Predigtlehre: Über religiöse Rede 9783525624272, 9783647624273

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Predigtlehre: Über religiöse Rede
 9783525624272, 9783647624273

Table of contents :
7 Vorwort
15 Prolegomena:
Die Predigt in der Kultur der Gegenwart
15 1. Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung
21 2. Die Predigt im Kontext einer neuen Kultur
der Spiritualität
23 3. Die Predigt im Kontext von Individualisierung
und Pluralisierung
27 4. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede
33 Grundlegung:
Aspekte einer religionshermeneutischen Theologie
und Praxis der Predigt
33 1. Die Predigt als öffentliche religiöse Rede
35 2. Die Theologie der religiösen Rede
39 3. Die Rhetorik der religiösen Rede
44 4. Der Situationsbezug der religiösen Rede
50 5. Der Erfahrungsbezug der religiösen Rede
53 6. Die religiöse Rede und der biblische Text
60 7. Die religiöse Rede und die mediale Kultur
der Gegenwart
66 8. Die religiöse Rede und der christliche Glaube
71 9. Die Predigenden als die Subjekte der religiösen Rede
74 10. Die Hörenden als Adressaten der religiösen Rede
75 11. Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede
81 Durchführung:
Reflexionsperspektiven auf dem Weg zur Predigt
81 Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven
90 1. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik
92 1.1 Die Bibel als Basis der Predigt
107 1.2 Die Bibel in der modernen Lebenswelt
119 1.3 Das Zusammenspiel von Exegese und
Glaubenslehre
123 1.4 Textauslegung als religiöse Selbstauslegung
141 2. Religion verstehen: Homiletische
Religionshermeneutik
144 2.1 Die subjektive und die objektive Religion
159 2.2 Signaturen gegenwärtiger Religionskultur
179 2.3 Religion als Deutung religiöser Erfahrung
194 2.4 Gott und die Sinnfragen des Lebens
209 3. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre
210 3.1 Die religiöse Deutungsbedürftigkeit
215 3.2 Die religiöse Deutungskompetenz
222 3.3 Das Deutungsangebot des christlichen
Glaubens: Die Rechtfertigungsbotschaft
243 3.4 Die religiöse Deutungskraft des christlichen
Glaubens
265 4. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik
268 4.1 Der Vortrag der religiösen Rede
273 4.2 Die Expressivität der religiösen Rede
281 4.3 Die Sprache der religiösen Rede
289 4.4 Die Erbaulichkeit der religiösen Rede
302 Schluss: Eine Anleitung zum Predigen und
einige Beispiele aus der eigenen Predigtpraxis
329 Bibliographie

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Wilhelm Gräb

Predigtlehre Über religiöse Rede

Vandenhoeck & Ruprecht

Doris – der Predigerin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62427-2 ISBN 978-3-647-62427-3 (E-Book)

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: E Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

7 Vorwort 15

Prolegomena: Die Predigt in der Kultur der Gegenwart

15 21

1. Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung 2. Die Predigt im Kontext einer neuen Kultur der Spiritualität 3. Die Predigt im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung 4. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede

23 27 33

Grundlegung: Aspekte einer religionshermeneutischen Theologie und Praxis der Predigt

33 35 39 44 50 53 60

1. Die Predigt als öffentliche religiöse Rede 2. Die Theologie der religiösen Rede 3. Die Rhetorik der religiösen Rede 4. Der Situationsbezug der religiösen Rede 5. Der Erfahrungsbezug der religiösen Rede 6. Die religiöse Rede und der biblische Text 7. Die religiöse Rede und die mediale Kultur der Gegenwart 8. Die religiöse Rede und der christliche Glaube 9. Die Predigenden als die Subjekte der religiösen Rede 10. Die Hörenden als Adressaten der religiösen Rede 11. Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede

66 71 74 75

Inhalt

5 

81 81 90 92 107 119 123 141 144 159 179 194 209 210 215 222 243 265 268 273 281 289 302

Durchführung: Reflexionsperspektiven auf dem Weg zur Predigt Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven 1. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik 1.1 Die Bibel als Basis der Predigt 1.2 Die Bibel in der modernen Lebenswelt 1.3 Das Zusammenspiel von Exegese und Glaubenslehre 1.4 Textauslegung als religiöse Selbstauslegung 2. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik 2.1 Die subjektive und die objektive Religion 2.2 Signaturen gegenwärtiger Religionskultur 2.3 Religion als Deutung religiöser Erfahrung 2.4 Gott und die Sinnfragen des Lebens 3. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre 3.1 Die religiöse Deutungsbedürftigkeit 3.2 Die religiöse Deutungskompetenz 3.3 Das Deutungsangebot des christlichen Glaubens: Die Rechtfertigungsbotschaft 3.4 Die religiöse Deutungskraft des christlichen Glaubens 4. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik 4.1 Der Vortrag der religiösen Rede 4.2 Die Expressivität der religiösen Rede 4.3 Die Sprache der religiösen Rede 4.4 Die Erbaulichkeit der religiösen Rede Schluss: Eine Anleitung zum Predigen und einige Beispiele aus der eigenen Predigtpraxis

329 Bibliographie

6 

Inhalt

Vorwort

Religion entsteht durch religiöse Ansprache. Doch wie macht man das, Menschen religiös ansprechen, wahrhaftig, überzeugend, gewinnend? Wie kann es gelingen, die der Religion angemessene Sprache zu finden? Welchen Tonfall, welche Tonart braucht Religion, um sich mitzuteilen? Wer religiös spricht, redet nicht über die Religion oder die Religionen, nicht über die religiösen Institutionen, nicht über die Kirche und schon gar nicht über die Kanzelrede. Wer religiös spricht, redet aus Religion, aus religiöser Überzeugung, weil sie ihm selbst wichtig ist. Nur der, dem Religion selbst etwas bedeutet, will sie anderen mitteilen. Doch wie kann das gehen, ohne aufdringlich zu werden? Wie ist die Balance zu finden, von Nähe und Distanz? Wie kann ich, der ich aus Religion reden möchte, dies so tun, dass andere sich über sich selbst und ihre Religion verständigt finden, im Glauben gestärkt und zu neuem Lebensmut befähigt? Von der kirchlichen Predigt, sonntags oder bei alltäglichen Gelegenheiten, im Gottesdienst oder in den Medien wird immer noch etwas erwartet. Die Erwartung ist die, religiös angesprochen zu werden, bewegend, tröstlich, ermutigend. Existenziell soll die Predigt sein, den Glauben und die Botschaft ins Leben ziehen, um das Vertrauen der Glaubenden zu stärken. Wie kann die Predigt dieser Erwartung gerecht werden? Ist die kirchliche Predigt nicht viel zu sehr zum geradezu zwanghaft verordneten Element kirchlicher Rituale geworden, zu denen die meisten Menschen keinen Zugang mehr finden? Steht sie nicht unter enorm hochgeschraubten liturgischen, dogmatischen, biblisch-exegetischen und professionstheologischen Voraussetzungen, die es selbst den Freunden der Religion schwer machen, ihr zu folgen? Hat sie sich gar selbst daVorwort

7 

mit abgefunden, nur noch diejenigen anzusprechen, die die kirchliche Zeichensprache verstehen, mit der Liturgie des Gottesdienstes etwas anfangen können, den hohen Anspruch, dass hier »Gottes Wort« verkündigt wird, akzeptieren, gar selbst formulieren? Weithin, so scheint mir, ist dies der Fall. Um nur eine Be­ obachtung zu nennen: Mich erstaunt immer wieder, wie bereitwillig viele Beiträge in den aktuell am stärksten verbreiteten Predigthilfen, seien es die »Predigtstudien« oder die »Göttinger Predigtmeditationen«, ihre einleitenden Bemerkungen darauf abstellen, dass vermutlich nur die »Treusten der Treuen« unter den Hörern und Hörerinnen der Predigt sein werden. Es sei deshalb völlig in Ordnung, der Gemeinde diesen schweren biblischen Text auch zuzumuten, sowie dessen Aus­ legung, mit Blick auf den liturgischen Kalender, dem Proprium dieses Sonntags und damit seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung im Ganzen des Kirchenjahres zuzuordnen. Wer die Predigt als Element der kirchlichen Liturgie thematisiert – und sei es, dass er ihr aufgrund ihrer individuellen Kreativität und Beweglichkeit eine antirituelle Stoßrichtung geben möchte – hat sich von ihrem Anspruch, öffentliche religiöse Rede zu sein, mehr oder weniger verabschiedet. Ich meine jedoch, die Kultur der Gegenwart gibt Hinweise genug, dass es berechtigt ist, diesen Anspruch aufrecht zu erhalten. Nicht weil davon der Fortbestand der Kirche und der durch sie ins Predigtamt Berufenen abhängt, sondern weil den Menschen die Religion, die nur durch Ansprache entsteht, ver­ lorenginge. Um auch dafür nur einen, nicht aus der Kirche, sondern aus der Kultur der Gegenwart stammenden Hinweis aufzunehmen, möchte ich auf das Buch des französischen Sozialphilo­ sophen Bruno Latour verweisen: Jubilieren. Über religiöse Rede.1 Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der 1 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, franz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, 2002. 8 

Vorwort

Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehlen würde, wenn die religiöse Rede verstummte oder, da sie ja im kirchlichen Ritual fortwährend ergeht, ihre Heil bringende Kraft verlöre. Was dann fehlen würde, sind »Worte, die wieder aufrichten«2, die »Leben spenden«3, Worte, die heilsam sind. Das Schlimme für Latour ist: Auch die Kirche versteht sich nicht mehr auf die religiöse Rede. Sie hält »die Religion für gewunden, für verschlungen, ganz als müsse sie uns über einen schmalen, fallengespickten Pfad zu dunklen und fernen Geheimnissen führen.«4 In entfernte Gegenwelten hat die Kirche die Religion entrückt und »die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an historisch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet.«5 Dennoch, daran hält Latour fest, die Kirche, sie hat sie, »die Worte, die Leben spenden«, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den richtigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Das Sprechen ist das Problem, das Aussprechen. Mehr will der sich zu seinem Atheismus bekennende, aber um die Religion besorgte Sozialphilosoph deshalb mit seinem Buch über die religiöse Rede gar nicht. Vom religiösen Redner sagt er: »Er will bloß dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungsfreiheit verschaffen, diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetzlich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Verkapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heilbringend, heute auf seiner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ihren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.«6 Den religiösen Ausdruck, die Sprache der Religion zu finden, ist freilich keine bloße Formsache. An der religiösen Rede 2 3 4 5 6

A. a. O. 80. A. a. O. 82. A. a. O. 246. A. a. O. 82. A. a. O. 8 f. Vorwort

9 

hängt die Wahrheit der Religion. Und die Wahrheit der Religion ist keine beiläufige Angelegenheit, mit der lediglich diejenigen noch beschäftigt sind, die sich in der Liturgie der Kirche auskennen. Die Wahrheit der Religion ist, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt aber auch unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Damit diese lebensnotwendige Wahrheit der Religion allgemein zugänglich bleibt, muss sie öffentlich ausgesprochen werden. Es gilt, »die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.«7 Um die Predigt als religiöse Rede soll es in dieser Predigtlehre gehen. Sie will denjenigen, die in der Kirche zu predigen haben oder sich auf diese Profession vorbereiten, helfen, sich auf die religiöse Rede zu verstehen. Das soll zunächst in den Prolegomena dadurch geschehen, dass die Predigt im Kontext der Kultur der Gegenwart – und eben nicht in erster Linie der Kirche und ihrer gottesdienstlichen Liturgie – in den Blick genommen wird. Die Diagnose der religiösen Gegenwartslage verlangt die Deutung der offenkundigen Entkirchlichung ebenso wie die Stellungnahme zur Säkularisierungsthese. Sie lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf neue Spiritualitätstrends, in denen sich das religiöse Interesse der Menschen erkennbar artikuliert. Die religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen individualisieren und pluralisieren sich zudem. Dennoch kann die Predigt, so das Fazit, attraktiv bleiben und sogar gesteigert Resonanz gewinnen, wenn sie nur vom religiösen Selbstdeutungsinteresse der Menschen ausgeht und ihre Aufgabe darin sieht, das religiöse Deutungsangebot des christlichen Glaubens überzeugend und ansprechend zur Mitteilung zu bringen. Welchen Charakter sämtliche von einer Predigtlehre zu behandelnden Fragestellungen annehmen müssen, wenn die Pre7 Ebd. 10 

Vorwort

digt eine die religiösen Selbstdeutungsinteressen der Menschen aufnehmende, sie deshalb ansprechende Sprache der christ­lichen Religion soll finden können, wird sodann in der Grundlegung beschrieben. Sie entwickelt die elementaren Bestimmungen einer religionshermeneutischen Theologie des Predigens und formuliert die Anforderungen, die sie an Predigende stellt. Der Leitgedanke ist der: Predigende müssen sich auf die Religion verstehen und sie überzeugend zum Ausdruck bringen können. Orientiert an dieser Bestimmung der Predigtaufgabe wird ausgeführt, was aus ihr für die Predigtarbeit folgt, für den Umgang mit dem biblischen Text, die Einstellung auf die Hörer und Hörerinnen, die Wahrnehmung der gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Situation, ihre Verankerung in der Person des Predigers, der Predigerin. Die Grundlegung realisiert bereits die Absicht dieser Predigtlehre. Sie enthält in nuce das Ganze dessen, was sie zeigen möchte, indem sie zu einer Predigt anleitet, die die biblische Heilsbotschaft zur heilsamen religiösen Rede werden lässt. Wer wenig Zeit für die Lektüre dieses Buches hat, kann sich auch mit der Grundlegung begnügen. Der Hauptteil des Buches, der die Durchführung der Predigtlehre bringt, dient der differenzierten Erörterung der Reflexionsperspektiven, die es auf dem Weg zu einer sich als religiöse Rede realisierenden Predigt einzunehmen gilt. Da sich diese Reflexionsperspektiven aus der in der Grundlegung entwickelten Bestimmung der Predigtaufgabe ergeben, tauchen in deren Durchführung selbstverständlich die in der »Grund­ legung« bereits angesprochenen Gedanken wieder auf. Sie werden jetzt aber in systematische Begründungszusammenhänge hineingestellt. Es wird in einem ersten Schritt gezeigt, wie die religions­ hermeneutische Theologie die Praxis des Predigens auf dem biblischen Text fundiert. Der biblische Text ist für sie die Basis der Predigt. Zugleich hält sie aber dazu an, ihn religionsproduktiv auszulegen und in ein gegenwärtiges religiöses SpreVorwort

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chen zu überführen. Zu zeigen, wie das geht, ist die Intention einer homiletischen Texthermeneutik. In einem zweiten Schritt wird die Religionshermeneutik selbst als eine der grundlegenden homiletischen Reflexionsperspektiven ausgezeichnet. Es soll deutlich werden, dass und weshalb ein Sich-auf-Religion-Verstehen die entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit zu gegenwartssensiblem religiösen Sprechen darstellt. Das ist der Entwurf einer homile­ tischen Religionshermeneutik. In einem dritten Schritt geht es darum, sichtbar zu machen, dass die religionshermeneutische Theologie, indem sie zur überzeugenden und ansprechenden religiösen Rede befähigt, die biblische Heilsbotschaft in ihrem religiös Sinn stiftenden Gehalt zur Sprache bringen kann. Es tritt die Korrespondenz von Form und Inhalt der religiösen Rede hervor. Dann kann erkannt werden, wie heute vom christlichen Glauben zu reden ist, damit seine heilsame Lebensdeutung in Kraft tritt. Das ist der Entwurf einer homiletischen Glaubenslehre. In einem vierten und letzten Schritt wird ausgeführt, dass die religionshermeneutische Theologie der Predigt zu einem wirksamen religiösen Sprechen verhilft. Ein wirksames religiöses Sprechen ist ein solches, das nicht über Religion redet, sondern diese redend hervorbringt. Wie das geschehen kann, soll unter Aufnahme von Gesichtspunkten der Rhetorik geschehen, unter Berücksichtigung der religionshermeneu­ tischen Einsicht, dass Religion sich bildet, indem sie einen überzeugenden sprachlichen Ausdruck findet und zur heil­samen Ansprache an andere wird. Das ist der Entwurf einer homiletischen Rhetorik. Am Schluss steht zum einen eine kurze Anleitung zur Vorbereitung der Predigt als religiöser Rede. Es werden die Schritte noch einmal kurz skizziert, die zu einer religiös ansprechenden, der Bildung von Religion dienenden Rede führen. Zum anderen lege ich einige Exempel aus der eigenen Predigtpraxis bei. Alles, was in diesem Buch steht, kann auch als Erläuterung der theologischen Arbeit gelesen werden, die für mich im Hin12 

Vorwort

tergrund meiner eigenen Predigten steht und gedanklich in sie eingegangen ist. Noch eine kurze Bemerkung zu den grafischen Hervorhebun­ gen: Diese sollen den schnellen Überblick ermöglichen. Die durch sie markierten Sätze finden sich genauso im Fließtext, so dass geduldige Leserinnen und Leser sie geflissentlich übersehen können. Für hilfreiche Begleitung auf dem Weg zu diesem Buch habe ich vielen zu danken. Das ganze Manuskript gelesen und kritisch kommentiert haben Lars Charbonnier, Christian Polke, Roman Roessler, Lars Robin Schulz und Christoph Burger. Sie alle veranlassten mich zu nötigen Korrekturen und Präzisierungen, haben mich aber auch darin bestärkt, an dem Konzept dieser Homiletik festzuhalten. Viel gelernt habe ich zudem durch den Gedankenaustausch mit meinem Freund und Kollegen, dem Homiletiker in Stellenbosch, SA, Johan Cilliers. Ihm verdanke ich die ermutigende Erfahrung, dass auch in anderen Weltgegenden die Predigt als Anstoß zur Perspektivenverschiebung in der Selbstdeutung gesehen wird. Er redet vom »Reframing«, mit dem die Predigt einen anderen Blick aufs Leben eröffnet. Auf der letzten Etappe war mir Jennifer Marcen eine ganze wichtige Hilfe. Ich habe ihr für viele Formulierungsvorschläge zu danken, die zur besseren Lesbarkeit beitragen. Auf ihre energischen Rückfragen gehen weitreichende inhaltliche Umstellungen, Kürzungen und Erweiterungen zurück. Sie hat zudem sorgfältig Korrektur gelesen. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Frau. Ihre ebenso theologisch reflektierten wie unmittelbar zu Herzen gehenden Kanzelreden bestärken mich immer wieder in der Überzeugung, dass eine den religiösen Deutungssinn des Evangeliums entfaltende Predigt ihre Hörer und Hörerinnen erreicht. Berlin und Stellenbosch, im Februar 2013

Vorwort

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Prolegomena: Die Predigt in der Kultur der Gegenwart

1. Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung Wer predigt, muss sich über die religiöse Situation der Zeit verständigen. Wie ist die religiöse Lage? Die Situation der Kirche? Was »glauben« die Menschen? Welches Interesse zeigen die Menschen an religiösen Themen? Verstehen sie die Sprache, die in den Gottesdiensten gesprochen wird? Lesen sie in der Bibel? Sind sie bekannt mit dem, wovon im kirchlichen Bekenntnis die Rede ist? Ich will im Folgenden eine solche Diagnose der »homiletischen Großwetterlage«1 skizzieren. Allerdings bleibe ich nicht bei Wahrnehmungen und Deutungen der religiösen Lage, wie sie sich in der neueren praktisch-theologischen Literatur vielfach und weitgehend übereinstimmend finden2, stehen, sondern versuche zugleich anzudeuten, was die Predigt erreichen kann, wenn sie sich darum bemüht, zur religiöse Rede zu werden und die Menschen auch wirklich auf Religion anzusprechen.3

1 Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit in: Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 9–51, 33. 2 Auch Albrecht Grözinger beginnt seine Homiletik mit den Abschnitten »Homiletisch wahrnehmen« und »Homiletisch reflektieren«, in denen er u. a. ebenfalls die zeitdiagnostischen Leitthemen der Pluralisierung, Individualisierung und Globalisierung bespricht, sowie auf die »Wiederkehr der Religion« und den verbreiteten Synkretismus eingeht. Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 14–38. 3 Vgl. dazu meine Ausführungen, dort auch mit Belegen, in Wilhelm Gräb, Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006. Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung

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Ich beginne mit der Beschreibung von Phänomenen, die zumeist unter den Stichworten der Entkirchlichung und der Säkularisierung verhandelt werden. Rückgang der gesellschaftlichen Präsenz der Kirche. Die Kirche findet mit ihrer Verkündigung, ihren sonntäglichen Gottesdiensten und ihren gemeindlichen Angeboten oft nur schwache Resonanz. Damit sieht sich die kirchliche Arbeit in allen Bereichen, Gottesdienst und Predigt, Seelsorge, Bildung und Unterricht permanent konfrontiert. Kirche und Gemeinde sind zu einem Lebensbereich neben anderen geworden und dabei in eine gravierende Randständigkeit geraten. Wirtschaft und Politik, die mediale Unterhaltung und die Freizeitbeschäftigungen des Wochenendes nehmen einen sehr viel höheren Stellenwert ein als der Kirchgang oder das Gemeindeleben. Schwindende kirchliche Bindungskräfte – Mitgliederverluste. Der anhaltende Trend zum Kirchenaustritt ist eine beständige Anfechtung. Auch diejenigen, die der Kirche zugehörig bleiben, tun dies in der Regel auf eine sehr distanzierte Weise. Sie nehmen am gemeinschaftlichen Leben der Kirche, an den Kreisen der Gemeinde nicht intensiver teil, haben zumeist aber dennoch sehr hohe Erwartungen an die kirchliche Arbeit, ihre Seelsorge, die Diakonie, auch an Gottesdienst und Predigt. Sie bleiben in der Kirche, weil sie diese im Kultur- und Sinnhintergrund ihres Lebens nicht missen möchten. In Situationen, in denen die Erfahrungen des Lebens besonders in die religiöse Deutung drängen, gehen die Menschen auch zur Kirche – dann jedenfalls, sofern sie inzwischen nicht gänzlich aus ihrer kulturellen Lebenswelt verschwunden ist. Sie wollen sich – dort, wo die Kirche eine praktisch realisierbare religiöse Option darstellt – an den Krisen- und Wendepunkten im Lebensgang und im Jahreszyklus in den heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang des christlichen Glaubens einbezogen wissen. Die höchste Wertschätzung genießen aus diesem Grund die Kasualgottesdienste und -predigten – zu denen auch die Gottesdienste und Predigten an Weihnachten gehören. Sie überbrücken die Sollbruchstellen der Lebensgeschichte mit den 16 

Prolegomena

Vorstellungen religiös gewährter Sinnganzheit und schreiben dem Zeiterleben im Jahreskreis eine religiös vertiefte, an Bleibendes erinnernde, im Unbedingten verankernde Sinnstruktur ein. Unverständlichkeit der traditionellen Glaubenssprache. Selbst Menschen, die sich der Kirche noch verbunden wissen, aber erst recht den Distanzierten, ist die Sprache, die in der Kirche gesprochen wird, oft nicht oder nur schwer verständlich. Wörter wie Gott, Christus, Sünde, Gnade oder gar Trinität werden nicht oder nicht religiös verstanden. Sie gehören in eine kirchliche Sonder- und Glaubenswelt, die man mit den lebensgeschichtlich motivierten religiösen Deutungsfragen nicht zu verknüpfen weiß. Vermutlich werden die Menschen aber auch nicht entschlossen genug angesprochen, auf die ihnen in den lebensgeschichtlichen Erfahrungen selbst aufkommenden religiösen Deutungsfragen. Und anstatt die Inhalte des christ­ lichen Glaubens zum religiösen Deutungsangebot zu machen, also zu erschließen, welche Möglichen des Uns-Selbst-Ver­ stehens sie eröffnen, meinen viele Predigten immer noch, Das symbolische Verständnis der Glaubensinhalte zu vermitteln, zum Glauben an ihre gegensie zu religiösen Selbstdeutungs­ ständliche Bedeutung führen angeboten zu machen, ist zur ent­ scheidenden Aufgabe der Predigt als zu müssen. Das symbolische religiöser Rede geworden. Verständnis der Glaubensinhalte zu vermitteln, sie zu religiösen Selbstdeutungsangeboten zu machen, ist zur entscheidenden Aufgabe der Predigt als religiöser Rede geworden. Gesteigerte Offenheit für die religiöse Dimension des Le­ bens. Die meisten Menschen sind ansprechbar auf die religiöse Dimension ihres Lebens. Die Rede von »Säkularisierung« ist allenfalls dann berechtigt, wenn sie auf den Rückgang von Kirchlichkeit bezogen ist. Die Behauptung einer säkularen Gesellschaft verweist auf ein großes Missverständnis der Moderne. Denn aus dieser hat sich die Religion nicht verloren. Sie kann sich aus ihr auch gar nicht verlieren, denn auch in einer von diskursiven Rationalitätsparadigmen beherrschten Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung

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Gesellschaft sind die Fragen nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben nur religiös, d. h. im Bezug auf transzendente Sinninstanzen zu beantworten. Aber die Quellen, aus denen die Antworten auf die großen Sinnfragen zu gewinnen sind, scheinen in der Tat versiegt zu sein. Auf die Sinngarantien, die durch theologische, metaphysische oder historische »Wahrheiten« gegeben waren, ist jedenfalls kein Verlass mehr. Dass sie alle angezweifelt werden können, ist längst ins allgemeine Bewusstsein übergegangen. Vielen Menschen ist die Erfahrung der Erschütterung der metaphysischen Gewissheiten allerdings gerade als Verlusterfahrung präsent. Sie geben sich mit der Situation eines Ausfalls transzendenter Sinngarantien auch nicht zufrieden. Der Sinn des Lebens und der Welt im Ganzen, der einst durch Kirche, Theologie und Metaphysik vorgegeben war, wird nun vielmehr zu etwas, das von jedem und jeder selbst hervorzubringen ist, zu einem expressiven Ausdruck des je eigenen Lebensglaubens und der je eigenen Daseinsgewissheit.4 Kaum einer bekennt sich zu diesem seinem Glauben mit großer Überzeugungsgewissheit. Aber immer wieder ist zu hören  – eher verhalten und mit einem melancholischen Unterton: »Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selbst einen gibt …« So redet im Grunde, wer eingesehen hat, dass 4 Die große neue Erzählung über die sog. Säkularität der Moderne hat der kanadische Philosoph Charles Taylor vorgelegt. Dabei macht er eine Sicht auf die Moderne auf, wonach sich aus ihr die religiösen Sinndeutungen keineswegs verloren haben, aus der sich diese auch nicht verlieren können, weil ohne sie auch die moderne Gesellschaft gar nicht funktionsfähig wäre, geschweige denn den Mut zur Zukunft gewinnen könnte. Merkwürdigerweise meint Taylor dennoch, vom »säkularen Zeitalter« der Moderne reden zu müssen. Meine Vermutung, der ich jetzt aber nicht näher nach­ gehen kann, ist, dass dies deshalb der Fall ist, weil er als Katholik und Apologet des katholischen Christentums die auf den souveränen Glauben des Individuums bzw. der religiösen Persönlichkeit setzende und ihr religiöses Selbstdeutungsinteresse anerkennende Transformation des Religiösen in der Moderne nur als kulturelles Verfallsphänomen auffassen kann. Vgl. Taylor, Charles, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2002; ders., Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2009. 18 

Prolegomena

wir ohne ein letztes Sinnfundament nicht leben können, wir aber, da uns alle absolut vorgegebenen »Glaubenswahrheiten« zerbrochen sind, uns den Sinn des Ganzen selbst zurechtlegen müssen. Der Sinn des Ganzen von Welt und Leben ist nunmehr an die auf Sinndeutungsangebote ausgreifenden Selbstdeutungen des Menschen gebunden. Es ist nicht mehr so, dass Menschen nach Maßgabe einer bestimmten Auffassung von Gott oder dem Göttlichen religiös sind, sondern sie sind religiös, indem sie sich auf souveräne und eigenständige Weise zu den existenziellen Sinnfragen des Lebens verhalten, im Ausgriff auf religiöse Sinnangebote, an die sie glauben oder an die sie glauben möchten oder an die zu glauben sie für sich selbst meinen, ablehnen zu müssen. Herausforderungen für die Predigt: Wer predigt, muss Wer predigt, kann nicht mehr aus­ gehen von einer vorweg gegebenen heute immer mit der Fremd»Wahrheit« von Bibel, Dogma heit gegenüber der traditionelund Bekenntnis. Mit der kirchlichen Autoritätskultur ist es vorbei. len kirch­ lichen Sprache, der kirchlichen Liturgie und der ganzen kirchlichen Symbolwelt rechnen. Wer predigt, kann nicht mehr ausgehen von einer vorweg gegebenen »Wahrheit« von Bibel, Dogma und Bekenntnis. Mit der kirchlichen Autoritätskultur ist es vorbei. Das bedeutet aber in gar keiner Weise, dass nicht auch in der modernen Gesellschaft das Interesse an fundamentalen Gewissheiten höchst lebendig ist, nach basalen Überzeugungen gesucht wird und solche auch gefunden und behauptet werden. Die manifesten Bewegungen eines religiös begründeten, zumeist dann politisch agierenden Fundamentalismus, sind ja ebenfalls nur die Kehrseite einer die metaphysischen Letztbegründungen erschütternden Moderne.5 Das Interesse an religiösen, auf den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausgehenden Sinndeutungen ist groß. Groß ist auch die Bereitschaft, 5 Vgl. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und der ›Kampf der Kulturen‹, München 2001. Die Predigt im Kontext der Entkirchlichung

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auf solche Sinndeutungen sich einzulassen, wenn sie dem selbst empfundenen Sinnbedürfnis korrespondieren und in einer religiösen Sprache artikuliert werden, die das heutige Lebensgefühl in sich aufgenommen hat. Keine theologische Zeitdiagnose geht meines Erachtens so sehr an der religiösen Situation unserer Gegenwart vorbei wie die denunziatorische Beschuldigung, sie sei »gottvergessen«.6 Richtig ist, dass die kirchliche Glaubenssprache unverständlich geworden ist. Unbezweifelbar ist aber ebenso das tiefgründige, zumeist in den lebens­ geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontingenzerfahrungen aufbrechende Verlangen der Menschen nach einer im Daseinssinn vergewissernden religiösen Ansprache. Das ist heute die Herausforderung wie auch die große Chance für die Predigt. Sie kann zu einer religiösen Rede werden, die die Sehnsucht der Menschen nach einer transzendent begründeten Lebensgewissheit kennt und diese Sehnsucht auf überzeugende Weise mit ihrer Rede vom Gott des Evange­ liums in Verbindung zu bringen vermag. Dann gelingt es der Predigt, das religiös Ansprechende, das sich den Inhalten des christlichen Glaubens abgewinnen lässt, neu freizulegen und dem souveränen Glauben der Menschen als tragfähige Sinndeutung anzubieten.

6 Ich denke, es erübrigt sich, Belege für diese von den höchsten Vertretern beider Konfessionen immer wieder geäußerte Rede von der »Gottvergessenheit« anzuführen, (der Test auf seine Verbreitung durch die kirch­lichen Insider ist mit einer Eingabe bei Google leicht zu machen). Sie findet sich kaum in theologischen Arbeiten, tauchte aber immer wieder in den Ansprachen Papst Benedikts XVI. auf sowie in Verlautbarungen des Ratsvorsitzenden der EKD und natürlich auch in der kirchlichen Presse. Kurzum, mir scheint diese die religiöse Lage komplett verkennende Rede von der »Gottvergessenheit« schlicht eine theologisch übergriffige Re­a ktion auf die Erfahrung des gesellschaftlichen Resonanz- und Machtverlustes der institutionalisierten Kirchen zu sein. 20 

Prolegomena

2. Die Predigt im Kontext einer neuen Kultur der Spiritualität Die Rede von der »Wiederkehr der Religion«7. Sie scheint der Säkularisierungsthese entgegen zu stehen, aber eben nur dann, wenn man nicht sieht, dass Säkularisierung lediglich Kirchenfremdheit, nicht Religionsverfall meint. Religion ist wieder zu einem viel beachteten Thema in den Medien geworden. Vor allem allerdings in ihren fundamentalistischen oder irrationalen Spielarten. Man ist darauf aufmerksam, dass die Säkularisierung, wie sie sich in Europa durchgesetzt hat, einen geschicht­ lichen Sonderfall darstellt. In anderen Weltteilen boomt die Religion, ist sie ein wichtiger Faktor im gesellschaftlichen Leben. Auch hat sich gezeigt, dass Säkularisierung nicht unbedingt mit Modernisierung, mit Wissenschaft und Technik einhergeht, sondern offensichtlich viel mit der besonderen Religions- und Kirchengeschichte Europas zu tun hat. Deutlicher Trend zu einer Kultur der Spiritualität. Selbst in den USA, wo es ein sehr viel breiteres religiöses Angebot gibt, sind es weniger die traditionellen, etablierten Kirchen, sondern Bewegungen, die neue Formen von Spiritualität prak­ tizieren, undogmatisch, erlebnisstark, emotional und auf praktische Lebensorientierung ausgerichtet sind. Inzwischen redet man schon von einem Megatrend »Spiritualität«.8 Spiritua­ lität, so kann man aber auch sagen, zielt auf die Benennung eben der religiösen Sinnsuche und Selbstdeutungsaktivität, der wir auch hierzulande – gegenläufig zur Entkirchlichung – immer stärker beobachten können. Spiritualität ist Transzen-

7 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. 8 Vgl. Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive (Studien zu Religion und Kultur Bd. 1), Berlin 2008. Die Predigt im Kontext einer neuen Kultur der Spiritualität

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denzoffenheit, verbunden mit dem Bemühen um eine Kultur der Innerlichkeit. Sie äußert sich in der Suche nach tieferem Selbstkontakt und transzendent begründeter Lebensgewissheit, nach erfahrbarem Ganz- und Heilwerden, nach Rückbindung an einen Urgrund des Lebens. Der Spiritualitätstrend ist inzwischen eine religionshybride Bewegung geworden, die Impulse aus fernöstlichen Religionen, Esoterik und Psychotherapie gleichermaßen aufnimmt und vermischt. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass der Begriff christliche Wurzeln hat und auf das Wirken Gottes als Geist Bezug nimmt. Die Spiritualitätsbewegung ist auch weit in die Kirche eingewandert. Dann bezeichnet sie einen undogmatischen Glauben, richtet sich gegen verkopfte Theologie und geistarme Predigt. Die Bewertung von Seiten der Theologie sieht unterschiedlich aus. Die einen sehen in der Bewegung der Spiritualität eine Entsubstantialisierung des Glaubens. Das sind meines Erachtens die, die den symbolischen Gehalt der Glaubensinhalte nicht erkennen oder annehmen wollen. Andere sehen im Trend zur Spiritualität so etwas wie eine in der Alltagswelt selbst vorgehende Entdeckung der Subjektivität des Glaubens.9 Sie sagen, die Spiritualitätsbewegung zeige, dass Menschen in der Lage, fähig und bereit sind, je nach Gelegenheit auch rituelle Formen zu suchen, um über sich selbst und die Welt nachzudenken, ohne von der Kirche dazu aufgefordert zu sein. Es verschaffe sich die Autonomie des Menschen auch in religiösen Angelegenheiten hier Ausdruck. Möglichkeiten für die Predigt. Dieser Spiritualitätstrend eröffnet der Predigt neue Möglichkeiten, gerade dann, wenn sie zur religiösen Rede wird. Denn er steht dafür, dass die Menschen auf Religion ansprechbar und bereit sind, auf die Predigt zu hören, wenn diese ihnen hilft, sich über sich selbst und die eigene Sinnsuche klarer zu werden. Die Aufmerksamkeit auf den Spiritualitätstrend kann das Bemühen verstärken, 9 Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2009. 22 

Prolegomena

die Menschen als Subjekte ihDie Menschen als Subjekte ihres Glaubens ernstnehmen. res Glaubens ernstzunehmen. Aber natürlich ist diese Offenheit für die spirituelle Dimension hochgradig de-institutionalisiert. Sie führt nicht von allein in die Kirche. Die Predigt profitiert vom Spiritualitätstrend nur dann, wenn sie selbst zur Die Predigt profitiert vom Spiritua­ litätstrend nur dann, wenn sie selbst religiösen Rede wird und dazur religiösen Rede wird und damit mit die Menschen auf ihre die Menschen auf ihre Religion an­ Religion anspricht. Dann bespricht. Dann begegnet sie dem spiri­ tuellen Interesse der Menschen und gegnet sie dem spirituellen Inöffnet den Raum für religiöse Bil­ teresse der Menschen und öffdungsprozesse. Dann kann sie das net den Raum für religiöse symbolische Verständnis der christ­ lichen Glaubensinhalte freilegen und Bildungsprozesse. Dann kann zur freien Aneignung anbieten. sie das symbolische Verständnis der christlichen Glaubens­ inhalte freilegen und zur freien Aneignung anbieten.

3. Die Predigt im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung Moderne Gesellschaften haben eines ihrer Merkmale darin, dass sie die entscheidungsoffenen Handlungsspielräume für die Individuen vergrößern. Die Menschen werden aus ihrer vorgegebenen Fixierung durch Herkunft, Schicht, Milieu herausgelöst. Sie haben jedenfalls sehr viel besser als früher die Möglichkeit, selbst über ihren Beruf, ihren Lebenspartner, über die Gestaltung ihres Lebens insgesamt zu entscheiden. Das bringt Freiheiten mit sich, aber auch Belastungen. Es eröffnet Chancen, birgt aber auch Risiken. Die Chancen zunehmender Freiheit gehen einher mit wachsenden Möglichkeiten der Überforderung und des Scheiterns. Deshalb stellen die Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen und Lebensentwürfen eine große Herausforderung für die kirchliche Die Predigt im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung

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Arbeit dar.10 Sie eröffnen die Möglichkeit, sein Lebenskonzept selbst wählen zu dürfen, aber eben auch wählen zu müssen. Prediger und Predigerinnen sollten diese der modernen Kultur eigentümlichen Antagonismen verstehen und sich um eine Psychologie bemühen, die die mentalen Folgen im Blick hat. Je besser sie die von den Dynamiken der modernen Veränderungen ausgelöste Rückbetroffenheit der Menschen zu verstehen vermögen, desto eher sind sie auch in der Lage, die aktuelle Lebensdienlichkeit religiöser Bindungsverhältnisse darzustellen und ansprechend mitzuteilen. Religiöse Individualisierung. Die gesellschaftlichen Individualisierungstrends haben dazu geführt, dass sich gerade die religiösen Verhaltensweisen, Sinneinstellungen und Glaubensvorstellungen individualisiert haben. Nicht in dem Sinne, dass sie darin unverwechselbar zu sein beanspruchen, sehr wohl aber so, dass sie sich dazu berechtigt sehen, selbst über ihre religiöse Orientierung und Praxis zu entscheiden. Die religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen bewegen sich nicht mehr im Rahmen einer gesellschaftlich abgestützten, kirchlichen Autoritätskultur, sondern sind zu Optionen geworden, die je nach zumeist lebensgeschichtlich motivierten Veranlassungen verfolgt werden. Die aus den normativen Ordnungen religiöser Verpflichtungsdiskurse weitgehend entlassenen Individuen passen sich natürlich auch wiederum gesellschaftlich allgemeinen Trends in der Formung ihrer religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen an. Dennoch entwickeln sie zumeist eine Selbstauffassung, wonach sie selbst die souveränen Subjekte ihres religiösen Glaubens sind. Zudem ist offensichtlich, dass der Kirche andere kulturelle Größen zur Seite getreten sind, die für die Menschen ebenfalls eine mit reli­giöser Bedeutung aufgeladene Sinnerfüllungsfunktion gewinnen können. Kunst und Musik, Literatur und Film, Ethik und Moral, Sport und 10 Vgl. die Beschreibung dieser Situation und die Konsequenzen, die sie insbesondere für die kirchliche Kasualpraxis hat, in: Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2. Aufl. 2000. 24 

Prolegomena

Konsum, Sexualität und vieles anderes mehr können einen das Leben mit Sinn erfüllenden Stellenwert bekommen. Viele suchen schließlich gar nicht mehr den großen Sinn, sondern geben sich mit einem Sinn-Patchwork zufrieden, das sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt. Erlebnisorientierung steht im Vordergrund, der Event, der Mega-Event. Auch Religion ist für manche nur interessant, wenn sie zum Erlebnis wird: Kirchentage, Papstmessen. Sinnangebote mit geringem Erlebniswert, wozu viele kirchliche Angebote zählen, finden nur geringes Interesse. Pluralisierung des Religiösen. Das religiöse Feld beschreibt nicht die Vielfalt der großen, verfassten Religionen, sondern die Vervielfältigung der religiösen Sinnangebote mit ihren Das religiöse Feld beschreibt nicht die Vielfalt der großen, verfassten inhaltlich unscharfen KontuReligionen, sondern die Vervielfälti­ ren und ihrer unübersichtligung der religiösen Sinnangebote mit chen Präsentation auf einem ihren inhaltlich unscharfen Kontu­ ren und ihrer unübersichtlichen spirituellen Erlebnismarkt. Die Präsentation auf einem spirituellen Menschen sehen sich in der Erlebnismarkt. Position, in Glaubensdingen selbst über das für sie Richtige entscheiden zu können. Aber die Entscheidung fällt selten zwischen den institutionalisierten religiösen Systemen und ihren ausgearbeiteten Ritual- und Symbolwelten. Die Menschen bewegen sich im Aufbau ihres persönlichen Glaubens auf mittleren Ebenen, auf die sich die vor allem massenmedial präsenten religiösen Sinnpotenziale in die unterschiedlichsten kulturellen Sphären verlagert haben. Entstandardisierung der Lebensläufe. Lebensläufe folgen nicht mehr einem standardisierten Programm, vom Kind zum Erwachsenen mit Familie und wiederum Kindern. Disparate Biografien, Lebensentwürfe mit unterschiedlich gesetzten Etappen und Einschnitten sind möglich. Partnerschaften auf Zeit, Patchworkfamilien werden normal. Ausbildung und Beruf haben oft nicht mehr viel miteinander zu tun. Wochenend- und Fernbeziehungen im Modus des »Living Apart Die Predigt im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung

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Together« nehmen zu, ebenso Trennungen und Scheidungen, Brüche im Lebenslauf, die einhergehen können mit Entwurzelung und Einsamkeit, aber auch mit individuellen Selbstentfaltungsmöglichkeiten. Bei all dem steigert sich im Grunde auch der Bedarf an religiöser Sinnvergewisserung. Die Menschen entwickeln Formen individuell institutionalisierter Selbstfestlegungen, mit denen sie ihre Lebensentscheidungen zu legitimieren versuchen. Es ist aber ebenso das Bedürfnis erkennbar, religiös angesprochen zu werden und sich auf stilvolle Weise in religiös begründete Lebensdeutungen einbezogen zu finden. Überforderungssyndrome. Individualisierung und Pluralisie­ rung bringen Chancen für Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung mit sich, aber sie können leicht auch eine Überforderung darstellen. Lebenspartnerschaften auf Zeit, Scheidungen und Neubeginn, dann die berufliche Flexibilität und Mobilität können ungeheuer anstrengend sein. Das Wählen-Können stellt einen Zwang dar, der bei vielen mit der Angst einhergeht, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Der Aufbau von Beziehungen und Freundschaften wird erschwert, Freundschaften und Beziehungen werden flüchtiger und unverbind­ licher. »Ich habe 400 Freunde bei Facebook, aber wenn ich das Gespräch mit jemandem bräuchte, ist keiner da…«. Das alles führt in tiefgreifende Identitätskonflikte, in Sinnkrisen und Verlustängste, die die Bereitschaft wachsen lassen, auf die ansprechende Sprache einer Religion zu hören, die eine im Un­ bedingten gründende Daseinsgewissheit anbietet. Möglichkeiten für die Predigt. Die Predigt kann als reli­ giöse Rede auf die ansprechende Darstellung einer das ganze Leben, seine positiven wie negativen Erfahrungen, umgreifenden, transzendent begründeten Daseinsgewissheit ausgehen. Sie kann auch noch die Erfahrungen, in denen Menschen sich mit der Brüchigkeit und Fragmentarität ihres Lebens, mit Schuld und Vergeblichkeit konfrontiert sehen, in den Horizont einer die Daseinsgewissheit stärkenden Sinnganzheit rücken. Sie kann den Glauben als Gestalt desjenigen Grundvertrauens zur Darstellung bringen, das es braucht, um den inneren Halt 26 

Prolegomena

zu finden, der zu einer selbstbestimmten Lebensführung fähig macht, dazu befreit, auf andere zuzugehen und die Aufgaben, die das Leben stellt, mit der nötigen Energie, aber auch Gelassenheit anzugehen.

4. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede Die Predigt, die die Menschen auf die von ihnen selbst empfundene religiöse Deutungsbedürftigkeit anspricht und das Lebensdeutungsangebot des christlichen Glaubens ansprechend zur Sprache bringt, findet Gehör. Das belegen die Erfahrungen mit der Kasualpredigt. Sie findet deshalb die größte Resonanz, weil sie auf die lebensgeschichtliche Situation der Menschen eingeht und diese ins Licht der Deutung rückt, die ihr der christliche Glaube gibt. Die Lebensrituale bzw. die Kasualien sind überhaupt das atDie Lebensrituale bzw. die Kasua­ lien sind überhaupt das attraktivste traktivste Angebot der Kirche, Angebot der Kirche, weil hier das weil hier das Passungsverhältnis Passungsverhältnis zwischen dem zwischen dem religiösen Sinnreligiösen Sinndeutungsinteresse der Menschen und der religiös deutungs­ deutungsinteresse der Menschen kräftigen Ansprache durch die Kir­ und der religiös deutungskräftiche stimmt. gen Ansprache durch die Kirche stimmt.11 Die Kasualpredigt, so könnte man auch sagen, ist genau dadurch, dass sie sich vom Predigtanlass her darauf einstellt, die Menschen in einer besonderen Situation ihres Lebens auf ihr religiöses Sinndeutungsinteresse anzusprechen, dazu bestimmt, als religiöse Rede realisiert zu werden. Was nun für die Kasualpredigt gilt

11 Das belegen kontinuierlich die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen: Vgl. Thorsten Latzel, Mitgliedschaft in der Kirche, in: Jan Hermelink (Hg.), Kirche empirisch. Ein Werkbuch zur vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft und zu anderen empirischen Studien, Gütersloh 2008, 13–34. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede

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und von den Predigenden dort auch am ehesten verfolgt wird12, sollte für jede Predigt gelten. Jede Predigt sollte zu einer Kasual­ predigt werden. Jede Predigt sollte zu einer Predigt werden, Jede Predigt sollte zu einer Predigt werden, die den deutenden Bezug auf die den deutenden Bezug auf etwas herstellt, das mit unserem Le­ etwas herstellt, das mit unseben dergestalt der Fall ist, dass es nach einer religiösen Deutung verlangt. rem Leben dergestalt der Fall ist, dass es nach einer religiösen Deutung verlangt.13 Die kirchlichen Lebensrituale jedenfalls sind dasjenige Angebot der Kirche, das weit über den Kreis der engagierten Gemeindemitglieder und treuen Kirchgänger hinaus Anklang findet. Sie werden von den Menschen als ein Service der Kirche wahrgenommen. Ein Kundenbewusstsein setzt sich bei den kirchlichen Lebensritualen immer mehr durch. Besonders bei Hochzeiten und Bestattungen werden Wünsche zur Gestaltung vorgebracht, selbstverständlich in der Erwartung, dass sie Berücksichtigung finden. Diese Wünsche gehen nicht immer mit dem kirchlichen Traditionsbewusstsein konform. Pfarrer und Pfarrerinnen stehen manchmal vor der Frage, ob sie ihnen nachgeben sollen oder ob sie stärker der kirchlichen Tradition verpflichtet sind. Diese Konflikte brechen im Zusammenhang der Kasualien aber nur deshalb auf, weil die Kirche hier noch mitten im Leben steht, weil sie hier noch einen wesentlichen Faktor in der religiösen Kultur der Gesellschaft darstellt und sich nicht nur in einem verengten kirchlich-gemeindlichen Milieu bewegt. 12 Jedenfalls ist das inzwischen wieder die Regel – nachdem die Wort-Gottes-Theologie, die dagegen Einspruch erhoben hatte, keine Gefolgschaft mehr findet; vgl. meine Darstellung der Wege und Umwege, die die Kasualpredigt seit ihren programmatischen Anfängen in der liberalen Theologie um 1900 zurückgelegt hat, in: Wilhelm Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, 67–92. 13 Eine Forderung, die bereits Ernst Lage vertreten hat. Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit in: Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 9–51. 28 

Prolegomena

Die Dringlichkeit einer Umformung der an die traditionelle kirchliche Autoritätskultur gebundenen Predigt zu einer die lebensgeschichtlichen Sinndeutungsinteressen der Menschen erfüllenden religiösen Rede, müsste im Grunde aber durchweg gesehen werden. Sie tritt nicht weniger im Blick auf den Sonntagsgottesdienst hervor, sofern dieser sich nicht dabei bescheidet, lediglich für die gemeindlichen, in der kirchlichen Tra­ dition beheimateten Milieuchristen attraktiv zu sein. Die religionskulturelle Verantwortung der Predigt reicht Das Kirchenjahr, besonders sein Festzyklus, bietet zudem die Chance, über die sonntägliche Kernnicht nur den kirchlich vorgesehenen gemeinde weit hinaus. Das »Kasus« zu erkennen, sondern zu­ gleich die Erinnerung daran lebendig Kirchenjahr, besonders sein zu erhalten, dass es einst die Religion Festzyklus, bietet zudem die war, die das Zeit-Erleben der Men­ Chance, nicht nur den kirchschen überhaupt geordnet und mit einem tieferen Sinn erfüllt hat. lich vorgesehenen »Kasus« zu erkennen, sondern zugleich die Erinnerung daran lebendig zu erhalten, dass es einst die Religion war, die das ZeitErleben der Menschen überhaupt geordnet und mit einem tieferen Sinn erfüllt hat. Es tritt hervor, dass es auch jetzt noch die existenziell fundamentalen Themen des Lebens sind, die sich mit den Sonn- und Festtagen verbinden. Das ist natürlich besonders an Weihnachten der Fall. Nicht zu Unrecht steht die Rede vom »Weihnachtschristentum« für eine religiöse Signatur unserer Zeit.14 Weihnachten ist ein gewaltiges Fest. An Weihnachten wird in der Kirche das Fest der Geburt Christi begangen und zugleich weltweit so etwas wie ein kollektiver Menschheitsgeburtstag gefeiert – das eine liegt im anderen, die kirchliche in der allgemein menschlichen Bedeutung des Festes und umgekehrt. Der Kirche und der Predigt in ihr kommt es zu, die christliche Bedeutung des Festes in der Erfüllung 14 Vgl. Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum, Gütersloh 2002; ders., Auf den Spuren der Weihnachtsengel, in: Pastoraltheologie, 91, 2002, 482–497. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede

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der Sehnsucht zu erkennen, die allen Menschen eigen ist und die es auch macht, dass Weihnachten zu diesem Menschheitsfest geworden ist. Dann kann die Predigt mit ihrer Auslegung der Festlegende in Lk 2 entfalten, dass und warum Weihnachten das Fest der Menschwerdung des Menschen ist. Gott wird Mensch in diesem Kind. In ihm nimmt er die ganze Menschheit in seine Familie auf. Seither gibt es kein deutlicheres Zeichen dafür, dass der Friede auf Erden vielleicht doch eine Chance hat – es ist das Zeichen, das der Engelsruf über den Feldern Bethlehems gesetzt hat.15 Die anderen Feste im Kirchenjahr stehen ebenfalls für die großen, religiös relevanten Themen des Lebens: Karfreitag und Ostern, Kreuz und Auferstehung führen in die Besinnung auf Schuld und Sünde, auf diejenige Verfehlung des Lebens, die kein Mensch wieder ungeschehen machen und die durch keinen Akt der Wiedergutmachung getilgt werden kann. Auch hier stoßen wir auf Erfahrungen, die zu unserem bewussten Leben gehören und die unweigerlich in die religiöse Deutung drängen. Die Predigt an Karfreitag und Ostern muss diese Erfahrung aufnehmen und sie mit dem Symbol des Kreuzes in das Licht einer Deutung stellen, wonach Schuld, Sünde und Tod nicht die letzte Bestimmung unseres Lebens sind. Es gibt ein Jenseits von Schuld, Sünde und Tod, sagt die religiöse Rede. Und sie fährt fort, dass die Überwindung der Grenze von Vergeblichkeit und Endlichkeit uns nicht als Gegenstand der Erfahrung gegeben ist, sondern im Glauben, d. h. im Vertrauen auf Gottes Zusage der Vergebung und des ewigen Lebens, ergriffen sein will. So wäre fortzufahren, zunächst mit Pfingsten, einem weiteren der großen kirchlichen Feste, an dem es ebenfalls um dasjenige geht, was die Menschlichkeit der Menschen ausmacht, und das zu deren Verwirklichung ermutigen will. Der Gedanke 15 Ein Beispiel für eine solche, den religiösen Sinn des »Kasus« Weihnachten auslegenden Predigt gebe ich am Ende dieses Buches mit dem Exempel meiner Weihnachtspredigt von 2012. 30 

Prolegomena

der Präsenz Gottes in der Kraft des Geistes, den die christ­ liche Dogmatik den Heiligen Geist nennt, gilt der geschicht­ lichen Realisierung der versöhnten Einheit der Menschen in all ihrer Verschiedenheit. Der Heilige Geist, das ist keine gegenständlich vorzustellende metaphysische Größe, sondern in der Rede von ihm ist die Unbedingtheitsdimension des uns Menschen über alles Trennende hinweg verbindenden Geistes ausgedrückt. Der verbindenden, alle Verständigung und jedes Zusammenleben letztlich ermöglichenden Kraft des Geistes sind wir uns zumeist freilich nicht bewusst, eben weil wir uns in unserem bewussten Leben wie selbstverständlich in ihr bewegen. Der Heilige Geist, das ist die uns letztlich unverfügbare Kraft des Geistes, die wir voraussetzen und in Anspruch nehmen, wenn wir unser Leben sinnbewusst und das heißt ja immer in Bezogenheit auf unsere Welt und Mitwelt führen. Diese Kraft des Heiligen Geistes trägt uns in all unserem Wissen und Tun. Und zugleich spüren wir sie gleichsam ereignishaft, wenn uns aufgeht, dass wir nicht über sie verfügen. Es ist dann, als käme der Geist über uns, wenn uns – in den glück­ lichen, aber ebenso in den schweren Erfahrungen des Lebens – eine unwahrscheinlich Sinngewissheit und (auf Gottes Reich zielende) hoffnungsstarke Handlungsenergie erfüllt. So ist die Predigtaufgabe anzugehen – an den Sonntagen des Jahres, bei den Gelegenheiten, die die religiöse Rede im kirchlichen Auftrag verlangen. Alle Sonntage des Jahres, alle gottesdienstlichen Gelegenheiten und Predigtanlässe an den festlichen Höhepunkten wie im Alltag des Lebens haben ihren religionshermeneutisch erschließbaren »Kasus«.16 Bezieht sich die Predigt auf diesen »Kasus«, dann ist sie den Menschen nah. Dann nimmt sie auf und versucht, in die religiöse Deutung zu bringen, was Menschen in den existenziellen Erfahrungen des Lebens bedrängt. Dann wird es ihr gelingen, die Religion der Menschen tiefer über sich selbst zu verständigen. 16 Vgl. Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres: Vom Sinn der Feste und Zeiten, Gütersloh 2009. Die Attraktivität der Predigt als religiöser Rede

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Die knappe Skizze zur Predigt in der Kultur der Gegenwart, die die Prolegomena geben wollten, sollte deutlich machen, dass die Umformung der Predigt zur religiösen Rede ihr neue Chancen der Wirksamkeit eröffnet, ohne dass sie die Erwartungen derer enttäuschen müsste, die zu den treuen Kirchgängern gehören. Wichtig ist, dass die Predigenden sich selbst auf die religiöse Rede verstehen, die religiöse Deutungsbedürftigkeit wahrnehmen und die Deutungskompetenz, die die Menschen sich selbst zumessen, anerkennen, dass sie das religiöse Deutungspotenzial des christlichen Glaubens erschließen und es überzeugend zur Sprache bringen können. Dazu müssen die Predigenden sich um ein Verstehen der Religion der Menschen bemühen und dem Rechnung tragen, dass die Hörenden zugleich diejenigen sind, die sich relativ autonom auf dem religiösen Feld bewegen. Tun sie dies, dann kann ihre kirchliche Predigt zu einer überzeugenden religiösen Rede werden, der es auch in der modernen Kultur gelingt, die Religion so zur Sprache zu bringen, dass die Menschen sich angesprochen und von der christlichen Botschaft überzeugt finden.

