstellationen zum Zeitpunkt der aktuellen Erzählsituation, die den Kommunikationspartnern für die Deutung ihrer aktuellen Lebenssituation und die Bewältigung ihrer aktuellen Interaktionsprobleme relevant erscheinen sowie zumindest aspektuell ihnen gemeinsam sind". 14 Für die Analyse alttestamentlicher Erzähltexte ist es demzufolge von besonderem Interesse, ob und wie sich aus der spezifischen Struktur eines erzählten Ereigniszusammenhangs Rückschlüsse ziehen lassen auf die zugrunde liegende aktuelle Erzählsituation und die in ihr virulenten Problemkonstellationen sowie Deutungsund Bewältigungsbedürfnisse.

12

Es ist besonders hervorzuheben, daß sich auch z.B. Märchen, Fabeln oder Visionsberichte bis hin zu den Apokalypsen der Erzählform bedienen, die die erzählten Ereignisse formal als vergangene darstellt und auf diese Weise die Differenz von Kommunikationssituation und kommunizierten Ereigniszusammenhängen gewährleistet. Dennoch entstammen die erzählten Ereignisse allein schon von den Handlungs- und Ereignisträgern selbst her (Tiere, Fabelwesen, Engel, Gott) nicht dem Bereich der Alltagserfahrung und können deshalb, realweltlich betrachtet, so nicht "gewesen" sein. Ja, im Falle apokalyptischer Visionsberichte wollen sie sogar als Enthüllungen der Zukunft und Mahnungen für die Gegenwart verstanden sein. Vgl. dazu E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985,170f.).

13

Umstritten ist in der Erzählforschung der präzise Status der kognitiven Geschichte, auf die sich ein Erzähler mit seinem Erzähltext gegenüber seinen Adressaten aktuell bezieht (vgl. U . M . Quasthoff, 1981, 289 sowie dies., 1980, 46ff., ferner E. Gülich/ U.M. Quasthoff, 1986b, 227-231).

14

Vgl. dazu auch C. Hardmeier (1981a).

28

2.1.4

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Zur aktuellen Relevanz von Erzählungen

Die empirische Erzählforschung schärft nicht nur das Auge für den kommunikativen Handlungscharakter von Erzählungen, die zumindest beim mündlichen Erzählen stets aus einem Rahmen der kommunikativen Interaktion zwischen Erzähler und Hörer(n) hervorgehen und selbst interaktive Züge aufweisen (vgl. oben 2.1.2). Ebenso wichtig ist ein zweiter Aspekt der Erzählkommunikation. Eine erzählte Geschichte muß stets in irgendeiner Weise erzählenswert erscheinen, d.h. sie muß z.B. eine Spannung, einen Höhepunkt oder sonstige, auf das Ganze der Geschichte bezogene Relevanzsetzungen seitens des Autors in sich tragen.15 Und diese Relevanz muß indirekt spezifische aktuelle Bedürfnisse z.B. der Gegenwartsdeutung und -bewältigung oder der Identitätsfindung und -wahrung der Zuhörerschaft abdecken, um ihrer Aufmerksamkeit sicher zu sein. Denn nur auf diese Weise bleibt dem Erzähler im Rahmen konversationeilen Erzählens seine Sprecherrolle über längere Zeit unangefochten überlassen.16 Dieser Gesichtspunkt ist für die alttestamentliche Erzähltextanalyse nicht nur von Bedeutung im Blick auf die Untersuchung einer gegebenen Erzählung, sondern auch im Blick auf die mündliche wie schriftliche Erzählüberlieferung, die hinter manchen Erzählstücken des Alten Testamentes vermutet oder nachzuweisen versucht wird. Der eigentliche Motor dafür, daß eine Geschichte in der mündlichen Überlieferung überhaupt wiederund weitererzählt wird, ist die wie immer geartete Relevanz, die sie in je neuer Weise in veränderter Situation zu gewinnen vermag. Andernfalls fallen Geschichten schnell dem Vergessen anheim, wenn ihr Wiedererinnern und Neuerzählen nicht anderweitig garantiert und z.B. an bestimmte, institutionell verankerte Traditionsanlässe (z.B. Kult- und Heiligtumslegenden wie Gen 28,10-22) gebunden bleibt.17 Zugleich aber muß dabei für mündliche Überlieferungsprozesse das Folgende im Auge behalten werden: Stets wird "Überlieferung ... den jeweiligen Erfordernissen angepaßt, Diskrepanzen und Inkonsistenzen werden in ständiger Neuformulierung durch eine kollektiv gelenkte Präventiv-Zensur ... harmonisiert, widersprüchliche Ereignisse in einer Art struktureller Amnesie... aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht",18 so daß die jeweilige Gegenwartsrelevanz wiedererzählter Geschichten in gleicher Weise den Ausschlag gibt für ihre Weiterüberlieferung wie für ihre den jeweiligen Gegenwartsbedürfnissen angepaßte Veränderung. Deshalb müssen auch 15

16 17 18

Vgl. dazu U.M. Quasthoff (1980, 52ff.) sowie E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985, 171). Vgl. U.M. Quasthoff, a.a.O. 86 und W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977,162f.). Vgl. dazu K. Ehlich (1983a, 32-36). A. und J. Assmann (1983, 277).

Ausgangspunkte

2.1.5

29

besondere Bedingungen und Umstände namhaft gemacht werden können, wenn für mündliche Erzählüberlieferung Wortlautidentität angenommen oder behauptet wird, da die den Wortlaut transformierende Überlieferungsweise in der Mündlichkeit der Regelfall ist. Die je neue Gegenwartsrelevanz ist aber auch für eine aktive literarische Weiterüberlieferung von Schrifttexten das eigentliche movens, wobei sich hier die neue Relevanzsetzung und Gegenwartsadaption greifbar niederschlägt z.B. in der Bildung von Varianten zum schriftkonservierten Wortlaut einer "alten" Geschichte (wie in II Chr 32,1-31 in Aufnahme von II Reg 18,13-20,19) oder in redaktionell ergänzenden Kommentierungen und Uberarbeitungen von älteren Schrifttexten, wie sie in den Prophetenbüchern aber auch im DtrG. und sonst in der alttestamentlichen Literaturüberlieferung nur schwer oder gelegentlich überhaupt nicht mehr entwirrbar zutage treten. "Die notwendige Adaption der Tradition, die in der Gedächtniskultur unmerklich durch beständige Scharfeinstellungen der Präventivzensur vorgenommen wird, führt im literalen Kontext zu einer potentiell unendlichen Vermehrung der Texte",19 die im Falle des Alten Testamentes zwar mit seiner Kanonisierung eine Grenze gefunden hat, sich jedoch bis zum heutigen Tag in einer bald zweitausendjährigen Auslegungsgeschichte fortsetzt. 2.1.5

Der Text als historisches und literaturgeschichtliches Primärdatum

Aus den vier genannten Punkten ist für die Interpretation alttestamentlicher Erzähltexte die folgende Konsequenz zu ziehen. Ein überlieferter Erzähltext gibt in erster Linie und unmittelbar nur Auskunft über den wenn auch meist unbekannten - Autor dieses Textes, über seinen Wissensund Erfahrungshintergrund, seine Erzählfähigkeit, über die von ihm hypothetisch vorausgesetzte Leserschaft sowie über die von ihm den erzählten Ereignissen unterlegte Relevanz zum Zeitpunkt der Texterzeugung. In dieser Relevanzfestlegung schlägt sich die kommunikative Funktion seiner Erzählung gegenüber seiner Leserschaft nieder und von dieser Funktion ist die Perspektive bzw. die Retrospektive in ihrer Gewichtung, Auswahl und Anordnung der Ereigniszusammenhänge bestimmt, die das Ganze des Erzählten zu einer erzählenswerten Geschichte werden läßt, einer autorspezifischen Version erzählter Vergangenheit zum Zeitpunkt der Texterzeugung. Methodisch betrachtet, ist deshalb die Texterzeugungssituation des Autors und seine Perspektive der archimedische Punkt, auf dessen Aufhellung und Rekonstruktion sich historisch-exegetische Bemühungen zuerst zu richten haben. Denn die Autorperspektive, seine Wirkabsicht und die Texterzeugungssituation sind die unmittelbarsten Faktoren, von denen ein Text 19

A. u. J. Assmann, a.a.O. 279.

30

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

in seinem spezifischen inhaltlichen Gesamtaufbau und seiner unverwechselbaren Sprachgestalt im Detail bestimmt ist. 20 Unabhängig davon, wieviel oder wie wenig wir über diesen unmittelbaren Erzeugungshintergrund aus anderen Quellen oder aus expliziten Situationshinweisen im Text selbst wissen, sind auf jeden Fall Inhaltsstruktur und Sprachgestalt dieses Textes mit Hilfe verfeinerter (erzähl-)textanalytischer Kriterien (vgl. unten 2.2) primär daraufhin zu befragen, welche Rückschlüsse sie auf diesen aktuellen Erzeugungshintergrund zulassen. Zumindest müßte dafür eine plausible, durch Textbeobachtungen so weit wie möglich verifizierbare Hypothese gebildet werden. Denn grundsätzlich ist ein Text immer und am unmittelbarsten ein Datum seiner Erzeugungssituation und erst in zweiter, davon abgeleiteter Linie Zeuge der in diesem Text verhandelten Sachverhalte. Aber auch die in einem (Erzähl-)Text verarbeiteten Gattungsstrukturen, die verwendeten Sprach- und Stilformen oder Motive und Traditionen, wonach die verschiedenen "exegetischen Methoden" isoliert und meist unter Uberspringung der unmittelbaren Texterzeugungssituation im direkten Zugriff fragen, sind als damals übliche Vertextungsmittel primär auf die kommunikative Absicht hin zur Verwendung gekommen, die im jeweiligen Text konkret realisiert worden ist. Nimmt man diesen archimedischen Punkt der (Erzähl-) Textanalyse ernst, ergeben sich zwei in unserem Zusammenhang nicht unwichtige Konsequenzen. a) Zum einen geht es um die literarkritische und damit literaturgeschichtliche Kardinalfrage der Abgrenzung von Texteinheiten und ihrer inneren Einheitlichkeit. Die Ganzheit und Geschlossenheit eines Textes bemißt sich, texttheoretisch betrachtet, zuerst und unmittelbar an seiner aktuellen Erzeugungssituation und der in ihr wirksamen Situations- und Sachperspektive des Autors sowie dessen Mitteilungs- und Wirkabsicht. Demgegenüber gehört es zum traditionellen und neuerdings geradezu wieder hypertroph gewordenen usus der Literarkritik, alle "Brüche", "Spannungen" oder "Wiederholungen" in einem Textzusammenhang zum Anlaß zu nehmen, an vielen möglichen aber noch sehr viel öfter an ganz und gar unmöglichen Stellen der alttestamentlichen Literaturüberlieferung separate "Quellen" und Überarbeitungsschichten zu diagnostizieren. Oft zusätzlich verbunden mit einem starren Methodenschematismus, der mit einer apriorischen, "rein" literarkritischen Textscheidung einsetzt, werden auf diese Weise durchaus integrale und komplexere Groß-Texteinheiten von vornherein zerhackt und zerschnitten, ohne daß auch nur ansatzweise zuerst nach ihrer möglichen Ganzheit gefragt wird. 21

20 21

Vgl. dazu im einzelnen C. Hardmeier (1978, 107-109 und 129-133). Vgl. dazu auch E. Blum (1980), ferner die erhellende Kritik von H.-D. Hoffmann (1980, 17-21) an der durch R. Smend (1971) initiierten und von seinen Schülern im einzelnen weiterentwickelten "redaktionsgeschichtlichen" Betrachtung des DtrG.

Ausgangspunkte

2.1.5

31

Die Reihenfolge der Schritte ist deshalb genau umzukehren. Auszugehen ist im Zweifelsfall eher von zu großen, traditionell "literarkritisch" betrachtet, heterogenen Zusammenhängen mit fraglos evidenten Textgrenzen wie z.B. II Reg 18,1-20,21, wobei mögliche Bruchstellen und Spannungserscheinungen oder Wiederholungen wie etwa im Falle der Passage 19,9b-35 (sog. "Quelle" B2) und darin eingebettet 21-31 durchaus im Auge zu behalten sind. 22 In einem mehrstufigen Näherungsprozeß von Analyse und Hypothesenbildung ist dann der Versuch zu unternehmen, einer solchen Großeinheit einen plausiblen aktuellen Erzeugungshintergrund, m.a.W. das sie bedingende kommunikative Handlungsspiel zuzuordnen. Dieses ist einerseits wesentlich aus der Sprachgestalt und der Großstruktur des Textes selbst, andererseits natürlich auch unter Auswertung anderer wie immer verfügbarer textexterner Quellen und Indizien zu erschließen. Nur diejenigen Textteile, für die es dabei nicht gelingt, sie derselben Autorperspektive und demselben Situationshintergrund zuzuordnen wie die übrigen als geschlossene Texteinheit plausibel zu machenden Teile, sind dann auf das Konto von Uberarbeitungsschichten oder anderen "Quellen" zu schreiben. Natürlich bewahrt auch dieses Verfahren nicht vor Fehlurteilen weder in Richtung einer unkritischen Harmonisierung noch in Richtung einer hyperkritischen Textsezierung, die unweigerlich auf das Bild des rekonstruierten Handlungsspiels zurückwirken. Auch hier entscheidet der Grad an Plausibilität der Rekonstruktion in Korrespondenz zur Differenziertheit der Textbetrachtung und der Erklärungsmächtigkeit abständiger Einzelphänomene. Dennoch, der ernsthaft unternommene Versuch, eine mutmaßliche Texteinheit auf einen homogenen und plausiblen historisch-sozial konkreten Entstehungshintergrund zu beziehen, kann zumindest vor allzu leichtfertigen und in der Beliebigkeit schwebenden "Quellen"- und Redaktionshypothesen bewahren. Zusätzlich gilt: mit je weniger Zusatz- und Ad-hoc-

(v.a. W. Dietrich, 1972 und T. Vejola, 1975, vgl. R. Smend, 3 1983, 111-125 und W. Dietrich, 1977, 48 sowie die Übernahme dieser Redaktorentheorie in die ATD Kommentare von E. Würthwein, 1977 und 1984). Zurecht stellt H.-D. Hoffmann grundsätzlich fest: "Wo nur die divergierenden Elemente und die Spannungen innerhalb des DtrG. in den Blick genommen werden, kann die Frage nach der inneren Einheit nicht mehr zureichend beantwortet werden" (21), wobei für Hoffmann "Komplementarität, Verdoppelung der Argumentation, die Breite und die Weitschweifigkeit des Stils, die Neigung zu endlosen Wiederholungen mit nur geringer Variationsbreite und die Beleuchtung ein und derselben Sache unter den verschiedenen Blickwinkeln der Tradition ... ein wesentliches Charakteristikum der theologischen Schule der Deuteronomisten (sind)" (20). Deshalb ist "die unterschiedliche Akzentuierung eines der zahlreichen Hauptthemen der dtr Schule ... nicht Argument genug, diese auf je einen anderen Redaktor aufzuteilen" (a.a.O.). Vgl. ferner unten 3.1.2 und 4.3.1). Vgl. dazu unten Kap. 3.

32

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Hypothesen oder -argumenten und mit je weniger argumenta e silentio eine Rekonstruktion auskommt, die im Wechselprozeß nach Erzeugungshintergrund und Einheit eines Textes als dessen Bestandteil fragt, um so evidenter und wahrscheinlicher dürfte sie in der Regel sein. Mutatis mutandis gilt dieses Verfahren auch für die Rekonstruktion redaktioneller Überarbeitungsschichten.23 Im Blick auf die Einheitlichkeit von Texten sollte man deshalb grundsätzlich Heterogenität nur dann unterstellen, wenn alle Versuche, in der genannten Orientierung an der Einheit des Textes festzuhalten, gescheitert sind. b) Im Blick auf den Quellenwert insbesondere von Erzählungen, die historische Ereignisse zum Inhalt haben, muß hervorgehoben werden, daß sie in erster Linie Dokumente und Zeugnisse der Erzählzeit sind, so verlockend es sein mag, die erzählten Ereignisse unmittelbar als historische Quellen und Nachrichten zu nehmen. Dennoch, alle historische Nachfrage nach den erzählten Ereignissen und ihrem historischen Indizwert ist zunächst auf den Autor sowie auf seine Zeit- und Wertperspektive zu beziehen, bevor man diese Ereignisse selbst etwa im Vergleich mit anderen historischen Quellen unmittelbar beurteilt und auswertet. Erst wenn die Darstellungsabsicht des Autors und das daraus resultierende spezifische Darstellungsprofil in etwa geklärt sind, kann auch der Quellenwert des Dargestellten genauer beurteilt werden. 24 Auch hier sind die Prioritäten umzukehren, weil das primäre historische Datum, an dem die Forschung zuerst anzusetzen hat, der einst erzeugte Text ist und nicht die in ihm dargestellten Ereignisse. Die primäre Aufgabe historischer Erzähltextinterpretation, zuerst die Funktion einer Erzählung zusammen mit der Autorsituation zu erheben, stellt nun aber vor eine besondere Schwierigkeit. Denn in der Regel kommen weder diese Funktion noch die Autorsituation im Erzähltext selbst explizit formuliert zum Ausdruck. Beides, wie überhaupt das ganze, dem Text zugrunde liegende kommunikative Handlungsspiel, muß zu einem ganz wesentlichen Teil aus der Sprachgestalt und der daraus erschließbaren Inhaltsstruktur des Textes im weiteren Sinne selbst erschlossen werden. Dieses Rückschlußverfahren ist im folgenden genauer zu erörtern, um die notwendigen methodischen Kriterien und Gesichtspunkte im einzelnen zu entwickeln, unter denen ein gegebener Erzähltext seine aktuelle kommunikative Funktion und seine situative Einbettung erkennen läßt.

23 24

Vgl. exemplarisch dafür H. Barth (1977,208-210 und 270f.). Vgl. dazu besonders unten 4.3 und das Postulat von B.S. Childs und P.R. Ackroyd oben 1.3.1.

Strukturelemente von Erzählungen

2.2

2.2

33

Strukturelemente von Erzählungen als Beobachtungskriterien der Erzähltextanalyse

Die Kardinalfrage, um die es bei der Entwicklung von Beobachtungskriterien der Erzähltextanalyse geht, konzentriert sich auf die Korrelation von Textgestalt und Erzählfunktion(en), die ein Autor seiner Erzählung in kommunikativer Absicht situationsgerecht gegeben hat. Im einzelnen stellt sich die folgende Frage: Wie kann insbesondere ein schriftkonstituierter Erzähltext sowohl anhand der darin verwendeten sprachlichen Mittel als auch anhand seines Gesamtaufbaus (Makrostruktur) begriffen werden als Resultat der erzählerischen Intention und Wirkabsicht eines Autors gegenüber seiner imaginierten Leserschaft zum Zeitpunkt der Texterzeugung? Linguistische Arbeiten, besonders der empirischen Erzählforschung (vgl. oben 2.1.2), die den Konstitutionsprozeß von Erzählungen in unverstellten alltäglichen Gesprächszusammenhängen genauer untersuchen und nach Korrelaten in der Makrostruktur bzw. der Sprachgestalt einer Erzählung im einzelnen fragen, können hier entscheidend weiterhelfen. Denn in Umkehrung der Fragerichtung werden damit auch Rückschlüsse möglich von signifikanten sprachlichen Erscheinungen oder auffälligen Besonderheiten der Makrostruktur überlieferter Erzähltexte z.B. auf die kommunikativen Ziele eines Autors und ihre sozio-historische Einbettung. Lohnend und bis zum Erweis des Gegenteils legitim erscheint uns der Versuch, solche Ansätze für die exegetische Erzähltextanalyse fruchtbar zu machen, die ihre Kriterien und Kategorien der Betrachtung in ethnomethodologischer und formalpragmatischer Orientierung konsequent an Elementarbedingungen des Erzählens als kommunikativem Vorgang ausbilden und entwickeln. Das gilt besonders für die Arbeiten von E. Gülich (1976), W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977) und U.M. Quasthoff (1980).25 Für alttestamentliche wie etwa für mittelalterliche oder zeitgenössische Erzählvorgänge ist im Blick auf die Frage nach der Übertragbarkeit erzähltextempirischer Verfahren zu unterstellen, daß sie in ihren pragmatischkommunikativen Formaleigenschaften der erzählerischen Verwirklichung bestimmter Mitteilungsbedürfnisse im wesentlichen gleichartig strukturiert sind. Natürlich muß bei solchen Übertragungen nicht nur die Kultur- und Korpusdifferenz im Auge behalten werden, sondern vor allem, wie er-

Vgl. bes. S.44ff. Zur Ethnomethodologie als Verfahren des Fremdverstehens in den Sozialwissenschaften vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.) 51981 und zur Affinität zwischen Ethnomethodologie und philosophischer Hermeneutik J. Habermas (21982, 174ff.). Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der empirischen, kommunikationsorientierten Erzählforschung vgl. v.a. E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1985, 172f.; 1986b, 221f.) und W.-D. Stempel (1986, 203f.) sowie grundsätzlich W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977,165).

34

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

wähnt, die mediale Differenz zwischen mündlich konstituierten Erzähltexten als Gegenständen empirischer Erzählforschung und der schriftkonstituierten Erzählliteratur des AT. Dennoch kann im Sinne einer heuristischen Hypothese zum einen unterstellt werden, daß altisraelitischen Erzählungen die gleichen bzw. vergleichbare narrative Verfahren zugrunde liegen. Zum andern ist heuristisch davon auszugehen, daß eine literarische Erzählkompetenz auf einer stets primär erworbenen mündlich-interaktiven Kompetenz aufruht und gegebenenfalls elaboriert ist, jedoch strukturell nicht andersartig operiert. 26 Zumindest ist der Versuch nicht abwegig, alttestamentliche Erzähltexte als Produkte einer literarischen Erzählkommunikation nach Erkenntnissen der empirischen Erzählforschung zu rekonstruieren, um ihre historisch-situative(n) Primärfunktion(en) zu entschlüsseln. Die Kritik von W.-D. Stempel (1986) an diesem methodischen Ubertragungsversuch ist nur zum Teil stichhaltig. Berechtigte Kritik meldet W.-D. Stempel gegenüber der von C. Hardmeier nahegelegten Annahme eines zeit- und kulturunabhängigen Universals der narrativen Kompetenz an. 27 Vor allem lassen sich ungeprüft in der Tat keine direkten Schlüsse aus den Charakteristika mündlicher Alltagserzählungen von heute auf den oralen Charakter alttestamentlicher Erzählungen ziehen, wie Hardmeier (a.a.O.) suggeriert. Doch ist dies ein zugestandenermaßen zu wenig reflektierter Nebenaspekt des Ansatzes. Das Hauptinteresse ist darauf gerichtet, to "deduce from certain surface phenomena the interaction process that must have taken place when the text was first produced". 28 Die Fruchtbarkeit dieses Zugangs zu alttestamentlichen Erzähltexten kann nur durch die hier vorgelegte praktische Erprobung des Ansatzes am Exempel erwiesen werden. Den "monumentalen" Charakter des alttestamentlichen Textkorpus kann W.-D. Stempel (a.a.O. 206) deshalb nicht dagegen ins Feld führen, weil die Monumentalisierung ein sekundärer Prozeß der Weiterverarbeitung von verschiedenartigsten Primärtexten auf dem Wege zur Kanonbildung ist, die in Auseinandersetzungen mit sehr konkreten historischen Situationen und primär auf diese bezogen entstanden sind. 2 '

In der soziologischen Feldforschung hat in jüngster Zeit das "narrative Interview" zur Erhebung sozialwissenschaftlicher Primärdaten im Gegensatz zu den Erhebungstechniken mittels standardisierter Fragebogen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Darüber hinaus ist das Forschungsinteresse an den Funktionsweisen von Alltagserzählungen in Gesprächen in den letzten Jahren durch den Umstand besonders nachhaltig wachgerufen worden, daß in einer Vielzahl von Institutionen "Erzählungen" von Klienten ganz wesentlich die Entscheidungsgrundlage für soziale bzw. juristische oder medizinische Maßnahmen seitens der Institutionenvertreter bil-

26 27 28 29

Vgl. W. Kallmeyer (1981,410). Vgl. Hardmeier (1986a, 99) und Stempel, a.a.O. 205. E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1986b, 222) zu Hardmeier. Vgl. den größten Teil der prophetischen Literatur und die hier behandelten historischen Tendenzerzählungen.

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.1

35

den: z.B. Zeugenaussagen vor Gericht, Fallschilderungen in Beratungsgesprächen beim Sozialamt, in Seelsorge und Psychotherapie oder Krankheitsgeschichten im Arzt-Patienten-Gespräch etc. 30 Vor allem, um im "narrativen Interview" informationsträchtige Erzählungen der jeweiligen Informanten "hervorzulocken" und um diese Erzählungen adäquat auszuwerten, mußte auch eine größere Klarheit darüber gewonnen werden, wie ein Erzähler seine Erzählung zwanglos aus einem Gesprächskontext herauslöst, d.h. ohne gezielte Aufforderung zu erzählen anfängt. Noch wichtiger aber und von ganz zentralem Interesse wurde die Frage, in welcher Weise ein Informant seine Darstellung der zu erzählenden Sachverhalte gesprächsorientiert entwickelt und organisiert, m.a.W. wie er die Makrostruktur der erzählten Inhalte in stetiger Orientierung an den von ihm angenommenen Wissens- und Verstehensvoraussetzungen seines Zuhörers erzählend entfaltet. In einer grundlegenden und maßgebend gewordenen Arbeit "Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung" haben W. Kallmeyer und F. Schütze (1977) drei "Zugzwänge" herausgearbeitet, unter denen ein Erzähler stets und unweigerlich die erzählenswerten Sachverhalte gegenüber seinem Zuhörer entfaltet. 31 Mit der zentralen Unterscheidung von "kognitiven Figuren" bzw. "Strukturen" einer Erzählung, d.h. ihren allgemeinen Inhaltselementen einerseits und den Gestaltungsverfahren andererseits, die bei der erzählerischen Darstellung dieser "Inhalte" wirksam werden, gelingt es den Autoren, die Gesamtorganisation eines Erzähltextes, d.h. insbesondere den schrittweisen Aufbau seiner Makrostruktur, als Funktion der kommunikativen Autor-Leser-Interaktion zu erfassen. 32

2.2.1

Die kognitiven Strukturen

Gemäß der Unterscheidung von kognitiven Strukturen und erzählerischen Gestaltungsverfahren dokumentiert ein Erzähltext jeweils das Resultat der von seinem Autor in kommunikativer Absicht spezifisch angewendeten Gestaltungsprinzipien bei der Darstellung der "thematischen Geschichte" in ihren Einzelheiten. Die thematische Geschichte repräsentiert dabei als eine von vier "kognitiven Teilstrukturen" den "Typ der Gesamt-

30

31

32

Vgl. F. Schütze (1982, 568-570) zum "narrativen Interview", zu weiteren Bereichen exemplarisch U.M. Quasthoff (1980, 16f. und 18-22) sowie die Aufsätze in K. Ehlich (1980) und E. Lämmert (1982,1-196 und 568-590). Vgl. in knapper und leicht faßlicher Form W. Kallmeyer (1981) und F. Schütze (1982). Vgl. auch U.M. Quasthoff (1980, 44ff.).

36

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

geschichte" in Hinsicht auf "ihre Modalität (ernst, lustig usw.), ihr Themenpotential (zum Beispiel Sterbegeschichte), ihre Verlaufskurve, die Erlebnisund Erfahrungsperspektive des Erzählers und die Bewertung im Sinne einer Moral".33 An dieser kognitiven Teilstruktur, die der Gesamtgestalt einer Erzählung ihren typischen, zugleich aber verallgemeinerungs- und mit anderen Erzählungen vergleichsfähigen Charakter verleiht, ist im wesentlichen die Gattungsstruktur eines Erzähltextes festzumachen. Als fait normatif bleibt diese Struktur den Gattungsexemplaren gegenüber stets abstrakt, jedoch ist sie in den Exemplaren in spezifischen Gattungsmerkmalen textlich greifbar.34 Neben dieser, die Gesamtgestalt einer Erzählung betreffenden Teilstruktur unterscheiden W. Kallmeyer und F. Schütze als weitere kognitive Teilstrukturen die Ereignisträger, die Ereigniskette(n) und die Situation(en), "d.h. herausgehobene Elemente der Ereigniskette, die besonders detailliert ... dargestellt werden".35 Unschwer sind in diesen zuletzt genannten "kognitiven Teilstrukturen" jene Inhaltselemente einer Erzählung zu erkennen, auf die bereits ein Grundschüler durch die vier W-Fragen beim näheren Betrachten einer Erzählung aufmerksam gemacht wird: wer (Ereignisträger), was (Einzelelemente der Ereigniskette), wo und wann (Situationsmarkierungen in einer Erzählung). Auch die auf Verallgemeinerung und Abstraktion ausgerichtete strukturale Erzählforschung hat es ihrerseits schon lange mit denselben Größen zu tun, wenn sie die Ereignisträger von Einzelerzählungen und ihre erzählten Handlungen bzw. andere Elemente der Ereigniskette auf Grundinventare von wenigen Aktanten reduziert bzw. auf Funktionen, die als virtuelle Aktionsbereiche diese Aktanten charakterisieren. Die erschlossenen Grundinventare selbst repräsentieren dabei paradigmatisch die prinzipiell möglichen Grundtypen aller dramatis personae und ihrer Handlungsmöglichkeiten in einem Korpus von gleichartigen Erzählungen wie z.B. dem russischen Volksmärchen,36 m.a.W. die elementaren Aktantenmodelle und Relationen, die den Erzählinhalten eines solchen Korpus zugrunde liegen. Dennoch wäre der Eindruck falsch, daß W. Kallmeyer/ F. Schütze mit ihrem Konzept der "kognitiven Strukturen" nur altbekannten wesentlichen Inhaltselementen von Erzählungen einen neue Namen im Rahmen einer besonderen Wissenschaftssprache verleihen. Zum einen wird mit Bedacht von Ereignissen und nicht nur von Handlungen gesprochen, weil längst nicht alle erzählrelevanten Vorkommnisse auf menschliches, im wesentlichen intentionales Handeln zurückzugehen brauchen (z.B. Unwetter) oder

33

W. Kallmeyer (1981, 411).

34

Vgl. dazu C . Hardmeier (1978, 260ff.).

35

W. Kallmeyer (1981,411), vgl. auch W . Kallmeyer/ F. Schütze (1977, 176-183).

36

V. Propp; vgl. grundlegend A.J. Greimas (1971,157ff.).

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.1

37

weil solche Vorkommnisse z.B. als ungewollte und nicht vorhersehbare Handlungsneben- oder -folgewirkungen am Geschehen Beteiligte zu Opfern werden lassen können, ohne daß ein bestimmter Täter auszumachen ist. 37 Auf diese Weise sind Leidensprozesse in Leidensgeschichten terminologisch ebenso umgriffen, wie ein Wundergeschehen oder das Auftreten nicht menschlicher Wesen in Erzählungen, was für die Analyse biblischer Erzähltexte selbstredend von größter Bedeutung ist und einer sich leicht über unsachgemäße Kategorien und Terminologien einschleichenden Wahrnehmungsverengung entgegenwirkt. Aber auch die Bezeichnung dieser Inhaltselemente als "kognitive (Teil-) Strukturen" bzw. "Figuren" hält terminologisch den fundamentalen Sachverhalt im Bewußtsein, daß diese Inhaltselemente von Erzählungen nicht einfach und unmittelbar Objekte und Vorkommnisse erzählter, vergangener Realität sind im Sinne eines fraglos tatsächlichen Ereignisablaufs. 38 Vielmehr repräsentieren diese Inhaltselemente nur ein zur Erzählzeit aktuelles Wissen von den erzählten Verhältnissen der Vergangenheit. Dieses Wissen hat nun aber stets und unabdingbar den Charakter eines Konstrukts, ist Bestandteil und aktueller Ausschnitt zunächst des Autorwissens, dann aber auch mittelbar des gesellschaftlichen Wissens von diesen Verhältnissen, das in und mit dem Erzählvorgang im Austausch von Autor und Leser bzw. Erzähler und Hörer entweder wiederholt oder aber verändert und neu bestimmt wird. In jedem Falle aber wird es aktuell erzählend re-konstruiert. Je nach Intention des Autors und dementsprechend nach der Funktion seiner Erzählung, aber auch aufgrund unbewußter Erfahrungsextrapolationen aus der Erzählgegenwart in die erzählte Vergangenheit tragen und erhalten deshalb die einzelnen kognitiven Teilstrukturen einer Erzählung unweigerlich Züge und Färbungen dieser Erzählgegenwart selbst. Dieses Phänomen ist nicht nur aus der historischen Malerei etwa der italienischen Renaissance hinlänglich bekannt: man denke an Raffaels "Schule von Athen", in der die großen Philosophen der griechischen Antike auf einem Bild versammelt sind, wobei sich aber in den einzelnen Köpfen die Portraits bekannter Zeitgenossen Raffaels wiederfinden. Auch für die Bau- und Kriegsberichte sowie die Heeresdarstellungen in den Chronikbüchern hat P. Welten im Detail nachgewiesen, wie durchgängig darin aufgrund zahlreicher verschiedenartigster Anachronismen die Erzählgegenwart des Chronisten im zu Ende gehenden 4.Jh. v.Chr. durchschlägt. 39 Deshalb ist besonders bei

37

38 39

Vgl. zur Unterscheidung von "Handlung" und "Ereignis" die Hinweise bei K. Ehlich (1984a, 131f.) sowie die Überlegungen bei W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977, 175 und 256 Anm. 12). Vgl. dazu W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977,166f. und 169). Vgl. P. Welten (1973, bes. 46ff.l08ff.l68ff. und.201ff.).

38

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

"historischen" Erzählungen, die ja bis zum Aufkommen der historischen Forschung im 19 J h . kaum an einer archäologisch-objektivierenden Rekonstruktion von Vergangenheit, "wie sie tatsächlich gewesen ist", interessiert waren, stets mit solchen Einzeichnungen aus der Erzählgegenwart zu rechnen, was für die Datierung und die sozialgeschichtliche Einordnung solcher Erzählungen von größter Bedeutung ist. Alle Arten von Anachronismen in der Präsentation der kognitiven Teilstrukturen erlauben dann unter diesen Gesichtspunkten besonders aufschlußreiche Rückschlüsse auf die in einer Erzählung selbst nicht bzw. nur sehr indirekt thematisierte Erzählgegenwart. 40

2.2.2

Die Verlaufsstruktur der "thematischen Geschichte"

Als "kognitive Teilstruktur" bedarf die "thematische Geschichte" einer besonderen Erörterung. Sie repräsentiert in verschiedener Hinsicht den Typus der Gesamtgeschichte, der die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Arten von Erzählungen nach thematischen und funktionalen Kriterien als Gattungen zu klassifizieren. Dabei kommen im Rahmen der typisierbaren Gesichtspunkte die Modalität sowie die Erlebnis- und Erfahrungsperspektive des Erzählers vor allem durch die Art und Weise zum Ausdruck, wie die Gestaltungsverfahren des dreifachen narrativen "Zugzwangs" (vgl. unten 2.2.3) auf die verschiedenen kognitiven Teilstrukturen einer Erzählung angewendet werden, während die Bewertung des Erzählten durch den Erzähler nur in Ausnahmefällen einen eigenen, textlich ausgrenzbaren Erzählteil bildet, wenn eine Erzählung z.B. explizit mit einer "Moral" versehen wird. Das Themenpotential einer Geschichte ergibt sich wesentlich aus der inhaltlichen Füllung der Ereigniskette und der am erzählten Geschehen beteiligten Ereignisträger. Besonders erläuterungsbedürftig jedoch ist der letzte, für den typischen Gesamtaufbau einer Geschichte wichtige Gesichtspunkt der Verlaufskurve. Sie erschöpft sich nicht in der Aneinanderreihung von Ereignissen und Situationen als solchen, sondern weist eine von inhaltlichen Füllungen mehr oder weniger unabhängige Verlaufsstruktur auf, auf die die Gestaltungsverfahren im besonderen angewendet werden. In einer für die empirische Erzählforschung grundlegenden Arbeit haben W. Labov/ J. Waletzky 41 für die Gesamtstruktur von Erzählungen, die "mündliche Versionen persönlicher Erfahrung" repräsentieren (vgl. a.a.O. 78), fünf konstitutive Erzählteile namhaft gemacht. Zwei dieser Erzählteile bilden die wesentlichen Strukturelemente der Verlaufskurve einer Erzählung. Nach W. Labov/ J. Waletzky sind Erzählungen in der Haupt-

40

Vgl. unten Kap. 5 und 6.

41

W. Labov/ J. Waletzky (1973 [engl. 1967]), vgl. W. Labov (1972a).

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.2

39

sache aufgebaut in der Abfolge von Orientierung, Komplikation und Auflösung und schließen mit einer kurzen Koda, begleitet von impliziten oder expliziten Evaluationen, d.h. von Bewertungen des Erzählten durch den Erzähler, die nach Ansicht der Autoren vornehmlich vor dem Auflösungsteil in Erscheinung treten.42 Die Orientierung über Personen, über die Ausgangssituation und über den "Normalablauf der Dinge" konzentriert sich nach W. Labov/ J. Waletzky hauptsächlich auf den Erzählanfang. Mit der Komplikation wird nach der einführenden Grundorientierung das eigentlich erzählenswerte Ereignis in die Geschichte eingeführt. In einem häufigen Typus von dramatischen Erzählungen kann dies das Unerwartete, das Ungewöhnliche, der Planbruch sein, d.h. alles, was im üblichen Erwartungshorizont des Erzählmilieus den "Normalablauf der Dinge" in irgendeiner Weise erheblich stört, deshalb Betroffenheit und Neugier weckt und eine Lösung herausfordert.43 Das Hauptstück einer Erzählung, das ihren eigentlichen Spannungsbogen ausmacht, handelt dann von möglichen Komplikationsverschärfungen bzw. von gescheiterten oder gelungenen Teillösungen. Sie kulminieren alle zum Erzählende hin in einer durchschlagenden Gesamtlösung, die als Auflösung der anfänglich exponierten Grundkomplikation den Spannungsbogen schließt. In dieser Gesamtlösung liegt auch die Klimax und damit der Höhepunkt einer Erzählung, in dem alle wesentlichen Fäden zusammenlaufen. Vornehmlich in diesem Schlußteil können auch explizite Evaluationen, z.B. "die Moral von der Geschieht", auftreten, die das tua res agitur hervorheben, das jeder Erzählung implizit als Wirkabsicht des Autors innewohnt. Mit der Koda wird der Ubergang aus der erzählten Welt in die Welt der Hörer bzw. der Adressaten bewerkstelligt. In der breiten Aufnahme und Fortführung dieses Ansatzes in der linguistischen Erzählforschung44 sind vor allem die Evaluation und die Koda als 42

Vgl. a.a.O. 111-125. W. Labov (1972a) nennt als weiteres wichtiges Anfangselement die Erzählankündigung in einem "Abstract" (a.a.O. 363f.). Vgl. U.M. Quasthoff (1980, 62). - Daß solche Strukturzusammenhänge auch in der Exegese immer schon gesehen worden sind, beweisen die Arbeiten von C. Westermann (vgl. v.a. ders., 1964). Die theoretische und systematische Reflexion dieser Zusammenhänge muß aber - wie hier versucht - wesentlich weiter vorangetrieben werden, um diese Einsichten in das kommunikative Funktionieren von Erzählungen auch methodisch und sprachanalytisch fruchtbar zu machen.

43

Zum "Planbruch" und zu entsprechenden Typen von Erzählungen vgl. U.M. Quasthoff (1980, 57ff.). Nach U.M. Quasthoff sind "nur solche 'Pläne' und Handlungen gemeint, die in der Geschichte relevant und in der Bedeutungskonstitution des Textes thematisiert oder direkt zu erschließen sind" (a.a.O. 60). Der Begriff der "Komplikation" bei W. Labov ist weiter gefaßt und vager (vgl. dazu U.M. Quasthoff ebd. und unten).

44

Vgl. U.M. Quasthoff (1980, 30).

40

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

selbständige Erzählteile in Zweifel gezogen und die Orientierung als ein strukturell andersartiger Erzählbestandteil von der Komplikation und der Auflösung unterschieden worden. E. Gülich (1976) hat nicht nur die von W. Labov (1972a, 368f.) selbst später zurückgenommene starre Positionierung der Evaluation vor die Auflösung aufgrund des von ihr untersuchten literarischen Erzählmaterials zurückgewiesen, sondern überhaupt dieses Bewertungsmoment als eigenständigen Erzählteil bestritten. "Zwar ist es ohne Zweifel konstitutiv für einen mündlichen Erzähltext, daß der Erzähler deutlich macht, inwiefern die Geschichte für den Kommunikations- bzw. Interaktionszusammenhang relevant ist, aber m.E. geschieht dies weniger innerhalb des Erzähltextes selbst und vor allem nicht durch einen Teiltext, der immer an einer bestimmten Stelle vorkommt" (252). Auch U.M. Quasthoff bestimmt die Evaluation nach W. Labov/ J. Waletzky genauer als funktionelle Kategorie. Nach Quasthoff "bezieht sich die Einstellung, deren Ausdruck evaluative Äußerungen sind, nicht auf Teile der erzählten Geschichte zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ereignisse, sondern auf Teile der Erzählung zum Zeitpunkt des Erzählens" (a.a.O. 38, vgl. 33ff.). Solche funktionellen Bewertungen, die explizit - wie E. Gülich (a.a.O. 253) beobachtet hat - häufig in metanarrativen Sätzen zum Ausdruck kommen, sind auch nach Quasthoff in ihrer Stellung in der Verlaufsstruktur von Erzählungen nicht festgelegt (a.a.O. 34 und 90f.), werden aber - in Übereinstimmung mit E. Gülich (a.a.O. 253) - als Gliederungssignale "textstrukturierend eingesetzt" (38). Wichtig für unseren Zusammenhang ist aber, daß Bewertungen einer Erzählung durch den Erzähler auch implizit durch die Art der Präsentation der kognitiven Geschichte, d.h. durch die spezifische Anwendung der Gestaltungsverfahren (vgl. unten 2.2.3) zum Ausdruck gebracht werden können. Dagegen sind evaluative Äußerungen in Erzähltexten, die oft in Gestalt von metanarrativen Sätzen auftreten, explizite Bewertungsmittel. Die Koda mit ihrer Funktion, aus der erzählten Welt in die Erzählgegenwart überzuleiten, fällt nach den Beobachtungen von E. Gülich de facto mit expliziten Evaluationen am Erzählende zusammen (vgl. a.a.O. 254). Generell läßt sich sagen, daß die "Evaluation", die bei W. Labov/ J. Waletzky als Erzählteil verstanden wird, eher als Aufgabe zu beschreiben ist, die sich dem Erzähler in der Präsentation seiner Erzählung gegenüber dem Hörer oder Leser stellt und die er auf unterschiedliche Weise erzählerisch realisieren kann. Überdies kann diese Aufgabe im konversationeilen Erzählen von Erzähler und Hörerschaft interaktiv gelöst werden (z.B. durch Stellungnahmen der Hörer). In Auseinandersetzung mit W. Labov/ J. Waletzky hat U.M. Quasthoff darüberhinaus deutlich gemacht, daß auch orientierende Äußerungen "über die gesamte Erzählung verstreut... vorkommen" können (90) und die Orientierung deshalb nicht als fester, initialer Erzählteil betrachtet werden kann. Wie bei Evaluationen handelt es sich auch bei den Orientierungen um ein pragmatisches, situations- und adressatenbezogenes Erzählelement. Weil

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.2

41

"orientierende Äußerungen orientierend relativ zu unterstellten Informationsdefiziten des Hörers" bzw. des Lesers "sind,... ist nicht vorauszusetzen, daß diese Defizite sich lediglich auf den Ausgangszustand der Geschichte (Zeit, Ort, handelnde Personen ...) beziehen oder daß überhaupt Defizite in diesem Bereich liegen" (a.a.O.). Deshalb braucht z.B. "eine einführende Orientierung ... dann in der Erzählung nicht realisiert zu werden, wenn der Sprecher diese Kenntnisse beim Hörer" bzw. Leser "z.B. aufgrund zuvor etablierten Textwissens voraussetzen kann" (a.a.O.), was mutatis mutandis auch für ein kulturelles oder situativ bedingtes (Vor-)Wissen gilt. Andererseits können "über die ganze Erzählung verstreut orientierende Äußerungen vorkommen, die relativ zu den entsprechenden Teilbereichen der Erzählung die notwendigen Orientierungen (Kommentare, Erklärungen, Hinweise ...) geben" (a.a.O. 90f.). Auch das "Auftauchen von orientierenden Expansionen" kann ähnlich wie explizite evaluative Äußerungen nach Quasthoff "in Art eines Gliederungssignals ... als Strukturierungsmittel ... angesehen werden" (91). Wiederum bietet es sich auch bei der Orientierung an, dieses Element primär als Aufgabe und als Erfordernis zu betrachten, dem ein Erzähler (bzw. die Hörerschaft durch Rückfragen und Erläuterungen) auf verschiedene Weise Rechnung tragen kann bzw. zu tragen hat. Zusammengefaßt heißt das folgendes: Bei der "Orientierung" und der "Evaluation" im Sinne von W. Labov/ J. Waletzky handelt es sich nicht um feststehende Teile der Erzählfolge, sondern um Strukturelemente, die theoretisch überall in einer Erzählung vorkommen können, offenbar "stärker hörerorientiert" sind und primär "pragmatischen Abhängigkeiten ... unterliegen". 45 Ja, man kann noch einen Schritt weitergehen und diese Erzählelemente als Erfordernisse beschreiben, die vom Autor (bei Schrifterzählungen) bzw. von Erzähler und Hörer gemeinsam einzulösen sind und zu deren narrativen Realisierung vielfältige Mittel zur Verfügung stehen. Mutatis mutandis gilt dies nun aber auch für die Erzählteile, die von W. Labov/ J. Waletzky als "Komplikation" und "Auflösung" bezeichnet werden, mit einer Einschränkung. Sie sind in ihrer Abfolge nicht umkehrbar. Nur wo eine Komplikation entfaltet wird, entsteht ein Spannungsbogen zur Auflösung hin, sonst kommt gar keine Geschichte zustande. Um kommunikative Aufgaben handelt es sich aber insofern, als der Erzähler das erzählte Geschehen stets zu einem spannungsreichen, in irgendeiner Weise dramatischen Bogen zwischen Komplikation und Auflösung zu gestalten hat, um selbst die banalste Alltagsbegebenheit zu einer "Geschichte" zu machen, die ihre Zuhörer oder Leser fesselt. Die erinnerten Ereignisse sind als solche nur selten spannend oder dramatisch, ein kompetenter Erzähler vermag aber beinahe jeden "Stoff" zu einer spannenden Geschichte zu gestalten. Komplikation und Auflösung sind zumindest in einem sehr weit verbreiteten Ty-

45

U.M. Quasthoff, a.a.O. 91.

42

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

pus von Erzählungen die eigentlichen Spannungspole der thematischen Geschichte, die erzählend entfaltet wird. Sie bilden die konstitutiven Scheitelpunkte ihrer Verlaufskurve. Bezogen auf eigenerlebte Geschichten, sieht U.M. Quasthoff den "Kernpunkt für die langfristige Speicherung einer 'erzählenswerten' Geschichte als kognitive Geschichte" im "Widerspruch zwischen 'Plan' und Realität" (53f.), d.h. "zwischen dem eigenen 'Plan' und dessen versuchsweiser Realisierung und dem (sofern möglich) unterstellten Plan des 'anderen', bzw. den Realisierungsmöglichkeiten für den eigenen 'Plan'" (54). Dieser "Widerspruch bildet den Basisgegensatz "zwischen 'normalem (d.h. plangemäßem) Gang der Ereignisse' und tatsächlichem Ablauf der Ereignisse" (a.a.O.). Aus diesem, als "Gegensatzrelation" bezeichneten Erinnerungskern "vollzieht sich" nach Quasthoff "die Konstruktion der kognitiven Geschichte ... in einem dynamischen Hierarchisierungsprozeß, der den Ablauf der Geschichte rückgreifend aufbaut" (a.a.O.). "Der Gegensatzrelation in der kognitiven Geschichte entspricht" dann "der Komplex im Text der Erzählung, der in der klassischen Narrativik als 'Komplikation' (vgl. W. Labov/ J. Waletzky) beschrieben ist" (55). Die so verstandene "Komplikation", die in zwei "kollidierenden Handlungsplänen bzw. dem 'Plan' und der Verhinderung seiner Realisierung" (a.a.O.) besteht, findet sich nach Quasthoff "in verdeckter Form in den meisten Modellen zur narrativen Struktur" (a.a.O.), insbesondere im Bereich der strukturalen Erzählforschung 46 und kann als eine wesentliche Basiskategorie der Verlaufsstruktur von thematischen Geschichten gelten (vgl. a.a.O. 57). Auch hier muß betont werden, daß mit der "Gegensatzrelation" und dem "Planbruch" in der Arbeit von U.M. Quasthoff nicht einfach neuer Wein in alte Schläuche der Narrativik gegossen wird. Quasthoff beschränkt sich strikte auf eigenerlebte Geschichten (vgl. 1980, 27) und beschreibt mit diesen Kategorien einen ganz bestimmten, wenn auch sehr verbreiteten Typus von konversationellen Erzählungen, unter denen es auch andere Typen gibt (z.B. Geschichten, die der Vergewisserung der Identität einer Gruppe [Familie] dienen). Quasthoff zieht von ihrem empirischen Ansatz aus lediglich Verbindungslinien zur klassischen Narrativik und ihren allgemeinen Konzepten. Auch hier geht es nicht um Universalien. Sie präzisiert die Komplikation als "Planbruch" (vgl. a.a.O. 57ff.), als das Ungewöhnliche und Unerwartete das eigentlich "erzählenswerte Ereignis", um das herum sich die Erinnerung des Erzählers ebenso kristallisiert wie die Geschichte, die er aus dieser Basiskomplikation heraus erzählend gestaltet. Dabei verlaufen bei eigenerlebten Geschichten Erinnern und Erzählen in engster Korrelation zueinander.

46

V. Propp, C. Bremond, T. Todorov, vgl. Quasthoff, a.a.O. 55f.

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.2

43

Mit der Komplikation einer Geschichte wird aber zugleich die Erwartung ihrer Auflösung gesetzt. Dabei sind Komplikation und Auflösung als tragende Scheitelpunkte der thematischen Geschichte unabhängig sowohl vom thematisierten Geschehen und den daran beteiligten Ereignisträgern im einzelnen als auch von der Art und Weise, wie der Erzähler die nötigen Rahmeninformationen auf die Adressaten bezogen orientierend einbringt und wie er seine Erzählung und ihre Teile durch implizite oder explizite Evaluationen bewertet. U.M. Quasthoff spricht in diesem Zusammenhang von einem Grundprinzip, wonach "die Bedeutungsstruktur einer Erzählung aus den Elementen 'Ungewöhnliches' (um den Ausdruck 'Komplikation' zu vermeiden ...), dem Ergebnis dieses Unerwarteten" (Auflösung) "und - für den Fall, daß beim Hörer die entsprechenden Informationen nicht vorauszusetzen sind - aus orientierenden Elementen" (Orientierung) "gebildet wird". Unschwer sind darin - wenn auch präzisiert und kategorial differenziert - die drei Hauptstrukturelemente eines allgemeinen - mündlich und literarisch belegten - Typus von Erzählungen wiederzuerkennen, wie sie von W. Labov/ J. Waletzky aufgewiesen worden sind. Da auch die beiden von uns analysierten historischen Tendenzerzählungen in II Reg 18f. und Jer 37-40 - wie sich zeigen wird - diesen allgemeinen Typus repräsentieren, legen wir hier im theoretischen Teil darauf ein besonderes Gewicht. Dieses Prinzip ist nach U.M. Quasthoff so allgemein, daß es "zum kommunikativen Wissen und zu den kommunikativen Fähigkeiten der Mitglieder der Sprach-/Kulturgemeinschaft" gehört und zwar "in unserem Kulturkreis vermutlich über die Grenzen einzelner Sprachgemeinschaften hinaus" (a.a.O. 89). Ahnlich vermutet E. Gülich hinter dem "Typ von Erzähltexten, der sich mit Hilfe ... der drei ... Teiltexte 'Orientierung', 'Komplikation' und 'Auflösung' als makrostrukturellen Konstituenten charakterisieren läßt ... so etwas wie ein Grundmodell oder ... eine 'Normal-' oder 'Neutralform' dessen ..., was man in aller Vorläufigkeit 'konventionelles Erzählen' nennen könnte", wobei auch nach Gülich "dieser Typ ... nicht auf eine bestimmte Sprache, eine bestimmte Epoche, eine bestimmte Kommunikationsart (mündlich oder schriftlich) oder eine bestimmte Textsorte ('Novelle' oder 'Exemplum' usw.) beschränkt (ist)" (1976, 254). Auch wenn beide Autorinnen den universellen Charakter dieses Typs von Erzählungen betonen, erklären sie ihn dennoch nicht zum erzählkommunikativen Universal, weil es "daneben ... zweifellos andere Typen von Erzähltexten oder Abwandlungen dieses Grundmodells (gibt)". 47

Vgl. E. Gülich, a.a.O. 254 und die dort Anm. 54 genannten Beispiele. U.M. Quasthoff bezieht sich in ihrer ganzen Untersuchung - klar definiert - auf einen Typus von "Erzählung im Gespräch oder konversationellefr) Erzählung" (a.a.O. 27). Dabei muß die erzählte Geschichte u.a. "gewisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit" erfüllen und "der Sprecher ... mit einem der Aktanten (Agent, Opfer, Beobachter ...),

44

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Besonders im Blick auf biblische Erzählungen ist deshalb stets kritisch zu prüfen, ob die Verlaufsstruktur der thematischen Geschichte diesem allgemeinen Typus von Komplikation und Auflösung folgt, oder ob nicht andere Verlaufsstrukturen - wie z.B. im ersten Schöpfungsbericht - die Grundlage bilden und vom Material her erst beschrieben werden müssen. Vor allem bei Erzählungen, die wie z.B. Heiligtumslegenden eine legitimatorische Funktion haben, oder bei Ätiologien, die einen Sachverhalt der Erzählgegenwart "erklären", ist eine andere, nicht unbedingt "dramatische" Verlaufsstruktur zu erwarten. Dennoch bildet der weit verbreitete Typus von Erzählungen mit seinen beiden Brennpunkten von Komplikation und Auflösung einen guten Vergleichsmaßstab zur Beschreibung auch anders gearteter Verlaufsstrukturen von Erzählungen. Die Kernfrage nach dem "erzählenswerten Ereignis" der Geschichte führt dabei grundsätzlich auf das tragende Basiselement dieser Verlaufsstruktur. Sie muß in ihren, das Ganze einer Erzählung bestimmenden Elementen stets gesondert als kognitive Teilstruktur im Sinne der Konzeption von W. Kallmeyer/ F. Schütze bestimmt und beschrieben werden. Bei dieser Bestimmung und Beschreibung ist - wie die Differenzierungen des Ansatzes von W. Labov/ J. Waletzky gezeigt haben - darauf zu achten, daß weder orientierende noch evaluative Erzählteile der Verlaufsstruktur der thematischen Geschichte und ihren Elementen (im weit verbreiteten "Normalfall" Komplikation und Auflösung) zugeordnet und mit ihr vermengt werden. Dies ist wichtig zu betonen, weil sich Orientierungen und Evaluationen an der Textoberfläche durchaus als eigene Teile (z.B. metanarrative Sätze oder längere Beschreibungen, Hintergrundserzählungen u.a.m.) abgrenzen lassen und überall in einer Erzählung auftreten können. Doch handelt es sich um primär pragmatische, an der Situation und an den Adressaten orientierte Erzähltextelemente. Sofern sie auch textlich abgrenzbar in Erscheinung treten, ist ihre Gliederungsfunktion im Erzählganzen von besonderer Bedeutung. Auf einen letzten Punkt im Zusammenhang mit der Verlaufsstruktur der thematischen Geschichte kann nur hingewiesen werden. Vor allem U.M. Quasthoff entwickelt (a.a.O. 57ff.) anhand der unterschiedlichen Ausprägung der Gegensatzrelation eine "semantische Typologie von Erzählungen", denen verschiedene Typen von 'Plan'-Brüchen zugrunde liegen.

die in die erzählte Geschichte verwickelt sind" identisch sein (a.a.O.). Dementsprechend gilt für U.M. Quasthoff "der Komplikationsteil des Erzähltextes ... als konstitutiver Teil wenigstens der hier diskutierten Agentenplanbruch-Geschichten" (57), und sie ist sich - besonders von der literaturwissenschaftlichen und strukturalen Erzählforschung her - der potentiellen Materialabhängigkeit von narrativen Strukturen bewußt, die dann, vorschnell und unkritisch verallgemeinert, leicht von "deskriptiven Modellen" in unangemessene "präskriptive Setzungen" umzuschlagen drohen.

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.3

45

Sicher gibt die Art der Verlaufsstruktur, bzw. die besonderen, ihrerseits typisierbaren Ausprägungen von Komplikation und Auflösung ein wesentliches Kriterium an die Hand, Erzählgattungen zu bestimmen und zu beschreiben, eine Frage, die seit H. Gunkel in der alttestamentlichen Erzählforschung offengeblieben ist. Zu diesem semantischen Kriterium, bezogen auf die Verlaufsstruktur der thematischen Geschichte, wird ein weiteres Kriterium hinzutreten müssen, das sich an den Erzählfunktionen bemißt. Dieses zweite Gattungskriterium ist vor allem von den evaluativen Erzählelementen, aber auch von der Art der orientierenden Teile her bestimmt und erlaubt angesichts ihrer primär interaktiv motivierten Ausprägung vor allem Rückschlüsse auf den "Sitz im Leben" von Erzählgattungen.

2.2.3

Die Gestaltungsverfahren unter dem dreifachen narrativen Zugzwang

Rückschlüsse auf die aktuelle Erzählabsicht und damit auf die Funktionen) einer Erzählung erlaubt nun aber insbesondere die spezifische Art, wie die kognitiven Teilstrukturen erzählerisch ausgestaltet sind, d.h. wie die erzählten Sachverhalte unter den Zugzwängen der Erzählkommunikation ihre spezifische Gestalt als kognitive Teilstrukturen einer unverwechselbaren Einzelerzählung erhalten haben. Diese Gestaltungsverfahren sind erstmals von W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977) erforscht und beschrieben worden. In Absetzung von allen Forschungsansätzen, die - wie z.B. die Strukturale Erzählforschung - an verallgemeinerungsfähigen Strukturen von Erzählinhalten interessiert sind und deshalb die spezifischen Gestaltungsweisen dieser "Inhalte" in der Einzelerzählung zwangsläufig vernachlässigen, 48 geht es den beiden Autoren darum, "unmittelbar in der aktuell laufenden ... Kommunikation über Sachverhalte nach der Wirksamkeit der kognitiven Strukturen zu forschen". Diese "realisieren sich im Verlauf der interaktiven Abwicklung von Sachverhaltsschemas als monoton wirksame Zugzwänge der Kommunikation" (I65f.). Insofern sind dann auch "die Textindikatoren, in denen sich die kognitiven Strukturen empirisch niederschlagen ... als empirische Repräsentationen 'tiefenstruktureller' Zwänge der Darstellung kognitiver Strukturen in der Dimension kommunikativer Interaktion" aufzufassen (a.a.O.). Deshalb gewinnt dann die Sprachgestalt des Einzeltextes, d.h. seine Oberflächenstruktur, eine entscheidende Bedeutung für die Analyse und kann nicht mehr als Epiphänomen eines struktural bedeutungslosen hic et nunc vernachlässigt oder abgewertet werden. Indem W. Kallmeyer/ F. Schütze am "Phänomen der Zugzwänge der Sachverhaltsdarstellung" ansetzen, beschreiten sie wesentlich neue Wege in der Erzählforschung (I67f.).

48

Vgl. dazu W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977,165).

46

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Nach W. Kallmeyer/ F. Schütze (1977, 162 und 187ff.) steht der Erzähler bei seiner Darstellung von Sachverhalten zum einen stets vor der Aufgabe, die verschiedenen Elemente und Aspekte der darzustellenden Sachverhalte seinen Adressaten gegenüber hinreichend detailliert zu entfalten. Damit unterliegt er dem Adressaten gegenüber einem permanenten "Detaillierungszwang" (a.a.O. 188ff.). Im einzelnen hat er die Ereignisträger in seiner Erzählung so zu kennzeichnen, die herausgehobenen Situationen temporal und lokal so zu markieren und die Ereigniskette(n) in ihrer Abfolge und Interdependenz so plausibel zu verknüpfen, daß sich die vom Autor vorausgesetzten Adressaten eine hinreichende Vorstellung von der Gesamtgeschichte und der sie konstituierenden Teilstrukturen machen können. Andernfalls riskiert ein Sprecher im mündlichen Erzählprozeß, daß er durch Rückfragen der Zuhörer unterbrochen wird und sein Redemonopol temporär verliert. Was für die Adressaten an Detaillierung hinreichend bzw. notwendig ist, bemißt sich in der mündlichen, erst recht aber in der schriftlichen Erzeugung eines Erzähltextes wesentlich am Adressatenbild des Autors, d.h. an seiner Vorstellung, was er an Vorwissen im weitesten Sinne (Einzelkenntnisse, Problem-, Erfahrungs-, Traditionswissen etc.) bei seinen Adressaten voraussetzen kann. 49 Ein zweiter Zugzwang besteht nach W. Kallmeyer/ F. Schütze für einen Erzähler stets darin, einmal eingeführte kognitive Strukturen als Teilbzw. Gesamtgestalten einer Erzählung hinreichend abzuschließen. Auch die Befolgung dieses "Gestaltschließungszwangs" (a.a.O. 188) beläßt im mündlichen Erzählprozeß dem Erzähler seine Sprecherrolle, solange er dadurch stets latente Rückfragen seiner Zuhörer "beantwortet", bevor sie explizit

Es ist darauf hinzuweisen, daß die hier als Wirkkräfte im Erzeugungsprozeß von Erzähltexten darzustellenden "Zugzwänge" nichts zu tun haben mit dem, was in C. Hardmeier (1978, 294ff.) als "Theorie einer zwangsartigen Ausdrucksgebundenheit" (294) widerlegt wird. Diese "Theorie", die als Grundannahme einer Reihe von "formgeschichtlichen" Untersuchungen in der alttestamentlichen Exegese zugrunde liegt (vgl. a.a.O. 26f. und 50), bezieht sich auf die angeblich zwanghafte Wiederverwendung von geprägten Stilformen besonders in Zusammenhängen, in denen diese Wiederverwendung weder situations- noch kontextgerecht erscheint. Dieses Erklärungsmodell für textliche Inkonsistenzen postuliert situationstnadäquate(!) Zwangsläufigkeiten auf der Stufe des Einsatzes sprachlicher Einzelmittel im Sprachverwendungsprozeß, d.h. auf der Ebene der sprachlich-ausdrucksformalen Textentfaltung (vgl. a.a.O. 132f.). Die von W. Kallmeyer/ F. Schütze namhaft gemachten Zugzwänge beziehen sich dagegen auf die kommunikative Interaktion zwischen Autor und Adressaten, konkret auf die Stufe im Texterzeugungsprozeß, auf der der Autor die semantische Komponente seines Textes entwickelt und dabei laufend das angenomme Vorwissen seiner Adressaten ganz und gar situationsgerecht in einem Planungs- und Entfaltungsstadium mit einbezieht, das der Sprachverwendung im einzelnen grundsätzlich vorausgeht (vgl. dazu C. Hardmeier, a.a.O. 121-133).

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.3

47

gestellt werden. Diese Rückfragen entstehen aus dem Bedürfnis des Zuhörers, einmal Angerissenes, an dem er zuhörend teilnimmt, auch "zu Ende" zu hören. Doch ist die Gestaltschließung in gleicher Weise ein Bedürfnis des Erzählers selbst, da nur Ungestaltetes grenzenlos ist, eine erzählerische Repräsentation von Ereignissen und Sachverhalten jedoch als solche schon eine Gestaltung ist, die dem erzählten Geschehen im Ganzen und in seinen Teilen eine abgrenzbare, geschlossene Form verleiht. So wollen z.B. irgendwo angedeutete Charakterzüge von Ereignisträgern in ihrer Bedeutung und Funktion für den Geschichtenverlauf auch abgerundet und dem Hörer bzw. Leser als Ganzheit verständlich gemacht werden. Herausgehobene Situationen und Einzelepisoden bedürfen eines befriedigenden Abschlusses, damit sich der Erzähler und der Hörer bzw. Leser auf eine neue Sequenz des Geschehens konzentrieren können. Das gilt erst recht für die thematische Geschichte als Gesamtgestalt der Erzählung sowie für die Ereigniskette als ganzer. Auch diesem Gestaltschließungszwang wird ein Autor im mündlichen wie schriftlichen Erzählen primär über die Vorstellungen gerecht, die er in dieser Beziehung von seinen eigenen Ansprüchen her hat und die er sich von entsprechenden Bedürfnissen bei seinen Adressaten macht. Dem Detaillierungszwang, der in Richtung auf Explikation und Ausführlichkeit wirkt, steht nach W. Kallmeyer/ F. Schütze, a.a.O. als dritte interaktionsbedingte Wirkkraft der "Kondensierungszwang" diametral gegenüber. Ein Erzähler kann nicht alles und jedes, vor allem nichts, was er als bekannt voraussetzen kann, in beliebiger Ausführlichkeit darstellen. Er muß sich auf das nach seiner Wahrnehmung Wichtigste und Relevante beschränken, um nicht die Hörer- bzw. Leseraufmerksamkeit zu strapazieren. Bei aller Notwendigkeit zur Detaillierung lebt eine spannende Geschichte zugleich von der Prägnanz und Sparsamkeit mit der das Wesentliche zwar herausgearbeitet, alles Unwichtige und Nebensächliche aber möglichst ausgespart bleibt, um Langatmigkeit und funktionslose Weitschweifigkeit zu vermeiden, die den Zuhörer nur noch mit halbem Ohr oder überhaupt nicht mehr zuhören läßt bzw. dem Leser einer schriftlichen Erzählung das Lesen verleidet. Die Bezeichnung dieser drei Wirkkräfte im narrativen Prozeß als "Zugzwänge" hängt bei W. Kallmeyer/ F. Schütze mit dem soziologischen Interesse zusammen, über "narrative Interviews" sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. 50 Doch macht sich ein Erzähler bzw. Autor in der Regel diese Wirkkräfte auch als Gestaltungsverfahren nutzbar, um dem erzählten Geschehen im Wechselspiel von Detaillierung und Kondensierung sein besonderes Relief zu geben. Mit diesen Gestaltungsverfahren, deren Wirksamkeit auf diesen Grunderfordernissen der Erzählkommunikation, den sog. narrativen "Zugzwängen" beruht, kann der Erzähler wesentlich die

Vgl. zur Auseinandersetzung unten 2.2.4.

48

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Funktion und die Relevanz seiner Erzählung festlegen. Das gilt im besonderen Maße für schriftliches Erzählen, da allein schon der Schreibprozeß solchem Erzählen seine Unwillkürlichkeit nimmt und zwangsläufig zu einer bewußter gestalteten Darstellung führt. Insgesamt sind damit Erzähltexte nicht nur als erzählerische Darstellungen einer Geschichte rein auf der Sachverhaltsebene zu begreifen, sondern zugleich als Resultat einer intentionsgerechten sowie situations- und adressatenspezifischen Umsetzung dieser drei Gestaltungsprinzipien. Deshalb muß sich vor allem auch aus ihrer Makrostruktur erschließen lassen, wie und mit welcher Absicht der Erzähler das Dauerdilemma zwischen hinreichender Detaillierung und notwendiger Kondensierung konkret "gelöst" hat und wie er eröffnete (Teil-)Gestaltungen abschließt. Daraus wiederum läßt sich auf die Funktion und die Relevanz seiner Erzählung schließen, die er in der spezifischen Anwendung dieser Gestaltungsverfahren gegenüber seinen Adressaten festgelegt hat. Denn in und mit der Art und Weise, wie ein Erzähler diese drei permanent und zugleich gegenläufig wirksamen Zugzwänge im Aufbau seiner Erzählung berücksichtigt, kann er auch ganz entscheidend auf seine Hörer bzw. Leser einwirken. Er kann die von ihm antizipierten Erwartungen seiner Adressaten enttäuschen und z.B. durch das Offen-Lassen von Situationen oder von Ereignisträger-Portraits bewußt Fragen auch von Lesern provozieren und so zum Mit- oder Nachdenken herausfordern. Auf der anderen Seite kann er durch besondere Detaillierungen das für ihn Bedeutende und Wichtige an einer Geschichte gezielt herausarbeiten, um es dann z.B. in der Klimax in äußerst kondensierter Form kulminieren zu lassen und zugleich lösend zum Abschluß zu bringen. Mit diesen drei Gestaltungsverfahren, die auf den narrativen Zugzwängen beruhen, hat der Erzähler wesentliche Mittel der erzählerischen Einflußnahme auf seine Adressaten in der Hand. Ob eine Erzählung als ganze klar oder unklar ist, in einzelnen Teilen beabsichtigt oder unbeabsichtigt dunkel bleibt oder besonders durchsichtig gestaltet ist, das hängt wesentlich davon ab, wie der Erzähler Ereignisträger und Situationen detailliert und wie er angefangene Gestalten von Teilsituationen oder Charakteren auch wieder hinreichend zum Abschluß bringt. Ob eine Erzählung spannend oder langweilig ist, ob sie den Adressaten etwas zu sagen hat oder sie unberührt läßt, das hängt entscheidend davon ab, wie ein Erzähler mit dem Mittel der Detaillierung und dem Kontrastmittel der Kondensierung die Verlaufsstruktur der erzählten Ereignisse gestaltet, vor allem, wie er der Basiskomplikation und der Gesamtauflösung in der Klimax mit diesen Mitteln ihr besonderes Profil verleiht. In der Regel sind die Hinführungen zu Erzählhöhepunkten und insbesondere zum Clou einer Geschichte durch einen hohen Grad an Detaillierung gekennzeichnet, die als retardierende Momente den Erzählbogen spannen. Die Auflösung selbst dagegen und damit die Pointe einer Geschichte ist von äußerster Kondensierung gekennzeichnet, da es ja dann "nichts mehr zu

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.4

49

erzählen gibt", wenn die erzählenswerte Basiskomplikation zu ihrer endgültigen Auflösung gekommen ist. 51 Mit der Handhabung dieser Gestaltungsmittel, bezogen auf die Verlaufsstruktur einer Erzählung, legt der Erzähler im wesentlichen die Relevanz fest, die er dem Erzählten gegenüber seinen Adressaten beimessen will. 52 2.2.4

Zur Übertragbarkeit der narrativen "Zugzwänge" auf schriftlich konstituierte Erzählungen des Alten Testaments

Nun muß berücksichtigt werden, daß W. Kallmeyer/ F. Schütze ihre Theorie des dreifachen Zugzwangs im Blick auf Erzählungen entwickelt haben, "die eigenerlebte Erfahrungen im Stegreif wiedergeben" und "in alltagsweltliche Handlungszusammenhänge eingebettet" sind (171). So erhebt sich besonders die Frage, ob und inwiefern diese Theorie auf schriftlich konstituierte Erzähltexte des Alten Testaments angewendet werden kann, die - wie die HKJ-Erzählungen - als "historische" Erzählungen weder eigenerlebt noch im Stegreif mündlich-interaktiver Alltagskommunikation erzeugt worden sind. a) Da auch schriftkonstituiertes Erzählen als kommunikatives Handeln in einer zerdehnten Sprechsituation zu betrachten ist, 53 können die drei Gestaltungsverfahren, die auf der Wirkkraft der narrativen Zugzwänge beruhen, auch in der schriftlichen Erzählung in der Autor-Leser-Kommunikation in vergleichbarer Weise wirksam werden. Ja, ein Autor kann sich ihrer in der schriftlichen Gestaltung in besonders reflektierter Weise als Mittel der Reliefgebung bedienen. Denn selbst im mündlichen Erzählvorgang "löst" ja ein Erzähler das permanente Zugzwangdilemma stets und primär am Maßstab seiner Adressatenhypothese, an der sich ein literarischer Erzähler ausschließlich orientieren muß. Der einzige Unterschied besteht darin, daß dem mündlichen Erzähler die Angemessenheit und Richtigkeit seines Adressatenbildes kontinuierlich durch zustimmende oder ablehnende Zuhörerreaktionen bestätigt oder in Frage gestellt wird und er dieses Bild im Erzählverlauf ggf. korrigieren kann. 54 Trifft dagegen eine schriftliche Erzählung nicht ihr intendiertes Leserpublikum, so wird sie abgelehnt und nicht mehr weitergelesen. b) Wenn F. Schütze (1982) die "Wirksamkeit des dreifachen narrativen Zugzwangs" wesentlich an die Bedingung knüpft, daß eine Erzählung a) eigenerlebt, b) "thematisch begrenzt" und c) "den Charakter einer extem-

51 52 53 54

Vgl. dazu W. Kallmeyer (1981, 413). Zur Relevanzfestlegung vgl. bes. W. Kallmeyer, a.a.O. Vgl. oben 2.1.1 und 2.1.2. Vgl. dazu besonders U.M. Quasthoff (1981).

50

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

porierten Stegreif-Aufbereitung eigenerlebter Erfahrung haben" muß (573f.), so ist damit nicht die Wirksamkeit der Zugzwänge als solcher im Erzählprozeß gemeint, sondern ihre Wirksamkeit im Blick auf die Gewinnung sozialwissenschaftlicher Primärinformationen. Die dritte Bedingung einer erzählenden Spontanaufbereitung eigenerlebter Erfahrungen begründet F. Schütze damit, daß "eine spezielle Vorbereitung der Erzählung durch den Informanten ... verhindert werden (muß), da ansonsten das kalkulierte Ausdenken und Vortäuschen eines (so nicht stattgefundenen) Ereignisablaufs möglich ist" (574). Denn der an Primärinformationen interessierte Sozialwissenschaftler versucht unter Ausnutzung der narrativen Zugzwänge gezielt auch Ereignisse und Handlungsorientierungen in Erfahrung zu bringen, über die der Interviewpartner normalerweise "aus Schuld bzw. Schambewußtsein oder auf Grund seiner Interessenverflechtung lieber schweigen würde" (576). Insbesondere der Detaillierungs- und Gestaltschließungszwang veranlassen jedoch einen Erzähler unter der Bedingung einer unvorbereitet spontanen Erzählsituation unwillkürlich und sogar "mehr oder weniger wider seinen Willen" dazu, "auch über heikle, unangenehme und riskant-aufdeckende Ereignisse zu erzählen, sofern er erst einmal mit dem Erzählen begonnen hat" (575).

Einmal abgesehen von den wissenschaftsethischen Problemen solcher Methoden der Datenerhebung, setzt die Möglichkeit, die narrativen Zugzwänge zur Datengewinnung zu instrumentalisieren, zwangsläufig voraus, daß diese Zwänge interaktionsbedingte Wirkkräfte der Erzählkommunikation selbst sein müssen. Daß die Zugzwänge nur dann wirksam sind, wenn dem Erzähler die Möglichkeit einer Vorbereitung verwehrt ist, weil er sich dann etwas ausdenken kann, ist damit aber nur von Bedeutung für eine spezifische Instrumentalisierung dieser Zugzwänge im narrativen Interview. Die Möglichkeiten, sich extensiv vorzubereiten und absichtsvoll sich etwas auszudenken, sind gerade bei schriftkonstituierten Erzählungen in höchstem Maße gegeben. Sind die narrativen Zugzwänge integrale Wirkkräfte der Erzählkommunikation, dann folgt natürlich auch ein Erzählautor grundsätzlich diesen Zugzwängen. Doch kann er ihr Wirkpotential aufgrund seiner Vorbereitungsmöglichkeiten sehr viel gezielter einsetzen, um seine Leser durch seine Erzählung nach seinen Absichten zu beeinflussen. Dabei kommt den fiktiven Erzählmomenten gegenüber der Tatsächlichkeit der erzählten Ereignisse eine hervorragende Rolle zu. Diese fiktiven Elemente vermögen bei entsprechender erzählerischer Präsentation im Rahmen der kontradiktorisch wirkenden Zugzwänge die Wirkabsicht des Autors ganz besonders zu unterstützen und zu unterstreichen. Sie als manipulativ, täuschend oder unwahr abzuwerten und sie von angeblich "wirklichen" Elementen unterscheiden zu wollen, heißt die integrale Ereignisperspektive des Autors unsachgemäß auseinanderzureißen. In ihr sind "Dichtung und Wahrheit" nicht nur stets untrennbar in- und miteinander verwoben, auch ihre spezifische Entfaltung im Erzählaufbau ist primär von der Wirkabsicht des Autors gegenüber seinen Adressaten her zu rekonstruieren

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.5

51

und nicht nach zweifelhaften, von außen an die Erzählinhalte herangetragenen Tatsächlichkeitskriterien zu beurteilen. c) Wie das Stegreifkriterium liegt auch die Bedingung der eigenerlebten Erfahrung in den besonderen Erfordernissen des narrativen Interviews begründet. Die "Erzählung von 'Geschichten zweiter Hand"1 ist deshalb für die Informationsgewinnung unergiebig, weil eine solche Zweithandgeschichte im Unterschied zu einer eigenerlebten nicht auf eine "biographisch-episodale und/oder historische Erfahrungsfigur mit Handlungsund/oder Erlebnisrelevanz für die eigene Person" als tragendem Bewußtseinshintergrund zurückgeht. 55 Weil dieser Bewußtseinshintergrund im Stegreif-Erzählen wesentlich und unmittelbar auch der spontanen Erzählung selbst ihre Struktur gibt, ist solches biographisches Erzählen nicht nur für das narrative Interview besonders ergiebig, sondern auch als einzige Erzählform ohne jede Vorbereitung und ohne jedes Erzähltraining wirklich aus dem Stegreif möglich. 56 Demgegenüber liegen "historischen" Erzählungen wie den HKJ-Erzählungen zweifellos "Geschichten zweiter Hand" zugrunde. Mangels einer biographischen Bindung an Eigenerfahrung kann dann aber die Inhaltstruktur bzw. der Gesamtaufbau dieser Erzählungen mit zunehmender Distanz zum Geschehen um so weniger von einer tatsächlich stattgefundenen historischen Ereignisfolge geprägt sein. Viel elementarer und vorrangig muß deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt die Logik solcher Erzählungen von der aktuellen Wirkabsicht ihres Autors her entschlüsselt werden, wobei der dreifache narrative Zugzwang auch in derartigen Erzählungen als Gestaltungsmittel voll zum Tragen kommt. Daß aber auch nicht selbsterlebte Geschichten, d.h. "Erzählungen aus zweiter Hand" im Rahmen konversationeilen Erzählens ihren Ort und ihre spezifische Funktionen in der Alltagskommunikation haben, zeigen die Beispiele und Überlegungen von R. Rath (1982, bes. S.39-42).

2.2.5

Identifikationspotentiale und Vergegenwärtigungsaspekte von Erzählungen aus zweiter Hand

In seinem Beitrag zu "Erzählfunktionen und Erzählankündigungen in Alltagsdialogen" macht R. Rath auf zwei Defizite in der noch jungen empirischen Erzählforschung aufmerksam. Zum einen bemängelt er "die semantische Restriktion, daß der Sprecher identisch sein müsse mit einer in die Geschichte verwickelten Person" (a.a.O. 35). Diese Restriktion, die bei U.M. Quasthoff materialabhängig (vgl. 1980, 17ff.) und bei W. Kallmeyer/

55 56

F. Schütze (1982, 573). Vgl. F. Schütze, a.a.O.

52

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

F. Schütze von sozialwissenschaftlichen Forschungsinteressen bestimmt ist ("narratives Interview"), führt dazu, daß "die große Klasse der Erzählungen, die auf nicht selbsterlebte Geschichten zurückgehen, ausgeschlossen" werden (a.a.O.), obschon sie in Alltagsdialogen durchaus häufig sind. Zum zweiten macht R. Rath - wenn auch überbetont - auf die 'phatische' Funktion von Erzählungen aufmerksam. In Aufnahme eines längeren Zitats von B. Malinowski umschreibt Rath "phatische Kommunikation" als "eine Art der Rede, bei der durch den bloßen Austausch von Wörtern Bande der Gemeinsamkeit geschaffen werden" (37). Auf diese "phatische Funktion" weist allerdings schon U.M. Quasthoff im Rahmen der "interaktiven Funktionen" hin (1980, 169), die erzählerisch durch einen "hohen Detaillierungsgrad" realisiert wird, "um einfach den Kontakt zum Zuhörer über einen möglichst langen Zeitraum hinweg nicht abreißen zu lassen" (a.a.O. 169f.). Die phatische Funktion z.B. von Kaffeeklatsch, Stammtischerzählungen oder Partyunterhaltungen sieht R. Rath darin, daß "alle diese Handlungen ... dazu (dienen), die Kommunikation aufrechtzuerhalten und dabei ein Gefühl von 'Gemeinsamkeit' zu stiften: man lacht und amüsiert sich über dieselben Dinge, man verschafft sich wechselseitig Kenntnisse über den Alltag und die Alltagserlebnisse der anderen, man lernt sich besser kennen", so daß "unter diesem übergeordneten Gesichtspunkt der Beziehungsstiftung und -Vertiefung ... auch das scheinbar Belanglose erzählenswert, alles ... erzählenswert (wird)" (39). Mit der Hauptthese, daß "Erzählen ... primär eine phatische Handlung" sei, überzieht R. Rath (37) jedoch diesen Aspekt ebenso wie mit seiner Behauptung, daß dort, wo die Hauptfunktion des Erzählens in der Beziehungsstiftung und -Vertiefung liegt, schlechterdings alles erzählenswert wird. Im Sinne des "erzählenswerten Ereignisses", das die Basiskomplikation einer Erzählung ausmacht, läßt sich diese Behauptung in ihrer Extremform sicher nicht aufrecht erhalten, da sich selbst der Amüsier- und Unterhaltungswert von Erzählungen u.a. daran bemißt, wie "spannend" oder "interessant" eine Geschichte erzählt wird. 5 7 Deshalb wird man mit gutem Grunde dabei bleiben, das "erzählenswerte Ereignis" bzw. seine pointierte Herausarbeitung in einer Erzählung als Grundkriterium für Erzählungen und für das Erzählen im engeren Sinne gelten zu lassen, wie es K. Ehlich (1983b) in seiner Abgrenzung von "erzählen2" von einem weiteren Begriff von "erzählenl" zu definieren versucht (vgl. bes. 128-131). Der weite Begriff umfaßt auch sprachliche Tätigkeiten wie "berichten", "mitteilen", "darstellen", "schildern" etc., denen mit dem Erzählen im engeren Sinne der Bezug auf "Geschehnisse und Ereignisse, also Begebenheiten im weitesten Sinn" gemeinsam ist (a.a.O. 140), die zum Zeitpunkt der Kommunikation abgeschlos-

Vgl. zur Kritik auch die Zusammenfassung der Diskussion zu R. Raths Beitrag in E. Lämmert (Hg., 1982, 185f.) und zur "phatischen Funktion" von Erzählungen neben anderen Funktionsaspekten E. Gülich (1980, 355f.).

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.5

53

sen und diesem Zeitpunkt gegenüber damit grundsätzlich in der Vergangenheit liegen. Erzählen im engeren Sinne zeichnet sich nach Ehlich vor allem durch das spannungserzeugende, erzählenswerte Ereignis des Unerwarteten und Ungewöhnlichen im Spannungsfeld zwischen Komplikation und Auflösung aus, das den anderen Mitteilungsformen vergangener Sachverhalte als Darstellungsformen des Normalen, nicht Ungewöhnlichen fehlt (vgl. a.a.O. 140f.). Auf anderem Wege kommen E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1986b, 223-225) zu einer einleuchtenden Abgrenzung von "erzählen" im engeren Sinne gegenüber dem "berichten". In beiden Darstellungsmodi - die Autorinnen ziehen als dritten Modus das Statement mit ein - kann ein und derselbe Sachverhalt dargestellt werden. Das Besondere einer narrativen Darstellung ist jedoch der Modus des Nachspielens ("replaying mode", a.a.O. 223), der sich aller Mittel der Detaillierung bedient um die Bühne und das Drama dieser verbalen Nachspielung zu schaffen (direkte Reden, Atomisierung der Situationen, Dramatisierung der Handlung durch Herausarbeitung des erzählenswerten Ereignisses und der Gegensatzrelation mit evaluativen Elementen etc., vgl. a.a.O. 223f.). Demgegenüber zeichnet sich der Berichtmodus durch das Fehlen all dieser Spielelemente aus: "Instead of atomizing the events, the report sums them up. Instead of direct speech the report uses indirect or other forms of reported speech etc." 58 D e n n o c h m a c h t R . R a t h mit der phatischen F u n k t i o n auf eine wichtige Grundfunktion bestimmter T y p e n v o n Erzählungen aufmerksam, die nicht nur im R a h m e n v o n Stammtisch und Kaffeeklatsch ihre primär gemeinschaftsstiftende und -erhaltende F u n k t i o n haben. Besonders M y t h e n , E p e n oder Sagen dienen für ganze Volksgruppen oder Völker im Wiedererzählen der Identitätsstiftung und -wahrung dieser ethnischen u n d / o d e r religiösen Gemeinschaften als Erzählgemeinschaften. 5 9 U n d nicht zuletzt gibt es Familienerzählungen über gemeinsam bewältigte Schicksale oder herausragende Vorfahren, die jeder Generation neu erzählt werden, u m die Identität der Familie i m Wandel der Zeit durch das je neue Erzählen ihrer Geschichte bzw. Geschichten zu wahren. Wichtiger an R . R a t h s Beitrag sind seine Beobachtungen zur F u n k t i o n v o n Erzählungen aus zweiter H a n d , die nicht auf selbsterlebten Geschichten beruhen. A n verschiedenen Beispielen zeigt R a t h ( 3 9 4 1 ) , wie solche Erzählungen in Alltagsdialogen zur Legitimierung v o n vorgebrachten Argumenten eingesetzt werden. Dabei wird stets "zwischen einer aktuellen Handlung

58 59

A.a.O. 225, vgl. dort weiter zum "Statement". Vgl.dazu C. Hardmeier (1981a, 39-41). In der noch sehr offenen Diskussion um eine kategorial befriedigende Fassung der Erzählfunktionen ist neben U.M. Quasthoff (1980,131ff.) auf die Arbeiten von E. Gülich (1980) und K. Ehlich (1983b) zu verweisen, ohne daß hier die Diskussion im einzelnen weitergeführt werden kann. Hilfreich und orientierend ist vor allem der Systematisierungsversuch von K. Ehlich (134-140). Dabei bestimmt Ehlich die "phatische Funktion" von Erzählungen als "Tiefenfunktion des Erzählens" (a.a.O. 139): "Durch das Erzählen wird Gemeinsamkeit hergestellt" und z.B. im Falle von Glücks-/ Unglücksgeschichten sich mitfreuende bzw. mitleidende Partizipation ermöglicht, die Solidarität stiftet (a.a.O.).

54

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grandlagen

und einer in der Vergangenheit liegenden Handlung - vorgebracht durch eine Erzählung - ... mittels eines Vergleichs eine Beziehung hergestellt und zwar in der Absicht, eine Parallelität, Analogie oder Identität zwischen den Handlungen zu erzeugen" (a.a.O. 41). Daß Gleichnis- oder Fabelerzählungen unter Bezug auf eine fiktive Welt in gleicher Weise funktionieren, sei hier nur angemerkt. Vor allem wird sich zeigen, daß die von uns untersuchten historischen Tendenzerzählungen in hohem Maße eine derartige Legitimationsfunktion in den aktuellen politisch-theologischen Auseinandersetzungen ihrer Entstehungssituation gehabt haben. Die hier aus der Forschungsdiskussion begründete Möglichkeit, auch literarische Erzählungen, Erzählungen aus zweiter Hand sowie Erzählungen mit einer phatischen Hauptfunktion z.B. der Identitätsvergewisserung mit in den Betrachtungsrahmen der empirischen Erzählforschung einzubeziehen, macht deutlich, daß dieser Forschungsansatz unter Berücksichtigung der notwendigen Modifikationen legitimerweise auf die Analyse von alttestamentlichen Erzähltexten übertragen und angewendet werden kann. Denn im AT haben wir es überwiegend mit Erzählungen und Erzählkomplexen aus zweiter Hand zu tun, 6 0 und es handelt sich um eine Volksliteratur bzw. stets um die Literatur von Kollektiven, die entstanden ist und vor allem weitertradiert wurde, weil es darin wesentlich, wenn auch sicher nicht auschließlich, um die Wahrung der eigenen Identität gegangen ist. Sind nun aber literarische Erzählungen aus zweiter Hand unser primärer Gegenstand der Analyse, dann muß die Aufmerksamkeit auf einen weiteren strukturellen Aspekt der Erzählkommunikation gerichtet werden, der in der bisherigen empirischen Erzählforschung nicht berücksichtigt worden ist, da sie sich auf Erzählungen beschränkt hat, in deren Geschichte der Erzähler selbst verstrickt ist. Vergleicht man Erzählungen aus zweiter Hand mit Erzählungen von selbsterlebten Geschichten, so tritt dieser weitere Aspekt, den wir als das Identifikationspotential einer Erzählung bezeichnen, klar zu Tage. R. Raths Beobachtungen machen deutlich, daß bei Zweithanderzählungen zumindest implizit eine Reihe von Beziehungen zwischen dem Erzählten und der Erzählgegenwart hergestellt werden muß, damit das Erzählte überhaupt eine Relevanz gewinnen kann. Auf dem Wege der Analogiebildung und der Identifikation bzw. der Teil- oder Gegenidentifikation mit den Ereignisträgern und ihrem erzählten Verhalten wird offenbar unwillkürlich vom Erzähler wie vom Zuhörer, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Weise, ein vielfältiges Netz von Beziehungen zur eigenen Gegenwart und ihren Problemkonstellationen geknüpft. Das scheinbar weit Abliegende, Vergangene, Fiktive und "nur" von andern Erlebte, ist in Wahrheit ganz und gar aktuell und wird zumindest vom Erzähler mit dieser

Vgl. als bekannteste Ausnahmen die "Denkschrift Jesajas" 6,1-8,18 und die Nehemia-Memoiren.

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.5

55

Wirkungserwartung eingebracht, was immer die Funktion seiner Erzählung im einzelnen sein mag (Begründung, Belehrung, Belustigung u.a.m.). Diese Analogisierungs- und (Teil- oder Gegen-)Identifikationsprczesse spielen sich natürlich auch im Erzählen und Hören von eigenerlebten Geschichten ab. Nur laufen in solchen Fällen diese Prozesse primär und bevorzugt über die Person des Erzählers selbst ab. Der Erzähler ist ein in einzigartiger Weise privilegierter Ereignisträger seiner Geschichte, weil er zugleich in der Erzählgegenwart präsent, erlebbar und potentiell direkt ansprechbar ist. Relevanz und Glaubwürdigkeit seiner Erzählung werden zu einem guten Teil durch ihn geradezu verkörpert. Er ist das Identifikationsangebot seiner Erzählung par excellence. Eben diese identifikationsstiftende "lebendige" Brücke zwischen Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit fehlt jedoch jeder Zweithanderzählung, so daß in ihr sehr viel gezieltere Identifikationsangebote gemacht werden müssen, um ihr eine Gegenwartsrelevanz zu verschaffen. M.a.W müssen Zweithanderzählungen in sich ein sehr viel größeres Identifikationspotential tragen, um von den Zuhörern oder Lesern für ihre eigene Gegenwart relevant werden zu können, als Erzählungen von eigenerlebten Geschichten, deren Identifikationspotential weitgehend durch den Erzähler selbst im buchstäblichen Sinne verkörpert wird. Wie wir oben 2.1.3 festgestellt haben, vermittelt jede Geschichtenerzählung stets - zumindest implizit - die erzählten Ereignisse auch mit aktuellen Problemkonstellationen der Erzählgegenwart und gewinnt von daher obschon von Vergangenem handelnd - für die Erzählgemeinschaft überhaupt eine aktuelle Relevanz. Deshalb muß - besonders eine historische Erzählung - in der Gesamtdarstellung der Geschichte ein gewisses Identifikationspotential in sich tragen und den Adressaten ein entsprechendes "Angebot" machen. Aber auch der Erzähler selbst kann sich nur dann herausgefordert sehen, eine Geschichte aus zweiter Hand, d.h. z.B. eine historische Geschichte zu schreiben oder zu erzählen, wenn sie für ihn selbst relevant ist und er sich indirekt in dieser Geschichte selbst wiederfinden kann. Das Identifikationspotential einer Erzählung muß es dem Erzähler wie den Adressaten erlauben, beim Aufnehmen der Erzählung das Erzählte laufend in Beziehung zu setzen mit der eigenen Erfahrungswelt und den Problemkonstellationen ihrer Gegenwart. Auf dem Wege der Analogiebildung muß es für sie möglich sein, in den erzählten Situationen und Personen sowie in den erzählten Komplikationen und deren Auflösungen zumindest teilweise Situationen, Personen und Problemkonstellationen ihrer Gegenwart wiederzuerkennen.61 Der Grad an solchen Analogisierungsmöglichkeiten macht das Identifikationspotential einer Erzählung aus und damit zugleich den Grad ihrer impliziten Aktualität. Deshalb bleibt eine Geschichte ihren Adressaten um so fremder und ist für sie von um so geringerer Relevanz, je

61

Vgl. dazu C. Hardmeier (1981a, 38-40) und unten 4.2.