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Prolegomena

Grundlegung: Aspekte einer religionshermeneutischen Theologie und Praxis der Predigt

1. Die Predigt als öffentliche religiöse Rede Immer noch richtet sich auf die Predigt die Erwartung, dass sie den christlichen Glauben zugänglich macht, dass hier der christliche Glaube verständlich wird in dem, was er dem Leben zu geben vermag an Gewissheit, Orientierung und Trost. Dass diese Erwartung nicht enttäuscht werden muss, dazu will diese Predigtlehre einen Beitrag leisten. Ihre Leitfrage ist die nach der Konzeption und Durchführung der Predigt als religiöser Rede. Wenn hier und im Folgenden von der »Religion« der religiösen Rede gesprochen Einer Predigt, die zur religiösen Rede wird, geht es um die existen­ wird, so steht dies insofern nie zielle Konkretion des christlichen gegen die Rede vom christGlaubens, darum, wie er mensch­ lichen Glauben. Einer Preliche Kontingenzerfahrungen deutet, Erfahrungen des Glücks wie der Not, digt, die zur religiösen Rede elementare Sehnsüchte und Hoff­ wird, geht es um die existennungen. Es geht um die gelebte Re­ zielle Konkretion des christligion. lichen Glaubens, darum, wie er menschliche Kontingenzerfahrungen1 deutet, Erfahrungen des Glücks wie der Not, elementare Sehnsüchte und Hoffnun1 Der für die gesamte religionstheoretische Grundlegung zentrale Begriff der »menschlichen Kontingenzerfahrung« meint alle diejenigen Erfahrungen unsers bewussten Lebens, von denen uns zugleich gewärtig ist, dass sie auch anders oder gar nicht sein könnten. Sie drängen in die Deutung ihres Sinns, werfen die Fragen nach ihrem Warum und Wozu auf. Diese Deutungen können in die Transzendenz ausgreifen und diese symbolisch bestimmbar machen, müssen es aber nicht. Vollziehen sie eine Bestimmung der Transzendenz, leisten sie die Bestimmung des UnbestimmDie Predigt als öffentliche religiöse Rede

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gen. Es geht um die gelebte Religion. Während der »Glaube« als Vertrauen auf den Gott Jesu – nach reformatorischem Verständnis – das ganze Heil in sich trägt, somit keine Entwicklung und Grade der Abstufung in sich selbst kennt, erlaubt es der Begriff der Religion bzw. des Religiösen, das (christliche) Gottesverhältnis in allen seinen Stadien und Fraglichkeiten, seiner differenten inhaltlichen Bestimmtheit und vor allem seinen existenziellen Bezügen anzusprechen. Von der gottesdienstlichen Situation und damit von Fragen der Liturgik wird in dieser Homiletik weitgehend abgesehen, was jedoch keineswegs heißt, dass sie die Predigt im Gottesdienst nicht ständig im Auge hat.2 Im Gegenteil, die liturgische Abstinenz dieser Predigtlehre zielt darauf, die Predigt wieder in jenen weiten Raum zu stellen, in dem sie gestanden hatte, solange der kirchliche Gottesdienst das Zentrum der Kultur der Gesellschaft bildete. Versteht man die Predigt als Ansprache der Zeitgenossen auf ihre elementaren Lebensinteressen – und zu diesen gehören, recht verstanden, die religiösen – dann muss sie auch heute mitten im gesellschaftlichen Leben stehen. Es will also diese Predigtlehre für die gottesdienstliche Predigt relevant werden, gerade weil sie von den Besonderheiten der gottesdienstlichen Situation absieht und lediglich davon ihren Ausgang nimmt, dass da Menschen sind, die eine Predigt hören – und mit einem Gemisch an Voreinstellungen dem »Glauben« gegenüber – auf ein sie ansprechendes, ja überzeugendes religiöses Wort warten.

baren in Akten religiöser Symbolisierung, dann ist von einer religiösen Deutung der Kontingenzerfahrung zu sprechen. Vgl. zur Diskussion des Begriffs der Kontingenzerfahrung, sowie der Frage ihrer religiösen und nicht-religiösen Deutung, wie sie in der Religionswissenschaft lebhaft geführt wird: Detlef Pollack, Was ist Religion. Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 3, 1995, 163–190. 2 Darin zeigt sich natürlich auch der genuin protestantische Zug dieser Predigtlehre, gerade mit Blick auf die liturgische Gesamtordnung, wonach schon inszenatorisch die katholische Messfeier ihren eigentlichen Höhepunkt in der Eucharistiefeier findet. 34 

Grundlegung

Auch die Rede von der »Gemeinde«, die Gottesdienst feiert und an die die Predigt gerichtet sein soll, hat unweigerlich die Tendenz, die Voraussetzungen, unter denen die Predigt ihre Aufgabe zu erfüllen hat, gewissermaßen dogmatisch zu fixieren. Angefangen vom liturgischen Formular, dem die auf einem biblischen Text basierende Predigt folgt, bis hin zum gemeinsamen Glauben und seinen im kirchlichen Bekenntnis formulierten Ausdruck, reicht dann zumeist die Aufzählung dessen, worauf die Hörenden von der Predigt müssten angesprochen werden können. Damit geraten aber all diejenigen zu schnell aus dem Blick, die mit der Liturgie des »normalen« Gottesdienstes nicht vertraut sind, die die Texte der Bibel weder zeitlich noch sachlich einzuordnen wissen, für die die großen Leitbegriffe christlicher Lehre, vor allem die der Christologie, gänzlich unverständliche Vokabeln sind. Genau diese Hörerinnen und Hörer aber sollten Predigende heute durchgängig im Blick haben. Dann wird ihnen evident, dass es die existenziellen Lebensfragen sind, die es auf dem Weg zur Predigt wahrzunehmen, zu durchdenken und im Medium des biblischen Textes und der christlichen Glaubenslehre zu erörtern gilt.

2. Die Theologie der religiösen Rede Die Predigt in der Kirche muss eine Rede für die Religion der Menschen sein. Das kann sie auch, wenn sie nur davon ausgeht, dass Menschen elementare religiöse Sinnbedürfnisse haben und auf eine Kirche warten, die ihnen das Lebensdeutungs­ potenzial der christlichen Botschaft erschließt. Die Auffassung der Predigt als öffentlicher religiöser Rede steht insofern auch nicht gegen einen mit der Predigt als Schriftauslegung verbundenen offenbarungstheologischen Anspruch. Das soll im folgenden Abschnitt durch einige Seitenblicke auf die klassischen Die Theologie der religiösen Rede

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Positionen protestantischen Predigtverständnisses zumindest angedeutet werden.3 Was die Predigt als öffentliche religiöse Rede mitteilen will, das ist der religiöse Sinnstiftungsgehalt der christlichen Botschaft. Sie sieht ihre Aufgabe allerdings darin, auch die der Mitteilung des Glaubens angemessene Form zu finden. Dann gilt es, die Inhalte des Glaubens in das menschliche Selbstverständnis einzuzeichnen. Dann sind sie energisch daraufhin zu befragen, was sie denjenigen zu sagen haben, die je gegenwärtig nach sich selbst und der Bestimmung ihres Lebens fragen, nach dem, woran sie sich orientieren und wie sie zu einer tröstlichen Lebensgewissheit finden können. Die Botschaft der Predigt geht so gesehen aus dem Vorgang der Befragung biblischer Texte auf das hin hervor, was sie gegenwärtigem Sich-SelbstVerstehen und damit letztlich immer auch gegenwärtiger Sinnsuche zu bieten haben. Was die Predigt zu sagen hat, ist nicht unabhängig von diesem Erschließungsvorgang vorweg gegeben, was die Rede von der »biblischen Botschaft«, dem »Evangelium« oder dem »Wort Gottes« allzu leicht suggeriert. Die Predigt braucht eine Botschaft. Es ist ihr Auftrag und die an sie gerichtete Erwartung, dass sie das Leben auf existenziell nachvollziehbare Weise im Lichte des christlichen GlauDie Predigt braucht eine Botschaft. Es ist ihr Auftrag und die an sie bens deutet und damit zeigt, gerichtete Erwartung, dass sie das wofür das Christentum heute Leben auf existenziell nachvoll­ steht. Doch das gelingt ihr in ziehbare Weise im Lichte des christ­ lichen Glaubens deutet und damit der gegenwärtigen religiösen deutlich macht, wofür das Christen­ (Großwetter-) Lage auf übertum heute steht. zeugende Weise nur dann, wenn sie den biblischen Text in seinem religiös erbaulichen Sinngehalt erschließt. Sie muss den biblischen Text so interpretieren, dass diese Interpretation 3 Vgl. zu diesem Problem meine Habilitationsschrift, in der ich bereits auf Lösungen gesonnen habe, die ich hier nun ausführen möchte: Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988. 36 

Grundlegung

auf die religiösen Sinnbedürfnisse der Menschen zu reagieren vermag. Das hier leitende Verständnis der Predigt als religiöser Rede weiß sich dabei jedoch in der Kontinuität mit einer evange­ lischen Predigtlehre, die seit ihren reformatorischen Anfängen alles daran setzt, die Vergegenständlichung des Gottesgedankens und des »biblischen Offenbarungsgeschehens« zu vermeiden und einer Gleichsetzung des Wortes Gottes mit der Bibel bzw. mit der es verkündigenden Predigt entgegenzutreten. Die Vergegenständlichung des Glaubensinhalts als des religiös zentralen Inhalts der Predigt zu vermeiden, war im Grunde auch die Intention von Karls Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes.4 Diese Lehre, die er in den Prolegomena zur »Kirchlichen Dogmatik« entfaltet hat, beschreibt die Dialektik religiöser Kommunikation. Danach kann das »Wort Gottes« in einem intentionalen Sinn gerade nicht gepredigt werden, auch wenn die Predigt sich noch so treu an den biblischen Text zu halten meint. Sehr wohl aber kann das Wort Gottes in der Predigt gehört werden. Dies geschieht dann, wenn Gott im Hören eines die eigene Existenz erschließenden, richtenden und tröstenden Wortes von den Hörenden als gegenwärtig er­fahren wird – gut ist es, aber keineswegs immer ausdrücklich notwendig, wenn sich das subjektivitätstheologische Verständnis von Gott als »Zugang zum eigenen Seinsgrund« dabei ebenfalls vermittelt. Ich soll also als Prediger nicht mit dem Anspruch auftreten, mit meiner Predigt Gottes Wort zu verkündigen. Ich soll vielmehr so reden, dass das Wort »Gott« einen den Grund der eigenen Existenz erschließenden Sinn gewinnt. Ein Wort von Gott wird dann zu Gottes Wort, das sich an mich richtet, wenn es 4 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre vom Wort Gottes, Band 1, 1, Zürich 1964, 89–127. Die gesamten weiteren Abschnitte von KD I lassen sich demnach als Entfaltung dieser Trias aus »verkündetem, geschriebenem und offenbarten Wort« Gottes in der freilich gemäß der ratio essendi umgekehrten Ordnung ihrer Begründung als trinitarische Offenbarung, als Heilige Schrift und als kirchliche Verkündigung ver­stehen. Die Theologie der religiösen Rede

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mein Selbstverständnis neu qualifiziert – ich mich von ihm her im Grunde meines Daseins neu verstehe. Die Predigt zielt, sofern sie religiöse Rede ist, auf eine solche den existenzielDie Predigt zielt, sofern sie religi­ öse Rede ist, auf eine solche den exis­ len  Sinn des Wortes »Gott« tenziellen Sinn des Wortes »Gott« zur Mitteilung bringende re­ zur Mitteilung bringende religiöse Selbsterschließungserfahrung. ligiöse Selbsterschließungserfahrung. Wo es zu ihr kommt, ist das Wort »Gott« zum anredenden Wort Gottes geworden. Eine solche Erschließungserfahrung lässt sich durchaus intentional herstellen, und dass das geschieht, darauf zielt die Predigt als religiöse Rede. Darum bemüht sie sich als religiöse Rede mit aller rhetorischen Kunst. Und doch steht das Gelingen nicht in der Verfügung der Predigenden, – was dann von der Predigtlehre pneumatologisch weiter entfaltet werden kann. Statt darauf auszugehen5, ist es für eine auf die Orientierung der Predigtpraxis ausgehende Homiletik jedoch zielführender, auf die Machbarkeit der Predigt als religiöser Rede aufmerksam zu werden und Hinweise für die Arbeit an einer religiös erbaulichen, zur Selbstverständigung christlichen Lebens führenden Predigt zu geben. Es möchte plausibel werden, dass die Predigt dem Wort »Gott« am ehesten dann Gehör zu verschaffen vermag, wenn sie eine Botschaft von Gott ausEs möchte plausibel werden, dass die Predigt dem Wort »Gott« am ehesten richtet, der die Hörenden eine dann Gehör zu verschaffen vermag, hilfreiche Antwort auf ihre rewenn sie eine Botschaft von Gott ligiösen Existenzfragen abgeausrichtet, der die Hörenden eine hilfreiche Antwort auf ihre religiösen winnen können. Existenzfragen abgewinnen können. Damit schließt diese Predigtlehre an Schleiermachers »Theorie der religiösen Rede« an, wie er sie in seiner Praktischen Theologie6 entfaltet hat. Denn dort wird die Predigt 5 Vgl. zu diesem Vorgehen Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 1971. 6 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus 38 

Grundlegung

nicht nur explizit als »religiöse Rede« aufgefasst. Es wird ihr vielmehr dezidiert die Aufgabe zugewiesen, darstellende Mitteilung des christlich-religiösen Selbstbewusstseins zu sein. Sie ist ein kommunikativer Akt zur Mitteilung des christlichen Glaubens.7 Dieser Glaube wiederum ist als eine spezifische Bestimmtheit des menschlichen Selbstverständnisses aufgefasst. Die christliche Lebensdeutung ist es, die die Predigt so mit­ zuteilen hat, dass die Hörenden sie ins Verhältnis zu sich und ihrem eigenen Selbstverständnis bringen können.

3. Die Rhetorik der religiösen Rede Religion mitzuteilen ist die Aufgabe der Predigt. Religiöse Mitteilung ist keine Sachmitteilung, sondern ein Akt der Selbstmitteilung. Auf dem Wege der textbezogenen Erschließung Religiöse Mitteilung ist keine Sachmitteilung, sondern ein Akt der christlichen Botschaft zielt der Selbstmitteilung. Auf dem Wege sie auf die religiöse Selbstdeuder textbezogenen Erschließung der tung der Hörenden. christlichen Botschaft zielt sie auf die religiöse Selbstdeutung der Deshalb sind die Fragen der Hörenden. Rhetorik für die Predigt zentral. Es geht um die besondere Art zu reden, die die Predigt als religiöse Rede verlangt. Als religiöse Rede ist sie von persönlicher religiöser Überzeugung herkommende und auf persönliche Überzeugung zielende Rede.8 Gewiss, immer auf allgemein überprüfbarer Textauslegung beruhend und systematisch-theologisch reflektiert. Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, SW Bd. 13, Berlin 1850, 201–320. 7 Vgl. Wilhelm Gräb, Predigt als kommunikativer Akt. Einige Bemerkungen zu Schleiermachers Theorie religiöser Mitteilung. In: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984 (Schleiermacher-Archiv Bd. 1.2), Berlin 1985, 643–660. 8 Vgl. zu dem hier verfolgten Konzept von Rhetorik als persuasiver Kommunikation: Norbert Gutenberg, Einführung in die Sprechwissenschaft und Sprecherziehung, Frankfurt a. M. 2001. Die Rhetorik der religiösen Rede

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Dennoch, religiös bewegend ist sie gerade dadurch, dass sie einer persönlichen religiösen Über­zeugung Ausdruck verleiht. Darin liegt dann auch die eigentliche rhetorische Herausforderung der Predigt. Sie muss den biblischen Text auslegen. Sie muss ihm die jetzt treffende, religiös erbauliche christliche Botschaft abgewinnen. Sie muss sodann der eigenen religiösen Überzeugung Ausdruck geben und damit auch die eigene Sprache sprechen. Dann hat sie die Chance, als eine wahrhaftige Rede gehört zu werden. Und darin liegt auch wohlverstanden ihre ästhetische Qualität jenseits bloßen Schmucks und reiner Zierde. Die Rhetorik ist für die Predigt somit doppelt wichtig: einmal als Rede, weil sie ein Thema braucht und Klarheit darüber, was sie sagen will. Zum anderen ist sie religiöse Rede, weil sie Ausdruck einer persönlichen Überzeugungsgewissheit ist. Sie sucht den authentischen sprachlichen Ausdruck, aber im Durchgang durch den biblischen Text und am Leitfaden der christlichen Glaubenslehre. Das Besondere der religiösen Rede ist der Bezug auf die religiöse Subjektivität des Redenden. Wer predigt, redet aus seinem eigenen, existenziellen Bezug zur »Sache«, von der die Rede ist, und er will andere ebenfalls von dieser »Sache« überzeugen. Er will die Hörenden durch exemplarische Rede dazu motivieren, sich in den existenziellen Selbstbezug zur Botschaft der Predigt zu setzen. Darin liegt die rhetorische Herausforderung der Predigt als eines Aktes religiöser Mitteilung. Die Predigt kann sich nicht damit begnügen, über den biblischen Text, seine historische und theologische Auslegung zu informieren. Ebenso wenig ist es ihr angemessen, lediglich über die Religion zu reden, ihre moralischen und politischen Implikationen zu besprechen. Der biblische Text ist auf die sich in ihm artikulierende christliche Botschaft hin verständlich zu machen. Zu zeigen ist, welche lebensführungspraktisch relevanten Sinngehalte sich mit dieser Botschaft heute verbinden. Immer ist es nötig, eben den existenziellen Bezug herzustellen, der deutlich macht: Es geht hier um etwas, das uns, die Redenden und Hörenden, glei40 

Grundlegung

chermaßen betrifft, weil es mein je eigenes Mich-Selbst-Ver­ stehen qualifiziert. Die Rhetorik einer überzeugungsbewussten Rede ist es auch, was die Predigt von Exegese, Dogmatik und Ethik unterscheidet. Sie gibt keinen exegetischen Kommentar und entfaltet die Glaubenslehre nicht im systematischen Zusammenhang. Die Abgrenzung von der Exegese, der Dogmatik und der Ethik wird allerdings auch noch davon bestimmt, wie diese ihrerseits verstanden werden. Folgen wir der von Schleiermacher initiierten theologischen Denkungsart, dann verlagert sich die Differenz, die die Predigt gegenüber Exegese, Dogmatik und Ethik aufmacht, ganz auf die Steigerung der religiösen Rhetorik. Alle religiösen Sätze, auch die der Bibel oder der Dogmatik, sind dann schließlich als Ausdruck religiöser Erfahrung verstanden. Was die Predigt von Exegese, Dogmatik und Ethik, Schleiermacher folgend, unterscheidet, hängt lediglich daran, dass die religiöse Rede die Übereinstimmung des Predigenden mit der in der Interpretation des biblischen Textes erschlossenen christlichen Botschaft verlangt und sie die Hörenden zu deren Anerkennung bewegen möchte. Sie kommt aus persönlicher Überzeugung und zielt, mit ihrer die Hörenden er­ greifenden Rede, auf die Weckung und Stärkung ihrer persönlichen Überzeugung. Die Kunst der religiösen Die Kunst der religiösen Rede besteht darin, eine Sprache zu finden, die Rede9 besteht darin, eine Spradie Atmosphäre des biblischen Textes che zu finden, die die Atmoaufnimmt, die Lebensbedeutsamkeit sphäre des biblischen Textes der ihm abgewonnen christlichen Botschaft erschließt, zum Redenden aufnimmt, die Lebensbedeutpasst und den Hörenden unmittelbar samkeit der ihm abgewonverständlich ist. nen christlichen Botschaft erschließt, zum Redenden passt und den Hörenden unmittelbar verständlich ist. Gert Otto hat sich für diese Orientierung der Homiletik an der Rheto-

9 »Kunst« im Sinn von »Τέχνη« in der Rhetorik. Die Rhetorik der religiösen Rede

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rik in jüngerer Zeit am stärksten eingesetzt10, ohne freilich das Spezifische der Mit­teilung von Religion, also die Bedingungen der Möglichkeit der Predigt als religiöser Rede, tief genug zu bedenken. Auch Albrecht Grözinger hat hier die Akzente in seiner Homiletik gesetzt11, allerdings ebenso wenig mit Blick auf die Subjekti­vität und Expressivität religiöser Mitteilung. Otto und Grözinger betonen allerdings, was auch hier zu bekräftigen ist, dass Rhetorik und Hermeneutik auf das Engste zusammengehören. Es geht nicht darum, die Hörenden durch den Schein schöner Worte zu hintergehen, sondern sie von der lebensdienlichen Wahrheit der christlichen Botschaft zu überzeugen. Die Predigt braucht die Einsicht in den Verweisungszusammenhang der Rhetorik als der Kunst einer überzeugungsorientierten Präsentation der Rede mit der Hermeneutik als der Kunst einer verständigungsorientierten Auffindung ihres Inhalts. Es gibt die Wahrheit der christlichen Botschaft nicht, sondern diese ist immer an die Form ihrer MitteiEs gibt die Wahrheit der christlichen Botschaft nicht, sondern diese ist lung gebunden. Sie ist immer immer an die Form ihrer Mitteilung Wahrheit für mich, die aber gebunden. Sie ist immer Wahrheit im Mitteilungsgeschehen der für mich, die aber im Mitteilungs­ geschehen der Predigt zur Wahrheit Predigt zur Wahrheit für anfür andere soll werden können. dere soll werden können. Die Rhetorik, die die Predigt braucht, so kann man dann auch sagen, ist eine hermeneutische Rhetorik. Mit ihrer hermeneutischen Reflexion zielt sie darauf, das Sinndeutungsangebot des biblischen Textes zu einer die je eigene religiöse Selbstdeutung anregenden, lebensdienlichen Botschaft werden zu lassen. Mit ihrer rhetorischen Reflexion sucht sie die Form einer Rede zu finden, die der religiös Sinn stiftenden Botschaft des biblischen Textes die Kraft gibt, auch in die religiöse Selbstdeutung der Hörenden überzugehen. 10 Vgl. Gert Otto, Predigt als Rede, Stuttgart 1976. 11 Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008. 42 

Grundlegung

Rhetorisch predigen heißt religiös erbaulich reden. Dann wird der Inhalt der Predigt auf emotional ansprechende und gedanklich durchsichtige Weise entwickelt. Dann hat die ausgeführte Predigt bereits einen Einstieg, der ganz beim biblischen Text und ebenso unmittelbar beim Redenden ist, bei dem, was ihm jetzt wichtig ist, und wohin er die Hörenden mitnehmen will. Die rhetorische Leitfrage der Predigt Die rhetorische Leitfrage der Predigt lautet somit: Wie kann ich den reli­ lautet somit: Wie kann ich giösen, lebensdeutungspraktischen den religiösen, lebensdeutungs­ Sinn der christlichen Botschaft, der sich mir in der Auslegung des bibli­ praktischen Sinn der christlischen Textes erschlossen hat, so zur chen Botschaft, der sich mir in Sprache bringen, dass die Hörenden der Auslegung des biblischen sich in diesen Erschließungsvorgang einbezogen finden? Textes erschlossen hat, so zur Sprache bringen, dass die Hörenden sich in diesen Erschließungsvorgang einbezogen finden? Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine klare Festlegung auf das Thema wie dann auch auf die Intention der Predigt. Die Predigt ist dennoch in gar keiner Weise die formelhafte Weitergabe einer vorgegebenen Botschaft. Sie ist aber ebenso wenig ein rein ästhetischen Gesichtspunkten folgendes, textdramaturgisches Inszenierungsgeschehen.12 Sie ist eine reli­ giöse Rede, die mit sprachlichen Mitteln die von der eigenen religiösen Wahrheitsüberzeugung getragene christliche Botschaft zum ansprechenden Lebensdeutungsangebot für andere machen will. Die christliche Botschaft, die sie vorträgt, ist 12 Damit wende ich mich gegen Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Eine dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005. Da diese sowohl die Fragestellungen der religiösen Hermeneutik wie die einer auf die religiöse Rede ausgehenden Rhetorik übergeht, leistet sie einer Predigtpraxis Vorschub, in der weder der Auslegung des biblischen Textes noch der überzeugungsorientierten, eine klare Botschaft ausrichtenden religiösen Rede ihr Recht widerfährt, die Predigt vielmehr in der Gefahr steht, zu einem gedanklich inkonsistenten, in seiner »Struktur« nicht erkennbaren, von sog. »Moves« in die verschiedensten Richtungen getriebenen Spiel mit Worten zu geraten. Die Rhetorik der religiösen Rede

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nicht vorgegeben. Sie muss durch die Arbeit an der biblischen und christlichen Überlieferung – auf die aktuell überzeugende Darstellung des christlichen Glaubens zielend  – hervorgebracht werden. Es ist ein Wechselspiel somit von hermeneu­ tischen und rhetorischen Überlegungen. Es geht nicht um vordergründige Effekte eines angeblich dramaturgischen Geschehens, schon gar nicht um Manipulation oder Indoktrination der Hörenden. Die Predigt ist kein Film, kein Roman oder Kunstwerk, aber natürlich auch keine Parteitagsrede. Die Predigt ist eine religiöse Rede, die – einen biblischen Text reflektierend – von eigener christlicher Überzeugungsgewissheit getragene Verständigung mit den Hörenden über die lebensdienliche Wahrheit der aus dem biblischen Text hervortretenden christlichen Botschaft sucht. So kann sie zu einer die Hörenden ansprechenden, kritische Einwände aufnehmenden, im Pro und Contra das Verständnis der christlichen Botschaft diskutierenden und eben dadurch überzeugenden Mitteilung des christlichen Glaubens werden.

4. Der Situationsbezug der religiösen Rede Die Predigt soll die Hörenden in der alltäglichen Wirklichkeit ihres Lebens religiös ansprechen. Sie muss daher ver­ suchen, die religiöse Frage als eine solche aufzunehmen, die sich in den Erfahrungen des Lebens stellt. Die Aufmerksamkeit auf die Lebenssituationen, in denen Menschen sich die religiöse Frage stellt, ist für die Predigt von entscheidender Bedeutung. Es gibt Situationen, in denen Es gibt Situationen, in denen sich die sich die religiöse Frage besonreligiöse Frage besonders aufdrängt. ders aufdrängt. Das sind ofDas sind offenkundige Kontingenz­ fenkundige Kontingenzerfaherfahrungen, Erfahrungen, in de­ nen wir dessen gewahr werden, dass rungen, Erfahrungen, in denen nichts so bleiben muss, wie es ist. wir dessen gewahr werden, dass nichts so bleiben muss, 44 

Grundlegung

wie es ist. Das können schlimme oder gute Erfahrungen sein. Immer wird uns in solchen Situationen die Offenheit der Zukunft bewusst, das Nicht-Festgestellt-Sein unseres Lebensganges und das Uns-Entzogen-Sein unseres Lebensgeschicks. Wir geraten an die Grenzen unserer ana­lytischen Fähigkeiten, weil wir nicht mehr durchblicken. Wir geraten an die Grenzen unserer ethischen Sicherheit, weil wir nicht mehr wissen, was zu tun ist. Wir geraten an die Grenzen unserer Leidensfähigkeit, weil wir nicht verstehen, warum gerade uns das passieren musste.13 In solchen Grenzsituationen können wir aber auch die Erfahrung machen, dass uns das Vertrauen darauf nicht verlässt, den richtigen Weg noch finden und die gute Entscheidung treffen zu können. Wir können ebenso an uns selbst beobachten, wie stark die Hoffnung auf einen guten Ausgang der Dinge immer wieder ist. Die Kontingenzerfahrungen wecken einerseits die Existenzangst in uns. Dann machen sie uns die abgrundtiefe Gefährdung unseres endlichen Daseins bewusst. Sie können uns aber auch auf dieses objektiv gänzlich unbegründete Grund­ vertrauen aufmerksam werden lassen, das uns in all unserem Tun begleitet und aus dem uns letztlich die Fähigkeit zuwächst, die Hoffnung bis zuletzt doch nicht aufzugeben. All die Lebenssituationen  – und welche eigentlich wären gänzlich davon frei? –, in denen in uns Menschen das Gefühl dafür aufkommt, letztlich bedürftige und abhängige Wesen zu sein, sind in die religiöse Deutung drängende Lebenssituationen. Dass sie in die religiöse Deutung drängen, schließt aber keineswegs schon ein, dass diese religiöse Deutung faktisch auch vollzogen wird.14 Die Predigt aber, die begriffen hat, dass sie zur religiösen Rede werden muss, kann und sollte genau 13 Diese Differenzierung der existentiell grundstürzenden Grenz- bzw. Kontingenzerfahrungen hat Clifford Geertz vorgenommen, vgl. Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller System, Frankfurt a. M. 1983, ­4 4–95. 14 Religion gehört zur conditio humana, aber ohne Wertung ist das Aus­ bleiben der bewussten Stellungnahme zu dieser Facette des Menschseins hinzunehmen. Der Situationsbezug der religiösen Rede

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in dieser religiösen Deutungsbedürftigkeit unseres bewussten Lebens ihre zentrale Aufgabe erkennen. Wer predigt, sollte sich deshalb immer um ein Verständnis dafür bemühen, wo die Bereitschaft zur religiösen Deutung der Lebenswirklichkeit in dieser selbst aufbricht, wo Menschen auf die religiöse Deutungsbedürftigkeit ihrer Existenz ansprechbar sind. Nur wenn Predigende die Situation erfassen, in der sich die christliche Botschaft als religiösen Sinn stiftend erweist, sind sie in der Lage, das Sinndeutungsangebot der christlichen Botschaft, profiliert durch die Auslegung des biblischen Textes, zur Sprache zu bringen. Die Hermeneutik der Religion bzw. die religiöse Hermeneutik des Daseins, ein Verstehen der Menschen in den für ihre Lebensführung relevanten religiösen Sinndimen­ sionen, muss der Auslegung der biblischen Texte korrespon­ dieren, das Verstehen von Religion daher neben das Verstehen des biblischen Textes treten und sich mit diesem vermitteln. Dabei sollte freilich auch klar sein, dass der Situationsbezug der Predigt auf die menschliche Grundsituation zielt. Es ist die Situation, die im Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Daseins jeden und jede gleichermaßen betrifft. Das schließt aber nicht aus, sondern im homiletischen Bezug gerade ein, dass zugleich konkret darauf zu sehen ist, wo die in die religiöse Deutung drängende menschliche Grundsituation aktuell aufbricht, in der privaten, der gesellschaftlichen, der politischen Existenz der Hörenden. Wichtig ist, dass die Hörenden immer als diejenigen in den Blick kommen, die sich so oder so deutend zu sich selbst und den Erfahrungen ihres Lebens verhalten, somit auch auf religiöse, ins Ganze ausgreifende, existenzielle Lebensfragen ansprechbar sind. In der religiösen Frage ist immer ein Anknüpfungspunkt bei den Hörenden gegeben. Ernst Lange gab bereits entscheidende Anstöße in Richtung einer solchen religiösen Hermeneutik der Situation, die die Predigt anzusprechen hat.15 Lange wollte, dass auf die Predigt 15 Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders. Predigen als Beruf. Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 9–51 und ders., Zur Aufgabe christlicher Rede, a. a. O. 52–67. 46 

Grundlegung

hin die Auslegung des biblischen Textes in der Perspektive der religiös relevanten Lebensfragen, die sich den Hörenden in der alltäglichen Wirklichkeit ihres Lebens selbst stellen, erfolgt. Denn die Predigt soll mit den Hörern und Hörerinnen über das ihnen je eigene Leben ins Gespräch kommen, aber eben konzentriert darauf, was vom biblischen Text her zu den in ihm selbst strittigen Sinndeutungsfragen gesagt werden kann. »Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt, über die Bedrohungen und die Chancen seines Daseins. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; freilich, er, der Hörer vor Gott. Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeit seines Lebens, die mein Thema ist, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieser Wirklichkeit auf. Und diese Wahrheit lässt sich nicht an und für sich zum Thema machen, sondern nur als Wahrheit dieser Wirklichkeit, als diese Wirklichkeit richtend und rettend, befreiend und beanspruchend. Es bleibt dabei: Mein Thema ist mein Hörer – vor Gott.«16 Die Situation, auf die die Auslegung des biblischen TexDie Situation, auf die die Auslegung des biblischen Textes in der Predigt tes in der Predigt zu beziehen zu beziehen ist, das ist die Grund­ ist, das ist die Grundsituation situation menschlicher Existenz mit menschlicher Existenz mit all ihren Ambivalenzen. all ihren Ambivalenzen. Um diese ambivalente, sich in den widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens zeigende und ins Bewusstsein drängende Grundsituation soll es in der Predigt gehen. Weil es die Erfahrungen sind, die jeder und jede selbst macht und machen muss, dürfen diese aber auch nicht nur von außen beschrieben und objektivierend zu Fakten gemacht werden. Sie sind immer so in die Textauslegung und dann erst recht in die Predigt aufzu16 Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, a. a. O. 58. Der Situationsbezug der religiösen Rede

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nehmen, wie sie jeden und jede, die Predigenden ebenso wie die Hörenden, selbst betreffen, wie sie sich in ihrem Selbstbewusstsein reflektieren. Deshalb spricht Lange gar nicht von objektiv gegebenen situativen Tatbeständen, sondern davon, wie sich die ambivalente Grundsituation des menschlichen Daseins spiegelt in unseren Hoffnungen und Enttäuschungen, im Erfolg und im Versagen, in den Bedrohungen und Chancen des Lebens. Die Predigenden sollen die Hörenden gleichermaßen wie sich selbst als die selbstbewussten Subjekte in den Erfahrungen ihres Lebens ansehen, als solche, die ihr Leben führen, die Verantwortung tragen, sich an Normen orientieren, schuldig werden und versagen, denen gelingt, was sie sich vorgenommen haben, und die daran scheitern. Will die Predigt mit den Hörenden über ihr Leben reden, dann sind die Hörenden nicht schlicht die Adressaten der biblischen Botschaft. Ich verstehe Ernst Langes inzwischen viel zitiertes Diktum, wonach es »mit dem Hörer über sein Leben« zu reden gelte, vielmehr eben so, dass die Predigt in einen Verständigungsprozess darüber hineinzuziehen hat, worin angesichts der offenkun­ digen religiösen Deutungsbedürftigkeit unseres Lebens das Deutungspotential der biblischen Botschaft bestehen könnte. Dann wird auch klar, dass die Predigt den Hörenden Dann wird auch klar, dass die Predigt den Hörenden ihr Leben ihr Leben nicht gleichsam nicht gleichsam von außen deutet, von außen deutet, nicht im nicht im Modus der Fremddeutung. Sie macht vielmehr vom biblischen Modus der Fremddeutung. Text her ein Deutungsangebot, das Sie macht vielmehr vom bidie Hörenden für sich übernehmen blischen Text her ein Deukönnen oder auch nicht. tungsangebot, das die Hörenden für sich übernehmen können oder auch nicht.17 Die Hörenden sind ja eben selbst diejenigen, die in den immer ambivalenten, positiven wie ne17 Traditionell gesprochen entspricht das Deutungsangebot dem »extra nos« des Glaubensgrundes und dessen Übernahme in die Selbstdeutung der »fides apprehensiva«. 48 

Grundlegung

gativen Erfahrungen des Lebens, das sie zu führen haben, im deutenden Verhältnis zu sich selbst stehen. Auf ihre Lebensdeutungen, in denen und aus denen heraus sie ihr Leben führen, versucht die Predigt die Hörenden mit der christlichen Botschaft anzusprechen. Die in dieser Botschaft implizierte Lebensdeutungsperspektive versucht sie ihnen plausibel zu machen. Langes Predigtdefinition verlangt die religiöse Interpretation der Lebenssituation der Hörenden in der ständigen Aufmerksamkeit auf deren religiöse Selbstinterpretation. Er wollte, dass die Predigt die Lebenserfahrungen der Hörenden im Licht der christlichen Botschaft interpretiert, und diese Interpretation sollte auf die religiöse Selbstauslegung der Hörenden treffen können. Er hat die Hörenden somit in ihrem religiösen (Selbst-)Verhältnis gesehen, als solche, die von der Predigt als Subjekte ihres Lebens und Glaubens, ihres Vertrauens und ihrer Verzagtheit, ihrer Zuversicht und ihres Zweifels anzusprechen sind. Auf Ernst Lange gehen denn auch die Ansätze zu einer empirisch fundierten Religions­hermeneutik zurück.18 18 Der Start zu den von Ernst Lange angeregten »Predigtstudien« war zugleich der Auftakt zur ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die die kirchlichen Bindungskräfte erforschen wollte und deren Ergebnisse 1972 unter der Frage »Wie stabil ist die Kirche? erschienen sind. Das Ergebnis dieser ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung war es bekanntlich, dass die Kirchenmitglieder in der überwiegenden Mehrheit nicht zur sog. Kerngemeinde gehören, sondern durch die Kasualien an die Kirche gebunden werden. Es sind die Gottesdienste an den Wegstationen der Lebensgeschichte, weshalb die Menschen mehrheitlich in der Kirche bleiben. Dieser Tatbestand sollte nun aber gerade dahingegen verstanden werden, dass sie nach wie vor Erwartungen an die Kirche und ihre Verkündigung haben, aber nicht nach Maßgabe kirchlicher Erwartungsnormen, sondern in Entsprechung zu ihren biographischen Sinndeutungsinteressen. An den Krisen- und Wendepunkten der Lebensgeschichte wollen sie sich in die Liturgien einbezogen wissen, die die Lebensdeutung des christlichen Glaubens kommunizieren können. Ernst Lange ging es auf der Esslinger Tagung mit der homiletischen Leitfrage nach »dem Hörer« letztendlich genau darum, die Predigt darauf einzustellen, dass sie die heute gelebte Religion in ihrer Differenziertheit und vor allem auch kirchlichen Distanziertheit über sich zu verständigen hat. Damit die Predigt als christliche Rede in der Gegenwart ankommt, muss sie die TransDer Situationsbezug der religiösen Rede

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Dennoch muss man sagen, dass Langes definitorische Festlegung, wonach es mit dem Hörer »über« sein Leben zu reden gelte, einigermaßen missverständlich bleibt. Denn, wie soll der Prediger mit dem Hörer über dessen Leben reden, d. h. dieses religiös deuten, wenn doch der Hörer ebenso wie der Prediger selbst als ein solcher aufzufassen ist, der sein Leben führt, der somit im Verhältnis zu sich steht, sich deutend zu sich selbst und damit, potentiell, immer auch zur religiösen Dimension seines Lebens verhält. Dass die Hörenden in der Perspektive ihrer je eigenen Subjektivität und damit in ihrem Selbstverhältnis zu Adressaten der Predigt sollten werden können, gilt es gleichwohl noch stärker zu akzentuieren, als Lange das in seinen ansonsten immer noch aktuellen Texten zur Predigtarbeit getan hat. Der Situationsbezug der Predigt ist so zu fassen: Aufgabe der Predigt ist es, dieses Leben, das Predigende und Hörende gleichermaßen selbst sind, im Lichte der durch den Text erschlossenen christlichen Botschaft in eine religiös tiefere Verständigung über sich hineinzuführen.

5. Der Erfahrungsbezug der religiösen Rede Die Situation, auf die die Predigt bezogen ist, ist immer diejenige, die in die religiöse Deutung drängt. Ernst Lange hat sie die »homiletische Situation« genannt.19 Die »homiletische Situation« sah er dadurch definiert, dass es diejenige Situation ist, die die Predigt der Kirche herausfordert. Durch den Situformationen und Variationen der Präsenz der religiösen Frage in der Kultur der Gegenwart wahrzunehmen und deren Rückwirkung auf die Auslegung des biblischen Textes zu erkennen in der Lage sein. Vgl. Wolfgang Huber, Johannes Friedrich und Peter Steinacker (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. 19 Vgl. zur genaueren Bestimmung der »homiletischen Situation« im Anschluss an Lange und zugleich über ihn hinausführend: Andreas Kubik, Was ist eine homiletische Situation?, in: International Journal of Practical Theology (IJPT) 15, 2011, 94–115. 50 

Grundlegung

ationsbezug gewinnt die Predigt, die die christliche Botschaft ausrichtet, ihre Konkretion. Eine situationsbezogene Predigt ist immer eine solche, die die Hörer und Hörerinnen auf sich und ihre Erfahrung beziehen können. Die Predigt kommt bei ihnen an. Sie merken, dass sie gemeint sind. Sie kommen vor, werden aber nicht vorgeführt. Denn es ist ja von dem die Rede, was alle gleichermaßen angeht und zugleich doch jeden und jede ganz individuell. Zu reden ist in der Predigt davon, was aus dieser Situation wird, dadurch dass sie ins Licht der christlichen Botschaft rückt. So kommt es zur religiösen Deutung der Situation, die die Predigt anspricht. Der Begriff der Deutung gewinnt insofern einen zentralen Stellenwert im Ganzen des homiletischen Verfahrens. Die Predigt, so können wir den Begriff der Die Predigt, so können wir den Begriff der religiösen Rede weiter religiösen Rede weiter präzipräzisieren, ist eine Rede, die die sieren, ist eine Rede, die die Situation, die sie anspricht, im Licht Situation, die sie anspricht, im der christlichen Botschaft in die reli­ giöse Deutung bringt. Licht der christlichen Botschaft in die religiöse Deutung bringt. In der Situation, die die Predigt anspricht, spiegelt sich immer die menschliche Grundsituation. In ihr liegt deshalb das, was auf die Deutungsfragen des Lebens verweist. Im Lichte der christlichen Botschaft sucht die Predigt nach einer die Situation treffenden, die Erfahrung mit ihr in der Tiefendimension aufschließenden, auch noch das Unbestimmbare und in seiner Sinnlosigkeit Bedrängende zur Sprache bringenden religiösen Deutung. Für die Hörenden wird diese Deutung zu einem Deutungsangebot. Auf Lebensdeutungen funktionieren nicht in der Fremdzuschreibung, alle Fälle muss es individuell eben weil es zu einem jeden mensch­ angeeignet und in die je eigene lichen Leben gehört, im bewuss­ Selbstdeutung integriert werten und damit deutenden Selbstver­ hältnis gelebt zu werden. Einer kann den können. Lebensdeutungen dem anderem aber in seiner Lebens­ funktionieren nicht in der deutungsarbeit behilflich sein. Fremdzuschreibung, eben weil Der Erfahrungsbezug der religiösen Rede

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es zu einem jeden menschlichen Leben gehört, im bewussten und damit deutenden Selbstverhältnis gelebt zu werden. Einer kann dem anderem aber in seiner Lebensdeutungsarbeit behilflich sein. Dann versucht er in Grenz- und Krisenerfahrungen mit Deutungsinterventionen dem anderen beizustehen. Als eine solche Deutungsintervention lässt sich die Aufgabe der Predigt auch beschreiben. Das macht dann zugleich deutlich, dass der Predigt, vollzieht sie sich als religiöse Deutungsarbeit, immer die Dimension einer seelsorgerlichen Rhetorik zugehört. Die Predigt muss versuchen, das Lebensdeutungspotential der christlichen Botschaft so zu erschließen, dass dieses auch von den Hörenden erfasst werden kann und die Chance hat, in deren Selbstdeutungsvollzug Eingang zu finden. Predigt als religiöse Deutung von Erfahrung teilt Religion mit, weil sie den Hörenden sowohl ihre eigenen Erfahrungen als (implizit) religiöse verständlich macht, wie dann auch die religiös Sinn bildende Kraft der christlichen Botschaft aufzeigt. Indem die Predigt die christliche Botschaft der Auslegung der biblischen Texte abgewinnt, erbringt sie ihre Deutungsleistungen in Aufnahme des Deutungspotentials dieser Texte sowie dann der biblischen Überlieferungen und ihrer Wirkungsgeschichte überhaupt. Deshalb kann man dann sagen: Die Predigt ist religiöse Deutung von Erfahrung Die Predigt ist religiöse Deutung von Erfahrung im Horizont der Deutungs­ im Horizont der Deutungsgegehalte und damit des religiösen halte und damit des reli­giösen Sinnpotenzials der biblischen Texte. Sinnpotenzials der biblischen Texte. Das Deutungsparadigma tritt an die Stelle des Verkündigungsparadigmas. Es übernimmt die Steuerungsfunktion im homiletischen Verfahren. Dies bedeutet, wie bereits hinreichend deutlich geworden sein dürfte, keineswegs, dass es nicht mehr geboten wäre, von der christlichen Botschaft zu sprechen, die die Predigt auszurichten hat. Im Gegenteil, das Deutungsparadigma, also die Ausrichtung der Predigt auf die religiöse Lebensdeutung, hält dazu an, den religiös Sinn stif52 

Grundlegung

tenden Gehalt des biblischen Textes bzw. der ihm abgewonnenen christlichen Botschaft in die Erfahrungen und existenziellen Situationen des Lebens zu vermitteln. Die Situation, die die Predigt anspricht, ist immer im Licht der christlichen Botschaft religiös zu deuten. Das Deutungsparadigma hat geDas Deutungsparadigma hat ge­ genüber dem Verkündigungspara­ genüber dem Verkündigungsdigma den enormen Vorzug, dass es paradigma den enormen Vordazu anhält, die biblisch vermittelte zug, dass es dazu anhält, die christliche Botschaft unter den Be­ dingungen ihrer je individuellen An­ biblisch vermittelte christliche eignung aufzufassen. Botschaft unter den Bedingungen ihrer je individuellen Aneignung aufzufassen. Predigende werden am Leitfaden des Deutungsparadigmas dazu angehalten, die biblischen Texte, denen die jetzt anzusagende und zuzusagende christliche Botschaft immer wieder neu abzugewinnen ist, als Ausdruck deutenden Sich-Verhaltens der biblischen Menschen zu den religiösen Grunderfahrungen des Lebens zu lesen. Das Deutungsparadigma lenkt die Aufmerksamkeit somit auch auf das religiöse Symbolisierungspotential der biblischen Texte. Es lässt deren homiletischen Reichtum erkennen, hält im Unterschied zu dem gegenwärtig so beliebten »ästhetischen Paradigma« aber fest, dass die Predigt zu einer religiös Sinn gewährenden, erbaulichen Rede werden muss und sich nicht mit Wortspielen begnügen darf.

6. Die religiöse Rede und der biblische Text Der biblische Text ist die Basis der Predigt, doch nicht als steinernes Fundament, sondern als lebendiger Wurzelgrund, aus dem die christliche Botschaft hervortritt, wenn wir den Text von unseren eigenen religiösen Sinnfragen herkommend lesen. An die biblischen Texte richten die Predigenden die religiösen Die religiöse Rede und der biblische Text

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Lebensfragen, in der Erwartung, ihnen ein aktuell überzeugendes Lebensdeutungsangebot abgewinnen zu können. Diese Erwartung ist vom Vertrauen darauf getragen, An die biblischen Texte richten die Predigenden die religiösen Lebens­ dass die biblischen Texte fragen, in der Erwartung, ihnen für den symbolischen Ausein aktuell überzeugendes Lebens­ druck der christlich-religiödeutungsangebot abgewinnen zu können. Diese Erwartung ist vom sen Sinnerfahrung eine konVertrauen darauf getragen, dass die stitutive Funktion gewonnen biblischen Texte für den symboli­ haben, sie sich somit auf dem schen Ausdruck der christlichreligiösen Sinnerfahrung eine kons­ Wege ihrer gegenwartsbezotitutive Funktion gewonnen haben, genen Auslegung auch immer sie sich somit auf dem Wege ihrer ge­ wieder als uns Heutige angegenwartsbezogenen Auslegung auch immer wieder als uns Heutige an­ hend erschließen können. Gegehend erschließen können. wissermaßen setzt insofern der normative Bezug der Predigt auf die biblischen Texte den christlichen Glauben an das sich in diesen Texten aus­sprechende göttliche Offenbarungsgeschehen immer schon voraus. Wer predigt, weiß zugleich, dass diese Voraussetzung auf dem Weg der Sinnerschließung der biblischen Texte immer wieder neu eingeholt werden muss und eingeholt werden kann. Dass die Bibel das göttliche Offenbarungswort bezeugt, ist nur dann keine bloß dogmatische Behauptung, wenn die biblischen Texte in den hermeneutischen Vorgang ihrer situationsbezogenen religiösen Deutung hineingenommen werden. Denn dann lassen sie die christliche Botschaft in ihrer Lebenssinn erschließenden Kraft hervortreten. Damit das geschieht, müssen die biblischen Texte aber auch selbst als religiöse Texte interpretiert werden. Die biblischen Texte religiös zu interpretieren heißt, sie als symbolische Artikulation religiöser Erfahrung auszulegen.20 Demgegenüber 20 Anschluss genommen wird mit diesem Hinweis auf das Symbolische der religiösen Rede vor allem bei Paul Tillich. Tillich hat eine religiöse Symboltheorie entwickelt, die das Spezifische des religiösen Symbols darin erkennt, dass es im Medium des Bedingten den Kontakt mit dem Unbedingten vermittelt, nicht nur durch Endliches auf Unendliches hinweist, 54 

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könnte eingewandt werden, dass wir zumeist nichts oder wenig über die empirischen Verfasser der biblischen Texte, somit auch nichts über deren religiöse Erfahrungen wissen. Dieser Einwand trifft jedoch nur scheinbar zu. Jeder Text verweist indirekt auf Menschen, die, indem sie die »Sache« des Textes zur Sprache bringen, zugleich sich selbst in ihrem Bezug zu dieser »Sache« ausdrücken. Wird ein biblischer Text zum Predigttext, dann ist er in der Erwartung zu interpretieren, dass wir in ihm das symbolische Material zur religiösen Deutung auch unseres Lebens werden finden können. Hans-Georg Gadamer hat in seiner Hermeneutik darauf hingewiesen, dass die eigenen Fragen immer die Bedingung des Verstehens eines Textes sind.21 Es gibt deshalb keine Objektivität im Verstehen. Jedes Verstehen, gerade das eines fremden Textes, braucht den Anschluss an ein Schon-VerstandenHaben.22 Nur wenn ich etwas – im wahrsten Sinne des Wortes – anfangen kann mit dem, worum es in einem Text geht, bringt mich dieser Text auch weiter, kann er mein Vorverständnis von der Sache, um die es ihm geht, verändern. Ich verstehe, worum es ihm geht, dann anders und besser, zugleich aber auch mich selbst, da ja ich es bin, dem sich die Sache des Textes, vom eigenen Vorverständnis herkommend, nun in dieser Weise erschlossen hat. So ist das Verstehen nicht nur nicht objektiv, es ist immer auch relativ, bezogen auf mein Die-­Sache-des-TextesVerstehen. Letztlich ist jedes Verstehen der Sache eines Textes ein Mich-in-der-Sache-des-Textes-Verstehen.

sondern an diesem auch teil gibt. Zugleich hat er auch auf die gefährliche Dialektik des Symbols hingewiesen, die dann zu einem ernsten Problem wird, wenn das Bedingte mit Unbedingtheitsgehalt aufgeladen wird. Vgl. Paul Tillich Das religiöse Symbol (1930) in: Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd: 5, Stuttgart 1978, 176–212. 21 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 22 Genau darin, so könnte man auch sagen, liegt der Wert der Kirche und der in ihr fortgesetzten Predigt. Sie ist eine (hermeneutische) Überlieferungsgemeinschaft. Die religiöse Rede und der biblische Text

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Dann führt der Versuch zu verstehen in eine Veränderung, die mit mir geschieht. Auf dem Weg durch den Text hindurch, von meinen Fragen herkommend, komme ich auf mich selbst und mein – letztlich immer vorläufiges – Schon-VerstandenHaben zurück, bereichert durch neue Auffassungen von der Sache, die sich mir in der Arbeit an der Sache des Textes entwickelt haben. Je fremder mir ein Text erscheint, desto eher hat er daher die Chance, die Möglichkeiten meines Mich-Selbst-inder-Sache-Verstehens zu erweitern. So auch im Verstehen und in der Auslegung biblischer Texte. Sie brauchen das für die Predigt produktive Vorverständnis, in der Sache religiöse Texte zu sein. Nur wer sich mit seinen eigenen existenziellen Fragen, den religiösen Lebensfragen, dem Nur wer sich mit seinen eigenen exis­ tenziellen Fragen, den religiösen Le­ Text nähert, wird ihnen einen bensfragen, dem Text nähert, wird religiösen, lebensdeutungsihnen einen religiösen, lebensdeu­ praktischen Sinn abgewinnen. tungspraktischen Sinn abgewinnen. Dem aber, der sich von diesem Vorverständnis leiten lässt, dem erschließen sich die Texte der Bibel in der Sache so, dass er sie als Deutung von religiösen Erfahrungen versteht, die Menschen gemacht bzw. tradiert und die sie in der Sprache ihrer Zeit artikuliert haben. Auch wenn Predigende sich immer fragen müssen, was der Text ihnen sagt, sollten sie auf das sich im Text aussprechende religiöse Erfahrungssubjekt reflektieren. Wer in den biblischen Texten der religiösen Selbstdeutung ihrer impliziten Autoren auf die Spur kommt, der kann auch die Hörenden als die Subjekte ihrer religiösen Lebensdeutung ansprechen und ihnen das Lebensdeutungsangebot, das der Text macht, zur christ­ lichen Botschaft an sie werden lassen. Ernst Lange konnte vom biblischen Text als einem Erfahrungsdokument christlichen Glaubens sprechen. Daran können wir immer noch anschließen. Ist die Einsicht gewonnen, dass es die menschliche Grundsituation ist, die nach religiöser Deutung verlangt, dann ist es die Bibel als ein religiöser Text, von dem wir erwarten können, dass er uns einen Reichtum an 56 

Grundlegung

Möglichkeiten zur religiösen Ist die Einsicht gewonnen, dass es die menschliche Grundsituation ist, Erfahrungsdeutung eröffnet. die nach religiöser Deutung verlangt, Das tun die biblischen Texte dann ist es die Bibel als ein religiöser Text, von dem wir erwarten können, auch. Sie sind offene Texte, in dass er uns einen Reichtum an Mög­ ihrem Sinndeutungspotenzial lichkeiten zur religiösen Erfahrungs­ angereichert durch eine lange deutung eröffnet. Auslegungsgeschichte, die im Wesentlichen auch die gesamte Christentumskultur hervorgebracht hat. Die biblischen Texte schaffen jeder neuen Predigt unendliche Möglichkeiten ihrer religionsproduktiven Auslegung, die die Chance in sich tragen, eigene Erfahrungen in einen religiösen Deutungszusammenhang überführen zu können. Ich muss freilich an den biblischen Text heute relevante religiöse Lebensfragen richten – und tue das im Grund auch immer schon, wenn ich ihn in der »Sache« zu verstehen suche –, denn dann wird eine religiös Sinn stiftende Antwort aus ihm hervorgehen – oder aber es erscheinen diese Fragen noch einmal in einem ganz anderen Licht, so möglicherweise, dass sie jetzt erst in ihrer ganzen Abgründigkeit sichtbar werden. Beides bedingt sich wechselseitig. Der religiösen Situa­ tionsdeutung korrespondiert die religiösen Sinn erschließende Textauslegung. Von welcher Seite ich in diesen homiletischhermeneutischen Zirkel einsteige, in dem sich die religiöse Situations- und die religiöse Textdeutung wechselseitig stimulieren, ist im Grunde nicht wichtig. Ob die Auslegung des biblischen Textes für die Predigt Gewinn bringt, entscheidet sich daran, inwieweit die Lebensdeutung, die der Text zeigt, zu einem überzeugenden Lebensdeutungsangebot für mich selbst und für heutige Predigthörer und -hörerinnen werden kann. Wenn die Predigtaufgabe dahingehend bestimmt ist, dass es mit den Hörenden »über« ihr Leben zu reden gilt, dann ist es dieses Gespräch bzw. dasjenige, was in ihm auf mehr oder weniger kontroverse Weise zur Debatte steht, das auch den biblischen Text in sich hineinzieht. Was der biblische Text, religiösen Sinn stiftend, zu sagen hat, steht dann nicht mehr unabDie religiöse Rede und der biblische Text

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hängig davon fest, welche Sinnerwartungen sich heute auf ihn richten. Seine Sinndeutung geht vielmehr gerade dann aus ihm hervor und wird zu der Botschaft, die die Predigt auszurichten hat, wenn sich in der Auslegung des Textes zeigt, dass die Sache, um die es ihm geht, die ist, einen angemessenen Ausdruck für die eigene religiöse Erfahrung zu finden. Die christliche Botschaft, auf die der Glaube sich ausrichtet und an der er sich festhält, leuchtet schließlich aus dem Gespräch mit dem biblischen Text, wenn dieses den für die Predigt entscheidenden Punkt berührt, hervor. Auf diesen Punkt bezogen ist dann mit Ernst Lange von der »Verheißung« oder dem »Evangelium« als der christlichen Botschaft, die die Predigt auszurichten hat, zu sprechen. Das »Evangelium« imponiert (Karl Barth). Es leuchtet ein. Es ist die christliche Botschaft im Modus der Erschließung einer Wahrheit, die in Freiheit, damit aber immer individuell, perspektivisch, zustimmungsfähig erscheint. Bezieht sich Ernst Langes Predigtdefinition, wonach die Predigt im Lichte des Evangeliums mit dem Hörer »über« sein Leben zu reden hat, darauf, dass auch das Evangelium an ein solches, den Text wie die Predigenden wie die Hörenden in sich einbeziehendes Erschließungsgeschehen gebunden ist, dann ist deren Formulierung noch einmal abzuwandeln. Ich als Prediger rede dann nicht mehr mit den Hörern und Hörerinnen »über« ihr Leben. Ich als Prediger rede vielmehr mit den Hörenden »über«, nein, auch nicht mehr »über«, sondern von, oder noch besser aus unserem Leben, aus meinem und deinem Leben. Jeder hat schließlich sein eigenes Leben, will es zumeist auch als solches führen und ist doch zugleich auf der Suche nach einer Deutung des eigenen Lebens, aus der ihm die Gewissheit zuwachsen kann, es nicht vergeblich zu leben und gelebt zu haben. Darüber, wie wir in diese Gewissheit finden können, tauschen wir uns in der Predigt aus.23 23 Aber eben in einer Weise, in der die exemplarische Rede eines Einzelnen zum Dialog (wesentlich auch mit sich selbst) einlädt. Darin liegt die Ermunterung zur Selbstdeutung durch die Predigt. 58 

Grundlegung

Der Textbezug einer Predigt, die zur religiös Sinn stiftenden Rede werden kann, sollte gesteuert sein von der Frage danach, welches Lebensdeutungsangebot die dem Text Der Textbezug einer Predigt, die zur religiös Sinn stiftenden Rede werden abgewonnene christliche Botkann, sollte gesteuert sein von der schaft macht. Frage danach, welches Lebensdeu­ Dann kann die Predigt datungsangebot die dem Text abgewon­ nene christliche Botschaft macht. nach suchen, wo das christliche Lebensdeutungsange­bot heute plausibel erscheint, es den Hörenden zu einer befreienden, ihnen die Lebensgewissheit stärkenden Botschaft wird. Eine religiöse Lebensdeutung kann sich auch dort noch als tragfähig erweisen, wo Menschen dem Sinnlosen begegnen – im transzendent begründeten, auf Gottes bedingungslose Liebe zeigenden Widerspruch zu ihm. Die Sinnstiftungsfunktion der Religion beruht entscheidend darauf, dass sie es möglich macht, im Horizont unbedingten Sinns auch noch der Sinnlosigkeit widersprechen zu können. Auch Differenzen im Verständnis des Textes können benannt werden. Widerspruch zum Text kann ausgesprochen werden. Die Hörenden müssen sich im Hören der Predigt aber immer in ein ihnen nachvollziehbares, auf ihre innere Zustimmung auch wirklich wartendes Geschehen einbezogen finden. Durch den Textbezug, der die Basis der Predigt auch den Hörenden zugänglich macht, ist recht eigentlich begründet, dass allein das homiDie Hörenden müssen sich im Hören der Predigt aber immer in ein ihnen letische »wir« Ausdruck eines nachvollziehbares, auf ihre innere stimmigen Verhältnisses zwiZustimmung auch wirklich warten­ schen Predigenden und Hödes Geschehen einbezogen finden. renden sein kann.