56

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

geringer dieses Identifikationspotential ausfällt. Ein Erzähler würde sie erst gar nicht erzählen und in der Tradition fiele sie der Zensur des Vergessens zum Opfer oder sie würde als Literatur nicht mehr weiterüberliefert. Für die Rekonstruktion der Erzählgegenwart aus der Struktur eines Erzähltextes müssen deshalb besonders jene Erzählelemente und Erzählteile ins Auge gefaßt werden, bei denen der Autor am ehesten gegenwartsbezogene oder gar -abhängige Identifikationsangebote in seine Vergangenheitsdarstellung einzeichnen kann. M.a.W. ist danach zu fragen, wo in einer Erzählung besonders Züge der Erzählgegenwart direkt oder zumindest nur leicht verkleidet und analogisierbar zu erwarten sind. Solche Identifikationsangebote sind besonders dort zu erwarten, wo der Erzähler seine Darstellung detailliert. Im einzelnen geschieht das bei der Charakterisierung und näheren Kennzeichnung der Hauptereignisträger. Überhaupt sind die handelnden Hauptfiguren in einer Erzählung identifikationsfähige Erzählelemente par excellence. Mit ihnen bzw. gegen sie identifiziert sich der Hörer beinahe unwillkürlich. Man denke nur an Zuhörerreaktionen von Kindern etwa bei Märchenerzählungen. Bei den Situationen, die die Ereigniskette szenisch in Sequenzen von Einzelepisoden gliedern, ist es vor allem das Lokalkolorit, was den Gegenwartsbezug vermuten lassen kann, wie die Analogie der historischen Malerei zeigt. Ein besonderes Mittel der Detaillierung bilden die direkten Reden in Erzählungen.62 An sich läßt sich eine Redehandlung wie jede andere Handlung als vergangenes Ereignis darstellen ("er fragte", "sie antwortete", X "behauptete", Y "bestritt", Z "berichtete" etc.). Die wesentlichen Inhalte von Redehandlungen lassen sich zudem in der indirekten Rede erzählend referieren. Demgegenüber ist die explizit eingeführte, direkte Rede ein besonderes Mittel der vergegenwärtigenden Präsentation von Redehandlungen in Erzählungen. Die Distanz schaffende Zeitstufe der narrativen Vergangenheit wird durch die Einführung der direkten Rede quasi außer Kraft gesetzt. Die redenden Personen treten auf, als stünden sie direkt auf einer Bühne vor den Zuhörern. Das Drama verbaler Interaktion wird nicht mehr erzählt, sondern direkt vor- bzw. aufgeführt. Damit hängen sich die erzählten Personen gewissermaßen für Momente weit aus dem Fenster der erzählten Geschichte heraus und verwandeln die narrative Distanz des Erzählten in eine dramatische, lehrhafte oder wie immer geartete Redebühne vor den Augen und Ohren der Zuhörer. Aus diesen Gründen sind in den direkten Reden von Erzählungen in ganz besonderer Weise gegenwartsträchtige Botschaften an die Zuhörerbzw. die Leserschaft zu vermuten und zu erwarten. Ja, E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1986b) gehen in der Beurteilung der direkten Reden noch einen Vgl. zur detaillierenden Funktion der direkten Rede vor allem U.M. Quasthoff (1980, 231).

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.6

57

Schritt weiter, was die Authentizität solcher Reden im Verhältnis zum erinnerten Geschehen betrifft: "The fact that narratives create rather than reflect reality can best be demonstrated by direct speech ... Numerous experiments of language processing show that the exact surface forms of utterances are retained only for a very short period of time while it is processed in short term memory. Accordingly ... their linguistic form has to be made up instead of being recalled" (a.a.O. 229).

D.h., besonders direkte Reden sind in der Regel nicht erinnerungsgestützte Zitate, sondern in bevorzugter Weise aktuelle, primär aus den Bedürfnissen der Erzählsituation gestaltete Elemente einer Erzählung, in denen der Erzähler aktuelle Botschaften an seine Leser und Hörer richten kann. Was zu einzelnen Personen in der Geschichte gesagt und ihnen eingeschärft wird, das richtet sich mittelbar und doch direkt auch an den Leser oder Zuhörer, der sich mit diesen erzählten Personen identifiziert. Und was Personen in der Geschichte mit einer besonders herausgearbeiteten und auch vom Zuhörer akzeptierten Autorität sagen, das nimmt sich dieser Leser oder Zuhörer ganz unwillkürlich auch selbst zu Herzen. Unsere Analyse der Rabschake-Reden in den HKJ-Erzählungen wird zeigen, daß das besondere Identifikationspotential, das im Darstellungsmittel der direkten Rede steckt, auch dazu eingesetzt werden kann, über eine Negativfigur, die auf der Erzählebene diese Reden hält, aktuelle politisch-theologische Gegenpositionen in der Erzählgegenwart abzuqualifizieren.63 Ein letztes Feld besonderer Identifikationsangebote liegt auf der Ebene der Verlaufskurve der ganzen Erzählung. Insbesondere für die Basiskomplikation aber auch ihre mehr oder weniger erfolgreichen Auflösungsversuche ist besonders bei historischen Erzählungen zu erwarten, daß sie stets ein Stück weit analogisierbar sind mit aktuellen Problemkonstellationen der Erzählgegenwart. Demgegenüber ist für die erfolgreiche und endgültige Auflösung der Basiskomplikation mit der Möglichkeit zu rechnen, daß hier der Erzähler eine Lösungsperspektive in der Vergangenheit sieht und sie zu Ende erzählt, daß diese endgültige Auflösung in der Vergangenheit jedoch der analogen Problemkonstellation in der Erzählgegenwart als mögliche Lösung noch vorausliegt. Diese wird dann mit der zu Ende erzählten Geschichte als eine vom Erzähler gewünschte Zukunftsperspektive den Zuhörern angeboten im Sinne eines "Lernens aus der Geschichte".

Vgl. unten Kap. 5.3 und 5.4.

58 2.2.6

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Zusammenfassung und Folgerungen

Die Darstellung und Diskussion wesentlicher Strukturelemente von Erzählungen in Orientierung vor allem an den erzählempirischen Modellen von W. Kallmeyer/ F. Schütze, W. Labov/ J. Waletzky und U.M. Quasthoff haben deutlich gemacht, daß diese Strukturelemente zum Teil auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen. Mit den kognitiven Strukturen (2.2.1) werden die eigentlichen Inhaltselemente, - sprechakttheoretisch gesprochen der propositionale Gehalt einer Erzählung in seinen kategorialen Elementen umschrieben. In der Verlaufsstruktur der "thematischen Geschichte" (2.2.2) werden die typisierbaren Grundelemente der Verlaufskurven von Einzelerzählungen erfaßt und in ihrer Basisbeziehung zueinander bestimmt. Als weit verbreiteter Grundtypus bzw. als Vergleichsmaßstab dienende "Normalform" von Erzählungen hat sich das polare Schema von "Komplikation" und "Auflösung" erwiesen. Zwischen diesen Scheitelpunkten vollzieht sich von anderen möglichen Grundtypen abgesehen - die narrative Entfaltung einer Geschichte mit ihrer je spezifischen Verlaufskurve. Mit der Identifizierung dieser Scheitelpunkte in den einzelnen Erzählungen (soweit sie diesem Erzähltypus folgen) kann die spezifische Gestalt der "thematischen Geschichte" und ihrer konstitutiven Teile herausgearbeitet werden. Im Gegensatz zu "Komplikation" und "Auflösung" haben sich "Orientierung" und "Evaluation" als Strukturelemente erwiesen, die kategorial nicht zur thematischen Geschichte und ihrer Verlaufskurve gehören. Auch diese Elemente des Schemas von W. Labov/ J. Waletzky können nicht als in ihrer Stellung festgelegte Erzählteile betrachtet werden, weil ihr Auftreten bzw. ihre Realisierungsformen viel direkter pragmatisch bedingt, d.h. vom Adressatenbezug, der Wirkabsicht und damit von den interaktiven Bedingungen der aktuellen Erzählkommunikation abhängig sind. Wir haben sie deshalb eher als Aufgaben und Erfordernisse aufgefaßt, denen ein Autor im Erzeugen eines Erzähltextes gerecht werden muß. Erst recht gilt dies für die Gestaltungsverfahren von Erzählungen (2.2.3), mit denen ein Erzähler die kognitiven Strukturen in ihren Proportionen zueinander unter dem dreifachen narrativen Zugzwang situations-, adressaten- und wirkintentionsgerecht erzählerisch aufbaut und organisiert. Die zu untersuchenden Erzähltexte des AT haben besonders die Frage herausgefordert, ob und wie diese Forschungsansätze als heuristisches Betrachtungsmodell auf die in Frage stehenden Texte übertragen werden können, zumal diese Erzählforschung empirisch und ganz auf mündliche Alltagserzählungen unserer Gegenwart ausgerichtet ist. Für alle wesentlichen Unterschiede im Material (antike vs. moderne Texte, Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit, Zweithanderzählungen vs. eigenerlebte Geschichten) wurden die Übertragbarkeitsfrage geklärt und die notwendigen Adaptionen benannt (vgl. 2.2, 2.2.4 und 2.2.5). In einem Punkt führt diese Reflexion die linguistische Diskussion auch ihrerseits weiter, indem die Beschränkung auf Erzäh-

Strukturelemente von Erzählungen

2.2.6

59

lungen von eigenerlebten Geschichten durchbrochen wird. Die pragmatisch-funktionale Analyse von Zweithanderzählungen hat die Frage nach den Indentifikationsangeboten einer Erzählung für den Erzähler und die Hörer- bzw. die Leserschaft besonders herausgefordert und zur Erkenntnis eines weiteren Strukturelements der Erzähltextgestaltung geführt, das wir als Identifikationspotential einer Erzählung bezeichnet haben (2.2.5). Dabei geht es um den Grad der Korrelierbarkeit von Wissens-, Erfahrungs- und Problemperspektiven von Erzähler und Adressaten in der Erzählgegenwart mit der erzählten Geschichte und ihren kognitiven Strukturelementen sowie darum, wie der Erzähler diese Identifikationsangebote gestaltet. Zu einer zweiten Weiterentwicklung dieser empirischen Forschung, die ganz am Prozeß und an den Funktionen mündlicher Erzählkommunikation orientiert ist, fordert das Material des AT im folgenden heraus (2.3). Da uns in den alttestamentlichen Erzähltexten nur die Produkte bzw. die Resultate narrativer Kommunikation überliefert sind, rückt der Text als Manifestation vergangener Erzählkommunikation in seiner Oberflächengestalt ganz ins Zentrum des Interesses. Vor allem den Forschungsansätzen von W. Kallmeyer/ F. Schütze und U.M. Quasthoff, aus denen wir im wesentlichen die Strukturelemente von Erzählungen gewonnen haben, ist gemeinsam, daß sie Erzählen und damit die Erzeugung eines Erzähltextes primär als kommunikatives Handeln begreifen, deren Produkt dann ein je konkrete Erzähltext als aktuell hergestelltes Medium ist. Dabei verweisen die Autoren immer auch auf sprachliche Ausdrucksmittel, mit denen ein Erzähler einzelne Strukturelemente oder Funktionen textlich realisiert. Dennoch, diese primär produktionsorientierte Betrachtungsweise hat den Erzähltext selbst nur als Endresultat von Erzähleraktivitäten bzw. als Medium interaktiver Erzählkommunikation im Auge, nicht aber als primäres und einziges materiales Objekt. Der Bibelwissenschaftler (und jeder historische Literaturwissenschaftler) hat jedoch nur dieses Textobjekt, dieses Produkt einer längst vergangenen Erzählkommunikation vor sich, das deshalb für ihn der Ausgangspunkt aller Erzählanalyse schlechthin ist. Der Exeget hat - wie in 2.1.5 dargestellt - vom Text und seiner Sprachgestalt, d.h. von der Textoberfläche auszugehen, wie sie überliefert ist, und von da aus nach den in ihm realisierten bzw. ihm zugrunde liegenden semantisch-pragmatischen Strukturen und Funktionen zu fragen. Diese Strukturen bezeichnen wir zusammenfassend als Tiefenstrukturen von Erzähltexten, ohne diesen Begriff im strengen Sinne der Transformationsgrammatik zu verwenden. Aufgrund des Primärdatums Text müssen für die exegetische Arbeit an Erzähltexten in besonderer Weise Verfahren der Erzähltextanalyse entwickelt werden, die bei der Textoberfläche ansetzen und von der Sprachgestalt von Erzählungen her nach der spezifischen Realisierungsweise semantisch-pragmatischer Erzählstrukturen fragen. Diesen Weg haben E. Gülich und W. Raible in ihren "Überlegungen zu einer makrostrukturellen Textanalyse" (21979) eingeschlagen. Im folgenden wird der Versuch unter-

60

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

nommen, die von E. Gülich/ W. Raible herausgearbeiteten Gliederungsmerkmale von Erzähltexten als Struktursignale zu präzisieren, an denen sich die textliche Realisierung der kognitiven (Teil-)Strukturen, die spezifische Anwendung der narrativen Gestaltungsverfahren sowie orientierende und evaluative Teiltexte erkennen und ablesen lassen.

2.3

Kriterien der Erzähltextgliederung

Daß sich das Gliederungsverfahren von E. Gülich/ W. Raible aufgrund seiner Textorientiertheit für die exegetische Arbeit besonders eignet, zeigt die Fruchtbarmachung dieses Ansatzes für die Apokalypsen-Analyse durch D. Hellholm (1980, bes. S.76f.). Vor allem aber gehen die Autoren selbst von dem unbestreitbaren Axiom aus, "daß der Leser oder Hörer einer sprachlichen Mitteilung in der Lage sein muß, die Makrostruktur des Mitgeteilten an der Text'Oberfläche', d.h. an dem Text, wie er in seiner linearen Abfolge tatsächlich vorliegt, zu erkennen" ( 2 1979, 74). Nach diesem oberflächenorientierten Verfahren wird "der Text in funktionelle Teiltexte untergliedert", die entsprechend einer Hierarchie von Gliederungsmerkmalen als "Teiltexte verschiedenen Grades" nach ihrer Funktion im Gesamttext befragt werden (a.a.O. 74, vgl. 76). Die Gliederungsmerkmale selbst und ihre Hierarchisierung werden zum größten Teil an einem Modell sprachlicher Kommunikation gewonnen. Diese Orientierung am (narrativen) Kommunikationsprozeß macht den Ansatz vom Prinzip her kompatibel mit den in 2.2 herangezogenen Ansätzen einer mehr produktionsorientierten empirischen Erzählforschung mit dem Vorteil für den Exegeten, daß E. Gülich/ W. Raible konsequent von Gliederungsmerkmalen der Textoberfläche ausgehen. Allerdings ist dabei der Einwand von U.M. Quasthoff zu berücksichtigen, "daß zwischen diesen Gliederungssignalen und den makrostrukturellen Zäsuren nach einem auch bei Gülich/Raible implizierten Begriff von Makrostruktur keine eindeutige Beziehung besteht" und deshalb "dieser Versuch einer nur formalen Abgrenzung von Textstrukturelementen als gescheitert angesehen werden (muß)" (a.a.O. 31). Auch wenn hier nicht von einem Scheitern gesprochen werden kann, ist das von U.M. Quasthoff aufgeworfene Problem sorgfältig zu beachten. Nach unseren Überlegungen in 2.2.2 beziehen sich z.B. die Erzählteile, wie sie von W. Labov/ J. Waletzky vorgeschlagen worden sind, teils auf die "kognitiven Strukturen", d.h. grob gesagt, auf die erzählten "Inhalte" und ihre festgelegte Abfolge ("Komplikation" und "Auflösung"), teils aber auch auf pragmatisch-interaktiv bedingte Strukturmomente ("Orientierung" und "Evaluation"), die in ihrer Stellung nicht festgelegt sind und, besonders was die Evaluation betrifft, auch nur implizit, ohne direkte sprachliche Repräsentation an der Textoberfläche

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3

61

realisiert sein können. 6 4 Konsequenterweise ist denn auch E. Gülichs Versuch nur zum Teil geglückt, die Textteile nach W. Labov/ J. Waletzky als Strukturen des Erzähliexfes, nicht der erzählten Geschichte (vgl. 1976, 252) zur Deckung zu bringen mit den Teiltexten, die sie in Orientierung an den Gliederungsmerkmalen der Textoberfläche gewonnen hat. Dabei hat Gülich die Nicht-Übereinstimmung für die "Evaluation" selbst festgestellt und problematisiert. 65 Nun muß insbesondere im Interesse aller Philologien, die nur Texte als Primärdaten zur Verfügung haben, daran festgehalten werden, daß die "Untersuchung abstrakter narrativer Strukturen" auszugehen bzw. im Zusammenhang zu stehen hat "mit der Untersuchung sprachlicher Merkmale des Erzählrexfes", so daß "die bisher" auch in der Exegese "weitgehend vernachlässigten Beziehungen zwischen Erzähltext und Geschichte geklärt werden können". 6 6 Dazu braucht man sich im Blick auf das Gliederungsverfahren von E. Gülich/ W. Raible nur von der Erwartung zu lösen, man könne mit diesem konsequent oberflächenorientierten Verfahren im Sinne einer einszu-eins-Relation direkt auf "tiefenstrukturelle" Erzählelemente zugreifen, wie wir sie in 2.2 zusammengetragen haben. 67 Begreift man nämlich dieses Gliederungsverfahren als rein erzähliexi-strukturierendes Verfahren, lassen sich damit gleichwohl auch umfangreiche und komplexe Erzähltexte bis hin zu kleinsten Teiltexten auf Satzebene in ausgezeichneter und leicht handhabbarer Weise abgrenzen und beschreiben. Im folgenden ist zu umreißen, was bei der Aufnahme dieses Gliederungsverfahrens bedacht werden sollte. a) Das Verfahren ist von den Autoren für Erzähltexte im engeren Sinne 6 8 entwickelt worden. Gleichwohl soll und kann es auch angewendet werden auf Darstellungsweisen wie "berichten", "mitteilen", "darstellen", "schildern" etc., denen mit dem Erzählen im engeren Sinne der Bezug auf "Geschehnisse und Ereignisse, also Begebenheiten im weitesten Sinn" gemeinsam ist, 69 die zum Zeitpunkt der Kommunikation abgeschlossen sind und damit grundsätzlich in der Vergangenheit liegen. Demgegenüber müßte für argumentative Texte, in denen primär Gegenstände und Sachverhalte der Kommunikationsgegenwart selbst verhandelt werden, ein eigenes Gliede-

64 65 66

67

68 69

Vgl. dazu auch U.M. Quasthoff, a.a.O. Vgl. a.a.O. 252-254 und oben 2.2.2. E. Gülich, a.a.O. 252. Zu diesem Defizit in der Exegese vgl. H. Schweizer (1984, bes. 167-169) und C. Hardmeier (1986a, 91). Das von U.M. Quasthoff bemerkte "Scheitern" des Ansatzes von E. Gülich/ W. Raible (vgl. oben) bezieht sich genau auf diese in der Tat enttäuschte Erwartung, nicht jedoch auf das Verfahren einer sinnvollen und erhellenden Erzähltextgliederung als solcher. Nach K. Ehlich "erzählen2\ vgl. oben 2.2.5. K. Ehlich (1983b, 140).

62

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

rungsverfahren der Rede im weitesten Sinne entwickelt werden, weil hier die 'ich-jetzt-hier-origo' (K. Bühler) des Sprechers in fundamental anderer Weise den Referenzrahmen des Redetextes abgibt als bei Erzähltexten. Dementsprechend ist sowohl die deiktische Struktur solcher Texte ganz anders als auch vor allem die satz- und textsyntaktische Struktur, in der sich ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Sprechaktvollzüge ("begründen", "auffordern", "behaupten" etc.) niederschlägt im Gegensatz zu der vergleichsweise monotonen Abfolge narrativer Sätze in Erzählungen, Berichten etc. b) Auch die von E. Gülich/ W. Raible in Korrespondenz zum Abgrenzungsgrad der Gliederungsmerkmale vorgenommene Teiltexthierarchisierung sollte entsprechend dem Einwand von U.M. Quasthoff nicht unmittelbar als Abbildung "tiefenstruktureller" Konstellationen genommen werden. 70 Zur Erfassung der Proportionen und Teiltextbezüge untereinander auf der Ebene der Textoberfläche selbst kann eine modifizierte und relative Hierarchisierung jedoch wertvolle Erkenntnishilfen leisten. Vor allem werden dadurch nicht nur die vielfältigen Einbettungsverhältnisse einzelner Textteile erkennbar und beschreibbar, sondern auch die Basisknotenpunkte der Gesamtorganisation der Erzähltextoberfläche. c) Benutzt man das von E. Gülich/ W. Raible entwickelte Modell als oberflächenstrukturierendes Gliederungsverfahren von Erzähltexten, dann ist gesondert nach der Beziehung der Gliederungsmerkmale bzw. der ausgegrenzten Teiltexte zu Elementen der Tiefenstruktur zu fragen. Dabei ist zu erwarten, daß entsprechend der Polysemie und Mehrfunktionalität sprachlicher Elementarzeichen auch Textgliederungsmerkmale und die entsprechenden Teiltexte mehrere Funktionen übernehmen bzw. ganz unterschiedliche Aspekte der Tiefenstruktur erkennen lassen oder repräsentieren können. Nach der Darstellung des Gliederungsverfahrens selbst (2.3.1) soll diesem Zusammenhang mit den in 2.2 dargestellten Strukturelementen ein Stück weit nachgegangen werden (2.3.2). Da die Gliederungsmerkmale nach E. Gülich/ W. Raible insofern "semantischer" Natur sind, als sie z.T. einen übereinzelsprachlichen Charakter tragen und darüberhinaus auch einzelsprachlich durch ganz unterschiedliche Ausdrücke repräsentiert sein können, sind auch die "Ausdrucksseite", d.h. die möglichen einzelsprachlichen Repräsentationsformen dieser Merkmale noch genauer zu erörtern und zumindest für das Althebräische exemplarisch zu benennen (2.4). Damit sollen einige Brücken auf dem Wege von der ausdrucksformalen Textoberflächengestalt zu seiner semantisch-pragmatischen Tiefenstruktur geschlagen werden.

70

Vgl. dazu auch die Kritik von G. Wienold (1982).

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.1

2.3.1

63

Die Gliederungsmerkmale nach E. Gülich und W. Raible

Ausgehend vom Modell der sprachlichen Kommunikation werden in E. Gülich/ W. Raible (21979, 76-86) zunächst einige grundsätzliche Gesichtspunkte der Entwicklung von Gliederungsmerkmalen zur Textbeschreibung entfaltet. 71 Grundlegend ist die Unterscheidung von "textexternen" und "textinternen" Merkmalen. '"Textexterne Merkmale*... (sind) auf die Faktoren 'Sprecher', 'Hörer', 'Kommunikationssituation', 'Bereich der Gegenstände und Sachverhalte' bezogen", '"textinterne Merkmale'" "auf den Faktor 'Sprachsystem'" (a.a.O. 79). Textexterne Merkmale verfügen definitionsgemäß über ein "Analogon im textexternen Bereich" (a.a.O. 80), während textinterne Merkmale primär nach textgrammatischen Regeln des Sprachsystems funktionieren, "die für die Konstitution größerer sprachlicher Einheiten, d.h. von Einheiten oberhalb der Satzgrenze, relevant sind" (a.a.O). Sie haben kein oder "zumindest kein direktes" Analogon im textexternen Bereich "im Sinne einer eins-zu-eins-Entsprechung" (a.a.O.). Unter den textexternen Merkmalen sind wiederum zwei Gruppen zu unterscheiden: Merkmale, die sich auf den Faktor 'Kommunikation' und 'Kommunikationssituation' mit 'Sprecher' und 'Hörer' beziehen (vgl. a.a.O. 81-84) und die wir als 'kommunikationsbezogene Merkmale' bezeichnen wollen (2.3.1.1), sowie eine zweite Gruppe von Merkmalen, die sich auf die Personen, Gegenstände und Sachverhalte der erzählten Geschichte in ihrem raum-zeitlichen Ablauf beziehen (vgl. a.a.O. 84-86). Sie sollen als 'geschichtenbezogene Merkmale' bezeichnet werden (2.3.1.2).

2.3.1.1

Kommunikationsbezogene Merkmale

E. Gülich/ W. Raible gehen von der an sich trivialen, aber von einer rein "inhaltsorientierten" Text- und Erzählanalyse grob vernachlässigten Tatsache aus, 72 daß auch Erzählen ein Kommunikationsvorgang ist, der sich zwischen Sprecher/Autor und Hörer/Leser vollzieht. Jede Art von Kommunikation läßt sich nun aber in Gestalt von eingeführten direkten Reden in laufenden Kommunikationsprozessen ihrerseits thematisieren, indem der Sprecher/Autor im Bereich der erzählten, berichteten oder mitgeteilten Gegenstände und Sachverhalte wiederum Personen als Kommunikationspartner auftreten läßt, die sich ihrerseits direkt etwas mitteilen, erzählen etc. Damit ist in allen Texten insbesondere aber in Erzähltexten, in

71

72

Zur zusammenfassenden Darstellung des Ansatzes vgl. auch E. Gülich (1976, 241244) sowie die Rezeptionen in Bereich der biblischen Exegese bei D. Hellhohn (1980, 77-95) und C. Hardmeier (1979, 37-42). Vgl. E. Gülich (1976, bes. S.229).

64

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

denen direkte Reden auftreten, zuerst zwischen verschiedenen Ebenen der Kommunikation zu unterscheiden. Die Kommunikation zwischen Sprecher/Autor und Hörer/Leser, deren Bestandteil der ganze kommunizierte Text ist, verläuft auf der ersten Ebene der Kommunikation. Alle direkten Reden, die im Bereich der Gegenstände und Sachverhalte auf der ersten Ebene eingeführt werden, sind in diese erste Ebene eingebettete Äußerungen. Sie stehen dann auf der zweiten Ebene der Kommunikation oder einer noch höheren Ebene, sobald in direkten Reden wiederum weitere direkte Reden eingeführt und damit eingebettet werden. In biblischen Erzählungen sind Einbettungen drei- oder gar vierfachen Grades zu beobachten, d.h. eingeführte Reden auf der vierten oder sogar fünften Ebene der Kommunikation. 73 Abgrenzungskriterium für Textteile auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation sind "metakommunikative Sätze oder Hypersätze ..., die eine Kommunikationssituation thematisieren, z.B. in der Form: 'A sagte zu B'". 74 Diese Sätze stellen "den Bezugspunkt für die eventuell in dieser Mitteilung vorkommende personale, temporale und lokale Deixis zur Verfügung" (a.a.O. 83).75 und enthalten "in der Regel ein verbum dicendi, ... verbum sentiendi oder cogitandi" bzw. im Falle von rezeptiven Akten "Verben der Sinneswahrnehmung (z.B. hören") (a.a.O. 83f.). Eine explizite Thematisierung der Kommunikationssituationen von eingeführten direkten Reden durch metakommunikative Sätze ist deshalb notwendig, weil sonst z.B. die Zuhörer einer Erzählung die erste und zweite Person in solchen Reden automatisch auf den Erzähler und auf sich selbst als Angesprochene beziehen, d.h. auf die erste Ebene der Kommunikation und nicht auf die eingeführte. Deshalb sind solche metakommunikativen Sätze sehr zuverlässige Indikatoren für den Wechsel von Kommunikationsebenen (vgl. a.a.O. 87). Da mit jeder Kommunikationsebene ein eigenes Bezugsfeld der Textgliederung etabliert wird, dürfen ferner "Gliederungsmerkmale, die auf der zweiten Ebene der Kommunikation vorkommen, ... nicht als Gliederungsmerkmale auf der ersten Ebene der Kommunikation 73

74 75

Als Beispiel für dreifache Einbettungen vgl. die Ebenenanalyse zu Jes 7,1-9 bei C. Hardmeier (1979, 43f.). Dort wird die Kommunikationsebene zwischen Autor und Leser noch als Ebene 0 bezeichnet, so daß mit den Indizes 1 bis 3 die abgeleiteten Ebenen mit ihrem Einbettungsgrad benannt werden. Vierfache Einbettung liegt z.B. in II Reg 18,20 vor (vgl. dazu unten 5.4.2.1). E. Gülich/ W. Raible, a.a.O. 82. Zum Begriff der Deixis als Zeigfunktion sprachlicher Ausdrücke, die auf das "Zeigfeld" der Sprechsituation bezogen und deren Koordinaten in der 'ich-jetzt-hier-origo* des Sprechers zentriert sind, vgl. die Darstellung bei C. Hardmeier (1978, 96f. und 144) sowie dort zu den sprachtheoretischen Grundlagen (K. Bühler und D. Wunderlich).

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.1

65

mißverstanden werden" (a.a.O. 82). Deshalb sind bei jeder Textgliederung zuerst die direkten Reden auf den verschiedenen eingebetteten Ebenen der Kommunikation zu isolieren und "die Skala der Gliederungsmerkmale (muß) stets zuerst auf der ersten Ebene der Kommunikation angewandt werden" (a.a.O. 82). E. Gülich/ W. Raible machen im Rahmen kommunikationsbezogener Gliederungsmerkmale auf eine weitere, allerdings nicht ganz so klar und eindeutig definierbare Erscheinung aufmerksam: die "Substitution auf Metaebene" (a.a.O. 87-90). Substitution ist ein ganz allgemeines sprachliches Prinzip und dokumentiert sich im Bereich der Gegenstandsund Sachverhaltsdarstellung am augenfälligsten in der Möglichkeit, sich auf Gegenstände oder Sachverhalte, die durch Nomina bezeichnet worden sind, mittels entsprechender Pronomina oder anderer partiell synonymer Ausdrücke erneut zu beziehen oder (seltener) auf solche vorauszuverweisen.76 "Wird nun ... ein ... Text als Ganzes oder werden Teile des Textes als Bestandteil eines Kommunikationsprozesses bezeichnet", ist nach E. Gülich/ W. Raible von "'Substitution auf Metaebene'" zu sprechen, die näher als "Rede über etwas Kommuniziertes (oder seltener: über etwas zu Kommunizierendes)" (a.a.O. 88) zu kennzeichnen ist. Wesentliche Merkmale solcher "Reden über Kommuniziertes" sind zum einen "metakommunikative Nomina, gegebenenfalls in Verbindung mit metakommunikativen Verben", mit denen z.B. "ein Text oder Teiltext als 'Rede' oder 'Erzählung* bezeichnet wird", was z.T. in Titeln oder im Alten Testament auch in Höraufrufen oder in der Liedankündigung in Jes 5,1 der Fall ist.77 Natürlich können auch Pronomina, soweit sie den Text als Ganzes substituieren, diese Funktion übernehmen (vgl. E. Gülich/ W. Raible, a.a.O. 90). Zum zweiten gehören solche Substitutionen auf Metaebene grundsätzlich zur gleichen Ebene der Kommunikation wie der Text oder Textteil, der darin metakommunikativ selbst zum Gegenstand dieser Kommunikation gemacht wird (z.B. die "Moral" einer Geschichte). Deshalb erübrigt sich im Unterschied zu den metakommunikativen Sätzen, die eine neue Ebene der Kommunikation einführen, ein "Bezugspunkt für personale, lokale und temporale Deixis" (a.a.O. 88). Die Abgrenzung der Substitution auf Metaebene von allen Formen der Paraphrase (a.a.O. 89f.) wird nicht ganz klar. Sie ist wohl darin zu sehen, daß sich Paraphrasen als erläuternde Bemerkungen des Autors grundsätzlich auf Einzelaspekte des Erzählinhalts (Gegenstände und Sachverhalte) beziehen, während Substitutionen auf Metaebene Texte oder Teiltexte als Ganze zum Gegenstand einer Metakommunikation haben.

76 77

vgl. dazu C. Hardmeier (1978,144f.). Vgl. dazu C. Hardmeier (1979, 39f. und 53).

66

Kapitel 2

2.3.1.2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Geschichtenbezogene Merkmale

Diese zweite Gruppe von Gliederungsmerkmalen mit einem Analogon im textexternen Bereich bezieht sich auschließlich auf das raum-zeitliche und personale Gefüge der erzählten Geschichte, wie es sich in seinen wechselseitigen Begrenzungen im Erzähltext abbildet, d.h. auf den Bereich der Gegenstände und Sachverhalte in ihrem Bezug auf Raum und Zeit. E. Gülich/ W. Raible orientieren sich in der Beschreibung dieser Gruppe von Gliederungsmerkmalen an der folgenden trivialen Tatsache: "Handlungsabläufe finden in Raum-Zeit-Kontinua statt und lassen sich nach Veränderungen in der Dimension der Zeit, in den Dimensionen des Raums und nach Veränderungen in der Konstellation der Handlungsträger gliedern" (85). Die Relevanz dieser Gliederungsgesichtspunkte zeigt sich nach E. Gülich/ W. Raible auch darin, "daß Dramen ... nach genau diesen Kriterien in Akte und Szenen gegliedert werden" (a.a.O. 86). Dementsprechend "kommt den Orts- und Zeitbestimmungen besondere Bedeutung für die Gliederung des Textes zu"/® Sie manifestieren sich in Erzähltexten als "Episoden- und Iterationsmerkmale". Dabei konzentrieren sich E. Gülich/ W. Raible vor allem auf die Art der temporalen Merkmale, da "Ortsveränderungen ... meist nur im Zusammenhang mit dem zeitlichen Ablauf eine Rolle (spielen)".79 Allerdings ist diese Einschätzung stark materialabhängig, da es im Alten Testament - wie z.B. in II Reg 18,13ff. - auch stark lokal gegliederte Erzählungen gibt, so daß darauf gleichwertig zu achten ist. Unter Episodenmerkmalen verstehen die Verfasser Zeitangaben, die die Einmaligkeit des dargestellten Ablaufs markieren (z.B. "eines Tages", vgl. a.a.O. 91). Demgegenüber zeigen Iterationsmerkmale als Zeitsignale an, "daß sich ein bestimmter Handlungsablauf in einem bestimmten Rahmen wiederholt" (z.B. "jeden Tag", a.a.O.). Der Art der Episodenmerkmale entsprechen in einzelnen Sprachen bestimmte Tempora, die unterschiedliche Aktionsarten (semelfaktiv gegenüber durativ oder iterativ) zu differenzieren vermögen.80 Eine wichtige zusätzliche Unterscheidung macht E. Gülich (a.a.O. 243) bei den Episodenmerkmalen. "Je nachdem, ob das Episodenmerkmal den Ausgangspunkt für einen Handlungsablauf setzt oder sich auf den durch das Ausgangsmerkmal bezeichneten Zeitraum bezieht", handelt es sich um "Ausgangs-" oder "Nachfolgemerkmale". Ein zweiter Gliederungsgesichtspunkt ergibt sich aus der "Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger",81 Solche Veränderungen liegen

78

E. Gülich (1976, 242).

79

E. Gülich, a.a.O. 242f., vgl. E. Gülich/ W . Raible, a.a.O. 86.

80

Vgl. dazu C. Hardmeier (1978,181, Anm. 44) und unten Anm. 82.

81

E. Gülich/ W . Raible, a.a.O. 93, vgl. 85f.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.1

67

vor, wenn in Erzählungen Handlungs- bzw. Ereignisträger neu oder wiedereingeführt bzw. (vor allem pronominal) nicht mehr weiter aufgenommen werden. Auf der Ebene der erzählten Geschichte treten sie dementsprechend wie im Drama zum Geschehen neu oder wieder hinzu und sind anwesend, bzw. sie treten von der Bühne des Geschehens vorübergehend oder für immer ab. Jedesmal vollzieht sich darin eine Veränderung der Konstellation der Handlungsträger, die den Handlungsverlauf wesentlich gliedert und an der Textoberfläche durch entsprechende Formen der Einführung, der Wiederaufnahme und der Folgeerwähnung bzw. an ihrem Abbruch beobachtet werden kann. Zu solchen Veränderungen gehören nach E. Gülich/ W. Raible auch eine "Neubesetzung der Rolle des Agens" und in Fällen, "wo Personen stets in Gruppen auftreten und agieren, ... der Wechsel zwischen den Gruppen oder Parteien" (a.a.O.).

2.3.1.3

Textinterne Merkmale

Mit dieser Gruppe von Merkmalen verweisen E. Gülich/ W. Raible auf Mittel und Merkmale der Textstrukturierung, die im Sprachsystem von Einzelsprachen angelegt sind und nicht direkt auf ein Analogon im textexternen Bereich bezogen werden können. Einerseits sind sie für die Feingliederung von Texten von größter Bedeutung und treten andererseits oft in Verbindung mit oder selbst als Ausdruck von textextern begründeten Gliederungsmerkmalen auf. Während die textexternen Gliederungsmerkmale primär semantisch-funktional definiert sind und ihre möglichen Ausdrucksformen in Erzähltexten noch genauer zu erörtern sind (vgl. unten 2.4), werden mit den textinternen Merkmalen bestimmte grammatisch-ausdrucksformale Kategorien von sprachlichen Zeichen im Blick auf ihren funktional-semantischen Beitrag zur Textstrukturierung in Betracht gezogen. Konkret handelt es sich um die im klassischen Sinne textgrammatischen Ausdrucksmittel, die funktional über die Satzebene hinausgreifen: das Tempussystem, nominale und pronominale Substitutionsverfahren sowie die Mittel der Hauptsatz- oder Teiltextverknüpfung (Textsyntax). Der Tempuswechsel ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung, auch wenn er bei E. Gülich/ W. Raible (a.a.O. 94) aus praktischen Gründen nur geringe Beachtung findet. Der zeitstufenbezogene Wechsel von der (narrativen) Vergangenheit zur Gegenwart kann z.B. Erzählabschnitte im "szenischen Präsens" markieren. Er ist ferner charakteristisch für Teiltexte von Substitutionen auf Metaebene, wenn der Erzähler auf der ersten Ebene der Kommunikation explizit zum Erzählten Stellung nimmt. Zum andern können Ubergänge in der Aktionsart - sofern sie durch das Tempussystem ausgedrückt werden - Texte auch dann in durative oder iterative Teiltexte untergliedern, wenn keine entsprechenden Iterationsmerkmale auf der Ebene

68

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

adverbialer Angaben vorliegen.82 Andererseits stehen die Episoden- bzw. Iterationsmerkmale als "nicht-obstinate" Zeichen natürlich in enger Korrespondenz zur Obstination (= kontinuierliches Auftreten) entsprechender Tempusformen in iterativen, durativen oder progressiven Erzähltextabschnitten,83 die durch entsprechende Zeitangaben eingeleitet werden. Eine ähnliche Korrelation wie zwischen den textexternen Episodenbzw. Iterationsmerkmalen und dem Tempuswechsel besteht zwischen den Konstellationsveränderungen von Handlungsträgern und dem textinternen Gliederungsmerkmal der "Renominalisierung" 84 Während Handlungsträger in Erzählungen in der Regel durch Eigennamen oder durch nominale, d.h. z.B. durch Funktionsbezeichnungen (z.B. "König von Assur") eingeführt werden, können diese einmal eingeführten Personen entweder pronominal wieder aufgenommen bzw. substituiert werden oder auch nominal durch den Eigennamen oder durch andere partiell synonyme Nomina. Im ersten Falle liegt als Substitutionsverfahren Pronominalisierung, im zweiten Falle Renominalisierung vor. Während die pronominale Substitution das "normale" und obligatorische Verfahren der Wiederaufnahme darstellt, ist die "Renominalisierung ... prinzipiell fakultativ" (a.a.O. 96). Nach Gülich/ Raible kann dieses Merkmal v.a. zusammen mit Konstellationsveränderungen der Handlungsträger auftreten und diese mitanzeigen, z.B. beim Wiederauftreten einer zeitweise im Handlungsverlauf abwesenden Person oder bei einem Wechsel der Handlungsrollen. Deshalb wird "die Renominalisierung nur dann als eigenständiges Gliederungsmerkmal gewertet ..., wenn sie ohne" textexternes "Gliederungsmerkmal vorkommt" (a.a.O. 97). Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, daß Renominalisierungen als Hervorhebungsmittel multifunktionaler Natur sind und auch noch andere, nicht nur textgliedernde Funktionen übernehmen können, z.B. als Mittel, Identifikationsangebote an den Hörer oder Leser zu gestalten. Solche Fragen können aber nur konkret am Erzählmaterial diskutiert werden. Auf den letzten Bereich der "Satzkonjunktionen und Satzadverbien gehen E. Gülich/ W. Raible (97f.) nur kurz ein. Solche "Satz- oder Textadverbien bzw. Satz- oder Textkonjunktionen (bringen) sprachliche Einheiten, welche Satzrang haben oder größer sind als Sätze, in ein bestimmtes logisches Verhältnis zueinander" (a.a.O. 97; z.B. "und nun", "darum", "jedoch", "dennoch").

82

Die tempusgrammatischen Termini "Zeitstufe" und "Aktionsart" verwenden wir in dem von K. Heger (1963) und (1967) definierten Sinne. Zur textgrammatischen Funktion der Tempora vgl. grundlegend H. Weinrich ( 2 1971), ferner für das Hebräische B. Zuber (1986), R. Bartelmus (1982) 15-79 und C. Hardmeier (1978, 367f. und dort Anm. 181 sowie S.181-184).

83

Vgl. zu dieser Unterscheidung H. Weinrich ( 2 1971, 11-14).

84

Vgl. E. Gülich/ W . Raible, a.a.O. 94.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.2

2.3.2

69

Schritte der Gliederung von Erzähltexten und die semantisch-pragmatischen Rückschlüsse

Bei der Darstellung des Gliederungsverfahrens nach E. Gülich/ W. Raible haben wir bewußt darauf verzichtet, sowohl die Gliederungsmerkmale als auch die dadurch abgrenzbaren Teiltexte in ihrer von den Autoren vorgeschlagenen Hierarchie zu behandeln. Um so mehr ist der unterschiedliche und z.T. ganz heteronome Charakter der drei Gruppen von kommunikations-, geschichten- und sprachsystembezogenen Merkmalen zu betonen.

2.3.2.1

Status und Charakter der Gliederungsmerkmale

Für die textexternen, d.h. die kommunikations- und geschichtenbezogenen Merkmale ist es charakteristisch, daß sie an den allgemeinen Kategorien von Ereignis- und Handlungsabläufen gewonnen worden sind (vgl. oben 2.3.1.2), die die Inhaltsstruktur von erzählten Geschichten analog zum Drama auf der Bühne bestimmen. Das gilt auch für die direkten Reden. Zwar müssen sie auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation aus Gründen der unterschiedlichen Deixis isoliert und je für sich analysiert werden. Dennoch gehören solche explizit eingeführten Kommunikationssituationen mit den darin wiedergegebenen direkten Reden prinzipiell zum dargestellten Bereich der Gegenstände und Sachverhalte. Es handelt sich dabei nur um eine besondere Darstellungsform von Redehandlungen, deren Inhalt nicht in Gestalt von indirekten Reden oder expandierten Objekten zu einem verbum dicendi etc. ("sie sagte, daß ...") referiert, sondern direkt als Redevollzug zitiert bzw. präsentiert wird. Diese besondere Form der erzählerischen Handlungsrepräsentation gehört wie das szenische Präsens zu den erzählerischen Darstellungsmitteln, deren Einsatz natürlich noch gesondert auf seine jeweiligen Funktionen hin zu befragen ist. 85 Unter den textexternen Gliederungsmerkmalen signalisiert nur die Substitution auf Metaebene nicht einen bestimmten Strukturteil der kognitiven Geschichte, sondern unterbricht bzw. beschließt gerade den erzählten Geschichtenverlauf in Gestalt einer Metakommunikation über den Erzähltext als ganzen oder Teile davon. Für alle textexternen Merkmale nach E. Gülich/ W. Raible ist jedoch charakteristisch, daß sie primär semantisch

Für U.M. Quasthoff (1980, 130) ist "die Anwendung dieses (sc. szenischen) Präsens ... neben der direkten Rede eines der hauptsächlichen formalen Charakteristika für den szenischen Charakter des Erzählens gegenüber anderen Formen der sprachlichen Repräsentation vergangener Ereignisse" (vgl. auch a.a.O. 27f.231 und 238f., ferner E. Gülich/ U.M. Quasthoff, 1986b, 223f. und 229 sowie oben 2.2.5).