Die religiöse Rede und der biblische Text

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7. Die religiöse Rede und die mediale Kultur der Gegenwart Die Interpretation der biblischen Texte ist von der Frage nach ihrem religiösen Deutungspotenzial geleitet. Diese Frage gewinnt ihr Profil jedoch erst dann, wenn sie aus der Interpretation der eigenen Gegenwart hervortritt. Die Interpretation der biblischen Texte muss sich, soll sie wirklich deren gegenwärtig relevantes Lebensdeutungspotenzial freilegen können, von Problemstellungen her aufbauen, die sich aus einer aufmerksamen religiösen Hermeneutik der eigenen Gegenwart ergeben, sodass Texthermeneutik und religiöse Gegenwarts- bzw. Kulturhermeneutik miteinander korrespondieren. Die Interpretation der eigenen Gegenwart gibt der Interpretation der biblischen Texte überhaupt erst die Chance, dass sie zu heute ansprechenden religiösen Texten werden, zu Texten, die uns Heutige ansprechen auf das hin, was sie uns zu den Lebensfragen zu sagen haben. Was uns mit den biblischen Texten verbindet, ist natürlich die menschliche Grundsituation, auf die sie sich beziehen. Aber sie tun dies eben in der Sprache und mit den Vorstellungsgehalten ihrer Zeit. Wir können schlechterdings nicht einfach davon ausgehen, dass ihre Sprache und ihre Vorstellungswelt auch uns Heutigen unmittelbar verständlich sind. Nur wenige, auch unter denen, die häufiger Predigten hören, lesen in der Bibel. Nur wenige leben gewissermaßen mit der Bibel. Der hermeneutische Ausgangspunkt für eine gegenwartstaugliche Interpretation des biblischen Textes, die auf die Predigt zuführen können soll, kann somit nicht die Vertrautheit mit den biblischen Texten, ihrer Sprache und Vorstellungswelt sein. Predigende werden die interpretativen Anschlüsse der biblischen Texte an die eigene Gegenwart nur finden, wenn sie diese gezielt und in einer eigenen, gegenwarts- bzw. kulturhermeneutischen Auslegungsbemühung herstellen. Sie müssen deshalb aufmerksame und wache Leser und Leserinnen der 60 

Grundlegung

Kultur der Gegenwart sein. Dabei gilt es, sich an einem weiten Kulturbegriff zu orientieren.24 Dann gehört die Alltagskultur genauso dazu wie die mediale Kultur, die literarische Kultur, die audiovisuellen Medien bis hin zum Internet. Die religiöse Gegenwarts- und Kulturhermeneutik, mit der sich die homiletische Texthermeneutik verschränken muss, kennt in der Sache keine Grenzen, weil in unserer Mediengesellschaft alle unsere lebensweltliche Verständigung immer schon an die Medien angeschlossen ist und von ihnen entscheidend geprägt wird. Die Religionskulturhermeneutik, die die Predigt braucht, ist deshalb im Wesentlichen Medienhermeneutik. Sie verlangt das Lesen von Zeitungen, von Literatur, den häufigeren Gang ins Kino oder Theater, natürlich auch das Fernsehen und den Gebrauch der Internetkommunikation. So wenig freilich schon Beobachtungen, die sich bei einem Gang über die Fußgängerzone oder während einer Fahrt in der S-Bahn einstellen, zu unmittelbar verwertbarem Material für die Predigt führen, kann auch der religionskulturhermeneutisch gemeinte Hinweis auf Literatur und Film, Fernsehen und Internet nicht so gemeint sein, dass direkte Übernahmen anzustreben wären  – möglicherweise stellt das Theater einen Sonderfall dar, da es dort – zwischen Text und Gegenwartssituation  – um einen der Predigt strukturell ähnlichen (Text-)Erschließungs- und (publikums­ bezogenen) Darstellungsvorgang handelt.25 Auch kann es nicht allein darum gehen, intertextuelle Verweise herzustellen oder Konstellationen im Predigttext zu schaffen, durch die biblische Texte und Bilder mit Texten und Bildern aus der literarischen oder filmischen Produktion unserer Gegenwart konfrontiert werden. 24 Ihn habe ich vor allem im Anschluss an Ernst Cassirer, Susanne Langer und Clifford Geertz entwickelt und in seiner religionskulturhermeneutischen Brauchbarkeit vorgeführt in meinem Buch: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2006. 25 Vgl. zum Konzept der Theatralität in Gottesdienst und Predigt. Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh 2006. Die religiöse Rede und die mediale Kultur der Gegenwart

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Von zentraler homiletischer Bedeutung ist die inzwischen durch empirische Untersuchungen verstärkte Einsicht, dass die mediale Kultur der je eigenen Gegenwart immer auch Lebensdeutungen anbietet, die für Menschen religiös relevant Die mediale Kultur, insbesondere in ihren populären Genres, findet werden können.26 Die mediale Eingang in die Sinneinstellungen Kultur, insbesondere in ihren und Lebensorientierungen der Men­ populären Genres, findet Einschen. Deshalb vor allem brauchen Predigende den hermeneutischen gang in die Sinneinstellungen Blick auf die mediale Kultur, eben und Lebensorientierungen der um sie auf die Lebensdeutungen hin zu erschließen, die sich in ihr Aus­ Menschen. Deshalb vor allem druck verschaffen. brauchen Predigende den hermeneutischen Blick auf die mediale Kultur, eben um sie auf die Lebensdeutungen hin zu erschließen, die sich in ihr Ausdruck verschaffen. Gelingt es, literarische oder filmische Gehalte, theatrale Inszenierungen oder populäre Musik- und Bildwelten in ihren lebensdeutungspraktischen Motiven zu verstehen, dann lässt sich das für die gegenwartssensible und religiös sinnproduktive Interpretation der biblischen Texte fruchtbar machen.27 Denn die Religionshaltigkeit der medialen Kultur besteht darin, dass sich in Film und Fernsehen, in Literatur und Musik, Kunst und Theater Symbolisierungen letztinstanzlicher Sinndeutungen des Lebens auffinden lassen.28 Und es scheint mir evident, dass sie heute für die Arbeit an Lebensdeutungen von den Menschen rezipiert werden und damit gewissermaßen eine religionsbildende Funktion gewinnen. 26 Vgl. dazu die auf empirischer Basis vorgehende Studie von Jörg Herrmann, Medienerfahrung und Religion, Göttingen 2007. 27 Solche religionshermeneutischen Interpretationen hat auf überzeugende Weise vorgelegt: Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino, Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 2002. 28 Beispielhaft für die homiletisch brauchbare religionskulturhermeutische Erschließung von Filmen sind die aus der Praxis von Filmgottesdiensten hervorgegangenen Bücher von Hans-Martin Dober: Vgl. Hans-Martin Dober, Film-Predigten, Göttingen 22011; dersb. Film-Predigten II, Göttingen 2012. 62 

Grundlegung

Entscheidend kommt es auf die religionskulturhermeneuti­ sche Anstrengung an, auf die Interpretationsarbeit. Denn dann erst bringt mich das Verstehen der medialen Gegenwartskultur auch zum Verstehen der gelebten Religion, dessen also, was den symbolischen Horizont ausmacht, vor dem sich den Menschen ihre Lebenseinstellungen und Lebensvorstellungen formieren. So wachsen dann auch der Interpretation der biblischen Texte die Fragen zu, die die Menschen tatsächlich in religiöser Hinsicht heute haben, Lebensfragen, die nach einer Antwort verlangen oder tiefgründiger aufgefasst werden müssen. Die Menschen bewegen sich heute in einem offenen kulturellen Raum sowohl der Kommunikation über Religion wie der Kommunikation von Religion. Religiöse Kommunikation ist allenthalben Bestandteil der medialen Kommunikation, an die wir wiederum alltagskulturell permanent angeschlossen sind.29 Predigende, die an diesen Kommunikationen selbstverständlich ebenso teilhaben, müssen sie zugleich beobachten und in ihrem religiösen Gehalt interpretieren, die religiös offenen Stellen sehen, um dann zu versuchen, die biblischen Texte ins Gespräch mit den heute virulenten Lebenseinstellungen und -vorstellungen zu bringen. Die religionskulturhermeneutische Öffnung der homiletischen Textauslegung hilft des Weiteren dazu, den Situationsbezug der Predigt nicht nur im interpersonalen Nahbereich der »Gemeinde« zu suchen. Die Predigt braucht die sehr viel weiter, in alle Bereiche von Kultur und Gesellschaft ausgreifende Gegenwartsdeutung. Selbst diejenigen, die als »Gemeinde« zu Gottesdienst und Predigt zusammenkommen, führen ihr Leben ja nicht ausschließlich als bzw. in der Gemeinde, sondern in komplexen kulturell-gesellschaftlichen Lebenswelten. In diesen vielfältigen Lebenswelten, von Familie und Beruf, Arbeit und Freizeit, Politik und Unterhaltung, Wirtschaft und 29 Das habe ich auf der Basis grundlegender Überlegungen zu einer Reli­ gionskulturhermeneutik ausgearbeitet in meinem Buch: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. Die religiöse Rede und die mediale Kultur der Gegenwart

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Bildung entstehen die Lebensfragen, deren religiöse Dimension eine gegenwartssensible Predigt aufzugreifen hat. In der modernen Medienkultur sind zudem alle InterfaceKommunikationen, sei es in der Familie, in der Schule, im Freundeskreis oder in der christlichen Gemeinde von den medialen Informations-, Unterhaltungs- und Werbeprogrammen mitbestimmt. Im Blick auf die intellektuelle Dimension der Religion kann zudem der Einfluss, den die Thematisierung religiöser und theologischer Fragen in den Talkshows des Fernsehens sowie den sozialen Foren des Internets haben, nicht hoch genug veranschlagt werden. Selbst diejenigen, die keinen Kontakt zur rituellen Dimension der Religion haben, an Kirche und Gemeinde keinen Anschluss finden und auch in der Schule keinen Religionsunterricht hatten, werden durch die Medienkommunikation, insbesondere durch Fernsehen und Internet, doch auf religiöse Themen und Fragen gestoßen, zur Beschäftigung mit ihnen angeregt und in religiöse Unter­ haltung hineingezogen. Das gilt dann natürlich auch oder sogar verstärkt für diejenigen, die Predigten hören – sei es in einem Sonntags- oder einem Kasualgottesdienst (wozu ja z. B. auch die Gottesdienste an Heiligabend zu zählen sind), sei es im Fernsehen und Radio, wo Tag für Tag, Sonntag für Sonntag, Predigten zu hören sind. Sei es im Internet, wo zahlreiche Predigten zu jedem Sonntagspredigttext nachzulesen sind und oft auch kommentiert werden können. Die Predigthörenden bringen religiöse und theologische Fragen somit aus ihrem Anschluss an die mediale Kommunikation immer schon mit. Eben deshalb ist es für die Predigenden enorm wichtig, darauf zu sehen, wie religiöse Themen in der außerkirchlichen Gegenwartskultur angesprochen oder gar verhandelt werden. In Literatur und Film, auf den Theaterbühnen, in der bildenden Kunst und nicht zuletzt in zahlreichen Internetforen werden religiöse Themen nicht nur aufgeworfen und religiöse Fragen nicht nur gestellt, sondern auf eigenständige und theologisch oft auch höchst interessante Weise bearbeitet und mit Antworten versehen. 64 

Grundlegung

Insbesondere in der modernen bildenden Kunst können wir sehen, wie die Künstler immer wieder nach einer neuen Bildsprache, nach unverbrauchten Metaphern suchen, um andere Sichtweisen auf die Wirklichkeit zu ermöglichen, um die Wirklichkeit in ihren subjektiven Resonanzen zum Ausdruck zu bringen und die reine Empfindung zu ermöglichen. Die Kunst hat sich allen Verpflichtungen entwunden, eine schon vorgegebene Wahrheit und Wirklichkeit abzubilden. Sie schafft ihre eigene Wirklichkeit und erreicht es gerade so, dass die Betrachter in ein neues Sinnuniversum gelangen und sie anders auf ihre Alltagswirklichkeit zurückkommen. Mit Bildern autonomer Kunst zu predigen, kann die Kunst des Predigens ungemein inspirieren.30 Auch das Verfahren der darstellenden Künste, der bildenden Kunst ebenso wie des Theaters und des Films, kann die Auslegung des biblischen Textes inspirieren. Die Ästhetik der Bildkunst legt den Predigenden nahe, den Text als eine Vorlage zu nehmen, die immer wieder neue Aspekte der christlichen Botschaft erkennen lässt. Was sich von der Bildkunst vor allem lernen lässt, ist das kreative Innovationspotenzial, mit dem sie die tradierten Vorgaben fortschreibt, um in den ästhetischen wie intellektuellen Atmosphären der Gegenwart die existenziellen Grundfragen von Tod und Leben, Liebe und Hass, Gut und Böse, Gewalt und Versöhnung, Gericht und Gnade, Verzweiflung und Hoffnung, Anfang und Ende zum Austrag zu bringen. Die großen Themen des Lebens, die auch die Themen der Bibel sind, kommen ebenso in Film und Literatur, in der Popmusik und auf der Theaterbühne vor, oft kontrovers, schräg, verstörend, immer wieder anders. Nicht die Wiedererkennbarkeit von schon Bekanntem ist das Ziel der Künste, sondern die spannende und unterhaltsame Konfrontation mit einer neuen Sicht auf das Vertraute.

30 Vgl. Heinz-Ulrich Schmidt/Horst Schwebel (Hg.), Mit Bildern predigen. Beispiele und Erläuterungen, Gütersloh 1989. Die religiöse Rede und die mediale Kultur der Gegenwart

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Das kann, wie wir insbesondere am Theater sehen, auch im Rekurs auf tradierte Vorlagen, etwa die Dramen der Klassiker, geschehen. Eine gute Inszenierung versucht, der literarischen Vorlage gerecht zu werden, den Text wirklich zu interpretieren, zugleich aber doch das Stück so aufzuführen, dass das Publikum sich vom Geschehen auf der Bühne wieder ganz neu berührt und angesprochen, aufgewühlt und erschreckt, angezogen und zurückgestoßen findet, in die Handlung einbezogen, wie auch zur kritischen Selbstreflexion angeregt. Will man das Verfahren der Predigtkunst auf eine Methode hin beschreibbar machen, dann wäre mit dem Künstler und Kunsttheologen Thomas Lehnerer von der »Methode der Freiheit« zu sprechen.31 Diese setzt auf das Zusammenspiel zwischen der religionshermeneutischen Auslegung des biblischen Textes und den Korrespondenzen, die sich dabei zu religiös relevanten Themen und Fragen der eigenen Existenz und Gegenwart aufbauen. In diesem Zusammenspiel von Text­auslegung und religionshermeneutisch produktiver Gedankenbildung kann eine Predigt entstehen, die den religiös Sinn stiftenden Gehalt des biblischen Textes erfasst und zugleich den religiösen Nerv heutigen Lebens berührt.

8. Die religiöse Rede und der christliche Glaube Durch die religionshermeneutische Ausrichtung gewinnt die Predigt ihr existenziell relevantes, die Wirklichkeit des Lebens treffendes Thema. Das Verbraucht-Formelhafte, das der Predigt leicht zum Verhängnis wird, kann vermieden werden und zugleich Entscheidendes dafür geschehen, dass die Predigt den biblischen Text so versteht, dass das, was er uns religiös zu sagen hat, deutlich wird. Das Religiöse ist das existenziell unbedingt Angehende, sind die Erfahrungen, die uns auf den Glauben verweisen, auf unser Vertrauen, auf die Fähig31 Thomas Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994. 66 

Grundlegung

keit, dass wir uns auch noch zum Unverfügbaren sinndeutend verhalten können. Das Religiöse, das die Predigt, bezogen auf die Bibel und unsere menschliche Situation vor Augen, zu sagen hat, wird im kirchlichen Kontext – aber dieser ist in der gegenwärtigen religiösen Lage in einem ganz weiten, undogmatischen, ökumenischen Sinn zu verstehen  – zugleich aber auch das Christliche sein. Der Predigt liegt, wenn sie im kirchlichen Auftrag geschieht, ja auch deshalb explizit oder implizit die Bibel zugrunde, weil sich mit der Bibel die gemeinchrist­ liche Überzeugung verbindet, dort dem Ursprungszeugnis des christlichen Glaubens zu begegnen. Die Frage nach dem spezifisch Christlichen, nach der christlichen Botschaft, die die religiöse Rede auszurichten hat, läuft insofern bei der religionsund gegenwartshermeneutisch ausgerichteten Interpretation der biblischen Texte immer mit. Damit ist aber auch klar, weshalb die systematisch-theo­ logische Reflexion in der Predigtarbeit eine zentrale Rolle spielt. Denn was wir im Blick auf die religiös produktive Auslegung des biblischen Textes, ihren religionshermeneutischen Hintergrund, gesagt haben, gilt auch für das spezifisch Christliche. Es geht aus der Textauslegung genauso wenig hervor wie aus der religiösen Gegenwartsdeutung, sondern setzt eine theologisch reflektierte Gesamtauffassung vom christlichen Glauben, einen Begriff vom »Wesen des Christentums«, bereits voraus. Das spezifisch Christliche wie alle Glaubensgedanken, die die Dogmatik bzw. die Glaubenslehre in einen systematischen Zusammenhang bringt, entspringt der Selbstauslegung des christlich-religiösen Bewusstseins. An dieser Stelle spielen somit auch die konfessionellen Differenzierungen des Christentums in die religiöse Rede durchaus hinein, bedingt doch der kirchliche Auftrag zur christlichen Predigt bzw. Glaubensrede auch ihre Bekenntnisbindung und den Ausweis ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirchengemeinschaft. Die Rolle der kirchlichen Dogmatik ist die einer Glaubenslehre, im Unterschied zur Predigt als der Glaubensrede, als der christlich-religiösen Rede. Die Glaubenslehre ordnet die Die religiöse Rede und der christliche Glaube

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christlichen Glaubensgedanken, während die Predigt sie ansprechend und überzeugend zur Mitteilung bringt. Die Differenz liegt in der Form, nicht eigentlich im Inhalt, obwohl natürlich die Form immer auch den Inhalt verändert. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass Dogmatik und Predigt gleichermaßen aus der Selbstauslegung des – im christlichen Auslegungskontext sich bewegenden  – reli­ giösen Bewusstseins hervorgehen. Die Dogmatik tritt insofern der Predigt nicht als normative Größe gegenüber, sondern sie steht neben ihr, besser, sie begleitet sie bei der Ordnung ihrer Gedanken. Sie macht vor allem die Frage nach dem wesentlich Christlichen für die Predigt drängend. In reformatorischer Tradition erkennt sie das wesentlich Christliche in der den soteriologischen Gehalt der Christologie zum Zuge bringenden Rechtfertigungslehre.32 Von diesem rechtfertigungstheologischen Zentrum her bringt sie die Selbstauslegung des christ­ lichen Bewusstseins dann in eine bestimmte Struktur, wie sie in der expliziten Dogmatik mit der Schöpfungs-, Versöhnungsund Erlösungslehre entfaltet wird. Etwas Entscheidendes kommt noch hinzu, es betrifft die von der Dogmatik unterschiedene Form der Predigt. Die Dogmatik bzw. besser die Glaubenslehre ordnet die von der Predigt zu entfaltenden Aspekte christlich-religiöser Lebensdeutung. Sie konzentriert zugleich die Predigtarbeit auf das wesentlich Christliche. Damit kommt ihr die Funktion einer Topologie religiöser Rede zu, nicht aber sollte sie zu dieser selbst werden.

Die Rolle der kirchlichen Dogma­ tik ist die einer Glaubenslehre, im Unter­schied zur Predigt als der Glaubensrede, als der christlichreligiösen Rede. Die Glaubenslehre ordnet die christlichen Glaubens­ gedanken, während die Predigt sie ansprechend und überzeugend zur Mitteilung bringt.

32 Vgl. Wilhelm Gräb, Der Römerbrief in der christlichen Verkündigung oder die paulinische Rechtfertigungslehre im modernen Lebenszusammenhang, in: Cilliers Breytenbach (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden, Neukirchen-Vluyn 2012, 177–194. 68 

Grundlegung

Die Predigt ordnet nicht, wie die Glaubenslehre, die christ­ lichen Glaubensgedanken. Ihr geht es auch nicht direkt um die Bestimmung des wesentlich Christlichen. Ihre Aufgabe ist es, die christlichen Glaubensgedanken überzeugend mitzu­ teilen und deren Kraft zu einer die Sinngewissheit stärkenden Lebensdeutung auszuspielen. Sie entfaltet nicht die Rechtfertigungslehre als das Zentrum der christologisch verankerten Glaubenslehre, sondern sie spricht die Rechtfertigungs­botschaft auf ergreifende Weise zu. Sie macht den lebensdeutungspraktischen Sinn der evangelischen Rechtfertigungslehre zum aktuell ansprechenden Lebensdeutungsangebot. So bringt die Predigt das »Überlehrmäßige« (E. Hirsch) der evangelischen Rechtfertigungslehre zum Zuge. Sie vollzieht den performativen Akt eines Sprachhandelns dadurch, dass sie vorbehaltlose Anerkennung zusagt. Sie setzt darauf, dass die Hörenden diese Zusage schon im Akt des Hörens spüren (können), dabei von allem Rechthabenmüssen entlastet werden und Gottes bedingungslose Liebe im Herzen empfinden. Die Glaubenslehre geht vom christlich-religiösen Glaubensbewusstsein aus und entfaltet die ihm implizite Lebens­deutung auf eine möglichst gedanklich kohärente Weise. Den bewegenden und ergreifenden Akt der Mitteilung des Glaubens hingegen hat die Glaubenspredigt zu vollziehen, indem sie die biblisch fundierte und in der Vielfalt der Predigttexte immer wieder neu konturierte Rechtfertigungsbotschaft existenzial interpretiert. Die Predigt ist überzeugungsinteressierte und auf persönliche Aneignung zielende Glaubensrede, nicht an gedanklicher Kohärenz und umfassender Begriffsarbeit interessierte Glaubenslehre. Dennoch kann die Orientierung an einer Glaubenslehre, an derjenigen, zu der Predigende sich selbst durchgearbeitet haben, der Glaubensrede höchst dienlich sein, eben weil sie der Predigt zu einer systematisch-theologisch reflektierte Ordnung und damit zu gedanklicher Nachvollziehbarkeit im Hören verhilft. Man kann die Sache auch so sehen, dass jede durchdachte Predigt ein Beitrag zu einer heute möglichen Glaubenslehre Die religiöse Rede und der christliche Glaube

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ist. Wer predigt, beteiligt sich mit seiner Glaubensrede zugleich immer an der Verfertigung (s)einer Glaubenslehre. Dabei kann es für Predigende nützlich sein, bei klassischen Dogmatiken in die Schule gegangen zu sein. Aber das kann im Grunde immer nur die formale Ordnung des Glaubensausdrucks betreffen. Denn, inhaltlich gesehen, kann eine Dogmatik immer nur ihre je eigene Zeit in systematisch geordnete Glaubensgedanken fassen. So wie jede Zeit ihren eigenen systematisch geordneten Glaubensausdruck braucht, muss erst recht jede situationsbezogene Predigt zu einer eigenen, immer wieder neuen und zugleich eben doch die eine christliche (Rechtfertigungs-) Botschaft ausrichtenden religiösen Rede werden.33 Eine solche topographische, strukturierende Orientierung an der Dogmatik des christlichen Glaubens geht in die religionshermeneutische Deutung des biblischen Textes und der gegenwärtigen Situation der Hörenden ein. Sie sorgt dafür, dass die Predigt auch wirklich die christliche (Rechtfertigungs-)Botschaft ausrichtet und zu einer Verständigung über das christ­ liche Leben führt. Denn dazu braucht sie eine Grundauffassung von dem, wofür das Christentum, von seinem eigenen Selbstverständnis her steht. Im arbeitsteiligen Geschäft der Theologie ist das die Aufgabe der Dogmatik bzw. der Dogmatik und Ethik umgreifenden Systematischen Theologie. Die Orientierung an der Dogmatik bzw. die Integration dogmatischDie Orientierung an der theologischer Reflexion in die TextDogmatik bzw. die Integration und Religionshermeneutik der dogmatisch-theologischer RePredigt, ermäßigt aber nicht die Anforderungen, die an die flexion in die Text- und Religiästhetisch-rhetorisch ansprechende onshermeneutik der Predigt, Form der Darstellung ihres Inhalts ermäßigt aber nicht die Anzu stellen sind. forderungen, die an die ästhe­ 33 Vgl. Wilhelm Gräb, Wofür das Christentum heute steht. Überlegungen zum Stellenwert systematisch-theologischer Reflexion in der Predigtvorbereitung, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 1991/92, II, 1, Stuttgart 1991, 7–16; Hans-Martin Barth, Vom Nutzen der Dogmatik bei der Predigtvorbereitung, in: PTh 77, 1988, 538–548. 70 

Grundlegung

tisch-rhetorisch ansprechende Form der Darstellung ihres Inhalts zu stellen sind. Gerade eine in ihrer Botschaft klare evangelische Predigt braucht die Kunst, auf spirituell anregende und zum Glauben motivierende Weise Gott zur Sprache bringen zu können. Es gilt ein Innen, das das Selbstverständnis mitbestimmende Gottesverhältnis, nach außen zu bringen, in die sprachlich-symbolische Ausdrucksgestalt,und dabei sensibel zu sein für die verschiedenen Prägungen und Formen, in denen die religiöse Dimension des Lebens heute individuell erfahren, reflektiert und artikuliert wird. Auf dem Wege einer ästhetisch ansprechenden bzw. rhetorisch gelungenen Darstellung kann es gelingen, den christlichen Glauben als lebenspraktisch tragfähige, weil unbedingte Lebensgewissheit vermittelnde Lebensdeutung zur Mitteilung zu bringen.

9. Die Predigenden als die Subjekte der religiösen Rede Nicht die Predigt redet. Predigende reden. Sie reden zur persönlichen religiösen Überzeugung und können dies nur tun, indem sie aus eigener religiöser Überzeugung heraus reden. Das bedeutet, dass die Predigenden die Predigt immer als einen Akt christlich-religiöser Selbstdeutung vollziehen. Sie nehmen die religiöse Deutungsbedürftigkeit des je eigenen Lebens und des Lebens ihrer Hörer und Hörerinnen auf und stellen sie in das Licht des Deutungsangebotes der christlichen Botschaft. Die Predigt kann nur dann zur persönlichen Überzeugung reden, wenn sie selbst von persönlicher Überzeugung ge­tragen ist. Die Predigenden sind immer nach ihrem eigenen religiösen Selbstverständnis gefragt. Sie sind nie diejenigen, die sich auf eine objektive Sachmitteilung zurückziehen können. Der Gegenstand ihrer Rede, so könnte man zwar immer noch sagen, ist die in der Auslegung des biblischen Textes gewonnene christliche Botschaft. Aber genau diese liegt ja nicht objektiv vor, weder im Text noch in der Situation der Hörenden. Die Die Predigenden als die Subjekte der religiösen Rede

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christliche Botschaft geht vielmehr, soll sie zur überzeugenden und die Hörenden existenziell ansprechenden christlichen (Rechtfertigungs-) Botschaft werden können, zuallererst aus eben den hermeneutischen Erschließungsprozessen hervor, die die Predigenden zu durchlaufen haben. Deshalb kommen die Predigenden schließlich als die medialen Subjekte der religiösen Rede zu stehen, was aber in einem tieferen Sinn zugleich meint, dass die Botschaft, die sie ausrichten, als sprachliche Markierung ihrer eigenen religiösen Überzeugungsgewissheit muss verstanden werden können. Was die Predigt kommuniziert, sollen jedenfalls keine bloßen Sachinformationen sein, weder über das historische Verständnis des biblischen Textes noch über die religiösen, kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Gegenwartsverhältnisse. Was die Predigt kommuniziert, sollte in diejenige sprachliche Ausdrucksgestalt der christlichen Botschaft finden, die vom Was die Predigt kommuniziert, sollte in diejenige sprachliche Aus­ eigenen Sich-durch-diese-Botdrucksgestalt der christlichen Bot­ schaft-Angeredet-Verstehen schaft finden, die vom eigenen getragen ist und sich dem je Sich-durch-diese-Botschaft-Angere­ det-Verstehen getragen ist und sich eigenen Selbstverhältnis bzw. dem je eigenen Selbstverhältnis bzw. der Übernahme ins je eigene der Übernahme ins je eigene Selbst­ Selbstverständnis anbietet. verständnis anbietet. Möglicherweise ließe sich, so gesehen, die Rede von der Predigt als »Sprachereignis«34 wieder aufnehmen. Sie war von der hermeneutischen, auf die existenziale Interpretation der biblischen Texte zielenden Wort-Gottes-Theologie aufgebracht worden. Anders als in der hermeneutischen Wort-Gottes34 Sie geht maßgeblich auf Ernst Fuchs zurück und wollte zum Ausdruck bringen, dass die christliche Botschaft dann Glauben findet, wenn sie die Existenz des Glaubenden erschließt. Vgl. Ernst Fuchs, Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, in der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen. In: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation. Gesammelte Aufsätze Bd. I. 2. durchges. Auflage. Tübingen 1965, S. 281 ff. 72 

Grundlegung

Theologie wäre jetzt jedoch die religiöse Performanz der Predigt mit Rücksicht auf das Sprechhandeln der Predigenden zu beschreiben. Das existenziell-religiöse Erschließungsgeschehen, auf das die Predigt zielt, verlangt den Vorgang der rhetorischen Formung der Rechtfertigungsbotschaft, sodass sich die Wirksamkeit dessen, was sie sagt, freisetzen kann – und es zu der von der Rechtfertigungszusage sich bestimmt wissenden Selbstdeutung kommt. Es ist, wo es zu diesem Vorgang kommt, keineswegs nur von einem die Hörenden passiv in sich einbeziehenden Erschließungsgeschehen zu reden. Dieses Erschließungsgeschehen, auf das die Rede von der Predigt als »Sprachereignis« durchaus immer noch aufmerksam machen kann, verlangt die Predigenden als die aktiven Träger des sprachlich-rhetorischen Vorgangs, durch den die christliche Botschaft, die in der Auslegung des biblischen Textes erschlossen wurde, ihre existenziell relevante Lebensbedeutsamkeit zeigt und so dann auch ihre individuelle Aneignung ermöglicht. Das aneignende Tun der Hörenden ist für diesen sprach­ lichen Inszenierungsvorgang der religiösen Rede ebenso konstitutiv. Die Ansprache der Hörenden auf ihre persönlichen Überzeugungen, ihre lebensorientierenden Einstellungen oder, kurz gesagt, ihr religiöses Bewusstsein öffnet der Predigt den Raum, in dem sie das christliche Sinnangebot entfalten kann. Je energischer die Predigenden ihr eigenes Selbstverständnis in die christliche Lebensdeutung, die sie mit der Auslegung des biblischen Textes zur Sprache bringen, einbeziehen, desto eher finden sich auch die Hörenden in den Vorgang der existenziellen Aneignung der christlichen (Rechtfertigungs-)Botschaft, die die Predigt ausrichtet, hineingezogen.

Die Predigenden als die Subjekte der religiösen Rede

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10. Die Hörenden als Adressaten der religiösen Rede Außerhalb traditionsgemeindlicher Milieus wird die kirch­ liche Sprache nicht mehr verstanden. Der Kanon christlicher Glaubensvermittlung, wie er früher mit Bibel, Katechismus und Gesangbuch gegeben war, ist abhanden gekommen. Predigende müssen daher, nehmen sie die heutigen Menschen wirklich in den Blick, diese für religiöse Fragen als Fragen menschlicher Existenz allererst sensibilisieren und die im Alltag aufbrechenden Motive religiöser Sinnreflexion artikulieren. Das gilt umso mehr, sofern anerkannt ist, dass die Predigt keine Sachmitteilung ist, nicht Informationen weitergibt, nicht schlicht die christliche Botschaft »ausrichtet«, sondern diese auf dem Wege der Ausarbeitung eines sprachlich artikulierbaren Lebensdeutungsangebotes zu religiöser Existenzmitteilung zu machen versucht. Das kann sie nur, wenn sie Hörende in eine Verständigung über ihre eigenen religiösen Erfahrungen hineinnimmt und eben dies im Lichte der durch den biblischen Text profilierten Artikulation religiöser Überzeugung und christlichen Lebensdeutung tut. Dann kann sie die Hörenden in den Vorgang einer Selbstverständigung über das christliche Lebensdeutungsangebot hineinziehen. Um in dieser Weise ins Gespräch mit den Hörenden, wer auch immer sie seien, zu kommen, sollten Predigende neben den texthermeneutischen verstärkt religionshermeneutische Fähigkeiten ausbilden. Religionshermeneutik zielt auf ein Wahrnehmen und Verstehen der religiösen Sinndimension in den menschlichen Lebensäußerungen. Dann nämlich lassen sich auch die Fernstehenden auf die Kirche näher ein, wenn sie sich nicht bevormundet, sondern sich sowohl in ihren Fragen und ihrer Suche verstanden fühlen wie dann auch mit einem Lebensdeutungsangebot konfrontiert, das sie in die Sinnbezüge ihres Lebens integrieren können. Die Predigt ist eine adressierte Rede. Sie darf nicht beim biblischen Text und seiner Auslegung stehen bleiben. Auch der 74 

Grundlegung

gegenwärtig so beliebte Hinweis, dass es den Text zu inszenieren gelte, geht nicht weit genug, weil er den für eine überzeugungsorientierte Rede entscheidenden Gesichtspunkt übersieht, dass der Redende sich immer auch ein Stück weit an die Stelle dessen versetzen muss, den er von seiner Sache zu überzeugen versucht. Die Adressiertheit der Predigt als religiöser Rede gehört zu denjenigen Kriterien, mit denen sie den Regeln persuasiver Kommunikation folgt. Die Predigt orientiert sich jedenfalls besser an der Rhetorik bzw. Sprechwissenschaft35 als an der Theaterwissenschaft. Die Predigt bringt nicht ein Stück Bibel zur theatralen Aufführung und Predigende sind nicht deren Dramaturgen. Die Predigt befragt biblische Texte vielmehr daraufhin, was sie in einer gegenwärtige Hörer und Hörerinnen religiös überzeugenden Rede zu sagen haben. Dabei spielt dasjenige, was Predigende aus ihrer eigenen religiösen Selbstdeutung heraus für wichtig erachten, eine entscheidende Rolle. Aber auch dieses sollte in die Predigt nur dann Eingang finden, wenn es die Chance hat, den Hörenden in irgendeiner Weise nachvollziehbar zu sein. Nie jedenfalls darf die Predigt über­ sehen, dass sie als adressierte Rede die Hörenden konstitutiv in den Blick nehmen muss.

11. Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede Die Adressaten der religiösen Rede, die Hörenden, sind zudem gleichermaßen deren Subjekte. Ihr Hören ist ein aktiver Bewusstseinsvollzug vermittels dessen sie die existenzielle, Sinn erschließende Aneignung der christlichen Botschaft vollziehen. So gesehen zeigt sich noch einmal, wie wichtig es für die Homiletik ist, mit einem formalen Begriff der Religion und 35 Zu dem hier intendierten Verständnis von Sprechwissenschaft und Rhetorik, sowie deren Verhältnis zueinander vgl. Norbert Gutenberg, Einführung in Sprechwissenschaft und Sprecherziehung, Frankfurt a. M. 2001, 133–172. Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede

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des religiösen Bewusstseins zu arbeiten. Der Rekurs auf das religiöse Bewusstsein erlaubt die Annahme, dass es zur Verfassung unseres bewussten Lebens gehört, darum zu wissen, dass wir in unserem Selbst- und Weltverhältnis uns selbst zugleich immer auch entzogen sind. Unser Selbstverhältnis ist immer schon durch die Negativität bestimmt, dass wir nicht mit uns selbst identisch sind, wir uns in unmittelbarer Selbstvertrautheit zwar gefühlsbasiert gegenwärtig sind, wir dieses Wissen um uns aber nicht gegenständlich vor uns bringen können. Sobald wir uns zum Gegenstand unseres Selbstverständnisses machen, haben wir uns als die uns selbst Wissenden bereits verloren. Genau dadurch aber geraten wir dahin, unsere Selbsttranszendenz in Akten religiöser Deutung einzuholen. Das macht unsere Empfänglichkeit für religiöse Deutungs­ angebote aus. Denn religiöse Lebensdeutungen, die uns unsere immer fragmentarischen und widersprüchlichem Erfahrungen im Licht einer unbedingten begründeten Sinnganzheit sehen lassen, stärken uns in unserer Lebensgewissheit, auch und gerade in den Erfahrungen des Negativen, in denen wir an die Grenzen unserer analytischen Sicherheit, unserer ethischen Orientierungen und unserer Leidensfähigkeit geraten. Wir sind alle auf religiöse Lebensdeutungsangebote anWir sind alle auf religiöse Lebens­ deutungsangebote angewiesen. Das gewiesen. Das liegt am negaliegt am negativen Selbstverhält­ tiven Selbstverhältnis unsenis unseres bewussten Lebens, eben res bewussten Lebens, eben an dem Sachverhalt, dass wir uns, der unmittelbaren, gefühlsbasierten an dem Sachverhalt, dass wir Selbstvertrautheit zum Trotz, uns, der unmittelbaren, gedoch immer zugleich fremd sind, fühlsbasierten Selbstvertrautunserer Identität und Daseins­ bestimmung somit nicht gewiss. heit zum Trotz, doch immer zugleich fremd sind, unserer Identität und Daseinsbestimmung somit nicht gewiss. Auf diese religiöse Deutungsbedürftigkeit, die die Predigenden von sich selbst her kennen, dürfen sie auch bei den Hörenden setzen. Dann rechnen sie damit, dass die Hörenden die religiöse Lebensdeutung, die die Predigt ihnen anbietet, in ihre Selbst76 

Grundlegung

deutung einbeziehen, sie sich kritisch und konstruktiv in den Akt religiöser Kommunikation, den die Predigt vollzieht, einbringen. Auf die religiöse Deutungsbedürftigkeit sind die Hörenden anzusprechen, aber genau so, dass sie sich dabei als diejenigen erkennen, die immer schon im Vollzug einer die eigene Deutungsbedürftigkeit bearbeitenden religiösen Selbstdeutung begriffen sind. Dann kann die Predigt dem Rechnung tragen, dass die Hörer und Hörerinnen der Predigt sich als Individuen wissen, die auf eigene Weise mit dem Sinnkonstrukt ihres Lebens befasst sind, dabei vielleicht nach einer Botschaft suchen, an die sie glauben können, weil sie ihre Sinngewissheit stärkt und eine Lebensdeutung impliziert, die auch auf brüchigem Lebensgelände Orientierung gewährt.36 Das Interesse gerade an den Kasualgottesdiensten und -­predigten zeigt, dass die Menschen an den Wegstationen ihrer Lebensgeschichte wie an den kritischen Übergängen im Jahreskreis nach tragfähigen lebensgeschichtlichen Sinndeu­ tungen verlangen. Ebenso wollen sie in Rituale einbezogen sein, die durch ihre Atmosphären und mit ihren Segenszusagen den eigenen Lebensglauben stärken, das Grundvertrauen ins Dasein bekräftigen, Halt, Sinn, Orientierung vermitteln. Auch kann darauf hingewiesen werden, wie sehr die Menschen in der heutigen Medienkultur die erlebnisstarke, gefühlsbasierte Begegnung mit dem Heiligen suchen, besonders in medial inszenierten Events wie den Weltjugendtagen oder den Kirchentagen. Hinter der medial vermittelten Oberfläche steckt dabei vielfach die ernsthafte Suche nach spiritueller Erfahrung. In der Suche nach spiritueller Erfahrung wiederum drückt sich das Verlangen nach einer im Unbedingten gründenden persönlichen Sinngewissheit aus. 36 Es wird im 3. Abschnitt deutlich werden, dass das Rechtfertigungskriterium die formale und inhaltliche Norm bildet für das Sinndeutungsangebot, das die Predigt geben kann: Das Evangelium als gutes Angebot, wie die Kunst des Lebens zu lernen ist, inmitten der aufzudeckenden harten Gesetzlichkeiten des Alltags. Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede

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Theologisch stellt der Umgang mit den religiösen Lebensfragen die größte Heraus­ forderung dar, weil es auf diese Fragen keine fertigen, biblisch oder dogmatisch richtigen Antworten gibt. Jeder muss diese Antworten für sich selbst finden, aber das Lebensdeutungsangebot, das der christliche Glaube macht, kann dabei helfen. Dass die kirchliche Predigt Schwierigkeiten hat, die Menschen zu erreichen, liegt nicht am Rückgang des religiösen Interesses, sondern an der zunehmenden Entgrenzung und Pluralisierung des reli­ giösen Feldes. Es begegnet eine immer größere Vielfalt an Möglichkeiten, sich mit religiösen Lebensdeutungsangeboten zu beschäftigen, Anleitung zu finden, wie die eigene Lebensgewissheit entwickelt werden kann, die rechte Lebenskunst zu erlernen ist. Vielfach gilt auch eine nicht-religiöse Lebensform als normal. Immer spielen die Medien, das Fern­sehen und das Internet eine große Rolle. Da zeigt sich dennoch eine neue Chance auch für die Kirchen und ihre Predigt. Als auf die Stärkung der Lebensgewissheit ausgehende, das je eigene Leben im Deutungshorizont des christlichen Glaubens über sich verständigende religiöse Rede kann die Predigt die Menschen erreichen. Dann redet sie von den Grunderfahrungen, der Angewiesenheit auf Liebe, von der Meisterung des Alltäglichen, von der Hartnäckigkeit der Hoffnung, von der Bewältigung unergründlicher Ängste – aus der Kraft eines Glaubens, der Menschen unbedingte, in Gott gegründete Lebensgewissheit zuwachsen lässt. Wichtig ist, auf die veränderten Signaturen des Religiösen bzw. religiöser Suchbewegungen zu achten und dafür theologisch ein Verständnis zu entwickeln. Heutige Religiosität scheint gekennzeichnet einerseits durch den Hunger nach religiöser Erfahrung, andererseits durch ein unbestimmtes Suchen

Theologisch stellt der Umgang mit den religiösen Lebensfragen die größte Herausforderung dar, weil es auf diese Fragen keine fertigen, bib­ lisch oder dogmatisch richtigen Ant­ worten gibt. Jeder muss diese Ant­ worten für sich selbst finden, aber das Lebensdeutungsangebot, das der christliche Glaube macht, kann dabei helfen.

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Grundlegung

und Fragen. Eher gering entwickelt ist die Bereitschaft, auf eine dogmatisch vorgegebene Botschaft und abstrakte theologische Theoreme zu hören. Die Menschen wollen die religiöse Deutung ihres Lebens für sich selbst entwickeln und sich aneignen können. Eine Predigt, die die Hörenden als die Konstrukteure ihrer Lebensdeutung ernstnimmt, sucht das offene Gespräch mit ihnen. Dabei unternimmt sie es, zu zeigen, dass die biblisch fundierte Rechtfertigungsbotschaft ein existenziell tragfähiges Lebensdeutungsangebot macht.

Die Hörenden als die Subjekte der religiösen Rede

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Durchführung: Reflexionsperspektiven auf dem Weg zur Predigt

Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven Die homiletische Grundlegung sollte zeigen, wie die Aufgabe der Predigt zu verstehen ist, wenn sie heute öffentliche religiöse Rede im kirchlichen Auftrag sein will. Es ist dabei bereits klar geworden, welche text- und religionshermeneutischen Anstrengungen auf dem Weg zu einer solchen Predigt unternommen werden müssen und welche rhetorischen, ästhetischen und systematisch-theologischen Reflexionsgänge abzuschreiten sind. Worum es mit der »Durchführung« geht Diese Reflexionsgänge sollen nun in der Durchführung dieser Predigtlehre tiefer geführt werden. Der Anspruch, der sich damit verbindet, ist der, auf dem Weg zur Predigt noch weiter zu gehen und dabei gründlicher darüber nachzudenken, wie biblische Texte auf die Predigt hin auszulegen sind, wie die Religion der Menschen, an die es die Predigt zu adressieren gilt, zu verstehen ist, für welches religiöse Deutungsangebot der christliche Glaube einsteht und wie dieses ansprechend in der religiös ergreifenden Rede zur Darstellung und Mitteilung gebracht werden kann. Selbstverständlich wird, wenn wir jetzt diese Reflexionsperspektiven gezielt einnehmen, die Auffassung von der Predigtaufgabe, die in der Grundlegung ent­ wickelt wurde, immer wieder aufgerufen werden müssen. Dieses Verfahren bedingt somit eine gewisse Redundanz, hat aber auch den Vorteil, dass es, konzentrischen Kreisen gleich, in eine immer tiefere Verständigung über die mit der Predigt­ Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven

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arbeit verbundenen hermeneutischen, theologischen und rhetorischen Anforderungen hineinführt. Wer sich also nicht mit der Grundlegung begnügt, sondern nun auch der Durchführung folgt, wird zwar schon Bekanntem wiederbegegnen, zugleich aber in eine gründlichere Selbst­ reflexion des Predigtgeschehens hineingenommen. Auf diese kommt es, folgen wir dem in der Grundlegung entwickelten Verständnis von der Predigtaufgabe, aber auch ganz entscheidend an. Einzunehmen sind die Reflexionsperspektiven, die es jetzt auszuzeichnen gilt, schließlich immer von denen, die die Predigtaufgabe zu lösen haben. Nach meinem Verständnis sollte es einer Predigtlehre immer um eine Anleitung zu einer in verschiedenen (hermeneutischen, theologischen, rhetorischen) Hinsichten gesteigerten Selbstreflexion der Predigenden gehen. Das Predigen ist kein Handwerk und der Schreibtisch, an dem sie entsteht, keine Werkstatt. Das Predigen ist ein hermeneutisch-kommunikativer Akt, der sich aus hermeneutischen, theologischen und rhetorischen Reflexionsleistungen aufbaut, um im Lichte der biblisch fundierten christlichen Botschaft zur religiösen Selbstverständigung heutigen Lebens beizutragen. Eine Predigtlehre, die zu diesem hermeneutisch-kommunikativen Akt anzuleiten versucht, formuliert deshalb keine (Faust-)Regeln und sie gibt keine Tipps, sondern begleitet Predigende auf dem Weg der Selbstreflexion ihres eigenen, vielperspektivischen Tuns. Insofern wäre durchaus zu überlegen, ob jetzt in der Durch­ führung die Selbstreflexion der Subjektivität der Predigenden nicht als eine eigene Reflexionsperspektive bedacht werden müsste. Ich möchte jedoch aus zwei Gründen davon absehen. Zum einen, weil der Reflexionssubjektivität der Predigenden eine konstitutive Funktion für alle text- und religionshermeneutischen, theologischen und rhetorischen Reflexionsperspektiven, die auf dem Weg zur Predigt einzunehmen sind, zukommt. Zum anderen, weil genau diese konstitutive Funktion, die die Subjektivität der Predigenden für die Predigt als hermeneutisch-kommunikativen Akt religiöser Rede auszuüben hat, 82 

Durchführung

verdunkelt würde, wenn wir sie direkt zum Gegenstand unserer Betrachtung machten. Es bliebe dann gerade nicht mehr sichtbar, dass es die Subjektivität der Predigenden ist, einschließlich ihrer religiösen Dimension, die das im Hintergrund permanent tätige Aktionszentrum einer als religiöse Rede intendierten Predigt darstellt. Die Differenzierung von vier homiletischen Reflexionsperspektiven Die vier grundlegenden – jeweils in der Subjektivität der Predigenden verankerten – Reflexionsperspektiven, die jetzt näher zu beschreiben sind, gehen aus der Bestimmung der Predigtaufgabe hervor, die die Grundlegung vorgenommen hat. Das soll zunächst im Ausgang von einer zusammenfassenden Formulierung der Predigtaufgabe deutlich werden: Predigen heißt, auf der Basis biblischer Texte die religiösen Lebensfragen der Menschen anzusprechen; ihnen im Lichte der christlichen Botschaft ein Angebot zur Deutung ihres Lebens zu machen und diese Deutung in einer ansprechenden, zur religiösen Selbstdeutung anregenden Form zum Vortrag zu bringen. Die vier homiletischen Reflexionsperspektiven, die die Predigt erfordert, gehen aus dieser Bestimmung der Predigtaufgabe wie folgt hervor: Es gilt –– biblische Texte zu interpretieren, –– Menschen in ihren religiösen Sinnfragen zu verstehen, –– im Lichte der christlichen Rechtfertigungsbotschaft die Deutung des Lebens auszuarbeiten und –– dies in der Form einer ansprechenden, ergreifenden, erbaulichen Rede zu tun. Im Prozess der Predigtvorbereitung liegen diese vier Reflexionsperspektiven vielfach ineinander. Wir sollten uns deshalb den Prozess der Predigtvorbereitung, in dem die vier Reflexionsperspektiven einzunehmen sind, am ehesten als eine Kreisbewegung vorstellen, wie sie hier die Graphik abzubilden Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven

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Biblische Texte interpretieren

Ansprechende, ergreifende, erbauliche Rede gestalten

Predigt erarbeiten

Religiöse Lebensfragen der Hörenden verstehen

Christliche Rechtfertigungsbotschaft im Sinne christlicher Lebensdeutung je konkret ausarbeiten

versucht, wobei auch die Reihenfolge im Kreis nicht eine notwendige darstellt. Jede der vier Reflexionsperspektiven richtet den Blick auf einen Aspekt, der auf dem Weg zur Predigt bedacht werden muss. Aber man darf sich diesen Weg in gar keiner Weise als einen gradlinig verlaufenden vorstellen, auch nicht so, als müsse er mit der Auslegung des biblischen Textes beginnen, um dann schließlich bei den rhetorischen Überlegungen anzukommen. Im Gegenteil, es kann an jeder Stelle in diese Kreisbewegung eingetreten und beliebig zwischen den einzelnen Aspekten gewechselt werden. Ich kann mit der Perspektive auf die religiösen Erwartungen der Hörer und Hörerinnen einsteigen oder mit der Idee zu einer Formulierung der christlichen Botschaft, die sich mir eingestellt hat – angeregt durch Gespräche, Zeitwahrnehmungen, Textbeobachtungen, theologisch mich gerade beschäftigende Fragestellungen. Außerdem werde ich keine der vier Reflexionsperspektiven im Prozess der Predigtvorbereitung nur einmal einnehmen. Sie 84 

Durchführung

sind vielmehr in einer insgesamt um die Lösung der Predigtaufgabe kreisenden Bewegung mehrfach zu verfolgen. Aus ihrer Verschränkung ineinander und Vernetzung miteinander gehen die Anregungen für die Lösung der Predigtaufgabe hervor. Ist für die Praxis des Predigens wichtig, zu wissen, dass an jedem Punkt in die Kreisbewegung eingetreten werden kann, so muss dies doch nicht daran hindern, von der theologischen Klärung der Predigtaufgabe herkommend, sie auch in ihrem systematischen Verweisungszusammenhang zu verstehen. Bevor wir die vier homiletischen Reflexionsperspektiven als je selbstständige und in dem ihnen eigenen Recht bedenken, soll deshalb der systematische Verweisungszusammenhang, in dem sie zueinander stehen, zur Darstellung kommen. Die Systematik ergibt sich dadurch, dass diese Reflexionsperspektiven alle gleichermaßen – in welcher Abfolge sie auch immer auf dem Weg zur Predigt eingenommen werden sollten – zur Lösung der Predigtaufgabe erforderlich sind. (A) Biblische Texte interpretieren: Texthermeneutik Der Predigt liegt normalerweise ein biblischer Text zugrunde. Wer predigt, muss den biblischen Text auslegen. Die Leitfragen, die sich stellen, sind: Worum geht es in diesem Text und wie verstehe ich diesen Text? Schließlich und vor allem: Was bietet dieser Text zur Lösung der Predigtaufgabe an? Welches Potenzial stellt er bereit, um die christliche Botschaft zu profilieren und an die religiösen Lebensfragen der Menschen zu adressieren? Die Exegese zielt homiletisch darauf, das reli­ giöse Deutungspotenzial der biblischen Texte aufzuschließen. Das Verfahren, dem sie folgt, ist dann das einer solchen Interpretation der biblischen Texte, die das Sich-Selbst-in-den-Texten-Verstehen ermöglicht. Eine solche Exegese, die man auch eine existenziale nennen kann,1 verbindet die historisch-kriti1 Hier wird an Bultmanns Verfahren einer existentialen Interpretation der biblischen Texte angeschlossen, freilich ohne die inhaltlichen Festlegungen auf ein bestimmtes, aus Bultmanns Exegese des NTs gewonnenes Existenzverständnis, mit zu übernehmen. Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven

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sche Auslegung des biblischen Textes mit einer auf seinen religiös Sinn stiftenden Gehalt abhebenden Verstehensbemühung. Sie will dahin führen, dass heutige Menschen in der Begegnung mit den Texten der Bibel bzw. der ihnen abgewonnenen christlichen Botschaft zu einer Vertiefung ihrer religiösen Selbstdeutung und einer Erneuerung ihrer Lebensgewissheit finden. (B) Religion verstehen: Religionshermeneutik Die Aufgabe der Predigt ist es, auf dem Wege der Auslegung biblischer Texte und letztlich im Lichte der christlichen (Rechtfertigungs-)Botschaft Menschen zur religiösen Selbstdeutung zu befähigen. Wer predigt, muss deshalb ein Verständnis davon gewinnen, wann, wo und wie es Menschen in die religiöse Selbstdeutung drängt, welchen Sitz im Leben die religiösen Lebensfragen gewissermaßen haben. Dazu gilt es, die gelebte Religion zu verstehen. Predigende müssen Klarheit darüber gewinnen, dass Religion ein elementarer, je subjektiv zu leistender Vollzug der Lebensdeutung bzw. ein bestimmter Akt der Selbstdeutung ist. Als solche ist sie subjektive Religion. Darüber hinaus kommt Religion aber immer auch vor als objektive, institutionalisierte Religion, als Kirche, als Christentumskultur, mit ihren religiösen Symbolen und Ritualen sowie anderen Vollzugsformen religiöser Praxis. Dabei rücken nicht nur die Hörenden, sondern auch die Predigenden ins Zentrum der homiletischen Reflexion. Der Versuch, Religion zu verstehen, verlangt immer auch, die eigene Religion zu verstehen, sich selbst im religiösen Verhältnis wahrzunehmen und die eigene Subjektivität zum Austragungsort für die Bestimmung dessen zu machen, wonach die Predigt in der Auslegung des biblischen Textes fragt. Hinzu tritt der Versuch, die Hörenden in den Verhältnissen ihres Lebens wahrzunehmen, zur Deutung dessen zu finden, was sie nach der Predigt verlangen lässt, welches die herausragenden Gelegenheiten sind, bei denen sie eine Predigt erwarten, und worauf des Näheren diese Erwartung zielt. 86 

Durchführung

Wie kommt die Religion im Leben der Menschen vor? Wie kommt sie bei mir selbst vor? Welche religiösen Überzeugungen und Einstellungen prägen meine Lebenspraxis? Wie ist das bei den Hörern und Hörerinnen? Welches religiöse Verhalten zeigen sie? Wie spreche ich meinen, wie sprechen sie ihren Glauben aus? Wie und wo zeigt sich das? Es geht um ein Verstehen der gelebten Religion. Die Theologie ist das hermeneutische Rüstzeug im Verstehen der gelebten Religion. Sie stellt das kategoriale Potenzial zu deren Deutung bereit. Sie dient dem Verstehen der gelebten Religion. Aber diese bleibt doch von ihr unterschieden. Denn die gelebte Religion, das sind die Sinnbezüge, in denen Menschen alltäglich ihr bewusstes Leben führen. Mit ihr artikuliert sich, worauf ein Mensch seine Lebensgewissheit gründet. Wo und wie spricht sich sein Daseinsvertrauen aus? In welchen Lebenssituationen droht es zu zerbrechen? Wo und wie erschließen sich dann Ressourcen zur Erneuerung der Daseinsgewissheit? Woher entsteht dann der Lebensmut? Herkommend vom Versuch, die eigene Religion zu verstehen, sind dann leicht die Erweiterungen zu ziehen zum Verstehen der Religion als einer Dimension der Subjektivität, des je eigenen Selbstverständnisse und damit des Blicks darauf, was die je eigene Identität konstituiert, was die eigenen Überzeugungsgewissheiten sind, wie diese sich aussprechen und somit dann auch, wie sie anzusprechen und tiefer über sich zu verständigen sind. Das Verfahren, dem hier die Homiletik folgt, ist das einer Hermeneutik gelebter Religion. Besser gesagt, es geht darum, die gelebte Religion, die eine Deutung des eigenen Lebens Die gelebte Religion zu verstehen, heißt Deutungen von religiösen im Horizont des mich unbeLebensdeutungen hervorbringen zu dingt Angehenden ist, in eine können, somit die gelebte Religion diese je subjektiven Deutunüber sich selbst zu verständigen und auf das christliche Lebensdeutungs­ gen kommunikabel machende angebot auszurichten. Form zu bringen. Die gelebte Religion zu verstehen, heißt Einleitung: Die vier Reflexionsperspektiven

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Deutungen von religiösen Lebensdeutungen hervorbringen zu können, somit die gelebte Religion über sich selbst zu verständigen und auf das christliche Lebensdeutungsangebot auszurichten. (C) Leben deuten: Glaubenslehre

Wenn die Predigt Menschen im Lichte der biblisch fundierten christlichen Botschaft zur religiösen Selbstdeutung befähigen will, dann muss sie das Verstehen der gelebten Religion der Menschen mit ihrem Verständnis der christlichen Botschaft vermitteln. Dieses sich zu erarbeiten, wird somit ebenfalls zu einer entscheidenden Herausforderung auf dem Weg zur Predigt. Wer predigt, arbeitet zugleich immer auch an einer Glaubenslehre. Damit ist nicht gemeint, dass die Predigt zur Lehrpredigt werden sollte, sehr wohl aber, dass von jeder Predigt muss erwartet werden können, dass in ihr hervortritt, welche religiöse Selbstdeutung im Lichte der christlichen Botschaft möglich wird. Zu klären ist insofern, was angesichts dieses biblischen Textes und dieser Auslegung der gegenwärtigen religiösen Situation der Inhalt der christlichen Botschaft sein könnte. Die christliche Botschaft, die die Predigt schließlich aus­ zurichten hat, fordert deshalb immer auch die Arbeit an der eigenen Glaubenslehre, bzw. dass die systematisch-theologische Reflexionsperspektive eingenommen wird. Dogmatik (Glaubenslehre)  und Ethik sind dabei in ihrem Zusammenhang zu sehen und in die homiletische Reflexion hineinzunehmen. Denn beide verhelfen zur begrifflichen Artikulation der biblisch fundierten und zugleich an der kirchlichen Lehrund Bekenntnistradition orientierten religiösen Selbstdeutung des christlichen Lebens. Die Glaubenslehre expliziert die biblisch fundierten und kirchlich überlieferten Gehalte christ­

Wenn die Predigt Menschen im Lichte der biblisch fundierten christ­ lichen Botschaft zur religiösen Selbstdeutung befähigen will, dann muss sie das Verstehen der geleb­ ten Religion der Menschen mit ihrem Verständnis der christlichen Botschaft vermitteln.

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Durchführung

licher Lehre hinsichtlich der ihnen impliziten Lebensdeutung. Die Ethik expliziert die biblisch fundierten und kirchlich überlieferten Gehalte christlicher Lehre im Blick auf die ihnen implizite Lebensorientierung. Dabei ist leicht einsichtig, dass sich die Lebensorientierungsimpulse christlicher Lehre eben aus deren Lebensdeutungsperspektiven ergeben. Diese systematisch-theologische Reflexion, die die dogma­ tische und ethische Urteilsbildung verlangt, ist genuine Aufgabe der Predigenden. Sie kann auf dem Weg zur Predigt ebenso wenig delegiert werden wie die exegetischen und reli­ gionshermeneutischen Bemühungen. Die Schuldogmatik dient der Befähigung zu eigenem religionstheologischem Deutungsbemühen. An den großen dogmatischen und ethisch-theologischen Entwürfen kann man lernen, wie die traditionellen Gehalte der christlichen Lehre in ihrem Lebensdeutungsgehalt erschlossen werden können. Wer predigt, muss durch diese Schule gehen, um dann aber auf selbstständige Weise die dem biblischen Text abgewonnene christliche Botschaft zum ansprechenden Lebensdeutungsangebot angesichts der aktuell sich stellenden Lebensdeutungsfragen machen zu können. (D) Reden gestalten: Rhetorik Die Predigt ist eine religiöse Rede. Sie muss ihre Aufgabe, das christlich-religiöse Lebensdeutungsangebot religiös sinn­ stiftend zu entfalten, auf rhetorisch ansprechende Weise zu lösen versuchen. Eine Rede hat Adressaten, die sie mit ihrer Botschaft erreichen will. Die Predigt steht als religiöse Rede insofern unter der Anforderung, mit dem durch die Auslegung des biblischen Textes profilierten christlich-religiösen Lebensdeutungsangebot auf die Existenzfragen zu reagieren. Die Problemstellungen der Rhetorik, die zu klären verlangen, was ich jetzt wem, warum, mit welcher Absicht und auf welche Weise sagen will – die Predigt somit zur Formulierung eines Themas und eines Ziels veranlassen – sind von denen der Text- und der Religionshermeneutik nicht ablösbar. Wenn wir an die Wirkung der Predigt als religiöser Rede denken, komEinleitung: Die vier Reflexionsperspektiven

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men zu den Problemstellungen der hermeneutischen Rhetorik noch die der die Performativität der den Vortrag der Rede reflektierenden Sprechwissenschaft hinzu. Die leibliche Präsenz der Redenden, die Subjektivität, der sie mit ihrer Rede Ausdruck verleihen, gilt es zu bedenken, sodann die Sprache der religiösen Rede, die besondere Expressivität, zu der sie finden muss. Vor allem aber ist darauf zu reflektieren, wie die Predigt als religiöse Rede gestaltet werden muss, damit sie ihre Aufgabe zu bewältigen vermag, Menschen zur religiösen Selbstdeutung zu befähigen. Die Redekunst der Predigt geht dahin, die Hörenden existenziell anzusprechen und ihnen, profiliert durch den biblischen Text, die christliche Botschaft so zu sagen, dass sie sich zur christlich-religiösen Selbstdeutung ermutigt sehen. Das Verfahren, das es im vierten Reflexionsschritt zu entwickelt gilt, ist dann das der Konzeption von Sprechakten religiöser Rede.

1. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik Dass die Predigt biblische Texte auslegt, stand und steht nirgendwo ernsthaft in Frage. Die Predigt ist als öffentliche religiöse Rede zugleich immer auch eine Interpretation der Bibel. Nicht unbedingt eines bestimmten abgegrenzten Textes. Nicht die Predigtperikope ist für die Predigt bindend, obgleich sie die Grundlage der Predigt stellt, sondern der biblische Kanon. Denn dieser bedeutet für die Kirche und die in ihrem Auftrag geschehende Predigt das Rekursfundament für die Bestimmung der im je aktuellen Situationsbezug auszurichtenden christlichen Botschaft. Nur im immer wieder neu anzustrengenden Rückbezug auf die biblischen Texte gewinnt die Predigt die von ihr jetzt auszurichtende christliche Botschaft. Dass ihr dies gelingt, ist der Sinn der homiletischen Auslegung der biblischen Texte. Die Botschaft, die die Predigt auszurichten hat, ist ja das je aktuell und situationsbezogen zu explizie90 

Durchführung

rende Lebensdeutungsangebot. Sie ist insofern nicht mit dem biblischen Text gegeben, auch nicht in ihm direkt aufzufinden. Die Predigt muss den Lebensdeutungsgehalt und somit das, was durch sie zur aktuell treffenden christlichen Botschaft werden kann, dem biblischen Text immer erst abgewinnen. Das leistet sie durch die Interpretation des Textes. Diese stellt die religionsproduktiven Anschlüsse des Textes an die Gegenwart dar. Dazu muss sie allerdings von den auf die Predigt ausgerichteten Fragehinsichten geleitet sein. Einen biblischen Text auf die Predigt hin auszulegen, verlangt das, was wir eine homiletische Hermeneutik nennen wollen. Deren Aufgabe ist es, zu einer solchen Interpretation des biblischen Textes zu verhelfen, die diesen in seinem die heutige religiöse Rede inspirierenden Gehalt erkennbar macht. Obwohl der Bibelbezug der Predigt zunächst ganz selbstverständlich erscheint und in der Predigtpraxis auch vollzogen wird, gibt er der homiletischen Reflexion somit doch viele Fragen auf, denen in diesem ersten Reflexionsschritt auf dem Weg zur Predigt nachgegangen wird. Es gilt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass der basale Bibelbezug der Predigt dem Selbstverständnis des christlichen Lebens entspringt, seiner konstitutiv auf die Bibel rückbezogenen Selbstverständigung. Der Bibelbezug der Predigt setzt dieses Selbstverständnis des christlichen Lebens voraus. Die Bibel kann insofern in der Predigt keine den Glauben begründende Funktion gewinnen. Sie kann sehr wohl aber, wenn Predigende sich in die Texte der Bibel mit homiletischer Absicht hineindenken, die religiöse Sinnproduktivität ihrer Predigt, die Entfaltung ihrer Glaubens­gedanken und existenziellen Lebensdeutungsperspektiven immer wieder anregen. Weil der homiletische Bibelgebrauch das Selbstverständnis des christlichen Glaubens und Lebens bereits voraussetzt und nur aus ihm heraus möglich ist, müssen wir ihn sowohl in der theologische Binnen- wie in der religionskulturpraktischen Außenperspektive reflektieren. In der Außenperspektive gilt es auf den Bibelgebrauch in der Alltagswelt zu reflektieren. Wo Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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und wie kommt die Bibel in der Alltagskultur vor? Sich darüber Klarheit verschafft zu haben, ist für die homiletische Auslegung biblischer Texte enorm wichtig. In der Binnenperspektive gilt es, demgegenüber darauf zu sehen, dass der Bibelbezug der Predigt von homiletischen und damit existenziell-religiösen Interpretationsinteressen geleitet ist. Er steht immer im Dienste der christlich-religiösen Lebensdeutung, die die Predigt darzustellen und mitzuteilen hat. Diese gilt es dem biblischen Text abzugewinnen und in der Predigt so zu exponieren, dass sie je aktuell verstanden und angeeignet werden kann. Der Binnen- wie der Außenperspektive versuchen wir im Folgenden zu ihrem Recht zu verhelfen, indem wir 1. dem nachgehen, was es heißt, dass die Bibel die Basis der Predigt ist, 2. wahrnehmen, wie sie in der Kultur der Gegenwart vorkommt, 3. sie als das symbolische Kapital der Predigt beschreiben und schließlich 4. die Grundzüge und Fragestellungen einer homiletischen Hermeneutik entwerfen.

1.1 Die Bibel als Basis der Predigt Der Predigt liegt ein biblischer Text zugrunde. In der Binnensicht des christlichen Glaubens basiert die Predigt auf der Bibel, weil wir in der Bibel dem Ursprungszeugnis christlichen Glaubens begegnen. Genauer: Auf die biblischen Texte müssen wir immer zurückkommen, wenn wir das Selbstverständnis christlichen Glaubens und Lebens formulieren wollen. Die Bibel kann uns dennoch die Aufgabe nicht abnehmen, für uns selbst zu formulieren, was wir glauben und wie wir als Christen leben wollen. Sie stellt ein Rekursfundament für die je gegenwärtige Selbstdeutung christlichen Lebens dar. Auch in der Außensicht, in einer religions- und kulturhermeneutischen Sicht der Dinge, lässt sich die konstitutive Be92 

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deutung der Bibel für die Predigt formulieren. In der Außensicht liegt der Predigt als je gegenwärtiger christlich-religiöser Rede die Bibel zugrunde, weil die Bibel Quelle und Kraft der christlichen Symbol- und Deutungskultur ist. Die Bibel konstituiert das kulturelle Gedächtnis des Christentums. Sie ist dessen symbolisches Kapital.2 Die Aufgabe der Predigt, die in der religionsproduktiven Aktualisierung biblischer Texte liegt, lässt sich sowohl im Anschluss an die Binnen- wie im Anschluss an die Außensicht auf die religiöse Bedeutung der Bibel beschreiben. In der Binnensicht hat die Predigt das biblische Ursprungszeugnis christ­ lichen Glaubens so zu aktualisieren, dass es sich in seiner mich heute angehenden Wahrheit erschließt, dass es mir einleuchtet, mir plausibel wird, mich in meiner Selbstdeutung und Weltsicht bereichert. In der Außenansicht muss die Predigt dafür sorgen, dass das symbolische Kapital des Christentums nicht zum toten Kapital erstarrt. Die Predigt muss die symbolische Bedeutung der biblischen Texte erschließen, die Deutung, die sie unserem Leben und unserer Welt zuschreiben bzw. die zu entwickeln sie uns Veranlassung geben. In der Außensicht reicht es im Grunde, dass die biblischen Texte grundsätzlich als heute noch relevante religiöse Deutungsangebote kenntlich gemacht werden, also ein Potenzial für subjektive Aneignung haben. Die Binnensicht zielt demgegenüber auf die subjektive Aneignung. Sie sucht die biblischen Texte für die Formu­ lierung heutigen religiösen Selbstbewusstseins relevant zu machen. Dann soll der religiöse Gehalt der biblischen Symbole in die Grundüberzeugungen und sinnorientierenden Lebens­ einstellungen der Menschen Eingang finden, zu Deutungen eigener Lebenserfahrungen werden und somit je gegenwärtig religionsbildend fungieren. 2 Auf dieses Verständnis der Funktion Heiliger Texte in den Schriftreligionen hat in vielen Arbeiten vor allen Dingen Jan Assmann aufmerksam gemacht: Vgl. Jan Assmann, Toni Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988; Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Die Bibel als Gottes Wort und Basis christlicher Symbolkultur – komplementäre Sichtweisen Die Außensicht, die eine religions- und kulturhermeneutische Auffassung der biblischen Texte stark macht, muss nicht gegen die Binnensicht, die die kirchlich-dogmatische Begründung der zentralen homiletischen Rolle der Bibel betont, ausgespielt werden. Die dogmatisch-kirchliche Begründung, nach der die Bibel Ursprungszeugnis des christlichen Glaubens von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ist, bleibt mit der religions- und kulturhermeneutischen Sichtweise vielmehr gut vereinbar. Die theologische Schriftlehre hat im Christentum ja immer darauf bestanden, dass die Bibel nicht per se Gottes Offenbarungswort sei, sondern sie zu diesem durch dessen Auslegung als Glaubenszeugnis und damit kraft des Heiligen Geistes immer erst wird. Dem religionskulturhermeneutischen Argument, dass die objektive Symbolkultur einer Religion subjektiv angeeignet werden muss, wenn die Menschen in ihr die Deutungsschemata zum Verständnis ihres Lebens und ihrer Welt sollen gewinnen können, korrespondiert in der theologischen Schriftlehre die Betonung des Ereignischarakters des Wortes Gottes sowie das pneumatologische Verständnis des Zusammenhangs von Glauben und Verstehen. Die theologische Schriftlehre macht die Offenbarungsautorität der Bibel letztlich an einem hermeneutischen Erschließungsgeschehen und damit an der subjektiven Aktivität aneignenden Verstehens fest. In homiletischer Zuspitzung kann man auch behaupten, dass die theologische Schriftlehre die Offenbarungsqualität der biblischen Texte an den menschlichen Versuch der die Schrift auslegenden Predigt bindet. Erst wo der biblische Text gehört und vertrauensvoll angeeignet wird, erschließt sich die Bibel als verbindliches Wort von Gott bzw. als Gottes Wort.3 Die Aussage, dass die Bibel Gottes Wort sei, konstatiert somit 3 Das ist der Sinn von Karl Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes als verkündigtes, geschriebenes und geoffenbartes Wort Gottes. Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre vom Wort Gottes, Band 1, 1, Zürich 1964, 89–127. 94 

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aber auch kein objektives Wissen, sondern dies ist eine Aussage des Glaubens, der auf den in der Schrift zur Sprache kommenden Gott sein Vertrauen setzt. Es sind die Menschen der Bibel, die Gott in ihren Texten zur Sprache gebracht haben. Das von ihnen in den biblischen Überlieferungen in Gang gehaltene Auslegungsgeschehen über die Zeiten hinweg in die je eigene Gegenwart hinein immer weiter in Gang zu halten, ist der kirchliche Auftrag der Predigt. Wer predigt, muss das in den biblischen Texten zur Sprache gebrachte Wort »Gott« immer wieder neu in seinem das religiöse Sinnvertrauen stiftenden und die Lebensführung orientierenden Sinn erschließen. Er muss versuchen, biblische Texte so auszulegen, dass ihnen Perspektiven einer heute praktizierbaren christlich-religiösen Lebenssinndeutung abgewonnen werden können, so dass es möglicherweise zu einer  – Glauben weckenden und stärkenden – Aktualisierung religiösen Sinnvertrauens kommt. Ob wir die Bibel als Gottes Wort auffassen oder als kirchlich kanonisierte Sammlung derjenigen Schriften, die das sym­ bolische Kapital der christlichen Religion bilden, stellt  – homiletisch gesehen  – einen komplementären Sachverhalt dar. Religiösen Sinn machen diese Texte für die Menschen immer erst dann, wenn sie auf die je eigenen Lebensfragen hin ausgelegt werden, bzw. sich zeigt, dass sie sich zum Stoff für die je eigene, von jedem selbst zu vollziehende religiöse Lebens­ deutung eignen. Einem solchen deutungsproduktiven Umgang mit den biblischen Texten steht heute freilich neben einer weit verbreiteten Bibelvergessenheit ein positivistisches Bibelverständnis entgegen. Dann werden die biblischen Texte weder als Ausdruck eines Glaubenszeugnisses (Binnensicht), noch als symbolisches Kapital religiöser Selbstdeutung (Außensicht) gelesen, sondern werden als Bericht über vergangene bzw. zu erwartende historisch-empirische oder auch supranaturale Heilstatsachen und Heilsereignisse verstanden. Das positivistische Bibelverständnis ist im Zusammenhang des positivistischen, wissenschaft­ lichen Weltbildes der Neuzeit aufgekommen. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Positivistisches Bibelverständnis Für das positivistische Bibelverständnis hängt an der Wahrheit der biblischen Aussagen über Gott, den Menschen und die Welt zugleich die Wahrheit des Glaubens. Die biblischen Texte werden als Aussagen über Tatsachen, historische Tatsachen oder heilsgeschichtliche, metaphysische Tatsachen verstanden. Leicht steigert sich das positivistische zum fundamentalistischen Missverständnis der Bibel. Dann wird die Bibel geradezu mit dem, wovon sie Zeugnis gibt, dem menschlichen Gottesverhältnis, verwechselt. Es werden, theologisch betrachtet, gewissermaßen die Fundamente vertauscht. Dann ist nicht mehr Gott das Fundament des Glaubens, eines Glaubens, der Gott kraft des von ihm ausgehenden Wortes vertraut, sondern die Bibel ist das Fundament des Glaubens, der aber in Wahrheit kein Glaube mehr ist, sondern ein Wissen davon, dass die Bibel immer recht hat und wahre Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen macht. Die Sätze der Bibel müssen dann buchstäblich für wahr gehalten werden. Das positivistische Bibelverständnis verhindert somit gerade den religiös sinnstiftenden Zugang zur Bibel. Es ist ein wortwörtliches Missverständnis der Bibel, das den symbolischen Charakter der biblischen Texte als religiöser, deutungsproduktiver Texte verkennt. Biblische Texte symbolisch zu verstehen heißt eben, sie nicht als Aussagen zu verstehen, die in einem gegenständlichen Sinn wahr sind. Sie sind wahr nicht als Aussagen über das, was in einem objektiven Sinn der Fall ist, in Bezug auf Gott, den Menschen, die Welt. Als symbolische Texte sind die Aussagen der Bibel in einem existenziellen Sinn wahr. Sie sind wahr, weil sie uns zu einer bestimmten Deutung unseres Lebens verhelfen, uns etwas über unser Verhältnis zu Gott, zu uns selbst, zur Welt zu verstehen geben. Folgt man dem positivistischen Bibelverständnis, dann meint man z. B., dass der Schöpfungsbericht auf den ersten Seiten der Bibel von der Entstehung der Welt berichtet, so, dass der Schöpfungsbericht mit der Evolutionstheorie oder der Urknallhypothese zu vergleichen wäre. Oder es werden 96 

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die Wundererzählungen des NT als Berichte darüber gelesen, dass der Gottessohn seine Göttlichkeit mit dem Vermögen, gegen die Naturgesetze zu handeln, unter Beweis gestellt habe. Der vormoderne Glaube an die Bibel als Gottes Offenbarungswort verbindet sich dabei gewissermaßen mit dem neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus. Die biblischen Aussagen seien wahr, weil ein gegenständlich überprüfbares Wissen vorliege oder historische Erkenntnis sage, wie etwas wirklich gewesen sei. Die historische Kritik der wissenschaftlichen Bibel­ exegese wird denn auch von den religiösen Positivisten und Fundamentalisten nicht ernst genommen. Man kapituliert gewissermaßen vor dem hermeneutischen Problem, vor das uns die historische Kritik der Bibel stellt. Das mit der historischen Kritik verbundene hermeneutischtheologische bzw. hermeneutisch-homiletische Problem ist in der Tat gewaltig. Denn wird die Bibel wirklich historischkritisch gelesen, dann bietet sie Texte, die als Produkte mythologischer, religiöser und theologischer Selbst-, Welt und Gottesdeutung aus einer weit zurückliegenden Geschichte auf uns gekommen sind. Die Historisierung der biblischen Texte verhindert somit im Ansatz eine Auslegung, die Auskunft über objektive Offenbarungswahrheiten und heilsgeschichtliche Tatsachenwahrheiten zu machen beansprucht. Eine solche Auskunft ist der historisch-kritischen Auslegung sogar dann verwehrt, wenn sie darauf meint bestehen zu dürfen, dass es das Selbstverständnis der biblischen Texte sei, Gottes Selbstoffenbarung in seinem Wort zu bekunden. Denn auch dann, wenn dies das Selbstverständnis der biblischen Texte sein sollte, Gottes Offenbarungswort zu sein, gilt es auch dieses Selbstverständnis in seinem historischen Kontext, dem mythologisch-religiös fundierten Weltbild der biblischen Überlieferungen zu verorten.

Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Das mit der historischen Kritik verbundene hermeneutische Problem Die historische Kritik deckt die geschichtliche Überlieferung und damit die kontingenten historischen Hintergründe und Zusammenhänge der biblischen Texte auf. Ihre hermeneutisch-homiletische Konsequenz ist vor allem die, dass sie eine Sichtweise auf die biblischen Texte erzeugt, wonach diese nicht Gottes Auskunft über sich selbst, sein Wesen und sein Wirken sind und nicht über seinen Heilswillen, sein Gesetz und seine Gnade, schon gar nicht über die Entstehung der Welt und die Natur des Menschen informieren. Die historische Kritik lässt die biblischen Texte als Resultat der Gedanken lesen, die sich Menschen angesichts ihrer geschichtlichen Erfahrungen in der Reflexion von Gottes Macht, seinem Wesen und seinem Wirken, gemacht haben. Im Grunde hält die historische Kritik dazu an, die biblischen Texte als Ausdruck der religiösen bzw. religionstheologischen Selbst-, Welt- und Gottesdeutung der biblischen Menschen zu lesen. Insofern sorgt die historische Kritik dafür, dass auf dem Wege der Historisierung der biblischen Texte nach ihrem auch noch heute bedeutsamen religiösen Sinngehalt gefragt wird. Recht verstanden stellt die historische Kritik der Bibel alles andere als ein Hindernis bei der Lösung der Predigtaufgabe dar. Sie bedeutet vielmehr eine großartige Chance, zu sehen, dass und wie die biblischen Texte zum Glaubenszeugnis, zur religiösen Selbstthematisierung, zum symbolischen Ausdruck religiöser Erfahrung geworden sind. Dieser konstruktive Zusammenhang zwischen einer historisierenden Lesart der biblischen Texte und ihrer Auslegung auf die Predigt hin muss aber in einer »homiletischen Hermeneutik«, die auf die existenziale Interpretation der biblischen Texte zielt, auch explizit aus­gearbeitet werden. Das Erfordernis einer homiletischen Hermeneutik biblischer Texte Die homiletische Hermeneutik biblischer Texte geht von der gelebten Religion der Menschen aus, den religiösen Existenz98 

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fragen, Fragen, die zu solchen werden können, wenn sie nur in ihrer Tiefendimension erkannt sind. Sie liest, von heutigen Erfahrungen ausgehend, die biblischen Texte als Ausdruck religiöser Erfahrungsdeutung und damit des religiösen Selbstverständnisses der biblischen Menschen. So macht sie die religiösen Existenzfragen der Gegenwart zu denjenigen Fragen, die in der Auslegung biblischer Texte möglicherweise ihre Antwort oder ihre Vertiefung oder auch den Eingang in andere, neue Fragen finden können. Die homiletische Hermeneutik befragt die biblischen Texte daraufhin, welchen auch heute existenziell-religiös relevanten Selbst- und Weltdeutungsvollzügen sie Ausdruck geben, in welche Erfahrung sie einweisen, wie sie diese religiös deuten und wie schließlich die Vorstellungen und die Semantik, in der diese religiösen Deutungen in bi­blischen Texten zum Ausdruck gebracht werden, in unsere heutige Vorstellungs- und Sprachwelten übersetzt werden könnten. Zu einer solchen Interpretation der biblischen Texte leitet die homiletische Hermeneutik an, weil sie davon ausgeht, dass diese dem ursprünglichen Zeugnis des christlichen Glaubens Ausdruck geben und damit das symbolische Kapital des Christentums bilden. Die homiletische Hermeneutik ist insofern immer auch eine solche des biblischen Kanons. Das zu beachten ist für die Predigt ebenfalls wichtig. Denn die Predigt muss, will sie ihrem kirchlichen Auftrag entsprechen, die biblischen Texte im Zusammenhang des Ganzen der Bibel sehen. Auch darin fügt sich die Predigt in die Pluralität und Identität des Kanons ein, der seine Binnenpluralität und unterschiedliche Verweisungs­ zusammenhänge in sich trägt. Die biblischen Texte im biblischen Kanon Die biblischen Texte ziehen ihre formelle Autorität, die ihnen als der schriftlich fixierten Grundlage der Predigt zukommt, aus ihrer Zugehörigkeit zum biblischen Kanon. Der biblische Kanon wiederum hat sich in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche gebildet, nicht zuletzt zum Zwecke Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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der Sammlung der Schriften, die im Gottesdienst verlesen und ausgelegt werden sollten. Die von der Predigt in Gebrauch zu nehmenden Bibeltexte sind insofern immer im Ganzen des Kanons zu sehen. Der Kanon stabilisiert das Gedächtnis der objektiven religiösen Symbolkultur des Christentums. Gleichwohl bleibt die Frage nach der »Mitte der Schrift« bzw. dem »Kanon im Kanon« für die homiletische Auslegung der biblischen Texte unerlässlich. Diese wiederum ist nur auf dem Wege der Bestimmung des wesentlich Christlichen, somit im Zusammenhang der homiletischen Arbeit an der Glaubenslehre zu beantworten. Predigt auf der Basis der Bibel des Alten und Neuen Testaments Die Predigt gewinnt ihre Botschaft im Rückbezug auf die biblischen Texte. Sie schließt die gegenwärtige Selbstverstän­ digung des christlichen Lebens immer wieder neu an die der Bibel abgewonnenen Vollzüge religiöser Selbstdeutung an. Sie tut dies in der Absicht, die individuell-subjektive Aneignung der christlich-religiösen Lebensdeutung anzuregen. Diese ist im Neuen Testament zentral mit der Deutung der Geschichte Jesu Christi, seinem Leben, Geschick, seinem Wort und Werk verbunden, wobei die Motive und Materialien der neutestamentlichen Deutung wiederum weitgehend den religionskulturellen Deutungstraditionen des Alten Testaments entnommen sind. Schon insofern ist immer die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments die Basis der Predigt. Aber auch aus anderen Gründen stellt die Frage der Predigt über alttestamentliche Texte kein homiletisches Spezialpro­ blem dar.4 Denn die Predigt, deren Aufgabe darin besteht, die 4 Das Problem entsteht unter der Voraussetzung predigtferner exegetischer und/oder dogmatisch-theologischer Axiome. Es verflüchtigt sich, wenn man die biblischen Texte in die Regie der Predigt nimmt. Für diese steht jeder biblische Text, ob aus dem AT oder dem NT im Ganzen des biblischen Kanons. Und jeder biblische Text, sei er aus dem AT oder dem NT, will in der Predigt, soll sie eine christlich-religiöse Predigt werden, 100 

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gegenwärtige Selbstverständigung christlichen Lebens anzuregen und zu befördern, verfolgt auch in der Auslegung alttestamentlicher Texte die Intention, eine existenzielle Erfahrung sichtbar werden zu lassen, die durch diesen Text in christlich imprägnierte religiöse Deutungsperspektiven gerückt werden kann. Die Auslegung auch der alttestamentlichen Texte bewegt sich in einer christlichen Predigt immer im christlichen Kanon und damit im biblischen Fundierungszusammenhang der christlich-religiösen Selbst-, Welt- und Gottesdeutung. Indem die biblischen Texte im Ganzen des christlichen Kanons gelesen werden, sind der weitere Zusammenhang christlicher Lehre, die Dogmatik und Ethik des christlichen Glaubens oder zumindest eine Auffassung vom wesentlich Christlichen immer schon im Spiel. Das ist bei neutestamentlichen Predigttexten aber nicht anders. Auch ihre Auslegung verlangt eine religionshermeneutische Sensibilität, von der zugleich gilt, dass sie sich im Zusammenhang des biblischen Kanons und damit des biblischen Fundierungszusammenhanges der symbolischen Deutungskultur des Christentums bewegt. Für eine erfahrungsbezogene, religionshermeneutisch sensible homiletische Auslegung bieten alttestamentliche Texte oft auch Vorteile. Denn es kann ein homiletischer Zugewinn gerade in der Weite des Menschlichen liegen, die viele alttestamentliche Texte in den realistischen Ambivalenzen unterschiedlicher Gottes-, Selbst und Welterfahrungen vor Augen rücken. Ganz abgesehen davon hat es das Neue Testament ohne das Alte als biblische Basis der Predigt überhaupt nie gegeben. Immer wurde in der christlichen Kirche die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments gepredigt. Und immer war vom »Kanon im Kanon« bzw. von der »Mitte der Schrift«, bzw. wie Luther sagte, von dem her »was Christum treibet« ausgelegt sein. Zu den verschiedenen exegetischen und dogmatisch-theologischen Grundannahmen, die die Predigt über alttestamentliche Texte zu einem Problem auch homiletischer Natur machen und den vielen hermeneutischen Modellen, mit denen man es dann wieder wegzuschaffen versucht, vgl. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen und Basel 2002, 282–289. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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die homiletisch entscheidende Frage an die Texte des Alten wie des Neuen Testaments eben die, was sie der hier und jetzt versammelten Gemeinde zur Vergewisserung im Glauben und zur Orientierung im Leben zu sagen haben. Differente Formen im Textbezug der Predigt Es haben sich in der Geschichte der christlichen Kirche verschiedene Formen der Predigt herausgebildet, die einen jeweils anderen Umgang mit dem biblischen Text vorsehen. Das Spektrum reicht von der dem Text nachgehenden Homilie über die Lehr- und Glaubenspredigt bis hin zur Themapredigt.5 Alle diese Formen im Textbezug der Predigt sehen unterschiedliche Strategien vor, den biblischen Text in der Predigt aufzunehmen. Nicht immer wurde es als Aufgabe der Predigt verstanden, den Text auszulegen, gar ihn in dem verstehen zu wollen, was er religiösen Selbstdeutungsvollzügen zu geben vermag. Im Kontext der modernen Kultur muss jedoch im homi­letischen Umgang mit den biblischen Texten die Frage leitend sein, welcher Existenzerfahrung sie religiös deutend Ausdruck geben bzw. welche religiöse Selbstdeutung sie heute motivieren. Da im Horizont historischer Kritik die biblischen Texte weder als Gottes Selbstmitteilung, noch als Berichte über ein objektiv gültiges Heilsgeschehen, sondern als menschliche Selbstauslegung, die dem religiösen Verhältnis von Menschen Ausdruck gibt, gelesen werden müssen, ist die Berufung auf die Schrift kein begründendes Argument in der Predigt. Die Berufung Die Berufung auf den biblischen Text muss durch das Deutungs­ auf den biblischen Text muss angebot überzeugen, das die Predigt, durch das Deutungs­ angebot vom biblischen Text ausgehend, machen kann. überzeugen, das die Predigt, vom biblischen Text ausgehend, machen kann.

5 Vgl. Bernhard Lang, Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes München 1998. 102 

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Der hermeneutische Ausgang vom religiösen (Selbst-)Bewusstsein Die homiletisch-hermeneutische Textauslegung vollzieht energisch die Wende zum Subjekt. Die biblischen Texte sind in unserer Sicht der Dinge Die biblischen Texte sind in unse­ ebenso wenig wie die christ­ rer Sicht der Dinge ebenso wenig wie liche Lehre und Dogmatik als die christliche Lehre und Dogmatik als Gottes Selbstmitteilung bzw. als Gottes Selbstmitteilung bzw. Information über objektive Inhalte als Information über objektive und Gegenstände des Glaubens zu Inhalte und Gegenstände des verstehen. Glaubens zu verstehen. Religion, die subjektive Religion im Sinne des religiösen (Selbst-)Bewusstseins, wird in der Auslegung der biblischen Texte die hermeneutische Leitkategorie. Nicht ist zu fragen, was die biblischen Texte in einem objektiven Sinne über Gottes Willen und sein Handeln aussagen. Auch nicht, ob sie die Welt erklären oder ein Wissen von Gott mitteilen. Damit wäre der symbolische Deutungssinn der biblischen Texte verfehlt. Die Frage ist: Inwiefern deuten sie elementare Lebenserfahrungen? Denn es geht ja immer um den Zusammenhang von Religion und Leben im Modus der Selbstdeutung. Im Verstehen heute gelebter Religion, des religiösen Bewusstseins der Menschen, öffnen sich daher zugleich die Zugänge zum biblischen Text. Dann sind wir im homiletischhermeneutischen Zirkel. Wer zu predigen hat, tritt an den biblischen Text, der der Predigt zugrunde liegt, immer schon mit einem bestimmten religionssensiblen Vorverständnis heran. Predigende wissen, dass sie es mit einem offenen Text zu tun haben. Es ist ihnen klar, dass der biblische Text auf die Predigtaufgabe erst zu reagieren anfängt, wenn er mit einer religionshermeneutischen Fragestellung offensiv konfrontiert wird. Kein biblischer Text ist per se ein für diese Predigt, die hier und jetzt vorzubereiten ist, besonders geeigneter Text. Es gibt im Grunde auch keine leichteren oder schwereren, passenderen oder unpassenderen Predigttexte. Jeder Text muss im Vorgang seiner homiletischen, von der Predigtaufgabe gesteuerten Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Auslegung erst passend gemacht werden oder, besser gesagt, jeder biblische Text wird sich, konfrontiert mit der Predigtaufgabe, auf seine Weise als passend zeigen. Und oft tritt hervor, dass ein biblischer Text, der auf den ersten Blick als für diese Predigt ungeeignet erscheint, sich als besonders anregend erweist. Das sollte auch bei Revisionen von »Perikopenordnungen« bedacht werden. Die der Textauslegung implizite historische Kritik Die homiletische Arbeit an den biblischen Texten bedient sich ganz selbstverständlich der historisch-kritischen Methode.6 Die historisch-kritische Methode, die der neuzeitliche Protestantismus im Wesentlichen zur Durchsetzung gebracht hat, bringt die Bibel als eine vielstimmige Sammlung von Zeugnissen zum Verständnis, in denen wir dem zu Gott sich verhaltenden menschlichen Leben begegnen. Mit der historischkritischen Methode lassen sich die biblischen Theologien, die zu Aussagen über Gottes Heilshandeln führen, rekonstruieren. Sie macht sichtbar, dass wir in den biblischen Texten die religiösen Deutungen und theologischen Konstruktionen der biblischen Schriftsteller finden, die in der Verarbeitung ihrer Lebenserfahrungen und im Anschluss an religiöse bzw. theologische Symboltraditionen zu ihren theologischen Deutungen von Welt und Leben, Heil und Unheil, Tod und Erst die historische Methode macht die Bibel zu einem Buch, in dem wir ewiger Glückseligkeit gefundes Dramas der menschlichen Frei­ den haben. Erst die historiheit ansichtig werden. Sie erst führt sche Methode macht die Bizu einer Auslegung dieser Texte, de­ ren Ausgang offen bleibt. bel zu einem Buch, in dem wir des Dramas der menschlichen Freiheit ansichtig werden. Sie erst führt zu einer Auslegung dieser Texte, deren Ausgang offen bleibt. 6 Vgl. Ernst Troeltsch, Historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.  II, Neudruck der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962, 729–753. 104 

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Wer der historischen Methode folgt, für den hat die Bibel die Wahrheit nicht von vornherein auf ihrer Seite. Die historische Methode hält vielmehr dazu an, die Lebensfragen, auf die die biblischen Texte Antwort suchen und Antwort geben, so präzise wie möglich im jeweiligen historischen Kontext erkennbar zu machen. Ferner macht die Arbeit mit ihr darauf aufmerksam, durchaus religionskritisch, dass die theologischen Deutungen menschlicher Erfahrungen auch höchst ambivalent und gefährlich sein können und keineswegs immer in ihrer Lebensdienlichkeit zur Wirkung gekommen Wahr sind die Aussagen der bi­ blischen Texte, sofern sie auf die sind. Wahr sind die Aussamenschlichen Existenzfragen pro­ gen der biblischen Texte, soduktiv reagieren, möglicherweise fern sie auf die menschlichen auch diese Fragen tiefer und noch einmal anders verstehen lassen. Existenzfragen produktiv reagieren, möglicherweise auch diese Fragen tiefer und noch einmal anders verstehen lassen. Wenn erkannt ist, dass Texte für ihre Zeit Wahrheit beanspruchen konnten, weil sie die Wirklichkeit des Lebens erschlossen haben, dann können sie solche Erschließungsprozesse und damit die Wahrheit für jede Zeit eröffnen. Aber das muss sich im Vorgang der Rezeption, der Auslegung und Aneignung dieser Texte zeigen. Dort, wo es in der Begegnung mit den biblischen Texten erneut zur Erkenntnis der Wahrheit kommt, erschließt sich der Sinn, den menschliches Leben in der Gottesbeziehung gewinnen kann. Menschen finden sich in die Gottesbeziehung, die Jesus gelebt hat, einbezogen. So machen biblische Texte zu Recht den Anspruch geltend, auf eine Sinn erschließende Weise wahr zu sein. Die historische Methode macht die Bibel zu einem Buch voller Leben. Sie führt dazu, dass wir in den biblischen Texten nicht der Stimme Gottes, sehr wohl aber den symbolischen Deutungswelten einer Rede von Gott begegnen, mit der Menschen Antworten auf ihre ersten und letzten Fragen, auf Fragen nach dem ewigen Leben, einem unbedingt erfüllten Leben, nach dem Woher des Bösen, nach Sünde, Schuld und VergeBibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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bung, nach Heil und Rettung, Versöhnung und Erlösung, gefunden haben. Sie veranlasst diesen Antworten nachzugehen, die Lebenserfahrungen aufzudecken, die ihnen ihre Dringlichkeit und Schärfe gegeben haben. Gleichwohl ist natürlich die historisch-kritische Arbeit an den biblischen Texten auf dem Weg zur Predigt immer nur ein notwendiger Schritt, der sogleich danach drängt, in eine weiterführende existenziell-hermeneutische Fragestellung eingeholt zu werden. Auf dem Weg zur Predigt kann sich die Interpretation der Bibel jedenfalls nicht damit begnügen, vergangenes zu Gott sich verhaltendes Leben zu rekonstruieren. Die Predigt muss den existenziellen Bezug der biblischen Texte im Hier und Heute verdeutlichen können. Die Predigt als ein auf der Basis der biblischen Texte produzierter neuer, religiös inspirierender Text Im Rekurs auf einen Text der Bibel muss die Predigt einen neuen Text entstehen lassen. Der versucht den biblischen Text so zur Sprache zu bringen, dass deutlich wird, was er heute zur religiösen Existenzdeutung zu sagen hat. Entscheidend dafür, dass die Predigt als religiös inspiEntscheidend dafür, dass die Predigt als religiös inspirierender, rierender, neuer Text entsteht, neuer Text entsteht, ist, dass die ist, dass die Bibel als eine aufs Bibel als eine aufs Ganze gehende, Ganze gehende, die letzten die letzten Fragen des Menschseins ansprechende Sammlung religiös ge­ Fragen des Menschseins andeuteter, menschlicher Lebensäuße­ sprechende Sammlung religiös rungen gelesen wird. gedeuteter, menschlicher Lebensäußerungen gelesen wird. Dann begegnen wir in ihr dem Drama ebenso elementarer wie spannungsvoller Menschen- und Gottesgedanken, Berichten von Glück und Not, Erzählungen von der Menschen Verderben und von ihrem Heil, von der Macht des Bösen und der Kraft zur Versöhnung, von der Menschen Sünde und ihrer Erlösung. Soll der Text der Predigt von dem für sie konstitutiven und normativen Bezug auf die Bibel auf kreative Weise profitie106 

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ren, so ist diese von den dogmatischen Überhöhungen frei zu machen, mit denen die Wort-Gottes-Theologie des 20.  Jahrhunderts sie überzogen hatte und immer noch überzieht. Der Rückbau dieser dogmatischen Überhöhungen der Wort-Gottes-Theologie, die die biblischen Texte als Gottes Selbstwort liest, bedeutet in gar keiner Weise, sie als Grundlage der Predigt weniger ernst zu nehmen. Im Gegenteil, ihre kreative Bedeutung kommt zum Zuge und die biblischen Texte werden zu wirklich offenen Texten, deren Sinn- und Wahrheitsgehalt aus ihrer existenziell-religiösen Deutungskraft hervorgeht.

1.2 Die Bibel in der modernen Lebenswelt Wer predigt, legt immer auch die Bibel aus. Durch Textauslegung ist die christliche Lebensdeutung vermittelt. Denn die Bibel ist die Heilige Schrift der christlichen Kirche bzw. das kulturelle Gedächtnis des Christentums. Dieser Tatbestand wird mit jeder Predigt erneuert, indem sie die biblisch fundierte Symbol- und Deutungskultur des Christentums im aktuellen Gegenwartsbezug erschließt. Dabei gilt es, sich heute jedoch der Besonderheiten und des Ungewöhnlichen dieser Kommunikationssituation bewusst zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Predigende die Bibel aufschlagen, daraus vorlesen und auf die Gegenwartsbedeutung ihrer Texte setzen, mutet in der modernen Lebenswelt merkwürdig an. Die Predigt behauptet gewissermaßen einen kulturellen Sonderstatus, indem sie es unternimmt, die biblischen Texte in die aktuelle Selbstdeutung christlichen Lebens umzusetzen. Deshalb ist es enorm wichtig, dass Predigende sich die extraordinäre hermeneutische Herausforderung, die mit der textbasierten Predigtaufgabe verbunden ist, immer wieder klar machen. Sie folgt daraus, dass sich das moderne Wirklichkeitsverständnis vom biblischen Weltbild so sehr unterscheidet. Gravierend wirkt sich die gegenwartskulturelle Fremdheit der Bibel aus. Die Bibel steht zwar nach wie Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Die Bibel steht zwar nach wie vor für das kulturelle Gedächtnis des Christentums, aber diese Erinne­ rungskultur wird in den modernen Lebenswelten kaum gepflegt, nicht in der Form privater Bibellektüre und somit auch nicht in Gestalt indi­ vidueller Aneignung der biblischen Lebensdeutungsangebote.

vor für das kulturelle Gedächtnis des Christentums, aber diese Erinnerungskultur wird in den modernen Lebenswelten kaum gepflegt, nicht in der Form privater Bibellektüre und somit auch nicht in Gestalt individueller Aneignung der biblischen Lebensdeutungsangebote.

Distanzen zur biblischen Symbolkultur Die Predigt muss daher zeigen können, inwiefern die biblischen Symbole von Schöpfung und Sünde, Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung immer noch als Schemata humaner Selbstdeutung und Daseinsvergewisserung taugen, gegenüber einer säkularen Vernunft und einem von der Aufklärung geprägten neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis. Darin liegt die entscheidende texthermeneutische Herausforderung. Sie ist heute auch deshalb so kompliziert und anspruchsvoll geworden, weil die Bibel und mit ihr die zuvor durch Bibel und Gesangbuch lebendig gehaltene christliche Symbolwelt ihre kulturelle Präsenz eingebüßt haben, weithin in Vergessenheit geraten sind und die Bibel immer weniger als das kultuDie biblischen Texte haben ihren »Sitz im heutigen Leben« verloren. relle Gedächtnis des ChristenAnknüpfungsmöglichkeiten an tums funktioniert. Es kann die Lebensfragen der Gegenwart keine Vertrautheit mit den bimüssen von der Predigt immer erst hergestellt werden. blischen Symbolen vorausgesetzt werden. Die biblischen Texte haben ihren »Sitz im heutigen  Leben« verloren. An­ knüpfungsmöglichkeiten an die Lebensfragen der Gegenwart müssen von der Predigt immer erst hergestellt werden. Fragmentierte Präsenz biblischer Symbole In der Situation des säkularen wie religiösen Pluralismus und Individualismus müssen die Predigenden dabei zudem mit 108 

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vielfältigen Rationalitätskonzepten, Lebensformen und Sinnentwürfen rechnen. Diese stehen, wenn überhaupt, nur im lockeren Anschluss an die Symbol- und Deutungskultur der Bibel. Dennoch sind sie nicht ohne religiöse Implikationen. Im Gegenteil, die Symbolwelten auch der modernen Kultur sind voll religiöser Anspielungen. Dies drückt sich darin aus, dass in der säkularen Gegenwartskultur vielfach auf biblische Narrative und Symbole zurückgegriffen wird. Die Bibel ist zum Spielmaterial einer religionsästhetischen Ausdruckskultur Die Bibel ist zum Spielmaterial einer religionsästhetischen Ausdruckskul­ geworden, die die existenzielle tur geworden, die die existenzielle Aneignung der religiösen Sinn‑ Aneignung der religiösen Sinnmotive in das Belieben der Kulturproduzen­ motive in das Belieben der Kulten in Film und Fernsehen, Theater turproduzenten in Film und und Kino, wie dann der individuel­ Fernsehen, Theater und Kino, len Subjekte überhaupt gelegt hat. wie dann der individuellen Subjekte überhaupt gelegt hat. Vor die Frage nach der Relevanz und Brauchbarkeit biblischer Texte für eine heute plausible religiöse Deutungspraxis müssen Predigende überhaupt erst einmal die Wahrnehmung der Präsenz der Bibel in der Kultur der Gegenwart rücken. Bibelfrömmigkeit als Gestalt gelebter Religion Was Karl-Fritz Daiber und Ingrid Lukatis7 in einer Repräsentativbefragung zum Bibelgebrauch bereits vor ca. 30 Jahren festgestellt haben, dürfte heute vermutlich noch wesentlich stärker zu beobachten sein: Weit über die Hälfte derer, die zur evangelischen Kirche gehören, besitzen zwar eine Bibel, aber sie lesen nicht darin. Ohne unterrichtliche Intentionen, ohne bildungspraktische Bemühungen und Maßgaben wird die Bibel selten aufgeschlagen. Die Tatsache, dass man sie besitzt, sichert die Zugehörigkeit zum Christentum und damit irgendwie auch den Anschluss an seine biblisch fundierte religi7 Vgl. Karl-Fritz Daiber/Ingrid Lukatis, Bibelfrömmigkeit als Gestalt gelebter Religion (Texte und Arbeiten zur Bibel 6), Bielefeld 1991. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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öse Deutungskultur. Um deren Sinngehalte für die Gegenwart zu spezifizieren, sind, nach verbreiteter volkskirchlicher Meinung, Predigt und Unterricht der Kirche da. Den Theologen und Theologinnen wird die professionelle Zuständigkeit zugewiesen, wenn ein geeigneter Bibelvers anlässlich einer Taufe, Konfirmation oder Beerdigung gesucht wird. »Ach, Herr Pfarrer, welcher Spruch auf uns passt, das werden Sie doch am besten wissen …« Dass es in der Bibel Sprüche gibt, die in krisenhaften, herausgehobenen Lebenssituationen passen, also deutungskräftig funktionieren, wird – so gesehen – freilich erwartet. Es wird unterstellt, dass in der Bibel hilfreiche Deutungszuschreibungen ans menschliche Leben zu finden sind, gerade in solchen Situationen, wo Menschen sonst sprachlos werden müssten. Aber die Reaktivierung und lebensgeschichtliche Vergegenwärtigung dieses biblischen Deutungswissens bleibt den theologischen Deutungsexperten überlassen. Darin schlägt sich zweifellos sowohl eine elementare Erfahrung als auch eine dominante Erwartung an die Predigt nieder. Die Bibel gehört zum Leben, aber wie, das zu sagen überlässt man professionellen kirchlichen Zuständigkeiten. Die Bibel ist natürlich Kulturgut8, gewissermaßen im Allgemeinen, aufgrund ihrer historischen Bedeutung, aber sie ist es nicht in der Präsenz ihres Gebrauchs und nicht in Anerkennung ihrer Relevanz. Sie ist ein Buch, dessen Besitz die formelle Zugehörigkeit zur Kirche als der religiösen Institution der Gesellschaft unterstreicht. Ein ›Kultsymbol‹ (bei Kasualien oder als Traugeschenk), Repräsentanz des »Heiligen« im Wohnzimmer des säkularisierten Zeitgenossen, aber durch die Christentumsgeschichte hindurch, bis hinein in unsere Gegenwart, immer auch Inspiration für die bildende Kunst, die Musik und die Literatur (Bildungsgut für Kunst-, Musik- und Literaturliebhaber).9 8 Ohne damit als »Kulturgut« schon sonderlich hoch im Kurs zu stehen. Ein Goethe-Zitat nicht erkannt zu haben, mag peinlich sein. Bibelzitate nicht als solche zu erkennen, gilt kaum als Mangel an Allgemeinbildung. 9 So auch Gerd Theißen zum gesellschaftlichen »Sitz im Leben« der Bibel, wobei der Bibelwissenschaftler Theißen allerdings ebenfalls meint betonen 110 

Durchführung

Das den religionsästhetischen Gebrauch der Bibel pflegende Kulturchristentum hat die Kirche als die religiöse Institution der Gesellschaft immer bei sich und verweist auf sie. Es kann sich der Ausdeutung der christlichen Symbol- und Deutungskultur, die die Bibel präsent hält, entziehen, weil sie dort, in der Kirche  – und natürlich auch im Religionsunterricht der Schule –, immer wieder ausgelegt und in ihren religiös sinnstiftenden Gehalten aneignungstauglich vermittelt wird. In der Kirche – in ihren Gottesdiensten und Gemeindegruppen, in ihrem Unterricht und im Religionsunterricht der Schule – wird die Bibel aufgeschlagen, gelesen, ausgelegt und mit den Deutungsangeboten, die sie ans menschliche Selbstverständnis heute macht, vergegenwärtigt. Das wissen und erwarten auch diejenigen, die an kirchlichen Veranstaltungen nur selten teilnehmen, oft seit ihrer Konfirmation keine Predigt mehr gehört haben. Alle wissen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum kulturellen Christentum, dass die Kirche diejenige Institution ist, in der die Bibel von zumeist schriftgelehrten Experten ausgelegt und dabei mit größerer oder geringerer Kunstfertigkeit auf die heutige Zeit angewendet wird. Auch diejenigen, die den sonntäglichen Gottesdienst selten oder so gut wie gar nicht besuchen, wissen, dass in der Pflege des biblischen Gedächtnisses bzw. der biblischen Erinnerungskultur das religiöse Zentrum der Kirche liegt. Die Kirche soll im Ausgang von der aufgeschlagenen Bibel »Gottes Wort« verkündigen. Wir fragen nach dem alltagsweltlichen Vorkommen der Bibel und nach dem alltagskulturellen Bibelgebrauch. Eine Homiletik, die sich in der Alltagswelt und ihren Zugängen zur Bibel verortet, muss so fragen. Zu erwähnen sind dann freilich zu müssen, wie »lebendig« die Bibel sei – im Gottesdienst als Predigttext, als Konsensbasis in Kirche und Gemeindeleben, als Kinderbuch in der Erziehung, als Forschungsgegenstand in der Wissenschaft und in der individuellen Lektüre, besonders in Form der Losungen. Vgl. Gerd Theißen, Die Bibel an der Schwelle zum dritten Jahrtausend nach Chr. Überlegungen zu einer Bibeldidaktik für das »Jahr mit der Bibel 1992«, in: Theologia Practica 27 (1992), 4–23, 4 f. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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auch noch andere Formen des Bibelgebrauchs, die sich durchgehalten bzw. als eine eher moderne Form neu entwickelt haben: die individuelle Bibellektüre, der gemeindereligiöse Typ der Bibelfrömmigkeit, vor allem die in interaktiven Gruppenprozessen sich erschließenden »neuen Zugänge zur Bibel«. Individuelle Bibellektüre Seit den Zeiten von Pietismus und Aufklärung hat sich – auch wenn dies im Einzelnen schwer nachweisbar ist  – derjenige Bibelgebrauch entwickelt, der sozusagen im ursprünglichen Impuls des reformatorischen Christentums lag. Christen lesen die Bibel, weil sie den persönlichen Zugang zum Gott der Bibel suchen. Von der Praxis täglicher Bibellese (Losungen) angefangen, dürfte sich dieser Bibelgebrauch erstrecken bis hin zu einer Haltung, die sich etwa so ausspricht: Religion ja, Kirche nein; Christsein ja, aber wozu brauche ich da die Kirche als Institution? Schwer zu überschauen ist dieses ebenso individuelle wie in kleinen Gruppen, Haus- und Gemeindekreisen praktizierte Christentum. Aber auch der auf die religiöse Selbständigkeit des Einzelnen pochende Bibelgebrauch hat seinen sozialen Hintergrund und seine sozio-kulturelle Abstützung. Er folgt im Grunde den gesellschaftlichen Individualisierungstrends, der Freisetzung der Einzelnen aus traditionellen Bindungen und Zugehörigkeitsverhältnissen in ständischer, beruflicher, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht. Auch in religiöser Hinsicht soll – nach der Aufklärung – gelten, dass die eigene Einsicht in Wahrheitsansprüche zählt. Es wird die SelbstErfahrung gesucht, das eigene Denken und Handeln. Maßgeblich ist nicht, was die Kirche unter Berufung auf Bibel oder Dogma als Glaubensinhalt und Lebenshaltung vorschreibt. So sehen es Christen, die ihr Christsein mit Einsichten begründen, die ihnen in der individuellen Bibellektüre aufgegangen sind. Sie betonen gelegentlich, dass sie, weil sie die Bibel haben, eben keine Kirche bräuchten.