70

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

definiert sind und deshalb die Frage nach ihrer sprachlich-ausdrucksformalen Repräsentation an der Erzähltextoberfläche gesondert gestellt und im Rahmen einer textgrammatischen Studie beantwortet werden müßte. Demgegenüber ist die Gruppe der textinternen, d.h. sprachsystembezogenen Gliederungsmerkmale nach E. Gülich/ W. Raible grammatisch definiert und damit primär ausdrucksformal an bestimmten sprachlichen Mitteln orientiert, die - über die Satzebene hinausgreifend - vom Sprachsystem im wesentlichen zur Textkonstitution bereitgestellt werden: die Tempora, Substitutionsverfahren wie die Pronominalisierung sowie die Satz- und Textadverbien bzw. -konjunktionen. Für alle diese Mittel stellt sich umgekehrt die Frage, welche semantisch-pragmatischen Funktionen der Teiltextabgrenzung können und werden durch sie in ihrem Einsatz realisiert. Dieses wäre eine zweite, grundlegende Ausgangsfrage einer Textgrammatik des Althebräischen. Vor allem die auch von E. Gülich/ W. Raible beobachtete Korrelation von sprachsystem- und geschichtenbezogenen Merkmalen spricht eher gegen als für eine hierarchische Unterordnung der textinternen gegenüber den textexternen Merkmalen im Gliederungsgrad, wie sie von Gülich/Raible postuliert wird (a.a.O. 86f.). Da es sich kategorial um zwei verschiedene, ja geradezu komplementär aufeinander bezogene Merkmalgruppen handelt, stellt sich z.B. im Blick auf die Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger und auf die Renominalisierung die Frage, wie anders ein bereits einmal eingeführter Handlungsträger nach längerer Nichterwähnung überhaupt sprachlich wieder aufgenommen werden kann, als durch eine Renominalisierung. Andererseits gibt es z.B. in II Reg 19,14f. Renominalisierungen, die keine Gliederungsfunktion haben können, sondern als Mittel der Hervorhebung und detaillierenden Kennzeichnung eingesetzt werden. D.h. Wiederaufnahmen von Handlungsträgern müssen wohl in der Regel durch Renominalisierungen erfolgen. 86 Renominalisierungen ihrerseits sind aber nicht unbedingt in jedem Falle Gliederungsmerkmale. Ähnliches läßt sich für die Iterations- und Episodenmerkmale feststellen. Z.B. wird in II Reg 18,16 eine orientierende Hintergrundsinformation mit demselben Episodenmerkmal ("zu jener Zeit") eingeleitet wie dann in 20,12 eine ganze Szene (20,12-19). Die Bemerkung in 18,16 ist aber hierarchisch sicher der ganzen Episode 18,13-15 nach- und unterzuordnen, denn sie eröffnet im Unterschied zu 20,12ff. selbst keinen weitergespannten zeitlichen Handlungsrahmen. D.h. nicht jede Zeitangabe ist eo ipso ein Iterations- oder Episodenmerkmal auf jeweils gleicher hierarchischer Ebene. Auch bei iterativen Textteilen gibt es nämlich umgekehrt den Fall, daß sie

Nur bei ganz kurzen Nichterwähnungsspannen oder wenn der pronominale Rückbezug zusätzlich durch genus und/oder numerus gesichert ist, ist auch eine pronominale Wiederaufnahme denkbar.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.2

71

nur durch einen Tempuswechsel angezeigt werden (z.B. Gen 29,2f.). Deshalb ist das zusätzliche Auftreten von Iterationsmerkmalen in solchen stets orientierenden Textteilen (vgl. z.B. I Sam 1,3) nur eine Frage, wie explizit und detailliert der Zeitraum z.B. von üblichen, gewohnheitsmäßigen Vorgängen gekennzeichnet wird, ob nur durch die iterativen Vorgänge selbst (Gen 29,2f.) oder zusätzlich durch temporale Häufigkeitsangaben (I Sam 1,3). Daß solche iterativen Textsequenzen eigenständige Teiltexte sind, ist unbestritten, ob ihnen allein durch das Vorkommen von Iterationsmerkmalen eine höherrangige Stellung im Gesamttext eingeräumt werden kann, ist jedoch sehr fraglich. Aus diesen Problematisierungen der von E. Gülich/ W. Raible postulierten Gliederungshierarchie sind drei Konsequenzen zu ziehen. — 1. Kriterien für eine textoberflächenorientierte Erzähltextgliederung sind nur in einem doppelten Verfahren zu gewinnen: zum einen unter der Frage nach den möglichen sprachlichen Repräsentationsformen der geschichtenund kommunikationsbezogenen semantischen Gliederungsmerkmale und zum andern unter Klärung der Frage, inwiefern mögliche sprachliche Repräsentationsformen von solchen Merkmalen multifunktional sind und nicht auf eine Gliederungsfunktion oder gar einen Gliederungsgrad festgelegt werden können. — 2. Mit E. Gülich/ W. Raible ist grundsätzlich daran festzuhalten, daß Erzähltexte in sich hierarchisch gegliedert sind und daß diese hierarchische Gliederung sich auch ausdrucksformal an der Textoberfläche festmachen und ablesen läßt. Doch sind die Art der Hierarchisierung sowie die Dominanz bzw. die Subordination bestimmter semantischer Gliederungsebenen sehr viel stärker von der einzelnen Erzählung und ihrem Typus abhängig. Das gilt in gleicher Weise von den Gliederungsstilen und dem bevorzugten Gebrauch von textstrukturierenden Ausdrucksmitteln. Zudem ist stets damit zu rechnen, daß diese semantischen Hierarchisierungen und die ausdrucksformalen Stilisierungen autor-, gattungs-, epochen- und/oder kulturspezifisch sind. Deshalb müssen das Relief der semantischen Gliederung eines Erzähltextes und sein typischer Gliederungsstil zunächst je für sich und textimmanent erschlossen werden, um dieses Relief und den Stil als Ganzes mit anderen Erzähltexten vergleichen zu können. — 3. Im Rahmen einer Textgrammatik des Althebräischen wären parallel dazu die möglichen Funktionen textsyntaktischer Gliederungsmittel zu beschreiben, insbesondere die Funktionen der Satz- und Textkonjunktionen wie z.B. , D oder der verschiedenen Zeit- und Ortsmarkierungen, zu denen z.B. auch die vorangestellten temporalen Nebensätze mit TPI gehören, sowie die Funktionen des Satzarten-Wechsels (invertierter/ nicht-invertierter [Verbal-]Satz [= iVS/ VS]) und der "Tempora" etc. Eine derartige textgrammatische Studie zum Althebräischen sprengt allerdings den Rahmen unserer Arbeit.

72

Kapitel 2

2.3.2.1.1

Erzähltextanalytische Grundlagen

Exkurs: Zu den Fragestellungen und zur Entwicklung einer Textgrammatik des Althebräischen

Eine Textgrammatik des Althebräischen müßte die traditionell semasiologische Fragestellung komplementär durch eine onomasiologische Betrachtungsweise ergänzen. Das onomasiologische Vorgehen fragt nach möglichen Ausdrucksformen der textexternen (kommunikations- und geschichtenbezogenen) Gliederungsmerkmale im Althebräischen, während die semasiologische Fragerichtung von den einzelnen sprachlichen Mitteln ausgeht, um nach ihren textsemantischen Funktionen zu fragen.87 Nur auf diesem bidirektionalen Weg einer doppelten Fragestellung wird man auf dem Gebiet einer Textgrammatik weiterkommen. Alle bisherigen Versuche, textgrammatische Funktionen der hebräischen Sprache zu beschreiben und zu erklären, gehen von sprachlichen Erscheinungen aus und sind damit semasiologisch orientiert.88 Die Problematik einer solchen einseitigen, wenn auch unverzichtbaren Orientierung wird besonders an H. Schweizers Bemühen sichtbar, von der primär ausdrucksformalen Betrachtungsweise der "Richter-Schule" aus zur Semantik und Pragmatik vorzustoßen (vgl. ders., 1981). Schweizer folgt in der Gesamtanlage seiner Arbeit dem abstrakten zeichentheoretischen Modell der dreistelligen Zeichenrelation von Syntax, Semantik und Pragmatik (vgl. a.a.O. 18-21), wie es in der Semiotik gebräuchlich ist.89 Zur semasiologischen Beschreibung von Elementarzeichen (z.B. Lexemen) kann dieses Konzept sicher hilfreich und sinnvoll sein, wobei eine klare Unterscheidung von Semantik und Pragmatik prinzipielle Schwierigkeiten bereitet.90 Die per definitionem

87

88

89

90

Zur Unterscheidung von Semasiologie, die vom Zeichen ausgeht und nach dem dadurch Bezeichneten fragt, und Onomasiologie, die von semantischen Größen ausgeht und nach den möglichen Ausdrucksformen fragt, vgl. K. Heger (1964). Dies gilt für die textgrammatischen Kapitel bei W. Schneider (51982, vgl. §§ 52-54) ebenso wie für den einseitig ausdrucksformalen Ansatz der Grammatik und Textanalyse in den Arbeiten von W. Richter (vgl. bes. 1971 und 1980) und seinen Schülern. Vgl. dazu den Überblick bei H.D. Preuß (1982c), bes. S.15-22 und 26f. und dort auch zu D. Michel. F. Schickiberger (1978) wendet das Thema-Rhema-Konzept des textlinguistischen Ansatzes der funktionellen Satzperspektive aus der Prager Schule auf alttestamentliche Texte an (vgl. dazu W. Dressler, 1972 und E. Gülich/ W. Raible, 1977, 60-89 mit Kritik). Daß "der Weg von der Satz-Syntax zu einer umfassenden Text-Syntax und schließlich zu einer Text-Grammatik ... noch weit ist", kann man mit Schickiberger (a.a.O. 81) nur unterstreichen. Doch muß hinzugefügt werden, daß dabei mehrere und verschiedene Wege zugleich beschritten werden müssen, die komplementär zum primär textlinguistischen, zeichenorientiert-syntaktischen Vorgehen (vom Satz zum Text) auch texttheoretisch nach kommunikativen Funktionszusammenhängen der Sprache in der Textkonstitution fragen (vgl. dazu C. Hardmeier, 1978,29-34). Vgl. grundlegend und zusammenfassend G. Klaus (31972, 51ff.) sowie J. Lyons (1980, 127ff.). Vgl. Lyons, a.a.O. 130f.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.2

73

gegebene Zeichenorientiertheit des Konzepts läßt jedoch Semantik und Pragmatik nur von ihrer zeichenförmigen sprachlichen Abbildung her in Betracht kommen, nicht aber unter dem komplementären Gesichtspunkt von einzelsprachenunabhängigen semantischen und pragmatischen Erfordernissen der Kommunikation, denen einzelne Sprachen als Kommunikationsmittel auf z.T. sehr unterschiedliche Weise durch ein System von Ausdrucksformen genügen. So wertvoll manche Beobachtungen und Einzelklärungen bei Schweizer sind, die konzeptionelle Schwäche seiner Arbeit macht sich insbesondere im PragmatikTeil (a.a.O. 211ff.) bemerkbar, was vom Autor durchaus gesehen wird (vgl. a.a.O. 21lf.). Weil "als unmittelbar greifbares Material der alten Kommunikationsprozesse nur die formulierten Botschaften zur Verfügung" stehen, empfiehlt der Autor, "auch im pragmatischen Bereich zunächst sie in den Mittelpunkt zu rücken und ihre Deskription zu komplettieren" (a.a.O. 212). Dabei versteht Schweizer unter dem "pragmatischen Bereich" im wesentlichen die Ebene der Äußerung von Sätzen, bezogen auf die Redesituation und ihrer Verbindung untereinander (vgl. a.a.O. 211). Schweizers "Pragmatik" bleibt in der Deskription pragmatischer Funktionen stecken, die einzelne Sektoren des Sprachsystems übernehmen können, 91 ohne daß ein innerer Zusammenhang kenntlich gemacht oder der Text als Kommunikationseinheit in seiner Ganzheit in Betracht gezogen wird. Insbesondere auf der über den Satz als Einheit hinausgehenden textsemantischen und textpragmatischen Ebene ist es jedoch unumgänglich, zuerst nach den semantischen und pragmatischen Erfordernissen zu fragen, die Erzählen und die Konstitution von Erzähltexten als Medium in der Erzählkommunikation ermöglichen. Sie sind - wie wir es in 2.2 unternommen haben - aus den Bedingungen der Erzählkommunikation zu entwickeln. Erst dann kann sinnvoll nach den sprachlichen Realisierungsformen gefragt werden, da es zumindest weder in den semitischen noch in den indoeuropäischen Sprachen direkte sprachliche Konstruktionsmittel in Gestalt von Elementarzeichen für Großeinheiten auf Textebene gibt, die über die Satzebene wesentlich hinausgreifen. Nur wenn auch Klarheit Uber textsemantische und textpragmatische Kategorien gewonnen worden ist, muß und kann dann auch komplementär dazu semasiologisch gefragt werden, was die sprachlichen Konstruktionsmittel, die über die Satzebene hinausweisen, im einzelnen leisten (im wesentlichen das Tempussystem, die Substitutionsverfahren der Pro-Formen sowie die Satztypen, die satzverknüpfenden Satz- und Textkonjunktionen neben den Textadverbien). Solche Analysen werden besonders auf das Forschungsinstrument einer "Dialogfähigen Computer-Konkordanz" angewiesen sein. 92

91

92

Vgl. u.a. zu den Wortarten S.224ff., zur illokutiven Funktion von Sätzen S.237ff., zu den "Tempora" S.245ff., den Lokalbezeichnungen S.261ff., und Fragen der Textkohärenz S.283ff. Vgl. dazu C. Hardmeier (1986c).

74 2.3.2.2

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Zum Verfahren der Erzähltextgliederung und zu den semantisch-pragmatischen Rückschlüssen aus der makrostrukturellen Gliederung

Die Erzähltextgliederung nach den in 2.3.1 diskutierten Gliederungsmerkmalen ist ein Mittel, Erzähltexte in ihrem makrostrukturellen Aufbau unter textgemäßen Gesichtspunkten kontrolliert wahrzunehmen und zu beschreiben, d.h. m.a.W. das spezifische Relief der Makrostruktur einer Erzählung zu erschließen, wie sie sich an der Textoberfläche zeigt. Im folgenden ist nach den Zielen, den Verfahrensschritten und den Rückschlüssen zu fragen, die mit einer solchen deskriptiven Textgliederung verbunden und aus ihr zu ziehen sind. Vorrangiges Ziel der Analyse muß es sein, im Sinne von W. Kallmeyer/ F. Schütze die kognitiven Strukturen einer Erzählung (vgl. oben 2.2.1) in ihrem Gesamtzusammenhang möglichst präzise zu erfassen und zu beschreiben. Dabei ist vor allem der Ereignisverlauf herauszuarbeiten, der die ganze Geschichte bestimmt, m.a.W. die tragende Ereigniskette in ihrer konkret erzählten Struktur und in ihrem ganz spezifischen Gefälle. Auf diese Weise wird die thematische Geschichte als Grundachse einer Erzählung erschließbar, um die sich alle ihre Teile drehen und auf die auch alle ihre Details bezogen sind. Die Ereigniskette ist wesentlich strukturiert einerseits durch eine Folge von erzählerisch herausgehobenen Szenen, die in der Regel temporal-lokal markiert sind oder sich zumindest aus Veränderungen in der Konstellation der Ereignisträger ergeben, und andererseits durch die erzählten Handlungen und Erfahrungen der Ereignisträger innerhalb dieser Szenen selbst. Deshalb ist die tragende Verlaufskurve der Ereigniskette in ihren Einzelsequenzen in erster Linie anhand der geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale zu erschließen. Dabei werden aus der Ereigniskette herausgehobene Szenen in erster Linie anhand der temporalen und/oder lokalen Episodenmerkmale abzugrenzen sein, während Konstellationsveränderungen von Handlungsbzw. Ereignisträgern auch Teilszenen oder einzelne Handlungssequenzen voneinander unterscheiden lassen, die innerhalb eines konstanten rauir-zeitlichen Szenenrahmens ablaufen. Um aber nicht bereits auf der Beobachtungs- und Beschreibungsebene vorschnelle Hierarchisierungen der Szenen- und Teilszenenfolge vorzunehmen, empfiehlt sich das folgende Verfahren. — 1. Anhand der kommunikationsbezogenen Merkmale sind alle direkten Reden, d.h. alle Erzählteile auf eingebetteten Ebenen der Kommunikation zu identifizieren und vorab zu isolieren, um die Haupterzählebene vor Augen zu haben. — 2. sind die Inventare der geschichtenbezogenen Merkmale, d.h. aller temporalen und lokalen Angaben sowie aller Ereignisträger in der zu analysierenden Erzählung zu erstellen.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.2

75

— 3. sind systematisch die Arten der Kennzeichnungen, d.h. die Kennzeichnungsprofile der inventarisierten Merkmale in ihrer spezifischen Sprachgestalt zu erheben und miteinander zu vergleichen. 93 — 4. Aus diesen Erhebungen und dem Vergleich ergibt sich das Kennzeichnungsrelief der geschichtenbezogenen Merkmale einer Erzählung. Dieses Relief ist die Grundlage dazu, zum einen die relative, erzählspezifische Hierarchie der Gliederungsmerkmale zu erheben, und zum andern die szenische Gliederung in Rahmen-, Haupt- und Teilszenen zu erschließen. Bei dieser Erschließung der einzeltextspezifischen Gliederungshierarchie und der Szenenstruktur kann kein schrittweises Vorgehen angegeben werden. In einem offenen Probierverfahren muß versucht werden, dieser erzähltextimmanenten Szenenstruktur auf die Spur zu kommen. Dabei sind die folgenden Gesichtspunkte wichtig, von denen sich auch unsere Analyse der Erzählungen in II Reg 18-20 und Jer 37-40 hat leiten lassen. — 1. Ein szenischer Einschnitt dürfte in der Regel um so tiefer sein, je mehr temporale, lokale und personale Gliederungsmerkmale in ihm zusammenkommen. — 2. Wichtig ist die semantische und stilistische Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit von verschiedenen Gliederungseinschnitten. Sie weisen auf Szeneneröffnungen gleichen Grades hin. Da damit jeweils eine Teilgestalt innerhalb der Erzählung eröffnet wird, ist aufgrund des Gestaltschließungszwangs zu erwarten, daß diese Teilgestalt auch durch entsprechende Szeneneröffnungen geschlossen wird. — 3. Besonders wichtig sind Anfang und Ende einer Erzählung, in denen der Erzählrahmen und damit die Gesamtorganisation der Erzählstruktur greifbar wird. In der Regel klingt in diesem Rahmen auch das Basisthema an, das aber - u.U. an Leitworten erkennbar - auch in den Teilszenen zu verfolgen sein muß. Auch hier kann sich etwa in der stilistischen Gleichartigkeit von Anfang und Schluß die Eröffnung und die Schließung der Gesamtgestalt anzeigen. — 4. In diesem offenen Beobachtungsverfahren schälen sich auch explizit orientierende oder evaluative Teile innerhalb oder zwischen den (Teil-)Szenen heraus. Je nachdem, wo sie auftreten, worüber sie orientieren bzw. was sie bewerten, kann ihr Verhältnis zu den (Teil-)Szenen bzw. zur ganzen Erzählung bestimmt werden. Am Ende dieses offenen Erschließungsverfahrens muß es möglich sein, die makrostrukturelle Gliederung der analysierten Erzählung als wohlstrukturierte Gesamtgestalt plausibel zu machen und - gestützt auf die systematische Beobachtung der Gliederungsmerkmale - zu begründen. Auf diesem Hintergrund können die Gesamtproportionen der Erzählung in ihrer szenischen Gliederung und ihre thematische Geschichte bestimmt werden. Fer-

93

Vgl. unten 2.3.3 und 2.4.

76

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

ner kann erschlossen werden, ob und in welcher Weise die Erzählung z.B. dem verbreiteten Typus von dramatischen Erzählungen folgt, die den Haupterzählbogen zwischen Komplikation und Auflösung spannen. Bei diesem Typus müßte für die Scheitelpunkte innerhalb der Makrostruktur begründet werden können, wo die Dramatik des Unerwarteten einsetzt und wo die Klimax der Auflösung in Erscheinung tritt. Die Proportionen in der Detaillierung oder Kondensierung von Szenen auf gleicher Gliederungsebene geben dazu wesentliche Anhaltspunkte. Für das hier skizzierte Vorgehen in der Beschreibung und Analyse der Makrostruktur einer Erzählung kann letztlich nur auf die in dieser Arbeit durchgeführten Analysen selbst verwiesen werden. Mit jeder weiteren Praxis wird es sich verändern, verfeinern und modifizieren. Im folgenden ist als letztes zu umreißen, in welcher Weise die erschlossene Makrostruktur auch die Grundlage für eine pragmatische Erzähltextinterpretation liefert. 2.3.3

Die Reliefs der Detaillierung und der Kondensierung als Ausgangspunkte einer pragmatischen Erzähltextinterpretation

Die so erarbeitete, strikt erzähltextgebundene semantische Makrostruktur, die im Gegensatz zu allen in irgendeiner Weise auf Verallgemeinerung und Abstraktion ausgerichteten Rekonstruktionen des Erzähl'inhalts' steht, liefert in ausgezeichneter Weise die Grundlage für eine pragmatisch orientierte Erzähltextinterpretation, d.h. für eine Interpretation, die vor allem an der Erzählsituation, dem oder den Autoren und ihrer Erzählintention sowie an den ins Auge gefaßten Adressaten interessiert ist und primär nach der Funktion einer Erzählung in ihrer Erzählgegenwart fragt. Denn nur an dieser erzähltextgebundenen semantischen Struktur läßt sich präzise ablesen, wie der Autor die kontradiktorisch wirkenden Gestaltungsmittel der Detaillierung und der Kondensierung im einzelnen eingesetzt hat. Aus der spezifischen Art dieser Realisierungen lassen sich dann aber wiederum kontrollierbare Rückschlüsse ziehen auf die pragmatischen Voraussetzungen und Funktionen des untersuchten Erzähltextes. Beides soll im folgenden kurz umrissen werden, wobei erneut zu betonen ist, daß es sich hier nur um Wegmarken und allgemeine Richtungshinweise handeln kann, die durch umfangreiche Erzähltextanalysen erprobt, verfeinert und modifiziert werden müssen. Die spezifischen Realisierungsweisen der "Zugzwänge" sind für die einzelnen kognitiven Teilstrukturen getrennt zu beschreiben und zu untersuchen. Das hat den Vorteil, daß bei der Bestimmung der Proportionen, in denen diese Gestaltungsmittel der Erzähltextoberfläche im einzelnen realisiert sind, Gleiches mit Gleichem in Beziehung gesetzt wird.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.3.1

2.3.3

77

Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der Ereignisträger

Bei der Analyse der Proportionalität der Ereignisträger und ihrer Kennzeichnung ist vom Inventar aller in einer Erzählung vorkommenden Ereignisträger auszugehen. Hier wird es vor allem darauf ankommen, die Art und Ausführlichkeit (Detaillierung) bzw. Knappheit (Kondensierung) der Kennzeichnungen oder ggf. von umfangreicher orientierenden Schilderungen zu erfassen. Bei einem größeren Inventar von Ereignisträgern sind u.U. Abhängigkeitsbeziehungen wie z.B. Verwandtschaft, institutionell-gesellschaftliche Funktion oder Rolle, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Partei oder einem Bevölkerungsteil zu klären und zu berücksichtigen. In II Reg 18,13ff. z.B. agieren auf assyrischer Seite der Großkönig und seine Gesandten, auf judäischer Seite u.a. der König Hiskija und seine Minister als jeweilige Repräsentanten der im Konflikt stehenden Staaten. Bei der Bestimmung solcher Abhängigkeitsbeziehungen kann auch ein historisch-kulturelles Vorwissen eine Rolle spielen, insbesondere wenn solche Beziehungen im Erzähltext selbst nicht thematisiert, zu seinem Verständnis aber selbstverständlich vorausgesetzt werden. Neben diesen Abhängigkeitsbeziehungen sind vor allem die Art der Kennzeichnung und der Kennzeichnungsgrad (Ausführlichkeit) zu beachten. Auf das Ganze einer Erzählung bezogen, ist die Homogenität bzw. Inhomogenität dieser qualitativen und quantitativen Kennzeichnungsweisen zu klären und zwar sowohl in Bezug auf die einzelnen Ereignisträger des Inventars als auch im Vergleich untereinander. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Relief der Kennzeichnungsweisen sowie der Detaillierungen bzw. Kondensierungungen im Bereich der Ereignisträger. Seine Konturen und seine Proportionalität gewinnt dieses Relief damit jedoch ganz und gar relativ zum Ganzen der Erzählung und ermöglicht auf diese Weise - z.B. im Blick auf literarkritische Fragen der Einheitlichkeit - Rückschlüsse auf die Konsistenz einer Erzählung oder nötigt umgekehrt zur Annahme, daß bestimmte Teiltexte der Erzählung z.B. nachinterpretierend hinzugefügt sein könnten (vgl. unten 3.5 und 3.5.1). 2.3.3.2

Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der temporal-lokalen Situierung von Szenen und ihrer Kennzeichnung

Mutatis mutandis gilt das für die Ereignisträger Festgestellte genauso für die temporalen und lokalen Situationskennzeichnungen, die ggf. in eigenen Orientierungsteilen expandiert sein können und nach Art und Ausführlichkeit (Detaillierung/Kondensierung) zu untersuchen sind. Auch hier sind Abhängigkeits- bzw. Einbettungsverhältnisse zu erwarten, die geklärt wer-

78

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

den müssen. In II Reg 18,13ff. z.B. werden wesentliche Handlungsabschnitte teils in Lachisch (18,14f. vgl. 19,8f.), teils in Jerusalem (18,17ff.) bzw. in Ninive (19,36f.) lokalisiert. Das Geschehen in Jerusalem und in Ninive wird durch weitere Detaillokalisierungen (vgl. 18,17b; 19,1 sowie 19,37) aufgefächert, wobei die Örtlichkeiten (Walkerfeldstraße, Tempel) aufgrund eines historisch-kulturellen Wissens als Teillokalitäten der jeweiligen Städte eingeordnet werden. Zur Klärung solcher Abhängigkeits- und Einbettungsverhältnisse bei den Episodenmerkmalen leistet vor allem E. Gülichs Unterscheidung von "Ausgangs- und Nachfolgemerkmalen" (1976, 243) einen wichtigen Beitrag. Wie bei den Ereignisträgern werden auch bei den Situationskennzeichnungen nach Zeit und/oder Ort die Art und der Ausführlichkeitsgrad zu beachten sein. Auch hier ist nach Homogenitäten bzw. Inhomogenitäten in stilistischer und semantischer Hinsicht (Relativität des Bezugs) auf das Ganze der Erzählung bezogen zu fragen, um ein differenziertes Kennzeichnungsrelief der Orts- und Zeitangaben zu gewinnen. Dadurch lassen sich die aus der Ereigniskette herausgehobenen, durch Episodenmerkmale markierten Situationen vor allem in ihren Beziehungen und Abhängigkeiten untereinander präziser erfassen und weitere Konsistenz- bzw. Inkonsistenzkriterien von Erzählungen gewinnen.

2.3.3.3

Zum Relief der Detaillierung und Kondensierung im Bereich der Ereigniskette

Bei der Bestimmung der Proportionalität der Ereigniskette (Detaillierung/Kondensierung in der Ereignisdarstellung) wird man sich zunächst an den Abschnitten und Teilsequenzen der szenischen Gliederung zu orientieren haben, die durch die geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale abgegrenzt worden sind. Die erzählten Ereignisausschnitte und Sequenzen in den entsprechenden (Teil-)Szenen sind dann einerseits mit der Ereignisdarstellung in benachbarten Teiltexten zu vergleichen und andererseits mit der thematischen Geschichte als der Grundachse, um die sich die ganze Erzählung dreht. Daraus ergibt sich die Proportionalität der Ereignisdarstellung, d.h. der relative Maßstab dafür, wie atomisiert und ins Detail gehend bzw. wie global und kondensiert die jeweilige Ereignissequenz erzählt wird. Indikatoren für einen hohen Detaillierungsgrad sind zum einen besondere erzählerische Handlungsrepräsentationen wie die direkte Rede. 94 Zum

Vgl. dazu oben 2.2.5 und 2.3.2.1. Daß im Hebräischen zur Darstellung von Redehandlungen sehr viel häufiger von der direkten Rede Gebrauch gemacht wird als in modernen Sprachen, heißt nicht, daß das Hebräische nicht auch die Möglichkeit der indirekten Rede kennt (vgl. z.B. Gen 12,13a im Kontrast zu 12,19). Eine Proportio-

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.3

79

andern gibt der rein quantitative Umfang der Ereignisdarstellung in den einzelnen Teiltexten in ihrem Verhältnis zum Darstellungsumfang in anderen Teiltexten ein Proportionalitätskriterium an die Hand. Dabei sind jeweils die Einbettungsverhältnisse von (Teil-)Szenen und Handlungssequenzen mitzuberücksichtigen, die z.B. an den Episodenmerkmalen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit abgelesen werden können. Ein weiteres Kriterium liefern die Vorgangsbezeichnungen in den Ereignisdarstellungen selbst: Globale bzw. summarische Bezeichnungen lassen auf eine kondensierende, vorgangsgliedernde Bezeichnungen auf eine detaillierende bzw. atomisierende Darstellung schließen. Auf diese Weise läßt sich auch für die Ereigniskette die erzähltextspezifische Proportionalität der Ereignisdarstellung bezogen auf das Ganze einer Erzählung erschließen. Daraus ergeben sich weitere Anhaltspunkte einerseits für die Konsistenz oder Inkonsistenz einer Erzählung und andererseits für die spezifische Dramatik, in der die Gegensatzrelation erzählerisch entfaltet wird. 2.3.3.4

Die Reliefs der Detaillierung und der Kondensierung in ihrem Verhältnis zueinander als Ausdruck des Gesamtcharakters einer Erzählung

Aus diesen Reliefs, in denen die Abhängigkeiten sowie die Proportionen der Detaillierung und Kondensierung der einzelnen kognitiven Teilstrukturen erfaßt werden (Ereignisträger, Situationen, Ereigniskette), läßt sich der Gesamtcharakter einer Erzählung genauer umreißen, wenn man diese Reliefs in ihrer Beziehung untereinander näher in Betracht zieht. Dafür muß exemplarisch ein Hinweis auf die Analyse von Am 7,10-17 genügen.95 Diese Kurzerzählung zeichnet sich z.B. durch zwei Extreme aus. Zum einen wird die Gliederung in zwei Szenen (V.lOf. und 12-17) nicht durch Episodenmerkmale, sondern allein durch eine Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger angezeigt. Eine temporal-lokale Markierung des Geschehens fehlt, das nur indirekt als Rededisput am Heiligtum von Bethel erkennbar wird (V.13, vgl. V.10). Zum andern bestehen die erzählten Handlungen bis auf V.lOa ausschließlich aus Redehandlungen (V. 10.12.14), die als direkte Reden präsentiert werden.96 Auch anhand einer solchen Gesamtbetrachtung der einzelnen Darstellungsreliefs lassen sich wahrscheinlich gattungstypische Kriterien gewinnen.

95 96

nalität im Gebrauch dieses viel extensiver genutzten Mittels läßt sich dann aus der relativen Häufigkeit, dem Umfang sowie aus dem Grad von Einbettungen erschließen. Vgl. C. Hardmeier (1985) und (1986a). Zu den Konsequenzen für die Interpretation vgl. ebd.

80

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Ferner wird auf dieser Ebene die Prüfung der inneren Konsistenz (Einheitlichkeit), die für die alttestamentliche Textinterpretation von besonderer Bedeutung ist, zu einem abschließenden Ergebnis geführt werden können, wenn z.B. die verschiedenen Reliefs einer Erzählung stets bei den gleichen Teiltexten oder ganzen Teilbereichen auffällige Inhomogenitäten aufweisen. Das hier nur abstrakt und allgemein Formulierte wird in der konkreten Erzähltextanalyse zu bewähren sein. 2.3.3.5

Anhaltspunkte und Möglichkeiten der pragmatischen Erzähltextinterpretation

Die Erhebung der Darstellungsreliefs und ihrer erzähltextspezifischen Proportionen in der Detaillierung bzw. Kondensierung der verschiedenen kognitiven Teilstrukturen bildet den Schlußstein in der primär deskriptiven Erarbeitung der semantischen Struktur von Erzähltexten. Die Rückschlüsse im Blick auf eine pragmatische Erzähltextinterpretation, die daraus gezogen werden können, sind jedoch nur in Korrelation zu einer Hypothese über die Erzählsituation, die Autorschaft und die Adressaten möglich. Zur Entwicklung dieser Hypothese werden dementsprechend auch historische und sozialgeschichtliche Kenntnisse aus anderen Quellen hinzuzuziehen sein (vgl. dazu unten 4.2). Welche Anhaltspunkte der in seinen Darstellungsreliefs erarbeitete Erzähltext selbst dafür liefern kann, ist im folgenden kurz zu umreißen. Mit den Darstellungsreliefs werden - wie gezeigt - die spezifischen Proportionen der Detaillierung bzw. Kondensierung der einzelnen kognitiven Teilstrukturen einer Erzählung relativ zum Ganzen dieser Erzählung erfaßt. Insbesondere bei den Kennzeichnungen von Ereignisträgem und Situationen werden vom Erzähler die spezifischen Personenportraits und das unverwechselbare Situationskolorit gezeichnet. Darüberhinaus können diese Portraits und das Kolorit einer Szene in orientierenden Textteilen in gesonderten Personen- und Situationsbeschreibungen ausgeführt werden, wobei Personen auch durch ihr Handeln (etwa in einer eingeflochtenen Nebenoder Vorgeschichte) charakterisiert werden können. Entscheidend ist, daß diese orientierenden Textelemente ihre Orientierungsfunktion stets "relativ zu unterstellten Informationsdefiziten des Hörers" bzw. Lesers97 erfüllen und deshalb nach Quasthoff "stärker hörerorientiert zu sein" und "pragmatischen Abhängigkeiten zu unterliegen" scheinen.98 Deshalb lassen die Reliefs besonders der Ereignisträger- und der Situationskennzeichnungen - genauere Rückschlüsse z.B. auf das Vorwissen bzw. 97 98

U.M. Quasthoff (1980, 90). A.a.O. 91, vgl. oben 2.2.2.

Kriterien der Erzähltextgliederung

2.3.3

81

auf die Informationsdefizite in Bezug auf Personen und Situationen der erzählten Geschichte zu, die der Erzähler bei seinen Adressaten voraussetzt. Je größer der Detaillierungsgrad ist, um so stärkere Informationsdefizite sind zu überwinden. Zeichnet sich eine Erzählung in ihren Situations- und Personenkennzeichnungen jedoch durch Kondensierung, ja geradezu durch Detaillierungslücken aus, kann dies auf Vertrautheit und Nähe zu den erzählten Ereignissen bzw. Personen schließen lassen." Art und Umfang dieser Kennzeichnungen geben auch zu erkennen, welche Situationen und welche Ereignisträger dem Autor wichtiger oder weniger wichtig sind. Zudem ist in solchen Kennzeichnungen und Beschreibungen von Personen und Situationen besonders bei historischen Erzählungen stets mit Anachronismen zu rechnen und generell mit der Eintragung von Vorstellungen aus der zeitgenössischen Erfahrungswelt des Erzählers. Allerdings müssen solche Einschätzungen stets an den untersuchten Texten im einzelnen begründet und plausibel gemacht werden. Wichtig sind schließlich die Bewertungsmomente, die sich aus der jeweiligen Art dieser Kennzeichnungen erschließen lassen. Mit positiven oder negativen, mit sympathischen oder unsympathischen Kennzeichnungen und Charakterisierungen insbesondere von Ereignisträgern macht der Autor spezifische Identifikations- bzw. Gegenidentifikationsangebote an den Hörer oder Leser (vgl. oben 2.2.5). Solche Wertungen übertragen sich dann auch unwillkürlich auf das von den jeweiligen Ereignisträgern erzählte Verhalten. Auf diese Weise können die einzelnen Handlungssequenzen der Ereigniskette z.B. den Charakter einer indirekten Aufforderung zur Nachahmung des erzählten Verhaltens bekommen oder eine Nicht-Empfehlung bzw. ein Verbot nahelegen. Der Hörer oder Leser übernimmt willkürlich auch die erzählten Verhaltensweisen seiner "Vorbilder" als mögliche und gebotene bzw. als zu meidende Verhaltensweisen in seiner eigenen Situation. Damit wird wesentlich das tua res agitur einer Erzählung vermittelt. Auch in dieser Hinsicht ist mit einer großen Vielfalt von Erzählfunktionen und Erzählungstypen zu rechnen, die korpus- und kulturspezifisch nur empirisch an einem breiten Material erhoben werden kann. Je nach Typus werden die vom Erzähler intendierten und vom Hörer oder Leser in der Aneignung vollzogenen Identifikations- und Analogisierungsprozesse unterschiedlich angelegt sein und ausfallen. 99

Vgl. dazu C. Hardmeier zu Am 7,10-17 (1985, 66) bzw. (1986a, 103). Weiter sei exemplarisch auf die Zeitangaben in Jes 6,1 ("im Todesjahr des Usija") oder in Am 1,1 ("zwei Jahre vor dem Erdbeben") verwiesen, die im Kontrast etwa zum weitverbreiteten Datierungstypus in der Deuteronomistik nach Regierungszeiten der Könige von Israel und Juda eine kleinräumige Zeitperspektive von Zeitgenossen vermuten lassen (vgl. dazu H.W. Wolff, 31985,149f. und zu Jes 6,1 C. Hardmeier, 1981b, 237).

82

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Intention, Evaluation und Wirkabsicht eines Erzählers, die nur selten explizit durch Substitutionen auf Metaebene zum Ausdruck kommen, werden nur zu einem Teil über die Kennzeichnungsreliefs besonders der Ereignisträger, wie eben skizziert, realisiert. Auch die Proportionalität der Ereigniskette als ganzer mit ihrem Relief von detaillierten und kondensierten Teilsequenzen kann in ihrem Gesamtgefüge identifikations- und analogisierungsfähige Momente aufweisen, die über die Bindung an einzelne, durch ihre Charakterisierung identitätsstiftende Ereignisträger hinausgehen. Besonders für die "historische Tendenzerzählung" in II Reg 18f. kann gezeigt werden, daß die Verlaufskurve als Ganze in Korrelation zu aktuellen politischen Problemkonstellationen steht, ja in ihrer Struktur sogar primär davon bestimmt ist. D i e Art und Weise, wie die Auflösung herausgearbeitet, die Basiskomplikation eingeführt und entfaltet wird und wo die Ereigniskette besonders detailliert bzw. kondensiert wird, erlaubt dann weitere Rückschlüsse auf Intention und Evaluation des Erzählten. Dabei wird mit den direkten Reden in ihrer Bindung an positiv oder negativ charakterisierte Ereignisträger, denen sie in der Erzählung zugeschrieben werden, der höchste Grad an Detaillierung und eine spezifisch szenisch-vergegenwärtigende Präsentation von Redehandlungen erreicht. Sie durchbricht die Distanz des Erzählten zur Erzählsituation radikal und kann den Erzählmodus überhaupt vergessen machen (vgl. oben 2.2.5). Deshalb sind in den direkten Reden in besonderer Weise primär aktuelle Botschaften, Argumente und Gegenargumente zu erwarten, die im Gewände der erzählten Autoritäten und Gegenautoritäten in der Absicht verhandelt werden, indirekt dem Leser oder Hörer entsprechende Argumentations- und Deutungshilfen in seiner eigenen Situation an die Hand zu geben. Direkte Reden jedenfalls sind ein Identifikations- und Teilnahmeangebot par excellence auf der Ebene der erzählerischen Handlungsdarstellung. Abschließend ist zu betonen, daß in diesem Abschnitt nur einige Anhaltspunkte benannt werden konnten, an denen eine textbezogene pragmatische Erzähltextinterpretation anzusetzen hat. Denn zum einen kann eine solche Interpretation nur in vollem U m f a n g geleistet werden, wenn Situationskenntnisse im umfassendsten Sinne auch aus anderen Quellen zur Verfügung stehen und herangezogen werden. Zum andern müssen auf diesem Feld noch weitere einschlägige Analyse- und Interpretationserfahrungen an konkreten Texten gesammelt werden. N u r auf einem breiteren Erfahrungshintergrund können aus den Reliefs, die die Art der Detaillierung und der Kondensierung der kognitiven Strukturen in ihrer erzählerischen Entfaltung erfaßbar machen, präzisere Rückschlüsse auf die pragmatischen Zusammenhänge der Erzählsituation, der Erzählgemeinschaft und ihrer spezifischen Kommunikationsbedürfnisse gezogen werden.

Repräsentationsformen der Gliederungsmerkmale

2.4

2.4.2

83

Zu den sprachlichen Repräsentationsformen der kommunikationsund geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale

2.4.1

Repräsentationsformen von eingeführten Ebenen der Kommunikation

Die ausdrucksformale Identifizierung von metakommunikativen Sätzen, die eine neue Ebene der Kommunikation einführen, ist im Hebräischen im wesentlichen ohne Probleme. In fast monotoner Weise dient dazu das verbum dicendi "sagen" ("IÖK), auch wenn z.B. "fragen" (bttttf), "antworten" (Hjy) oder "berichten" (IM hif.) als Differenzierungen durchaus vertreten sind. Fast wie ein Doppelpunkt begegnet unmittelbar vor der direkten Rede selbst - formal als modaler Nebensatz mit b + inf.cs. - sehr häufig die Form ION1?, besonders wenn zwischen dem verbum dicendi und dem Redeanfang noch andere Satzteile stehen oder wenn das verbum dicendi nicht "ION ist. Das Ende einer direkten Rede wird in Erzähltexten nur in den seltensten Fällen explizit durch eine AK-Form von "MN100 oder durch andere Formen (DKJ zum [Teil-]Abschluß von Gottesreden) markiert. Der Wechsel in der temporalen, personalen und/oder lokalen Deixis zeigt dieses Ende in der Regel hinreichend deutlich an. Häufig wird nach - vor allem nach längeren Reden - renominalisiert, wobei dann meist ein Rollen- oder sogar ein Konstellationswechsel der Handlungsträger vorliegt, auch wenn dies nicht der Fall sein muß. 1 0 1 Zu den seltenen Fällen von Substitutionen auf Metaebene und ihren Realisierungen ist auf C. Hardmeier (1979, 37ff.) zu verweisen. Direkte Reden und der Grad ihrer Einbettung werden in den Textübersetzungen dieser Arbeit durch entsprechendes Einrücken kenntlich gemacht.

2.4.2

Repräsentationsformen von Episoden- und Iterationsmerkmalen

Auch die Erkennbarkeit von Episoden- und Iterationsmerkmalen, soweit sie in Gestalt von adverbialen Angaben in Erscheinung treten, bietet keine besonderen Probleme. Zu achten ist auf semantische Inklusionsbeziehungen vor allem bei Zeitangaben (Jahr, Monat, Tag, Tageszeiten: Morgen, Mittag, Abend, Nacht). Die jeweils detailliertere Angabe figuriert als Nachfolgemerkmal gegenüber den globaleren, und damit rahmensetzenden Angaben (vgl. dazu oben 2.3.3.2). Dasselbe gilt mutatis mutandis für Ortsangaben: das Land und seine Teile bzw. Ortschaften, eine Stadt und ihre

too

Ygj

101

Vgl. z.B. II Reg 18,27f. gegenüber I Sam 30,15f.

v o r a

U e m ¡ n prophetischen Texten, z.B. A m 1,5.8.15; 2,3 und 7,3.6.

84

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Bezirke, Straßen und Plätze etc., ein Gebäude und seine Räume, ein Einzelraum mit seiner Aufteilung. Als Nachfolgemerkmale sind vor allem temporale Angaben ausdrucksformal am attributiv gebrauchten Personalpronomen der dritten Person in Verbindung mit nominalen Zeitbezeichnungen zu erkennen (Kinn DV3, KTin fiU3 , Dnn D , 0 , 3 etc.). Nur wenn sich bei diesen Indikatoren kein rahmensetzendes Ausgangsmerkmal findet, auf das sich die Angabe zurückbezieht, fungieren diese selbst als Ausgangsmerkmale und eröffnen einen indefiniten Zeitrahmen ("an jenem Tage", "zu jener Zeit", "in jenen Tagen", vgl. z.B. Jud 19,1). Dabei muß die Frage offen bleiben, ob in diesen Fällen nicht doch - wenn auch ganz und gar formal - der Zeitrahmen als Bezugspunkt gilt, der durch die in den einzelnen biblischen Büchern gesammelten, wenn auch untereinander z.T. nur lose verbundenen Erzählungen eo ipso gestiftet wird. Ähnliches dürfte z.B. für p n n x ("danach") gelten. Als eindeutig indefinite Zeitmarkierung kennt das Althebräische ttt ("einst"). Das Nachfolgemerkmal für lokale Angaben lautet im Hebräischen Da? ("dort") bzw. (mit Richtungskasus) ¡in» ("dorthin"). Unter den temporalen Episodenmerkmalen ist noch auf eine weitere Gruppe von Realisierungsformen aufmerksam zu machen, und zwar auf Zeitangaben, die Ereignissequenzen in Beziehung zu anderen vor-, gleichoder nachzeitigen Vorgängen der Ereigniskette setzen und damit ein auf die Ereigniskette selbst bezogenes Zeitrelief erzeugen, das ereignisketten-relativ ist. Diese Angaben kommen meist in Gestalt von temporalen Nebensätzen zum Ausdruck ("bevor", "sowie", "während", "als", "nachdem"). Im Hebräischen stehen in der Hauptsache dafür zum einen die Inf.cs.-Sätze mit den Präpositionen 3 ("sowie", "als"), 3 ("als, nachdem") und selten ,"inx ("nachdem") zur Verfügung, ferner die Nebensatzkonjunktion ni&K in Verbindung mit den genannten Präpositionen und gefolgt von einem verbum finitum. Vorzeitigkeit ("bevor") wird mit der Konjunktion Q")ü bzw. D1Ü3 und folgendem Verbum finitum ausgedrückt, die Gleichzeitigkeit mit einer im Gange befindlichen Handlung ("während") durch Nominalsätze mit partizipialem Prädikat, oft unterstrichen durch die Partikel HIB. Auch die Konjunktion , 3 kann temporale Nebensätze einleiten ("als, nachdem" ähnlich wie lat. quod). Alle diese temporalen Nebensätze haben wohl vor allem dann mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine textgliedernde Funktion als Episodenmerkmale, wenn sie mit Hilfe der Pro-Form TH (bzw. in speziellen Fällen rrm) betont vor den Hauptsatz gestellt werden, auf den sie sich beziehen. Offen bleibt die Frage, inwiefern Ortsangaben bei Verben der Bewegung ("gehen", "kommen") auch Episodenmerkmale sind. Hier muß zur genaueren Klärung noch mehr Analyseerfahrung gesammelt werden. Ein Kriterium könnte sein, daß mit Ankunftsangaben auch eine Szenenlokalisierung und -eröffnung verbunden sein müßte. Da aber mit Verben der Bewegung meist auch eine Konstellationsveränderung der Handlungsträger verbunden ist, wird ein textgliedernder Situationswechsel zumindest an diesem Gliederungsmerkmal zuverlässig ablesbar, zumal längst nicht jede Darstel-

Repräsentationsformen der Gliederungsmerkmale

2.4.3

85

lung einer Ortsveränderung auch eine Angabe des Ausgangs- oder des Zielpunktes zwingend erforderlich macht. Natürlich sind Ortsbezeichnungen, die eindeutig und nur der näheren Kennzeichnung z.B. von Personen dienen (z.B.. "der König von Juda"), keine Episodenmerkmale, da sie auf die Struktur der Ereigniskette und die Situierung der einzelnen Handlungssequenzen in temporal oder lokal herausgehobenen Situationen keinen Einfluß haben. Iterationsmerkmale manifestieren sich im -wesentlichen in Zeitangaben, die eine Wiederholung anzeigen, z.B. ¡"WO'1 D,0,D, "von Jahr zu Jahr" (Ri 11,40; I Sam 1,3, vgl. 7). Dabei ist stets zu prüfen, ob diese Merkmale auch mit einem iterativen Tempusgebrauch verbunden sind, was keineswegs immer der Fall ist (vgl. z.B. Gen 33,3). Hier sind umfassende Materialstudien besonders nötig, um die Differenzierungsfunktionen dieser unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu erfassen. - Mit zu berücksichtigen sind ferner Wechsel im Tempusgebrauch. Korrespondieren solche Wechsel mit dem Auftreten von Episoden- oder Iterationsmerkmalen, so handelt es sich um Teiltexte, die aufgrund ihrer expliziten temporalen Markierung einen stärkeren Gliederungsakzent aufweisen gegenüber nicht markierten Teiltexten, die sich nur durch ihren veränderten Tempusgebrauch von ihrer Umgebung abheben. 102 2.4.3

Repräsentationsformen der Konstellationsveränderung von Ereignisträgern - Pro- und Renominalisierung

Veränderungen in der Konstellation der Handlungs- bzw. Ereignisträger bilden sich an der Textoberfläche einerseits als Neu- oder Wiedereinführung von Ereignisträgern ab und sind andererseits an der Unterbrechung oder am gänzlichen Ausbleiben von Wiederaufnahmen ablesbar. Sprachlich können sie nur entweder durch Eigennamen, durch Nomina und nominale Ausdrücke oder durch Pronomina gekennzeichnet werden. Da im Hebräischen die Personalpronomina bei den Flexionsformen des finiten Verbs (ähnlich wie im Griechischen und Lateinischen) allein durch die Afformative (AK-Konjugation und Imperative) bzw. durch Präformative in Kombination mit bestimmten Endungen (PK-Konjugation) repräsentiert werden, ist auch der Personalbezug der finiten Verbformen als pronominale Substitution der entsprechenden Handlungsträger aufzufassen, sofern nicht Kennzeichnungen durch Nomina oder Eigennamen bei Neueinführungen oder Renominalisierungen vorliegen. Ein Personalpronomen, das betont und dann stets vor die Flexionsform gesetzt wird (vgl. z.B. I Sam 4,18), ist gesondert festzuhalten und betrifft die besondere Satzart (invertiert/nicht-invertiert), in der ein Sachverhalt zur Darstellung kommt.