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Durchführung

Bibelgruppen Es ist dann vor allem durch die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts ein gemeindereligiöser Typ der Bibelfrömmig­ keit entstand. Die Bibel wird gemeinschaftlich, in der Inter­ aktion einer Gruppe, gelesen und ausgelegt. Die Gruppen haben Identität bildende Kraft. Sie formen das persönliche Lebenskonzept derer, die ihnen zugehören. Die Verbreitung dieser gemeindereligiösen Bibelfrömmigkeit ist jedoch regional sehr unterschiedlich. Sie ist besonders in den Gegenden immer noch präsent, wo die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts stark war. Interaktive Zugänge zur Bibel Besonders auffällig sind während der letzten dreißig Jahre all die Versuche geworden, die sich unter der Selbstbezeichnung »Neue Zugänge zur Bibel« zusammenfassen lassen.10 Was diese Initiativen mit dem vom Pietismus geprägten Typ der Bibelfrömmigkeit verbindet, ist, dass auch sie ihren sozialen Ort in der Interaktion von Gruppen finden. Die Gruppenbildung unterliegt hier jedoch wesentlich anderen Gesetzen. Die neue Bibelfrömmigkeit zeigt deutlich die Merkmale des gegenwartskulturellen Pluralismus und Individualismus. Die Gruppen sind kaum auf Dauer angelegt. Es werden verschiedene soziale, politische und auch religiöse Interessen explizit in sie eingebracht. Es wird starkes Gewicht auf die spielerische Interaktion sowohl mit dem biblischen Text als auch der Gruppenmitglieder untereinander gelegt.11 Von den Basisgemeinden Lateinamerikas und ihrer politischen »Spiritualität«, von Frauengruppen hierzulande und ihrer feministischen »Spiritualität« ist die neue Bibelfrömmigkeit angeregt. Die Bibel wird nicht den Experten der Bibelwissenschaft überlassen. Entscheidend ist die gruppendynamische, 10 Vgl. Klaus Wegenast, Art. Bibel. Praktisch-theologisch, in: TRE 6, 1980, 93–109. 11 Vgl. Wolfgang Langer (Hg.), Handbuch der Bibelarbeit, München 1987. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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kreative, erlebnisorientierte Begegnung mit dem biblischen Text. Man will sich mit den eigenen Gefühlen, Erfahrungen, Vorstellungen und Gedanken in den Text »einbringen«. Partnerschaftlich soll die Begegnung mit der Bibel sein, nicht normativ oder gar autoritär  – und eben auch nicht distanziert, nicht historisch-kritisch. Ganzheitlich soll diese Begegnung sein, alle Sinne, nicht nur den Kopf ansprechen. Auf die Gefühle kommt es an. Alles ist wichtig, alles, was das Leben in seinen religiösen, moralischen und politischen Bezügen ausmacht. Der biblische Text soll zur symbolischen Form werden, die die religiöse Sinndimension in ihrer lebenspraktischen Relevanz erschließt. Es geht im Grunde darum, dass die Bibel als Medium für weiterführende Gespräche und Aktionen dient. Sie ist die Folie für die Aushandlung aktueller persönlicher, religiöser, sozialer und politischer Erfahrungen und Konflikte – in der symbolischen Welt des Christentums. In einem Praxisbericht »Frauen erfahren die Bibel« wird dieser »neue Zugang zur Bibel« so beschrieben: »Um eine Verknüpfung von Text und eigenem Denken und Fühlen zu bekommen, benutzen wir häufig Formen wie Rollenspiel, Bildmeditation und Körperübungen. Wir wollen in unserem Kontext des FrauSeins, als Hausfrau, Alleinlebende, Mutter etc. den biblischen Aussagen begegnen und merken so, wie vielfältig ein Text wirkt, abhängig von unserer Biographie, unserer aktuellen Situation etc. … Eine Folge dieser Arbeit ist, daß keine für alle geltenden Wahrheiten am Ende herauskommen. Die Bibel ist so weniger absolute Autorität als vielmehr Dialogpartnerin. Wir hören auf ihre Aussagen, setzen sie in Beziehung zu uns und treten ebenso mit eigenen Gedanken und Anfragen an sie heran.«12 Die hermeneutische Multiperspektivität und Fragmenta­ rität, die Körperlichkeit, das Spielerische, die Verschränkung von Meditation und Reflexion sind die bestimmenden Vollzugsformen dieses »neuen« Bibelgebrauchs. 12 Vgl. Rita Klemmayer/Ulla Schmitt-Priditz/Heide Herberg, Frauen erfahren die Bibel, in: werkstatt gemeinde 3/1985, 146–150, 146. 114 

Durchführung

Im »Bibliodrama« finden diese Vollzugsformen am deutlichsten zusammen. Gerhard Marcel Martin hat das Bibliodrama als »das offene Programm eines Interaktionsprozesses zwischen biblischer Überlieferung und  – zumeist sieben bis maximal zwanzig  – Gruppenmitgliedern« beschrieben.13 Er hat darauf hingewiesen, dass das »Bibliodrama« »erfahrungs- und textorientiert« sei.14 Ziel der Übung ist: »Eigene Erfahrungen sollen in Kontakt kommen mit den Erfahrungen, die in den Geschichten, Situationen, Personen, aber auch in den Gebets-, Meditations- und Lehrtexten der Bibel lebendig, mög­licherweise verzerrt und verschüttet sind. Es geht also in diesem Prozess gleichermaßen um das Bewusstsein von Irritationen, Projektionen, Blockierungen in und gegenüber biblischen Texten wie um die Entdeckung von deren befreiendem, lebensfreundlichem Potenzial.«15 Die »neuen Zugänge zur Bibel« wollen im Medium der biblischen Texte zu einer christlich-religiösen Deutung eigener Lebenserfahrung finden. Mit solcher Deutung ist freilich nicht nur ein kognitiver Vorgang gemeint. Es geht um die in die Praxis einer Lebensform integrierte Sinneinstellung. Die Begegnung mit dem biblischen Text soll zu einer »Erfahrung mit der Erfahrung« (E. Jüngel) werden. Sie will diejenigen, die sich auf sie einlassen, zur Klärung ihrer Lebenssituation verhelfen, ihnen eine befreiende, weiterführende Lebensperspektive er­öffnen. Größere Aufmerksamkeit hat zuletzt auch die von dem jüdischen Amerikaner Peter Pitzele entwickelte, ebenfalls gruppendynamisch ausgerichtete Methode des Bibliolog gefunden.16 13 Vgl. Gerhard Marcel Martin, Bibliodrama, in: Wolfgang Langer (Hg.), Handbuch der Bibelarbeit, München 1987., 305–310, 305. – Ders., Sachbuch Bibliodrama. Praxis und Theorie, Stuttgart u. a. 1995, 2. akt. u. erw. Aufl. 2001. 14 Gerhard Marcel Martin, Bibliodrama, Handbuch, a. a. O. 305. 15 Ebd. 16 In Deutschland ist die Methode des Bibliologs vor allem durch Uta PohlPatalong bekannt und auch für die Predigtarbeit fruchtbar gemacht worden. Vgl. ihren Beitrag »Predigt bibliologisch gestalten« in: Lars Charbonnier, Konrad Merzyn und Peter Meyer (Hg.), Homiletik. Aktuelle Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Wie im Bibliodrama geht es auch im Bibliolog darum, dass die Gruppenteilnehmer sich mit den in der biblischen Geschichte agierenden Personen identifizieren. Stärker als das Bibliodrama ist der Bibliolog auf die Textauslegung ausgerichtet. Er operiert mit einer Hermeneutik der Vieldeutigkeit und setzt darauf, dass die biblischen Texte genügend Zwischenräume haben, in die die Leser und Leserinnen sich mit ihren eigenen Erfahrungen und Erwartungen eintragen können, ohne die Intention des Textes dabei verfehlen zu müssen. Die »neuen Zugänge zur Bibel« haben – hierzulande – ihren sozialen Ort vor allem in Frauengruppen, in der Erwachsenenbildung, in Workshops von Akademien und anderen kirchlichen Bildungseinrichtungen gefunden, teilweise auch im Religionsunterricht und zunehmend jetzt auch in Predigtvorbereitungskreisen, dabei angeregt durch die »Dramatur­ gische Homiletik« Nicols.17 Sie signalisieren einen erheblichen Wandel texthermeneutischen Bibelumgangs. Es zeigen sich in diesem neuen Bibelumgang die Konturen einer weitgehend posttraditionalen, auf das selbstentfaltungsbereite Individuum setzenden Religionskultur. Es wird nicht der historisch-kritische, sondern ein partnerschaftlicher, ganzheitlicher Umgang mit der Bibel praktiziert. Man unterstellt sich nicht dem (objektiven) Wahrheitsanspruch des biblischen Textes. Es rückt das sich selbst in einem ganzheitlichen Sinne erlebende Subjekt in den Vordergrund. Gefragt ist nicht das Expertenwissen der Bibelwissenschaft, sondern der persönliche, subjektive Zugang zur religiösen Lebensweisheit der Bibel. Mit der Bibel etwas anfangen zu können, heißt nicht mehr, sich unter ihre normative Autorität als »Wort Gottes« zu beugen. Es heißt Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 166–181, sodann zum Gesamtkonzept: Uta Pohl-Patalong, Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Bd. 1: Grundformen, Stuttgart (2009) 2010. Uta Pohl-Patalong/Maria Elisabeth Aigner, Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Bd. 2: Aufbauformen, Stuttgart 2009. 17 Vgl. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, 2Göttingen 2005; Martin Nicol/Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2005. 116 

Durchführung

auch nicht, sich pflichtschuldigst mit dem eigenen Bibelverständnis an Ex­pertenmeinungen (deren Begründung man ohnehin nicht nachvollziehen kann) professioneller Exegeten zu orientieren. All diese autoritativen Ansprüche werden unterlaufen von dem religiösen Selbst-Interesse des (individuellen) Subjekts. Man will sich nicht einfügen in verbindlich Vorgegebenes, in Traditionen und Institutionen. Man akzeptiert nicht ohne Weiteres die Vorgaben der Offenbarung, der Vernunft, der Wissenschaft, der Kirche. Man will sich sehr viel eher in eine Vielzahl von Identitäten, Rollen, Images verwandeln. Man sucht die imaginative Pluralität symbolischer Welten. Der Bibeltext muss – wie das Computerspiel – das Spiel mit wechselnden Identitäten oder Identitätsfragmenten fördern. Die »neuen Zugänge zur Bibel« dokumentieren auf ihre Weise den Wandel religiöser Kultur, der den zeitdiagnostischen Kern der Schlagworte von der Erlebnis- und Medien­ gesellschaft ausmachen. Den Soziologen Gerhard Schulze hat die Untersuchung des seit den 1960er Jahren in der westdeutschen Gesellschaft sich durchsetzenden Wertewandels bekanntlich zur Rede von der »Erlebnisgesellschaft« veranlasst.18 Er meint damit diese Veränderungen im Selbst- und Weltbild der Menschen: die Angebotsexplosion, die Ausweitung der Konsumpotenziale, den Wegfall vieler Zugangsbarrieren zu beruflichen Karrieren, die Umwandlung von vorgegebener in gestaltbare Wirklichkeit, die Erweiterung individueller Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Dass Menschen in religiöser Hinsicht ebenfalls diesem Imperativ der Erlebnissteigerung folgen, zeigen die Formen der interaktiven Bibellektüre. Auch sie lassen Erlebnisorientierung erkennen. Auch sie finden meist unter Anleitung von Entertainern in Gruppen statt, die sich als Erlebnisgemeinschaft organisieren. Auch sie sollen Situationen herbeiführen, die das Material für subjektbestimmte Sinnkonstruktionen liefern. So 18 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1987, 82000. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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zeigt sich auch in den »neuen Zugängen zur Bibel« ein Resultat des Sachverhalts, dass sich die Kultur der westlichen Gesellschaften nicht mehr aus »dem Problem ableitet, die biologisch wahrscheinliche Lebenszeit überhaupt durchzustehen, sich eine Existenz aufzubauen und den Kampf ums Dasein zu bestehen. Bei allem Krisenbewußtsein gilt das Leben doch als garantiert. Jetzt kommt es darauf an, es so zu verbringen, daß man das Gefühl hat, es lohne sich.«19 Lohnt sich mein Leben? Wozu sind wir da? Auf diese Fragen, die ja tatsächlich religiöse Sinnfragen sind, suchen die Menschen eine Antwort, auch und gerade dort, wo sie an Lernprozessen teilnehmen, in denen es um eine Begegnung mit der Bibel geht. Auch dabei wollen sie »etwas erleben« und auch dort suchen sie nach Antworten auf Sinnfragen, die »ganz« gelebt werden können. In den Gemeinden ist trotz der alten und neuen Zugänge zur Bibel die Klage verbreitet, dass das biblische Wissen und damit auch die von ihm geformten Glaubensvorstellungen und -überzeugungen dahinschwinden. Wer unterrichtet, macht die Erfahrung, dass sich die existenziell-religiöse Bedeutung der biblischen Narrative und Symbole nur schwer vermitteln lässt. Die meisten der biblisch fundierten Glaubenssätze schweben gleichsam in der dünnen Luft einer von Berufstheologen verwalteten kirchlichen Dogmatik. Sie sind in die gesellschaftlich vorherrschenden Grundüberzeugungen kaum noch bewusst integriert. Sie werden von der Mehrzahl der Zeitgenossen schlicht nicht mehr verstanden. Allenfalls die großen Fest­zeiten des Kirchenjahres bieten noch die Gelegenheit, ihren lebenstragenden Sinn zur Mitteilung zu bringen. So bleibt der religiöse Deutungssinn der biblischen Symbole eingeschachtelt in den rhetoriSo bleibt der religiöse Deutungs­ sinn der biblischen Symbole ein­ schen Sonderwelten der Theogeschachtelt in den rhetorischen logie und der binnenkirchliSonder­welten der Theologie und der chen Szenen. Nur dort redet binnen­kirchlichen Szenen. 19 A. a. O., 60. 118 

Durchführung

man von Gott als dem Schöpfer der Welt, von der sündhaften Verlorenheit des Menschen, von seiner Befreiung durch Gottes rechtfertigendes und versöhnendes Handeln in Jesus Christus, von seiner endgültigen Erlösung aus allen Mächten des Verderbens in Gottes zukünftigem Reich. Wer mit seiner Predigt auch außerhalb der engeren Kreise von Theologie und Kirche verstanden werden will, darf diese Sprache nicht sprechen, jedenfalls nicht ungebrochen. Sie muss übersetzt werden in eine Sprache, die sensibel an die Artikulation von lebensorientierenden Grundüberzeugungen der säkularen Sie muss übersetzt werden in eine Sprache, die sensibel an die Arti­ Zeitgenossen anknüpft. Auch kulation von lebensorientierenden die Auslegung der biblischen Grundüberzeugungen der säkula­ ren Zeitgenossen anknüpft. Auch Texte muss, will sie in religiös die Auslegung der biblischen Texte sinnerschließende Erfahrunmuss, will sie in religiös sinnerschlie­ gen führen, diese offensiv als ßende Erfahrungen führen, diese of­ fensiv als symbolische Ausdruck­ symbolische Ausdruckgestalgestalten individuellen religiösen ten individuellen religiösen Erlebens interpretieren. Erlebens interpretieren.

1.3 Das Zusammenspiel von Exegese und Glaubenslehre Biblische Texte sind die Basis der Predigt. Der Kanon der biblischen Schriften gibt im Selbstverständnis des christlichen Glaubens den Ursprungsgeschichten des zu Gott sich verhaltenden menschlichen Lebens Ausdruck. Um dies zu erfassen, müssen Predigende sich energisch um die historische und (religions-)theologische Auslegung der biblischen Texte bemühen. Dann setzen sie sich der Fremdheit der Texte aus und arbeiten sich an dem Sachverhalt ab, dass die biblischen Texte oft gerade keine Anschlüsse an die Religionskultur der Gegenwart erkennen lassen. Je größer der Widerstand, den die biblischen Texte ihrer religionsproduktiven Aneignung entgegensetzen, umso größer aber auch die Chance, dass sie zu denken geben und Predigende auf neue Gedanken bringen. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Der innere Zusammenhang von Textauslegung, systematisch-theologischer Reflexion und religionshermeneutischer Gegenwartsdeutung Die homiletische Auslegung biblischer Texte stellt sich in den religionshermeneutischen Horizont der je eigenen Gegenwart. Sie überführt die biblischen Texte in einen religionshermeneutischen Zirkel. Dieser religionshermeneutische Zirkel wird in herkömmlichen Beschreibungen des Prozesses der Predigtvorbereitung als der der »systematisch-theologische Reflexion« bezeichnet. Dabei wird in der homiletischen Ausbildung freilich meistens zu zaghaft nur ein Verständnis dafür vermittelt, dass die systematisch-theologische Reflexion im Kontext dieser der Texthermeneutik korrespondierenden Religionshermeneutik zu betreiben ist. Erst als Reflexion der Fragen jedoch, die die Zeitgenossen an Religion und Christentum haben, erst im Versuch, die religiöse Dimension in ihren existenziellen Erfahrungen zu verstehen, wird die systematisch-theologische Reflexion für die homiletische Textauslegung fruchtbar. Dabei darf sie freilich ebenso wenig wie die Exegese dem positivistischen Missverständnis biblischer Texte erliegen, in der Meinung, sie könnten unabhängig von der Glaubensüberzeugung Aussagen über die Wahrheit des von der Bibel bezeugten Heilsgeschehens machen. Auch die systematisch-theologische Reflexion führt zu keinen objektivierenden Aussagen über das Schöpfungs-, Rechtfertigungs- und Erlösungsgeschehen, sondern sie reflektiert das sich im Blick auf seine Geschöpflichkeit, Glaubensgerechtigkeit und Erlösungshoffnung entfaltende Selbstverständnis des Menschen. Sie folgt insofern Schleiermachers Konzept der Bildung von Glaubenssätzen, indem sie diese als Artikulationen der Selbstauslegung des sich im Medium der biblischen und kirchlichen Überlieferungen reflektierenden christlich-religiösen Bewusstseins versteht.20 Genauso aber hilft sie dazu, die biblischen Texte in 20 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. von Martin Redeker, Nachdruck von 7. Aufl. 1960, Berlin u. a. 1999, § 15. 120 

Durchführung

ihrem symbolischen Deutungssinn zu erschließen. Es ist deshalb  – predigtpraktisch gesehen  – enorm wichtig, zu sehen, dass die homiletische Texthermeneutik diesen engen Verweisungszusammenhang zwischen der Exegese und der Glaubenslehre aufbaut. Auch die dogmatischen Sätze müssen als symbolische Auch die dogmatischen Sätze müs­ sen als symbolische Artikulationen Artikulationen christlich-relichristlich-religiöser Erfahrung ver­ giöser Erfahrung verstanden standen werden und sind nicht zu werden und sind nicht zu gegegenständlichen Wirklichkeiten mit eigenem ontologischem Status zu genständlichen Wirklichkeiten machen. mit eigenem ontologischem Status zu machen. Recht verstanden geht es in der Dogmatik bzw. der Dogmatik und Ethik umgreifenden systematischen Theologie eben um die Religions- und Christentumshermeneutik der Gegenwart. Dann sorgt sie dafür, dass die Auslegung des biblischen Textes in eben diejenige homiletische Regie genommen werden kann, die sich zum Ziel setzt, den biblischen Text nicht als Bericht über vergangene Heilsereignisse zu objektivieren, sondern sein symbolisches Potenzial zur Deutung religiöser Erfahrung in der Gegenwart zum Zuge zu bringen. Homiletische Textauslegung am Leitfaden einer religionshermeneutisch ausgerichteten Glaubenslehre Eine Gefahr vieler Predigten ist es, dass sie die Frage, was der biblische Text uns heute zu sagen hat, zu eng fassen und deshalb nicht über Problemstellungen hinauskommen, wie sie im zumeist doch recht engen gemeindlichen Milieu begegnen. Die Wucht religiösen Fragens speist sich jedoch aus den persönlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungen menschlicher Existenz, die die Menschen gleichermaßen angehen, ob sie nun zur Gemeinde gehören oder nicht, ob sie Christen sind oder nicht. Die Brisanz des Religiösen zeigt sich in allen Lebensbezügen, gerade auch in den politischen, ökonomischen, moralischen und ästhetisch-kulturellen. Dort Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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sind die zur religiösen Rede herausfordernden Problemstellungen von Predigenden deshalb auch wahrzunehmen, in den vielschichtig dimensionierten Alltagswelten, in den normativen Deutungskonflikten von Politik, Wirtschaft und Kultur wie schließlich in den letztlich jeden Einzelnen in seinem Daseinsvertrauen und seiner Verantwortung herausfordernden medialen Welten. Wer zur Wahrnehmung und systematisch-theologischen bzw. religionshermeneutischen Reflexion der religiösen Dimensionen in den Erfahrungen und Anforderungen des Lebens fähig ist, dem werden sich immer auch die Anschlussmöglichkeiten in den biblischen Texten zeigen, von denen her sie einer christlich-religiösen Deutung zugänglich gemacht werden können. In der Predigt kann dann hervortreten, in welches Licht die religiösen Deutungspotenziale der christlichen Glaubensgehalte die Erfahrungen und Herausforderungen des Lebens rücken und zu welchem Umgang mit ihnen sie verhelfen. Gedankliche Ordnung zugleich schaffen die in ihrem inneren Zusammenhang durchdachten Deutungskategorien der christlichen Glaubenslehre, deren Rede von Schöpfung und Sünde, Versöhnung und Rechtfertigung, Befreiung und Er­ lösung, dann wenn sie als Ausdruck der Selbstauslegung des christlichen Bewusstseins verstanden werden. Ohne die biblischen Texte wiederum verbleiben diese dogmatisch geordneten religiösen Deutungskategorien in lehrhafter Abstraktion, auch wenn hervortritt, welches Selbstverständnis menschlichen Lebens sie implizieren. In Verbindung mit der religionsproduk­ tiven Auslegung der biblischen Texte hingegen zeigt die christliche Glaubenslehre auf die Ursprungserfahrungen christlichen Lebens. Die Auslegung der biblischen Texte lässt die Glaubenslehre und damit die in ihren Kategorien geordnete Gedankenwelt der Predigt an der lebendigen und in sich höchst plural konditionierten Genese der christlich-religiösen Symbol- und Deutungskultur teilhaben. Sie gibt, könnte man auch sagen, dem biblischen Glauben die Chance, in heutige Überzeugungsgewissheit und Lebensorientierungen Eingang zu finden. 122 

Durchführung

Glaubenslehre und Exegese sind, sofern man nur sieht, dass die Glaubenslehre gewissermaßen jeweils das Kondensat der gegenwartshermeneutisch ausgerichteten christlichen Lebensdeutung darstellt, auf dem Weg zur Predigt eng miteinander verbunden. Es tritt hervor, dass es in einer systematisch-theologisch reflektierten Auslegung der biblischen Texte gelingt, die christliche Sinnperspektive in der Verständigung über die existenziellen Erfahrungen und gegenwärtigen Herausforderungen des Lebens aufzudecken und zum Leuchten zu bringen.

1.4 Textauslegung als religiöse Selbstauslegung Die Predigt nimmt die biblischen Texte in die Regie der Botschaft, die sie auszurichten hat. Die christliche Botschaft auszurichten heißt, die christlich-religiöse Lebensdeutung zu erschließen. Soll die Auslegung biblischer Texte für die Predigt fruchtbar werden, so muss diese also nach der in ihnen zum Ausdruck kommenden christlich-religiösen Lebensdeutung fragen. Das genau tritt nun als das spezifische Geschäft einer homiletischen, zur Predigt als religiöser Rede befähigenden, Textauslegung hervor. Sie gibt Anleitung dazu, die Textauslegung in religiöse Selbstauslegung zu überführen. Biblische Texte als religiöse Texte verstehen Wer mit biblischen Texten zu einer Menschen heute anspreWer mit biblischen Texten zu einer Menschen heute ansprechenden reli­ chenden religiösen Rede fingiösen Rede finden will, muss sie mit den will, muss sie mit einer einer religiösen Fragestellung lesen. religiösen Fragestellung lesen. Es gilt für jedes Verstehen von Texten, wenn dieses ein Verstehen dessen sein soll, worum es in diesem Text der Sache nach geht, dass auf Seiten des Verstehenden ein Vorverständnis von dem da ist, worum es in diesem Text geht. Mit dem Hinweis auf die spezifischen Anforderungen, die an eine homiletische Hermeneutik biblischer Texte Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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zu stellen sind, geht es uns um die Ausdrücklichkeit dieses Tatbestandes, dass das Verstehen eines Textes eine auf die Sache des Textes ausgerichtete Fragestellung braucht. Von einem Text sind Antworten auf eine Frage nur dann zu erwarten, wenn der ihn Lesende mit dieser Frage auch gezielt an ihn herantritt. Biblische Texte, das folgt dann aus dieser Grundeinsicht in den hermeneutischen Zirkel, setzen ihren religiösen Bedeutungsgehalt frei, wenn ihre Interpreten die religiöse Frage an ihn richten. Rudolf Bultmann, dessen Plädoyer für eine existenziale Interpretation der biblischen Texte in seiner Bedeutung für eine homiletische Hermeneutik gar nicht überschätzt werden kann, sprach deshalb völlig zutreffend davon, dass »Voraussetzung des Verstehens das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ist, die im Texte – direkt oder indirekt – zu Wort kommt.«21 Das gilt für jedes Verstehen. Die Hermeneutik biblischer Texte ist keine andere als die, die auch für andere Texte gilt. Aber, wie philosophische Texte nur dann zu verstehen sind, wenn ihrem Gedanken kritisch nachgedacht wird, und Werke der Dichtung nur zu verstehen sind, wenn die menschlichen Daseinsmöglichkeiten und Weltsichten erkannt werden, denen sie ästhetisch ansprechend Ausdruck verleihen, so  – das war Bultmanns Argument  – lassen sich biblische Texte in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch nur dann verstehen, wenn sie nach dem sich in ihnen aussprechenden Verständnis menschlicher Existenz befragt werden. Geschieht das, dann kann es geschehen, dass alle historische Distanz schwindet und die biblischen Texte sogar »als eine in die Gegenwart, in die gegenwärtige Existenz, redende Macht«22 erfahren werden. Rudolf Bultmann hat die konstitutive Bedeutung des hermeneutischen Zirkels für das Verstehen der biblischen Texte als existenziell-religiöser Texte herausgearbeitet. Wer die bibli21 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2.  Bd.  4Tübingen 1965, 211–235, 217. 22 A. a. O., 233. 124 

Durchführung

schen Texte in ihrem existenziell-religiösen Sinngehalt verstehen will, muss mit der existenziell-religiösen Frage in sie hineingehen. Er muss diese Frage in sich selbst motivieren und, mehr noch: Er muss sie als eine dem Menschen überhaupt aufgegebene Frage verstehen. Um die biblischen Texte als uns heute religiös ansprechende Texte verstehen zu können, darauf insistierte Bultmann – in harter Kontroverse mit Karl Barth – muss die Textauslegung der religiösen Auslegung menschlicher Existenz korrespondieren. Die Textauslegung muss von der religiösen Hermeneutik des menschlichen Daseins ausgehen und wieder auf diese hinführen. Der Interpret biblischer Texte muss dem Menschen ein Wissen von Gott, zumindest in Gestalt der Frage nach ihm, zuschreiben, andernfalls kann er die Bibel gar nicht als Rede von Gottes Handeln zum Verständnis bringen wollen. Denn woher, so Bultmann, sollte der zeitgenössische Mensch denn verstehen, was die Bibel mit ihrer Rede vom Handeln Gottes meint, wenn er nicht versteht, was überhaupt gemeint ist, wenn von einem »Handeln Gottes« die Rede ist. Nur im Ausgang von der menschlichen Gottesfrage und Nur im Ausgang von der mensch­ lichen Gottesfrage und damit auch damit auch dem menschlichen dem menschlichen Gottesgedan­ Gottesgedanken kann auf Verken kann auf Verständnis davon ge­ ständnis davon gesetzt wersetzt werden, was die Bibel meint und auch uns Heutigen zu sagen hat, den, was die Bibel meint und wenn sie von Gott und seinem Offen­ auch uns Heutigen zu sagen barungshandeln Zeugnis gibt. hat, wenn sie von Gott und seinem Offenbarungshandeln Zeugnis gibt. Die religiöse Ausgelegtheit menschlichen Daseins, ein Verständnis davon, warum die religiösen Sinnfragen zum menschlichen Leben gehören, wo und wie sie in ihm aufbrechen, muss deshalb die Auslegung der biblischen Texte, will sie ihrerseits heute verständlich werden, immer schon in Anspruch nehmen. Die religiöse Auslegung biblischer Texte verlangt die religiöse Auslegung der menschlichen Existenz. Das wird von Bultmann mit Sätzen beschrieben, die in dieser Homiletik nicht fehlen dürfen: Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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»Im menschlichen Dasein ist ein existenzielles Wissen um Gott lebendig als die Frage nach ›Glück‹, nach ›Heil‹, nach dem Sinn von Welt und Geschichte, als die Frage nach der Eigentlichkeit des je eigenen Seins. Mag das Recht, solches Fragen als die Gottesfrage zu bezeichnen, erst vom Glauben an die Offenbarung Gottes aus gewonnen sein – das Phänomen als solches ist der Sachbezug auf die Offenbarung.«23 Ein Verstehen der religiösen Existenz- und Lebensfragen in der Gegenwart des Interpreten hat Bultmann zur Voraussetzung seines Verstehens der biblischen Texte als religiöser Texte gemacht. Natürlich, so Bultmann, können die biblischen Texte auch als historische Quellentexte zur Erforschung der antiken Religionsgeschichte gelesen werden. Dann aber ist eben eine andere, die historische Fragestellung für den Interpreten leitend. Sie als religiöse Texte zu verstehen und damit in ihrem Anspruch ernst zu nehmen, dass sie auf die je gegenwärtigen religiösen Sinn- und Existenzfragen reagieren und in ihnen ein heute ansprechendes Lebensdeutungsangebot erkannt werden kann, heißt, sie am Leitfaden je gegenwärtiger religiöser Sinnund Existenzfragen zu lesen und zu verstehen versuchen. Für eine homiletische Hermeneutik, der es um einen die Predigt als religiöse Rede inspirierenden Zugang zu den biblischen Texten geht, ist Bultmanns Konzept einer existenzialen Interpretation biblischer Texte immer noch Richtung weisend. Allerdings war Bultmann selbst der Meinung, es ließe sich die auf die Subjektivität des Bibelinterpreten abhebende Interpretation der biblischen Texte durch die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Daseinsanalytik auf eine objektive, wissenschaftlich gesicherte Basis stellen. Er meinte, es gäbe so etwas wie eine allein »sachgemäße Ausgelegtheit der menschlichen Existenz«24, die zu gewinnen er der philosophischen Daseinshermeneutik meinte zur Aufgabe machen zu können. Darüber, wie von der menschlichen Existenz »sachgemäß« geredet 23 A. A.O, 232. 24 Ebd. 232. 126 

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werden kann, dann auch in der Auslegung der biblischen Texte allein sach­gemäß geredet werden kann, sollte das dem Begriffshaushalt der philosophischen Daseinsanalytik entnommene »Wissen« um die Verfasstheit menschlicher Existenz entscheiden. Damit war jedoch auch die Auslegung biblischer Texte nicht nur von religiösen Existenzfragen gesteuert, sondern letztlich in das Korsett einer dogmatisierten Beschreibung mensch­lichen Selbstverständnisses gezwängt. Auch die biblischen Texte richteten sich dann schließlich nicht mehr an ein »existenzielles Selbst­verständniss« empirischer Subjekte, sondern an ein »existenziales Wissen«, in dem allein die »sachgemäße« Deutung menschlichen Daseins sollte erkannt werden können.25 Dazu musste dann auch die historische Distanz der biblischen Texte eingezogen und ihnen ihre sachliche Fremdheit, die Fremdheit ihrer religiösen Vorstellungswelten genommen werden. Wollen wir diese dogmatische Engführung, die Bultmann dem ansonsten so fruchtbaren Konzept der existenzialen Interpretation gegeben hat, vermeiden, dann liegt es nahe, die Anregungen zu einer homiletischen Hermeneutik mit Elementen anzureichern, die sich neueren texthermeneutischen und semiotischen Überlegungen verdanken. Biblische Texte als Texte verstehen In Anlehnung an Paul Ricœurs Konzept einer religiösen Hermeneutik biblischer Texte kann, über Bultmann hinaus­ gehend, eine homiletische Hermeneutik entwickelt werden. Ricœurs religiöse Hermeneutik anerkennt die Fremdheit der Texte ebenso wie die Subjektivität des Interpreten. Er versucht insbesondere Letztere nicht wissenschaftlich zu objektivieren, sondern ihr Sich-Selbst-Verstehen in der Begegnung mit den biblischen Texten zu initiieren.26 Ricœur hat seine 25 Ebd. 232. 26 Vgl. Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Paul Ricœur u. Eberhard Jüngel (Hg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (Sonderheft Evangelische Theologie), München 1974, 24–45; ders, Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), Hamburg 2007. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Hermeneutik überhaupt als literarische Hermeneutik entfaltet, »als Untersuchung der Kunst des Verstehens, die durch die Interpretation von Texten ermöglicht ist.«27 Nicht die Situation des Gesprächs, nicht die Rede, nicht das Wort fordern nach Ricœurs Auffassung eine Lehre von der Kunst der Auslegung. Die Tatsache, dass die Rede als Text erscheint, das Wort Schrift geworden ist, verlangt nach Ricœur recht eigentlich die Anstrengung der Interpretation. Texte sind gegenüber ihrem Autor autonom. Texte konstituieren im literarischen Werk eigene symbolische Welten. Diese sind von denen des Autors immer auch unterschieden. Texte objektivieren und verfremden den Sinn. Im Unterschied zum gesprochenen Wort, der Unterredung, stehen der Autor und der Leser des zur Schrift gewordenen Textes nicht mehr in einer ihnen gemeinsamen Erfahrungs- und Sinnwelt. Sie haben nicht mehr das gleiche Weltbild und Wirklichkeitsverständnis. Damit diese Differenzen überbrückt werden, braucht es die Vermittlung eines anschlussfähigen Sinns auf dem Wege der Interpretation. Diese muss man dem Text zukommen lassen und aus ihm herauslesen, was nicht in ihm drinsteht – wodurch er dann jedoch gerade den Leser in seiner Welt möglicherweise erreichen und ansprechen kann. Wenn schon im Text stünde, was die Interpretation aus ihm herausholt, dann bräuchte man die Auslegung ja nicht. Der Text verlangt die Der Text verlangt die Interpreta­ tion, somit auch Regeln der Ausle­ Interpretation, somit auch Regung, weil er die Vergegenständli­ geln der Auslegung, weil er die chung einer Sinnwelt ist, die von der Vergegenständlichung einer des Lesers verschieden bleibt und in die er erst auf dem Weg der Interpre­ Sinnwelt ist, die von der des tation hineinkommt. Lesers verschieden bleibt und in die er erst auf dem Weg der Interpretation hineinkommt. Der Leser war zudem ja gar nicht als dessen Adressat gemeint. Auch deshalb muss der Leser und Interpret die Sinnbezüge, die der Text implizit voraussetzt und 27 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, a. a. O., 27. 128 

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bei seinen ursprünglichen Adressaten auch als unmittelbar voll­zogene in Anspruch nehmen konnte, allererst explizit in den Text hineinschreiben. Was der Leser dem Text hinzufügt, um ihn verstehen zu können, sollte aber gleichwohl nicht gegen den ursprünglichen Textsinn gerichtet sein. Das Ergebnis wäre sonst kein Verstehen dieses Textes mehr. Wer einen Text verstehen will, muss versuchen, die Sinngehalte zu erfassen, die seiner literarischen Gestalt immanent sind. Was der Leser hinzutut im Verstehen eines Textes, gerade dadurch, dass er den Text auf sich selbst bezieht, obwohl er ja ursprünglich gar nicht gemeint war, muss den Anspruch haben, die dem Text immanente Intention zu treffen. Literarische Texte verlangen deshalb in ihrer literarischen Struktur, in ihren grammatischen und semantischen Verflechtungen, in ihrem Stil, in dem ihnen immanenten Sinngehalt verstanden zu werden. Die Interpretation beginnt mit der Analyse der Struktur und Zeichenverwendung eines Textes, mit der Analyse seiner Sprache und der Rekonstruktion der dem Text innewohnenden Sinnbezüge. Ricœur nennt dies ein »semiotisch-strukturales« Verfahren, Schleiermacher bezeichnet dasselbe als »grammatisches« Verfahren. Die semiotisch-strukturale Textanalyse bzw. die grammatische Interpretation zielt – das ist zudem wichtig zu sehen – auf das Verstehen dessen, was der Semiotiker Umberto Eco die »intentio operis« nennt.28 Eco geht davon aus, dass ein Text einer bestimmten Textstrategie folgt, die ihm eine innere Struktur eingeschrieben hat. Einen Text zu interpretieren, heißt dann auch für ihn, verstehen zu wollen, was der Text sagen will. Er rechnet damit, dass es gewissermaßen eine objektive Textintention gibt. Diese Textinterpretation wäre dann mit der alten Skopus-Methode in der biblischen Exegese verwandt, da 28 Vgl. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1996, insb. 9–37; Umberto Eco, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 1996, 75–98. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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ja auch diese davon ausging, dass sich die Botschaft eines biblischen Textes durch die Rekonstruktion der dem Text immanenten Sinnbezüge und damit durch die literarische Strategie, der er folgt, erfassen lässt. Behauptet die semiotisch-strukturale bzw. grammatische Interpretation allein das Feld, bleibt in der Tat die hermeneutische Vorstellung leitend, es gebe so etwas wie eine objektive, diesem bestimmten Text allein angemessene, »richtige« Interpretation. Eco arbeitet konsequenterweise auch mit der Auffassung, es könnte mit der Rekonstruktion der »intentio operis« zugleich die »intentio auctoris« und die »intentio lectoris« erfasst werden. Dies will allerdings in einem idealen, modellhaften Sinn verstanden werden, nicht als Aussage über den empirischen Autor und Leser. Der empirische Autor und Leser wird mehr oder weniger gleichgültig, zumal Eco Wert auf den Hinweis legt, dass, sofern der Autor nicht mehr lebt, sich dieser auch nicht befragen lässt und so über seine Motive, Gefühle, Gedanken und Absichten nichts gewusst werden kann. Lesende haben nur den Text, und Eco möchte deren Freiheit im Verstehen dieses Textes eben dadurch eingeschränkt wissen, dass sie an der dem Text strukturell eingeschriebenen Intention nicht vorbeigehen dürfen. Insofern können letztendlich im Zuge der Interpretation eines Textes nur der ideale Autor und der ideale Leser ins Spiel kommen, die aber bei Lichte besehen wiederum mit der »intentio operis« identisch sind. Der ideale Autor ist also derjenige, der dem Text vorausgedacht werden muss, wenn der seiner Struktur innewohnenden Mitteilungsintention ein sie verfolgendes Subjekt unterstellt wird. Der ideale Leser wiederum wird zu dem, der den Text so versteht, wie er »eigentlich« gemeint gewesen sein dürfte. Von der so verstandenen Interpretation eines Textes unterscheidet Eco jedoch den Gebrauch eines Textes. Diese Unterscheidung ist für eine homiletische Hermeneutik höchst relevant. Denn auf die Predigt hin wollen wir zwar einem Text einerseits gerecht werden, also seine intentio operis erfassen, andererseits nehmen wir einen Text eben in Gebrauch, um 130 

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ihm einen heute relevanten Predigtgedanken abzugewinnen. Die Eco’sche Unterscheidung von Interpretation und Gebrauch eines Textes macht es möglich, auf der Erfassung des dem Text eingeschriebenen Sinns zu bestehen, zugleich aber mit der Vorstellung zu arbeiten, dass Texte immer offene Texte sind, die der Rezeption Spielräume eröffnen. Die Interpretation eines Textes verlangt, seine interne Struktur und damit die ihm eingeschriebene Intention zu bestimmen. Nehme ich einen Text hingegen in homiletischen Gebrauch, dann lese ich zugleich aus ihm heraus oder in ihn hinein, was ich in ihm finden will. Aber dies eben doch in den Grenzen der Interpretation, in den Grenzen, die der Text selbst mit der ihm eingeschriebenen Sinn­intention setzt. Ich kann mit einem Text, auch wenn ich ihn in homiletischen Gebrauch nehme, nicht alles machen, nicht alles aus ihm herauslesen oder hineinlesen wollen, ohne ihm Gewalt anzutun. Die Grenzen der Interpretation, an denen Eco festgehalten wissen wollte, hat der Philosoph Richard Rorty niedergerissen.29 Richard Rorty plädiert für einen konsequent rezeptionsästhetischen und lebensdeutungspraktischen Umgang mit literarischen Texten. Er möchte die Unterscheidung von Textinterpretation und Textgebrauch ganz fallen lassen. Denn sie geht seiner Meinung nach an der realen Leseerfahrung vorbei. Leser, so Rorty, respektieren einen Autor oder Text nicht aufgrund einer ihm eingeschriebenen Sinnintention oder internen Struktur, sondern weil sie die Lektüre fesselt, sie an der Sache oder der Geschichte, um die es geht, interessiert sind, der Text sie für sich einnimmt. Das gerade ist für ihn die Leistung literarischer Texte. Sie befreien ein Stück weit aus der Selbstbezogenheit. Literarische Texte, besonders solche, die Geschichten erzählen, bewirken, dass wir uns in andere Menschen einfühlen können, wir eine uns selbst verändernde Erfahrung 29 Vgl. Richard Rorty, Der Roman als Mittel zur Selbsterlösung aus der Selbstbezogenheit, in: Joachim Küpper und Christoph Menke, Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, 49–66. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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machen, wir auf unsere Prioritäten, Werte und Ziele angesprochen und in die Selbstreflexion gedrängt werden. Was Leser beim Lesen von Texten anregt und überzeugt, hängt, so Rorty, ganz stark von unseren subjektiven Absichten und Bedürfnissen ab. Deshalb dann auch die Differenzen im Verständnis der Texte. Diese sind legitim, und daher ist von der Vorstellung Abschied zu nehmen, es gäbe die eine, die »eigentliche« Intention des Textes bzw. die ihr entsprechende Interpretation. Oft erkennt man, worum es in einem Text »eigentlich« geht, überhaupt erst dann, wenn man von ihm ergriffen wird und man etwas gefunden hat, das einen anspricht und zu überzeugen vermag. Statt mit der Distinktion zwischen der Interpretation und dem Gebrauch von Texten zu arbeiten, schlägt Rorty deshalb vor, »nur zwischen den Nutzungsmöglichkeiten für verschiedene Menschen mit abweichenden Motiven zu unterscheiden.«30 Biblische Texte auslegen und/oder homiletisch in Gebrauch nehmen Das ist aber wahrscheinlich doch auch wieder übers Ziel hinausgeschossen. Denn alle möglichen Nutzungsmöglichkeiten dürften einem Text selten angemessen sein. Ein Text setzt, wie Eco m. E. zu Recht behauptet, seiner Verwendung aufgrund der ihm immanenten Struktur und Intention sehr wohl immer auch Grenzen. Darin liegt das Recht der von Eco favorisierten Frage nach der »intentio operis«, einschließlich der dieser Frage impliziten Berücksichtigung der Konstruktion eines idealen Autors und idealen Lesers. Das ist dann auch die Aufgabe der Exegese als Textauslegung. Andererseits stimmt aber doch, was Rorty sagt, dass, worum es der Sache nach in einem Text geht, aufs Engste mit den Interessen, Erwartungen und Einstellungen der Leser zusammenhängt, mit dem, was sie an30 Vgl. Richard Rorty, Der Fortschritt des Pragmatisten, in: Umberto Eco, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 1996, 99–119, hier 116. 132 

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geht, ja fesselt und überzeugt. Leser machen mit Texten immer auch sie selbst verändernde Erfahrungen. Der empirische Leser ist keineswegs eine fiktive Größe, sondern er ist derjenige, der vom Text einen seinen Motiven und Interessen entsprechenden Gebrauch macht und dabei möglicherweise sogar vom Text ergriffen und verändert wird. Deshalb ist noch einmal auf Paul Ricœur zurückzukommen. Er weist einen Mittelweg zwischen Eco und Rorty bzw. er zeigt gewissermaßen, warum Eco mit den Grenzen der Interpretation Recht hat und es mit Rorty zugleich den empirischen Leser mit seinen Interessen in Rechnung zu stellen gilt. Ricœur betont einerseits das begrenzte Recht der strukturalen bzw. semiotisch-grammatischen Interpretation und insistiert darauf, dass wir mit einem Text nicht alles machen können, sondern wir uns immer von der ihm eigenen Struktur bzw. Intention in ein ihm gemäßes Verständnis einweisen lassen müssen. Andererseits, so Ricœur, geht die Interpretation eines Textes eben gerade nicht darin auf, nur dasjenige zu erfassen, was objektiv betrachtet in ihm steht und als die ihm eigene, objektive Sinnintention erhoben werden kann. Es kommt immer die empirische Subjektivität des Lesers ins Spiel. Seine Zusammenführung von Aspekten einer strukturalen Textanalyse mit Gesichtspunkten einer Interpretationstheorie, die auf die Mitarbeit der rezeptionsästhetisch affizierten Subjektivität des Lesers setzt, macht Ricœur für eine homiletische Hermeneutik so wichtig. Grundzüge einer homiletischen Hermeneutik Die homiletische Hermeneutik lässt einen Text in dem verstehen, was er dem Leser in den religiösen Existenzfragen zu sagen hat, was er ihm zu verstehen gibt, über sich selbst, über die Welt, über Gott, über das christliche Leben. Homiletische Hermeneutik geht nicht am Verstehen der intentio operis vorbei. Sie versucht immer auch zu erfassen, was der Text aufgrund der ihm immanenten Sinnbezüge und nach Maßgabe der dem Text immanenten Intention seines historischen und seiBibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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nes idealen Autors zu sagen hat. Aber dann ist die homiletische Textauslegung darüber hinaus darauf ausgerichtet, den Text in dem zu verstehen, was er dem Lesenden und ums Verstehen Bemühten zu verstehen gibt, über sich selbst, über die Welt, über Gott. Der Lesende ist der, der in unserem Fall auf dem Weg zur Predigt ist. Davon kann er beim Lesen des biblischen Textes keinen Moment absehen. Die Predigenden versuchen immer den biblischen Text in dem zu verstehen, was er dem Sich-Selbst-Verstehen – und darin eingeschlossen – dem Welt- und Gottverstehen zu verstehen gibt. Deshalb sind Predigenden die Erfahrungen so wichtig, die sie in und mit dem Text machen. Sie sind sensibel für die Aspekte im Text, mit denen der Text den Nerv heutigen Lebens berührt, wo er uns anspricht, womit er uns überzeugt, uns angeht und vielleicht sogar zu verändern vermag. Die Zielfrage der Predigenden ist nicht die nach der intentio operis, obwohl sie sich diese in der Exegese des Textes selbstverständlich klarzumachen haben. Die homiletisch-hermeneutische Zielfrage geht darauf, zu erfassen, wo der Text uns heute in unserer religiösen, privaten und politischen Existenz erreicht. Deshalb bietet es sich an, das Verfahren einer homiletischen Hermeneutik mit Paul Ricœurs Überlegungen zu einer literarischen Hermeneutik noch energischer zu verbinden. Denn Ricœur hat ganz grundsätzlich gefragt, was es heißt, einen Text zu verstehen und dabei der Subjektivität des Lesers und den in der Begegnung mit der Sinnwelt des Textes geschehenden Transformationen entscheidende Bedeutung zugemessen. Ricœur hat die allgemeine, philosophische Hermeneutik sogar an der theologischen, an biblischen Texten entwickelten Hermeneutik ausgerichtet wissen wollen. Denn die biblischen Texte erheben als religiöse Texte den Anspruch an das verstehende Ich, ein Anderer werden zu sollen und vielleicht auch zu wollen.

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Die hermeneutische Erfahrung einer Transformation im Selbstverständnis Verstehen verlangt für Ricœur  – wie ebenfalls schon für Schleiermacher, der neben der grammatischen die psycho­ logische Interpretation forderte  – die energische Investition der Subjektivität des Lesers und Interpreten. Verstehen kommt nicht nur in einem Subjekt zustande, durch Einrücken in wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge, durch Verschmelzung von Sinnhorizonten – wie Gadamer meinte. Verstehen verlangt die Aktivität des verstehenden Subjekts, dessen Ausgelegtheit auf Verstehen, dessen Reflexion auf sein Sich-Selbst-Verstehen und seine Bereitschaft zum Sich-Selbst-Neu-Verstehen. Und dazu kann es in der Konfrontation mit dem Sinn des biblischen Textes kommen. Das Subjekt des Verstehens muss in die Sinnwelt des Textes als eine ihm fremde Welt hineinfinden. Das kann es nur, indem es von einem unmittelbaren Sich-Verstehen immer schon herkommt, von seiner Ausgelegtheit auf Verstehen, die aber offen ist für Neues. Der Text konfrontiert mit einer anderen, fremden Sinnwelt. Indem die Subjektivität des Lesers in sie eintritt, mit dem Bemühen, den Text in seiner ihm eigenen Sinnintention zu verstehen, bricht die Unmittelbarkeit im Sich-Selbst-Verstehen auf. Der Text kann den Lesenden in seinem Versuch, den ihm fremden Text zu verstehen, somit in ein neues Verhältnis zu sich selbst und zu all dem bringen, was er bereits von sich und der Welt, von Gott und dessen Verhältnis zu ihm meinte verstanden zu haben. Der Text bringt den Lesenden im Versuch, ihn zu verstehen, auf neue Weise vor sich selbst. Er lässt ihn neue Möglichkeiten im Verhältnis zu sich selbst, im Verhältnis zu seiner Welt und im Verhältnis zu Gott erkennen. Einen Text zu verstehen, heißt für Ricœur: »daß der Text die Vermittlung sei, durch welche wir uns selbst verstehen.«31 31 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Ders./ Jüngel, Eberhard, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh Sonderheft), München 1974, 24–45, 33. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Das hermeneutische Verfahren ist insofern letztlich eine Bewegung der Subjektivität im Medium des Textes. Bereits Schleiermacher hat es als ein solches ins Auge gefasst, indem er der grammatischen Interpretation, die die strukturellen Bezüge im Text und damit dessen objektive Sinnintention ermittelt, die psychologische Interpretation, die ihren Akzent auf die Subjektivität des Interpreten richtet, zur Seite stellte.32 Schleiermacher ging es nicht darum, hinter den Text zurückzugehen, um sich in die Subjektivität des Autors einzufühlen. Das war dann später das Anliegen von Wilhelm Dilthey. Schleiermacher ging es – wie Ricœur – darum, das Verstehen als eine konstruktive Aktivität des Interpreten darzustellen. Verstehen ist die Nachkonstruktion des Entwurfs einer Sinnwelt, die der literarische Text auf eigentümliche Weise eröffnet. Das Verstehen eines Textes geschieht nicht an und im Subjekt. Was sich von selbst ergibt, ist das Missverstehen. Das Verstehen muss explizit gesucht werden. Es verdankt sich der Bereitschaft, sich auf den Text einzulassen, sich in die fremde Sinnwelt hinzubegeben, ja in ihr wohnhaft zu werden. Dann kann es geschehen, dass der, der sich in dieser Weise auf einen Text einlässt, anders auf sich und sein gegenwärtige Welt wieder zurückkommt. Für Ricœur ist die Chance einer solchen Transformationserfahrung mit jedem Textverstehen verbunden. Gesteigert erwartet er sie allerdings vom Umgang mit religiösen Texten, konkret von den biblischen Texten. Deshalb schlägt er vor, die Fragen der allgemeinen Hermeneutik von den spezifischen Fragen der biblischen Hermeneutik her anzugehen. An der biblischen Hermeneutik kann der Richtungssinn allen Verstehens letztendlich abgelesen werden. Denn die Bibel konfrontiert uns nicht nur mit dem Anspruch, dass wir unser Leben ändern müssen. Sie lässt uns auf dem Wege der Einkehr in ihre 32 Vgl. Wilhelm Gräb, Die unendliche Aufgabe des Verstehens, in: Dietz Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe  – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 47–71. 136 

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Texte auch die Erfahrung machen, dass diese Veränderung tatsächlich an uns geschieht, von jenseits unserer selbst her – aus Gnade. Wer die biblischen Texte recht versteht, lernt sich selbst anders und neu zu verstehen. Er hat sie im Grunde nur dann recht verstanden, wenn er sie nicht als Mitteilung über objektive Heilstatsachen versteht, sondern als Anstoß zum je subjektiven Vollzug der Aneignung des sich in ihnen zusagenden und zur Wirkung bringenden Heils. In diesem Vorgang der Transformation der Subjekti­ Indem das Ich des Lesers bzw. Interpreten in die ihm fremde Sinn­ vität des Lesers kommt das welt des Textes einzieht, entsteht die Textverstehen an sein Ziel. InMöglichkeit, dass das Ich des Lesers ein anderes wird. dem das Ich des Lesers bzw. Interpreten in die ihm fremde Sinnwelt des Textes einzieht, entsteht die Möglichkeit, dass das Ich des Lesers ein anderes wird. Diese Möglichkeit muss die Subjektivität dann aber auch ergreifen. Es wird für die Subjektivität des Lesers auch der Text ein anderer. Er ist nicht mehr der, den er zunächst vorgefunden hat. Denn nun kann er aus ihm herauslesen, was gar nicht in ihm drinsteht. Fremd war ihm der Text zunächst ja deshalb, weil ihm, dem Leser, die Wirklichkeitsanschlüsse im Text nicht verständlich waren, er ihn nicht auf sich und seine gegenwärtige Sinnwelt beziehen konnte. Auf dem Wege der Einwanderung in die Sinnwelt des Textes fängt der Text jetzt aber an, zu sagen, worin er ihn heute angeht und was er, gesteigert im Falle biblischer Texte, zu seinen existenziell-religiösen Fragen zu sagen hat. Im Prozess der Aneignung der fremden Sinnwelt des biblischen Textes durch den Leser bzw. Interpreten geschieht somit eine Veränderung, die der Leser an sich erfährt und dann auch am Text wahrnehmen kann. Dem Text wie seinem Leser wächst eine Sinnanreicherung zu. Es kommt zu »imaginativen Veränderungen des Ich«33, 33 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Ders./ Jüngel, Eberhard, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh Sonderheft), München 1974, 24–45, 33. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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die in der Aneignung der fremden Sinnwelt des Textes hervortreten. »Wie die Textwelt nur in dem Maße wirklich ist, als sie fiktiv ist, gelangt die Subjektivität des Lesers zu sich selbst nur in dem Maße, als sie in Schwebe versetzt, aus ihrer Wirklichkeit gelöst und in eine neue Möglichkeit gebracht wird, wie die Welt selbst, die der Text entfaltet.«34 So formuliert Ricœur den Zielpunkt des Verstehens. Wo man diesem Zielpunkt nahe kommt, eröffnet sich eine neue Möglichkeit der Selbstauslegung. Die Welt, die sich durch den Text auftut, führt mit ihren transformativen Sinnverweisen zugleich in neue Möglichkeiten der Existenz. Es entwickelt sich eine andere Weise, sich selbst und die Welt zu sehen. Aber nur der, der sich darauf auch einlässt und den neuen Blick auf die Welt und das eigene Leben selbst annimmt, findet dann auch in eine neue Sinneinstellung und Lebensform. Diese Grundzüge seiner allgemeinen, philosophischen Hermeneutik hat Ricœur, wie gesagt, nicht nur auf die Bibel anwenden können. Die theologische bzw. biblische Hermeneutik war ihm vielmehr das vorzügliche Paradigma für die philosophische Hermeneutik. Denn am Besonderen, dem Verstehen biblischer Texte, kann erkannt werden, was ganz allgemein zum Verstehen von Texten erforderlich ist. Die theologische bzw. biblische Hermeneutik muss dabei aber so verfahren, dass sie zunächst die strukturale bzw. grammatische Interpretation der biblischen Texte vornimmt. Mit ihr sind die symbolischen Formen zu erschließen, die der biblische Glaube eröffnet: Die erzählende Struktur des Pentateuch und der Evangelien, die Weissagungsstruktur der Prophetie, das Gleichnis, der Hymnus. Alle diese Formen der Rede bzw. der biblischen Literaturen bringen unterschiedliche Formen des Glaubensbekenntnisses, differente religiöse Sinnein­ stellungen und Lebensformen zum Ausdruck. Die Auslegung

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der Texte muss sich von diesen literarischen Formen selbst in Form bringen lassen. Die strukturale Analyse, die grammatische Interpretation, ist jedoch nur der erste Schritt der regelgeleiteten Interpretation. Der zweite verdichtet sie religiös. Es ist derjenige, in dem es um die Entfaltung der »Sache« des Textes geht, um den religionsbildenden Sinngehalt und seine symbolische Form. Das ist in der Terminologie Schleiermachers die psychologischtechnische Interpretation. Sie ist zu verstehen nicht als Einfühlung in den empirischen Autor, von dem wir ja in der Regel nichts oder nicht viel wissen. Was Schleiermacher mit der psychologisch-technischen Interpretation gemeint hat, lässt sich mit Ricœur und seiner Betonung der Rolle der Subjektivität des Ver­stehenden präziser fassen. Der Interpret muss versuchen, sich in der fremden Sinnwelt des Textes einzuwohnen. Dann kann er eine fremde Welt des Möglichen entdecken, die zur eigenen werden kann. Es können sich ihm neue Möglichkeiten der Selbst-, Welt- und Gottesdeutung eröffnen. Dieses Anderswerden ist gleichwohl nicht schlichtes Resultat persönlicher Entscheidung, sondern durch den hermeneutischen Prozess provoziert. Der Text ist es, der »zuerst zu meiner Einbildung spricht, indem er ihr die ›Bilder‹ meiner Befreiung vorsetzt.«35 Der biblische Glaube, so Ricœur, ist »hermeneutisch kon­ stituiert«.36 Er ist von der »Bewegung der Interpretation, die ihn zur Sprache bringt, nicht zu trennen.«37 Soll dieser Glaube zur Mitteilung kommen, soll also die Predigt zu einer religiös inspirierenden Rede werden, so braucht sie deshalb diese, die Subjektivität des Predigenden ins Spiel bringende Arbeit der Interpretation an den biblischen Texten. Sie muss deren objektive Sinnstrukturen und historische Verortungen herausarbeiten. Sie muss Sinn für die symbolischen Formen entwickeln, die den biblischen Texten eingelagert sind. Die symbolischen 35 A. a. O., 45. 36 A. a. O., 43. 37 Ebd. Bibel interpretieren: Homiletische Texthermeneutik