102

Vgl. z.B. Gen 29,2-4 und I Sam l . l f f . , bes. V.3 und 7.

86

Kapitel 2

Erzähltextanalytische Grundlagen

Auf die semantischen Abhängigkeitsbeziehungen bei nominalen Kennzeichnungen, die bei der Relieferstellung zu berücksichtigen sind, haben wir bereits hingewiesen. Inwiefern Renominalisierungen eine Konstellationsveränderung anzeigen und u.U. in Übereinstimmung mit anderen Gliederungsmerkmalen eine textgliedernde Funktion haben, wird im Einzelfall ebenso zu prüfen und zu diskutieren sein, wie alle Fälle, bei denen Renominalisierungen andere, z.B. Hervorhebungsfunktionen haben oder - wie nach direkten Reden - möglicherweise aus Gründen der Verständnissicherung üblich sind. Auch hier sind erst noch einschlägige Erfahrungen an einem breiten Untersuchungsmaterial zu sammeln. Renominalisierung als Durchbrechung der obstinaten und als Normalfall zu erwartenden Pronominalisierung von Ereignisträgern, die (wieder) aufgenommen werden, ist wahrscheinlich ein multifunktionales Instrument der Reliefgebung in Erzähltexten (z.B. reine Verständnissicherung, Hervorhebung, Gliederung, Wiedereinführung etc.). Damit haben wir abschließend einige textgrammatische Hinweise gegeben, um die Identifizierbarkeit der Gliederungsmerkmale an der Sprachgestalt des Erzähltextes zu veranschaulichen. Wie bereits erwähnt, wäre die gründliche Behandlung dieser Ausdrucksmittel Sache einer Textgrammatik des Althebräischen, die auch das Tempussystem und die Satzarten miteinbeziehen müßte. Auch ohne eine solche ausführliche Studie sind nun aber hinreichend die Grundlagen geschaffen, im folgenden die Textanalyse der HKJ-Erzählungen in Angriff zu nehmen.

Kapitel m Literarischer Kontext und Aufbau der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems (ABBJ-Erzählung) in D Reg 18,9f *13-19,37* Die Bezeichnung des Erzählzusammenhangs von II Reg 18,9f.*13-19,37* als Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems (abgekürzt ABBJ-Erzählung) faßt im Vorgriff auf das Ergebnis dieses Kapitels die thematische Grundstruktur zusammen, die das Ganze dieser Erzählung ausmacht. Mit der angezeigten Versbegrenzung sind zugleich die Probleme umrissen, die in diesem Kapitel zu bearbeiten sind. Die ABBJ-Erzählung ist Teil des umfangreicheren Erzählkomplexes der HKJ-Erzählungen, der neben der ABBJ-Erzählung die Erzählungen von Hiskijas Krankheit in II Reg 20,1-11 und von der Gesandtschaft Merodach-Baladans in 20,12-19 umfaßt. Aufgrund der Parallelüberlieferung in Jes 36-39 wird der Anfang der HKJ-Erzählungen gemeinhin in II Reg 18,13 angesetzt. Demgegenüber läßt E. Würthwein (1984) die "Erzählungen über den Mißerfolg Sanheribs bei seinem Feldzug gegen Hiskija (18,17-19,37)" erst mit V.17 beginnen (a.a.O. 406). Mit dieser Frage nach dem Anfang der HKJ-Erzählungen, der mit dem Erzählanfang der ABBJ-Erzählung zusammenfällt, sind unmittelbar zwei weitere Fragen verknüpft: Wie sind die HKJ-Erzählungen in den literarischen Kontext des deuteronomistischen Geschichtswerkes (abgekürzt DtrG.) eingebettet? 1 Und in welchem Verhältnis stehen die beiden Ver-

Die Bezeichnung "deuteronomistisches Geschichtswerk" (DtrG.) verwenden wir als Bezeichnung für die Letztgestalt jener literarischen Großeinheit, die mindestens vom Buche Josua bis II Reg 25 reicht. Sie umfaßt die von R. Smend (1971) und ( 3 1983, 115ff.), von T. Veijola (1975) und W. Dietrich (1972) diagnostizierten deuteronomistischen Redaktionen DtrH. (statt "G", vgl. W. Dietrich, 1977, 48), DtrN. und DtrP. mit. E. Würthwein, der sich der Redaktionstheorie von R. Smend und seinen Schülern anschließt, verwendet das Siglum DtrG. demgegenüber ausschließlich für die deuteronomistische Grundschrift der Königsbücher im Sinne "des ersten dtr 'Historikers'" (R. Smend, 3 1983, 115), der nach Smend das Geschichtswerk als Ganzes nach der Zerstörung Jerusalems bzw. nach der Begnadigung Jojachins um 560 unter Verwendung von vielfältigem Quellenmaterial möglicherweise in Mizpa geschaffen hat (vgl. a.a.O. 124f. sowie Würthwein, 1984, 489ff. und 503). Mit der hier gewählten Bezeichnung wird die Distanz zum redaktionsgeschichtlichen Ansatz von

88

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

sionen im Jesajabuch 0-Version) und in II Reg 18-20 (K-Version) zueinander? Diesen Fragen ist in den folgenden Abschnitten nachzugehen.

3.1

Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Rahmen des DtrG.

Die Frage nach dem Verhältnis der HKJ-Erzählungen zum Rahmen des DtrG. stellt sich in einer doppelten Richtung. Zum einen muß aus der Binnenstruktur der Erzählüberlieferung selbst heraus und nach erzählimmanenten Kriterien der Erzählstruktur ihr Anfang bestimmt werden. Dabei liegt eine Antwort auf diese Frage in Gestalt der Überlieferung im Jesajabuch ( = J-Version) bereits vor. Sie hält II Reg 18,13 - leicht modifiziert (TP! statt 1) für unerlässlich, die Verse 14-16 jedoch für entbehrlich und sieht somit den Erzählanfang in V.13. Doch wird diese Frage unter erzählimmanenten Kriterien bei der Analyse der ABBJ-Erzählung noch im einzelnen zu klären sein (vgl. unten 3.5). Vorrangig ist jedoch zum zweiten auch aus dem Zusammenhang des Rahmens heraus zu fragen, wie und wo sich mögliche Erzähleinsätze herauslösen lassen bzw. geradezu herausgelöst werden müssen, weil sie sich von der Rahmenstruktur deutlich abheben oder diese durchbrechen. Daß II Reg 18,13 in seiner vorliegenden Gestalt mit Und-Verknüpfung und invertiertem Verbalsatz nur ein relativer Einsatz sein kann, belegt die Modifikation mit TPl in Jes 36,1. Nur sie konnte offenbar für hebräische Ohren als Erzählanfang - zumindest im Buchzusammenhang der Jesajawortüberlieferung - gelten.2 Ein solcher Einsatz mit VP1 und folgender Zeitangabe findet sich in der K-Version jedoch bereits in II 18,9, der mit 18,13 weiter geführt sein könnte. Deshalb ist der Erzählanfang in der K-Version keineswegs so eindeutig, wie es von der J-Version her auf den ersten Blick zu sein scheint. Wie immer man die Prioritäten zwischen beiden Versionen setzt, der Einsatz in V.13 muß in seiner Funktion und Stellung auch und zuerst im Rahmen von II Reg 18,lff. und damit im größeren Rahmen des DtrG. geklärt werden.

2

Smend und seinen Nachfolgern markiert, was nicht mit einer Rehabilitierung des DtrG. im Sinne von M. Noth gleichzusetzen ist. Zur Auseinandersetzung im einzelnen vgl. unten 3.1.2. Die fruchtbaren Beobachtungen zu Erzählanfängen, die W. Gross (1981) diskutiert, geben keine unmittelbare Klärungshilfe für den hier zur Debatte stehenden Fall. W. Gross' Postulat, daß man "mit Satztypen argumentieren können (sollte)" (a.a.O. 131), müßte jedoch dringend durch systematische textsyntaktische Untersuchungen eingelöst und könnte durch den Einsatz der EDV wesentlich erleichtert werden; vgl. dazu C. Hardmeier (1986c).

Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Rahmen des DtrG.

3.1.1

3.1.1

89

Der "Königsrahmen" als unmittelbarer Kontext der Hiskija-Jesaja-Erzählungen

Bisher war in einem ganz unspezifischen Sinne vom Rahmen des DtrG. die Rede, in den die HKJ-Erzählungen vermutlich als literarisch einmal selbständiges Überlieferungsmaterial eingearbeitet worden sind. Es gehört zu den unbestrittenen Forschungserkenntnissen, daß dieses Uberlieferungsmaterial von einschlägigen Notizen in II Reg 18,lff. und 20,20f. umschlossen wird, die zum sog. "Königsrahmen" gehören. Dieser stereotype Rahmen umfaßt — 1. eine Einführungsformel, die a) das Jahr des Regierungsantritts mit einem Synchronismus nennt (vgl. II 18,1) und b) das Antrittsalter des Königs (V.2ao), c) seine Regierungsdauer (V.2a/3) sowie d) den Namen seiner Mutter angibt (V.2b), — 2. eine Bewertungsformel, die den König und seine Herrschaft positiv oder negativ beurteilt (V.3) und — 3. eine Schlußnotiz, die den dazwischen liegenden Bericht über die Regierungstätigkeit und über wichtige Ereignisse während der Regierung des betreffenden Königs abschließt. Diese Schlußformel verweist a) auf die Quelle, der weitere wichtige Nachrichten entnommen werden können (II 20,20) und nennt b) den Tod (und meistens) das Begräbnis des Königs (V.21a, ohne Begräbnisnotiz) sowie seinen Nachfolger (V.21b). 3 Dieses literarische Grundschema bildet die tragende und alles verbindende Makrostruktur, unter der die Geschichte der Könige von Israel und Juda ab der Teilung des davidisch-salomonischen Großreiches dargestellt und gegliedert wird. 4 Zumindest derjenige Teil des DtrG. in seiner JetztGestalt, der ab I Reg 14,21 fast lückenlos nach diesem Darstellungsschema des "Königsrahmens" gestaltet ist, 5 hat damit als nächstliegender und un-

3

Zur dieser Struktur und ihren Varianten vgl. zuletzt R.D. Nelson (1981, 29-42) und H.-D. Hoffmann (1980, 33ff.). Vgl. I Reg 14,21ff. Einzelphrasen dieses stereotyp formulierten Rahmens finden sich in I Sam 13,1 (Saul); II Sam 2,10 (Isch-Boschet) und 5,4 (David) einerseits (Angaben zum Alter bei Regierungsantritt und zur Länge der Regierungszeit) und in I Reg 11,41-43 (Salomo) und 14,19f. (Jerobeam) andererseits (Verweis auf die Tagebücher Salomos bzw. der Könige von Israel, Regierungsdauer und Begräbnisnotiz).

5

Nur bei der Usurpatorin Atalja fehlt der Rahmen ganz (vgl. II Reg 11), bei Jehu die Anfangsnotizen (zur Schlußformel vgl. II Reg 10,34-36, die im Typus mit I Reg 11,41-43 und 14,19f. verwandt ist), bei Joram (II Reg 9,24) und Hosea von Israel (II Reg 17,4-6) sowie bei Ahasja (II Reg 8,25ff.) und den letzten Königen von Juda außer Jojakim die Schlußnotizen (vgl. II Reg 23,33; 24,12 und 25,7). Alle diese Abweichungen lassen sich aus den historischen Umständen des Regierungsantritts (Usurpation bei Atalja, Revolution bei Jehu) bzw. des Endes der Regierungszeit (Krieg, Revolution oder Wegführung) erklären (vgl. dazu im einzelnen und zu den Variationen

90

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

mittelbarer Einbettungskontext der HKJ-Erzählungen zu gelten. Bei diesem "Königsrahmen" handelt es sich insofern um einen paradigmatischen Kontext, als dieses Schema über 30mal wiederholt wird. Im Strukturvergleich erweist es sich zuverlässig als makrostrukturelles Gestaltungsprinzip des DtrG. zur Darstellung der Geschichte der beiden Königreiche Israel und Juda. In diesen konstanten Rahmen sind dann die nach Art und Umfang unterschiedlichsten Einzelüberlieferungen aufgenommen und eingearbeitet worden wie z.B. die HKJ-Erzählungen in II Reg 18-20. Von diesen Überlegungen her ist die Rahmeneinheit II Reg 18,1-20,21 als unmittelbarer dtr. Kontext der HKJ-Erzählungen zu definieren, die ihrerseits im paradigmatischen Kontext der übrigen Rahmeneinheiten in den Königsbüchern zu sehen und zu betrachten ist. Dabei soll mit dieser primär paradigmatischen Betrachtungsweise des Makrokontextes nicht der Blick verstellt werden für mögliche makrostrukturelle Querbeziehungen zwischen den verschiedenen Rahmeneinheiten. 6 Mit dem "Königsrahmen" als paradigmatischem Kontext im Gesamtwerk des DtrG. wird eine literarische Schlüsselstruktur berührt, die zur Beurteilung des literaturgeschichtlichen Werdeprozesses des DtrG. von zentraler Bedeutung und dementsprechend umstritten ist. Unser Vorhaben, die Erzählüberlieferung in II Reg 18ff. vom Rahmen abzugrenzen und auf ihren primären, zeitgeschichtlichen Entstehungs- und Funktionszusammenhang hin zu untersuchen, ist von dieser globalen Frage nach dem literaturgeschichtlichen Werdeprozeß des DtrG. zwangsläufig mitberührt. Deshalb muß hier - wenn auch nur in Umrissen - kurz deutlich gemacht werden, in welchem Rahmen von Fragestellungen und Hypothesen der Forschung sich dieses Vorhaben bewegt und welchen möglichen Beitrag zur Forschungsdiskussion es in dieser Beziehung leisten könnte. 7

6

7

dieses stereotypen Rahmens R.D. Nelson, 1981,32ff.). Vgl. z.B. das Weissagungs-Erfüllungsschema und dazu z.B. I Reg 13,2 und II Reg 23,16f. oder II 20,17f. und 24,12f.; vgl. dazu W. Dietrich (1972, 22ff.), der aber auf die Beziehung zwischen II Reg 20,17f. und 24,12f. nicht eingeht; dazu vgl. bes. R.D. Nelson (1981,129-132) und R.E. Clements (1983,212) sowie unten 6.4.2.2. Vgl. dazu die Darstellungen bei R. Rendtorff ( 2 1985, 194ff), R. Smend ( 3 1983, 112ff.), R.D. Nelson (1981,13-22) und E. Würthwein (1984,485ff.).

Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Rahmen des DtrG.

3.1.2

3.1.2

91

Exkurs: Zur literaturgeschichtlichen Betrachtung des DtrG. in der Forschung

Prägend vor allem für die deutsche Forschung ist bis heute das Betrachtungsmodell von M. Noth ( 3 1973) geworden.8 Noth hat bekanntlich die primäre Blickrichtung der klassischen Literarkritik auf alte, vor-dtr. "Quellen" grundlegend verändert und den dtr. "Redaktor" als einen eigenschöpferischen "Autor eines Geschichtswerkes" zu sehen gelehrt, "das die überkommenen, überaus verschiedenartigen Uberlieferungsstoffe zusammenfaßte und nach einem durchdachten Plane aneinanderreihte" (a.a.O. 11). Damit hat Noth die Frage nach den kompositioneilen Makrostrukturen alttestamentlicher Literaturformationen in ihren Spät- bzw. Endgestalten ins Zentrum gerückt und unter Überholung eines mechanistisch-kompilatorischen Redaktorenbildes den gestalterischen Charakter ("nach einem durchdachten Plane") dieser Kompositions- und Kommentierungsarbeit herausgestrichen als "Arbeit eines Mannes ..., in dem die geschichtlichen Katastrophen, die er miterlebt hat (sc. der Zusammenbruch von 587), die Frage nach dem geschichtlichen Sinn dieses Geschehens geweckt hatten" (110). Die Noth'sche Fragestellung wird von R. Smend und seinen Nachfolgern insofern fortgeführt, als sich auch bei diesem Ansatz die drei postulierten Redaktionen DtrH., DtrN. und DtrP. (vgl. oben Anm. 1) jeweils auf das Gesamtwerk und die Gesamtgeschichte Israels und Judas aus exilischer Perspektive nach der Katastrophe beziehen. Dabei wird M. Noths These von einem Verfasser des Werkes aufgegeben und mit einem mehrschichtigen exilischen Überarbeitungsprozeß gerechnet.9 Diese redaktionsgeschichtliche Annahme von mehreren Überarbeitungsstrata ist zwar als solche plausibel, jedoch angesichts der primär thematischen Ausrichtung der postulierten Redaktionen zugleich auch problematisch. Mit der Herausarbeitung verschiedener thematischer Grundlinien des Gesamtwerkes, einer historischen (DtrH.), einer prophetischen (DtrP.) und einer vor allem am Gesetz orientierten nomistischen (DtrN.) Linie, treten zwar die makrothematischen Basiskonturen der Gesamtkomposition differenzierter und schärfer ins Blickfeld und lassen präzisere Rückschlüsse auf die Darstellungsintention(en) dieses Gesamtwerkes zu. Problematisch bei diesem Ansatz ist jedoch die Projekion des redaktionsgeschichtlichen Betrachtungsmodells auf diese unterschiedlichen thematischen Grundlinien, die die berechtigte und unabweisbare Kritik von R.D. Nelson und H.-D. Hoffmann an diesem Ansatz hervorgerufen hat. R.D. Nelson bemerkt dazu folgendes: "Various matters such as law, prophecy, rest, kingship, all of which could be of interest to a single theological thinker, are (almost automatically) assigned to different redactional levels.... Alleged differences in language usage among the three redactors seem to be mostly the result of the differences in subject matter which caused them to be separated in the first place" (1981, 22). H.-D. Hoffmann macht seine grundsätzliche Kritik vor allem an den mangelnden sprachlichen Kriterien fest: "Die Abhebung der einzelnen Redaktionsschichten voneinander erfolgt ... ganz entsprechend den alten literarkritischen Kriterien nach Dubletten und Spannungen im Text. Freilich

8 9

Zur Forschungsdiskussion vgl. auch H. Weippert (1985) und I.W. Provan (1988). Vgl. R. Smend ( 3 1983, 124f.).

92

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

entfällt jede Möglichkeit einer sprachlichen Differenzierung der Schichten, da es sich auf allen Redaktionsstufen um die gleiche formelhafte dtn/dtr Sprache handelt, innerhalb deren zu differenzieren oder gar Entwicklungslinien zu erkennen, ein vergebliches Unternehmen bleiben muß" (1980, 18). Deshalb besteht nur die Möglichkeit, "nach dem jeweiligen sachlichen, motivischen und theologischen Hauptgegenstand einer Redaktionsschicht zu differenzieren" (a.a.O.), und eine solche Differenzierung ist auch einem Autor oder einer Bearbeiterschule zuzutrauen. 10 Beide Kritiker monieren den Mangel an sprachlichen, genauer an stilistischen Unterscheidungskriterien für die verschiedenen Redaktionen, so daß das angewendete redaktionsgeschichtliche Betrachtungsmodell gerade das nicht leistet, was es vorgibt: eine über thematisch-lexikalische Sprachdifferenzen hinausgehende literar- und stilkritische Unterscheidung von Schichten, die sich an verifizierbaren Nahtstellen als Niederschlag von redaktionell literarischen Textüberarbeitungsprozessen zu erkennen geben. Dieser Mangel zeigt sich symptomatisch auch daran, daß sich die verschiedenen Redaktionsschichten zum einen unkontrolliert zu vermehren beginnen. So unterscheidet z.B. E. Würthwein bereits einen "DtrPl" von einem "DtrP2" (1984,496-498), so daß es bald soviele Redaktionsschichten zu geben droht, wie sich Themennuancen im DtrG. finden lassen. Zum andern bestehen in der Zuordnung von Textteilen zu den postulierten Redaktionsschichten in den Einzelanalysen große Divergenzen. 11 Aus dieser Kritik ist die Konsequenz zu ziehen, daß den mit den verschiedenen Redaktionssigla versehenen Schichten lediglich die damit markierten thematischen Grund- und Verbindungslinien zu entnehmen sind, während die Frage nach einer oder mehreren kompositionellen bzw. redaktionellen Be- und Überarbeitungen des DtrG. in der Exilszeit als eine noch ungelöste Frage offen bleiben muß. Insbesondere bietet E. Würthweins Analyse von II Reg 18-20 keine geeignete Grundlage zur Klärung des Verhältnisses zwischen dem Rahmen des DtrG., den HKJ-Erzählungen und der darin eingebetteten ABBJ-Erzählung. Die Konsequenz, die H.-D. Hoffmann methodisch aus seiner Kritik am Ansatz von R. Smend zieht, kann jedoch auch nur zum Teil befriedigen. Hoffmann unternimmt im pointierten Rückgriff auf M. Noth "den Versuch einer konsequent überlieferungsgeschichtlichen Analyse des DtrG" (a.a.O. 21). Er will "stärker als bisher ... nach der möglichen mündlichen Vorgeschichte der mitgeteilten Stoffe" fragen, sich "bei der Rekonstruktion vermuteter literarischer Vorlagen ... mehr methodische Zurückhaltung und Vorsicht" auferlegen und im Sinne Noths "die vorliegende literarische Gestaltung stärker als bisher auf die bewußte und planvolle Arbeit des oder der Verfasser" des DtrG. beziehen (a.a.O. 20). Auf diese Weise gelingt es zwar Hoffmann, die zentrale kultgeschichdiche Ausrichtung des Gesamtwerkes differenziert und überzeugend herauszuarbeiten. Auch wird man dem Verfasser darin folgen können, daß grundsätzlich mit einem höheren Anteil an eigenschöpferischer Textformulierung des bzw. der dtr. Verfasser auch im Bereich der verarbeiteten Stoffe zu rechnen ist, bis hin zur Möglichkeit des "Dtr als Erzähler" (a.a.O. 316). Problematisch wird Hoffmanns notwendige Betonung der überlieferungsgeschichtlichen Fragestellung, wo sie gegen eine literarkritisch-redaktionsgeschichtliche Betrachtungsweise in Konkurrenz gesetzt wird und den Blick für literarische Überformungspro-

10 11

Vgl. schon die Kritik bei K. Rupprecht (1973). Vgl. O. Kaiser ( 5 1984,168, Anm. 9).

Die Hiskija-Jesaja-Erzählungen im Rahmen des DtrG.

3.1.2

93

zesse verstellt. Diese Gefahr zeigt sich z.B. an Hoffmanns Analyse von II Reg 23,4ff. besonders deudich (vgl. a.a.O. 208ff.).12 Deshalb kann die literaturgeschichtliche Frage nach der Entstehung des DtrG. nur dann einer Lösung näher gebracht werden, wenn man die beiden Fragestellungen sorgfältig unterscheidet und sachgerecht an das Material anlegt, ohne sie gegeneinander in Konkurrenz zu setzen. Dazu gehört dringend eine größere Sorgfalt in der Bestimmung und Handhabung von sprachlich-stilistischen Kriterien, die begründbar und plausibel auf literarische Nahtstellen schließen lassen. Wo aber solche Nahtstellen offensichtlich sind, muß literarkritisch argumentiert und eine redaktions- oder kompositionsgeschichtliche Erklärung gefunden werden (vgl. unten 3.2.1). Wo "Spannungen" jedoch nur "inhaldich", nicht aber auch sprachlich-stilistisch faßbar bleiben, kann nur überlieferungs- bzw. traditions- oder gattungsgeschichtlich argumentiert werden. Allerdings ist in solchen Fällen zuerst zu fragen, ob und unter welchen Kriterien es sich überhaupt um "Spannungen" und "Widersprüche" handelt, oder ob sich solche vermeintlichen Widersprüche nicht besser aus der besonderen Zeit- und Erfahrungsperspektive des Autors sowie aus der literarischen Eigenart, der Funktion und der Wirkabsicht einer Erzählung oder einer Komposition erklären lassen. In welchem Maße dieses Letztere sowohl bei der ABBJ-Erzählung als auch bei der Erzählung von Jer 37-40 der Fall ist, wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein. In jedem Falle aber ist die Entscheidung für das eine oder andere Betrachtungs- und Erklärungsmodell allein vom Textzusammenhang abhängig, der zur Interpretation ansteht, so wie man weder mit der Kuchengabel Heu wendet noch mit der Heugabel ein Stück Sachertorte ißt. Die methodische Betrachtungsweise und die Erklärungskriterien müssen sich deshalb stets auch aus dem konkreten Untersuchungsgegenstand selbst ergeben und diesem angemessen sein. Es liegt in der Natur der Frageansätze, die im Anschluß an M. Noth das Augenmerk in erster Linie auf die exilische(n) Endgestalt(en) des DtrG. richten, daß die Frage nach literarischen Vorformen des ganzen Werkes bzw. der verschiedenen, darin verarbeiteten Materialien nur am Rande und nur ex negativo gestellt wird. So rechnet auch H.-D. Hoffmann z.B. im Blick auf die HKJ-Erzählungen durchaus mit vorgegebenem Überlieferungsmaterial, das in das DtrG. eingearbeitet worden ist.13 Dennoch bleibt bei Hoffmann die Forderung, "neu ... nach dem Verhältnis des Dtr zu seinen Stoffen (zu fragen)" (a.a.O. 20), weitgehend Programm. Sie wird durch die überlieferungsgeschichtliche Betrachtungsweise

12

Nach Hoffmanns Überzeugung ist "es nicht möglich ..., mit Mitteln der Literarkritik den Reformbericht zu hinterfragen und eine ältere Vorlage daraus zu rekonstruieren" (217). Doch bleibt die in V.4 angesprochene Priesterschaft ganz offensichtlich in der Luft hängen, weil Joschija in V.5ff. die angeordnete Kultreform unter der Hand selber durchzuführen beginnt (vgl. den Numeruswechsel in V.5) und von den Priestern im weiteren Textverlauf nirgends mehr die Rede ist. Ebenso unvermittelt setzt dann in 23,16 die Erfüllungsepisode des Prophetenwortes von I Reg 13,2 ein und unterbricht - sprachlich zweifelsfrei erkennbar - die Aufzählung von Kultreformmaßnahmen, die stilistisch homogen in V.19 fortgesetzt wird (vgl. völlig parallel V.15!). Hier sind eindeutig literarische Überformungsprozesse die Ursache der texdichen Heterogenität.

13

Vgl. a.a.O. 146, Anm. 3 und 267, Anm. 19.

94

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

nur einseitig und inadäquat eingelöst, weil die Möglichkeit von literarischen Vorformen dadurch ausgeblendet wird. Auch E. Würthwein (1984) unterscheidet vor-dtr. Überlieferungsmaterial vom Stratum der exilischen Grundschrift (DtrG.), das durch Fettdruck gegenüber dieser ersten Stufe eines historischen Gesamtwerkes gesondert hervorgehoben wird. 14 In 18,17ff. meint er darüber hinaus sogar zwei verschiedene vordtr. Traditionen der Rabschake-Rede voneinander isolieren zu können (eine "Rede an das Volk" und eine "Rede an den König", vgl. a.a.O. 418f.). Alle diese Differenzierungen bleiben aber deshalb spekulativ, weil sie sich auf rein inhaltliche Überlegungen stützen und sich im unbegründeten "So könnte es auch gewesen sein" erschöpfen. Wenn wir im folgenden besonders nach dem literarischen Verhältnis von Rahmen und Überlieferungsmaterial fragen, um die HKJ-Erzählungen als eigenständige literarische Erzählungen aus ihrem zeitgeschichtlichen Entstehungszusammenhang zu erklären, dann fällt indirekt dabei auch ein Beitrag zur Frage nach der literaturgeschichtlichen Entstehung des DtrG. ab. Indem hier versucht wird, einen unbestritten als vordtr. Material geltenden Textkomplex 15 zeitgeschichdich und in seinem Verhältnis zum Rahmen zu bestimmmen, werden zum einen präzisere Einsichten in die literarischen Verarbeitungsformen bei der Einarbeitung von Überlieferungsmaterial in den Rahmen gewonnen. Zum andern aber kann bei diesem relativ "späten" Überlieferungsmaterial post 701 auch ein zuverlässiger terminus a quo der rahmenden Gesamtverarbeitung bestimmt werden, die chronologisch zwangsläufig nach der Entstehung der Erzählüberlieferung selbst liegen muß. Damit wird aber zugleich ein klärender Beitrag zur Frage einer spätvorexilischen Erstfassung des DtrG. zu erwarten sein, wie sie neuerdings in Fortführung der alten Zwei-Redaktionen-Hypothese von R.D. Nelson (1981) vertreten wird. 16 Diese Frage nach möglichen Vorformen des DtrG. ist durch die primär redaktionsgeschichdiche Betrachtungsweise vor allem in der deutschen Forschung im Gefolge von M. Noth keineswegs erledigt und muß gleichzeitig und komplementär dazu gestellt werden, auch wenn sie - wie unsere Analyse zeigen wird - anders als bei Nelson zu beantworten sein wird. Die Grundfrage lautet dabei, ob man mit einer vorexilischen aber schon dtr. geprägten Fassung ab der Zeit Joschijas (nach H. Weippert, 1972, 337 sogar davor) zu rechnen hat oder ob die dtr. Färbung in Übereinstimmung mit dem Ansatz von M. Noth und seinen Nachfolgern allein in die Exilszeit anzusetzen ist und vorexil ische Formen sich auf eindeutig nicht- bzw. vordtr. Gestaltungen beschränken wie z.B. die von A. Jepsen ( 2 1956, 33ff.) postulierte "synchronistische Chronik S" mit ihrem Ende in II Reg 18,lf.8 aus der Zeit Hiskijas (vgl. a.a.O. 38f.). Zu diesen weitergehenden Fragen nach der Gesamtgestalt des DtrG. und möglichen spätvorexilischen Vorformen wird unsere Arbeit nur indirekten einen Beitrag leisten

14

15

16

In II Reg 18 gehören dazu nach Würthwein die Verse 7b.8.13*.14f. und 17ff., vgl. a.a.O. 406f.415. Die Einhelligkeit, mit der II Reg 18,13ff.* seit M. Noth ( 3 1973, 85) als Überlieferungsmaterial betrachtet wird, das der Gesamtkomposition des DtrG. vorausliegt, bestätigen nicht nur H.-D. Hoffmann und E. Würthwein (vgl. oben), sondern auch R. Smend ( 3 1983, 134-137) und O. Kaiser ( 5 1984, 170). Vgl. zur Forschungsgeschichte a.a.O. 13ff.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

95

können. Deshalb verzichten wir hier auf eine weitere Diskussion dieser Ansätze im einzelnen. Vier Konsequenzen sind aus diesem Forschungsüberblick für die folgende Arbeit festzuhalten: — 1. Es gibt keine tragfähigen Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen dem "Königsrahmen" und den darin eingearbeiteten Erzählüberlieferungen, weder in literarischer Hinsicht, was die Verknüpfungsformen betrifft, noch in literaturgeschichtlicher Hinsicht, was den Umfang und das Alter dieser Uberlieferungen bzw. einer möglichen Rahmenstruktur (Elemente des "Königsrahmens") angeht, auf die die Verfasserschaft des DtrG. zurückgegriffen haben könnte. — 2. Auch die in der deutschen Forschung üblich gewordene Unterscheidung verschiedener dtr. Redaktionen unter vorwiegend thematischen Gesichtspunkten kann kein Ausgangspunkt für unsere Bestimmung des Verhältnisses einer dtr. Rahmenstruktur zu den eingearbeiteten HKJ-Erzählungen sein. — 3. Sowohl im Bereich des "Königsrahmens" als auch bei den eingearbeiteten Überlieferungen ist mit literarischen Vorformen auch aus vorexilischer Zeit zu rechnen, die der exilischen Gesamtkomposition des DtrG. vorausliegen und sich auch literarkritisch nach sprachlichen Kriterien abgrenzen lassen. — 4. Dennoch ist analytisch bei der vorliegenden Letzt-Gestalt einzusetzen und von da aus — soweit sprachliche und inhaltliche Indizien dazu herausfordern - sorgfältig nach solchen möglichen Vorformen zu fragen.

3.2

D i e ABBJ-Erzählung i m R a h m e n der HKJ-Erzählungen

A l s erstes w e n d e n w i r u n s d e m Erzählanfang der ABBJ-Erzählung zu, der zusammenfällt mit d e m A n f a n g der HKJ-Erzählungen innerhalb der exilischen G r o ß f o r m a t i o n des D t r G . Insofern erfährt die in 3.1 aufgeworfene Frage nach d e m Verhältnis der HKJ-Erzählungen z u m D t r G . in diesem ersten A b s c h n i t t eine weitere Klärung.

3.2.1

D e r A n f a n g der ABBJ-Erzählung in II R e g 18,9f.*

Zunächst stellt sich die Aufgabe, die Stellung u n d F u n k t i o n v o n II R e g 18,9f.* innerhalb des Einleitungsabschnittes v o n II R e g 18,1-12 z u klären u n d seine sprachliche u n d stilistische Eigenart herauszuarbeiten. A u f diese Weise soll, sozusagen via negationis, deutlich gemacht werden, daß dieser Teiltext v o n 18,9-lOaa i m R a h m e n v o n 1-12 einerseits entbehrlich, ja überflüssig ist, sich aber andererseits als V o r s p a n n u n d A u f t a k t zu 18,13ff. organisch erklären läßt, w a s v o m inneren A u f b a u der ABBJ-Erzählung selbst her zu untermauern ist (vgl. 3.3 - 3.5).

96

Kapitel 3

3.2.1.1

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

II Reg 18,9f* im Kontext der Rahmennotizen von II Reg 18,1-12

So konstant und stereotyp die Formelemente des "Königsrahmens" von I Reg 14 - II Reg 25 durchgehalten werden (vgl. oben 3.1.1), so verschiedenartig und variationenreich sind die Notizen, Kurzberichte aber auch die umfangreicheren Erzählungen, die sich an diesen Rahmen anschließen. Dennoch hat H.-D. Hoffmann (1980, 33-35) zeigen können, daß bei den Notizen und Kurzberichten drei konstante Themenbereiche unterschieden werden können, die alternativ oder kombiniert auftreten und dann jeweils eine bestimmte Reihenfolge aufweisen. Es handelt sich um die Bereiche "prophetische Berichte", "politisch-militärische Berichte" und "kultische Berichte" bzw. "Notizen". 17 Werden kultische Notizen mit prophetischen und/oder mit politisch-militärischen Kurzberichten kombiniert, so folgt auf die Wertungsformel des stereotypen "Königsrahmens" (vgl. II Reg 18,3) stets zuerst die Kultnotiz. 18 Die sehr stabile Stellung der Kultnotiz hinter der Wertungsformel (vgl. a.a.O. 35f.) zeigt eine Variante im Aufbau. In einigen Texten wird nach Hoffmann die Wertung des betreffenden Königs nach dem Kultbericht noch einmal aufgenommen (vgl. a.a.O. 36 und Anm. 30). Dies ist der Fall in I Reg 15,14b hinter llff. (König Asa), in 116,33b hinter 30ff. (Ahab), in II Reg 18,5f. hinter 3ff. (Hiskija), in II 21,16b hinter 2ff. (Manasse, beachte das Prophetenwort 10-15) und in II 23,25 hinter 22,2ff. (Joschija). In diese Paradigmatik des thematischen Aufbaus ordnen sich auch die Notizen und Kurzberichte ein, die sich in II Reg 18,4ff. an den "Königsrahmen" anschließen. Nach der positiven Wertungsformel in V.3 folgt die Kultnotiz in V.4, an die sich erneut eine positive Wertung Hiskijas in V.5f. anschließt. Ihr sind politisch-militärische Notizen in V.7 und 8. angefügt. Diese thematische Gliederung korrespondiert bis auf das Verhältnis von V.7 zu V.8 bzw. zu V.5f. auch genau mit der stilistischen Präsentation der Notizen. Es ist für den Bericht- und Notizenstil im Anschluß an den "Königsrahmen" besonders typisch, daß die einzelnen thematischen Kleineinheiten sehr häufig insofern asyndetisch einsetzen, als die für Erzähltexte typische Und-Verknüpfung fehlt. Das ist in II 18,lff. neben V.2 (innerhalb des Rahmens) in den Versanfängen von V.4.5 und 8 der Fall. Solche Textanfänge sind für einen argumentativen Redestil typisch. Denn nach den Beobachtungen von W. Gross (1981, 132f.) fehlt bei Erstsätzen der Rede mit großer Regelmäßigkeit die Gruppe von syndetischen Sätzen mit 1. Diese Gruppe begegnet fast ausschließlich als Zweit- und Folgesätze, in denen z.B. eine Sachverhaltsdarstellung der Vergangenheit durch PKcons-Formen fortge-

A.a.O. 33, zu den typischen Reihenfolgen und den Einzelbelegen vgl. 33-35. Vgl. 18,4 und a.a.O. 34f. und zu den Vorkommen Anm. 23.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

97

führt wird und sich zu einem ganzen Bericht oder einer Erzählung aus der Rede heraus entwickeln kann. 19 Daß es sich bei diesem Bericht- und Notizenstil um eine typische Erscheinung handelt, zeigt die Vielfalt und die Häufigkeit solcher asyndetischer Einsätze im Anschluß an den "Königsrahmen". Unter diesen Anschlüssen begegnen zwar etwas häufiger auch syndetische Anknüpfungen. Doch sind diese durchaus zu erwarten und stellen eher das Normale dar, da es sich bei diesen Notizen und Kurzberichten ja gerade nicht um absolute Textanfänge handelt. Insofern ist das Auffällige die besondere Häufung von asyndetischen Einsätzen 20 — mit reiner AK in II Reg 15,19, — mit vorangestelltem Personalpronomen (Xin bzw. einer Präposition mit Suffix) + AK in II Reg 14,7.22.25; 15,35b; 17,3; 18,4 und 8, — mit W ("damals") in II Reg 12,18; 14,8 und 16,5 (vgl. I Reg 16,21; 22,50; II Reg 8,22b; 15,16 im Zusammenhang mit der Abschlußformel des Rahmens), — mit der Präposition D und einer Zeitangabe in I Reg 16,34; II Reg 8,20 (vgl. 10,32); 15,29; 16,6; 17,6; 23,29; 24,1 und 10, — mit p"l in den Kultnotizen von II Reg 12,4; 14,4; 15,4 und 35 (vgl. ferner I Reg 15,14.23; II Reg 3,3 und 10,29) und — mit 1 « in 122,44. Diesen asyndetischen Bericht- und Notizanfängen stehen unter den syndetischen Einsätzen etwa 20 mit PKcons gegenüber (z.B. in I Reg 15,12.27 und 16,9) sowie neun mit VPl (in I Reg 14,21; 15,29; 16,1.11; II Reg 14,5; 18,9; 22,3 und 25,1 [vgl. 12,7] und fünf mit "I und nachfolgendem iVS (in I Reg 15,6.16; 16,15; II Reg 3,4 und 13,14). Der hier herausgearbeitete Bericht- und Notizenstil bestätigt die thematische Gliederung unter ausdrucksformalen Gesichtspunkten in 18,4 und 8. V.4 ist eine für sich stehende Kultnotiz. Die darin festgehaltenen Kultreformmaßnahmen Hiskijas werden im gleichen aufzählenden Stil mit 1 + AK-Formen (Perf. copulativum) dargestellt wie die Reformmaßnahmen Joschkas ab II Reg 23,4ff. 21 V.8 ist eine isolierte politisch-militärische Notiz, die stilistisch und sachlich II Reg 14,7 ganz nahe steht. Davon hebt sich die

19

Vgl. z.B. II Sam l,6ff„ vgl. bei Gross, a.a.O. Anm. 5.

20

Vgl. dazu auch A. Jepsen ( 2 1956, 36 und 54).

21

Das Problem des sog. "Perf. copulativum" in seinem funktionalen Verhältnis zu den PKcons- und AKcons-Formen ist nach wie vor ungelöst (vgl. neben R. Bartelmus, 1982, 67, Anm. 102, v.a. H. Spieckermann, 1982, 120-130 sowie H.-D. Hoffmann, 1980, 215-217 und zu beiden E. Würthwein, 1984, 411, Anm. 15). Ob darin ein ««/zählender Darstellungsstil bzw. eine koordinierende Darstellungsweise zum Ausdruck kommt, gegenüber einer erzählenden und konsekutiven Darstellungsform mit PKcons, wäre zu untersuchen.

98

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

politische Notiz von V.7b deutlich ab. Sie muß - wie zu zeigen ist - als integraler Bestandteil der Wertungsaussage von V.5f. betrachtet werden. 22 Erkennt man das zentrale Thema dieser kleinen Einheit von 18,5-7 sowie die Art seiner doppelseitigen Entfaltung, so wird die innere Geschlossenheit des Abschnittes evident. Thematisch im Mittelpunkt steht Hiskijas vorbildliches Verhältnis zu Jahwe, das im invertierten Eröffnungssatz in 5a unter besonderer Hervorhebung Jahwes im Satzanfang eingeführt wird: "Auf Jahwe, den Gott Israels, hat er vertraut". Dieses Thema wird einerseits in 6aa in Hinsicht auf Hiskijas Frömmigkeit spezifiziert ("Und er hielt fest an Jahwe ...") und andererseits in 7aa nach seinen segensreichen Konsequenzen hin entfaltet ("Und [wiederholt] war Jahwe mit ihm ..."). In beiden Sätzen wird Jahwe renominalisiert, um den Bezug zum Basisthema sicherzustellen. 23 In Übereinstimmung mit dem nicht-narrativen, sondern argumentativ-konstatierenden Stil dieser Notizen schließen sich an beide Entfaltungsteile - stilistisch parallel - die Konkretionen mit asyndetischen Sätzen an. Hiskijas Frömmigkeit fand darin ihren Ausdruck, daß er nicht von Jahwe abgewichen war und alle Gebote hielt, die Jahwe dem Mose geboten hatte (6a/?. b). Andererseits hatte sich Jahwes segensreicher Beistand darin ausgewirkt, daß Hiskija in allem was er jeweils unternahm, Erfolg hatte, insbesondere bei seinem Aufstand gegen den König von Assur (7a/?.b). Zu diesem klaren Aufbau von 18,5-7 bzw. 1-8 steht der Abschnitt 9-12 in seiner Umständlichkeit im Kontrast. Zudem bringen V.9ff. gegenüber II Reg 17,5f. nichts Neues. 24 Mit "IttfK bv wird in V.12 eine Begründung für das Exil der Nordreichsbevölkerung nachgetragen, die eine abschließende Bewertung vornimmt und den konstatierenden Berichtstil verläßt. Doch steht dieser Schlußvers auf der Ebene der Letztgestalt des vorliegenden Abschnittes in enger Beziehung zu 18,6. Hier wie dort ist von den Geboten die Rede, die Jahwe dem Mose geboten (V.6), bzw. die Mose selbst angeordnet hat (V.12). In V.6 ist vom vorbildlichen Gehorsam Hiskijas gegenüber diesen Geboten die Rede, während in V.12 der Ungehorsam Israels und der Bruch von Jahwes Bundesverpflichtungen der Grund für das Exil ist.

22 23

24

Gegen E. Würthwein (1984, 406f.). Ersetzt man probeweise den Jahwenamen in 6aa und 7aa durch das Personalpronomen der dritten Person, so zeigt sich, daß eine beträchtliche Verwirrung in der Zuordnung der Pronomina entstehen würde, so daß hier die Renominalisierungen als Mittel der Verständnissicherung und der klaren Darstellung gedient haben. E. Würthwein sieht den Abschnitt als "nochmalige( ) Erwähnung der Eroberung Samarias und der Exilierung Israels" von II Reg 17,5f., die er DtrN. zuschreibt (1984, 410). Ebenso spricht A. Sanda von einem "Einschiebsel" (a.a.O. 245), das nur die Aussage von II Reg 17,5f. wiederholt, die dort "kürzer und ursprünglicher" ist (a.a.O. 244).

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

99

Bei näherem Zusehen liegt dem ganzen Abschnitt von 5-12 in seiner vorliegenden Kompositionsgestalt eine implizite Kontrast-Argumentation zugrunde. V.5 zeigt Hiskija als unvergleichlichen König in der ganzen Königsgeschichte Israels, was sein Gottesverhältnis betrifft. 25 V.6 weist auf die Substanz seiner Frömmigkeit hin, die im Gesetzesgehorsam gegen die dem Mose verkündeten Jahwe-Gebote zum Ausdruck kommt. V.7 streicht die Konsequenzen dieser gesetzesgehorsamen Frömmigkeit heraus, nämlich die politischen Erfolge und insbesondere den Aufstandserfolg gegen "den König von Assur" (7b). Stilistisch abgesetzt, werden diesem außenpolitischen Erfolg in V.8 auch die Erfolge gegen die Philister subsummiert. Dem steht - in chiastischer Entsprechung - der vom "König von Assur" verursachte Untergang Samarias mit den schlimmen Deportationsfolgen für die Nordreichsbevölkerung gegenüber (9-11), "weil sie nicht gehört haben auf die Stimme Jahwes, ihres Gottes und seine Bundesverpflichtung übertreten haben, nämlich alles, was Mose, der Knecht Jahwes geboten hatte" (V.12). Im Duktus der Notizenfolge wird in 18,5-12 gezeigt, daß der vorbildliche Glaube und Gebotsgehorsam des judäischen Königs Hiskija auch die Befreiung von der Großmacht Assur gebracht hat (5-7[.8]). In spiegelbildlichem Kontrast dazu hat jedoch die Eroberung der Hauptstadt des Schwesterreiches Israel und die Deportation seiner Bevölkerung durch eben diese Großmacht darin ihren Grund gehabt, daß dieses Volk gegen Jahwe und seine Gebote ungehorsam war. Wichtig ist dabei, daß dieser Kontrast nicht im Rahmen einer temporal-konsekutiven Ereignisfolge erzählt, sondern durch Aneinanderreihung von Notizen festgestellt und in V.12 durch eine explizit argumenative Begründung abgeschlossen wird. Erkennt man diesen argumentativen Duktus der Komposition von 18,5-12 in ihrer Jetztgestalt, so zeigt sich daran zugleich, daß diese Gestaltung keinesfalls - wie etwa der Abschnitt 5-7 - aus einem Guß formuliert sein kann. Dazu steht vor allem V.8 sowohl in stilistischer als auch in thematischer Hinsicht völlig quer. Deshalb muß hier eine kompositioneile Einheit vorliegen, die offensichtlich auf ältere Textbestände Rücksicht genommen hat (vgl. unten 3.2.1.4). Damit ist dieser Abschnitt in seiner Letztgestalt eine zwar sehr durchdachte, aber dennoch ohne Zweifel redaktionelle Komposition. Doch erweist sich in ihr nicht nur V.8 als relativer Fremdkörper. Auch die Textfolge in den Versen 9 und 10 wirkt in diesem kompositioneilen Zusammenhang höchst befremdlich. In V.9f. liegen zwei Dubletten vor, wie sie sich ein Literarkritiker als Beispiel für das Proseminar nicht schöner vorstellen kann. Zweimal auf engstem Raum begegnet ein Synchronismus in 9a/? und 10ba, als könnte der Leser nicht rechnen. Zweimal wird auch die Einnahme Samarias in 10aa und 10b/? festgehalten. Diese Hypertrophie läßt sich ebensowenig wie V.8 aus

25

Vgl. nur noch II Reg 23,25!

100

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

Kompositionsgründen erklären. Denn zur argumentativen Motivation von V.12, der die Kontrastaussage zu V.6 bietet, genügt die Feststellung der Exilierung in V. 11 und eine einmalige Erwähnung der Belagerung und Einnahme Samarias durch den "König von Assur", dem Hiskija seinerseits so erfolgreich widerstanden hat. Ebensowenig sind irgendwelche rhetorischen Gründe etwa der besonderen Hervorhebung für diese Redundanz in V.9f. zu erkennen. Auch hier haben deshalb die Autoren der vorliegenden Komposition mit größere Wahrscheinlichkeit auf älteres, schon vorliegendes Textgut Rücksicht genommen, das sie dennoch sehr geschickt ein- bzw. zusammengearbeitet haben, um die Motivation für V.12 und damit den Kontrast zu 5-7 zu schaffen. Was hinter diesen Dubletten steckt, wird im folgenden Abschnitt 3.2.1.2 aufzuhellen sein. Schon jetzt aber kann eine erste literaturgeschichtliche Konsequenz für die Letztgestalt von II Reg 18,lff. bzw. 5-12 gezogen werden. Der Abschnitt 5-12 ist eine redaktionelle Komposition des exilischen DtrG. Sowohl die Sprache als auch die Maßstäbe, von denen 18,5-7 und 12 geprägt sind, weisen eindeutig in diese Richtung. 2 6 Nach den Untersuchungen von H.-D. Hoffmann gilt dies auch für die Wertungsformel in 18,3 und die Kultnotiz in V.4. 2 7 Demgegenüber nimmt diese redaktionelle Komposition von II Reg 18,1-12 in Y.8 offensichtlich Rücksicht auf älteres, schon vorliegendes Textmaterial. Solche Rücksichten stehen auch hinter 18,9f. Aber auch für den "Königsrahmen" selbst muß - abgesehen von der dtr. Wertungsformel - offen gelassen werden, ob hier nicht eine ältere, vordtr. Rahmenstruktur von DtrG. aufgenommen worden ist. 2 8 Fest steht auf alle Fälle, daß eine der beiden Dubletten in II Reg 18,9f. im Rahmen der Letztgestalt von 18,1-12 einen relativen Fremdkörper darstellt, was unsere Anfangsvermutung bestärkt, daß in V.9f. der Anfang für die ABBJ-Erzählung zu suchen ist.

27

Vgl. die Beziehungen von 18,6 zu 23,25 und dazu H.-D. Hoffmann (1980, 205f.), ferner die Beziehungen zum dtr. Schrifttum, die E. Würthwein (1984, 410) zusammenträgt, der 18,5-7a und 9-12 dem "nomistischen" Deuteronomisten (DtrN.) zuschreibt und damit auch als relative kompositionelle Einheit betrachtet. Vgl. ders., a.a.O. 146ff. sowie E. Würthwein (a.a.O.), der 18,l-3a DtrG. im Sinne der "Grundschrift" (vgl. oben Anm. 1) zuschreibt, V.3b für DtrN. reserviert (vgl. a.a.O. 407 und 410) und V.4 für "spätdtr ... am Übergang zum chronistischen Denken" hält (a.a.O. 411). Zum dtr. Charakter der Bewertungen vgl. a.a.O. 492-495 und 500.

28

Vgl. dazu E. Würthwein (1984, 491f.).

26

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1.2

3.2.1

101

Die Dubletten in II Reg 18,9f. und ihre literarischen Bezugsfelder

Daß in II Reg 18,9f. die Einnahme Samarias zweimal genannt wird (V.lOao und bß) und zweimal ein Synchronismus zwischen den Regierungsjahren Hoscheas und Hiskijas erwähnt wird (9a/? und 10bo), 29 sind nur die beiden auffälligsten Symptome für eine Dublette in diesem Textteil. Darüberhinaus wird auch Hoschea in beiden Synchronismen als "König von Israel" bezeichnet, was bei einem homogenen Text aus einer Feder wohl entbehrlich gewesen wäre. Nicht einmal in II Reg 17,6 wird eine solche Wiederholung gegenüber V . l für nötig erachtet (vgl. auch Jer 39, lf.). Es sind vor allem aber zwei bemerkenswerte Stildifferenzen, die die Gewißheit schaffen, daß hier zwei Textteile heterogenen Ursprungs zusammengefügt worden sind. Zum einen differieren die Datierungen nach Regierungsjahren Hiskijas in der Namensform des judäischen Königs. Der Langform in 9ao (Hiskijahu) steht die Kurzform in 10a/? (Hiskija) gegenüber. Zum andern unterscheiden sich diese Datierungen im Datierungsstil. Die Jahreszahlen in V.9 werden mit einer Ordinalzahl hinter dem determinierten Substantiv r w gebildet: "im vierten Jahr des Königs Hiskijahu" bzw. "das siebte Jahr Hoscheas". In V.10 steht HM dagegen im st.es. mit nachfolgender Kardinalzahl als nomen rectum: "im Jahre sechs Hiskijas" bzw. "das Jahr neun Hoscheas". Dieser zweite Stilunterschied ist deshalb von höchster Signifikanz, weil semantisch kein Unterschied auszumachen ist zwischen dem "Jahr sechs" und dem "sechsten Jahr", sowenig wie ein Bedeutungsunterschied besteht zwischen "Samstag" und "Sonnabend" zur Benennung des letzten Wochentages. An solchen semantisch neutralen Unterschieden des Sprachgebrauchs können jedoch um so zuverlässiger ideolektale, soziolektale, dialektale oder epochenspezifische Spracheigentümlichkeiten festgestellt und gemessen werden. 3 0 Deshalb kann die Datierung von V.9 auf keinen Fall von derselben Autorenhand herrühren wie die Angabe in V.10. Die Nahtstelle, an der die beiden Dubletten zusammengefügt sind, ist hinter V.lOaa zu suchen. 31 Zwar ist es rein grammatisch möglich, die zwei-

29

Daß diese Synchronismen im Rahmen einer absoluten Chronologie unzutreffend sind (vgl. E. Kutsch, 1985, 28 und schon A. Sanda, 1912, 245), kann hier außer Betracht bleiben.

30

Vgl. dazu C. Hardmeier (1978,137f.).

31

So auch B. Stade/F. Schwally (1904, 269) und A. Sanda (1912, 244) unter Verweis auf II Reg 17,6. Vulgata und L X X ziehen beide Zeitangaben in 10aa und ß sowie den folgenden Synchronismus zusammen und ordnen diese Angaben entweder dem voraufgehenden Prädikat (in lOao) zu (so L X X unter Einfügung eines a u vor dem letzten Prädikat in V.lOb/?) oder beziehen beide Angaben auf das Prädikat hinter dem

102

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

te passivische Erwähnung der Eroberung Samarias mit der Zeitraumangabe "am Ende von drei Jahren" in 10aa2 beginnen zu lassen (vgl. Anm. 31), doch setzen die Masoreten den stärkeren Akzent zwischen 10aa und a/? und rechnen damit diese Zeitraumangabe noch zum Versanfang. Auch die Parallele zu II Reg 18,9f. in II Reg 17,5f. spricht für diese Trennung. Dort wird die Zeitraumangabe von drei Jahren in V.5 auf die Zeit der Belagerung bezogen, und nur "das 9. Jahr Hoscheas" (V.6, hier mit Ordinalzahl!) datiert die Eroberung Samarias. Eine weitere Klärung bringt die Aufhellung der literarischen Bezüge, in denen die beiden Textteile gemäß ihrer Stileigentümlichkeiten stehen, was im folgenden beleuchtet werden soll. Damit läßt sich unsere These weiter untermauern, daß die ABBJ-Erzählung mit II 18,9.10aa begonnen haben muß.

3.2.1.2.1

Die literaturgeschichtliche Signifikanz der Stilunterschiede in den Datierungsdubletten von II Reg 18,9f.

Um die oben festgestellten Stilunterschiede in der Syntax der Jahreszählung auf ihre literaturgeschichtliche Signifikanz hin zu prüfen, sind die verschiedenen Typen von Datumsangaben nach ihrer grammatischen Struktur zu beschreiben und nach ihrem Vorkommen zu erheben. Drei Typen sind zu unterscheiden: — 1. Angaben, bei denen das gezählte Jahr im st.cs. steht und von einer Kardinalzahl gefolgt wird. Diesen Stiltypus bezeichnen wir als ]-K-Typus (vgl. z.B. II Reg 17,1; 18,1 und 18,10a/?). — 2. Angaben, bei denen auf das Jahr eine Ordinalzahl mit Artikel folgt, wobei die Textüberlieferung schwankt, ob das gezählte Jahr im st.cs. oder abs. steht (vgl. 17,6 App. und GesK §134p). Diesen Typus bezeichnen wir als J-O-Typus (vgl. z.B. II Reg 17,6 und 18,9). — 3. begegnet in II Reg 18,13 eine Angabe, bei der eine Kardinalzahl vor dem gezählten Jahr steht. Diese Datierungsform ist als K-J-Typus zu bezeichnen. Dieser dritte K-J-Typus, der z.B. auch in II Reg 22,3 vorliegt, ist schon B. Duhm als "ungewöhnliche Voranstellung des Zahlworts vor ¡1310" aufgefallen (51968, 259) und entspricht nach R. Deutsch (1969, 7) nicht "den in den Königsbüchern üblichen Wendungen".32 Die Grundfrage lautet, ob Synchronie-Satz (10b/?, so auch E. Würthwein, 1984,406). Deutsch nennt (a.a.O. S.20) die folgenden Stellen, die diesem dritten Typus zuzurechnen sind: a) neben II Reg 18,13 in den Königsbüchern I Reg 6,1; II Reg 22,3; 23,23 und 25,27 und b) neben "etwa lOmal in Ez" (a.a.O. Anm. 5) die Stellen Dtn 1,3; Jer 1,2 und 39,2. Dabei verraten nach Deutsch "bis auf die letzte ... alle Stellen die ordnende Hand eines Redaktors". Ferner erwähnt Deutsch noch die von II Reg 22,3

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

103

diese verschiedenen Stiltypen brauchbare Indizien für unterschiedliche Strata von literarischen Überarbeitungen an die Hand zu geben vermögen. Eine besondere Signifikanz kommt diesen Stilunterschieden insofern zu, als sie - wie oben erörtert - semantisch gleichwertig sind. Zunächst jedoch ist grammatisch zu klären, in welcher Beziehung die drei Typen aufgrund der Ausdrucksmöglichkeiten zueinander stehen, die durch das Sprachsystem bedingt sind. Bekanntlich unterscheidet das Hebräische nur im Zahlenbereich von zwei bis zehn Ordinalzahlen mit der Zugehörigkeitsendung I T - V - ausdrucksformal von Kardinalzahlen. 33 Als Belege für die Darstellung der Ordinalzahlen über zehn stellt GesK § 134o Beispiele des K-J-Typus und des J-K-Typus als Ausdrucksvarianten nebeneinander und betont in § 134p, daß "bei der Zählung der Monatstage und der Jahre ... selbst für die Zahlen von 1-10 sehr häufig die Kardinalzahl statt der Ordinalzahl gebraucht (wird)". Bei den folgenden Betrachtungen beschränken wir uns auf Datierungen nach Jahren, d.h. auf das Nomen HM? in direkten Verbindungen mit Zahlen. Entsprechende Datierungstypen nach Monaten bzw. Tagen werden zur Kontrolle herangezogen. Unter dem Gesichtspunkt von Verteilungshäufigkeiten ist von dem auffälligen Befund auszugehen, daß sich unter den Vorkommen des K-J-Typus mit vorangestellter Kardinalzahl keine Belege finden, bei denen die Zahl kleiner oder gleich zehn ist. Dieser Typus mit seinen mehr als 25 Vorkommen 3 4 beschränkt sich damit auf den Zahlenbereich, der nicht mit Ordinalzahlen ausgedrückt werden kann. 3 5 Von diesem Befund her drängt sich der starke Verdacht einer komplementären Distribution auf. M.a.W. lautet unsere These, daß neben dem J-K-Typus ein zweiter Stiltypus festzustellen ist, der im Zahlenbereich bis zehn als J-O-Typus in Erscheinung tritt und im Zählbereich über zehn als K-J-Typus realisiert wird. Diese beiden, aus grammatischen Gründen komplementären Typen stehen offenbar als Stilva-

und 23,23 abhängigen Stellen in II Chr 34,3 und 35,19. 33 34

Vgl. GesK § 97a und 134o. Dieser K-J-Typus liegt vor in: Gen 8,13; 14,5; Dtn 1,3; I Reg 6,1; II Reg 18,13 (par. Jes 36,1); 22,3 (par. II Chr 34,3 mit D^B und dem 8. statt 18. Jahr!); 23,23 (par. II Chr 35,19); 25,27 (par. Jer 52,31, vgl. auch II Reg 25,2 par. Jer 52,5); Jer 1,2 (vgl. 3 und 25.3); 39,2; Ez 1,1; 26,1; 29,17; 30,20; 31,1; 32,1.17; 33,21 und 40,1. Vgl. dazu auch oben Anm. 32.

35

Jahreszahlangaben nach dem J-O-Typus, soweit das gezählte Jahr auf eine Person oder ein Ereignis mit b bezogen wird (vgl. sonst häufig z.B. Gen 47,18; Ex 40,17 etc.), liegen vor in: N u m 1,1; 9,1 (vgl. 10,1); I Reg 6,1; 14,25 (par. II Chr 12,2, vgl. ferner 22,2); II Reg 18,9; Jer 25,1; 36,1.9; 39,1 (par. 52,4); 45,1; Ez 1,2 (vgl. 8,1; 20,1; 24,1; 29,1); Esr 3,8 (vgl. 7,8); II Chr 12,2 und 29,3. Diesem Typus sind die Bildungen zuzurechnen, die das gezählte Jahr im st.cs. der Ordinalzahl voranstellen (vgl. GesK § 134p): II Reg 17,6; 25,1 (vgl. zur Bestätigung der Typusgleichheit par. Jer 39,1 und 52.4); Jer 28,1; 32,1; 46,2 und 59,59.

104

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

riante dem J - K - T y p u s gegenüber, der - grammatisch problemlos - die Kardinalzahlen des ganzen Zahlenspektrums als n o m e n rectum dem gezählten Jahr nachstellt. 3 6 D r e i weitere Beobachtungen bestätigen diese These: a) Dieselbe komplementäre Distribution entsprechend dem J-O- und dem K-J-Typus zeigt sich bei den Monatszählungen. Sachbedingt stehen den häufigen Vorkommen von Monatszahlen unter zehn mit nachgestellter Ordinalzahl (entsprechend dem J-O-Typus) 37 wenige Monatszählungen mit einer vorangestellten Kardinalzahl gegenüber, die dann stets größer als zehn ist (entsprechend dem komplementären K-J-Typus).38 Von besonderer Bedeutung ist dieser Befund, weil sich unter den Monatszahlangaben keine Belege finden, die entsprechend dem J-K-Typus dem gezählten Monat im st.cs. die Kardinalzahl nachstellen (vgl. ebenso GesK § 134p). Dieser Befund bestätigt, daß die komplementären Ausdruckspaare des J-O-Typus und des K-J-Typus den grammatischen Normalfall von Zählungen mit Ordinalzahlen unter bzw. über zehn darstellen.39 b) Es gibt ferner vier Belege, in denen der J-O-Typus und der K-J-Typus in einem zweifelsfrei homogenen Datierungszusammenhang begegnen, so in I Reg 6,1; II Reg 25,lf. (par. Jer 39,lf. und 52,4f.) sowie in Jer 25,1-3 und Ez l,lf. (redaktionell40). Zwar sind in solcher Weise komplexe Datierungen schon von der Sache her selten, bestätigen aber zusätzlich den Komplementärcharakter der beiden Ausdrucksweisen.41

36

Die Vorkommen des J-K-Typus konzentrieren sich sehr auffällig zum einen auf die Jahreszahlangaben und Synchronismen im "Königsrahmen" ab I Reg 15 und zum andern im nachexilischen Schrifttum. Der Typus begegnet in den Königsbüchern 38mal in I Reg 15,1.9.25.28.33; 16,8.10.15.23.29; 22,41.52; II Reg 1,17; 3,1; 8,16.25; 9,29; 12,2.7; 13,1.10; 14,1.23; 15,1.8.13.17.23.27.30.32; 16,1; 17,1; 18,1.10 (2mal); 24,12; und 25,8 (par. Jer 52,12). Im nachexilischen Schrifttum ist der Typus 3mal bei Haggai (1,1.15 und 2,10), 3mal bei Sacharja (1,1.7 und 7,1), 3mal im Esterbuch (1,3; 2,16; 3,7), 8mal bei Daniel (1,1.21; 2,1; 8,1; 9,1.2; 10,1 und 11,1), 2mal bei Esra (1,1; 7,7 [vgl. 8]), 5mal bei Nehemia (1,1; 2,1; 5,14 [2mal] und 13,6) sowie llmal in den Chronikbüchern (I Chr 26,31; II Chr 3,2; 13,1; 15,10.19; 16,1.12.13; 17,7; 34,8 und 36,22) belegt. Im übrigen AT gibt es neben dem singulären Vorkommen in Gen 7,11 nur noch eine Konzentration in Jer 52,28.29 und 30 (zu 52,12 par. II Reg 25,8 vgl. oben), während Jes 6,1; 14,28 und 20,1 damit nicht vergleichbar sind. Nicht klar einzuordnen sind die Vorkommen in Lev 25,10.11 und Num 33,38.

37

Vgl. z.B. II Reg 25,25. Vgl. Dtn 1,3; II Reg 25,27 = Jer 52,31; Ez 32,1; Sach 1,7; Est 2,12 und 9,1. Restlose Klarheit könnte nur eine Untersuchung aller Zählungen bringen, mit denen ein Ordinalzahlverhältnis zum Ausdruck gebracht werden soll. Das läßt sich jedoch umfassend nur mit Hilfe der EDV in einer leistbaren Form bewältigen. Vgl. dazu E. Kutsch (1985, 50-53). Jer 32,1 scheint ein Gegenbeispiel zu sein. Hier liegt ein mit NT! eingeleiteter Synchronismus vor, der die Datumsangaben des J-O-Typus von V.l erläutert. Vergleicht man jedoch diesen auf die Regierungsjahre Nebukadnezzars bezogenen Synchronismus etwa mit II Reg 25,8 oder 18,10, so entspricht die Formulierung in Jer 32,1 nicht der st.cs.-Form des J-K-Typus, so daß von einer singulären, nicht weiter lokalisierba-

38 39

40 41

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

105

c) Das in sich homogene Datierungssystem des Ezechielbuches kennt nur Datierungen nach dem J-O- und dem K-J-Typus. Für den J-K-Typus finden sich bei Ezechiel keine Belege. 42

Aus diesem Überblick über die Vorkommen der drei Datierungstypen und aus der Klärung ihrer grammatischen Beziehungen untereinander sind als Zwischenbilanz die folgenden Schlüsse zu ziehen: — 1. in stilistischer Hinsicht sind der J-O- und der K-J-Typus zwei aus grammatischen Gründen unterschiedliche Ausdrucksgestalten eines Komplementärstils, der bei der Jahres- wie bei der Monatszählung gebräuchlich ist. Dieser Datierungsstil findet sich ausschließlich im Ezechielbuch sowie vorherrschend bei Jeremia außer in Jer 52,12.28-30 neben einer Reihe von Vorkommen in den Königsbüchern und vereinzelt sonst. 4 3 — 2. Zu diesem Komplementärstil steht der J-K-Typus im Gegensatz, von dem die Datierungen des "Königsrahmens" ab II Reg 15 ausschließlich geprägt sind. Er begegnet ferner in den Datierungen nach Regierungsjahren des Königs Nebukadnezzar in II Reg 24,12; 25,8 (par. Jer 52,12) und Jer 52,28-30 und häufig in der nachexilischen Literatur. — 3. Die Konkurrenz dieser beiden Datierungsstile in der Dublette von II Reg 18,9f. ist auf diesem Hintergrund höchst signifikant. Die Dublette von 18,10a/?.b mit der passivischen Formulierung der Eroberung Samarias stimmt im Datierungsstil mit den Datierungen im "Königsrahmen" generell und in II Reg 17,1 und 18,1 im speziellen überein. Die Datierung in der ersten Dublette in 18,9. lOao dagegen (J-O-Typus) korrespondiert genau mit der stilistisch komplementären Datierung in 18,13 (K-J-Typus). Damit haben wir ein weiteres Indiz dafür, daß 18,9.10aa als Erzählanfang mit 18,13ff. zusammengehört. 44 Dieses Zwischenergebnis findet eine zusätzliche Bestätigung, wenn man auch die Kurz- und Langformschreibung des Hiskija-Namens mitbeachtet. Parallel zum unterschiedlichen Datierungsstil stimmt die Kurzformschreibung in 18,10a/? mit der Schreibung im Synchronismus des "Königsrahmens" in 18,1 überein, während die Langformschreibung in V.9 der Wie-

ren Ausdrucksweise gesprochen werden muß. - Auch II Reg 25,8 kommt für sich genommen als Gegenbeispiel nicht in Betracht, weil die Monatsdatierung entsprechend des J-O-Typus nicht in Kontrast gesetzt werden darf zum J-K-Typus im Synchronismus. Wie gezeigt, richten sich Monatsdatierungen ausschließlich nach dem Komplementärtypus (vgl. oben unter a)). Dementsprechend kann auch Jer l,2f. nicht als zusätzliches Beispiel den vier oben genannten Belegen für Komplementärvorkommen zugerechnet werden. 42

Vgl. dazu oben die Anm. 34 - 36.

43

Vgl. dazu oben die Anm. 34 - 36.

44

Vgl. dazu auch B. Duhms intuitive Bemerkung zur Motivierung von 18,13 "durch den Gegensatz gegen v. 9" ( 5 1968, 259).

106

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

dergabe des Namens in der ABBJ-Erzählung ab 18,17ff. entspricht. 45 Allerdings begegnet die Kurzformschreibung auch noch 4mal im Abschnitt 18,13-16 (sonst nur noch in Prv 25,1), so daß 18,13 in stilistischer Hinsicht als mixtum compositum erscheint. Doch wirft diese Stildiskrepanz in 18,13 primär die Frage auf, in welchem Verhältnis das Textstück 18,13 (ab dem Hiskija-Namen) bis 16 zur ganzen ABBJ-Erzählung steht, und berührt nicht die zusätzlich bestätigte Erkenntnis, daß 18,9. lOao als möglicher Erzählanfang in stilistischer Hinsicht ein integraler Bestandteil der ABBJ-Erzählung ist. Bevor diese Frage im Rahmen der abschließenden Skizzierung einer induktiven literaturgeschichtlichen Hypothese zu II Reg 17 und 18 noch weiter erörtert wird (vgl. unten 3.2.1.4), ist im folgenden die erste Dublette in II Reg 18,9.10aa als wahrscheinlicher Eröffnungssatz der ABBJ-Erzählung zu beleuchten.

3.2.1.3

II Reg 18,9.10aa als Erzähleröffnung der ABBJ-Erzählung

Der bisherige Gang der Untersuchung hat deutlich gemacht, daß eine der beiden Dubletten in II Reg 18,9f. im Argumentationsduktus der Letztgestalt von II Reg 18,5-12 entbehrlich ist und aus Rücksicht auf aufgenommenes Textgut Eingang in den Endtext gefunden hat. In stilistischer Hinsicht haben wir des weiteren eine klare Korrespondenz zwischen der ersten Dublette in 9.10aa und 18,13 bzw. 17ff. festgestellt und eine enge Beziehung der zweiten Dublette in 10a/3.b zu den Synchronismen im "Königsrahmen" aufgewiesen (18,1). Denkt man sich einmal probehalber diese erste Dublette aus dem Zusammenhang von 18,1-12 weg, so würde dem ganzen Text überhaupt nichts fehlen. Sogar "der König von Assur" bliebe als Kontrastfigur in V . l l erhalten (vgl. V.7). Ferner würde sich die zweite Dublette ab 10a/3 als weitere asyndetisch eingeführte politische Notiz wie schon V.8 dem Berichtund Notizenstil des ganzen Abschnittes glänzend fügen (vgl. oben 3.2.1.1) und auch inhaltlich als Motivation für V . l l vollauf genügen. Daß die erste Dublette innerhalb von 18,1-12 in höchstem Maße ein Fremdkörper bildet und daß diese Dublette von ihrer Syntax her ein geradezu klassischer Erzählanfang darstellt, der zum Duktus von 18,5-12 ganz quer steht, ist im folgenden zu zeigen. Beobachtet man die Anfänge von Erzählungen in I Reg 15 bis II Reg 25 unmittelbar im Anschluß an den "Königsrahmen", so überwiegen bei weitem die syndetischen Anschlüsse bzw. Erzähleröffnungen mit der Kopula 1. Zur Unterscheidung zwischen Erzählungen und (Kurz-)Berichten orientieren wir uns an dem folgenden groben Kriterium: (Kurz-)Berichte bringen einen einfachen Ereignisablauf zur Darstellung ohne szenische Gliederung,

45

Vgl. 18,17.19.22 und passim, ferner II Reg 16,20 und Jer 26,18f.!.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

107

ohne detailliertere Orientierungsteile mit Hintergrundsinformationen zur Zeit (z.B. Vorgeschichte), zum Ort oder zu wichtigen Ereignisträgern, d.h. ohne jede Art von Detaillierungen (z.B. auch durch eingeführte Reden und Dialoge). Ein (Kurz-)Bericht ist damit die als solche kondensierte Darstellung eines Ereignisablaufs, während eine Erzählung Gebrauch macht von mannigfaltigen Formen der Detaillierung und der szenischen Gliederung in der Ereignisdarstellung. 46 Beispiele für solche (Kurz-)Berichte im Anschluß an den "Königsrahmen" sind: I Reg 16,24; 16,34; II Reg 8,20-22; 8,28f.; (vgl. 12,17f.) 15,10; 15,14; 15,19f.; 15,25; 16,5; 16,6; 17,3-5; 21,23f. (vgl. 23,29f.); 23,33-35; 24,lf.; 24,11-17. Unter den Erzählungen zeichnet sich nur II Reg 14,8-14 durch einen asyndetischen Anfang mit TN aus. Vier Erzählungen beginnen mit 1 und einem iVS mit AK: I Reg 15,16-22; 16,15b-18; II Reg 3,4-27 und 13,14-19 (20a?) und weitere fünf mit PKcons: I Reg 15,27-29; 16,9-12; II Reg 1,2-16; 12,5-16 und 16,7-18. Alle diese Erzählanfänge sind ohne Datierung. Daneben gibt es einen dritten syndetischen Typus, der wie in II Reg 18,9 (vgl. V.l) größere Erzählungen mit T H und einer nachfolgenden Datumsangabe eröffnet: in II Reg 22,3-23,24 und 25,1-26. Hinzu kommen die entsprechend gebauten Berichtseröffnungen mit Datumsangaben in I Reg 14,25-28 und II Reg 25,27-30 (vgl. noch II Reg 12,7 im Anschluß an 5). Diese Erzähl- bzw. Berichtseröffnungen mit TT"! und Datumsangaben in I 14,25 (par. II Chr 12,2); II Reg 18,9; 22,3; 25,1 (par. Jer 52,4) und 27 (par. Jer 52,31) haben über die genannten Merkmale hinaus auch im syntaktischen Detail zwei bzw. drei weitere Gemeinsamkeiten: — 1. Sie bilden die Jahreszählung nach dem Komplementärtypus (J-O-öder K-J-Typus, vgl. auch II Reg 17,6 und 18,13, anders 12,7 und 18,1). — 2. Es handelt sich um Datierungssätze, bei denen die Datumsangabe auffälligerweise den Hauptsatz bildet, während das datierte Ereignis asyndetisch im Nebensatz untergeordnet wird (vgl. so auch in II Reg 18,1 und in Parallele zu 18,13 in Jes 36,1). — 3. Der Bezug auf den regierenden König wird außer in 25,1.27 mit -[^Qb + Name des Königs zum Ausdruck gebracht (vgl. ferner II Reg 18,13 und 23,23), während in den Datierungen des "Königsrahmens" nach dem J-KTypus stets (außer I Reg 15,1) im st.cs. steht, gefolgt von "Juda" oder "Israel" als nomen rectum. Sieht man von dem zuletzt genannten Merkmal ab, so findet sich über die genannten Stellen in I und II Reg hinaus diese besondere Art von Datierungssätzen in der Bericht- bzw. Erzähleröffnung auch in I Reg 6,1 (jedoch keine asyndetische Unterordnung des Ereignisses in lb) sowie in Jes 36,1; Jer l,3f. (wie I Reg 6,1); Jer 28,1; 36,1 (vgl. 9) und Ez 33,21. 47

46 47

Vgl. dazu oben 2.2.5 und E. Gülich/ U.M. Quasthoff (1986b, 223-225). Zu diesen Stilbeobachtungen vgl. auch R. Deutsch (1969, 20). Syntaktisch gleich

108

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

Auf dem Hintergrund dieser Parallelen und der besonderen Nähe der Datierungssätze innerhalb von I und II Reg in I 14,25 (vgl. 6,1); II Reg 22,3; 25,1.27 zur Dublette in II Reg 18,9 kann kein Zweifel mehr bestehen, daß diese Dublette den Erzählanfang der ABBJ-Erzählung bildet, zumal unsere Untersuchung zeigen wird, daß es sich um eine mit II Reg 22,3ff. und 25,lff. 27ff., aber auch mit Jer 36 und Ez 33,21 mehr oder weniger zeitgenössische Erzählung an der Wende zur Exilszeit im 6.Jh. handelt. Beachtet man zusätzlich die besonders differenzierte temporale Gliederung von Jer 36 und II Reg 25 durch weitere Datierungen in Jer 36,9 bzw. in II Reg 25,8 (vgl. V.2f. sowie Jer 39,lf.), so erweist sich auch die Aufeinanderfolge der Datierungen in II Reg 18,9.13 als weiteres gemeinsames Stilmerkmal dieser zeitgenössischen historischen Erzählungen und bestätigt vollends das gewonnene Bild. Bei der Klärung des Aufbaus der ABBJ-Erzählung wird ferner gezeigt werden können, daß II 18,9.10aa auch aus erzählimmanenten Gründen zu 13ff. gehört. Aufgrund dieses Ergebnisses sowie unter Auswertung unserer Stilbeobachtungen läßt sich damit abschließend auch eine induktive Hypothese zum redaktionellen Kompositionsprozeß skizzieren, der an der Einarbeitung dieses Erzählanfangs der ABBJ-Erzählung in das DtrG. ablesbar wird. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die Stilheterogenitäten des Abschnittes in II 18,13-16 gegenüber seiner Erzählumgebung klären.

3.2.1.4

II Reg 18,13a als Naht der Einarbeitung von II Reg 18,13b-16 in die ABBJ-Erzählung - eine induktive literaturgeschichtliche Hypothese zu II Reg 17f.

Der Gang unserer bisherigen Untersuchung hat die letzte Frage offen gelassen, wie das mixtum compositum in 18,13 zu erklären ist. Denn einerseits weist die Namensschreibung Hiskijas in 13a (und 14-16) wie in 18,1 und 10a/3.b die Kurzform auf, die der Langformschreibung in der ABBJ-Erzählung (vgl. 18,9 und 17ff.) widerspricht. Andererseits stimmt der komplementäre Datierungsstil in 13a durchaus mit dem Stil in der Erzähleröffnung in 18,9 überein, steht aber dem Stil in lOaß.b Q-K-Typus) entgegen, wo sich die Kurzform des Hiskija-Namens findet. Im Rahmen einer induktiven literaturgeschichtlichen Hypothese, die als Hypothese stehen bleiben muß, soll darauf eine Antwort gesucht werden. Induktiv ist diese Hypothese, weil sie rein sprach- und stilphänomenologisch vom Beobachtungsrahmen der Kapitel II Reg 17f. ausgeht. Als Hypothese muß sie stehen bleiben,

gebaute Datierungssätze, die das datierte Ereignis unterordnen, aber keinen Personenoder Ereignisbezug mit b aufweisen, finden sich auch in Gen 8,13; Ex 40,17; N u m 10,11; Dtn 1,3; I Reg 22,2 sowie Ez 1,1; 8,1 (mit folgendem partizipialem Hauptsatz); 20,1; 26,1; 29,17; 30,20; 31,1; 32,1.17 (vgl.dazu auch W. Zimmerli, 2 1978, 3).

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

109

weil zu ihrer Verifizierung das ganze Textmaterial ab II Reg 14 und des DtrG. insgesamt heranzuziehen wäre und weil diese Hypothese auch in Auseinandersetzung mit den Redaktions- und Kompositionshypothesen zum DtrG. in der Forschung (vgl. oben 3.1.2) begründet werden müßte. Beides würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aufgrund der Quellenverweise im stereotypen Schlußteil des "Königsrahmens" auf die "Tagebücher der Könige Judas" bzw. "Israels" (vgl. z.B. II Reg 20,20) ist in der Forschung seit M. Noth ( 3 1973) und A. Jepsen ( 2 1956) immer wieder mit unterschiedlichen Begründungen vermutet worden, daß im DtrG. einzelne Notizen, Kurzberichte, aber auch möglicherweise der chronologische Rahmen selbst aus diesen "Tagebüchern" oder anderen vordtr. Quellen 48 übernommen worden sind. 49 Im "Königsrahmen" handelt es sich vor allem bei den Synchronismen, der Anzahl der Regierungsjahre, dem Residenzort sowie (nur bei den judäischen Königen) beim Antrittsalter und beim Namen der Mutter des Königs um Angaben, die vermutlich aus Königsannalen stammen. 50 Daneben werden Baunotizen (vgl. z.B. II Reg 15,35b), Berichte über militärische Bedrohungen von außen und Plünderungen des Tempel- und Palastschatzes bzw. über Tributleistungen (vgl. z.B. II Reg 12,18f.; 15,19f.; 16,5.7-9) sowie andere notizenartige Nachrichten auf diese Quellen zurückgeführt. Zu diesem Material gehören in II Reg 17f. nach M. Noth (a.a.O. 74) und A. Jepsen (a.a.O. 30 und 36) die chronologischen Angaben in den Synchronismen sowie die weiteren Rahmendaten in 17,1 und 18, lf. Dabei bleibt nach E. Würthwein nur umstritten, "ob diese Synchronismen DtrG schon vorlagen oder erst von ihr geschaffen wurden" und in diesem Falle "aufgrund der Regierungszahlen für ihr Werk" erst erarbeitet werden mußten (a.a.O. 491), wie Würthwein selbst annimmt (vgl. die Wiedergabe der Synchronismen in Kursivschrift). Übereinstimmung herrscht in der Zuordnung von 17,3-5 (bzw. stets 6) zu diesem älteren Material. 51 Gleiches gilt für 18,8 und 18,13 bzw. 14-16. 52 Vor allem A. Jepsen hat diese Zuordnungen in

48

Vgl. A. Jepsen, a.a.O. 30-60.

49

Vgl. M. Noth, a.a.O. 74-78 sowie zuletzt E. Würthwein (1984, 485ff. und 489-492).

50

Vgl. auch R.D. Nelson (1981, 29ff.).

51

Vgl. M. Noth, a.a.O. 78. A. Jepsen rechnet den Vers zur "synchronistischen Quelle S", vgl. a.a.O. 30.36, ferner E. Würthwein, a.a.O. 392f.

52

Vgl. M. Noth (a.a.O. 76f.), der allerdings die "dunkle Angabe über einen großen Philistersieg Hiskijas in 18,8" für nicht authentisch hält (a.a.O. 76 Anm. 6). Nach A. Jepsen (a.a.O. 36) gehört 18,8 zur Quelle "S", 18,14-16 zur Annalenquelle A (vgl. a.a.O. 54); ferner vgl. E. Würthwein, a.a.O. 406f. und 490. Daß 18,7b gegen Würthwein (a.a.O.) nicht zu diesem Quellenzusammenhang gehört, haben wir oben 3.2.1.1 begründet. "Den Inhalt von 18,7b hat Dtr" nach M. Noth (a.a.O. Anm. 6) "aus 18,13-16 einfach erschlossen", wobei eher an das Ganze der ABBJ-Erzählung zu

110

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

seinen A n a l y s e n a u s f ü h r l i c h auch stilistisch u n d thematisch b e g r ü n d e t . 5 3 Setzt m a n u n s e r e S t i l b e o b a c h t u n g e n ins Verhältnis z u diesen F o r s c h u n g s e r k e n n t n i s s e n , s o m u ß diesem älteren Material auch die z w e i t e D u blette in 18,10a/3.b zugerechnet werden, weil sie i m D a t i e r u n g s s t i l u n d in der N a m e n s f o r m mit d e m R a h m e n in 17,1 u n d 18,1 b z w . in 13b-16 übereins t i m m t . A n d e r e r s e i t s k a n n a u f g r u n d des k o m p l e m e n t ä r e n D a t i e r u n g s s t i l s 17,6 nicht zu d i e s e m älteren Z u s a m m e n h a n g gehört haben, s o daß die Ero b e r u n g S a m a r i a s u n d die E x i l i e r u n g der N o r d r e i c h s b e v ö l k e r u n g in den älteren Q u e l l e n erst in 1 8 , 1 0 a / ? . b . l l zur D a r s t e l l u n g k o m m t . U n m i t t e l b a r plausibel w i r d dieser m ö g l i c h e Q u e l l e n z u s a m m e n h a n g a n h a n d der folgenden T e x t w i e d e r g a b e , deren weitere E r l ä u t e r u n g eine K l ä r u n g v o r allem v o n 18,13 bringen soll. Kl

K2

(17,1) « 1 Im Jahre zwölf des Ahas, des Königs von Juda, ist Hoschea, der Sohn Elas, König geworden in Samaria über Israel, neun Jahre (lang). (3) AI Gegen ihn ist heraufgezogen Salmanassar, der König von Assur. A2 Und es wurde ihm Hoschea zum Vasall, A3 Und er leistete ihm Tribut. (4) AI Und es deckte der König von Assur bei Hoschea eine Verschwörung auf, -fr 1.1 der Boten gesandt hatte zu So, dem König von Ägypten, -fr 1.2 und nicht (mehr) Tribut hinaufbrachte zum König von Assur wie Jahr für Jahr, A2 Und es nahm ihn der König von Assur fest. £ 3 Und er setzte ihn gefesselt (ins) Gefängnis. (5) AI Und es zog herauf der König von Assur in das ganze Land. A2 Und er zog herauf (gegen) Samaria A3 und belagerte es drei Jahre (lang). (18,1) AI ' ' Im Jahre drei Hoscheas, des Sohnes Elas, des Königs von Israel, ist Hiskija, der Sohn Ahas', König geworden, König von Juda. (2) AI Fünfundzwanzig Jahre alt ist er gewesen, -fr 1.1 als er König wurde, A2 und neunundzwanzig Jahre war er König in Jerusalem, A3 Und der Name seiner Mutter war Abi, die Tochter des Sacharja. (8) AI Er, er hat die Philister geschlagen bis nach Gaza und (auch) dessen Gebiete - vom Wachturm bis zur befestigten Stadt. (10) A2 Im Jahre sechs Hiskijas - A3 das ist das Jahr neun Hoscheas, des Königs von Israel - > -fr2 ist Samaria eingenommen worden. (11) AI Und es führte der König von Assur Israel in die Verbannung nach Assur. A2 Und er 'siedelte' sie in Halach und am Habor, dem Fluß von Gosan und in den Städten der Meder an. (13) AI 'Damals/Es' ist Sanherib, der König von Assur, heraufgezogen gegen alle befestigten Städte Judas, A2 Und er eroberte sie. (14) AI Und es sandte Hiskija, der König von Juda, zum König von Assur nach Lachisch, A l . l um zu sagen: A2 Verfehlt habe ich mich. A3 Ziehe (wieder) von mir ab! A4.1 Was du mir auferlegst, A4 will ich erbringen. A5 Und es erlegte der König von Assur dem Hiskija, dem König von Juda, dreihundert Talente Silber und dreißig Talente Gold auf. (15) AI Und es gab Hiskija das ganze, sich im

denken ist (vgl. 18,20 und den Ausgang der Erzählung). Vgl. a.a.O. 36-40 und 54-60, ferner E. Würthwein, a.a.O. 490.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen Kl

3.2.1

111

K2

Hause Jahwes und in den Schatzkammern des Königshauses befindliche Silber heraus. (16) AI Zu jener Zeit hatte Hiskija die Türen am Tempel Jahwes und die Säulen abgeschlagen, -ftl.l die Hiskija, der König von Juda überzogen hatte. it2 Und er gab sie dem König von Assur. Erläuterungen zur Textwiedergabe im Deutschen: Die Verszahlen werden mit runden Klammern versehen. Ebenso sind erläuternde Paraphrasen in runde Klammern gesetzt. Abweichungen vom masoretischen Text werden m i t ' " gekennzeichnet (Textänderungen oder Auslassungen). Innerhalb eines Verses werden die Sätze in fortlaufender Zählung mit einem Stern markiert ("•&"). Hauptsätze erhalten einfache Ziffern, Nebensätze werden mittels Dezimalklassifikation nach dem Grad ihrer Abhängigkeit und nach ihrem Bezug auf den übergordneten Neben- bzw. Hauptsatz gekennzeichnet (vgl. das Beispiel 17,4-frl.l und £1.2). Wird ein Satz z.B. durch einen attributiven Relativsatz oder wie in 18,10 durch einen Zwischensatz (hier den Synchronismus) unterbrochen, so wird seine Fortsetzung unter Wiederholung der Satzziffer zusätzlich mit ">" markiert (vgl. 18,10 >ir2). Damit lassen sich die syntaktischen Strukturen bzw. die Satzinterpretationen des Ubersetzers eindeutig kenntlich machen, ohne den Text zeilenweise in Satzsequenzen aufteilen zu müssen.54 Diese Notierungs- und Darstellungsweise erlaubt andererseits, zugleich auch makrostrukturelle Gesichtspunkte wie die Gliederung nach Kommunikationsebenen sichtbar zu machen, ohne die satzsyntaktische Ebene zu vernachlässigen. Textteile auf eingebetteten Ebenen der Kommunikation werden eingerückt (vgl. 18,14^2-64). Der Grad der Einbettung wird durch die entsprechenden Spalten sichtbar gemacht, die am Kopf der Übersetzung durch "Kl", "K2" etc. bezeichnet werden. Zum Stil der Textwiedergabe ist anzumerken, daß wir ohne Rücksicht auf deutschsprachiges Stilempfinden die syntaktische Struktur und die Wortfolge des hebräischen Textes auch in der Übersetzung wiederzugeben und beizubehalten versuchen, soweit dabei im Deutschen nicht ungrammatische Sätze entstehen. Insbesondere wird der Konsekutivmodus, d.h. die kontinuierliche Satzverknüpfung mit der Kopula 1 kenntlich gemacht durch das jeweilige satzeröffnende "und", das im Deutschen schwerfällig klingt und den Beigeschmack der "Sprache Kanaans" hat, woran uns aber nicht gelegen ist. Die syntaktisch möglichst wortgetreue Textwiedergabe hat allein zum Ziel, die syntaktischen Reliefs, die für die Textanalyse wichtig sind, auf diese Weise sichtbar zu machen. Erläuterungen zur Übersetzung: Die Absatzgliederung durch Leerzeilen orientiert sich zum einen an den anfangsständigen, d.h. den thematisierten temporalen Episodenmerkmalen der Zeit (z.B. Datumsangaben, vgl. die Einsätze in 17,1-frl; 18,l-frl.lO-fr2.[13-frl] und 16-örl). Zum andern werden Satzanfänge, die auf der ersten Ebene der Kommunikation den Konsekutivmodus ("Und"-Verknüpfung der Sätze) unterbrechen, in gleicher Weise durch Leerzeilen abgesetzt (vgl. neben den temporalen Einsätzen 17,3ftl; 18,2-61 und 8-frl; zu 13-ft-l vgl. unten), um damit die thematischen Kleineinheiten sichtbar zu machen, die entsprechend dem asyndetischen Notizen- und Berichtstil (vgl. oben 3.2.1.1) nur lose miteinander verbunden sind. Um den nicht-erzählenden Charakter dieser Folge von Klein-

54

Vgl. G. Fohrer u.a. (41983, 177f. und 185f.) oder E. Blum (1980,4).

112

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

einheiten deutlich zu machen, werden die AK-Formen bei den jeweils asyndetischen Texteinsätzen im Deutschen mit Perfekt wiedergegeben und dort mit dem deutschen Erzähltempus der Vergangenheit fortgeführt, wo sich entsprechende Konsekutivsätze anschließen. Ein betont vorangestelltes Personalpronomen wird durch Wiederholung wiedergegeben (vgl. 18,8*1). Zur Übersetzung von Dnri in 18,11 £ 2 vgl. BHS App. und B. Stade/ F. Schwally (1904, 269). Die Textänderungen in 18,1*1 und 1 3 * 1 werden im Folgenden erläuten.