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Formen der biblischen Texte sind immer noch Stil bildend auch dafür, wie der christliche Glaube heute zur Sprache zu bringen ist – als Erzählung, als Weissagung, als Gleichnis, als Zuspruch. Aber erst dadurch, dass die Subjektivität des Interpreten sich mit ihren existen­ziell-religiösen Fragen in die Textauslegung investiert, wird diese zu einem anderen und neuen Sich-Selbst-Verstehen vor dem Text und durch den Text geführt. Die Investition der eigenen Subjektivität erst macht die Auslegung der biblischen Texte zu einem religionsbildenden Vorgang. Der religiöse Sinn entsteht, wo die Leser, die Interpreten, die Hörer sich selbst in dem Sinn verstehen, den die Auslegung des Textes ihnen anbietet. Damit sind die Grundzüge der homiletischen Hermeneutik deutlich. Sie überführt die Textauslegung in religiöse Selbstauslegung. Ihr Kriterium ist die hermeneutische Regel, die die existenzielle Interpretation der biblischen Texte verlangt. Die Predigenden und die Hörenden können im Vollzug der subjektiven Aneignung des Selbstdeutungsangebotes, das der Text entwirft, eine neue, das unbedingt Angehende zur Sprache bringende Verständigung über sich erfahren. Dass mit dem biblischen Text auch noch die vorsprachliche Dimension der religiösen Erfahrung artikuliert werden kann, hat Ricœur präzise zu bezeichnen vermocht, eben weil er seine Hermeneutik des literarischen Textes mit einer Hermeneutik der religiösen Subjektivität vermitteln konnte: »Das, was mich unbedingt angeht, bliebe stumm, wenn es nicht die Kraft des Wortes einer Interpretation empfangen würde, einer immer wieder neu beginnenden Interpretation der Zeichen und Symbole, die, wenn ich so sagen darf, das unbedingt Angehende im Lauf der Zeiten geprägt und geformt haben. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bliebe schwach und unbestimmt, wäre es nicht die Antwort auf den Entwurf eines neuen Seins, der mir neue Möglichkeiten zu existieren eröffnet. Die Hoffnung, das unbedingte Vertrauen, wäre leer, würden sie sich nicht stützen auf die immer wieder erneuerte Interpretation der durch die Schrift überlie140 

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ferten Ereignis-Zeichen, des Exodus im Alten und der Auferstehung im Neuen Testament. Die Ereignisse der Befreiung öffnen und entdecken die wesenhafte Möglichkeit meiner Freiheit und werden so für mich Wort Gottes.«38

2. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik Wer predigt, muss die gelebte Religion wahrnehmen, sie in ihren Motiven, Fragen und Intentionen verstehen. Wer predigt, muss einen Blick dafür gewinnen, wo und wie sich das religiöse Interesse der Menschen heute äußert, im kirchlichen Kontext, aber auch weit darüber hinaus. In welchen Lebenszusammenhängen drängen sich Menschen religiöse Fragen auf? Wie zeigt sich Religion in der Lebenswelt, der Alltagskultur, in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Bildung, in der Wirtschaft, in den Rechtsverhältnissen? Religion ist überall und die homiletische Frage ist, was macht die Zeitgenossen jetzt gerade, in dieser gesellschaftlichen Situation, angesichts dessen, was in der Lebenswelt und Alltagskultur, in der Gesellschaft vorgeht, auf Religion in besonderer Weise ansprechbar? In großer Weite und zugleich so konkret, so erfahrungsnah und existenziell nachvollziehbar, sollte die Frage nach der »gelebten Religion« Predigende bewegen. Die Fragestellung der Religionshermeneutik Diese religionshermeneutische Fragestellung bildet sich im Kontext einer anthropologisch ansetzenden Theologie.39 Eine 38 A. a. O. 43 f. 39 Zum Zusammenhang von Daseinshermeneutik und den Fragestellungen einer Religionshermeneutik, insbesondere in Aufnahme und Fortführung des Denkens Rudolf Bultmanns vgl. Christof Landmesser, Religion und Hermeneutik, in: Birgit Weyel/Wilhelm Gräb (Hg.), Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven, Göttingen, 231–241, ders., Hermeneutik, in: Wilhelm Gräb, Birgit Weyel, Handbuch der Praktischen Theologie, Gütersloh 2007, 748–759; Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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anthropologisch ansetzende Theologie redet von Gott in der Perspektive des menschlichen Gottesverhältnisses und fragt nach der Bedeutung des Gottesverhältnisses fürs menschliche Selbstverständnis. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden, so sagte Bultmann zu Recht, heißt davon reden, wie ein Mensch sich selbst versteht, was für ihn die letzte ihn und alle Welt bestimmende Wirklichkeit ist. Deshalb stand die homiletische Religionshermeneutik gewissermaßen schon Rudolf Bultmann im Blick, als er seine »existenziale Interpretation« der biblischen Texte entwickelte.40 Wenn auch wir hier dieser Linie folgen, schließen wir uns einer Auffassung von Theologie an, wonach diese unter neuzeitlichen Bedingungen nur auf anthropologischer Basis möglich ist. Dann bildet sich die Theologie, auch im engeren Sinn als Lehre von Gott, in der Reflexion auf das religiöse Bewusstsein und die religiöse Selbstauslegung des Menschen. Bultmann hat die Theologie als biblische Theologie auf anthro­pologischer Basis entwickelt,41 auf dem Wege einer existenzialen Inter­ pretation biblischer Texte. So konnte er die Exegese für die Predigtarbeit fruchtbar werden lassen. Die Auslegung der biblischen Texte, soll sie für die religiöse Rede produktiv werden können, setzte aber auch für Bultmann ein religiös ausgerichtetes Vorverständnis von der »Sache« der biblischen Texte bei den sie auf Predigt hin Interpretierenden voraus. Dann nur reden die biblischen Texte auch für uns Heutige verständlich von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit, wenn die Auslegung dieser Texte darauf setzen kann, dass sich das Wort »Gott« auch heute mit diesem Inhalt füllt, dass es in seinem auf das Ganze gehenden Sinn ein verständliches Wort auch unsesowie ders., Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 113), Tübingen 1999. 40 Vgl. oben Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, 4Tübingen 1965, 211–235. 41 Vgl. Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? (1925), in: Ders. Glauben und Verstehen, Bd. 1, 9Tübingen 1993, 26–37. 142 

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rer Sprache ist. Menschen müssen zugleich auf die existenzielle Erfahrung ansprechbar sein, von der her sich ihnen die Rede von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit auf eine sie selbst angehende Weise erschließt. Die Rede von Gott ist insofern, so noch einmal Bultmann, nur als existenzielle Rede möglich, nicht aber im Stil der Verkündigung allgemeiner Wahrheiten.42 Allerdings gilt es auch zu sehen: Selbst wo das Wort »Gott« im modernen Lebens­ zusammenhang nicht gebraucht wird, können Menschen doch von der Frage danach bewegt sein, was ihr Leben mit Inhalt füllt. Dann sind Gott und das Bewusstsein des Bezugs auf ihn implizit da, in Gestalt der Frage nach Sinn und Glück, nach der Möglichkeit wirklich zu werden, zur eigentlichen Existenz, ins Gelingen des Lebens zu finden.43 Die homiletische Religionshermeneutik, die im Folgenden näher ausgeführt werden soll, weiß sich eng verbunden mit Bultmanns Existenzialhermeneutik, nicht zuletzt auch dadurch, dass sie sich wie diese gegen die Vergegenständlichung der Glaubensinhalte auf dem Wege der Aufstellung sog. Heilsoder Glaubenswahrheiten wendet.44 Die Religion, die die Predigt als Akt religiöser Mitteilung bilden bzw. anstoßen will, ist ein unbedingtes Vertrauensverhältnis, ein Bewusstsein letzten Gegründet- und Gehaltenseins. Dieses Bewusstseins spricht sich im Glauben an Gott aus, wobei der Sinn des Wortes Gott eben der ist, die selbst unbedingte, zugleich alles bedingende 42 Vgl. Rudolf Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung (1957), in: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1960, 166–177; sowie ders., Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert, (1955) in: Ders. Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1960, 130–155. 43 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2. Bd. 4, Tübingen 1965, 211–235. 44 Einen Versuch, Bultmanns biblische Existentialhermeneutik konsequent religionshermeneutisch zu interpretieren, hat Karsten Jung in seiner Berliner Dissertation unternommen. Vgl. Karsten Jung, Homiletische Hermeneutik. Rudolf Bultmanns Beitrag für ein fröhliches Christentum, Waltrop 2004. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Wirklichkeit zu bezeichnen, auf die sich das Daseinsvertrauen stützen kann. In der Behauptung, das Wort »Gott« spreche eine allgemeine Wahrheit aus, bleibt die Rede von Gott deshalb leer. Nur im Rückbezug auf die je eigene existenzielle Erfahrung kann gezeigt werden, dass sie ihren Wahrheitsanspruch zu Recht erhebt. Deshalb fragen wir ausdrücklich nach dem religiösen Verhältnis als einem konstitutiven Moment im Selbstverständnis menschlicher Existenz. Wie Menschen sich selbst verstehen und welche Rolle Wie Menschen sich selbst verstehen und welche Rolle der religiöse Bezug der religiöse Bezug darin darin spielt, das erschließt sich spielt, das erschließt sich uns uns freilich immer nur indirekt, aus freilich immer nur indirekt, ihren Lebensäußerungen, vermittels der Zeichen, mit denen sie ihre aus ihren Lebensäußerungen, Einstellungen und Überzeugungen vermittels der Zeichen, mit zur Darstellung bringen. denen sie ihre Einstellungen und Überzeugungen zur Darstellung bringen. Das Verstehen des Sich-Selbst-Verstehens von Menschen beginnt mit der Wahrnehmung ihrer immer kulturell, des Näheren religionskulturell, nicht zuletzt kirchlich vermittelten Lebensäußerungen. Die vermittels ihrer kulturellen Zeichen wahrnehmbaren Lebensäußerungen lassen Rückschlüsse auf die Einstellungen und Überzeugungen der sie kommunizierenden Menschen zu. Die Interpretation der objektiven Religion ist der Weg zum Verstehen der subjektiven Religion.

2.1 Die subjektive und die objektive Religion Keiner kann einem anderen Menschen ins Herz sehen. Ich kann über die religiöse Einstellung eines Menschen immer nur insoweit Aussagen machen, als ich seine Lebensäußerungen in ihrem religiösen Gehalt zu deuten vermag. Solche Deutungsarbeit ist die Aufgabe der Religionshermeneutik. Mit ihr geht es um die Interpretation objektiv zugänglicher menschlicher 144 

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Lebensäußerungen, die diese in ihrem religiösen, das Selbstverständnis des Menschen qualifizierenden Gehalt erschließt. Im Begriff des Christentums und dann auch des Protestantismus hat die neuzeitliche evangelische Theologie schon früh Zum Christentum als Kultur ge­ hört auch sein Eingang in Verfas­ zum Ausdruck zu bringen sungsgrundsätze, in moralische In­ versucht, dass die christliche tuitionen und rechtliche Normen, Religion weit über institutioschließlich auch und vor allem in die Sinngrundierungen des Alltags. nelle kirchliche Zugehörigkeiten hinaus eine die Sinneinstellungen und Lebensorientierungen prägende Kraft darstellt. Zum Christentum als Kultur gehört auch sein Eingang in Verfassungsgrundsätze, in moralische Intuitionen und rechtliche Normen, schließlich auch und vor allem in die Sinngrundierungen des Alltags.45 Religionshermeneutik ist nur als Religionskulturhermeneutik möglich, auf dem Wege einer Interpretation der Zeichen und Symbole, vermittels derer sich das religiöse Bewusstsein kulturellen Ausdruck verschafft und kommunikative Tatbestände hervorbringt.46 Religionskulturhermeneutik hält dazu 45 Vgl. Wilhelm Gräb, Religiöse Sinndeutungen im Alltag des Lebens, in: Ders., Religion als Deutung des Lebens, Gütersloh 2006, 29–45. 46 Michael Moxter geht deshalb auf dem Wege des Aufbaus einer zeit­ genössischen Kulturtheologie neben Tillich, dem er die Ontologisierung des religiösen Symbols zum Vorwurf macht, vor allem auf die »Philosophie der symbolischen Formen« von Ernst Cassirer zurück – da dort dem Hervorgang des religiösen Symbols aus der symbolisierenden Tätigkeit des menschlichen Geistes nachgedacht wird. Vgl. Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. Zu Cassirer als Religions- und Kulturhermeneutiker vgl. auch meinen Aufsatz, Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluss an Ernst Cassirer, in: Dietrich Korsch, Ernst Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 229–248, sowie Wilhelm Gräb, Praktische Theologie als religiöse Kulturhermeneutik. Eine deutende Theorie gegenwärtig gelebter Religion, in: Eberhard Hauschildt/Martin Laube/Ursula Roth (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums. Eine phänomenologische Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension, Rheinbach 2000, 86–110. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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an, die religiöse Dimension in den kulturellen Lebensäußerungen zu erkennen, die einen unbedingten Sinngehalt für die Menschen bedeutsam werden lassen. Ihre Relevanz für die Predigt ist evident. Denn eine Predigt, die die Menschen in ihren religiösen Fragen erreichen und die religiösen Sinnerfahrungen, die die Menschen im Alltag ihres Lebens machen, aufnehmen will, kann auf dem Wege der Interpretation der Die Wahrnehmung und Auslegung des Vorkommens religiöser Sym­ lebensweltlichen Kultur viel bole und Sinnmotive in der Alltags­ über die religiöse Ansprechkommunikation, dann auch in den barkeit der Menschen herausliterarischen, audio-visuellen und digitalen Medien erlaubt Rück­ finden. Die Wahrnehmung schlüsse auf den religiösen Bezug im und Auslegung des VorkomSelbstverständnis der Menschen. mens religiöser Symbole und Sinnmotive in der Alltagskommunikation, dann auch in den literarischen, audio-visuellen und digitalen Medien erlaubt Rückschlüsse auf den religiösen Bezug im Selbstverständnis der Menschen. Von religiösen Symbolen und Sinnmotiven sollte dennoch nicht in einem substanziellen, gar ontologischen Verständnis die Rede sein. Es gibt keine religiösen Symbole unabhängig von dem religiös sinnproduktiven Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Gerade angesichts der medialen Präsenz religiöser Sinngehalte – in der Literatur, in der Popmusik, im Film, im Internet – ist zu ihrem Verständnis immer die Perspektive ihrer Rezeption, ihrer Aneignung, ihrer Internalisierung einzunehmen. Nur dann erlauben die Wahrnehmung und das Verstehen der religiösen Sinnmotive in der Kultur Rückschlüsse auf ihren je subjektiven Eingang in die persönlichen Sinneinstellungen und Lebensorientierungen. Die Religionskulturhermeneutik verlangt die Aufmerksamkeit auf Identität und Differenz von subjektiver und objektiver Religion. Sie erschließt die subjektive Religion auf dem Wege der Interpretation der kulturellen Manifestationen und medialen Präsenzen der objektiven Religion. Die objektive Religion ist die Religion in den Dimensionen der Kultur. Sie kommt 146 

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vor mit den religiösen SymboDie objektive Religion ist die Reli­ gion in den Dimensionen der Kul­ len, Traditionen und Institutitur. Sie kommt vor mit den religiösen onen, also auch den Kirchen, Symbolen, Traditionen und Institu­ tionen, also auch den Kirchen, ihren ihren Lehren und Liturgien, Lehren und Liturgien, sowie anderen sowie anderen explizit religiexplizit religiösen Praktiken. ösen Praktiken. In funktionaler Betrachtung könnte man sogar sagen, dass zur objektiven Religion alle kulturellen Bestände gehören, die explizit religiösen, kirchlichen, aber auch die kulturreligiösen, die für Menschen die Funktion religiöser Sinnbildung erfüllen und Menschen in ihrem Selbstverständnis prägen können – aber dies keineswegs müssen. In der Deutung der kulturellen Bestände der objektiven Religion wird die subjektive Religion zugänglich, sofern sie als deren zeichenhafter Ausdruck bzw. als deren Symbolisierung interpretiert werden kann. Die Religionshermeneutik befindet sich immer in einem hermeneutischen Zirkel. Um die subjektive, für das Selbstverständnis von Menschen relevante Religion verstehen zu können, muss ich die kulturell manifeste, phänomenal zugängliche Religion zu verstehen versuchen. Aber doch immer so, dass deutlich bleibt, es geht dabei um den über die objektive Religion vermittelten Zugang zur subjektiven Religion. Das Verstehen der objektiven ReDas Verstehen der objektiven Re­ ligion, der religiösen Symbole und ligion, der religiösen Symbole Symbolsprachen, soll zum Verstehen und Symbolsprachen, soll der subjektiven Religion, der unmit­ zum Verstehen der subjektitelbaren Sich-Erschlossenheit und Daseinsgewissheit im Gefühl führen. ven Religion, der unmittelbaren Sich-Erschlossen­heit und Daseinsgewissheit im Gefühl führen.

Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Die Religion als individueller Vollzug und als Aktivität des religiösen Bewusstseins Die subjektive Religion, wir können sie die »Religion 1« nen­ nen,47 ist gleichsam die all unser Wissen und Handeln unausdrücklich begleitende Selbstvertrautheit, unmittelbare Selbsthabe und Daseinsgewissheit. Sie wird auf vorreflexive und vorsprachliche Weise empfunden, ist gegeben in dem, was Schleiermacher das religiöse Gefühl genannt hat. Zur Präsenz im religiösen Bewusstsein kommt sie aber nur durch ihren symbolischen, zeichenhaften, letztlich sprachlichen Ausdruck. Über ihn ist die unmittelbare, im religiösen Gefühl aufkommende Selbsthabe und Daseinsgewissheit immer vermittelt. Denn ohne die gegenständlichen Wissens- und Vorstellungsgehalte könnten wir die Weise, in der wir uns unser selbst unmittelbar bewusst sind, nicht vor uns bringen, würden wir uns gerade mit dem, was uns selbst innerlich bestimmt und un­ bedingt angeht, auch anderen gegenüber nicht verständlich machen können. Alles Verstehen von Religion, auch das Verstehen der je eigenen Religion muss sich in diesen hermeneutischen Zirkel hineinbegeben, der darin besteht, im phänomenalen Ausdruck unmittelbarer Selbstvertrautheit diese selbst sich zum Verständnis zu bringen. Und natürlich machen wir dabei immer die Erfahrung, dass die mich unmittelbar angehende, weil meine Daseinsgewissheit konstituierende Selbstvertrautheit in dem symbolischen, letztlich sprachlich vermittelten Ausdruck, über den sie mir allein zugänglich wird, nie aufgeht. Das macht das Verstehen der subjektiven Religion im Medium ihres phänomenal objektiven Ausdrucks zu einer unabschließbaren, unendlichen Aufgabe. Es bleibt in allem Verstehen von Religion immer ein Rest, eine letzte Unzugänglichkeit. 47 Die Unterscheidung von Religion 1 und 2 habe ich mit ihren subjekti­ vitätstheoretischen Hintergründen genauer entwickelt in: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, 46–66. 148 

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Die Unmittelbarkeit der Selbstvertrautheit kommt gewissermaßen nur zur Präsenz des Bewusstseins, zur Präsenz auch des Bewusstseins, das wir das religiöse Bewusstsein nennen, indem sie sich entzieht. Ich werde meiner selbst in dem Ich werde meiner selbst in dem mich unbedingt Angehenden unmittel­ mich unbedingt Angehenden bar bewusst und kann die Frage, wer unmittelbar bewusst und kann ich bin, doch nur beantworten, in­ die Frage, wer ich bin, doch dem ich anfange, von mir zu erzäh­ len, von dem, was mir wichtig ist, nur beantworten, indem ich was ich vermisse, wofür ich mich ein­ anfange, von mir zu erzähsetze, woran ich glaube und worauf ich hoffe. len, von dem, was mir wichtig ist, was ich vermisse, wofür ich mich einsetze, woran ich glaube und worauf ich hoffe. Es bleibt eine letzte Unzugänglichkeit im bewussten Verhältnis meiner selbst zu mir. Ich bin mir in der Unmittelbarkeit meiner Selbstvertrautheit und meiner Selbsthabe zuletzt doch immer auch verschlossen. Deshalb nur empfinde ich immer wieder neu den hermeneutischen Imperativ zur Selbsterkundung, zur Arbeit an der eigenen Identität, zur Selbstbeschreibung und Selbstdeutung. Deshalb entsteht auch immer wieder die Motivation, mich auf Deutungsangebote einzulassen, wie sie aus der Welt der Kultur und insbesondere der Religionskultur an mich herangetragen werden. Die vermittelte Unmittelbarkeit des religiösen Gefühls drängt uns dahin, dass wir nach Auskunft verlangen über den grundlosen Grund der in uns unmittelbar aufkommenden, uns begleitendenden, permanent aber auch bedrohten Daseinsgewissheit. Wir finden diesen Aufschluss in der phänomenalen Welt einer religiösen Deutungskultur. Sie kann uns Aufschluss über unsere innere Welt geben. Diese ist uns nur in der Vermittlung über die Kultur zugänglich ist – ohne freilich je ganz in sie einholbar zu sein. Die religiös deutbaren Symbol- und Kulturwelten geben dem Religionskulturhermeneuten gewissermaßen einen Schlüssel zum Verstehen der subjektiven Religion in die Hand, den es einzusetzen gilt, in dem Wissen darum, Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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dass dieser Schlüssel nie ganz passt. Die Tür wird nie ganz aufgehen. Es bleibt immer ein Rest, der sich der objektiven Vermittlung entzieht, der aber gerade deshalb die Arbeit an der unendlichen Aufgabe des Verstehens der subjektiven Religion in Gang hält. Wir wollen die objektive Religion die »Religion 2« nennen. In ihr findet die subjektive Religion ihre Deutung, die Deutungssprachen und auch die kulturellen religiös geprägten Lebensformen. Religion 1 und 2, die subjektive und die objektive Religion, liegen immer ineinander, denn immer schon sind wir in kommunikative Zusammenhänge, in denen es um unsere elementaren Lebenssinninteressen geht, einbezogen und an religiöse Deutungstraditionen angeschlossen. Deshalb ist es wichtig, sie in ihrer Identität und Differenz zu begreifen. Der differente Verweisungszusammenhang von Religion 1 und 2 macht es möglich, die Vielheit der religiösen Deutungssprachen auf eine ihnen doch gemeinsame anthropologische Basis beziehen können. Im Blick auf die Predigt macht es der differente Verweisungszusammenhang von Religion 1 und 2 zudem möglich, die Leistung zu verdeutlichen, die eine religiöse Deutungssprache erbringen muss, wenn sie von Menschen als Angebot an die ihnen eigene, subjektive religiöse Lebensdeutung soll angeeignet werden können. Religiöse Lebensdeutungen können, so ist zu folgern, dann auf positive Resonanzen im religiösen Gefühlsbewusstsein rechnen, wenn sie in der Lage sind, dieses über den unergründlichen Grund der in ihm aufkommenden wie zugleich immer auch sich entziehenden Daseinsgewissheit zu verständigen. Die religiösen Deutungssprachen sind aber eben in die kulturellen Bestände eingelassen. Sie sind Bestandteil der allgemeinen kulturellen Kommunikation. Sie werden in den verfassten religiösen Deutungstraditionen gesprochen. Sie kon­stituieren die Christentumskultur, nähren sich aus den biblischen und kirchlichen Überlieferungen. Sie vermitteln sich heute allerdings auch in den medialen, literarischen und filmiDie Tür wird nie ganz aufgehen.

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schen Kulturen, schließlich in Die religiösen Deutungssprachen sind aber eben in die kultu­rellen den interaktiven Formen der Bestände eingelassen. Sie sind Be­ Social Media. standteil der allgemeinen kulturel­ len Kommunikation. Sie werden in Die subjektive Religion 1 den verfassten religiösen Deutungs­ artikuliert sich immer im Metraditionen gesprochen. Sie kons­ dium der objektiven, symtituieren die Christentumskultur, nähren sich aus den biblischen und bolisch verfassten, letztlich kirchlichen Überlieferungen. Sie ver­ sprachlich artikulierten Reli­ mitteln sich heute allerdings auch in gion, der Religion 2. Umgeden medialen, literarischen und filmi­ schen Kulturen, schließlich in den in­ kehrt kann man freilich in der teraktiven Formen der Social Media. objektiven Religion gewissermaßen auch die Versprachlichung und Objektivation der subjektiven Religion erkennen, die Artikulation der im Gefühl präsenten wie ihm sich entziehender Daseinsgewissheit. Die Religion 2 ist jedenfalls das, was von der Religion gegenständlich, zeichenhaft, symbolisch zugänglich ist. Sie kann religionskulturhermeneutisch in ihrer Potenz zur Deutung des religiösen Gefühls verstanden, dann aber auch zu seiner Stärkung eingesetzt werden. Die Religion 2 ist zugleich die sichtbare Religion, sichtbar mit Gebäuden und in gottesdienstlichen Versammlungen, in Ritualen und Symbolen, in Lehrtexten und Ordnungen, Zugehörigkeitsregelungen und organisatorischen Maßnahmen. Zu ihr gehören die Kirchen, ihre Gemeinden, in deren Auftrag die kirchliche Predigt geschieht und an die sie gerichtet ist. Sichtbar wird die objektive Religion heute zudem in einer Vielfalt spiritueller Praktiken und massenmedial verbreiteter Sinnkonstrukte, psychohygienischer Meditationsforen, esoterischer und sektiererischer Glaubensgemeinschaften sowie in vielfältigen Formen populärreligiösen Sinnmanagements.48 Die Predigt als religiöse Rede will Religion 1 bilden, Menschen zur Aktivierung ihres religiösen Bewusstseins befähigen, die Daseinsgewissheit erneuern, sie stärken, dann wenn 48 Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2009. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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sie sich zu entziehen und zu zerfallen droht. Es ist der Auftrag der Predigt, dies auf der Basis der Bibel und dabei im weiteren Horizont der christlichen Lebensdeutungskultur zu tun. Sie kann diesen Auftrag nur erfüllen, wenn die Predigenden selbst von der Tragfähigkeit dieser Basis und der Vorzüglichkeit des Deutungswissens der christlichen Glaubenslehre überzeugt sind. Sie müssen die Symbolsprache von Religion 2, also hier des christlichen Glaubens so zu sprechen versuchen, dass ihre Rede die Menschen ergreift, sie sie in ihrem Gefühlsbewusstsein anspricht und in ihrem Daseins­ sinnvertrauen zu stärken und zu erhalten vermag. Predigende müssen darum bemüht sein, die Auslegung der biblischen Texte im weiteren Horizont der christlichen Glaubenslehre in ein tragfähiges und weiterführendes Angebot eben an die religiöse Selbstdeutung der Menschen zu überführen. Sie müssen auf die in den Menschen selbst aufbrechende Suche nach Sinn reagieren und der immer wieder gefährdeten Daseinsgewissheit mit der christlichen Botschaft auf tröstliche Weise begegnen können. Wir können auch sagen, es geht darum, vermittels der Religion 2 die Religion 1 immer wieder neu aufzubauen, oder wie Schleiermacher sagte, in der Aus­ legung des biblischen Textes die Menschen über ihr eigenes religiöses Gefühl (auch in der Erfahrung seines Verschwindens) zu verständigen.49 Die religiöse Sprache, in die die Pre-

Die Predigt als religiöse Rede will Religion 1 bilden, Menschen zur Akti­vierung ihres religiösen Be­ wusstseins befähigen, die Daseins­ gewissheit erneuern, sie stärken, dann wenn sie sich zu entziehen und zu zerfallen droht.

49 So Schleiermacher im Vorwort zur ersten Sammlung von ihm selbstherausgegebenen Predigten (1801), dem Herrn Prediger Stubenrauch zugedacht. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Predigten, 1. Band, Neue Ausgabe, Berlin 1843. Dort schreibt Schleiermacher am Ende dieses Vorworts: »Jeder wirke, so weit er kann, um fromme Gesinnungen zu beleben und die Menschen über ihr eignes Gefühl zu verständigen.« (A. a. O. 10) Dieser Hinweis ist zu lesen in Verbindung mit der Bemerkung, in der Schleiermacher kurz zuvor die Predigt als Auslegung des zugleich immer schon vorausgesetzten religiösen Bewusstseins der Hörenden beschreibt – was 152 

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digt finden sollte, ist keine Sondersprache. Es gibt im Es gibt im Grunde keine religiöse Sprache, sehr wohl aber den religiö­ Grunde keine religiöse Sprasen, d. h. religiös deutungsstarken che, sehr wohl aber den reGebrauch derjenigen Sprache, die auch in der alltagsweltlichen Ver­ ligiösen, d.  h. religiös deuständigung gesprochen wird. tungsstarken Gebrauch derjenigen Sprache, die auch in der alltagswelt­lichen Verständigung gesprochen wird. Dann wird die religiöse Sprache zu einer Sprache, die zum Ausdruck bringt, was Menschen existenziell bewegt und beschäftigt, was ihnen wichtig ist, wofür sie sich interessieren, wovor sie Angst haben, worauf sie hoffen, welche Ziele sie sich setzen. Sie wird zu einer Sprache, die hilfreiche, tröstliche Deutungen anbietet, für das, was Menschen unhintergehbar betrifft, was ihre Identität konstituiert und ihre Daseinsgewissheit fundiert, dies aber gerade so, dass es dem eigenen Verfügen transzendent bleibt. Es ist der unverfügbare Daseinsgrund, der in die religiöse Deutung drängt, weil er auch nur in der Vermittlung dieser Deutung – letztlich im Modus der (bedingungslos rechtfertigenden) Zusage – erhalten bleibt. für ihn aber eben überhaupt nicht dem entgegenstand, dass sie zugleich den ihr zugrundeliegenden biblischen Text zur Auslegung bringt. Aber auch Schleiermacher sah sich durchaus schon veranlasst, sich dafür verteidigen zu müssen, dass er der Meinung war, die Hörenden, wer auch immer sie seien, als die souveränen Subjekte ihres Glaubens ansprechen zu können: »Andern wird freilich manches wunderlich vorkommen; zum Beispiel, daß ich immer so rede als gäbe es noch Gemeinden der Gläubigen und eine christliche Kirche; als wäre die Religion noch ein Band, welches die Christen auf eine eigenthümliche Art vereinigt. Es sieht allerdings nicht aus, als verhilte es sich so: aber ich sehe nicht, wie wir umhin können dies dennoch vorauszusezen. Sollen unsere religiösen Zusammenkünfte eine Missionsanstalt sein, um die Menschen erst zu Christen zu machen: so müßten wir ohnedies ganz anders zu Werke gehen. Soll aber von ihrem Verhältnis zum Christenthum gar nicht die Rede sein: So sehe ich nicht ein, warum vom Christenthum die Rede ist. Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussezt; wenigstens giebt es nichts verderblicheres für unsere religiösen Vorträge, als das Schwanken zwischen jenen beiden Ansichten, ob wir als zu Christen reden sollen oder als zu Nichtchristen.« (A. a. O. 6 f.) Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Überlegungen dazu, wie Menschen im (gefährdeten) Gefühlsbewusstsein ihrer subjektiven Religion erreicht werden können, wie also von der objektiven Religion, insbesondere von der biblisch und kirchlich tradierten, in den Glaubenslehren ausgearbeiteten Symbolsprachen Gebrauch zu machen ist, damit Menschen sich in der Innerlichkeit ihres religiösen Gefühls angesprochen finden, weisen ins Zentrum der Predigtaufgabe. In die subjektive Religion 1 gehen immer auch die lebens­ geschichtlichen Erfahrungen ein, die das individuelle Selbstverhältnis konstituieren oder eben auch erschüttern. Sie ist in jedem Menschen ausgespannt zwischen Gewissheit und Zweifel, Vertrauen und Angst, Freude und Trauer, Liebe und Hass, Erwartung und Enttäuschung sowie vielen weiteren Gegen­ sätzen, die zu unserem bewussten Leben gehören. Menschen in ihrer subjektiven Religion zu erreichen, heißt letztlich, sie in der Tiefe ihrer menschlichen Existenzerfahrungen und offenen Sinnfragen anzusprechen. Zur Verdeutlichung dessen, was hier mit der Unterscheidung von Religion 1 und 2 im Blick auf eine homiletische Religionshermeneutik ausgedrückt sein möchte, kann mög­ licherweise auch eine Bezugnahme auf die Unterscheidung reformatorischer Theologie zwischen »fides apprehensiva« und »fides historica« hilfreich sein. Das, was in evangelischer Theologie »Glaube«, genauer, im Evangelium gründender Rechtfertigungsglaube genannt wird, könnte in dem wiedererkannt werden, was hier ›subjektive Religion‹ heißt. Der Glaube als »­fides apprehensiva« ist im Unterschied zur »fides historica« nicht bloß die Anerkenntnis der objektiven Wahrheit der Glaubensinhalte, sondern das sich mit Bezug auf sie aufbauende Grundvertrauen ins Leben, das Vertrauen auf Gott als verlässlichen Daseinsgrund. Das, was in evangelischer Theologie »Glaubenszweifel«, »Glaubenskrise« oder auch »Unglaube« genannt wird, bezieht sich ebenfalls nicht nur auf die Anerkenntnis der objektiven Wahrheit der Glaubensinhalte. Es handelt sich beim Zwei154 

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fel vielmehr um das, was zum Glauben als einem50 Vollzug subjektiver Daseinsgewissheit gehört. Wenn der Glaube das Grundvertrauen und damit der Vollzug der in Gott gründenden Daseinsgewissheit ist, dann ist dieser Glaube immer zugleich bedroht durch die in den Erfahrungen des Lebens sich einstellenden Erschütterungen und Gefährdungen. Die Krise des Glaubens kennt die beunruhigende Frage, ob, wer seiDie Krise des Glaubens kennt die beunruhigende Frage, ob, wer sei­ ner selbst gewiss ist, sich in ner selbst gewiss ist, sich in einem einem unbedingt gründenun­bedingt gründenden Grund, den Grund, in »Gott« gehalten in »Gott« gehalten wissen kann, auch in negativen Selbst- und Welt­ wissen kann, auch in negatierfahrungen, von Scham und ven Selbst- und WelterfahrunSchuld, Krankheit und Tod, Ver­ gen, von Scham und Schuld, zweiflung und Not. Krankheit und Tod, Verzweiflung und Not. Endlichkeits-, Schicksals- und Schulderfahrungen sind letztlich Bedrohung wie Antrieb des Glaubens, der Aktivierung der subjektiven Religion – auch die Theodizeefrage. Die Bedrohungen elementarer Daseinsgewissheit fordern den Glauben heraus. Sie stellen das Grundvertrauen vor Bewährungsproben, an denen es wachsen kann. Die Negativerfahrungen können den Glauben aber auch in tiefe Krisen führen, die mit weiteren Erschütterungen elementarer Daseinsgewissheit einhergehen. Die Krise des Glaubens kann immer auch die Folge haben, dass aller Sinn sich entzieht und das Leben seinen Inhalt, sein Gewicht und seinen Halt verliert. Aber Krisen des Glaubens dürfen nicht mit dem Verlust des Glaubens Aber Krisen des Glaubens identifiziert werden. Sie gehören dürfen nicht mit dem Verlust zum Glauben bzw. zu einem leben­ des Glaubens identifiziert werdigen religiösen Verhältnis. In ihnen liegen die Antriebskräfte der subjek­ den. Sie gehören zum Glauben tiven Religion.

50 Wobei zwischen Zweifel, Unglaube und Anfechtung immer auch zu unterscheiden ist, ebenso die ihnen korrespondierenden religiösen Gefühle zu unterscheiden sind. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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bzw. zu einem lebendigen religiösen Verhältnis. In ihnen liegen die Antriebskräfte der subjektiven Religion. Das Element der notitia, die das Charakteristikum der fides historica ausmacht, also die Anerkenntnis der Symbole des Glaubens gehört demgegenüber auf die Seite der objektiven Religion, des geschichtlich, kirchlich und kulturell wandelbaren Glaubensausdrucks. Von der Krise der objektiven Religion, dem Traditionsabbruch, der Unverständlichkeit der traditionellen Glaubenssprache ist die subjektive Religion entscheidend betroffen. Die subjektive Religion wird angesichts des manifesten Traditionsabbruches der biblisch-kirchlichen Sprachkultur heute nur noch unter Aufbietung enormer Übersetzungsleistungen von Bibel, Katechismus und Gesang erreicht. Sie findet sich darin nicht unmittelbar ausgedrückt. Das fordert die Religionskulturhermeneutik zusätzlich heraus. Wie sprechen die Menschen sich in dem für sie unbedingt Wichtigen aus? Wie artikulieren sie, worauf sie ihr Vertrauen setzen, ihre Erfahrungen von Sinn und Nicht-Sinn, dann, wenn sie keine traditionelle Glaubens­sprache sprechen? Immer dann, wenn Menschen etwas widerfährt, das ihnen als sie unbedingt angehend bewusst wird, können sie sich zu einer religiösen Deutung dieser Erfahrung herausgefordert sehen. Dann verstehen sie das sie Betreffende auch als ein sie unbedingt Angehendes und deuten die positive Erfahrung der Stärkung der Daseinsgewissheit möglicherweise explizit als Erfahrung göttlicher Bewahrung. Die Erfahrung der Sinnleere und Selbstverlorenheit hingegen deuten sie mög­ licherweise als Zeichen der Abwesenheit Gottes oder auch als Konfrontation mit einer namenlosen und nichtigen Leere. Die religionskulturhermeneutische Frage ist, wie, in welcher Sprache, Menschen das sie unbedingt Angehende, das Glück des Gelingens wie die Verzweiflung im Desaströsen zur Sprache bringen. Wer Religion mitteilt und bilden will, der muss die inneren Zusammenhänge von Religion 1 und 2 verstehen und in ihnen sich zu bewegen in der Lage sein. Große Herausforderungen 156 

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erwachsen der Versprachlichung Wer Religion mitteilt und bil­ den will, der muss die inneren Zu­ der Religion 1 aus den enormen sammenhänge von Religion 1 und 2 Traditionsabbrüchen in der Reliverstehen und in ihnen sich zu be­ wegen in der Lage sein. gion 2, die gerade auch die kirchlich-religiöse Deutungskultur in den letzten Jahrzehnten hart betroffen hat. Der Religion 1 ist weithin der Kontakt zur kirchlichen Symbolsprache verloren gegangen. Was den Menschen Trost gibt im Leben und im Sterben, artikuliert sich zumeist nicht mehr in der Sprache der Bibel und des Katechismus, geschweige denn, dass religiöse Deutungen, sofern sie in dieser Sprache vorgetragen werden, die Chance bekommen, in die religiöse Selbstverständigung der Menschen Eingang zu finden. Genau deshalb aber gilt es heute, die Religionskulturhermeneutik als eine spezifisch theologische und des Näheren homiletisch-theologische Kompetenz zu entwickeln. Dann hilft sie der Predigt in der anstrengenden Arbeit an einer Sprache, der es gelingt, die Menschen auf das sie zutiefst Angehende anzusprechen und im Licht einer ihnen verständlich werdenden christlichen Botschaft mit neuer Daseinsgewissheit zu erfüllen. Welche Fragestellungen die Religionskulturhermeneutik in die Predigtarbeit integriert (A) Die objektive Religion wahrnehmen: Religion beobachten und deuten Es gilt wahrzunehmen und gegenwartsdiagnostisch zur Deutung zu bringen, wie die Religion gegenwartskulturell vorkommt. Es ist zu beobachten: Wie wird über religiöse Fragen in der Gesellschaft diskutiert und wie wird ihr Ort in Kultur und Gesellschaft sowie im Leben des Einzelnen gesehen? Wir müssen die Außen- bzw. Beobachterperspektive auf die Religion einnehmen, wenn wir nach ihrem Vorkommen in der Gemeinde, dann vor allem in der Kirche und Kultur der Gegenwart fragen. Es ist in unserer Mediengesellschaft nicht möglich, Religion mitzuteilen, ohne dass nicht immer ins Spiel Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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käme, wie z. B. in den Talk-Shows des Fernsehens über Religion geredet wird. Oft wird das Interesse an religiösen Fragen gerade durch Produkte zeitgenössischer Unterhaltungskultur geweckt bzw. in eine bestimmte Richtung gelenkt. Das Internet trägt erheblich zu einer weiteren Deinstitutionalisierung des Religiösen bei.51 Wer auf religiöser Sinnsuche ist, kann online viel Material finden, aber auch soziale Kontakte im Austausch über religiöse Fragen knüpfen. (B) Die subjektive Religion wahrnehmen: Religion selbst vollziehen Die subjektive Religion in der Vermittlung der objektiven zu verstehen, heißt sich selbst im religiösen Verhältnis zu be­ wegen. Die subjektive Religion ist dann das symbolisch codierte, bewusste Verhalten zu dem, was die je eigene Lebensüberzeugung fundiert und trägt. Ich kann sie also auch nur erfassen und über sie Auskunft geben, wenn ich mich selbst in ihr bewege, sie selbst vollziehe. Religiös verhalte ich mich selbst zum Grund der je eigenen Lebensgewissheit. Ich gebe als Predigender über meine religiöse Selbstdeutung Auskunft, teile sie mit – in der Erwartung, dass die Hörenden sich mit ihrer Selbstdeutung anschließen. Die tradierte Sprache des christ­ lichen Glaubens wird dazu in Gebrauch genommen. Meine religiöse Selbstdeutung fügt sich in die tradierten Deutungen des christlichen Glaubens ein und formt diese zugleich um, um heute verständlich zu sein. Predigende müssen sich Predigende müssen sich darauf darauf vorbereiten, die Hören­ vorbereiten, die Hörenden in ih­ den in ihrer Nähe wie in ihrer rer Nähe wie in ihrer Distanz zur Distanz zur tradierten Spratradierten Sprache des christlichen Glaubens ansprechen zu können. che des christlichen Glaubens ansprechen zu können. Es ist 51 Vorausgesetzt, dass das Internet inzwischen nicht selbst etwas Institu­ tionalisiertes ist, und zudem ist natürlich zu sagen, dass dies für viele traditionelle Institutionen, nicht nur des Religiösen (sondern auch des Politischen) gilt. 158 

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mehr Fraglichkeit im religiösen Verhältnis, es gibt eine größere Varianz im Gottesbild, auch bei regelmäßigen Kirchgängern, als Predigende es sich oft klarmachen. Immer aber wollen die, die eine Predigt hören, den christlichen Glauben verstehen und weitere Klarheit darüber gewinnen, wie er die eigene Lebensgewissheit fundiert oder auch erschüttert, in welches Licht er das Leben rückt, wie Gott gedacht und gefunden werden kann und welchen Gewinn das Gottesverhältnis für die Lebensführung bringt. Das Konzept der Spiritualität, das die Religiosität der Individuen auf die Leistung ihres religiösen Bewusstseins zurückführt, gilt es m. E. als eine zentrale homiletische Kategorie aufzunehmen.52 Denn es motiviert zu einer Predigt, die die Hörenden im Aufbau und der Klärung ihres religiösen Selbstverhältnisses begleitet, stützt, anregt, weiterbringt, ihnen etwas mitzugeben versucht. Mit dem Spiritualitätskonzept kann das religionshermeneutische Deutungsparadigma homiletisch besser umgesetzt werden. Mit ihm legt es sich nahe, die Hörenden als die autonomen Subjekte ihres Glaubensbewusstseins und ihrer Existenzfragen anzusprechen.

2.2 Signaturen gegenwärtiger Religionskultur Will die Predigt zur religiösen Rede werden, dann müssen Predigende die gelebte Religion zu verstehen versuchen. Die Hörer und Hörerinnen der Predigt sind ja nicht schlicht die Adressaten der biblischen Botschaft. Sie sind vielmehr die Subjekte ihres religiösen Verhaltens, ihrer religiösen Einstellungen, ihrer religiösen Sinngewissheit, ihrer religiösen Fragen. Sie sind als diejenigen wahrzunehmen, die sich in einem autonomen, selbstbestimmten Verhältnis auch zu Kirche und Gemeinde 52 Vgl. Wilhelm Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, in: Wilhelm Gräb, Lars Charbonnier (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion, Berlin 2008, 31–45. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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wissen. Die Hörenden in ihrer »Religion« wahrzunehmen, verlangt, dass Predigende entschieden Abschied zu nehmen haben von dem dogmatisch-theologisch dominierten Bild einer um Wort und Sakrament versammelten »Gemeinde«. Um die Deutung der »gelebten Religion« der Menschen müssen Predigende sich heute bemühen. Denn dabei bilden sie sich eine Auffassung davon, was Menschen motiviert, eine Predigt zu hören, wie ihre Erwartungen zu beschreiben sind, welche Formen und inhaltlichen Ausrichtungen ihre religiösen Einstellungen und Vorstellungen gewinnen könnten. Dabei ist es gut, wenn Predigende die Ergebnisse der empirischen Kirchen- und Religionsforschung kennen und sich diesbezüglich auf dem Laufenden halten. Wichtiger jedoch ist es, dass sie zu einer religionskulturhermeneutisch sensiblen Zeitgenossenschaft finden. Es gilt, das kirchliche Beteiligungsverhalten der Menschen, genauso dann aber auch die Merkmale Es gilt, das kirchliche Beteiligungs­ verhalten der Menschen, genauso des Vorkommens religiöser dann aber auch die Merkmale Motive im weiten Zusammendes Vorkommens religiöser ­Motive hang von Kultur und Gesellim weiten Zusammenhang von Kul­ tur und Gesellschaft wahrzuneh­ schaft wahrzunehmen, vor men, vor allem aber in den lebens­ allem aber in den lebensprakpraktischen Bedeutungen, die sie tischen Bedeutungen, die sie möglicherweise für die Menschen er­ füllen, zu deuten. möglicherweise für die Menschen erfüllen, zu deuten. Diese religionshermeneutische Aufgabe stellt sich mit jeder Predigt, die zu einer religiösen Rede werden will, neu, wie ja auch die biblischen Texte immer wieder neu in ihrer reli­giösen Gegenwartsbedeutung aufgeschlossen werden müssen. Das Problem ist nur, dass das Material der religionshermeneutischen Arbeit, also die kulturell objektivierte Religion, vermittels derer die subjektiv gelebte Religion 1 hermeneutisch erschlossen werden kann, ihrem Interpreten nicht in der gleichen Weise gegeben ist, wie dies mit den biblischen Texten der Fall ist. Ihre Textur, die dann zum Gegenstand einer weitergehenden Interpretation 160 

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werden kann, ist vielmehr immer erst zu ermitteln. Die Festlegung auf Phänomene, die die gelebte Religion sichtbar machen, verdankt sich in der Regel selbst schon theologischen Blickrichtungen. In Frage steht zumeist, ob eine engere kirchentheologische oder eine weitere kulturtheolo­gische Orientierung verfolgt wird.53 Immer freilich ist es so, dass der Zugang zur subjektiven Religion 1 über die Interpretation der objek­tiven Religion 2 verläuft. Das ist schließlich gemeint, wenn eingangs ausgeführt wurde, dass Religionshermeneutik nur als Religionskulturhermeneutik möglich ist. Das kann hier selbst­verständlich nicht umfassend geleistet werden. Es soll im Folgenden aber doch darum gehen, die Richtung des Blicks auf die gegenwärtige Religionskultur einzunehmen, auf die dieses homi­letische Konzept die Predigenden einstellen möchte. Kirchliche Gottesdienstkultur Regelmäßige Gottesdienstbesucher sind selten. Doch die Zahl derer, die gelegentlichen einen Gottesdienst besuchen bzw. eine Predigt hören, ist größer, als vielfach angenommen wird. Wie die vierte EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung, die in 2002 durchgeführt wurde,54 deutlich belegt, ist die Gottesdienstteilnahmefrequenz stark von Milieuzugehörigkeiten abhängig. Kirchenmitglieder mit einem traditionsorientiert-hoch­ kulturellen Lebensstil nehmen überdurchschnittlich oft am sonntäglichen Gottesdienst teil. Auch spielt die religiöse Sozia­ lisation eine wichtige Rolle. Schließlich motivieren hochkulturelle, ästhetische Präferenzen einen häufigeren Gottesdienst53 Vgl. Christian Danz, Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin/Boston 2011. 54 Vgl. Wolfgang Huber, Johannes Friedrich und Peter Steinacker (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006; sowie die ersten Auswertungsergebnisse in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Weltsichten, Kirchenbindung, Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2003. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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besuch. Kirchgänger lieben klassische Musik und gehen eher ins Theater als ins Kino.55 Dennoch, selbst bei den hochkulturellen Traditionalisten fällt auf, dass der »Normalfall Sonntagsgottesdienst« nicht der Normalfall im Rhythmus des eigenen Lebens ist. Auch für die, die der Kirche am stärksten verbunden sind, gehört der regelmäßige Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes nicht unbedingt zur Gestaltung des Sonntags. Man nimmt zwar häufiger als in anderen Milieus am sonntäglichen Gottesdienst teil, legt aber doch auch Wert auf das Besondere, wie etwa kirchenmusikalische Veranstaltungen, Vortragsabende oder eben »besondere« Gottesdienste.56 Der »normale« Gottesdienst, der keine besonderen Akzente setzt, gewissermaßen schlicht nach dem agendarischen Programm verfährt, wird selbst von den der Kirche am stärksten verbundenen, hochkulturell-traditionsorientierten Kirchenmitgliedern nur mäßig geschätzt.57 Im Blick auf den »gesellig-traditionsorientierten Lebens­ stiltypus«, dasjenige kirchliche Milieu, das mit Blick auf die Häufigkeit des Gottesdienstbesuches an zweiter Stelle rangiert, ist festzustellen: »Man ist in der Kirche, weil man die diakonische Arbeit der Kirche schätzt und an den Kasualien teilhaben möchte.«58 Obwohl hier noch eine relativ starke Kirchenbindung vorliegt, besuchen doch nur 18 % »jeden oder fast jeden Sonntag« den Gottesdienst. Bei allen anderen Kirchenmitgliedern, die den moderneren und weniger traditionsorientierten Lebensstilen zuzuordnen sind, tendiert der regelmäßige, sonntägliche Gottesdienstbesuch schließlich gegen Null. Von einem »Normalfall Sonntagsgottesdienst« kann schon hier, erst recht dann aber im Blick auf die »modernen« und jugendkulturellen Milieus nicht die Rede sein. 55 Vgl. Wolfgang Huber, Johannes Friedrich und Peter Steinacker (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 225. 56 Vgl. a. a. O. 219 f. 57 Vgl. a. a. O. 234 (Tabelle 4). 58 A. a. O. 221. 162 

Durchführung

Auffällig ist jedoch ebenso, dass der Prozentsatz derer, die »mehrmals jährlich« oder zumindest »einmal im Jahr« den Gottesdienst besuchen, quer durch die verschiedenen Milieus relativ hoch ist. Die Zahl derer, die angeben, »mehrmals im Jahr« einen Gottesdienst zu besuchen, liegt für die Gesamtheit aller Kirchenmitglieder bei 36 %.59 Auch unter den kirchlich am stärksten Verbundenen, den »Hochkulturell-Traditions­ orientierten« sind es 36 %, die »mehrmals im Jahr« den Gottesdienst besuchen, während aus diesem kirchlichen Milieu 30 % zu den regelmäßigen Kirchgängern gehören. Bei den »GeselligTraditionsorientierten« sind es 37 %, die »mehrmals im Jahr« den Gottesdienst besuchen, hingegen nur 18 %, die »jeden oder fast jeden Sonntag« in die Kirche gehen. Schaut man auf die Gesamtheit aller Kirchenmitglieder, so stellen sowohl die, die »jeden oder fast jeden Sonntag« (11 %) wie die, die »nie« (15 %) einen Gottesdienst besuchen, eine deutliche Minderheit dar.60 Die weit überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder gehört zu den gelegentlichen Gottesdienstbesuchern. Aber das eigentlich Interessante ist, dass auch für die regelmäßigeren Kirchgänger der sonntägliche Gottesdienst so normal nicht ist, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Auch ihr Gottesdienstverhalten ist letztlich nicht traditionsorientiert, sondern gehorcht einem bewussten, individuell gesteuerten Beteiligungsverhalten. Für alle anderen eher modern ausgerichteten Lebensstile gilt das erst recht. So fällt beim jugendkulturellmodernen Lebensstil auf, das nur 1 % »jeden oder fast jeden Sonntag« zum Gottesdienst gehen, hingegen 27 % »mehrmals im Jahr« und gar 41 % (so viel wie sonst in keinem anderen Milieu) angeben, »einmal im Jahr« (vermutlich an Heiligabend)  »oder noch seltener« (auch an Heiligabend vielleicht nicht immer) den Gottesdienst zu besuchen.61

59 A. a. O., 234. 60 Ebd. 61 Ebd. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Der Sonntagsgottesdienst ist ein gottesdienstlicher »Normal­ fall« also allenfalls in institutionell kirchlicher Perspektive.62 Mit der Kirche, insbesondere den Pfarrern und Pfarrerinnen, verbindet sich die selbstverständliche Erwartung, dass der Gottesdienst Sonntag für Sonntag stattfindet  – gewissermaßen auch für die, die nicht an ihm teilnehmen. Die Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder und eben auch die Mehrheit der kirchlichen Traditionalisten und der Hochverbundenen machen ihren Gottesdienstbesuch hingegen von besonderen Umständen und Gegebenheiten, von persönlichen Präferenzen und der Attraktivität des kirchlich-gemeindlichen Angebots abhängig. Auch das kirchliche Christentum (die Gemeinde der der Kirche stärker Verbundenen) ist an seiner Auch das kirchliche Christentum (die Gemeinde der der Kirche Basis mehrheitlich ein Kasualstärker Verbundenen) ist an seiner und Kultur­ christentum. SoBasis mehrheitlich ein Kasual- und gar dem kirchlichen ChrisKulturchristentum. tentum entspricht es somit am ehesten, wenn der Gottesdienst kasuell-gegenwartsbezogen und kulturell-anspruchsvoll gestaltet wird, er ein spezifisches Profil bzw. ein aktuell interessantes bzw. existenziell relevantes Thema hat und zu einer ästhetisch ansprechenden Performance wird.63 Die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bestätigt insgesamt die dem protestantischen Bewusstsein eigentüm­ liche Distanz gegenüber den normativen Erwartungen der In62 Vgl. Michael Meyer-Blanck. Der Sonntagsgottesdienst. Elemente einer praktisch-theologischen Theorie des »Normalfalles«, in: Kristian Fechtner, Lutz Friedrichs (Hg.), Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch, Stuttgart 2008, 72–81. 63 Das ist auch das Ergebnis der neuesten empirischen Studie zum Gottesdienst. Der Gottesdienst steht im Zentrum des evangelischen Christentums, auch in der Perspektive der Kirchenmitglieder. Traditionelle und moderne Formen werden geschätzt. Die dominante Erwartung ist jedoch die, dass der Gottesdienst formal und inhaltlich mit großer Sorgfalt, in sich stimmig und ansprechend gestaltet wird. Vgl. Uta Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011. 164 

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stitution »Kirche«. So sehr man im Prinzipiellen mit den Sinngrundierungen und Werthorizonten, für die die Kirche steht, sich in Übereinstimmung wissen möchte, so sehr will man als evangelischer Christ sein Leben aus eigener Einsicht führen und sich in den Fragen des Glaubens bzw. der religiösweltanschaulichen Orientierung eine eigene Auffassung und ein eigenes Urteil bilden. Das Kirchenmitgliedschaftsverhalten scheint jedenfalls konturenscharf durch einen ästhetischreligiösen Individualismus gekennzeichnet.64 Die religiösen Individualisten, die die evangelischen Kirchenmitglieder in ihrer überwiegenden Mehrheit sind, s­ uchen gelegentlich nach einem ihren persönlichen Bedürfnissen und ästhetisch-religiösen Präferenzen entsprechenden Gottesdienst. Sie wollen dort dann aber auch eine Predigt hören, in der sie sich angesprochen finden auf sie betreffende, elementare Lebensfragen und hineingenommen finden in eine zu Gott führende Selbst- und Sinnvergewisserung. Auch der sogenannte normale Sonntagsgottesdienst steht insofern, was seine Gestaltung betrifft, unter hohen Anforderungen. Der »Normalfall Sonntagsgottesdienst« ist zugleich der Ernstfall, in dem auf dem Spiele steht, ob es gelingt, ihn so zu gestalten, dass die Gottesdienstbesucher in ein sie persönlich bewegendes und religiös angehendes Geschehen einbezogen werden.65 Gerade die Traditionsorientierten und Hochverbundenen erwarten nicht nur eine mit Kirchen­musik besonders festliche Gestaltung des Gottesdienstes, sondern auch, dass die traditionellen Inhalte christlicher Lehre, wie sie mit Bibel und Bekenntnis überliefert sind, auf die existenziell-religiösen 64 Vgl. die summarisch wertende Reflexion auf die Ergebnisse der 4. Mitgliedschaftsuntersuchung, in Kirchenamt der EKD (Hg.), Weltsichten, Kirchenbindung, Lebensstile, Hannover 2003, 19. 65 Vgl. Wilhelm Gräb, Der Gottesdienst des kirchlichen Christentums  – oder was vom Kasualgottesdienst für den Sonntagsgottesdienst zu lernen wäre, in: Kristian Fechtner/Lutz Friedrichs (Hg.), Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch, Gütersloh 2008, 82–91. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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und ethisch-politischen Lebensfragen der Gegenwart hin ausgelegt werden. Wenn die Gemeinde merkt, dass die Predigt in der Auslegung der biblischen Texte Antworten auf die grundlegenden Lebensfragen sucht und sie in ein auch ästhetisch-emotional ansprechendes Geschehen einbezogen wird, entwickelt sich möglicherweise sogar eine stärkere Bindung an die Kirche, steigert sich die Neigung, das nächste attraktiv erscheinende gottesdienstliche Angebot wieder wahrzunehmen. Auf diese Weise kann der Gottesdienst zu der positiven Erfahrung verhelfen, dass die Kirche auf der Basis ihrer gehaltvollen Deutungstraditionen zugleich ein Ort freier religiöser Selbstdeutung ist. Es ist nicht so, dass die Individuen in der modernen Kultur nicht mehr nach dem Sinn ihres Lebens fragen, keine Symbole und Rituale zu dessen kommunikativer Vergegenwärtigung mehr bräuchten. Sie suchen nach dem allem und damit nach Religion. Entscheidend geändert hat sich die Form, in der die Individuen sich einbezogen finden und einbeziehen lassen in die Symbole und Rituale der traditionellen, kirchlichen Religionskultur. Selbst die Traditionalisten und kirchlich Hoch­ verbundenen verhalten sich wählerisch. Sie prüfen das Angebot. Sie entscheiden nach Qualität. Und sie sind es eben auch von anderen Kulturorten, wie z. B. dem Theater, Kino oder Konzertsaal, her gewohnt, dass Qualität geboten wird. Das geht in der Praxis nur durch eine Konzentration der Kräfte. Im Theater wird die Inszenierung eines Stücks auch nicht nur einmal aufgeführt – warum kann eine gut einstudierte und gelungene gottesdienstliche Performance nicht öfters wiederholt werden?66 Wichtig ist, dass die Gottesdienstbesucher sich als die Subjekte der persönlichen Aneignung des Evangeliums akzep66 Konkret meine ich die Wiederholung von Predigt und Liturgie an verschiedenen Gottesdienstorten wie auch an verschiedenen Sonn- und Wochentagen. 166 