Auf die Stilhomogenität in der Datierung und in der Namensschreibung Hiskijas, die den übersetzten Textzusammenhang auch in sprachlicher Hinsicht als Einheit wahrscheinlich macht, haben wir bereits hingewiesen. Eine weitere stilistische Übereinstimmung im Kontrast zum Stil der ABBJ-Erzählung läßt sich am Kennzeichnungsprofil der Könige von Israel und Juda ablesen. Dominant in der ABBJ-Erzählung ist die Bezeichnung "jbon ( ± Name, vgl. nur 18,9.13a.l7 etc. sowie oben 3.2.1.3). Sie gehört auch zum charakteristischen Bezeichnungsstil z.B. in II Reg 22,3ff. (vgl. 22,3.9.10 etc., auch 25,2) oder Jer 26,20ff. (vgl. V.21-23, ferner Jer 37-39 häufig). Im oben postulierten Textzusammenhang fehlt sie. Stattdessen werden die Könige entweder nur namentlich genannt (so in II Reg 1 7 , 3 * 2 . 4 * 1 ; 1 8 , 1 0 * 2 . 1 5 * 1 und 16-A-1) oder als Könige von Israel bzw. Juda bezeichnet (so in II Reg 17,1*1; 1 8 , 1 * 1 . 1 0 * 3 . 1 4 * 1 * 5 und 16*1.1). Als weiteres Homogenitätsindiz kommt der einheitliche asyndetische Bericht- und Notizenstil hinzu, der in der Ubersetzung durch Absätze markiert ist. Er scheint besonders typisch zu sein für die Quellen, aus denen DtrG. geschöpft hat. 55 Dieser besondere Stil macht es wahrscheinlich, daß 18,1 wie auch alle übrigen Synchronismen im Königsrahmen ursprünglich nicht mit T H angefangen hat. 5 6 Ein ursprünglich asyndetischer Anfang ist das Wahrscheinlichste. Diesem asyndetischen Stil fügt sich auch der Einsatz in II Reg 18,10a/? ( = 1 0 * 2 ) harmonisch ein und bestätigt, daß in der Datierungsdublette von 18,9f. hier die Naht zu suchen ist. 5 7 Aber auch sachlich und inhaltlich steht diese Notiz am richtigen Platz. Der Untergang Samarias und das Ende des

55 56

57

Vgl. oben 3.2.1.1 und A. Jepsen ( 2 1956, 36 und 54). Vgl. B. Stade/ F. Schwally (1904, 268). Einzig die Synchronismen in I Reg 15,1.9 und II Reg 8,16 beginnen syndetisch mit 1 (vgl. ferner noch I Reg 14,21; 15,25; 16,29; 22,41 und II Reg 3,1 mit 1 und vorangestelltem Namen). Mit der Vorfügung von T H ist II Reg 18,1 sekundär zu einem erzähleröffnenden Datierungssatz umstilisiert worden, wie er sich in 18,9; 22,3; 25,1; Jes 36,1 etc. findet (vgl. oben 3.2.1.3), wahrscheinlich um damit die Großeinheit der Geschichte Judas allein ab II Reg 18-25 zu eröffnen. Wenn auch Datumssätze mit asyndetischem 3 sonst in vergleichbaren Notizenzusammenhängen nicht begegnen, ist der Typus von Notizenanfängen mit 3 + Zeitangabe mehrfach belegt (vgl. I Reg 16,34; II Reg 8,20 [10,32]; 15,29; 16,6 [17,6 mit Datierung, aber sek.]; 23,29; 24,1 und 10 sowie oben 3.2.1.1).

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

113

Nordreichs mit der Exilierung der Bevölkerung kann im Zusammenhang von Königsannalen überhaupt nur aus judäischer Perspektive festgehalten worden sein, da jeder weiteren Nordreichsannalistik durch den Untergang die Grundlage entzogen war. Die judäische Perspektive zeigt sich zum einen an der passivischen Formulierung der Untergangskatastrophe und zum andern an der primären Datierung nach Regierungsjahren des judäischen Königs Hiskija. Aus dieser Perspektive reicht die Geschichte des Nordreichs noch unter dem König Hoschea (II Reg 17,1) nur bis zur zweijährigen Belagerung Samarias inklusive (17,3-5, vgl. zur Zeitspanne E. Kutsch, 1985, 39). Die Eroberung der Stadt selbst aber und die Exilierung sind Ereignisse, die dann primär und nur noch aus judäischer Sicht in die eigene Geschichte eingeordnet werden können. Nicht nur aus Gründen des inhomogenen Datierungsstils nach dem J-O-Typus, sondern auch weil 18,10a/?.b.ll offenkundig die primäre Erwähnung des Untergangs von Samaria darstellt, ist II Reg 17,6 als anknüpfender Berichtanfang für 17,17ff. einzustufen, der nicht zum älteren Quellenzusammenhang gehört hat. 5 8 Für den Kurzbericht von II Reg 18,13b-16 ist es sehr unwahrscheinlich, daß er ursprünglich datiert war. Denn außer I Reg 14,25 ist keiner der Kurzberichte von vergleichbarer Art mit einem Datum versehen (vgl. I Reg 15,16-22; II Reg 12,18f.; 14,8-14; 15,19f.29; 16,5.7-9; 17,3-5; 23,29f.33-35 und 24,10ff.). Der Datierungssatz von I Reg 14,25 zeigt jedoch (vgl. oben 3.2.1.3) alle Merkmale eines jüngeren Stils. Der Bericht könnte in II Reg 18,13 mit TN (wie in II Reg 12,18; 14,8 [vgl. 15,16] und 16,5) oder wie in II Reg 15,19

Durch eine genaue literarische Analyse von II Reg 17,6-41 müßte diese These weiter untermauert werden, was hier nicht geleistet werden kann. Zur Gliederung, Schichtung und zum Aufbau von II Reg 17,7ff. vgl. neben den Kommentaren die unterschiedlichen Vorschläge bei R.D. Nelson (1981, 55ff., ausführliche Diskussion und Belege!), H.-D. Hoffmann (1980, 127-133) und W. Dietrich (1972, 42-46). Gegen die übliche Textabgrenzung zwischen V.6 und 7 spricht, daß der ätiologische Abschluß des kulttheologischen Geschichtsrückblicks von 17,7ff. in V.23 noch einmal ausdrücklich auf 17,6 zurückkommt, um dann in V.24ff. die (weiteren) Umsiedlungsmaßnahmen des "Königs von Assur" im ehemaligen Nordreich nach der Eroberung Samarias zur Sprache zu bringen. Diese Maßnahmen bilden ihrerseits den Vorspann zur Darstellung der kultischen Verhältnisse und der Jahweverehrung im neubesiedelten Land (vgl. das Leitmotiv mrp flN K T in V.25.28 und 32f.). Dabei steht der "König von Assur" als Handlungsträger, von dem das ganz Geschehen bestimmt wird, mit seinen religionspolitischen Entscheidungen (vgl. 26 und 27f.) wie schon in der Erzähleröffnung von 17,6 (24ff.) weiter aktiv im Mittelpunkt. Auf diesem Hintergrund erweisen sich die Verse 6 und 24 als ein stilistisch wie inhaltlich konziser Zusammenhang, der nur durch den Geschichtsrückblick in 7-23 unterbrochen wird. Dieser erklärt, weshalb Israel in die Verbannung nach Assur ziehen mußte "bis auf diesen (heutigen) Tag". Er setzt V.6 als Anknüpfungspunkt ebenso zwingend voraus wie die Verse 24ff. diesen Anfang der Erzählung in V.6 fortführen.

114

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

einfach mit T\bv (vgl. auch II Reg 17,3) eingesetzt haben. Wir haben mit unserer Übersetzung ("Damals/Es") die Entscheidung offen gelassen. Dieser Durchgang hat den rekonstruierten Text ohne Zwang als literarischen Zusammenhang zu erweisen vermocht, der in hohem Maße sowohl sachlich als auch sprachlich-stilistisch stimmig ist. Damit kann ein erster Teil unserer literaturgeschichtlichen Hypothese formuliert werden. In der Textfolge von II Reg 17,1.3-5; 18,lf.l0a/3.b.ll.l3b-16 tritt ein literarischer Ausschnitt einer älteren historischen Quelle zu Tage, auf die die ABBJ-Erzählung zurückgegriffen hat und die auch dem DtrG. zugrunde lag. Ihr größerer Zusammenhang, ihre Aussageabsicht und ihr Alter könnten nur durch eine umfassendere Untersuchung bestimmt werden. Für unseren Zusammenhang genügt die Festeilung, daß diese Quelle relativ älter als die ABBJ-Erzählung und DtrG., jedoch ihrerseits literarischer Art gewesen sein muß. Wir bezeichnen sie als spätvorexilisches Annalenwerk, das wahrscheinlich mit der Feststellung der ersten Eroberung Jerusalems und der Wegführung von 597 geschlossen hat (II Reg 24,10-16) und noch den Regierungsantritt Zidkijas vermerkt (24,17f.). Damit ist der zweite Teil der Hypothese angesprochen. Die Autoren der ABBJ-Erzählung haben sich dieser älteren Quelle auf zwei verschiedene Weisen bedient. Sie haben zum einen aus II Reg 18,10a/?.b und 17,5 (bzw. 3) die nötigen chronologischen und sachlichen Informationen zur Gestaltung der Erzähleröffnung von 18,9.10aa geschöpft. Zum anderen haben sie 18,13b-16 quasi als Quellenzitat in ihre Erzählung aufgenommen, dieses Zitat aber in 13a durch Schaffung einer Datumsangabe dem Duktus und dem Stil ihrer Erzählung angepaßt (vgl. den K-J-Typus im Datierungsstil und "¡^Q^ als Datierungsbezug). Die Kurzform des Hiskija-Namens nimmt entweder als Übergang Rücksicht auf den zitierten Folgetext oder sie ist das Torso eines anderen Textanfangs. 59 Eine Entscheidung ist nicht möglich. Daß 18,13b-16 ein integraler Bestandteil der ABBJ-Erzählung ist, wird von Beobachtungen ihrer inneren Struktur her weiter zu vertiefen sein (vgl. unten 3.5). Die Erkenntnis ist alt, daß die Datumsangabe in II Reg 18,13 par. Jes 36,1 unzutreffend ist. 6 0 Unsere Untersuchung der ABBJ-Erzählung wird zeigen, daß der ganze Aufriß dieser Erzählung eine historische Fiktion ist, in der sich die Problem- und Erfahrungsperspektive einer historisch genau identifizierbaren Erzählsituation vor dem Fall Jerusalems im Jahre 587 spiegelt. Zu dieser Fiktion gehört auch das in 18,13a geschaffene Datum, wie unten 5.1.3 zu zeigen sein wird. Damit erweist sich 18,13a literaturgeschicht-

59

Z.B. ... nbu rrpm "fro, vgl. II Reg 15,29; 23,29 und 24,1, vgl. auch H. Wildberger

(1982,1394). 60

Vgl. zuletzt E. Würthwein (1984, 412f.) sowie H. Wildberger, a.a.O. 1380 und 1393f.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.1

115

lieh als Nahtstelle, die die Einarbeitung des älteren Textfragmentes von 18,13b-16 in die ABBJ-Erzählung anzeigt. Der dritte und letzte Teil unserer literaturgeschichtlichen Hypothese betrifft die Verarbeitungs- und Kompositionsebene des DtrG. in der Exilszeit. Dem bzw. den Schöpfern des DtrG. lagen sowohl das ältere Annalenwerk als auch die ABBJ-Erzählung mit ihrem Erzählanfang in 18,9.10aa. 13ff. als literarische Texte vor. Nach der Untersuchung von H.-D. Hoffmann (1980) dokumentiert das DtrG. "den großangelegten Versuch ..., die Geschichte Israels auf Grund spärlicher Überlieferungen als Kultgeschichte zu interpretieren und die Kultreform als das eigentliche Movens der Geschichte herauszustellen" (a.a.O. 316). Primär geleitet von diesem kultgeschichtlichen Interesse, sind in II Reg 18 auf der Ebene des DtrG. sowohl Ausschnitte aus dem älteren Annalenwerk als auch die ABBJ-Erzählung zur vorliegenden Letztgestalt zusammengearbeitet worden. Dazu hat der Verfasserkreis des DtrG. die redaktionelle Komposition von 18,1-12 geschaffen und seine eigene Darstellungsintention besonders in den Versen 3-7 und 12 zum Ausdruck gebracht. Hiskijahu, der größte Kultreformer vor Joschija (V.3f., vgl. 5) wird mit seinem von politischen Erfolgen auch gegen den "König von Assur" gekrönten Glaubensgehorsam (V.5-7) mahnend dem Volk des Nordreiches gegenübergestellt. Im Kontrast zu Hiskijahus Vorbildlichkeit hat Israels Ungehorsam gegen die Gebote Jahwes (V.12) in den selbstverschuldeten Untergang geführt und die unglückliche Exilierung durch den "König von Assur" zur Folge gehabt (V.10a/?.b.ll). Diese mahnende Botschaft hat der Verfasserkreis des DtrG. unter Aufnahme von Ausschnitten aus dem älteren Annalenwerk subtil komponiert. Der chronologsche Rahmen 18,lf. hat ihm als makrostrukturelles Ordnungsprinzip gedient, an das er seine Bewertungsaussage (V.3) anschließen und mit der Kultnotiz (V.4) begründen konnte. Die Notiz von Hiskijas militärischen Erfolgen gegen die Philister (V.8) konnte dem politischen Segen von Hiskijas Glaubensgehorsam (V.5-7) subsummiert werden. Andererseits bot sich die Notiz vom Untergang Samarias und der Exilierung Israels (lOaß.b.ll) trefflich als Beleg für die katastrophalen politischen Folgen an, die Israels Ungehorsam gegen Jahwes Gebote nach sich zog (V.12).61 Demgegenüber war eine bruchlose Einarbeitung der ABBJ-Erzählung in diese redaktionelle Komposition von 18,1-12 nicht möglich. Weil schon die ältere Notiz von V.10a/?.b den Untergang Samarias mitgeteilt hat, konnte die Erzähleröffnung von 18,9. lOao mit 13ff. nicht einfach hinter V.12 angeschlossen werden, weil diese Erzähleröffnung mit der Bedrohung Samarias

Sollte die ganze Komposition von II Reg 17,6-41 erst durch den Verfasserkreis von DtrG. geschaffen worden sein, kann der Anschluß in 17,6 als einfache Textanfügung an 17,1.3-5 erklärt werden, der die wesentlichen chronologischen Informationen der Notiz von 18,10a/?.b.ll entnommen hat.

116

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

zeitlich hinter das in V. 10a/?.b Gesagte zurückgreift. Deshalb mußte dieser Erzählzusammenhang von 18,9.10aa.l3ff. bei der Einarbeitung in die Komposition von 18,1-12 auseinandergebrochen und die Eröffnungssequenz von V.9.10aa vor die N o t i z von 10a/?.b gesetzt werden. Dabei sind die schöpferischen Redaktoren und Komponisten des DtrG. auch in diesem Falle sehr behutsam vorgegangen. Sie haben diese Eröffnungssequenz, die aufgrund der Notiz von V.lOa/J.b im Rahmen ihres eigenen Aussagekonzepts völlig überflüssig war, trotzdem nicht geopfert, sondern geschickt ihrer Komposition eingefügt. Damit haben der bzw. die Verfasser des DtrG. so etwas wie eine stereoskopische Textlektüre möglich gemacht, die auch die aufgenommenen älteren Quellentexte soweit wie möglich sorgfältig bewahrt und diese Texte nicht ohne weiteres von den eigenen Aussageabsichten und Darstellungsinteressen her antastet. Von einer stereoskopischen Lektüremöglichkeit kann insofern gesprochen werden, als man entweder II Reg 18,1-12 im Sinne der dtr. Mahnbotschaft lesen und verstehen kann, die in V.12 den Gipfel des Kontrastes zu V.5-7 setzt. Bei diesem Rezeptionsfokus wird 18,9.10aa mitgelesen, ohne die implizite Argumentation der Einheit erheblich zu stören. Oder aber das Augenmerk richtet sich primär auf den Eröffnungssatz der ABBJ-Erzählung in 18,9.10*, der dem stilkundigen Leser eine Erzählung ankündigt, deren Fortsetzung er in 18,13ff. leicht erkennen kann. Wer aber als Leser primär bei 18,9 einsetzt, wird sich seinerseits von der weiteren Füllung in 10a/?.b-12 nicht sonderlich gestört fühlen. Aus dieser literaturgeschichtlichen Hypothese zur Einarbeitung der ABBJ-Erzählung in das DtrG. sowie aus den insgesamt in diesem Abschnitt gemachten Beobachtungen zu II Reg 18,9f. ergeben sich vier wichtige Konsequenzen. — 1. II Reg 18,9.10a/? bildet mit größter Wahrscheinlichkeit die Eröffnungssequenz der ABBJ-Erzählung. — 2. Das ältere Textfragment von II Reg 18,13b-16 ist sozusagen als Zitat aus einem älteren Annalenwerk in die ABBJ-Erzählung eingearbeitet worden. Auf der Kompositionsebene des DtrG. stammen deshalb nur die Notizen innerhalb von 18,1-12 direkt aus diesem Annalenwerk, während 18,13b-16 in der bereits zitierten Gestalt der ABBJ-Erzählung in das Gesamtwerk Eingang gefunden hat und damit die Fortsetzung der Annalenquelle ersetzt. — 3. II Reg 18,13b-16 als integraler Bestandteil der ABBJ-Erzählung und die originale Erzähleröffnung in 18,9.10"" sind ein sehr wichtiges Argument dafür, daß die J-Version der Erzählung in Jes 36f. eine jüngere Version darstellt, die die ältere K-Version besonders in ihrem Eröffnungsteil auf einen einfachen Erzählanfang verkürzt hat. Jes 36, lf. läßt sich zwanglos als Verkürzung von II 18,9.10*. 13-17 erklären. Für eine sekundäre Aufweitung dieses Erzählanfangs in der K-Version gibt es keine Gründe. Im Gegenteil, niemand könnte auf den Gedanken kommen, den klassischen Erzähleröff-

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.2

117

nungssatz in Jes 36,1 in den Satz von II 18,13 zu transformieren, um die Erzählung mit 18,9 beginnen zu lassen. Eben diese, im Kompositionszusammenhang von 18,1-12 ohnehin überflüssige und abständige Erzähleröffnung hätte sich ein Bearbeiter, der die J-Version in den Kontext von II Reg 18,lff. einarbeiten wollte, garantiert als erstes gespart. II 18,13 mit TT! beginnen zu lassen wie in Jes 36,1, wäre die viel einfachere und elegantere Lösung gewesen. — 4. Aus dem Ganzen ergibt sich eine relative Chronologie für die drei verschiedenen literarischen Textzusammenhänge. Das Annalenwerk muß relativ älter sein als die ABBJ-Erzählung und diese wiederum muß älter sein als die Komposition des DtrG. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil unsere Untersuchung der Entstehungszusammenhänge der ABBJ-Erzählung eine überraschend genaue Datierung dieses Textes möglich macht. Sie wird auf die literaturgeschichtliche Entstehung des DtrG. und auf literarische Vorformen in seinen Teilen ein klareres Licht werfen können. 3.2.2

Die ABBJ-Erzählung im Verhältnis zu II Reg 20

Im Vergleich zu den Abgrenzungsproblemen der ABBJ-Erzählung nach vorn, liegen die Probleme am Erzählschluß wesentlich einfacher. Ohnehin eindeutig ist die Textgrenze zwischen den HKJ-Erzählungen und dem Rahmen des DtrG. hinter II Reg 20,19. Dieser Schlußvers stimmt mit dem Ende der J-Version in Jes 39,8 überein. Andererseits beginnt mit II Reg 20,20 die Schlußformel des dtr. "Königsrahmens". Aber auch innerhalb der HKJ-Erzählungen läßt sich das Erzähltextende der ABBJ-Erzählung in 19,37 zweifelsfrei von der Krankheits- und Heilungserzählung in II Reg 20,1-11 und der Schatzinspektionsgeschichte von II Reg 20,12-19 abgrenzen. Diese auch in der Forschung nicht umstrittenen Textabgrenzungen sind im folgenden zunächst unter dem Gesichtspunkt der kognitiven Teilstrukturen in ihrer erzählerischen Präsentation zu bestätigen. Bereits die Beobachtung der geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale ergibt ein klares Bild. — 1. Beide Erzählungen setzen betont mit einem relativen Zeitindex am Satzanfang ein: 20,1 mit DHH 20,12 (wie 18,16) mit tonn ni?3. Solche Zeitmarken, die explizit eine Synchronie zur Datierung in 18,13 herstellen, finden sich abgesehen von 18,16 in II Reg 18,17-19,37 nicht mehr. In 19,35 (tonn und "Ip33) handelt es sich um tageszeit- und nicht um jahresrelative Angaben einer zeitlich kleinräumigen Vorstellungsebene. Ohne explizite Indizierung setzen 20,1-11 und 12-19 Jerusalem bzw. den Bereich des Königspalastes als Ort des Geschehens voraus (vgl. 20,2 und 4 bzw. 13). II 19,36f. spielt dagegen in Ninive. — 2. In beiden Kurzerzählungen werden je neue Konstellationen der Ereignisträger etabliert. In 20,1-11 wird das Handeln von Hiskija, Jesaja und

118

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

Jahwes Wort bestimmt, in 20,12ff. treten Merodach-Baladan bzw. seine Boten hinzu (zu 20,12f.), während in der Schlußszene von 19,36f. nur noch Sanherib und seine Söhne als Handlungsträger begegnen. — 3. Schließlich bestätigen die in beiden Erzählungen thematisierten Geschichten (Krankheit und Heilung in 1-11, Inspektion der Schatzreserven durch eine babylonische Gesandtschaft und kritische Nachfrage Jesajas in 12-19), daß es sich um zwei Einheiten handelt, die zunächst einmal unabhängig von der ABBJ-Erzählung betrachtet werden können. Ihr Bezug zur ABBJ-Erzählung muß gesondert geklärt werden. 62 Auch das Kennzeichnungsrelief in beiden Einheiten zeigt charakteristische Unterschiede. In drei Punkten unterscheidet sich 20,1-11 auffällig von 12-19, aber auch vom Grundbestand der ABBJ-Erzählung. — 1. Obschon semantisch kaum ein Unterschied besteht, wird 20,1 mit ünnD-WO, V.12 aber - in Übereinstimmung mit 18,16 - mit NTinnSJD eingeleitet. — 2. In Parallele dazu steht das Kennzeichnungsprofil Hiskijas. Der König wird in 1-11 nur namentlich, ohne die Funktionsbezeichnung "König" genannt (V. 1.3.5.8, in V.5 zusätzlich mit dem Titel TOJ, der in den HKJ-Erzählungen sonst nicht begegnet). Zudem findet sich in 1-11 die singulare Namensform liTp^lT (V.10), die neben Jes 1,1 und Jer 15,4 nur noch in den Chronikbüchern, und dort häufig, verwendet wird. Demgegenüber ist in 20,12-19 auch die namentliche und funktionale Kennzeichnung "der König Hiskijahu" "irPpTn in V.14 vertreten, die im Wechsel mit der bloßen Namensnennung (vgl. 20,12.13 und ab 14b) auch im Grundbestand von 18,9-19,37* (mit Ausnahme des Zitates in 18,13b-16) ausschließlich begegnet (vgl. unten). In der nur namentlichen Kennzeichnung Hiskijas stimmt 20,1-11 im übrigen mit der Textpassage von 19,9b-36a* überein (in 19,10 mit m i r P 1 ^ 0 ) , die sich als narrative Nachinterpretation der ABBJ-Erzählung erweisen wird. — 3. Parallele Beobachtungen sind am Kennzeichnungsprofil Jesajas zu machen. Nur in 20,1 begegnet die volltönende Kennzeichnung p V T W lODJn yiQK. Sie hat ihre genaue Entsprechung wiederum und ausschließlich in II Chr 26,22; 32,20 und 32 (zu Jes 37,2 vgl. unten), während der Prophet sonst in den HKJ-Erzählungen am häufigsten nur namentlich genannt wird (19,5.6; 20,4.7.8.9.16 und 19). Treten weitere Angaben hinzu, so ist es entweder nur die Bezeichnung der Funktion (so in 19,2 [vgl. dazu unten]; 20,11 und 14) oder der Abstammung (so in 19,20). Zeigen sich in den Profilen der temporalen Kennzeichnung und der Nennung Hiskijas klare Unterschiede zwischen 20,1-11 einerseits und 20,12-19 sowie im Grundbestand der ABBJ-Erzählung andererseits, so ist das Bild bei den Kennzeichnungen Jesjas zunächst verwirrend. Primär ver-

Vgl. dazu unten 6.4.2.

Die ABBJ-Erzählung im Rahmen der HKJ-Erzählungen

3.2.2

119

gleichbar sind jedoch nur die Ersterwähnungen des Propheten in den verschiedenen Szenen oder Einzelerzählungen, da bei diesen Neu- oder Wiedereinführungen eines Handlungsträgers in der Regel die detaillierteste Kennzeichnung zu erwarten ist, auf die dann Teilrenominalisierungen bzw. pronominale Wiederaufnahmen folgen können. 63 Insofern können stringent nur die Kennzeichnungen in 19,2.20; 20,1 und 14 miteinander verglichen werden, während die Wiedererwähnung in 20,11 als Teilrenominalisierung von 20,1 betrachtet werden muß und deshalb mit 20,14 nicht auf der gleichen Ebene steht. Auch die Kennzeichnung in 19,2 ist nicht mit 20,1 vergleichbar. In 19,2 steht die Nennung der Herkunft deutlich in Konkurrenz zur Funktionsbezeichnung und ist textgeschichtlich sekundär. Das geht aus der singulären Wortstellung hervor, da die Funktionsbezeichnung wie die übrigen Parallelen zeigen - stets nach der Herkunftsangabe zu erwarten ist und in Jes 37,2 entsprechend "verbessert" wird. 64 Damit laufen aber auch in diesem Kennzeichnungsprofil 20,12-19 (vgl. V.14) und der Grundbestand der ABBJ-Erzählung im Kontrast zu 20,1-11 parallel. II Reg 19,20 weist die Form auf, die auch sonst ausschließlich im Jesajabuch begegnet (vgl. z.B. Jes 1,1; 2,1 und 13,1). Diese Unterschiede im Kennzeichnungsrelief sind insofern von hoher Signifikanz, als es sich um semantisch kaum relevante Stilunterschiede handelt, die nicht geschichtenbedingt, sondern in erster Linie Ausdruck einer unwillkürlichen Darstellungsweise sind. Sie können deshalb rein textphänomenologisch um so zuverlässiger auf eine heterogene Autorschaft hinweisen, die natürlich durch weitere Textbeobachtungen auf anderen Ebenen erhärtet werden muß. Zusammenfassend kann vorläufig das Folgende festgehalten werden. 1. Von ihren kognitiven Strukturen her sind II Reg 20,1-11 und 12-19 gegenüber der ABBJ-Erzählung abgrenzbare Einheiten. 2. II Reg 20,1-11 zeigt im Kennzeichnungsrelief überdies deutliche Kontraste zum Grundbestand der ABBJ-Erzählung sowie zur Erzählung von II Reg 20,12-19, die aber ihrerseits im gesamten Relief der Kennzeichnungen mit diesem Grundbestand übereinstimmt. Wie unten 6.4.2.1 zu zeigen sein wird, bildet 20,12-19 ein Epilog zur ABBJ-Erzählung. Die in Abschnitt 3.2 von den Kontexten her erarbeitete Abgrenzung dieser Erzählung findet ihre weitere Bestätigung durch die folgende textphänomenologische Erschließung ihrer Binnenstruktur. In diesem Zusammenhang wird einerseits die integrale Zugehörigkeit von II Reg 18,13b-16 zur ABBJ-Erzählung weiter begründet werden können (3.5). Andererseits wird sich zeigen lassen, daß sich der Textabschnitt II Reg 19,9b-36a* deutlich als narrative Nachinterpretation vom Grundbestand in 18,9-19,37* abhebt (3.5.1).

63 64

Vgl. z.B. die Kennzeichnungen Sanheribs in 18,13-16 und 19,36f. Vgl. ebenso B. Stade/ F. Schwaily (1904,275).

120 3.3 3.3.1

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau Übersetzung und Textprobleme

Um die Makrostruktur des ganzen Komplexes klarer zu erfassen, konzentrieren -wir uns zunächst auf die Erzählteile der ersten Ebene der Kommunikation, auf der sich das tragende Handlungsgerüst mit den konstitutiven Ereignisträgern und Situationsangaben abbildet. Insbesondere die großen Reden des Rabschake (18,19*2-25 und 18,28*5-35) sowie die Botschaft Sanheribs an Hiskija (19,10-13), dessen Gebet (19,15*3-19) und die JahweBotschaft Jesajas an Hiskija (19,20*2-34) klammern wir zunächst aus. Sie bleiben in der folgenden Übersetzung unberücksichtigt im Unterschied zu den kleineren Redewiedergaben, die für die Analyse der Makrostruktur unmittelbar von Bedeutung sind. Aufgrund dieser rein darstellungspraktischen Entscheidung erscheinen die ausgeklammerten Reden ohne ihren Inhalt auf der ersten Ebene der Kommunikation lediglich formal als erzählte Redehandlungen ("X sagte zu Y"). Um diese dennoch grob nach Art und Inhalt in die Makrostruktur des Erzählkomplexes einordnen zu können, wird in der Übersetzung eine kurze Inhaltszusammenfassung gegeben. Als Ausdruck besonderer Detaillierung wird die genaue Analyse dieser Reden ohnehin erst wichtig, wenn es um die Klärung der Identifikationspotentiale des Erzählkomplexes im einzelnen geht (vgl. unten 5.4). In der Übersetzung werden die Abgrenzungen von Haupt- und Teilszenen sowie von szenischen Teilsequenzen mittels Dezimalklassifikation angezeigt, die in den folgenden Strukturbeschreibungen ihre Begründung finden. Die Markierung von Teiltextgrenzen durch "iriritirir-fr" statt durch " " zeigt die Gliederung innerhalb des sekundären Textteils 19,9-^3-36^2 an, wobei die Dezimalziffern mit vorangestelltem " • " die szenische Entsprechung zum Primärtext abbilden. Für die Textwiedergabe im Deutschen (Satzkennzeichnung etc.) gelten die oben 3.2.1.4 gegebenen Erläuterungen. Kl

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SZENE 1 (9) * 1 Und es war im vierten Jahr des Königs Hiskijahu - i>2 das ist das siebte Jahr Hoscheas, des Sohnes Elas, des Königs von Israel - < - i r l . l > (als) heraufzog Salmanassar, der König von Assur, gegen Samaria. i r i Und er belagerte es (10) £ 1 und 'er nahm' es ein am Ende von drei Jahren. S Z E N E 2.1.0 (13)

-frl U n d im vierzehnten Jahr des Königs Hiskija zog Sanherib, der König von Assur,

herauf gegen alle befestigten Städte Judas, -fr 2 Und er eroberte sie.

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau Kl

K2

K3

3.3.1

121

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2.1.1.1

(14) -fr 1 U n d es sandte Hiskija, der König von Juda, zum König von Assur nach Lachisch, •fr 1.1 um zu sagen: •ir2 Verfehlt habe ich mich, iti Ziehe (wieder) von mir ab! -fr4.1 Was du mir auferlegst, -A4 will ich erbringen. 2.1.1.2

ft5 Und es erlegte der König von Assur dem Hiskija, dem König von Juda, dreihundert Talente Silber und dreißig Talente Gold auf. 2.1.1.3 (15) ftl U n d es gab Hiskija das ganze, sich im Hause Jahwes und in den Schatzkammern des Königshauses befindliche Silber heraus. 2.1.1.3.1 (16) VSrl Zu jener Zeit hatte Hiskija die Türen am Tempel Jahwes und die Säulen abgeschlagen, -fr 1.1 die Hiskija, der König von Juda überzogen hatte. ir2 Und er gab sie dem König von Assur. SZENE 2.2.0 (17) i r l U n d es sandte der König von Assur Tartan und Rabsaris und Rabschake von Lachisch zum König Hiskija mit einem großen Heer nach Jerusalem, it2 Und sie zogen herauf, ir 3 Und sie kamen nach Jerusalem. ir2 und Schebna, der Schreiber, und Joach, der Sohn Asafs, der Kanzler. 2.2.1.1.1

(19)

-ä 1 U n d es sagte zu ihnen Rabschake: 1. Rede des Rabschake an Hiskija bzw. die Minister (19*2 bis 25) Hiskijas Aufstand gründet in falschem Vertrauen (20*3) — auf Ägypten (21.23f.) sowie — auf einen falsch behandelten (22) und fehlinterpretierten Jahwe (25) 2.2.1.1.2

(26)

£ 1 U n d es sagte Eljakim, der Sohn Hilkijas, und Schebna und Joach zu Rabschake: •fr2 Sprich doch zu deinen Knechten aramäisch; -ki denn wir verstehen es. -fr4 Aber sprich nicht mit uns judäisch vor den Ohren des Volkes, -64.1 das (sich) auf der Mauer (aufhält).

122 Kl

(27)

Kapitel 3 K2

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Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

K4

2.2.1.1.3 -fr 1 Und es sagte zu ihnen Rabschake: £ 2 Hat denn (etwa) zu deinem Herrn und zu dir mich gesandt mein Herr, £2.1 um diese Worte zu sprechen? £ 3 Nicht (vielmehr) zu den auf der Mauer sitzenden Männern, £3.1 wobei sie ihren Kot essen £3.2 und ihren Harn trinken (müssen) mit euch zusammen? 2.2.1.1.4.1

(28) £ 1 U n d es stellte sich Rabschake hin. £ 2 Und er rief mit lauter Stimme (auf) judäisch. £ 3 Und er redete, £ 4 Und er sagte: 2. Rede des Rabschake an das Volk (28£5 bis 35) Appell, sich nicht von Hiskija zu falschem Vertrauen verleiten zu lassen (29f. vgl. 316-1 und 32£3). — Appell zum Frieden (31£2-32£2). — Jahwe kann nicht aus der Hand Assurs retten (33£l-35). 2.2.1.1.4.2 (36) £ 1 U n d es sollte schweigen das Volk. £ 2 Und nicht antworteten sie ihm (auch nur) ein Wort. 2.2.1.1.4.2.1 £ 3 Denn die Weisung des Königs war es, £3.1 wie folgt: £ 4 Nicht sollt ihr ihm antworten. 2.2.1.2

(37) £ 1 Und es ging Eljakim, der Sohn Hilkijas, £1.1 der über das (Königs-)Haus (gesetzt war), > £ 1 und Schebna, der Schreiber, und Joach, der Sohn Asafs, der Kanzler, zu Hiskijahu mit zerrissenen Kleidern. £ 2 Und sie berichteten ihm die Worte des Rabschake. 2.2.2.0 (19,1) £1.1 Und als der König Hiskijahu (es) erfuhr, £ 1 da zerriß er seine Kleider. £ 2 Und er zog sich das Sackgewand über. £ 3 Und er ging in das Haus Jahwes. 2.2.2.1 (2) £ 1 Und er sandte Eljakim, £1.1 der über das (Königs-)Haus (gesetzt war), > £ 1 und Schebna, den Schreiber, und die Ältesten der Priester, angezogen mit den Sackgewändern, zu Jesaja, dem Propheten ' ' . (3) £ 1 Und sie sagten zu ihm: £ 2 So hat Hiskijahu gesprochen: £ 3 Ein Tag der N o t und der Züchtigung und der Schmach ist dieser Tag. £ 4 Denn gekommen sind Kinder bis zum Muttermund, £ 5 aber (die) Kraft fehlt zum Gebären. (4) £ 1 Vielleicht hört Jahwe, dein Gott, alle Worte des Rabschake, £1.1 den der König von Assur, sein Herr, gesandt hat, £1.1.1 um den lebendigen Gott zu verhöhnen, £ 2 und er wird (vielleicht) ahnden die Worte, £2.1 die Jahwe, dein Gott, gehört

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau Kl

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3.3.1

123

K4

hat. A 3 U n d vorbringen sollst du ein Gebet um des (noch) vorhandenen Restes willen. 2.2.2.2 (5) AI Und es kamen die Knechte des Königs Hiskijahu zu Jesaja. (6) AI Und es sprach zu ihnen Jesaja: A2 So sollt ihr zu eurem Herrn sagen: •A3 So hat Jahwe gesprochen: A4 Fürchte dich nicht wegen der Worte, A4.1 die du gehört hast, A4.2 mit denen die Buben des Königs von Assur gelästert haben gegen mich. (7) AI Siehe, ich gebe ihm gleich einen Geist ein. A2 U n d hören wird er ein Gerücht. A3 U n d zurückkehren wird er in sein Land. A4 Und zu Fall bringen werde ich ihn durch das Schwert in seinem Land. SZENE 2.3.0 (8) AI U n d es kehrte Rabschake zurück. A2 Und er fand den König von Assur kämpfend gegen Libna. 2.3.0.1 A3 Denn er hatte gehört, A3.1 daß (jen)er von Lachisch aufgebrochen war. (9) AI Und gehört hatte (jen)er 'über* Tirhaka, den König von Kusch, A l . l wie folgt: A2 Siehe, er ist ausgezogen, A2.1 um zu kämpfen gegen dich.

AAA

A2.2.1*

AAAAAA

A3 Und wiederum sandte er Boten zu Hiskijahu, A3.1 um ausrichten zu lassen: (10) A I So sollt ihr zu Hiskijahu, dem König von Juda, sagen, A l . l wie folgt: Botschaft an Hiskija (10A2 bis 13) Appell, sich nicht von seinem Gott zu falschem Vertrauen verleiten zu lassen, daß er aus der Hand Assurs retten könnte. (14) AAA

AI Und es nahm Hiskijahu den 'Brief* aus der Hand der Boten. A2 Und er las ihn. *2.2.2.1*

AAAAA

A3 Und er stieg hinauf zum Haus Jahwes. A4 Und er breitete ihn (den Brief) aus - Hiskijahu vor Jahwe. (15) AI U n d es betete Hiskijahu vor Jahwe. A2 Und er sagte: Gebet des Hiskija (15A3 bis 19) Jahwe möge "uns" aus der Hand Assurs retten (19).

124

Kapitel 3

Kl

K2

K3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

K4

-tr-tr-tr •2.2.2.2• fr- 4 ir -tr -tr (20) frl Und es sandte Jesaja, der Sohn des Amoz, zu Hiskijahu, fr 1.1 indem er sagte: •fr 2 So spricht Jahwe, der Gott Israels: Jahwe-Botschaft an Hiskija (20fr 2 bis 34 ohne 21-31) — Erhörung des Gebets (20-fr3) — Hilfs- und Schutzzusage (32-34)

tt-frfr

* 2 . 3 • -fr^-fr^-fr-fr*

(35) -frl Und es geschah in jener Nacht, -fr2 Und es zog aus der Bote Jahwes, -fr3 Und er schlug im Heerlager Assurs hundertfünfundachzigtausend (Mann). -fr4 Und man stand auf am Morgen, -tr 5 Und siehe da, sie alle waren Leichen, mausetot. Afrfr * 2 . 3 . 1 * « £ - f r £ £ - f r (36) -frl Und es brach auf, fr-2 und es ging... SZENE 2.4.0 fr3 Und es kehrte zurück Sanherib, der König von Assur. -fr4 Und er hielt sich in Ninive auf. 2.4.1 (37)

frl.l

Und während er niedergekniet anbetete im Haus Nisrochs, seines Gottes, -frl

da erschlugen Adrammelech und Sarezer ' ' ihn mit dem Schwert. 2.4.2 •fr2 Und sie, sie entflohen in das Land Ararat. fr3 Und es wurde Asarhaddon, sein Sohn, König an seiner Statt.

3.3.1.1

Exkurs: Zum Verhältnis von K- und J-Version

Wir haben grundsätzlich darauf verzichtet, die K-Version aufgrund der J-Version zu "verbessern". Denn die Jetzt-Gestalten beider Textformen müssen als je eigenständige Versionen betrachtet werden, die nicht durch irgendwelche textkritischen Operationen zu einem angeblichen Urtext harmonisiert bzw. "verbessert" werden dürfen, wie es der textkritische Apparat der BHS suggeriert.65 Dabei ist die K-Version aus folgenden Gründen die ältere und ursprünglichere Version. 66

65

Vgl. auch dementsprechend die Übersetzung bei E. Würthwein (1984, 415-418).

66

Vgl. dazu zuletzt die Diskussion bei H. Wildberger (1982,1370-1374).

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.1

125

— 1. Bereits oben 3.2.1.4 haben wir gezeigt, daß der Erzählanfang in Jes 36,1 und die Tilgung von II Reg 18,14-16 in der J-Version nur als straffende Verkürzung der älteren K-Version verstanden werden kann. Die J-Version des Erzählanfangs ist dem Primärkontext von II Reg 18-20 entnommen. — 2. Der Textvergleich im einzelnen 67 zeigt auf der syntaktischen Ebene in der J-Version eine größere Gleichförmigkeit im Sprachgebrauch und einen geläufigeren Sprachstil. Durch kleine Textänderungen wird z.B. in Fragen der Sing.-plur.-Kongruenz und im Präpositionen-Gebrauch der Stil vereinheitlicht und verbessert. Diese Erleichterungstendenzen weisen die J-Version entsprechend dem textkritischen Grundsatz der lectio difficilior lectio probabilior als verbesserte und deshalb von der K-Version abhängige Textform aus. — 3. In den inhaltlichen Textliberschtissen der K-Version finden sich eine Reihe von Nebenzügen und Details, die am Gesamtduktus der Erzählung und ihrer Hauptthematik gemessen, funktionslos erscheinen. Deshalb hat die J-Version darauf verzichtet. Dabei handelt es sich bei diesen Überschüssen im Erzählrahmen vorwiegend um Detaillierungen im Bereich der Ereignisträger: — 1. Statt Rabschake allein wird in 18,17-Ul eine Trias der assyrischen Verhandlungsdelegation genannt, die in der K-Version bis V.18 auch konsequent pluralisch pronominal isiert wird (vgl. auch den Plur. in 19,6!). — 2. Im überschüssigen Satz in 18,18-ül wird der König Hiskija als eigentlicher Adressat der ersten Rabschake-Rede herausgerufen. — 3. Die Jerusalemer Minister werden in 18,26-ül (trrpbnp) und 27-ül (orpbx) deutlicher gekennzeichnet. — 4. Das Volk wird in 36itl (Olffl) als Mitadressat der zweiten Rabschake-Rede noch einmal ausdrücklich genannt. 68 Wer die kürzere Fassung der J-Version nicht als Straffung und "Verbesserung" der älteren K-Version verstehen will, muß die Weiterungen in der K-Version gegenüber der "besseren" J-Version bzw. einer gemeinsamen Kurzvorlage erklären. H. Wildberger orientiert sich z.B. am Grundsatz, "daß ein heiliger Text der Tendenz (unterliegt), erweitert zu werden", so daß "der kürzere Text auch der ältere" sein dürfte (a.a.O. 1372), und B. Stade/ F. Schwally (1904) bemühen des öfteren "the antiquarian learning of a later reader" (a.a.O. 271), um die Überschüsse der K-Version (hier in 18,17-irl) zu erklären. Das sind jedoch Verlegenheitsauskünfte. Wenn der Schwerpunkt dieser Überschüsse gerade im Bereich der Ereignisträger-Darstellung liegt, spricht die größere Detaillierung auch für eine größere

67 68

Vgl. die Synopse bei Wildberger, a.a.O. 1483ff. Wie weit es sich in 17-ü2--tr5 um entbehrliche Dubletten handelt, die auf Abschreibversehen (homoioteleuton, vgl. Stade/Schwally 271) zurückzuführen sind, oder um eine detaillierende Betonung des assyrischen Anmarsches, ist nicht zu entscheiden. Die Überschüsse in 18,28-b3 ("n"m), 19,4itl (bo), 9i}2 (n:n) und 3.5ir/ ( n W a Kinn) entziehen sich einer näheren Deutung. - Die "Verbesserung" der ungelenken Folge der Appositionen in 19,2-trl (flQK p i r a j n irri)®1) in der J-Version ist ein zuverlässiges Indiz dafür, daß die K-Version nicht von der J-Version abhängen kann. Als sekundäre Glosse in der K-Version verrät sich der Abstammungsvermerk durch seine Stellung hinter der Funktionsbezeichnung. Diese Stellung steht auch im Gegensatz zum Kennzeichnungsstil bei den Jerusalemer Ministern (vgl. 18,18.36 und 19,2).

Kapitel 3

126

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

Nähe zur Erzählsituation. Denn diese Kennzeichnungen hängen besonders eng zusammen mit der aktuellen Erfahrungsperspektive von Autor und vorausgesetzter Leserschaft, die stets implizit in eine Erzählung mit einfließt. 69 Dieses Mehr an Personen-Kolorit in der K-Version verrät die Patina der Entstehungssituation der Erzählung, die in späteren Rezeptionszusammenhängen - in diesem Falle konkret in der J-Version - eine zunehmend geringere Rolle gespielt hat. Auch deshalb ist die K-Version die ältere Textform. Erläuterungen zur Übersetzung: Die Singularlesung in 18,10-trl gegen die masoretische Punktation ist durch den Konsonantentext und die Übersetzungstradition gestützt.70 - Zur Übersetzung von füp in 16-ül mit "abschlagen" vgl. unten 6.4.2.1. - In 16-ül.l ist der Name "Hiskija" auffällig, da nach der Renominalisierung in 16-frl reine Pronominalisierung (in Gestalt der 3.m.sing. AK von ¡132) zu erwarten wäre. Aus Gründen, die unten 6.4.2.1 zu erläutern sind, nehmen wir trotzdem keine Änderung vor (vgl. z.B. Stade/Schwally, a.a.O. 271). Die Streichung des Namens als Glosse (so E. Würthwein, 1984, 407) löst das Problem auch nicht. - Wl in 17-ül ist mit "Heer" wiederzugeben (gegen Würthwein, a.a.O. 415, der mit "Gefolgschaft" übersetzt [vgl. I Reg 10,2]). Das Hintergrundskolorit einer militärischen Belagerung resultiert auch hier aus der Erfahrungsperspektive der Erzählsituation. - In 27-&3.1 und it3.2 ist K e tib zu lesen. - Die AKcons-Form in 36-Ctl kann entweder als sog. Perf. copulativum verstanden werden, wie es besonders in den Königsbüchern als Äquivalent zur PKcons begegnet (vgl. dazu oben 2.3.1.3). Es wäre dann - entsprechend der "Verbesserung" in der J-Version - im Sinne einer Erzählvergangenheit zu übersetzen. Einer iterativen Interpretation von W H i m ("sie schwiegen immer wieder") ist kaum ein Sinn abzugewinnen, und eine durative Vorgangspräsentation läßt eine Partizipialkonstruktion erwarten ("TPl crenna, "sie schwiegen beharrlich"). Deshalb ist an eine modale Interpretation der Form als Ausdruck vergangenheitlicher Unabgeschlossenheit zu denken: "Und es sollte schweigen das Volk ...". - In 19,9-trl ist bs statt b« zu lesen (vgl. zur häufigen Verwechslung dieser Präpositionen GesB, 38 und zur Stelle B. Stade/ F. Schwally, a.a.O. 276). - Dem plur. von •"HEJO liegt hier die Vorstellung von "mehrere(n) Schriftstücke(n)" zugrunde (C. Dohmen/ F.L. Hossfeld/ E. Reuter, 1986, 934). Es handelt sich aber um ein Dokument, da in der Textfortsetzung im sing, pronominalisiert wird. Deshalb übersetzen wir mit "Brief". - Das Q e re in 37-ül "seine Söhne", ist von der J-Version her motiviert. Wir lesen K e tib.

3.3.2

D e r Aufbau und die Gliederung der ABBJ-Erzählung unter dem Gesichtspunkt der geschichtenbezogenen Gliederungsmerkmale

D i e folgende textphänomenologische Beschreibung der A B B J - E r z ä h l u n g unter den in K a p . 2 entwickelten theoretischen Gesichtspunkten dient einer kontrollierten W a h r n e h m u n g ihrer Makrostruktur, die auf diesem deskriptiven W e g e Schritt für Schritt sichtbar gemacht werden soll. Dieses Verfah-

69 70

Vgl. dazu im Zusammenhang mit II Reg 18,17 besonders unten 5.4.1. Vgl. B. Stade/ F. Schwally, a.a.O. 269.

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

127

ren soll davor bewahren, Einzelwahrnehmungen am Textaufbau vorschnell zu einer Sicht des Ganzen zu erheben, bevor die Ganzheit des Textes anhand gegenstandsadäquater Kriterien systematisch erarbeitet worden ist. Vor allem ist auch auf den heuristischen Wert dieses Verfahrens zu verweisen. Die folgenden Ausführungen sind dementsprechend als exemplarische Analyse gedacht. Dabei sollen neben der systematischen Beschreibung jeweils auch schon wichtige Verbindungslinien ausgezogen werden, um auf diese Weise das Bild der Makrostruktur Schritt für Schritt aufzubauen und zugleich die Relevanz des Verfahrens durchsichtig zu machen. Die Textgliederung nach Szenen und kleineren Teilszeneneinheiten, die in der Ubersetzung mit dem Mittel der Dezimalklassifikation abgebildet wird, ist hier im einzelnen zu erläutern und zu begründen. Die unterschiedliche Markierung von Teiltextgrenzen durch statt " " (vgl. 19,91*3 bis 36i!r2) trägt dem Umstand Rechnung, daß dieser Textteil den Zusammenhang von 18,9.10-frl.13-19,9-£r2.36-i*3-37 offenkundig unterbricht. Das signifikant andersartige Kennzeichnungsrelief wird auch unter textphänomenologischen Gesichtspunkten die alte Forschungserkenntnis bestätigen können, daß dieser Erzählteil ein gegenüber seinem Kontext heterogener Einschub ist, der in der Forschung als Quelle B2 bezeichnet wird. 71

3.3.2.1

Die Profile der temporalen Kennzeichnungen und die Rahmenstruktur der ABBJ-Erzählung

Temporale Angaben finden sich in der ABBJ-Erzählung relativ selten. Nur in 18,9i* 1-t*2 und 13-tfrl begegnen absolute Zeitangaben mit Jahrzahldatierungen. Diese Angaben ordnen die ganze Erzählung dem historischen Rahmen der judäischen Königsgeschichte ein. Mit dieser absoluten temporalen Gliederung korrespondiert in den beiden Erzählteilen 18,9. 10t* 1 und 13ff. zum einen eine unterschiedliche - wenn auch nur indirekte - Lokalisierung des erzählten Geschehens (in 9-irl.l Samaria, in 13-tfrl die Städte Judas). Zum andern sind beide Teile durch ein insgesamt unterschiedliches Inventar von Ereignisträgern (Salmanassar und Samaria in 9, Sanherib und die Städte Judas in 13) geprägt, wobei die Ereignisträger "Samaria" und die "Städte Judas" als Opfer der Aggression indirekt zugleich als lokale Indikatoren der assyrischen Truppenbewegungen fungieren. Nicht nur stilistisch, wie wir oben 3.2.1.3 gesehen haben, sondern auch inhaltlich gehören beide Teile als Kontrastschilderungen aufs engste zusammen und sind parallel strukturiert. Die assyrische Bedrohung des Nordreichs durch Salmanassar unter König Hoschea, die mit der Einnahme der Hauptstadt Samaria endet (10-ir 1), ist die dunkle Hintergrundsfolie zur assy-

71

Vgl. B.S. Childs (1967, 73-76 und 94ff.).

128

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

nschen Besetzung Judas durch Sanherib zehn Jahre später unter Hiskija (18,13), die mit der Einnahme der Südreichshauptstadt Jerusalem zu enden droht (vgl. 18,17ff.). Dabei liegen die Kennzeichnungsprofile aller geschichtenbezogenen Merkmale in beiden Teilen kategorial auf derselben Ebene: Die Jahrzahlzählung bezieht sich jeweils auf die Regierungszeit Hiskijas, der weder in V.9 noch in V.13 als Ereignisträger in Erscheinung tritt. Der assyrische König ist in beiden Teilen namentlich und funktional ("IWK "[^D) gleichartig gekennzeichnet (vgl. nur noch 19,36^3). Ferner entspricht das belagerte Samaria ( 9 ^ 3 ) einerseits dem bereits eroberten Südreichsterritorium ("Städte Judas"), signalisiert aber andererseits als eingenommene Nordreichshauptstadt (lOttl) das potentielle Schicksal Jerusalems. Es ist deshalb legitim, 18,9-lOifrl als S Z E N E 1 der mit V.13 anhebenden, parallelen S Z E N E 2 gegenüberzustellen und diese kurz Episode im Erzählanfang als Vorgeschichte einzustufen. Die Rahmenfunktion von 18,9 und 13 wird noch durch zwei weitere Beobachtungen unterstrichen. N u r am Ende der ABBJ-Erzählung, in 19,36, wird Sanherib noch einmal namentlich und funktional (T1B7K " p ö D^irtJO) gekennzeichnet wie in 18,13 bzw. Salmanassar in 18.9. Ferner wird die assyrische Bedrohung in 18,9 und 13 ganz parallel mit b v n b v im Anschluß an die Datierung zum Ausdruck gebracht. In der Schlußszene zieht Sanherib dagegen endgültig ab (DltO, 19,36t^3). Auf dieser im Kennzeichnungsrelief (temporal und personal) homogenen Rahmenebene zeichnen sich damit Grundachsen der Erzählung ab: zum einen die Bedrohung Israels durch Assur (Nord- und Südreich), zum andern die Alternative, daß das Land erobert wird (Samaria, Städte Judas) und die Hauptstadt untergeht (Samaria) oder daß der Aggressor abzieht und damit die Hauptstadt unversehrt bleibt (so das Ende der Erzählung). Entsprechend diesem noch weiter zu bestätigenden Ergebnis markieren und gliedern die absoluten Datierungen in 18,9 und 13 offenbar den Gesamtrahmen der Erzählung. Umso klarer wird damit, daß 18,9 auch unter erzähltextimmanenten Gesichtspunkten den Erzählanfang bildet. Hält man sich bei der Untergliederung der als S Z E N E 2 entfalteten Haupterzählung zunächst weiter an die temporalen Marken, so begegnen eine Reihe von verschiedenartigen, relativen Zeitangaben. a) 18,16-trl ist relativ zur absoluten Jahreszahldatierung in V.13. Diese Notiz unterbricht den Konsekutivmodus (Und-Verknüpfung) und ist deshalb als nachholende Erläuterung zu 15-ft-l zu interpretieren. Sie präzisiert genauer, was Hiskija von den Kostbarkeiten des Tempels hergegeben hat. Deshalb haben wir diese Notiz im Deutschen mit Plusquamperfekt übersetzt. Sie eröffnet keine neue Szene etwa mit neuen Ereignisträgern wie in 20,19 oder mit einer anderen Ereignisträgerkonstellation. Es handelt sich um einen deskriptiv-orientierenden Textteil in Szenenschlußsteilung.72

Vgl. dazu auch unten 6.4.2.1.

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

129

b) Die relativen Zeitangaben in 19,35-irl und i r i sind tageszeitrelativ. Merkwürdigerweise sind sie sowohl innerhalb des zeitlich sonst nicht weiter markierten sekundären Erzählteils von 19,9-fr3-36-fr2 als auch im temporalen Rahmen der umgreifenden ABBJErzählung ohne Bezug. Sie können deshalb nur als indefinit gegriffene Zeitmarkierungen interpretiert werden, um die Plötzlichkeit des in V.35 erzählten Befreiungswunders durch den m r r hervorzuheben, ohne daß im Kontext ein zeitlicher Situationsrahmen überhaupt eine Rolle spielt. c) Demgegenüber sind die zeidichen Markierungen durch temporale Nebensätze in 19,1 und 37 relativ auf das Vorher-Nachher der Ereigniskette bezogen. Sie haben aber in der ABBJ-Erzählung nur eine Gliederungsfunktion in Teilabschnitten, die zugleich auch lokal markiert sind, und werden deshalb unter dem Gesichtspunkt der lokalen Kennzeichnungsprofile näher erläutert.

3.3.2.2

Die Profile der lokalen Kennzeichnungen und die Abgrenzung von vier Teilszenen der Haupterzählung

Typisch für die ABBJ-Erzählung ist es, daß ihre Gesamtanlage mit den absoluten Zeitmarken in 18,9 und 13 primär temporal in die SZENEN 1 und 2 gegliedert wird. Insofern handelt es sich um eine historische Erzählung. 73 Dieser temporalen Gliederung ist die lokale untergeordnet. Die ABBJ-Erzählung ist unterhalb dieser Ebene einer primär historisch-temporalen Unterteilung konsequent durch lokale Indizierungen gegliedert. Nicht nur die beiden Parallel-SZENEN 1 und 2 sind über die zeitliche Indizierung hinaus indirekt auch lokal gekennzeichnet (Samaria/Städte Judas). Vor allem die vier Teilszenen der Haupterzählung (SZENEN 2.1 bis 2.4) sind primär durch lokale Angaben voneinander abgegrenzt. In der ersten Teil-SZENE (2.1) ist der Ort des Geschehens das judäische Umland ("Städte Judas", vgl. 18,13*1) mit Lachisch als herausgehobenem Schauplatz (V.14). Die zweite, sehr breit entfaltete Teil-SZENE (2.2) ist in Jerusalem lokalisiert (vgl. 17-irl und *3), die dritte (2.3) in Libna (19,8*2) und die vierte (2.4) in Ninive (36*4). In den SZENEN 2.1.0, 2.2.0 und 2.4.0 legen die Ortsangaben als Zielpunkte von Dislokationen auch den Ort des im

Daß Erzählungen überhaupt keine markierte temporale Gliederungsstruktur aufweisen können, zeigt das Beispiel von Am 7,10-17 (vgl. dazu C. Hardmeier, 1985 und 1986a). Die Art der Gliederungsstruktur und die Hierarchie der Gliederungsmerkmale in ihrer strukturbildenden Gliederungskraft ist von Erzählung zu Erzählung verschieden. Dabei gibt es natürlich verwandte Strukturtypen, die als Erzählgattungen beschrieben werden können. Die dominant temporale Gliederung der ABBJ-Erzählung mit zeitabsoluten Datierungssätzen weist auf eine in ihrem Selbstanspruch "historische" Erzählung, die sicher eng verwandt ist mit II Reg 22,3ff.; Jer 36 und anderen "historischen" Erzählungen (vgl. N. Lohfink, 1978).

130

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

folgenden erzählten Geschehens fest. 74 Dagegen läßt sich der Ort der Rückkehr des Rabschake (vgl. Dlttf) in 19,8-fr 1 nach Libna nur aus der weiteren Mitteilung in -tfr2 erschließen, daß er den König von Assur dort im Kampf gegen die (Widerstand leistende?) Festungsstadt in der Küstenebene 75 vorfand. Wichtig für den Aufbau der SZENE 2.3.0 ist die Beobachtung, daß mit dem "O-Satz in 8-fr 3 der Konsekutivmodus der erzählerischen Ereignisentfaltung unterbrochen und damit eine orientierende Erläuterung eingeleitet wird (2.3.0.1), weshalb Rabschake den König von Assur nicht mehr - wie von 18,17*1 her zu erwarten - in Lachisch antreffen konnte. Als Inhalt von Gehörtem ist deshalb die Angabe des Aufbruchortes Lachisch in 19,8*3.1 kein Indikator zur Lokalisierung der Szene. Mit 19,8-63 bis 9*2.1 (Teiltext 2.3.0.1) tritt an die Stelle der weiteren narrativen Entfaltung der Ereignisfolge eine Leserorientierung. Sie holt zur Ereigniserläuterung ein vorausliegendes Geschehen nach, von dem der Ereignisträger Rabschake seinerseits gehört hat, und wird deshalb wie 18,16 im Deutschen mit Vorvergangenheit wiedergegeben. Nur 19,8-fr 1 und * 2 bilden in der ganzen SZENE 2.3.0 den Fortgang der Ereigniskette unmittelbar ab. Bemerkenswert an dieser dritten Teilszene ist auch ihre Korrespondenz zur SZENE 2.1. Dort residiert der assyrische Aggressor in Lachisch, im bereits eroberten judäischen Land. In SZENE 2.3 ist er dagegen von Lachisch wieder aufgebrochen. Das ist der reale Anfang vom Ende der Bedrohung Jerusalems, die in SZENE 2.2 im Mittelpunkt steht. Vergleicht man die Lokalisierungen der Vorgeschichte und der vier Teilsituationen unter geographischen Aspekten, so zeigt sich eine länderübergreifende Globalperspektive im Rahmen, die in der Haupterzählung die Folie für ein regionales Geschehen im mittelpalästinischen Raum bildet. Zweimal rückt der assyrische König gegen das Nord- bzw. das Südreich und seine Hauptstädte heran (bv ilbV; 18,9.13), wobei mit der Kennzeichnung "König von Assur" indirekt der Ausgangspunkt seiner Feldzüge im Zweistromland mitgesetzt ist. Damit korrespondiert in der SZENE 2.4.0 Ninive, die Hauptstadt Assurs, wohin der Aggressor am Ende der Erzählung für immer zurückkehrt (310, vgl. 19,36*3 und -fr4). Auch unter diesem geographischen Kontrastgesichtspunkt bestätigt sich die nach temporalen Kriterien gewonnene Erkenntnis einer homogenen Globalstruktur des Rahmens. Die SZENEN 1 (18,9.10*1), 2.1.0 (18,13) und 2.4.0 (19,36*3 und *4) bilden diesen Rahmen in inhaltlicher wie stilistischer Hinsicht ab.

74

75

in 18,13*1 (vgl. par. 9*1.1) und 17*2, mit K13 in 17*3, ferner in 19,37*3 31®. Zur Ortslage von Libna vgl. O. Keel/ M. Küchler (1982, 880f.), zu Lachisch und seiner Geschichte, a.a.O. 881-904.

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

131

Alle in diesen Globalrahmen eingebetteten Teilszenen sind ihrerseits untereinander topographisch homogen durch regionale Ortsangaben gekennzeichnet. In einer namentlich genannten Stadt oder um eine bestimmte Ortschaft herum kommt das Geschehen in den vier herausgehobenen Situationen zur Darstellung. Offensichtlich ist dabei der extrem unterschiedliche Umfang dieser vier, auf gleicher Ebene liegenden Teilszenen, wenn man etwa die Jerusalem-Szene (2.2) mit einem Gesamtumfang von 27 Versen mit der Libnaszene (2.3) oder der Niniveszene (2.4) vergleicht, die beide knapp zwei Verse umfassen. Diese Disproportionen auf einer kategorial homogenen Vergleichsebene geben einen ersten Hinweis auf die Kondensierungsbzw. Detaillierungsproportionen der Gesamterzählung. Entsprechend ihrer kategorialen Gleichwertigkeit werden diese vier Szenenabschnitte in der Dezimalklassifikation durch die zweite Stelle (2.1-2.4) differenziert ohne Rücksicht auf ihren Umfang. Dies hat noch extremer für unsere Unterscheidung von insgesamt nur zwei Grund-SZENEN 1 und 2 in ihrer Disproportionalität gegolten. Die Situationen 2.1, 2.2 und 2.4 weisen in sich eine weitere lokale Gliederung auf. Sie ist in 2.2 und 2.4 kleinräumig-lokaler Natur und grenzt in 2.1 das Geschehen in der Region Juda auf die Stadt Lachisch ein (18,14-frl: 2.1.1). In der umfangreichen Jerusalemszene (2.2) werden in der Darstellung zwei Schauplätze im Stadtbereich herausgehoben: der Standort an der Wasserleitung bei der Walkerfeistraße (17-£r6)76, der für die Teilszene 2.2.1 (18,17-0-6 bis 36) vorausgesetzt wird, und der Bereich des Tempels (19,1-6-3), der den lokalen Hintergrund der zweiten Teilszene 2.2.2 in 19,1-7 bildet. Vergleichbar mit der Teilszene 2.2.2 wird in 2.4 die Ermordung Sanheribs nach seiner Rückkehr nach Ninive im Nisroch-Tempel lokalisiert (19,37-fr 1.1: Teilszene 2.4.1) und für die Flucht seiner Mörder der Zielort angegeben (Land Ararat, 3 7 # 2 : Teilszene 2.4.2). Dieser abgeleiteten zweiten lokalen Differenzierungsebene ist die dritte Stelle innerhalb der Dezimalklassifikation zugeordnet. Die besondere Korrespondenz der SZENEN 2.2 und 2.4 in ihrem inneren Aufbau zeigt sich auch an ihrer temporalen Binnengliederung. In den Teiltexten 2.2.2.0 (19,1) und 2.4.1 (37-frl) liegen die beiden einzigen Zeitindikatoren in Gestalt von temporalen Nebensätzen vor, die mit T H + Nebensatz auf die implizite Vorher-Nachher-Relation der Ereigniskette bezogen sind. 77 Dabei läuft diese temporale Gliederung zur lokalen Ausdifferenzierung der Teilschauplätze des Geschehens im Tempelbereich der beiden Reichshauptstädte Jerusalem und Ninive genau parallel.78 Bemer-

76

77 78

Zur Lage der Walkerfeldstraße vgl. H. Wildberger ( 2 1980, 276) und E. Otto (1980, 64). Vgl. oben 3.3.2.1. Daran zeigt sich in erzähltheoretischer Hinsicht, daß verschiedenartige temporale

132

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

kenswert an dieser strukturellen Verwandtschaft der SZENEN 2.2 und 2.4 ist auch, daß sie damit in der Erzählarchitektur ein Gegenstück bilden zu der besonderen Korrespondenz, die wir zwischen den SZENEN 2.1. und 2.3 beobachtet haben. Bei der Gliederung der Teilszenen 2.1, 2.2 und 2.4 im einzelnen werden mit "0" in der dritten Stelle jene Teiltexte abgegrenzt,79 in denen im (Teil-)Szenenanfang der lokale Rahmen eines Geschehenszusammenhangs gestiftet wird, der seinerseits eine weitere lokale Differenzierung erfährt 80 oder - wie in 2.2.1.1 und 2.2.2.1 - durch die Ereignisträgerkonstellationen nach einzelnen Handlungssequenzen weiter untergliedert wird. Bis auf 19,14-63 haben wir damit alle lokalen Indikatoren der ABBJ-Erzählung berücksichtigt. Dieses isolierte Vorkommen einer lokalen Angabe in dem vermutlich sekundären Teiltext 1 9 , 9 * 3 - 3 6 * 2 bestätigt unsere Beobachtungen bei den temporalen Kennzeichnungsprofilen. Temporale wie lokale Indikatoren fehlen hier weitgehend und treten nur sporadisch auf, ohne - wie im Falle der ABBJ-Erzählung - eine Gliederungsfunktion zu übernehmen und ohne einen übergreifenden Bezugsrahmen. Daran zeigt sich daß der Teiltext II Reg 1 9 , 9 * 3 - 3 6 * 2 an einer situationskonkreten historisch-lokalen Verortung des erzählten Geschehens nicht interessiert ist, bzw. sich diesen Rahmen von seiner Umgebung leiht.

3.3.2.3

Detaillierung und Kondensierung in der temporalen und lokalen Reliefgebung der ABBJ-Erzählung - Der Kontrast zu II Reg 19,9*3-36*2

Die Basisgliederung der ABBJ-Erzählung in eine Vor- und Hauptgeschichte (SZENE 1 und 2) ist primär temporal durch absolute Datierungen markiert. Demgegenüber wird die Haupterzählung primär lokal in vier Haupt- und eine Reihe von Teilszenen untergliedert (SZENEN 2.1 bis 2.4). Auf diese Weise kommt die Ereigniskette lückenlos in einer Abfolge von ganz unterschiedlich detaillierten bzw. kondensierten Szenen zur Darstellung, die durch ein in sich stimmiges lokal-temporales Gerüst zusammengehalten werden. Wichtig sind dabei die Kontraste und die ungleichmäßigen

Indikatoren auf hierarchisch ganz unterschiedlichen Ebenen eine Gliederungsfunktion übernehmen können. Für die ereignisrelativen Zeitangaben ist zu vermuten, daß sie den absoluten Zeitangaben in der Gliederungskraft nachgeordnet sind. Im vorliegenden Falle sind sie sogar der lokalen Ereignisgliederung nach regionalen Schauplätzen untergeordnet und liegen auf der gleichen Ebene wie die kleinräumigeren Differenzierungen innerhalb eines Ortes. 79

Vgl. 18,13, V . 1 7 * l - * 5 ; 19,8 und 3 6 * 3 - * 4 .

80

So in 2.1.1 ( 1 8 , 1 4 * 1 ) , in 2.2.1 ( V . 1 7 * 6 ) , in 2.2.2 ( 1 9 , 1 * 3 ) und 2.4.1 ( V . 3 7 * l . l ) .

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

133

Schwerpunkte dieser Kennzeichnungen. In temporaler Hinsicht wird nur der globale Rahmen betont historisch eingeordnet. Insbesondere an der Datierung von weiteren zentralen Ereignissen wie etwa dem Abzug von Sanherib oder seiner Ermordung zeigt der Autor der Erzählung kein Interesse. Die Haupterzählung erweist sich in historisch-temporaler Hinsicht als sehr kondensiert. 81 Zwar liegt dem Autor an der historischen Verankerung des erzählten Geschehens insgesamt, nicht aber am chronologischen Aufriß der Ereignisfolge im einzelnen. Ein durchaus vorstellbares annalistischchronistisches Erzählinteresse kann deshalb für die ABBJ-Erzählung ausgeschlossen werden. Das Fehlen von weiteren temporalen Indikatoren heißt jedoch nicht, daß sich der ganze Geschehensablauf der Haupterzählung in 18,13-19,37 im 14.Jahr Hiskijas abgespielt haben muß. Fehlende weitere Datierungen weisen nur daraufhin, daß kein Primärinteresse an einer historisch-chronologischen Nachzeichnung des Geschehens in einem zeitdokumentarischen Sinne bestanden haben kann. Ähnliches ist auch am lokalen Kennzeichnungsrelief zu beobachten. Zwar bildet sich die szenische Grobgliederung lückenlos in lokal gekennzeichneten Situationen und Teilszenen ab. Dennoch gibt es eine Reihe von lokal nicht markierten Teilszenen, die nicht den expliziten Ortsangaben subsummiert werden können und auf eine auch in lokaler Hinsicht z.T. erheblich kondensierte Darstellungsweise hindeuten. Die Ubergabe des von Sanherib geforderten Tributs (18,15) wird in der Perspektive des Erzählers nicht notwendig auch in Lachisch (18,14-61) stattgefunden haben müssen. Wo die Minister nach 18,37 Hiskija aufgesucht haben, ist nicht von Interesse. An der Walkerfeldstraße kann sich Hiskija jedenfalls nicht aufgehalten haben. Ebensowenig sind die beiden Unterredungen mit Jesaja in 19,2-7 lokal genauer markiert. Für den Erzähler ist nur wichtig, daß Hiskija angesichts der ernsten Bedrohung Jerusalems den Tempel aufgesucht (19,1) und möglicherweise von dort aus den Auftrag erteilt hat, Jesaja um eine Fürbitte zu ersuchen. Am extremsten ist die lokale Kondensierung im Hauptabschnitt 2.3. Nur indirekt 82 erfährt der Leser den Zielpunkt von Rabschakes Abzug vor Jerusalem, und das Abrücken Sanheribs von Lachisch kommt nur als metanarrative Erläuterung dessen zu Sprache, was Rabschake "gehört" haben soll (vgl. 1 9 , 8 * 3 fO] und Hr3.1). Diese Kondensierungsphänomene sind bei der Gesamtinterpretation der Erzählstruktur zu berücksichtigen, wenn wir auch das Kennzeichnungsrelief der Ereignisträger und das Gefüge der Ereigniskette genauer untersucht haben. Doch läßt sich schon beim jetzigen Stand der Untersuchung ein großer Kontrast zwischen dem sekundären Textstück von 19,9-fr3-36-A-2 und dem Grundbestand der ABBJ-Erzählung feststellen. Diesem Teilstück

81 82

Vgl. im Gegensatz dazu den "Königsrahmen" im DtrG. Vgl. oben 3.3.2.2.

134

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

fehlt eine durchgängige lokal-temporale Gliederung. Es scheint im Gegensatz zum Grundbestand nirgends an einem situativen Kolorit interessiert zu sein. Gerade an diesem durchgezeichneten Situationskolorit hängt aber entscheidend die Anschaulichkeit und Vorstellbarkeit der Grunderzählung. Das weist beide (Teil-)Erzählungen als ganz verschiedenartige, von anderen Erzählinteressen geleitete Darstellungen aus. Damit ist auch textphänomenologisch ein erster Verdacht begründet, daß 19,9*3-36*2 nicht primär zur ABBJ-Erzählung gehört und dieser nachinterpretierend hinzugefügt ist. Dieser Verdacht wird durch die folgenden Beobachtungen der Erzählstruktur weiter erhärtet. 3.3.2.4

Das Inventar und die Kennzeichnungsprofile der Ereignisträger

Im Unterschied zu den temporalen und lokalen Indikatoren als Repräsentationen des Raum-Zeitkontinuums eines erzählten Ereigniszusammenhangs hängt die Anzahl der Ereignisträger ganz von der Art und vom Inhalt der jeweiligen Erzählung ab. Der Umfang des Ereignisträgerinventars kann deshalb nur ad hoc aus der jeweiligen Erzählung selbst erhoben werden. In den ABBJ-Erzählung fällt dieses Inventar besonders reichhaltig aus. Dabei lassen sich die dramatis personae z.T. auch in Gruppen zusammenfassen, deren Exponenten in verschiedenen Teilsituationen durch jeweils unterschiedliche Personen repräsentiert sein können. In der ABBJ-Erzählung sind drei Gruppen zu unterscheiden: 1. Ereignisträger auf assyrischer Seite, 2. Ereignisträger auf judäischer Seite sowie 3. nicht-judäische Gegenspieler Assurs. Wichtig für die Eigenart der einzelnen Profile ist die Beobachtung, wo und wie Ereignisträger (wiedereingeführt und ob sie pro- oder re- bzw. teilrenominalisiert aufgenommen werden. Die Kennzeichnungsprofile der Ereignisträger auf assyrischer Seite sind aufs Ganze gesehen wenig differenziert. Der assyrische König wird auf der ersten Ebene der Kommunikation bei Renominalisierungen stets nur funkgekennzeichnet. 83 Nur am Anfang und am Ende der tional als TlttfK Erzählung wird zusätzlich auch sein Name genannt: Salmanassar in der Vorgeschichte, in 18,9*1.1, Sanherib in der Ausgangsszene der Haupterzählung in 2.1.0 (18,13*1) und in der Eröffnung der abschließenden Niniveszene 2.4.0 (19,36*3). Dieser semantisch kaum ins Gewicht fallende Unterschied im Profil des assyrischen Königs ist ein weiteres Indiz dafür, daß unsere Abgrenzung von Vor- und Hauptgeschichte (SZENEN 1 und 2) aufgrund von temporal-lokalen Gliederungskriterien richtig ist. Deutlich ist damit die Rahmenthematik der ganzen Erzählung von der Bedrohung des Südreichs und Jerusa-

83

Vgl. 1 8 , 1 4 * 1 . * 5 . 1 6 * 2 . 1 7 * 1 und 19,8*2 (5mal).

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

135

lems durch Assur sowie von der Abwendung dieser Bedrohung bestimmt, die im vollständigen Rückzug des Assyrers endet. Deshalb nennen wir diese Erzählung ABBJ-Erzählung: die Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems, wobei Jerusalem in der umfangreichsten zweiten Szene ab 18,17ff. das Hauptopfer der assyrischen Bedrohung ist. Daß der Erzähler auf der ersten Ebene der Kommunikation nirgends die volle Titulatur bviin "[bon übernimmt, die er dem Rabschake in seinen Reden in den Mund legt (18,19-£r3 und 28^4!), verrät seine Distanz zum Assyrer. Das Kennzeichnungsprofil der assyrischen Unterhändler beschränkt sich auf rein funktionale Bezeichnungen. Dabei werden nur einmal und nur in der K-Version drei assyrische Hofbeamte in 17-ir 1 genannt, während im übrigen nur noch Rabschake in Erscheinung tritt. 8 4 Daß Rabschake in der Erzählung stets als Sprecher einer Gruppe fungiert und die K-Version diese Ereignisträger bei ihrem ersten Auftreten zu Recht auch als Gruppe einführt, bestätigt die Bezugnahme auf die ~nt5K "'"ISJJ im Plural im Gottesbescheid in 19,6, die mit ihren Reden Jahwe gelästert haben. Wäre die J-Version konsequent, müßte sie in Jes 37,6 einen Singular lesen. Der Beamtentitel "¡mn begegnet außerhalb der HKJ-Erzählungen nur in Jes 20,1 und Hp2? ist im AT nur in unserem Textzusammenhang belegt. Ein C I O 3T wird auch noch in der babylonischen Hofbeamtengruppe erwähnt, die bei der Einnahme Jerusalems um 587 nach Jer 39,3f. im "mittleren Tor" auftauchte und Zidkija zusammen mit dem Restheer zur Flucht veranlaßte. Diese einzigen inneralttestamentlichen Parallelen von assyrisch-babylonischen Beamtenbezeichnungen mit dem Element 3") werden bei der Erschließung des situativen Hintergrunds der ABBJ-Erzählung noch von Bedeutung sein. Aus den zusätzlichen Namensnennungen in Jer 39,3.13 geht hervor, daß es sich um Funktionsbezeichnungen handelt, zu denen Eigennamen hinzutreten können. 85 Doch stehen sie überall ohne Determination und werden deshalb offenbar als Eigennamen aufgefaßt. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kennzeichnungsprofile der assyrischen Seite bestätigt sich der heterogene Charakter des sekundären Textteils II Reg 19,9-ir 3-36-62. Der König von Assur wird auf der ersten Ebene der Kommunikation überhaupt nur pronominal aufgenommen (vgl. 19.9-A-3 und 36-frl und 2). Seine Unterhändler sind auf die Funktion von reinen Botschaftsübermittlern reduziert (vgl. 19,9*3 und 14-ir 1), ohne jedes eigene Handlungsprofil, wie es bei Rabschake der Fall ist. Sie spielen auch im Notgebet Hiskijas von 19.15-A-3-19 ganz im Unterschied zu 19,4-fr 1 und 6i!r4.2 keine Rolle. Andererseits tritt in 19,35^3 das assyrische Heerlager mit der Bezeichnung "IlttfK nJilQ als Opfer des miT in Erscheinung, während es

84

Vgl. 1 8 , 1 9 * 1 . 2 6 * 1 . 2 7 * 1 . 2 8 * 1 und 1 9 , 8 * 1 (5mal).

85

Vgl. zum Titelelement DI U . Rüterswörden (1985, 56 und 63). Es handelt sich um einen "späten Wortgebrauch" (a.a.O. 63).

136

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

in der Grunderzählung keine Rolle spielt und nur einmal in 18,17-61 als ^-n HDD erwähnt wird. So sehr die militärische Bedrohung im Rahmen der ABBJ-Erzählung im Vordergrund steht, so wenig ist davon in der Jerusalemszene ab 18,17ff. zu spüren. Auch dieser merkwürdige Zug wird noch zu bedenken sein. Im Gegensatz zu den Kennzeichnungsprofilen der assyrischen Seite ist die Kennzeichnungsvielfalt und die Zahl der judäischen Ereignisträger erheblich größer. Schon rein quantitativ dokumentiert sich darin der judäische Erzählstandpunkt, der mit seiner differenzierteren Innenperspektive im Kontrast steht zu einer vorwiegend funktional geprägten Außenperspektive der assyrischen Seite. Zudem werden die Ereignisträger auf judäischer Seite vorwiegend namentlich genannt. Das suggeriert insgesamt eine Atmosphäre von Vertrautheit derer, die sich "kennen". Die Kennzeichnungsunterschiede Hiskijas sowohl in Hinsicht auf die Namensform (Kurzform in 18,13-16 gegenüber der Langform in 18,9.17ff.) als auch bezüglich der Funktionsbezeichnung ("König von Juda" in 18,13b-16, "der König" in 18,9.13a.l7ff.) sind - wie oben 3.2.1.4 gezeigt - darauf zurückzuführen, daß mit 18,13b-16 ein älteres, stilistisch andersartiges Textstück in den Erzählanfang eingearbeitet worden ist. Auffällig im Kennzeichnungsprofil Hiskijas ist, daß er in der Grunderzählung in den beiden größeren Szeneneinsätzen in 2.2.0 (18,17-61) und 2.2.2.0 (19,1*1.1) ebenso wie in 2.1.1.1 (18,14*1) und 2.1.1.2 (V.14*5) funktional und namentlich gekennzeichnet wird ("irPpTn "|bon). 86 Innerhalb der Szenen selbst jedoch wird er dann entweder nur funktional (18,18*1, vgl. 1 8 , 9 * 1 und 1 3 * 1 in den Datierungssätzen) oder nur namentlich ( 3 7 * 1 , vgl. 1 5 * 1 . 1 6 * 1 und 19,3*2) genannt. Kaum zufällig wählt der Erzähler dort die nur funktionale, "unpersönlichere" Kennzeichnung, wo Hiskija von den assyrischen Unterhändlern herausgefordert wird. Im Falle der "vertraulicheren" Berichterstattung der judäischen Minister an den König in 18,37 wird dagegen die namentliche Bezeichnung bevorzugt, die eine größere Nähe signalisiert. Treten funktionale und namentliche Personenkennzeichnungen in Opposition zueinander auf, so dürfte - erzähltheoretisch betrachtet - die namentliche Kennzeichnung eher eine Insider-, die funktionale eher eine offiziell-förmliche Outsider-Perspektive dokumentieren. Deshalb wirkt die titellose nur namentliche Kennzeichnung im Munde des assyrischen Unterhändlers umgekehrt höchst anmaßend und respektlos, 87 als wären er und sein Großkönig mit Hiskija auf Du. Denn der Erzähler läßt andererseits den Rabschake von seinem eigenen Herrn ehrerbietig mit dem vollen Titel

86

Vgl. noch 19,5-frl, dort aber nicht als Ereignisträger.

87

Vgl. 1 8 , 1 9 * 2 . 2 2 * 2 . 2 8 * 2 . 3 0 « 1 . 3 1 * 1 . 3 2 * 3 .

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2

137

seiner Majestät reden. 88 Im sekundären Textstück von 1 9 , 9 * 3 - 3 6 * 2 sind diese unterschiedlichen Kennzeichnungsakzente genau umgekehrt. Eine funktionale Kennzeichnung Hiskijas fehlt auf der ersten Ebene der Kommunikation ganz. Der König wird auch dort nur namentlich genannt, wo er - ganz parallel zu 18,18*1 - die assyrische Botschaft empfängt (19,9*3). Dagegen wird er in der Botschaft selbst respektvoll als "König von Juda" tituliert. 89 Auch daran bestätigt sich der heterogene Charakter dieses Teiles. Ganz analog zum Kennzeichnungsprofil des Königs ist dasjenige Jesajas. In 19,2*1 wird der Prophet in der Ersterwähnung mit Namen und Funktion eingeführt und in 5 * 1 und 6-61 dann zweimal nur namentlich renominalisiert. Dabei ist die Verwandtschaftsbezeichnung ("pDK p ) in 2 * 1 deutlich sekundär (vgl. oben 3.2.2) im Gegensatz zum Vorkommen im heterogenen Textteil von 19,9*3ff. (vgl. 2 0 * 1 ) . Den Kennzeichnungsprofilen von Prophet und König stehen die Profile der judäischen Minister auffällig gegenüber. Zwar werden auch sie namentlich und funktional gekennzeichnet. Doch wird diese ausführliche Kennzeichnung 1. mit Ausnahme von 18,26 jedesmal voll wiederholt und 2. findet sich bei Eljakim und bei Joach - im Gegensatz zu Jesaja - auch noch zusätzlich regelmäßig die Abstammungsangabe.90 Deshalb kann hier von einer signifikanten, in die Augen springenden Detaillierung im Kennzeichnungsprofil gesprochen werden, die, im Gesamtrelief betrachtet, deutlich abweicht und auch nicht, wie im Falle der namentlichen Kennzeichnung des Königs von Assur am Anfang und am Schluß der Erzählung kompositionelle Gründe hat. In allen Renominalisierungen nach der vollen Einführung in 18,18*2 hätten - wie im Falle Jesajas und Hiskijas - einfache Namensnennungen91 oder Teilrenominalisierungen mit Funktionsbezeichnungen vollauf genügt. Daß im Falle der judäischen Minister in einer derart hypertrophen und für unser Stilempfinden betulich wirkenden Weise renominalisiert wird, muß wiederum im Blick auf den situativen Erzählhintergrund im Auge behalten werden. Diese Ministergruppe scheint dem Erzähler besonders wichtig und hervorhebenswert gewesen zu sein, obschon sie im Ganzen der Erzählung nur eine untergeordnete Vermittlerrolle spielt. Auffällig an diesem Kennzeichnungsprofil der Minister ist auch, daß in der Ministerdelegation zu Jesaja in 19,2*1 statt des Kanzlers Joach plötzlich die D^rDiVapT auftreten ("Ältesten der Priester"). In 19,5*1 wird die Grup-

88 89

90

91

Vgl. 18,19*3 und 2 8 * 5 . Vgl. 1 0 * 1 im Gegensatz zu 18,19*2 und zu den nur namentlichen Nennungen in 19,14*1*4.15*1 und 2 0 * 1 . Vgl. 18,18*2.37*1; in 18,26*1 wird nur bei Eljakim und nur in der K-Version die Abstammung genannt, jedoch ohne Funktionsbezeichnungen. So in 18,26, aber auch dort wie in der J-Version ohne die Herkunftsangaben.

138

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

, 13JJ bezeichnet. Das sind weitere Punkte, die für den pe singulär als Situationsbezug der Erzählung signifikant sein könnten. Entsprechend dem kaum vorhandenen Situatiönskolorit im sekundären Teiltext 19,9iV3ff. werden dort auch die Minister, die in der Grunderzählung so stark im Vordergrund stehen, in ihrer Vermittlerfunktion ersatzlos weggelassen. Das steht in genauer Analogie zur dortigen Reduktion der so farbigen assyrischen Unterhändlerfigur des Rabschake auf eine Gruppe völlig profilloser Briefboten. Zu den übrigen, nur sporadisch auftretenden Ereignisträgern kann nicht viel gesagt werden. Es sind dies neben dem Volk als Adressat Rabschakes 92 auch die Hauptstadt Samaria (18,9-^1.1.^3 und 10-frl) und die Städte Judas (13-sV 1-tV2) als Opfer der assyrischen Aggression.93 Ferner begegnen Jahwe und sein Bote als Ereignisträger nur im sekundären Textteil von 19,9-63ff. in 19,14t^4.15t^1 und 35-frl. Demgegenüber ist Jahwe in der Grunderzählung nirgends direkt als Ereignisträger in das erzählte Geschehen einbezogen. In ihr wird jedoch entsprechend der situationskonkreten Darstellungsweise die Jerusalemer Bevölkerung mit in den Blick genommen, die von der assyrischen Bedrohung am meisten betroffen war, während "das Volk" im sekundären Textteil ebenso fehlt wie die Ministergruppe in ihrer anschaulichen Vermittlerrolle. Aber auch der König wendet sich in diesem nachinterpretierenden Teil ohne prophetische Vermittlung direkt an Jahwe (19,14^315-irl) und die Vernichtung des assyrischen Heeres wird als direkte Tat Jahwes bzw. seines Boten erzählt (19,35). Auch darin dokumentieren sich die ganz unterschiedlichen Erzählakzente in beiden Textteilen und ihr heterogener Charakter. Der Teil 19,9-^3-36-^2 hebt sich damit auf allen Kennzeichnungsebenen, d.h. in seinem gesamten Kennzeichnungsrelief von der Grunderzählung ab, so daß an seinem sekundären Charakter unter textphänomenologischen Gesichtspunkten kein Zweifel sein kann.

Vgl. 18,36-ft-1 und 6 2 und die Adressateneinführung im Rahmen des Ministerdialogs in 18,27. Zu erwähnen sind neben Asarhaddon ( 1 9 , 3 7 6 2 ) noch die Mörder Sanheribs als tödliche Gegenspieler des Großkönigs (vgl. 19,3761), während Tirhaka ( 1 9 , 9 6 1 und 6 2 ) als Kontrahent Sanheribs nur im Rahmen einer nachholenden Erläuterung durch den Erzähler in den Blick genommen wird (vgl. dazu oben 3.3.2.2) und deshalb nicht als Träger der unmittelbar erzählten Ereignisfolge gelten kann.

Die ABBJ-Erzählung in ihrem Aufbau

3.3.2.5

3.3.2

139

Der Aufbau der Ereigniskette im Gesamtrahmen der ABBJ-Erzählung und in den vier Teilszenen der Hauptgeschichte

Im Durchgang durch die Kennzeichnungsprofile der Zeit- und Ortsangaben haben sich bereits die wesentlichen Szenen der Haupterzählung zuverlässig abgrenzen lassen. Dabei zeichnen sich diese vier tragenden Szenen (2.1 bis 2.4) ihrerseits auch durch die An- bzw. Abwesenheit jeweils entscheidender Ereignisträger aus. In 2.1 (18,13-16) stehen sich Sanherib und Hiskija allein und direkt gegenüber. In 2.4 (19,36-^2-37) ist nur noch von Sanherib und seinen Mördern die Rede. Wie eine äußere Zwiebelschale legen sich diese Eingangs- und die Schlußszene um die beiden Kernszenen 2.2 und 2.3. In diesen Rahmenszenen stehen die beiden Herrscher der im Konflikt liegenden Staaten mit ihren Kontrahenten direkt im Vordergrund des Geschehens. In den beiden Innenszenen treten sie dagegen ganz zurück. In diesen beiden Mittelszenen 2.2 (18,17-19,7) und 2.3 (19,8-9^2) bestimmen im wesentlichen die Vertreter und ausführenden Organe der beiden Monarchen das Geschehen. Auf assyrischer Seite agiert der Unterhändler Rabschake im Vordergrund, der in 2.2 allein (bzw. zusammen mit Tartan und Rabsaris) Jerusalem belagert und als direkter Gegenspieler der Jerusalemer Minister auf den Plan tritt, jedoch in 2.3 wieder zu seinem Herrn zurückkehrt. Auf judäischer Seite spielen Hiskijas Minister und Jesaja überhaupt nur in der zentralen Jerusalemszene (2.2) ihre entscheidenden Rollen. Vor allem die Minister stehen mit ihren Aktivitäten ganz im Vordergrund. Demgegenüber beeinflußt der König von Assur das Geschehen in dieser zweiten Szene nur am Anfang als Absender der Unterhändler-Delegation (18,17^1) und kommt erst in 2.3 - bereits in Kampfhandlungen gegen Libna verwickelt und von Lachisch abgerückt - wieder ins Blickfeld (19,8). Ganz analog dazu bleibt auch Hiskija in der Jerusalemszene im Hintergrund. Zwar wird er eigentlich von der assyrischen Gesandtschaft angesprochen (18,18-irl), aber er läßt sich durch seine Minister vertreten, wird von ihnen dann eigens informiert (37) und veranlaßt, wiederum nur vermittelt durch sie, den Propheten Jesaja zur Fürbitte (19,2-fr 1). Auch in den beiden Teilszenen 2.2.1 (18,17-£r6-37) und 2.2.2 (19,1-7), wo das Geschehen seine höchste Detaillierung erfährt, korrespondiert mit der temporal-lokalen Grenze in 19,1 ein signifikanter Konstellationswechsel der Ereignisträger. Rabschake tritt nicht mehr auf, dafür kommt der Prophet Jesaja ins Spiel und auch die Zusammensetzung der Ministerdelegation verändert sich in 19,2-A-1. Statt des Kanzlers Joach gehen "die Altesten der Priester" mit zu Jesaja. Nur Hiskija und Eljakim mit Schebna überspannen das ganze Handlungskontinuum der Jerusalemszene. Während diese sehr umfangreiche und zentrale Szene gesondert zu betrachten sein wird (vgl. 3.4), sind hier die Szenenfolge der Haupterzählung als solche und die vergleichsweise schlichten Binnenstrukturen der Teilszenen 2.1, 2.3 und 2.4 kurz zu erläutern.

140

Kapitel 3

Kontext und Aufbau der ABBJ-Erzählung

In 2.1 reagiert Hiskija auf die Besetzung des Landes Juda durch Sanherib mit einem Unterwerfungs- und Tributleistungsangebot, auf das Sanherib auch eingeht. 2.1.0 (18,13) benennt in Parallele zur Vorgeschichte die Grund- und Ausgangssituation der ganzen Haupterzählung: die Bedrohung Jerusalems durch Assur, nachdem das Umland bereits erobert ist und das Beispiel Samarias (18,9.10-frl) für die judäische Hauptstadt das Schlimmste befürchten läßt. In der Teilszene 2.1.1 (V. 14-16) unternimmt Hiskija einen ersten Versuch, diese Bedrohung abzuwenden. Diese Szene gliedert sich in drei gleichwertige Teile, die sich durch den Wechsel der Handlungsrollen voneinander abgrenzen. Hiskija macht ein Unterwerfungsangebot und erklärt sich zur Tributzahlung bereit (2.1.1.1, V.14-£rl-i!r4). Die detaillierende Fassung in der direkten Rede (18,14^2-^4) streicht dieses Angebot noch besonders heraus. Teil 2.1.1.2 (V.14i!r5) berichtet die Festsetzung des Tributs durch Sanherib. In kondensierender Darstellungsweise wird damit de facto das Eingehen Sanheribs auf Hiskijas Angebot mitgeteilt. Nach 2.1.1.3 (V.15) geht Hiskija auf die Forderung ein. Außerhalb des Konsekutivmodus schließt sich in 2.1.1.3.1 (V.16) eine historische Erläuterung durch den Erzähler an. Hier hätte die ganze Erzählung eigentlich schon zu Ende sein können, wie Parallelen zeigen. 94 Doch mit 18,17ff., der Jerusalemszene 2.2, geschieht das Unerwartete. Der König von Assur schickt trotz Hiskijas Tributleistung und Unterwerfung eine Unterhändlerdelegation mit einem großen Heereskontingent (18,17-frl) gegen Jerusalem und verstärkt auf diese Weise seine Bedrohungspolitik, statt - wie von Hiskija erwartet (vgl. V.14^3) - abzuziehen. Wie immer diese Bedrohung innerhalb von 2.2 noch näher ausgestaltet wird (2.2.1) und was auch immer die Judäer an Maßnahmen zur Abwendung dieser Bedrohung im einzelnen unternommen haben (2.2.2), die dritte Teilszene (2.3) jedenfalls läßt den assyrischen Unterhändler Rabschake wieder von Jerusalem abrücken und zu seinem Herrn - inzwischen in Libna - zurückkehren. Diese dritte Teilszene 2.3 zeichnet sich, wie bereits oben beobachtet, durch eine besonders kondensierte Darstellungsweise aus. Nur die beiden ersten Sätze 19,8