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tiert und von den ästhetischen Formen der Liturgie des Gottesdienstes angesprochen finden. Der »normale« Gottesdienst wird in seiner Form dennoch nicht mehr alle gleichermaßen erreichen können. Es müssen ihm andere Formen, die dann auch andere Stile der gegenwartskulturellen Religionsästhetik in Musik und bildender Kunst integrieren, an die Seite treten. Dann besteht vielleicht die Chance, die moderneren und vor allem auch die jugendkulturellen Milieus zu erreichen – denn eben dies setzt voraus, dass es der Kirche gelingt, die kulturelle Fremdheit, in der sie vielfach erlebt wird, zu überwinden. Auch die Gottesdienste in neuen Formen sind freilich Gottesdienste des kirchlichen Christentums. Auch sie setzen Zugehörigkeit voraus. Sie inszenieren und artikulieren die Lebensdeutung des Christentums. Die religionskulturhermeneutisch entscheidende Frage ist, ob sie dies so tut, dass sie auch den der traditionellen kirchlichen Religionskultur Entfremdeten einen Zugang zum christlichen Lebensdeutungsangebot eröffnen. Um dies zu erreichen, ist es keineswegs nötig, aktuellen Trends ästhetischen Ausdrucksverhaltens hinterherzulaufen. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Gottesdienst einen bewusst gestalteten Stil findet – er kann traditionell hochkirchlich oder auch experimentell sein – entscheidend ist, dass er es auf dem Wege seiner religionsästhetisch reflektierten Gestaltung schafft, die Gemeinde in religiöse Gestimmtheit zu verEs kommt vielmehr darauf an, dass der Gottesdienst einen bewusst setzen und den Raum für ein gestalteten Stil findet – er kann tra­ religiöses Erleben zu öffnen. ditionell hochkirchlich oder auch Dazu braucht er dann aber experimentell sein – entscheidend ist, dass er es auf dem Wege seiner auch eine Predigt, die als rereligionsästhetisch reflektierten ligiöse Rede es sich zum Ziel Gestaltung schafft, die Gemeinde in setzt, die Hörenden tiefer über religiöse Gestimmtheit zu versetzen und den Raum für ein religiöses Er­ ihr eigenes religiöses Erleben leben zu öffnen. zu verständigen. Es können sich so zudem immer auch die eingeladen und angesprochen finden, die nur gelegentlich, »nur einmal im Jahr oder noch seltener«, einen Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Sonntagsgottesdienst besuchen, die Flaneure und die Suchenden, auch die kirchlich Distanzierten, die (post-)modernen Synkretisten und Atheisten. Es ist nicht schlimm, wenn die kirchlichen Liturgien als Teil der ohnehin religiös aufgeladenen, synkretistischen Kulturverhältnisse der Gegenwart Das normative Kriterium, an dem das Christentum in der evangeli­ wahrgenommen werden. Das schen Kirche seine Orientierung fin­ normative Kriterium, an dem det, liegt darin, dass das Bewusstsein das Christentum in der evanindividueller, im Gottesverhältnis gründender Freiheit gestärkt wird, gelischen Kirche seine Oridie Ermutigung zu einer verantwort­ entierung findet, liegt darin, lichen, zielgewissen Lebensführung dass das Bewusstsein indiviaus der Kraft des Evangeliums. dueller, im Gottesverhältnis gründender Freiheit gestärkt wird, die Ermutigung zu einer verantwortlichen, zielgewissen Lebensführung aus der Kraft des Evangeliums. Der Rhythmus des Lebens im Jahresverlauf und die Stationen im Lebenszyklus, nicht aber die normativen Erwartungen der Institution »Kirche«, sind bestimmend für die Motivation, an religiöser Kommunikation teilzunehmen. In beglückenden und erschütternden, mit der Kontingenz des Daseins konfrontierenden Lebenserfahrungen entstehen die Veranlassungen, durch Gottesdienst und Predigt in den Lebensdeutungszusammenhang des christlichen Glaubens auf eine persönlich angehende Weise einbezogen zu werden: Geboren werden und Sterben, Erwachsen werden und Heiraten, Sich-Trennen und Sich-Wieder-Finden, Eingeschult-Werden und Jubiläen-Begehen. Wenn etwas der Fall ist, was unser Leben als Ganzes Wenn etwas der Fall ist, was un­ ser Leben als Ganzes betrifft, dann betrifft, dann drängt es die drängt es die Menschen in die Kir­ Menschen in die Kirche, weil che, weil dann das Leben in die re­ dann das Leben in die religiligiöse, die Imagination des Ganzen ermöglichende Deutung drängt. öse, die Imagination des Ganzen ermöglichende Deutung drängt. An den Sollbruchstellen im Lebensgang geraten wir auf eigentümliche Weise vor uns selber, sehen wir uns nach 168 

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dem Woher und Wohin gefragt, nach möglicher Deutung dessen, was auf kontingente Weise zufällt, so ist, wie es ist, obwohl es doch auch ganz anders hätte gehen können. Ist es Zufall oder Fügung, unsere Bestimmung? Hat unser Leben ein Ziel? Ist mit dem Tod alles aus? Wir werden dessen bewusst, dass wir den Bedingungen unseres Daseins insgesamt nicht mächtig sind, wir aber doch nur unbestimmt von Zufall, Schicksal oder Fügung reden könnten, wenn nicht die Deutungssprache des Glaubens an den Gott des Evangeliums uns zur Verfügung stünde und die biblischen Visionen des Gelingens und der Vollkommenheit immer wieder zu einer unendlichen Hoffnung ermutigen würden. Gesellschaftliche Religionskultur Diese dominanten religionskulturellen Trends betreffen die kirchliche Predigt enorm. Die Predigt hat es heute durchweg mit potentiellen Hörern und Hörerinnen zu tun, für die gilt, dass ihr Verhältnis zu Religion und Kirche durch folgende Signa­turen gekennzeichnet ist: a. Autonomieerwartung, b. Medialisierung, c. Kulturalisierung und Ästhetisierung, d. Ethisierung und Politisierung der Religion. a. Autonomieerwartung Die westlichen Gesellschaften haben die Autonomieerwartungen des Individuums verinnerlicht. Insbesondere fürs religiöse Verhältnis gilt, dass es weitgehend in die Zuständigkeit der Individuen fällt.67 Religiöse Praxis, so auch das Hören von Predigten, ist zu einer Frage persönlichen Interesses und individueller Hörbereitschaft geworden. Diese Entwicklung geht mit einer Pluralisierung des religiösen Angebotes einher. Die Individuen können zwischen verschiedenen religiösen Gemein-

67 Vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott, Frankfurt a. M. 2008. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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schaften, Gottesdiensten und Predigtangeboten wählen. Sie haben Optionen und entwickeln darin ihre Präferenzen.68 Individualisierung darf freilich nicht mit Privatisierung verwechselt werden.69 Auch die individualisierten religiösen Beziehungen sind sozial vermittelt. Sie bewegen sich in traditionsgebundenen kulturellen Kontexten. Sie bilden sich nie gänzlich losgelöst von den religiösen Gemeinschaften und den verfassten Religionen, primär also den Kirchen, aus. Vor allem aber ist darauf zu sehen, dass die individualisierte Religion neue Formen öffentlicher religiöser Kommunikation ausbildet. Individualisierung der Religion heißt, dass das religiöse bzw. kirchliche Beteiligungsverhalten ein Partizipationsverhalten der Individuen ist.70 Die Individuen nehmen teil an kirch­lichen Angeboten religiöser Kommunikation, wenn ihnen dazu eine die individuelle Teilnahmebereitschaft motivie68 Vgl. Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie, Religion in der pluralis­ tischen Gesellschaft, Freiburg 2000; Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. 2012. 69 Vgl. Thomas Luckmann, Privatisierung und Individualisierung. Zur Sozialform der Religion in spätindustriellen Gesellschaften, in: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Bio­graphie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, Gütersloh 1996, 17–28. »Die Kirchen sind Institutionen unter anderen Institutionen geworden: die von ihnen getragenen und sie rechtfertigenden traditionell religiösen Orientierungen sind im modernen Bewußtsein von solchen überschattet, die sich ausschließlich auf diesseitige Transzendenzen verschiedenen Niveaus beziehen: die Nation, das Volk, die gesellschaft­ lichen Klassen bzw. deren ›Überwindung‹, die Individuen, das alter ego (›Gemeinschaft‹) und das sakralisierte, weitgehend selbstgenügsame Ich. Die weithin ›privatisierten‹ Sinnwelten, welche den sogenannten Pluralismus moderner Gesellschaften kennzeichnen, stehen in keinem übergreifenden Bedeutungszusammenhang. Sie haben allerdings noch so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner: ihm lassen sich inhaltlich dehnbare subjekt-bezogene Begriffe wie Toleranz und Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung, Emanzipation und Autonomie in Verbindung mit hedonistischen Motiven und utilitaristischen Kalkülen zuordnen.« (A. a. O., 27) 70 Vgl. dazu bereits das Konzept einer »elastischen Volkskirche« bei Ernst Troeltsch, Religiöser Individualismus und Kirche (1910), in: Ders., Gesammelte Schriften Bd.  2, (Neudruck der 2.  Aufl. 1922) Aalen 1962, ­109–133. 170 

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rende Veranlassung entsteht. Zu den sozialen Normen und traditionellen Gepflogenheiten des Verhaltens, die die Teilnahme an kirchlicher Kommunikation in den traditionsorientierten Milieus immer noch stark bestimmt, muss eine besondere, innen­geleitete Motivation hinzukommen. Unter Bedingungen von Individualisierung und eines verinnerlichten Autonomiebewusstseins erwächst die Bereitschaft zur Teilnahme an religiöser Kommunikation jedenfalls selten allein auf der Basis einer kirchengebundenen religiösen Sozialisation, so wichtig diese zweifellos nach wie vor ist. Die Bereitschaft, eine Predigt zu hören, ist immer auch an lebensgeschichtlich und situativ bedingte individuelle Motivation und ein erfahrungs­ bezogenes individuelles Entscheiden gebunden.71 Individualisierung verbindet sich mit religiöser Pluralisierung. Zunehmend treten auch hierzulande neben die Großkirchen viele kleinere kirchliche Gemeinschaften. Wer aus der Großkirche austritt, hat die Möglichkeit, sich sogenannten Freikirchen anzuschließen. Diese setzen zumeist auf größere Verbindlichkeiten in Glaubenslehre und Moral. Ihre Gottesdienste sind liturgisch weniger traditionell. Die charismatischen Pfingstkirchen betonen die Emotionalität des religiösen Erlebens. Ihre Predigt ist alltagsnah, lebenspraktisch und auf die Stabilisierung der individuellen religiösen Glaubensgewissheit ausgerichtet. Ein Phänomen der religiösen Pluralisierung sind auch fundamentalistische Religionsbewegungen, die den modernen Individualismus und Pluralismus bekämpfen. Gerade diese bringen die Religion zugleich neu in den öffentlichen Raum der Gesellschaft zurück, weil sie die Religion zu einem Angstphänomen machen. Die Großkirchen wissen, dass sie der Versuchung fundamentalistischer Abgrenzung widerstehen müssen und sich in kritisch-konstruktiver Offenheit auf eine Vielfalt von Sinneinstellungen und Lebensstilen einlassen 71 Vgl. Wilhelm Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion, Berlin 2008, 31–45. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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müssen. Sie versuchen, in sich selbst ein plurales Angebot an Gottesdienstformen und Predigtstilen, Gemeinschafts- und Teilnahmeformen zu ent­wickeln. Die Kirchen bieten vor allem unterschiedliche Formen der Partizipation an kirchlich-religiöser Kommunikation an, gerade auch solche, die nicht unbedingt soziale Nähe verlangen und doch Teilnahme an »Kirche« gewährleisten. Die Volkskirchen sind für viele gerade deshalb attraktiv, weil sie keine rigiden Bindungsverpflichtungen geltend machen, sondern Gemeinschaft in Verbindung mit sozialer Distanz ermöglichen und den Individuen die Freiheit zur Aufnahme personaler Beziehung einräumen.72 b. Medialisierung der Religion Die modernen Massenmedien, Literatur und Film, das Fern­ sehen und das Internet sind zu wesentlichen Medien auch religiöser Kommunikation geworden. Sie enthalten viele An­ regungen zu expliziter religiöser Sinnreflexion und sie tun dies mit allen ihren Programmen, seien sie informativ oder unterhaltend.73 Den Medien kommt heute geradezu eine religionsproduktive Funktion zu, eben dadurch, dass sie die Geschichten erzählen, die im Alltag der Menschen spielen. Sie setzen sie in Szene, so dass wir auf bewegende Weise in sie verwickelt werden. Oder sie berichten über die Ereignisse im politischen und sozialen, kulturellen und religiösen Raum. Auch dann provozieren sie die eigene Stellungnahme zur Wirklichkeit, formen sie unser Wirklichkeitsverständnis. Die Medien in allen ihren Formen, als Buch oder Film, als Talk-Show oder Internetportal können selbst zur Predigt werden, zu einer religiösen Rede, die das Leben grundsätzlich in Frage stellt, indem sie es mit seinen Kontingenzen konfrontiert und die Motive benennt, die nach Halt und Orientierung gewährenden 72 Das hat herausgearbeitet: Gerald Kretschmar, Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation, Göttingen 2007, insb. 332–367. 73 Vgl. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. 172 

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Gewissheiten verlangen lassen. Die Medien können genauso aber auch vielfältige Möglichkeiten einer Anschlusskommunikation eröffnen. Auch darin liegen große Chancen für die Predigt, wenn nur die Predigenden die mediale Kommunikation aufmerksam beobachten, Bücher lesen, ins Kino gehen, Fernsehen und das Internet nutzen. All das ist für Predigende heute unabdingbar. Denn nur wenn sie die Religionshaltigkeit in Literatur und Film und allen anderen zeitgenössischen Medien wahrnehmen, können sie die Geschichten, die dort erzählt werden, in einen aufschlussreichen Kontakt mit den Motiven der biblischen Texte und Erzähltraditionen bringen. Die Medien realisieren eine neue Form der Herstellung öffent­licher religiöser Kommunikation, die nicht mehr an die traditionellen religiösen Institutionen gebunden ist.74 In der Mediengesellschaft sind kirchliche Angebote Teil des weiten, von den Medien dominierten religiösen Marktes. Die Medien spielen generell eine enorme Rolle in der gesellschaft­ lichen Kommunikation, zunehmend aber auch in der religiösen Kommunikation, sowohl im Sinne von »Kommunikation über Religion« wie von »Kommunikation von Religion«. Neuerdings bietet vor allem das Inter­net alle Möglichkeiten, sowohl sich über Religion zu informieren und sich über die verschiedenen religiösen Angebote kundig zu machen wie auch direkt religiös zu kommunizieren, Seelsorgeangebote in Anspruch zu nehmen, an Gottesdiensten teilzunehmen, Predigten zu hören und zu lesen. Hinzu kommt, dass das Internet digital vermittelte Räume religiöser Kommunikation eröffnet, zur Second and Third World Zugang ermöglicht, aber z. B. via Facebook auch neue Formen der Sozialität ausbildet, eine religionsanaloge kulturelle Sinnmaschine darstellt. Die Medien

74 Vgl. Siobhan Chandler, Private Religion in the Public Sphere. Life Spiri­ tuality in Civil Society, in: Stef Aupers and Dick Houtman, Religions of Modernity. Relocating the Sacred to the Self and the Digital, Leiden/Boston 2010, 69–88; Kelly Besecke, Seeing Invisible Religion. Religion as ­Societal Conversation about Transcendent Meaning, in: ibd. 89–115. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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sind in der postmodernen Gesellschaft in erheblichem Maße an die Stelle der traditionellen Religions­anbieter getreten. Die Kirchen versuchen die Medien zwar auch zu nutzen und für die gesellschaftsöffentliche Präsenz des Christentums durch die kirchliche Medienpräsenz zu sorgen. Das muss auch geschehen, gerade weil in der Mediengesellschaft die Zugehörigkeit zur Kirche und die Teilnahme an der Kommunikation des Evangeliums nicht mehr unbedingt mit dem Wunsch nach der Erfahrung sozialer Nähe und der Teilhabe am Leben der »Gemeinde« zusammengeht. Dennoch dürfte der Vorzug kirchlich-religiöser Kommunikation auch in Zukunft darin liegen, dass sie Face-to-Face geschieht und die Chance bietet, Gemeinschaft in leibhafter Kopräsenz mit »befreundeten Seelen« zu erfahren. Dennoch ist klar zu sehen, dass die Medien die so­ziale Nähe immer stärker von der leibhaften Kopräsenz abkoppeln. Ein Gottesdienst, der vom Fernsehen übertragen wird, kann genauso die aktive Teilhabe ermöglichen wie derjenige, zu dem ich selbst hingegangen bin. Auch den Tatbestand, dass die Teilnahme am Abendmahl bei einem Fernsehgottesdienst nur vorstellungspraktisch möglich ist, sollte man nicht allzu schnell zu einem Merkmal unüberwindlicher Differenz zwischen religiöser Kommunikation in medialer Vermittlung und einer solchen in leibhafter Teilhabe machen. Freilich, gerade die Attraktivität der Predigt beruht darauf, dass das Christliche in einem eigenen Wort der Predigenden zur Sprache kommt. Die Subjektivität des Glaubens will durch die Form der erfahrungsbezogenen, persönlichen Ansprache sichtbar werden, so dass die Hörenden merken, dass eine religiös sensible Dimension ihrer Existenz angesprochen ist. Dieser personale Bezug religiöser Rede bekommt zweifellos eine höhere Dichte, wenn er in der leibhaftigen Teilhabe an einer Gottesdienst feiernden und die Predigt erwartenden Gemeinde erlebt wird. In einer Gesellschaft, die mediale Kommunikation allgegenwärtig hat werden lassen, die vor allem mit den Möglichkeiten des Internetpotenzials allen Mediennutzern die Chance der ak­tiven personalen Teilhabe an der medialen Kommunikation 174 

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eröffnet hat, sollte man die leibhafte Kopräsenz auch im Blick auf die Kommunikation religiöser Motive und Deutungsmuster nicht mehr überbewerten. Die Mediengesellschaft führt jedoch zu religiösen Konkurrenzverhältnissen, in denen sich die Kirchen und Gemeinden mit ihren Angeboten profilieren und bewähren müssen. Diese Situation betrifft die Predigt enorm, sowohl was die Plausibilität ihrer religiösen und theologischen Inhalte wie die rhetorisch-ästhetische Qualität ihrer Form als öffentlicher religiöser Rede anbelangt. c. Kulturalisierung und Ästhetisierung der Religion Energisch wahrnehmen müssen Predigende auch die durch die Medien beförderte Verlagerung religiöser Motive und Deutungsmuster in die ästhetische (Pop-)Kultur. Diese Veränderungen der modernen Religionskultur hat man auch unter dem Begriff der Postmoderne zu fassen versucht.75 Gemeint ist die Verabschiedung von den großen Erzählungen, den ideo­ logischen Weltanschauungssystemen, den harten Rationalitäts­ konzepten mit der der Abbau des Geltungsanspruches der objektiven kirchlichen Religion, der kirchlichen Lehre und des kirchlichen Bekenntnisses einhergeht. Die religiösen Sinn­ gehalte liegen nicht mehr allein in der Zuständigkeit der religiösen Institutionen und Gemeinschaften, sondern sind zur Angelegenheit der ästhetisch-expressiven Kultur insgesamt geworden. Das heißt keineswegs, dass sie deshalb lediglich noch als Privatsache anzusehen sind. Im Gegenteil, die ästhetische Kultur, Musik und Kunst, Film und Theater werden zu neuen öffentlichen Erschließungsforen für die Kommunikation der individuellen religiösen Lebensthemen. Im Medium der ästhetischen Kultur wird die Religion von den Menschen gewissermaßen neu entdeckt als Gelegenheit der Selbsterkundung und Selbstfindung, des Identitätsgewinns und der Arbeit am Lebenssinn. 75 Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 14–27. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Dabei ist dann natürlich die Kirche nicht mehr als Instanz der Belehrung über den Glauben und der Verpflichtung auf einen bestimmten Lebensstil gefragt. Die Kirche und ihre Predigt sind vielmehr gefragt als kulturelle Orte, an denen gehaltvolle Anregungen in der Konstruktion des Lebenssinns zu finden sind. Die Predigt wird gehört, wenn sie die biblische Botschaft so zu erschließen weiß, dass sie als Antwort auf die selbst empfundenen Existenzfragen gehört werden kann. Das wiederum bedeutet, dass die Predigt sehr stark ästhetisch wahrgenommen wird. Predigende können kaum auf die Bereitschaft zur Beugung unter einen autoritativen Wahrheitsanspruch rechnen. Sie müssen vielmehr versuchen, die biblische Botschaft den Hörendenden in ihrem lebenssinnproduktiven Gehalt einleuchtend zu machen. Das subjektiv Einleuchtende und aus je eigener Überzeugung Verbindlichkeit Gewinnende rangiert in der (post)modernen Kultur vor der Einordnung in objektiv Vorgegebenes, durch Institutionen Repräsentiertes, vor der Verpflichtung gegenüber traditionellen moralischen Normen.76 Die Popkultur ist zu einem Ort der unabgeschlossenen Selbsterkundung und Selbsterprobung geworden. Sie in­szeniert gerade in den urbanen Räumen eine Vielfalt von Möglichkeiten zu einen intensiveren Erleben des Lebens. Museen und Theater, Kinos, Fußballstadien und Wellnessthermen werden zu Orten einer Erlebniskultur, die auch religiöse Gefühle ansprechen und steigern können. Das alles in großer Offenheit und ohne hierarchische Fügung. Alle kulturellen Sinnangebote sind freigegeben zur individuellen Aneignung, je nachdem, wann es biografisch passt, wie es anspricht und als subjektiv stimmig, hilfreich, lebensdienlich, schön, wohltuend empfunden wird. Das ist nun das große Versprechen der (post-) 76 Vgl. Hans-Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998; ders., Postsäkular: Gesellschaft im Umbruch  – Religion im Wandel, Paderborn 2007; Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M., 2009, 265–284. 176 

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modernen Kultur: Steigerung des Erlebens des Lebens, Erlebnisintensivierung durch symbolische Vergegenwärtigung von neuen und immer wieder anderen Lebenschancen, ohne auf vorgefertigte Antworten und Verbindlichkeiten festgelegt zu sein. Das Religiöse manifestiert sich in der (post)modernen Kultur freilich oft auch nur noch in seinen therapeutischen und ästhetischen Nebenwirkungen. Es hat nicht mehr die Gestalt einer ernsthaften, transzendenzorientierten, auf die Anerkennung des Unbedingten, auf Gott bezogenen Lebensführung. Es gewinnt auch nicht die Form der Bildung einer religiösen Gemeinschaft. Dann drängt sich die Frage auf, ob die Religion als Religion fortbesteht oder ob die religiösen Themen und Symbole lediglich die Garnitur eines im Kern bloß konsumorientierten und sinnlich-ästhetischen Lebensinteresses sind. Das wäre dann aber erst recht die große Herausforderung an die Predigt. Denn ich würde dafür plädieren, das spirituelle Verlangen nach Erfahrungen der Selbsttranszendierung, das sich in der populären Wellness- und Eventkultur zweifellos zeigt, nicht abstrakt zu negieren, sondern mit religiösem Ernst aufzunehmen und in der Konfrontation mit der biblischen und weiteren christlichen Tradition zu einem tieferen Selbstverständnis zu führen und so die Individuen auch im Anschluss an die christliche Tradition religiös sprachfähig werden zu lassen (zuvorderst mit Blick auf das eigene Leben). Die Transformationen der religiösen Kultur prägen sich schließlich ebenso bei den Kirchenmitgliedern aus. Auch in den Kirchen zeigt sich der Trend zu einem expressiven Individualismus, das Verlangen nach dem religiösen Erlebnis, gesteigerter Eventkultur und spiritueller Erfahrung. Dieses Verlangen ist konstruktiv aufzunehmen, nicht zu bekämpfen, sondern mit ästhetisch ansprechenden Gottesdiensten und ansprechenden, Lebenssinn erschließenden Predigten religiös in die Tiefe zu führen.

Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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d. Religion als Kontingenzbewältigungspraxis Die Ästhetisierung und Kulturalisierung der Religion geht durchaus zusammen damit, dass ihre gesellschaftliche Re­ levanz besonders dann sichtbar wird, wenn es im Leben der Einzelnen wie der Gesellschaft sinnverwirrende und irrationale Erfahrungen der Kontingenz des Daseins zu bewältigen gilt.77 Die Kirchen werden mit ihren öffentlichen Stellungnahmen in ihren Gottesdiensten und Predigten gehört, wenn Grundwerte bzw. Grundrechte in die Diskussion geraten, vor allem aber, wenn es zu Einbrüchen des Abgründigen, Un­ geheuren, Absurden in der Gesellschaft kommt. Dann wollen die Fragen aufgeworfen sein, nach dem Warum, nach dem Sinn, nach der Schuld, auch wenn es keine Antwort gibt. Eben dies, dass der Sinn sich entzieht, dass die Frage nach dem Warum offen bleiben muss, dass Schuldzuweisungen jetzt auch nicht weiter helfen, muss ausgesprochen werden. Die Kirche muss in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten die öffentliche religiöse Deutungsaufgabe übernehmen. Sie muss reden, die Sinnfrage stellen, die Sinnabgründe benennen, von Gott als dem Sinn des Sinnes reden, eben weil in dem, was geschehen ist, kein Sinn gefunden werden kann. Wenn die Gesellschaft insgesamt sich in ihrer Daseins­ gewissheit bedroht findet, ist die Kirche als institutionalisierter Ort religiöser Deutungskultur gefordert. Dann sind auch die Medien dabei und es muss solch öffentliche religiöse Rede durch die Bischöfe erfolgen. Öffentlichkeit ist heute immer Medienöffentlichkeit. Die Medien aber verlangen die Repräsentanten der Institution. Sie sollen zeigen, was die Kirche als die religiöse Institution der Gesellschaft in solchen die Gesellschaft erschütternden Erfahrungen sinnverwirrender Kontingenz zu sagen hat.

77 Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 3München 2004. 178 

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2.3 Religion als Deutung religiöser Erfahrung Wer die gelebte Religion in Kirche, Kultur und Gesellschaft wahrnimmt, erfährt, wo und wie sich das Interesse an religiöser Kommunikation zeigt. Rückschlüsse auf die Erwartungen, die die Zeitgenossen mit Gottesdienst und Predigt verbinden, werden möglich. Es können Aussagen darüber gemacht werden, auf welche religiösen Kommunikationsbedürfnisse die Predigt eingehen sollte, wie sie die Hörenden erreichen könnte und worauf sie sie anzusprechen hätte. In einem weiteren religionskulturhermeneutischen Schritt geht es jetzt um das Verstehen des religiösen Verhältnisses am Ort der einzelnen Menschen, um Religion 1, die subjektive Religion, die Religion als individuelles Gefühl einer basalen Bindung. Predigt als religiöse Rede will ja Religion mitteilen und zur Verständigung dessen beitragen, worin die lebensprak­ tische Relevanz des sich an der christlichen Botschaft ausrichtenden religiösen Verhältnisses besteht. Sie will zur Entwicklung der subjektiven Religion der Hörenden beitragen und ihre religiöse Überzeugungsgewissheit stärken. Dazu muss sie das religiöse Bewusstsein am Ort der Hörenden bereits in irgendeiner Form voraussetzen. Auf dieses in Akten religiöser Kommunikation Einfluss nehmen zu wollen, verlangt somit zugleich die Einsicht, dass dies nur als Anstoß zur Steigerung des religiösen (Selbst-) Bewusstseins möglich ist. Nachdem die Hinweise zur Wahrnehmung der Signaturen der objektiven Religion 2, wie sie in Kirche, Kultur und Gesellschaft vorkommen, gegeben wurden, geht es jetzt um ein tieferes Verstehen der subjektiven Religion 1, wobei natürlich der Verweisungszusammenhang von Religion 1 und 2 im Blick bleiben muss. Es gilt jetzt aber darüber nachzudenken, dass der Vollzug des religiösen (Selbst-)Bewusstseins immer einen Vollzug je subjektiver religiöser Selbstdeutung darstellt. Dieser erfolgt mit dem Deutungsmaterial von Religion 2, stellt jedoch zugleich einen unvertretbar eigenen Vollzug des religiösen Subjekts dar. Zumal wir es in der religionskulturellen Situation der Gegenwart Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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mit religiösen Subjekten zu tun haben, die sich selbst zu den religiösen Deutungstraditionen verhalten, diese sich wahlweise aneignen, sie umformen oder auch auf neue religiöse Sinngehalte ausgreifen. Die Predigt als religiöse Rede, die die Hörenden als Subjekte ihres Glaubens ansprechen will, rechnet mit Menschen, die sich selbst als die Akteure im Vollzug ihrer religiösen Selbstdeutung wissen, sich insofern auch immer schon in religiöse Deutungszusammenhänge einbezogen sehen und sich das Recht zuerkennen, über deren Plausibilität und Aneignungstauglichkeit selbst befinden zu können. Das religiöse Verhältnis als spirituelle Sinneinstellung Der Vollzug des religiösen Bewusstseins ist in der Sprache der reformatorischen Theologie der Glaube als vertrauensvolle Gottesbeziehung eines Menschen, Glaube als fiducia oder als die fides qua. Der Glaube wird dabei als Akt menschlicher Selbsttranszendierung auf Gott hin verstanden. Er ist ein Wagnis des Vertrauens. Als solcher wird er unterschieden vom Glauben als notitia oder fides quae, der Anerkennung der biblischen und von den kirchlichen Lehrtraditionen formulierten Glaubensinhalte. Als aktiver Glaubensvollzug hat das religiöse Verhältnis einen anthropologischen Ort. Das religiöse Verhältnis kommt nicht nur vor, wie es von außen betrachtet wird – in Kirche, Gemeinde, Kultur und Gesellschaft, sondern gehört, von innen betrachtet, ins bewusste Selbstverhältnis eines Menschen. Dort bildet es sich. Dort will die religiöse Gewissheit als persönliche Überzeugung immer wieder neu ihres göttlichen Grundes vergewissert und in ihrer Wahrheit, d. h. in ihrem Bezug auf Gottes Wirklichkeit wie in ihren Konsequenzen für die eigene Lebensführung, artikuliert und verstanden werden. Die Hörenden sind als die (autonomen) Subjekte ihres Glaubens und Lebens in diesen Verständigungsprozess über ihr je eigenes religiöses Verhältnis hineinzunehmen. Das ist die Aufgabe der Predigt. Religion ist religiöses Bewusstsein bzw., da dieses auch und gerade als Gottesbewusstsein zugleich ein Selbstbewusst180 

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sein darstellt, religiöses Selbstbewusstsein, wie es Friedrich Schleiermacher auf eine bis heute tragfähige und homiletisch fruchtbare Weise dargelegt hat. Im zeitgenössischen religions­ kulturellen Kontext, wie er im vorangegangenen Abschnitt skizziert worden ist, scheint mir aber auch der Begriff der Spiritualität geeignet, die Religion bzw. das religiöse Verhältnis als ein Moment im Vollzug bewussten Lebens am Ort des einzelnen Menschen zu beschreiben.78 Der Begriff der Spiritualität gilt zwar vielen als diffuser Containerbegriff, in den alle Formen individualistischer Religion, die sich den institutionell geprägten und theologisch verantworteten Formen der Religion nicht zuordnen lassen, hineingeworfen werden können. Außerdem scheint er eine Art postmoderner Religiosität zu spiegeln, die sich unschwer mit dem Vorwurf der Beliebigkeit, des bloßen Egotrips und der illusionären Selbststeigerung belegen lässt. Sowohl die diffuse Verwendung des Begriffs der Spiritualität wie auch ein leichtfertiger und allzu unbedarfter Umgang mit der Religion kommen natürlich vor und für beides muss dann oft genug in der Tat auch der Begriff der Spiritualität herhalten. Dennoch geht dessen Bedeutungsgehalt in solchem Missbrauch nicht auf. In Differenz zum Begriff des Glaubens, im Unterschied aber auch zum Begriff der Religiosität und der Frömmigkeit akzentuiert der Begriff der Spiritualität einen entscheidenden Faktor in den heutigen religionskulturellen Transforma­tionen79 – und dies nicht nur in einem religionssoziologisch relevanten, sondern auch theologisch ernst zu nehmenden Sinn. Er bringt nämlich neben allen Undeutlichkeiten, die mit ihm zweifellos einhergehen, zum Ausdruck, dass das religiöse Verhältnis der Menschen, ihre Glaubensbindung, heute entscheidend 78 Vgl. Wilhelm Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, in: Wilhelm Gräb, Lars Charbonnier, Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 2008, 31–44. 79 Vgl. dazu ausführlich: Wilhelm Gräb, Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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als eine aus Erleben und Deuten sich formende Sinneinstellung verstanden wird. Menschen finden zum Glauben bzw. suchen (vermittels der Predigt) die Stärkung und Erbauung in ihm und können die Predigt als eine Gelegenheit sehen, in eine sie existenziell ansprechende und zugleich Sinn erschließende Deutung christlichen Lebens hineingenommen zu werden. Die Rede vom Glauben als Geschenk spricht zwar den theologisch richtigen Gedanken aus, dass wir Menschen uns im Glauben selbst als Teil der göttlichen Wirklichkeit, auf die wir unser Vertrauen setzen, begreifen. Es muss also auch dieses Vertrauen in Gott gegründet und von ihm in der Kraft seines Geistes hervorgerufen sein. Dennoch ist diese Rede vom Glauben als Geschenk homiletisch wenig hilfreich, weil sie unterschlägt, dass der Glaube (fides qua/fiducia), der ein vertrauensvolles Verhältnis zu Gott ist, welches der Gläubige als Gottes Nähe in seinem Wort und Sakrament erfährt, zugleich sein aktives Selbstverhältnis zu Gott verlangt, in dem dann zugleich dessen Verhältnis zu sich selbst gründet. Der Glaube ist ein aktiver Vollzug der Selbsttranszendierung eines Menschen auf Gott hin, in dem er den Grund seines freien Selbst-Sein-Könnens findet. Im Glauben bin ich es, der sein Vertrauen auf Gott setzt. Dieses aktive Selbstverhältnis eines Menschen zu Gott findet seinen Ausdruck im Gewinn einer vertieften, durch Gott ermöglichten Selbstfindung: Ich weiß mich getragen von Gott, in ihm gegründet. Ein solches Vertrauensverhältnis zu Gott ist als religiöses Abhängigkeitsgefühl ein affektives Erleben, das zugleich verbunden ist mit Deutungen seines religiösen Gehaltes. Diese Deutungen gehen in der Predigt aus der Auslegung der biblischen Texte hervor, zugleich sind sie durch die Fülle biblischer und kirchlicher Glaubensüberlieferungen vermittelt. Die Predigt muss versuchen, den christlichen Glauben zur Sprache zu bringen, indem sie sowohl das affektive religiöse Erleben anspricht als auch dessen religiöse Deutung. Das gelingt, indem sie Erfahrungen der Transzendenz, abgrund­tiefer Bedürftigkeit, unbedingten Angegangenseins, des Glücks und 182 

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der Not artikuliert und in den Sprachtraditionen des christ­ lichen Glaubens zur Deutung bringt. Das christlich bestimmte religiöse Bewusstsein wird sich in einem Menschen nicht entwickeln, wenn er sich nicht in Kommunikations- und Bildungsprozesse hineingenommen findet, in denen er seine religiös relevanten Erfahrungen mit dem Deutungspotenzial des christlichen Glaubens zu deuten lernt. Das religiöse Bewusstsein entwickelt sich, sofern es zum konstitutiven Moment im bewussten Selbstverhältnis eines Menschen wird, immer durch religiöse Ansprache, durch religiöse Sozialisations- und Bildungsprozesse. Diesen korrespondiert auf Seiten des angesprochenen Menschen dessen religiöse Selbstdeutungsaktivität. Ein Mensch kann auf Gott nur sinnvoll angesproEin Mensch kann auf Gott nur sinn­ voll angesprochen werden, wenn chen werden, wenn sich ihm sich ihm das Wort »Gott« als Sym­ das Wort »Gott« als Symbol bol bzw. als Deutewort in der Benen­ bzw. als Deutewort in der Benung der ihn gründenden, transzen­ denten Wirklichkeit erschließt. Das nennung der ihn gründenden, Sich-Beziehen auf Gott als den transzendenten Wirklichkeit transzendenten Grund des eige­ erschließt. Das Sich-Beziehen nen Daseins ist schließlich genau die Deutung des eigenen Daseins auf Gott als den transzendenals eines solchen, das seine Daseins­ ten Grund des eigenen Dagewissheit in Gott findet. seins ist schließlich genau die Deutung des eigenen Daseins als eines solchen, das seine Daseinsgewissheit in Gott findet. Wer Gott glaubt, bezieht ihn sinngrundierend in seine Lebens­ führung ein. Die religionskulturelle Resonanz, die die Rede von Spiritualität heute findet, spiegelt dieses Verständnis der subjektiven Religion 1 als Akt einer auf den transzendenten Grund des eigenen Daseins ausgreifenden Selbstdeutung wider.80 Das Konzept der Spiritualität kann sich daher als leistungsfähig für eine zeitgenössische Kommunikation des Glaubens, wie 80 Vgl. Paul Zulehner (Hg.), Spiritualität  – mehr als ein Megatrend, Ost­ fildern 2004. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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sie die Predigt zu leisten hat, erweisen. Denn es hält einerseits den Traditionsbezug des religiösen Verhältnisses fest und trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass die Entwicklung der subjektiven Religion 1 die deutungspraktischen Vermittlungszusammenhänge der objektiven Religion 2, also konkret die religiöse Ansprache und Bildung braucht. Es billigt andererseits dem einzelnen Menschen zu, ja, erwartet von ihm, dass er seinen Glauben auf seine eigene Weise findet und entwickelt. Die Verständigung über den je eigenen Glauben, die die Predigt er­ reichen möchte, wartet dann auf die freie Einstimmung der Hörenden. Dass in das Spiritualitätskonzept eine treffliche Auffassung von der Entstehung, Bildung und Festigung des Glaubens eingeht, tritt aber nicht nur in Bezug auf die moderne Religions­kultur hervor. Die homiletische Brauchbarkeit des Spiritualitätskonzepts wird vielmehr bereits in dessen Tradition erkennbar, sowohl dann, wenn man sich der romanischen, wie auch, wenn man sich der angelsächsischen Traditionslinie anschließt.81 In der romanischen Tradition gehört spiritualité in den Bedeutungshorizont der katholischen Ordenstheologie und meint dabei ein bewusst geführtes und in seinen Formen traditionell geprägtes religiös-geistliches Leben. In der angelsächsischen Traditionslinie steht spirituality für die unmittelbar-persönliche Erfahrung von Transzendenz und damit für die Verinnerlichung der Religion. Im Verständnis von spirituality schwingt stärker mit, dass es sich beim religiösen Glauben um eine in der humanen Subjektivität verankerte, anthropologische Dimension der Beziehung zu einer transzendenten, geistigen Wirklichkeit handelt. Der Akzent liegt darauf, dass das Verhältnis eines Menschen zur Transzendenz als eine Aktivität seines Bewusstseins erscheint. Die romanische 81 Zur Begriffsgeschichte vgl.: Christoph Benke, Was ist (christliche)  Spiritualität? Begriffsdefinitionen und theoretische Grundlagen, in: Paul Zulehner (Hg.) Spiritualität – mehr als ein Megatrend, Ostfildern 2004, ­29–43; Ulrich Köpf, Art. Spiritualität II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, Bd. 7 (2004), 1591–1593. 184 

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Tradition der spiritualité hebt demgegenüber darauf ab, dass der Glaube, so sehr er eine Aktivität des religiösen Subjekts darstellt, doch immer auch auf Traditionen, auf Glaubensüberlieferungen, auf Gemeinschaftsbindungen, auf Glaubenskommunikation, auf Symbole und Rituale, auf Predigt und Liturgie angewiesen ist. Mit Spiritualität muss jedenfalls überhaupt nicht ein ignoranter und asozialer Egotrip gemeint sein. Von Spiritualität wird heute vielmehr zu Recht und auf theologisch höchst relevante Weise gerade dann geredet, wenn es darum geht, ein ebenso realistisches, transzendenz- wie innerlichkeitsbewusstes Verständnis vom christlichen Glauben zu gewinnen. Im Begriff der Spiritualität ist festgehalten, dass zum intentionalen Gegenstand des christlichen Glaubens, zu dem in Christus offenbaren Gott also, auf den der Glaube sich richtet, eine spezifische Lebenshaltung und Sinneinstellung gehört. Der Gegenstand des Glaubens weist zugleich in eine bestimmte Lebenspraxis ein, eben diejenige Lebenspraxis, durch die der Mensch sich zu seinen Transzendenzerfahrungen bewusst verhält bzw. seine Angewiesenheit auf Gott bekennt. Wer glaubt, verlässt sich nicht mehr allein auf sich, sondern gründet sein Leben im Unbedingten. So macht die Aufnahme des Spiritualitätskonzepts eine Rede vom Glauben möglich, die zugleich eine bestimmte Einstellung zum Leben impliziert. Der Glaube wird in seiner Zugehörigkeit zum menschlichen Selbstverhältnis beschreibbar. Es kann verstanden werden, dass mit ihm ein sich in Freiheit einstellendes, durch ermu­tigende Ansprache gewecktes und immer wieder bestärktes Vertrauensverhältnis zu Gott gemeint ist. Diese zum Glauben ermutigende Ansprache hat die Predigt zu leisten. Natürlich findet in zunehmend pluralen religionskulturel­ len Verhältnissen auch eine auf Glaubensgehorsam ausgehende, autoritätsfixierte Glaubensrede ihre Klientel. Besonders freikirchliche Gemeinden, aber bei Weitem nicht nur sie, sind mit einer Glaubensrede erfolgreich, die den Glauben als Beugung unter Gottes Gehorsamsgebot predigt, die Verletzung Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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von Gottes Gebot als Sünde brandmarkt und die Angewiesenheit auf Gottes Gnade zur Vermeidung zukünftiger, gött­licher Sündenstrafen einschärft. Der Erfolg dieser Glaubensrede erklärt sich jedoch ebenfalls dadurch, dass er auf effektvolle Weise dem modernen Lebensgefühl, eben im Setzen des Kon­ trapunktes, korrespondiert. Nicht wenige kommen mit den modernen Spielräumen individueller Glaubensfreiheit nicht zurecht und sehnen sich nach einer Welt, in der nicht alles erlaubt ist und verbindlich vorgegebene Normen gelten. Auch die autoritätsfixierte Glaubensgehorsamsrede folgt bei Lichte besehen dem Spiritualitätskonzept, da der religionskulturelle Pluralismus Verbindlichkeiten nur noch im Modus einer um die Alternative wissenden Selbstfestlegung möglich macht. Es gehört zu den Signatu­ren Es gehört zu den Signaturen der der Moderne, dass sie antimoModerne, dass sie anti­moderne Be­ derne Bewegungen hervorruft. wegungen hervorruft. Zu diesen Zu diesen Phänomenen einer Phänomenen einer antimodernen Moderne gehört eine mit absolu­ antimodernen Moderne gehört ten, normativen göttlichen Vorgaben eine mit absoluten, normatioperierende Glaubensgehorsams­ ven göttlichen Vorgaben operede. Sie korrespondiert jenen Spiel­ arten des modernen Lebensgefühls, rierende Glaubensgehorsams­ wonach man sich den »riskanten rede. Sie korrespondiert jenen Freiheiten«, die die moderne Kultur Spielarten des modernen Leermöglicht, zu entziehen versucht. bensgefühls, wonach man sich den »riskanten Freiheiten«82, die die moderne Kultur ermöglicht, zu entziehen versucht. Erfahrungen der Überforderung, der Desorientierung, des viel beklagten Werterelativismus kommen hinzu. Auch die autoritätsfixierte und sich unbefangen der traditio­ nellen Glaubenssprache bedienende Glaubensrede bewegt sich auf der Linie des Spiritualitätskonzeptes. Sie intendiert eine Mitteilung des Glaubens, die ihn gewissermaßen zum »human capital« werden lässt, zu einer Macht der Stärkung der je eige82 Vgl. Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994. 186 

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nen Lebensgewissheit, wie sie aus der rituell bekräftigten Zu­ gehörigkeit zu einer im gemeinsamen Glauben verbundenen Gemeinschaft erwächst. Gleichwohl wird man ihr die Kritik eines »performativen Selbstwiderspruchs« nicht ersparen können. Denn diese vor allem im evangelikalen Spektrum des Protestantismus prak­ tizierte, autoritätsfixierte Glaubensrede bewirkt etwas anderes, als sie intendiert. Sie befähigt nämlich nicht zur verantwort­ lichen Übernahme der riskanten Freiheiten der Moderne, sondern treibt in die Flucht vor ihnen, indem sie zum Rückzug auf vermeintlich gottgegebene, absolute Gültigkeit behauptende Wertbindungen und zur Pflege der Verbindlichkeit mehr oder weniger geschlossener Gemeinschaftskreise auffordert.83 Will die Predigt diesen »performativen Selbstwiderspruch« vermeiden, dann muss sie sich um eine Glaubensrede bemühen, die den Glauben als den Lebensakt einer spirituellen Sinneinstellung verständlich macht. Dann weiß sie, dass die Rede von Gott als Grund und Gegenstand des Glaubens ebenso das menschliche Bewusstsein der Angewiesenheit auf einen transzen­denten Grund voraussetzt, wie es diesem zugleich dasjenige zukommen lässt, worauf es sich letztlich angewiesen sieht. Die Predigt wird daher alles, was sie über den Gegenstand des Glaubens sagt, immer auch in die Rede von einer bestimmten religiös-spirituellen Lebenshaltung überführen, in die derjenige findet, der glaubt, bzw. auf Gott sein Vertrauen setzt. Diese Glaubensrede wirkt, indem sie auf die freie Einsicht in die Lebensdienlichkeit des Lebensvollzuges setzt, den der Glaube bedeutet und in dem zugleich mitgegeben ist, worauf 83 Das erklärt freilich noch nicht den Erfolg vieler charismatisch-pentekostaler Glaubensgrößen. Deren autoritätsfixierte Rede unterscheidet sich zumeist auch deutlich in Semantik und Rhetorik von den oben angesprochenen evangelikalen Freikirchen. Um ihre Predigt und Gottesdienst­ praxis zu beschreiben, wäre darauf einzugehen, dass sie es verstehen, auf die Performanz des religiösen Gefühlserlebens zu setzen und diese effektvoll zu inszenieren. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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der Glaube sich richtet und was er erwartet. Die Predigt, die zu solcher, eine spirituelle Lebenshaltung erzeugenden Glaubensrede wird, baut in den sie Hörenden die eigenen Einsicht auf in das, was Menschen eine unbedingt sich gegründet wissende Daseinsgewissheit ermöglicht. Predigt als christliche Glaubensrede kann deutlich machen, was es heißt, dass Menschen sich im Vertrauen auf Gott zu den ebenso ungeheuren wie auch beglückenden, der eigenen Handlungsmacht prinzipiell entzogenen Grundtatbeständen des Lebens verhalten können. Wer auf Gott vertraut, so ihre Botschaft, lässt Gott den unbegreiflichen Sinn des Ganzen sein, indem er sich selbst in unbedingter Abhängigkeit von ihm weiß. Wo Menschen den Umweg über Gott nehmen, um sich zum Sinn des Ganzen ihres Lebens und des menschlichen Daseins in dieser Welt insgesamt zu verhalten, entlasten sie sich insofern davon, selbst für diesen Sinn einstehen zu müssen oder andere (möglicherweise sogar gegen deren Willen) mit ihm beglücken zu wollen. Auch wenn aus dem Vertrauen auf Gott keine direkten Antworten auf die existenziell relevanten Sinnfragen erwachsen, ermöglichst es doch gerade eben eine solche Lebenshaltung, in der ein Mensch die Sicherung seines Daseins nicht aus und durch sich selbst, durch die eigene Leistung und Anstrengung, erwartet. Es ist eine Lebenshaltung, zu der entscheidend Dankbarkeit und Demut gehören. In dieser Lebenshaltung können wir zugestehen, dass wir Menschen weder für uns selbst noch füreinander alles und das Ganze sein müssen. Wer Gott glaubt, kann vor ideologischer Selbstüberheblichkeit, die die Welt als Ganze gleichsam aus einem Prinzip erklären und die Zwecke des eigenen Lebens aus ihm ableiten möchte, bewahrt bleiben. Die in Gott gegründete Daseinsgewissheit erklärt nicht die Welt, aber sie führt in eine Lebenshaltung, aus der sowohl Selbstzurücknahme wie Lebenszuversicht erwachsen, sie führt zum »Mut zum Sein« (Tillich). Wer an Gott glaubt, überlässt die Antwort auf die letzten Fragen ihm, von dem das »Evangelium« sagt, dass er es gut mit uns meint. Wir haben keine Beweise, dass das Evan188 

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gelium, die Botschaft von Gott, die Jesus gepredigt und gelebt hat, recht hat. Wer jedoch dem Gott des Evangeliums vertrauen kann, der merkt, dass das in diesem Gott begründete SinnWer jedoch dem Gott des Evangeli­ ums vertrauen kann, der merkt, dass vertrauen eine nie versiegende das in diesem Gott begründete Sinn­ Kraft zur Bewältigung eines vertrauen eine nie versiegende Kraft Lebens in riskanter Freiheit zur Bewältigung eines Lebens in ris­ kanter Freiheit ermöglicht. ermöglicht. Die Predigt zwischen Erleben und Deuten Das Konzept der Spiritualität als religiösen, auf Gott sein Vertrauen setzenden, gläubigen Lebensvollzug, führt zu einer Predigt, die sowohl emotional affektiv anspricht wie gedanklich-reflexiv bestimmt ist. Das ist eine Predigt, die ein affektiv religiöses Erleben zu wecken und in dessen sprachliche Deutung zu finden versucht. Der Glaube als Daseinsgewissheit formierender Lebensakt soll sich durch diese Predigt bilden können, ein Glaube, in dem körperlich-sinnliche, emotionalgefühlsbezogene und geistig-vernünftige Dimensionen zusammenspielen. In diesem Glauben, so kann dann auch gesagt werden, finden wir zur Ganzheit unseres leiblich-seelischen und geistigen Daseins. Wir können diese Ganzheit unseres Daseins nie gegenständlich vor uns bringen. Deshalb aber werden wir durch die Glaubensrede der Predigt gerade aus der Zentrierung auf das eigene Ich herausbewegt und auf das größere, letztlich unbegreifliche Ganze, auf Gott hin ausgerichtet. Das Spiritualitätskonzept jedenfalls ist bereits eng mit einem Verständnis des Glaubens verbunden, das diesen als einen Lebensakt ausweist, in dem Gott als Grund des Daseinsvertrauens mitgesetzt ist. Die Predigt, die auf die Mitteilung des so verstandenen Glaubens zielt, versucht deshalb, die Hörenden gerade auch affektiv-emotional anzusprechen und auf der Ebene des Gefühls zu erreichen. Das spezifisch Religiöse, erst recht das Christlich-Religiöse liegt freilich immer erst in der Deutung des Erlebens, wie sie die Predigt mit biblischen Texten, ihren Erzählungen und Symbolen unternimmt. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Diese sollen die Hörenden sich mit Bezug auf ihre eigenen lebensgeschichtlichen Sinn- und Orientierungsbedürfnisse hin aneignen können. Genau dann, wenn es der Predigt gelingt, je eigenes religiöses Erleben in der Auslegung biblischer Texte in eine selbstevidente Deutung zu heben, wird die Predigt zu einem entscheidenden Akt in der Kommunikation des Glaubens. Dann wirkt sie maßgeblich mit an der Entstehung und Erhaltung eines Glaubens der eben selbst ein Ensemble von emotionalen und mentalen Lebensvollzügen, -haltungen und -einstellungen darstellt, die von einem Individuum unmittelbar auch als die eigenen erlebt werden. Dem Glauben ist dieser unmittelbare Selbstbezug konstitutiv eigen, weshalb er nie ohne Selbstbewusstsein ist. An diesem ist sodann mit Friedrich Schleiermacher ein sinnliches von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Das sinnliche Selbstbewusstsein ist durch sinn­ liche Wahrnehmungen, auch diejenigen, die wir an uns selbst machen, vermittelt. Das unmittelbare Selbstbewusstsein wird hingegen deshalb unmittelbar genannt, weil es mentale Zustände meint, von denen wir erfahren, ohne dass wir auf unsere äußeren Sinne oder gar auf logische Schlussfolgerungen angewiesen wären. Im unmittelbaren Selbstbewusstsein sind wir uns  – gefühlsbasiert  – bestimmter geistiger Zustände, Überzeugungen, Wünsche, Ängste unmittelbar bewusst.84 Obwohl die Unmittelbarkeit dieses Bewusstseins impliziert, dass keine Reflexionsanstrengungen darin eingehen, könnte doch von einem Selbst-Bewusstsein im inneren Erleben des Individuums wiederum nicht die Rede sein, wäre dieses rezeptive Erleben nicht bereits mit Deutungsoperationen, Reflexionsleistungen und auch traditionellen Glaubenssprachen verbunden. 84 Vgl. Wilhelm Gräb, Religion als humane Selbstdeutungskultur. Schleier­ machers Konzeption einer modernen Glaubenslehre und Glaubenspredigt, in: Wilhelm Gräb, Notger Slenczka, Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011, 241–256. 190 

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Das religiöse Gefühlsbewusstsein rechtfertigungstheologisch zur Sprache bringen Wer durch die Predigt bzw. die Glaubensrede im weiteren Sinn zum christlichen Glauben findet, bildet eine in Gott gründende Daseinsgewissheit aus. Das ist eine Einstellung zum Leben, eine Lebensdeutung, die eine bestimmte Lebenshaltung einschließt. Was in der Predigt von den Inhalten des Glaubens gesagt wird, muss diese deshalb in die Rede von einer Lebenshaltung überführen, die diesen Inhalten entspricht. Die reformatorische Rechtfertigungslehre hat diese Übersetzung der Rede von Gott in Christus in eine die Daseinsgewissheit absolut fundierende Existenzdeutung exemplarisch vollzogen. An ihr kann sich auch heutige Glaubensrede immer noch orientieren. Bringt die an der Rechtfertigungsbotschaft orientierte Glaubensrede die christliche Lebensdeutung zur Sprache, dann macht sie fähig anzuerkennen, dass wir im selbstbestimmten Handeln von Handlungsbedingungen abhängig sind, die sich menschlicher Selbstbestimmungsmacht entziehen und die doch für den Bestand des Daseins und den Erfolg unserer Handlungsabsichten einstehen. In eine solche Existenzdeutung übersetzt die Glaubensrede die Botschaft von Gott dem Schöpfer, den Jesus Christus zugleich als den bekannt gemacht hat, der den in sündhafter Verlorenheit ihm und sich selbst entfremdeten Menschen bedingungslos rechtfertigt und in der Anerkennung seiner Freiheit auf die künftige Vollendung in Gottes Reich ausrichtet. Die positivistische Auffassung von der Religion mutet dieser, z. B. mit ihrer Schöpfungslehre, kausale Welterklärungsaufgaben zu. Sie sollte über die Entstehung des Universums und den Gang der Geschichte im Rekurs auf ein extramundanes göttliches Handlungssubjekt Auskunft geben. Doch das gehört in die Geschichte des ontologischen Dualismus und der Substanzmetaphysik. Selbstverständlich kommt auch diese, mit zwei Welten rechnende, Gott objektivierende religiöse Auffassung im religiösen Feld immer noch vor. Religionssoziologisch und entwicklungspsychologisch können dafür viele Beispiele Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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beigebracht werden.85 Dennoch darf der Glaube in Gestalt der spirituellen Lebenseinstellung auf solche, bestimmten Weltbildern zugehörige Vorstellungsgehalte nicht festgelegt werden. Von den Inhalten des christlichen Glaubens redet die Glaubensrede der Predigt vielmehr durchgängig so, dass die religiöse Lebensdeutung zur Sprache kommt, die ihnen entspricht. Predigende, das ist das homiletisch Entscheidende, wissen, dass wir uns mit der Glaubensrede auf der Ebene von Erfahrungsdeutungen bewegen, die an die spirituelle Sinneinstellung gebunden sind, sie voraussetzen und zugleich neu begründen. Als spirituelle Sinneinstellung führt uns der Glaube nicht in den Kampf gegen die Objektivitäts- und sachlichen Erklärungsansprüche der Wissenschaft. Unsere Glaubensaussagen stellen keine Kausalitätsverhältnisse her und geben Unsere Glaubensaussagen stellen keine Kausalitätsverhältnisse her keinerlei objektiv sachhaltige und geben keinerlei objektiv sach­ Auskunft über die Entstehung haltige Auskunft über die Entste­ des Universums, den Lauf der hung des Universums, den Lauf der Geschichte oder das Ende der Welt. Geschichte oder das Ende der Der Glaube redet freilich auch nicht Welt. Der Glaube redet freivom biologischen Organismus oder lich auch nicht vom biologivon neuronalen Prozessen. schen Organismus oder von neuronalen Prozessen. Wie in den Beschreibungen des Lebens in der Literatur, in der darstellenden Kunst, in philosophischen und theologischen Texten ist es auch in der religiösen Rede so, dass dort in einer metaphorischen und symbolischen Sprache vom Leben gesprochen wird. Es spielen ganz andere Probleme eine Rolle und es treten andere Fragen hervor als in der wissenschaftlichen Welterklärung. Sie betreffen nicht das Funktionieren eines Organismus, sondern es geht um Menschen, die über emotionale, mentale und voluntative Zustände verfügen, 85 Zu den religionspsychologischen Theorien individueller religiöser Entwicklung vgl. Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, 7. Aufl. Gütersloh 2001. 192 

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die sich als Individuen verstehen, sich von anderen Individuen abgrenzen, sich in eine Gemeinschaft von Individuen einfügen und nach dem Sinn des Ganzen ihres Lebens fragen. Aber nur in diesen anderen als den biologischen und psychophysischen Ordnungen des Lebens, wie sie in den Erzählungen und Symbolsprachen der Religion, aber auch in der Literatur und der darstellenden Kunst, schließlich in der Predigt als religiöser Rede entwickelt werden, tritt der Mensch als ein solches Lebewesen hervor, das nach sich selbst fragt und den Sinn seines Daseins sucht. In der religiösen Symbolsprache der Bibel haben sich die Lebensdeutungen artikuliert, mit denen die Menschen Antwort auf die letzten Fragen nach dem Warum allen Lebens und des eigenen Daseins, nach seinem Sinn und Zweck, nach Gut und Böse, nach Zufall, Schicksal oder göttlicher Fügung suchen. Der rationale Gehalt religiöser Symbolsprache liegt bei aller Vieldeutigkeit, die dieser Sprache eigentümlich ist, auch heute noch darin, dass sie einen in dichten Vorstellungen und starken Wertungen lebendigen Umgang mit den existenziellen Sinn- und Orientierungsfragen eröffnet: Was heißt es für mich, ein Mensch zu sein? Wie erlebe ich mich als Individuum? Und dann eben auch: Welchen Sinn hat mein Leben für mich? Wie verhalte und äußere ich mich, um mich von anderen Individuen abzugrenzen oder mit ihnen in Verbindung zu treten? Was ist mir wirklich wichtig, wofür setze ich mich ein? Diese Fragen nach personaler Identität, nach integralen Lebenszusammenhängen und einer zielorientierenden Bestimmung des eigenen Daseins lassen sich alle auch nicht-religiös aufnehmen, aber dann doch nur um den Preis der Gefühlsamputation, der Sistierung einer aufs Ganze gehenden Deutung des eigenen Lebens und damit auch des Verlusts einer gründenden Daseinssinngewissheit. Nur in religiöser Rede greifen wir auf letzte, nicht zu vergegenständlichende, allein dem Glauben zugängliche Sinnzusammenhänge aus. Um für diese transzendierenden Sinnzusammenhänge kommunizierbare Vorstellungen und Sprache gewinnen zu können, brauReligion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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chen wir zugleich die Welt der fiktionalen Erzählungen und mythischen Bilder, die Parabeln, die Beispiel- und Gleichnis­ geschichten der Bibel, die Metaphern und Symbole, die die Überlieferungen des Glaubens geschaffen haben. Allerdings sind unter modernen Kulturverhältnissen die institutionell getragenen und von Religionsexperten gepflegten religiösen Erzähltraditionen und Symbolsysteme vielfach depotenziert und fragmentiert. Sie finden sich Marktverhältnissen ausgesetzt und stehen in Konkurrenz zu den Sinnangeboten einer weit ausdifferenzierten medienästhetischen Kultur. Auch daraus erwachsen der Predigt als religiöser Rede heute entscheidende Herausforderungen. Wo es gelingt, den Glauben als eine im absoluten Sinn vergewissernde Lebenshaltung zu kommunizieren, wird die Predigt mit Hilfe der Bibel jedoch immer eine Sprache finden, die sich in der modernen Medienkultur eine Gemeinde von Hörenden schafft.

2.4 Gott und die Sinnfragen des Lebens Der letzte Schritt im Verstehen der gelebten Religion führt dahin, sich darüber klar zu werden, dass es heute die lebens­ geschichtlichen Sinnfragen sind, an denen die Predigt anknüpfen und auf die sie sich mit ihrer hörerbezogenen Auslegung der biblischen Texte beziehen kann. Nach wie vor scheint mir die Leitfrage des liberalen Praktischen Theologen Friedrich Niebergall, »Was hat die Predigt dem modernen Menschen zu sagen?«,86 eine homiletisch zentrale Frage zu sein. Auch wenn es natürlich den modernen Menschen so nicht gibt, ist mit der »Moderne« doch immer noch diese homiletisch herausfordernde religionskulturelle Situa­tion verbunden, in der es keineswegs klar ist, dass

86 Vgl. Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Tübingen 1905. 194 

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eine Predigt als religiöse Rede von etwas spricht, das potenziell alle Menschen angeht und sie interessieren könnte. Die religiöse Rede muss daher versuchen, die Hörenden auf Erfahrungen anzusprechen, die ihnen selbst für die religiöse Dimension offen sind bzw. von ihnen in dieser Offenheit erkannt werden können. Welche Erfahrungen sind das heute? Es sind heute in erster Linie Erfahrungen, in denen der Sinn des Lebens in Frage gerät, wo es um das Woher und Wohin des seiner Endlichkeit bewussten Daseins geht. Wie finde ich zu mir selbst, wie finden wir zueinander, wie kann unser gemeinsames Leben in dieser Welt gelingen? Das sind die religiös bewegenden Fragen. Es sind die Sinnerfahrungen und die darin aufbrechenden Sinnfragen, die in die religiöse Kommunikation drängen und von der Predigt aufgenommen sein wollen. Wer predigt, muss Sinnerfahrungen religiös zu deuten wissen und Sinnfragen als die heute zentralen religiösen Fragen verstehen. Die moderne Frage nach dem Sinn Vermutlich hat Friedrich Nietzsche (1844–1900) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Erster wörtlich die Formel »Sinn des Lebens« gebraucht.87 In einem Fragment aus dem Jahre 1875, das erst aus dem Nachlass bekannt wurde,88 preist 87 Vgl. Jean Grondin, Vom Sinn des Lebens, Göttingen 2006, 19–21, der sich dort wiederum auf Volker Gerhardt bezieht, der der Begriffsgeschichte der Rede vom »Sinn des Lebens« nachgegangen ist: Vgl. Volker Gerhardt, Sinn des Lebens, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  9, Darmstadt 1995, 815–824. hier: 817. V. Gerhardt verweist in diesem Artikel auch darauf, dass sich zwar nicht die Formel von »Sinn des Lebens«, sehr wohl aber die mit ihr verwandte Formel vom »Wert des Lebens« terminologisch verselbständigt erstmals bei F. D. E. Schleiermacher findet. Der junge Schleiermacher hat 1792 eine (postum veröffentlichte) Schrift unter diesem Titel verfasst und dabei deutlich gemacht, dass die Frage nach dem »Wert des Lebens« eine solche ist, die sich in der praktischen Lebensführung stellt und die eigene Stellungnahme des Menschen zu dem, was seinem Leben Inhalt und Bedeutung gibt, einfordert. A. a. O. 815. 88 Vgl. Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe, hg. Von ­Georgio Colli und Mazzino Montinari, Bd.  IV, 1, nachgelassene Fragmente (1875,  3), Berlin 1967, 107 f. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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der junge Nietzsche drei Lebensformen, die des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen, weil allein sie ein an idealen Zielen orientiertes Leben möglich machen. Wer sich an Zielen orientiert, dem füllt sich sein Leben mit Inhalt. Es geschieht ihm allerdings auch, was Nietzsche ebenfalls betont, dass er in Verfolgung seiner Ziele immer wieder an der Wirklichkeit scheitert. Philosophen, Künstler und Heilige haben aber zumindest die Chance, ihrem Leben Bedeutung zu verschaffen. Denn sie führen es in einer bewussten Richtung. Sie gestalten ihr Leben, machen es unter Umständen sogar zu einem Kunstwerk. Das Leben, will Nietzsche sagen, gewinnt dann einen Sinn, wenn ein Mensch sich nicht einfach nur treiben lässt, sondern sich an Grundsätzen und Zielen ausrichtet. Dann gewinnt das Leben nicht nur eine bestimmte Form, sondern inhaltliches Gewicht. Es mag verwunderlich erscheinen, dass Nietzsche neben dem Philosophen und dem Künstler auch den Heiligen als einen solchen nennt, dessen Leben sich mit Sinn füllen kann. Denn Nietzsche war bekanntlich zugleich derjenige, der als einer der Ersten vom Tode Gottes sprach. In seiner Rede vom Sinn des Lebens kann aber auch ein Hinweis darauf erkannt werden, dass sich im modernen Lebenszusammenhang eben in der Sinnfrage zugleich die Frage nach Gott neu stellt. Die Tatsache, dass der früheste literarische Beleg für die Formel »Sinn des Lebens« sich bei Friedrich Nietzsche findet, macht jedenfalls darauf aufmerksam, dass das Aufkommen der Sinnfrage mit der modernen Gotteskrise im Zusammenhang steht, sie dort naheliegt, wo traditionelle Symbolsysteme, religiöse Bindungen und moralische Ordnungen brüchig geworden sind. Die Frage nach dem Sinn im Leben und erst recht die Frage nach dem Sinn des Lebens sind moderne Fragen. Sie stellen sich als lebensführungspraktische Orientierungsfragen explizit dort, wo sich der Horizont der Ewigkeit verdunkelt, wo die großen Zusammenhänge, in die wir unser endliches Leben einbezogen wissen können, unkenntlich werden. Was bleibt? Wohin führt das Ganze? Hat mein Leben überhaupt eine Rich196 

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tung? Was ist sein Ziel? Endet es im Nichts? Ist schließlich nicht alles vergeblich gewesen? Diese Sinnfragen entstehen, wenn die selbstverständlichen Vorgaben geprägter religiöser Traditionen verloren gehen, wenn familiäre Bindungen zerbrechen, wenn bergende Gemeinschaften sich auflösen, wenn auch die überkommenen Antworten der kirchlichen Verkündigung nicht mehr überzeugen? Wonach aber suchen Menschen, wenn sie nach dem Sinn des Lebens suchen? Wenn etwas für mich Sinn hat oder etwas, wie wir in Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch sagen, Sinn macht, dann eben hat es für mich Bedeutung, dann bin ich mir seines Wertes bewusst. Die Bedeutung bzw. den Wert von etwas wiederum erkenne ich aus dem Zusammenhang, in dem es steht. Das ist bei Wörtern oder Sätzen so. Ich verstehe ihre Bedeutung nur, wenn ich sie in ihrem weiteren Zusammenhang erfasse. So ist es mit dem Sinn überhaupt, auch mit dem Sinn, den ich im Leben finde und den mein Leben hat. Er kommt mir aus den sozialen Zusammenhängen, in denen ich mich bewege, entgegen. Er hängt von den Zielen ab, für die ich mich engagiere. Ich finde den Lebenssinn in der Familie, im Kreis der Freunde, in der Arbeit, im Beruf, in Aufgaben, die mir wichtig sind. In diesen sozialen Zusammenhängen gewinnt mein Leben einen Inhalt. Mein Leben ist ausgefüllt. Dann frage ich gar nicht nach seinem Sinn. Ich erfahre ihn. Ich bin mir dieses Sinns unmittelbar gewiss. Eine unmittelbare Sinnerfahrung ist im Grunde immer religiös grundiert. Wo sie artikuliert wird, sprechen wir von unbedingter Daseinsgewissheit oder auch von dem Gefühl unbedingten Gegründet- und Getragen-Seins. Dennoch, die Erfahrung von Sinn hat viele Dimensionen.89 Es ist durchaus missverständlich, wenn gesagt wird, dass erst 89 Sie sind differenziert herausgearbeitet bei Lars Charbonnier: Religion im Alter. Eine empirische Studie zur Erforschung religiöser Kommunikation, Berlin/Boston 2013; vgl. außerdem Wilhelm Schmid, Glück, Frankfurt a. M. u. Leipzig 2007, 48–80; Terry Eagleton, Der Sinn des Lebens, Berlin 2008, 40 f. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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die Religion den Sinn des Lebens zu stiften vermag. Das ist zwar nicht falsch, da nur dann, wenn das Leben in seiner Ganzheit einen Sinn hat, dieses Leben auch in einzelnen und begrenzten Beziehungserfahrungen als sinnvoll erlebt werden kann. Aber die verschiedenen Beanspruchungen unseres leiblich-seelischen Daseins ziehen uns auch in verschiedene Sinn­ erfahrungen. Sie sollen gleich noch etwas näher beschrieben werden. Zuvor ist noch kurz auf den Einwand einzugehen, dass ins Zentrum des christlichen Glaubens die Heilserfahrung in dem Gott Jesu und entsprechend die Frage nach dem Gott, der dem Sünder gnädig ist, gehört, nicht aber Sinnerfahrungen und Sinnfragen. Diesem Einwand ist zugegeben, dass die Sinnthematik direkt nicht biblisch ist. Aber deshalb haben wir hier auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie unter den religionskulturellen Kommunikationsbedingungen der Moderne ins Zentrum der homiletischen Aufmerksamkeit rückt.90 Das muss aber keineswegs bedeuten, dass die biblische Botschaft nicht auf dem Hintergrund der modernen Sinnerfahrungen und Sinnfragen reformuliert werden könnte. Das genau ist vielmehr die Aufgabe der religionshermeneutischen Interpretationen der biblischen Texte wie sie auf dem Weg zur Predigt zu leisten ist. Um ein Beispiel zu nennen: »Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?« (Mk 10,17) Das war die Lebensfrage des reichen Mannes, der sich damit an Jesus wandte. Jesus verwies diesen jungen Mann darauf, dass er die Gebote Gottes halten solle. Das habe ich getan, war seine Antwort. Daraufhin entgegnete ihm Jesus, dass er alle seine Habe verkaufen solle, um sie den Armen zu geben. Dann habe er einen Schatz im Himmel und dann sei er auch frei, ihm, Jesus, nachzufolgen. Wir wissen, dass der reiche Jüngling sich darauf 90 Das hat auffälliger Weise auch Helmut Gollwitzer in seinem leider fast vergessenen Buch gesehen: Krummes Holz – Aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, 5. Aufl., München 1972. 198 

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nicht eingelassen hat. Traurig über die Antwort wandte er sich von Jesus ab und ging davon. Wir Heutigen können in der Lebensfrage des reichen Jünglings auch die moderne Frage nach dem Sinn des Lebens erkennen. Und die Antwort Jesu? Liegt sie eigentlich so weit weg davon, dass Nietzsche den Heiligen zu denjenigen Menschen zählt, die den Sinn ihres Lebens finden, weil sie es ganz in der Hingabe an Gott und die Nächsten leben? Und doch bleibt eben die Differenz, dass die Frage des reichen Jünglings auf das Leben in Gottes Ewigkeit zielt. Er suchte nicht den Sinn, nicht die Richtung, nicht die Erfüllung seines irdischen, endlichen Daseins. Das Interessante freilich ist, dass Jesus den von Ewigkeitssehnsucht getriebenen reichen Mann auf sein irdisches Leben zurückverwiesen hat. »Geh hin, und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen. Dann wirst du einen Schatz im Himmel haben.« (Mk 10,21) Die Frage nach dem Sinn im Leben und erst recht die Frage nach dem Sinn des Lebens, sind gleichwohl moderne Fragen. Sie entstehen, wenn die selbstverständlichen Vorgaben der religiösen Tradition verloren gehen, wenn familiäre Bindungen zerbrechen, wenn bergende Gemeinschaften sich auflösen. Deutlich ist ins Bewusstsein gerückt, dass es sehr verschiedene Möglichkeiten gibt, sich im Leben zu orientieren. Voran stehen die drei, die Nietzsche nennt. Wir können wählen zwischen philosophischen, ästhetischen und religiösen Lebens­ lehren. Alle machen sie Angebote, die Kunst des Lebens zu lernen. Groß ist aber auch die Gefahr, überhaupt keine Orientierung zu gewinnen oder sie, kaum gewonnen, wieder zu verlieren. Wo viele, allzu viele Möglichkeiten offen stehen, auf die das eigene Leben ausgerichtet werden könnte, drohen ebenso Sinnkrisen wie dort, wo keine Perspektive mehr in Sicht ist und das Leben seinen Wert und seine Bedeutung einbüßt. Die Frage nach dem Sinn ist eine Frage, die eng auch mit der Gotteskrise zusammenhängt. Deshalb müssen wir uns auf sie in Kirche und Theologie mit ganzem Ernst einlassen. Das aber bedeutet, dass wir zunächst die Frage nach dem Sinn auch in Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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ihrer ganzen Schärfe und dann in der Vielfalt ihrer Dimensionen verstehen müssen. Quellen der Sinnerfahrung Sinn ist Zusammenhang. Wo Sinn ist und wir unser Leben als sinnvoll erfahren, da spüren wir, dass wir in Zusammenhänge und Beziehungen eingebunden sind, die uns Halt und Orientierung geben. Wo der Sinn sich entzieht, merken wir hingegen, dass Zusammenhänge und Beziehungen sich verlieren, der Kontakt zur Welt, zu anderen Menschen, zu Gott gestört ist. Dass wir Sinn erleben, setzt insofern nicht erst mit Dass wir Sinn erleben, setzt insofern nicht erst mit der religiösen Erfah­ der religiösen Erfahrung ein rung ein und beschränkt sich nicht und beschränkt sich nicht auf auf diese. Dass wir unser Leben als diese. Dass wir unser Leben sinnvoll erfahren, hängt zunächst schlicht daran, dass wir vermittels als sinnvoll erfahren, hängt unserer Sinne im Weltkontakt stehen. zunächst schlicht daran, dass wir vermittels unserer Sinne im Weltkontakt stehen. Sinn stellt sich uns erstens über unsere Sinnlichkeit ein. Mit unseren fünf Sinnen, indem wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten bildet sich ein Zusammenhang zwischen uns und einer Welt, die uns über unsere Sinne zugleich auf elementare Weise erschlossen ist. Gesteigert teilt sich uns über unsere Sinne der Sinn mit, in den das Leben selbst hineinzieht: Wenn wir Schönes erleben, eine schöne Landschaft, ein schönes Essen, schöne Musik, die liebende Vereinigung mit einem anderen Menschen. Wenn wir singen, kann sich uns ein tieferes Empfinden von Sinn einstellen, indem die Musik unseren Körper und unsere Seele in Schwingungen versetzt. Wir sehen das gerade im re­ ligiösen und kirchlichen Zusammenhang. Gottesdienste, in denen wir aus ganzem Herzen die Choräle mitsingen, können uns unendlich gut tun. Wir spüren, wie tief in uns selbst eine wohltuende Stimme zum Klingen kommt und uns in gute Gestimmtheit versetzt. Wir merken, dass da ein Sinn ist, ein Zusammenhang zwischen uns und der Welt, ein Zusammenhang 200 

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mit anderen Menschen, der Gemeinde auch, die in das Lob Gottes einstimmt. So entsteht ein Sinn, der tief in der Seele zu fühlen ist. Der Sinn des Lebens kann zweitens zum Gegenstand des Denkens und des Gesprächs werden. Die Frage nach dem Sinn ist dann eine Frage der Deutung des Lebens, eine Frage der Interpretation. Interpretieren heiß ja Dazwischentreten. Ich trete zwischen mich und mein Leben, versuche zu verstehen, warum es so und nicht anders verlaufen ist. Im Rückblick versuche ich den Sinn zu erfassen, auf den hin ich gelebt habe und lebe. Ich suche nach dem roten Faden, der die verschiedenen Phasen und Orte meines Lebens zusammenbindet. Wenn wir im Nachhinein unser Leben zu deuten versuchen, dann stellen wir Zusammenhänge her, verbinden die Bruchstücke unserer Lebensgeschichte miteinander. Dann können wir möglicherweise auch in negativen Widerfahrnissen, etwa einer Krankheit, möglicherweise doch noch einen Sinn entdecken, indem wir nun sehen, zu welchem Guten sie uns geführt hat. Wir merken vielleicht, dass wir durch die Unterbrechung des Alltäglichen, auch wenn sie schmerzhaft war, ganz anders aufmerksam geworden sind auf unser Leben, dankbarer für die uns gewährte Lebenszeit. Jetzt nehmen wir uns vor, die uns noch verbleibende Zeit intensiver, bewusster zu leben. Zuletzt zielt die Frage nach dem Sinn aber doch auch über die eigene Existenz und die Existenz des Menschen in seiner Endlichkeit und Wirklichkeit überhaupt hinaus. Es geht um Transzendenz, das Überschreiten der Schwelle zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit. Indem wir Menschen über die endliche Wirklichkeit hinaus denken, überschreiten wir den Horizont unserer Erfahrung, somit aber auch den Bereich, innerhalb dessen wir sicheres Wissen gewinnen können. Wir Menschen haben seit jeher diese Grenze zur Unendlichkeit überschritten. Die frühesten Zeugnisse der Menschheit sind schließlich die Grabstätten. Menschen sind solche Lebewesen, die ihre Toten bestatten. Wir denken über den Tod hinaus. Das zeigt, dass für uns die WirkReligion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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lichkeit im endlich Vorhandenen nie aufgeht. Im Denken überschreiten wir unsere endliche Wirklichkeit immer schon, indem uns zu Bewusstsein kommt, dass wir sterben müssen. Wie das Unendliche, das über unsere endliche Wirklichkeit hinaus liegt, mit unserem endlichen Dasein zusammenhängt, können wir nicht wissen. Wo es um das Jenseits un­serer endlichen Erfahrung geht, fängt das Glauben an. Nur im gläubigen Vertrauen auf eine göttliche Wirklichkeit, die unser endliches Dasein überschreitet und umgreift, können wir dafür halten, dass unser Leben einen absoluten, unverlierbaren Sinn hat. Wo es um die großen Transzendenzen geht, den Überschritt über unsere endliche Erfahrungswirklichkeit hinaus, dort ist deshalb drittens die Frage danach, was spezifisch die Religion zum Lebenssinn beiträgt, auf den Brennpunkt eingestellt. Denn der religiöse Glaube greift in die Dimension des Unendlichen aus und versetzt unser endliches Dasein in einen wahrlich universalen Zusammenhang. So eröffnet der religiöse Glaube die Chance, zu erfahren, dass unserem Leben ein un­bedingter Sinn innewohnt, wir eine unverlierbare Lebensgewissheit gewinnen können. Religion und Sinn Freilich, es geht dabei um den Glauben, um das Vertrauen in diesen transzendenten, alles umgreifenden Zusammenhang der Wirklichkeit, nicht um ein gegenständliches Wissen und Erkennen. Weil wir im Verhältnis zum Unbedingten kein objektives Wissen gewinnen können, sondern vor der Entscheidung des Glaubens stehen, ist aber auch die Frage danach, ob es für uns einen erkennbaren Zugang zu dieser transzendenten Dimension wirklich gibt, im Grunde unangemessen. Entscheidend ist, ob wir hier und jetzt, in unserem endlichen Leben mit dieser transzendenten Wirklichkeit rechnen. Sofern wir im Denken, im Glauben und Hoffen auf diese Wirklichkeit ausgreifen, gewissermaßen auf sie als eine reale Möglichkeit setzen, wächst uns aus ihr auch die Chance des Gewinns eines absoluten Lebenssinnes zu. 202 

Durchführung

Der unbedingte Sinn kann uns aber auch zu einer Gewissheit werden, die uns im Gefühl absolut präsent ist. Dann sprechen wir von einer Erfahrung der Selbsttranszendenz und von einem religiösen Erlebnis. Unsere Hoffnung auf einen unbeding­ten Sinn kann durch Erzählungen geweckt werden oder aus einem Nachdenken über unser endliches, begrenztes Leben kommen. Leicht kann uns schlicht im Nachdenken klar werden, dass ein Leben, das in der Hoffnung auf die Ewigkeit gelebt wird, hier und jetzt, in der Mitte des endlichen Lebens, mehr Sinn hat als ein Leben, das sich auf das absolute Nichts zugehen sieht. Insofern kann man dann sagen, der religiöse Glaube, der die Hoffnung auf die Ewigkeit nährt und stützt, ist eine wichtige Quelle des Lebenssinns. Natürlich gehört zum Ewigkeitsglauben, jedenfalls in seinem christlichen Verständnis, immer auch der Zweifel, ob er denn wahr ist, ob es einen Durchgang durch den Tod in Gottes Ewigkeit wirklich gibt. Der christliche Ewigkeitsglaube steht im Zeichen des Kreuzes und meint daher keine schlichte Verlängerung unserer irdischen Existenz ins Unaufhörliche, sondern einen schöpferischen Neubeginn aus der Kraft Gottes, die Auferweckung zu neuem Leben. Wir haben von diesem Jenseits keine Vorstellungen. Und wenn es so sein sollte, dass es doch kein Danach gibt, dann hat unsere Hoffnung getrogen. Dann war unser Glaube im Sinne gegenständlicher Korrespondenz nicht wahr. Aber er hat dennoch immerhin die Perspektive eines nach vorne hin offenen Humanismus eröffnet. Sollen wir ihn deshalb fahren lassen? Wir wissen, dass die frühen Christen im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung deshalb stark waren, weil sie dem auferstandenen Jesus vertraut haben und aus diesem Vertrauen heraus selbst Zeichen der Liebe und eines neuen Lebens in der Kraft des Geistes gesetzt haben. Sie haben darauf gesetzt, dass Jesus auf der Lebensbahn ermutigend vorangeht und Gott mit der Auferweckung des Gekreuzigten von den Toten den Weg zur Ewigkeit frei gemacht hat, für alle, die an Jesus Christus glauben. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Der religiöse Sinn geht auf das Ganze des Sinns. Der religiöse Sinn ist der Sinn des Sinns. Damit ist er aber nicht zugleich auch alles an Sinn, was wir zum Leben brauchen. Vielleicht kann man sagen, der religiöse Sinn ist nicht alles, aber weil der religiöse Sinn als das Ganze des Sinns allem Sinn seinen Sinn gibt, ist ohne den religiösen Sinn aller andere Sinn nichts. Der religiöse Sinn gibt dem Ganzen unseres Lebens einen Sinn. Aber wir brauchen auch die Erfahrung des sinnlichen Sinns, das Glück des Augenblicks, die Freude an einem sonnigen Morgen, die gute Stimmung mit einem Lied auf den Lippen. Wir brauchen ebenso den Sinn, der in der Tiefe der Seele zu fühlen ist, die Erfahrung der Gemeinschaft und der Geborgenheit. Wie all die Sinnerfahrungen, in die uns das Leben selbst hineinzieht, nach denen wir uns richten, auf die wir zugehen und die wir im Nachhinein deutend erschließen können. Aber der religiöse Sinn, der auf einen unbedingten Sinnzusammenhang ausgreift, hat eine fundierende Funktion für alle anderen Sinnbezüge. Schleiermacher hat für das Verhältnis der Religion zu den anderen Sinnbezügen des Lebens einen schönen Vergleich angeboten. Wie eine heilige Musik soll die Religion alle an­deren Lebensvollzüge begleiten, sagte er in den »Reden über die Religion«.91 Und dann, so fügte er hinzu, solle man nicht aus Religion handeln, sehr wohl aber alles mit Religion tun. Wer aus Religion handelt, der, so lässt sich erläutern, steht in der Gefahr, seine bedingten Lebensziele mit Unbedingtheit aufzuladen. Da droht der Fanatismus. Wer jedoch alles mit Religion tut, der lebt aus der tiefsten Gewissheit, dass er im Grunde seines Daseins sich absolut, unbedingt in Gott gehalten und geborgen wissen kann. 91 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In ihrer ursprünglichen Gestalt, neu hg. von Rudolf Otto, 6. Aufl. Göttingen 1967. Dort heißt es: »Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nicht aus Religion.« (OP 68). 204 

Durchführung

Um die Religion als eine Quelle des Sinns, also der Verbundenheit mit dem Unbedingten, predigen zu können, gehört die Aufmerksamkeit auf alle anderen Lebenszusammenhänge hinzu, die Verbundenheit mit der Natur, mit anderen Menschen, die stärkende Erfahrung von Gemeinschaft, die Erfahrung des Kontakts zu sich selbst. Gelebte Religion ist das alles, nicht nur die Erfahrung des Ganzheitssinns, der aus der Gemeinschaft mit Gott kommt. So wird auch in unseren Gottesdiensten, wenn es schöne Gottesdienste sind, unser Herz weit, werden alle unsere Sinne angesprochen. Schöne Gottesdienste und gute Predigten führen in den Sinn für den Sinn, jeden Sinn, den Sinn, der die Sinne anspricht und tief in der Seele zu fühlen ist. Sie schenken den Sinn, der im Geiste zu denken und in seiner Unbedingtheit zu glauben ist, der damit aber auch eine unverlierbare Daseinsgewissheit schenkt. Zumeist stoßen wir heute auf die Suche nach Sinn in den vielfältigen Formen des Verlangens nach Glück. Wo die elementaren Fragen des Überlebens gesichert sind, wie das in unserer Gesellschaft weithin der Fall ist, will man sein Leben gesteigert erleben. Glück aber ist immer momentan. Es lässt sich nicht auf Dauer stellen. So plötzlich, wie es uns zufällt, entgleitet es auch wieder. Dennoch, alles Glück will Ewigkeit. Das wiederum zeigt, wie sehr hinter dem Verlangen nach Glück letztendlich das Verlangen nach dem Sinn steckt, nach ab­solutem Sinn, nach der Verbundenheit mit dem Absoluten, mit Gott. Wo die Religion die Erfahrung des Sinns des Ganzen machen lässt, berührt und umgreift sie die anderen Dimen­sionen des Sinns. Der Sinn, der über unser endliches Dasein hinaus zu denken ist, baut gewissermaßen auf dem Sinn auf, den wir zuerst mit unseren Sinnen erfassen. Er will sich ebenso anschließen an den Sinn, den wir tief in unserer Seele fühlen und den wir denkend im Geiste erfassen. So lässt uns die Religion, indem sie auf den absoluten Sinn ausgreift, zugleich an allen anderen Dimensionen des Sinns teilhaben.

Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Gott und Sinn Auch das mit dem Wort »Gott« Gemeinte kann nur als etwas gedacht werden, das die Welt als Ganze und unser eigenes Dasein in ihr trägt, insofern aber auch nicht Gegenstand eines Wissens sein kann. Gott kann nicht gewusst werden, er muss geglaubt werden. Der Glaube an Gott aber fängt mit der Reflexion der unmittelbar in uns aufkommenden Daseins- und Weltgewissheit an. Wir sind uns schließlich vor aller Reflexion unmittelbar dessen bewusst, dass sich uns die Welt im Wissen fortschreitend erschließt und wir mit unserem Handeln zumeist erfolgreich sind. Den Grund dieser Selbst- und Welt­ gewissheit können wir nicht wissend vor uns bringen. Er ist uns präsent in unserem Selbstgefühl, freilich wiederum ohne dass wir ihn in uns selbst finden können. Wir finden diesen absoluten Grund vielmehr nur dann, wenn wir unser ganzes Daseinsvertrauen auf ihn richten. Dann merken wir, dass er uns in unserem Selbstverhältnis und in unserer Weltzugewandtheit trägt, somit dann auch zum Handeln affektiv befähigt. Glaubende anerkennen, dass sie den Grund der in ihnen aufkommenden und sie tragenden Lebenssinngewissheit nicht in sich selbst finden, sondern dass er ihnen zukommt, von Glaubende anerkennen, dass sie den Grund der in ihnen aufkommenden anderwärts her, dass ihnen und sie tragenden Lebenssinngewiss­ der Lebenssinn geschenkt ist heit nicht in sich selbst finden, son­ und gewährt wird, auch wenn dern dass er ihnen zukommt, von anderwärts her, dass ihnen der Le­ sie dies gar nicht verdient benssinn geschenkt ist und gewährt haben. Sie nennen diesen frei wird, auch wenn sie dies gar nicht sich schenkenden Daseinsverdient haben. Sie nennen diesen frei sich schenkenden Daseinsgrund, grund, das Woher ihrer Ledas Woher ihrer Lebenssinngewiss­ benssinngewissheit, den Gott, heit, den Gott, an den sie glauben. an den sie glauben.92 92 So verläuft auch Schleiermachers Argumentation für seinen transzendentalen Religionsbegriff wie er sie in den entsprechenden Passagen seiner Dialektik-Vorlesungen aufgemacht hat. Schleiermacher hat zu Recht jedoch das transzendentale Argument für die Existenz Gottes vom Lebensvollzug der Frömmigkeit, den er als ein ganzheitliches Existential206 

Durchführung

Was uns zu Gott und in den Glauben an ihn führt, ist somit das unwillkürliche Aufmerksamwerden auf unsere Daseins­ gewissheit, die in uns selbstbewussten Wesen emotional und im leibhaften Spüren aufkommt. Der Glaube an Gott ist eine Artikulation der Deutung des Grundes dafür, dass wir vom Sinn unseres Daseins und Handelns in dieser Welt auf grundlose Weise doch überzeugt sind. Dafür aber ist das Wort »Gott« seit alters und zumal im Kontext der christlichen Symbol­ kultur der treffliche Ausdruck. Gott, so spricht der an ihn glaubende Mensch, ist der Garant des Sinns, in dem wir unser Leben führen.93 Auf den Weg zu Gott führt somit das sinnliche Sinn­ empfinden, in das uns der Lebensvollzug selbst hineinzieht. Erst mit dem Schritt zur sprachlichen Deutung und Artikulation des transzendenten Grundes unmittelbaren Sinnempfindens wird dieser Sinngrund als Gott bewusst. Nur dort wird daher ein Mensch schließlich auch von seinem Glauben an Gott sprechen. Wer von seinem Glauben an Gott spricht, übersteigt sein Selbstvertrauen und seine Lebenssinngewissheit auf den unbedingten Grund hin, aus dem sie entspringen. Er bezieht sich im Glauben an Gott bewusst auf den nicht selbst zu garantierenden Garant dafür, dass ein unbedingter Sinn ihn selbst und die ihm erschlossene Welt im Ganzen trägt. Der Glaube ist geradezu die dem Menschen eigene Fähigkeit, sich selbst auf bewusste Weise zu diesem das Ganze der verhältnis beschreibt, unterschieden wissen wollen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eben diese Theorie der Frömmigkeit und der religiösen Erfahrung. Ich habe sie in einer Interpretation von Schleiermachers Dialektik ausgeführt in meinem Aufsatz: Religion als Praxis der Lebensdeutung. Zu Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, Religion und Theologie, in: Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener, Arnulf von Scheliha (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, Frankfurt a. M. 2005, 147–162. 93 Volker Gerhardt spricht deshalb von Gott als dem »Sinn des Sinnes«, vgl. Volker Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Daseins. Reflexion auf das Verhältnis von Gott und Natur«, in: Petra Kolmar/Kristian Köchy, Gott und Natur, Philosophische Positionen zum neuesten Streit um die Evolutionstheorie, Freiburg i. Br. 2011. 234–264. Religion verstehen: Homiletische Religionshermeneutik

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Wirklichkeit auf grundlose Weise tragenden Sinngrund zu verhalten. Er ist die ihm eigentümliche Kraft, sich selbst auf diesen Grund, der ihn mit dem Ganzen der Welt verbindet, hin zu überschreiten.94 Indem er den Glauben an Gott bekennt, überführt er gewissermaßen die von ihm emotional empfundene Sinngewissheit in ein bewusstes Vertrauen auf die Verlässlichkeit und Tragfähigkeit ihres Grundes. Er transzendiert sich selbst und sein Gefühlsbewusstsein auf dessen unverfügbaren Grund, indem er den Gedanken eines Unbedingten entwickelt, von dem er selbst mit seiner Sinngewissheit unbedingt abhängt, in das er damit aber auch einbezogen ist. Dieses Transzendieren, das nicht auf ein gegenständlich Anderes geht, sondern die gedankliche Einkehr in den Grund der sinnlich unmittelbar, emotional empfundenen Sinngewissheit ist, ist ein Tun und Erleiden des Menschen zugleich. Aus solcher Erfahrung und Einkehr erwächst jedoch eben das ge­ steigerte Vermögen, den Sinngrund im Lebensvollzug auch angesichts manifester Sinnkrisen festhalten zu können. Selbst in den Erfahrungen der Angst und Unsicherheit, der Sorge und der Verzweiflung, des Leidens und der Not kann der Glaubende auf den Lebenssinn vertrauen, weil er ihn letztlich nicht in sich und dem Glücken seines Lebensvollzuges, sondern in Gott als dem das Ganze, Glück und Unglück, umgreifenden Sinngrund festmacht und festhält. Wer auf Gott vertraut, vertraut auf keine ins ÜbermächtigÜberweltliche hypostasierte, subjekthaft-gegenständliche Wirklichkeit, sondern er vertraut auf die Beständigkeit des ihm sinnlich-emotional gegenwärtigen Sinns des Ganzen seiner Welt und seines Lebens. Er vertraut auf die unzerstörbare Verlässlichkeit eines ihm im Gefühl präsenten unbedingten Sinngrundes. Dieses Vertrauen, das sein Glaube an Gott ist, macht es, dass er, der Glaubende, auch noch in den Erfahrungen des

94 Vgl. Volker Gerhardt, Die Vernunft des Glaubens. Zur Atheismusdebatte, in: Christ in der Gegenwart, 59. Jahrgang, Nr. 50/2007, 417 f. 208 

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Ungeheuren und Desaströsen die Lebenssinngewissheit nicht verlieren muss. Solcher Glaube bleibt damit freilich eine persönliche, gefühlsbasierte Überzeugungsgewissheit, die in enger Verbindung steht mit anderen Überzeugungen, die uns in unserem Lebensvollzug orientieren. Der Glaube bleibt, sofern ihm dies deutlich ist, dass er die bewusste Artikulation einer im Lebensvollzug sinnlich-emotional aufkommenden Sinngewissheit ist, deshalb aber auch davor bewahrt, über diesen Gott Aussagen zu machen, die ihn zu einem gegenständlichen oder subjekthaft in die Welt eingreifenden Wesen machen. Sofern der Glaubende weiß, dass er auf der jedem Menschen sich emo­tional einstellenden Sinngewissheit aufruht, kann er davon überzeugt sein, dass Gott als der Garant des Lebenssinns auch dort wirksam ist, wo Menschen sich seiner nicht bewusst sind, möglicherweise sogar seine Existenz leugnen. Als Hilfe zum Leben und als Stärkung der Sinngewissheit wird Gott freilich nur erfahren, wo auch der Glaube an ihn bewusst vollzogen und Als Hilfe zum Leben und als Stär­ kung der Sinngewissheit wird Gott er als der unbedingte Halt im freilich nur erfahren, wo auch der Leben artikuliert und komGlaube an ihn bewusst vollzogen muniziert wird. Ihn zu artiund er als der unbedingte Halt im Leben artikuliert und kommuniziert kulieren und in Aufnahme wird. Ihn zu artikulieren und in Auf­ der biblischen Symbolsprache nahme der biblischen Symbolsprache zu kommunizieren ist die Aufzu kommunizieren ist die Aufgabe der Predigt. gabe der Predigt.

3. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre Um die Erfahrungen des Lebens in den Deutungshorizont des christlichen Glaubens rücken zu können, braucht die Predigt den Blick für die religiöse Deutungsbedürftigkeit der Menschen in den Erfahrungen ihres Lebens. Predigende müssen zudem die religiöse Deutungskompetenz auch der Hörenden anerkennen. Sie müssen wissen, dass sie ihnen lediglich DeuLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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tungsangebote machen können. Schließlich haben sie sich mit jeder Predigt Klarheit darüber zu verschaffen, was die im Ausgang vom biblischen Text profilierte christliche Botschaft zu den religiösen Deutungsfragen des Lebens zu sagen hat. Insofern ist von ihnen auf dem Weg zur Predigt immer auch ein systematisch-theologischer Reflexionsgang zu erbringen. Dieser wird freilich in dem immer wieder neuen Versuch bestehen müssen, angesichts der konkret wahrgenommenen religiösen Deutungsbedürftigkeit gegenwärtigen Lebens sowie der auch bei den Hörenden vorauszusetzenden religiösen Deutungskompetenz die religiöse Deutungskraft des christlichen Glaubens zu erschließen. Darum soll es deshalb jetzt in diesem Abschnitt gehen. Es soll das Verfahren einer für die Predigtarbeit brauchbaren systematisch-theologischen Reflexion aufgezeigt oder, so könnte man auch sagen, die Konzeption einer praktisch-homiletischen Glaubenslehre entwickelt werden. Zu dieser gehört entscheidend die Entdeckung korrelativer Verhältnisse zwischen den in der menschlichen Situation aufbrechenden religiösen Deutungsfragen und dem religiösen Deutungspotenzial, das der christliche Glaube dem für religiöse Deutungsfragen sich öffnenden Menschen zuzuspielen vermag. Wir werden sehen, dass eine anthropologisch ausgelegte evangelische Rechtfertigungslehre ins Zentrum dieser praktischen Glaubenslehre gehört.95

3.1 Die religiöse Deutungsbedürftigkeit Bereits Ernst Lange hat die »homiletische Situation« von der evangelischen Rechtfertigungslehre her in den Blick genom95 Vgl. dazu Martin Kumlehn, Lebenszeichen der Religion, in: Dietrich Korsch, Lars Charbonnier (Hg.), Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Göttingen 2008, 15–24. Die Überlegungen dieses Kapitels verdanken dem knappen, aber das Verfahren einer praktischen Glaubenslehre bzw. Dogmatik trefflich skizzierenden Aufsatz viel. 210 

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men. Die »homiletische Situation« wird für ihn eben dadurch zu derjenigen Situation, die zur Predigt herausfordert, weil sie die unter dem Gesetz stehende Situation ist, aus der der Mensch sich durch sich selbst nicht befreien kann. Sie macht ihn deshalb für die evangelische Rechtfertigungsbotschaft empfänglich – sofern es der Predigt nur gelingt, das Evangelium konkret in diese Situation als eine sie klärende und aus ihr herausführende Botschaft auszurichten. Als theologische Deutungskategorien orientiert die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Interpretation der Lebenswirklichkeit ebenso wie die des biblischen Textes. Sie versetzt die Predigtarbeit in eben diejenige Bewegung, die es macht, dass die evangelische Rechtfertigungsbotschaft als ein in die konkrete Lebenssituation treffendes und sie auf hilfreiche Weise klärendes Lebensdeutungsangebot verstanden und von den Hörenden möglicherweise in die Selbstdeutung übernommen werden kann. Die dogmatischen Deutungskategorien leiten zur Situationsinterpretation an. Die eindringlichen Worte, mit denen Ernst Lange die am Leitfaden der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erfolgende Deutung der »homiletischen Situation« gefordert hat, möchte ich hier deshalb noch einmal zitieren: »Es genügt nicht, biblische Texte zu interpretieren und dann mehr oder weniger unkontrolliert und ungezielt zu applizieren. Der heutige Hörer steckt ebenso wenig im Text wie seine gegenwärtige Situation. Die Frage nach dem Hörer und seiner Situation hat daher selbständigen Rang. … Predigthilfe ist demnach mehr als Hilfe zur Textauslegung und meditativen Aneignung eines biblischen Textes. Sie ist immer zugleich Einwei­ sung in die homiletische Situation. Gemeint ist damit diejenige Situation, durch die die predigende Kirche sich jetzt und hier zur Verkündigung herausgefordert sieht.«96 96 Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ernst Lange in Verbindung mit Peter Krusche und Dietrich Rössler (Hg.), Predigtstudien Beiheft 1, Stuttgart 1968, 45. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Die »Einweisung in die homiletische Situation« verlangt die religionshermeneutisch gesteuerte Auslegungsbemühung. Dann erst rückt sie religiös relevante Erfahrungen und Phänomene, Fragen und Themen in den Blick und lässt auf deren Anschlüsse an die Textauslegung aufmerksam werden. Als religiös gedeutete homiletische Situation stellt sie immer eine durch die Predigenden hergestellte bzw. definierte Situation dar. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei sie zum Zweck eines möglichst reibungslosen Textanschlusses konstruiert. Es sollte sich um Fragen und Themen handeln, die die Hörenden tatsächlich in der Wirklichkeit ihres Lebens angehen, die nicht nur deshalb angesprochen werden, weil sie dem vorgegebenen Predigttext einen aktuellen Bezug zu verschaffen scheinen. Auch sollte nicht der Text auf eine vor­ gegebene Hörersituation angewendet werden, sondern in der religiösen Interpretation der Hörersituation sollten diejenigen Erfahrungen und Phänomene, Fragen und Probleme gefunden werden, die sich mit dem vorgegebenen Predigttext bzw. der ihm abgewonnenen christlichen Botschaft aufnehmen, be­ arbeiten, kritisch diskutieren oder in eine andere religiöse Deutungsperspektive rücken lassen. Der entscheidende Punkt aber ist: Nur wer die religiöse Deutungsbedürftigkeit des Lebens mit seiner Predigt evident zu machen versteht, wird dem Evangelium Gehör verschaffen können. Denn wir haben es mit Hörern und Hörerinnen zu tun, die selbst immer schon im deutenden Verhältnis zu sich und ihrem Leben stehen und insofern auch dem christlichen Deutungsangebot gegenüber Wählende sind. Auch dafür hat Ernst Lange bereits Beschreibungen gefunden, die immer noch aufschlussreich sind: »Verlorengegangen«, so Ernst Lange »ist die Selbstverständlichkeit und Allgemeingültigkeit bestimmter religiöser Systeme, nicht aber die Notwendigkeit, sich des Sinnes von Dasein zu vergewissern und sich mit anderen über diesen Sinn von Dasein in religiösen Symbolen zu verständigen und zu vereinigen. Die Menschen von heute sind dementsprechend kei212 

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neswegs irreligiös, wohl aber ist ihre religiöse Entscheidung gekennzeichnet durch Pragmatismus, Distanz und Vorbehalt. Das Neue ist nicht, dass man ohne Religion lebt, sondern dass man religiöse Sinngebung wählt, und zwar unter dem Vorbehalt, ob sie sich in der Wirklichkeit des alltäglichen Daseins als gewiss machend bewährt. In diesem Sinn ist das religiöse Bedürfnis ganz sicher nach wie vor das Medium der Begegnung, der Auseinandersetzung, der Kommunikation zwischen Kirche und Zeitgenossen, und es wird immer auch den Ausdruck gelungener Kommunikation in der Lebensgestalt, als Frömmigkeit, entscheidend mitbestimmen. Infolgedessen ist es dringend notwendig, bei der Frage nach den Bedingungen möglicher Verständigung das Bedürfnis der Zeitgenossen sehr viel ernster zu nehmen, als das lange geschehen ist.«97 Predigende müssen in der Tat darauf sehen, welche Ausrichtung die religiöse Frage in den Lebenswelten und Weltsichten der Menschen annimmt, welche lebensgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchserfahrungen sie dazu motivieren oder zumindest dafür empfänglich machen, dass religiöse Lebensfragen gestellt werden. Wenn »der Hörer« der Predigt sich so verhält, dass er »religiöse Sinngebung wählt«, wie Ernst Lange bereits beobachtet hat, dann wird er kaum bereit sein, sich mit der Predigt auch dann in biblische Textwelten hineinzubegeben, wenn er deren religiöses Lebensdeutungs­ potenzial nicht zu erkennen vermag. Damit dieses Potenzial erkennbar wird, muss die Predigt die gegenwärtige Wirklichkeit des Lebens mit ihren religiös offenen Stellen zu ihrem Thema machen und zeigen, welche andere Sicht auf diese Wirklichkeit sich vom biblischen Text her bzw. der sich in ihm konkretisierenden christlichen Botschaft eröffnet. Auf keinen Fall darf sie neben oder über der Wirklichkeit des Hörers eine andere, zweite Wirklichkeit aufbauen. Diese Gefahr droht, sofern mit dem biblischen Text der Anspruch verbunden wird, die »Gottesgeschichte« oder 97 A. a. O., 12. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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die »Heilswirklichkeit« zur Ausführung bringen zu können. Ernst Lange hatte völlig recht, als er konstatierte, dass es die zentrale Aufgabe der Predigt sei, mit dem Hörer über sein Leben zu reden.98 Über sein Leben vor Gott gilt es in der Predigt zu reden, wie Lange ergänzte, um jedoch zugleich zu betonen, dass dies der Wirklichkeit des Lebens nichts hinzufüge, auch mit der Rede von Gott jedenfalls nicht von einer anderen Wenn die Predigt mit den Hörenden über ihr Leben als einem Leben vor Wirklichkeit als der des geGott ins Gespräch zu kommen ver­ genwärtigen Lebens die Rede sucht, meint diese Gotteswirklich­ sei. Wenn die Predigt mit den keit vielmehr die andere Sicht auf die Wirklichkeit, somit die religiöse Deu­ Hörenden über ihr Leben als tung dieser einen Wirklichkeit, die einem Leben vor Gott ins Gedie Wirklichkeit unseres Lebens ist. spräch zu kommen versucht, meint diese Gotteswirklichkeit vielmehr die andere Sicht auf die Wirklichkeit, somit die religiöse Deutung dieser einen Wirklichkeit, die die Wirklichkeit unseres Lebens ist. Die biblischen Texte reden davon, wie Gott von Menschen erfahren wurde. Sie stehen nicht für eine andere Wirklichkeit, sondern dafür, wie Menschen in der einen Wirklichkeit, der Wirklichkeit ihres Lebens, meines und deines Lebens, Gott zu sich haben reden hören, wie sie an ihn geglaubt und an ihm gezweifelt haben, sich in Furcht und Zittern vor ihm geängstigt und in tiefer Not auf ihn gehofft haben. Ebenso hat es die heutige Predigt nur mit einer Wirklichkeit zu tun, der Lebenswirklichkeit der Menschen, die potenziell zu den Hörenden der Predigt werden. Sie richtet, auch wenn sie von Gott redet, nicht eine andere Wirklichkeit auf, sondern sie redet, wenn sie von Gott redet, von einer anderen Sicht auf diese eine Wirklichkeit unseres Lebens, rückt sie in die Deutung der christlichen Botschaft, mit der sich zugleich der christliche Sinn des Wortes »Gott« erschließt. 98 Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, in: Rüdiger Schloz (Hg.), Predigen als Beruf, Stuttgart 1976, 52–67. 58 214 

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Die Hörenden dürfen insofern auch nicht allein zu Adressaten für die Applikation biblischer Wahrheiten gemacht werden. Die Hörenden sind vielmehr zugleich immer auch die Subjekte der Predigt. Das »Ereignis« der Predigt, d. h. die Predigt als kommunikativer Akt in der Vermittlung der christlichen Botschaft, findet am Ort der im Hören der Predigt sich religiös deutenden Subjektivität statt. Deshalb will eine gute Predigt nicht über biblische Offen­ barungswahrheiten oder Text­ Deshalb will eine gute Predigt nicht über biblische Offenbarungswahr­ ansprüche belehren, sondern heiten oder Textansprüche belehren, Vertiefungen und Perspektisondern Vertiefungen und Perspekti­ venverschiebungen in der religiösen venverschiebungen in der reliSelbstdeutung der Hörenden anregen. giösen Selbstdeutung der Hörenden anregen. Die Aufmerksamkeit auf die eigenen Lebenserfahrungen und damit der Vollzug der religiösen Selbstdeutung werden selbstverständlich auch von den Predigenden erwartet. Sie sollen ja so reden, dass aus ihrer eigenen religiösen Selbstdeutungsaktivität hervortritt, was sie sagen. Zugleich müssen sie ihre Subjektivität so zu verallgemeinern in der Lage sein, dass die Hörenden sich verstanden und durch das religiöse (Selbst-) Deutungsangebot angesprochen, angeregt und weitergebracht finden. Ausklammern dürfen die Predigenden die eigene Subjektivität und mit ihr die theologische Reflexion der eigenen Lebensumstände keinesfalls. Letztlich ist die je eigene Subjektivität der Ausgangspunkt wie der Zielpunkt für eine auf religiöse Lebensdeutung ausgehende Predigt.

3.2 Die religiöse Deutungskompetenz Predigt als religiöse Lebensdeutung ist immer Anstoß zur Selbstdeutung. Sie verlangt die Anerkennung der Hörer und Hörerinnen als Subjekte dieser Deutung. Das haben wir uns in den Überlegungen zur Religionshermeneutik schon klar gemacht. Hinzu kommt nun aber der Tatbestand, dass die AnaLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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lyse der religiösen Gegenwartskultur von der »Selbstermächtigung des religiösen Subjekts« zur religiösen Lebensdeutung zu sprechen verlangt. Dies veranlasst zu der Annahme, dass die Menschen sich auch selbst die Fähigkeit zumessen, die ihrer religiösen Deutungsbedürftigkeit korrespondierenden religiösen Deutungspotenziale sich zu erschließen, wo immer sie diese finden können.99 Das zeigt eine gravierende Veränderung in den religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen an, vor allem, was deren Beziehung zu kirchlichen Traditionen, Lehren und Lebensformen und natürlich auch zur kirchlichen Predigt betrifft. Sie besagt, dass die Menschen – dabei insbesondere die religiös Interessierten und Engagierten – ihre religiöse Identität nicht mehr durch Einfügung in kirchlich vorgegebene und vermittelte Glaubenslehren gewinnen, sondern dadurch, dass sie selbst eine solche entwickeln. Dabei können sie von den kirchlichen Symboltraditionen Gebrauch machen. Wenn sie es tun, tun sie es aber nicht mehr in Entsprechung zur theologisch reflektierten Systematik, sondern zum subjektiv als stimmig Empfundenen. Glaubenseinstellungen, die als authentisch gelten können, verlangen Anerkennung, während kirchliche Rechtgläubigkeit kein anerkennungspflichtiges religiöses Wahrheitskriterium mehr darstellt. Dass die religiöse Lebensdeutung heute ledig99 Vgl. Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht, Winfried Gebhardt, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion  – Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, (Religionswissenschaft heute, Bd.3), Stuttgart 2009. Die Autoren machen in dieser qualitativen empirischen Untersuchung, die entschieden für die Unterscheidung von Religiosität und Kirchlichkeit plädiert den für die religiöse Gegenwartslage kennzeichnenden Typ des »spirituellen Wanderers« aus. Dabei versäumen sie es nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die »spirituellen Wanderer«, die auf der immer unabgeschlossenen (der Weg ist das Ziel!) Suche nach den für sie passenden religiösen Deutungsangeboten sind, weit in die kirchlichen und gemeindlichen Sphären eingedrungen sind. Da gerade sie die religiös besonders Interessierten sind, gehören sie auch zu denjenigen, die auf eine Predigt warten, die ihnen als gehaltvolle religiöse Rede religiöse Deutungsangebote macht, die sie sich möglichweise aneignen können. 216 

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lich noch ein Deutungsangebot sein kann, resultiert daraus, dass die Hörenden selbst als die Subjekte ihrer Lebensdeutung anerkannt sein wollen, sie selbst darüber entscheiden, ob und inwieweit sie die Deutung, die die Predigt entwickelt, für sich übernehmen können oder nicht. Schon im Blick auf die religiöse Lage um 1900 legte sich freilich der Begriff von der »vagierenden Religiosität« (Nipperdey) nahe.100 Gemeint waren damit Phänomene neu- und pseudo­ religiöser Bewegungen und Gemeinschaftsbildungen, deren religionskulturelle Signatur es war, dass sie nicht mehr von der verfassten Religion, nicht von den Kirchen, nicht durch Lehre und Theologie gesteuert werden, sondern Bestandteil allgemeiner, dezentrierter und deregulierter gesellschaftlicher Kommunikation wurden. Ernst Troeltsch, der diese religionskulturellen Transformationen aufmerksam wahrgenommen hat, hat auch bereits die Konsequenzen erkannt, die daraus der kirchlichen Glaubenslehre wie dann auch der kirchlichen Glaubens­ predigt entstehen. Eine Glaubenslehre, so Troeltsch, die der modernen religiösen Lage Rechnung trägt und für die Glaubenskommunikation brauchbar ist, muss ihre »frei gebildeten Glaubenssätze heraus aus dem heutigen christlichen Leben« entwickeln.101 Diese »Glaubenslehre [wird] zu einem bekenntnismäßigen Ausdruck der verschiedenen individuellen Aneignungen der protestantisch-religiösen Lebenssubstanz. Sie verliert gänzlich den Charakter einer allgemein gültigen Glaubensgesetzgebung. Eben deshalb zeigt sie heute eine Fülle individueller Unterschiede und ist im Grunde immer nur eine Anleitung zur Erzeugung einer eigenen Glaubenseinsicht, die dann der Praxis zugrunde gelegt werden soll.«102 100 Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870– 1918, München 1988. 101 Vgl. Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912 herausgegeben von Gertrud von le Fort (Neudruck der Ausgabe München 1925. Mit einer Einleitung von Jakob Klapwijk), Aalen,1981, 3. 102 Ebd. 4. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Der an Luhmanns Religionstheorie anschließende, sie aber auch der empirischen Religionsforschung öffnende Soziologe Armin Nassehi spricht in der Auswertung qualitativer Interviews, die im Rahmen des »Bertelsmann Religionsmonitors« durchgeführt wurden, von der Subjektivierung, Individualisierung und Kulturalisierung des Religiösen heute.103 Auffällig bleibt dabei auch für Nassehi, dass die Menschen bereit und in der Lage sind, religiös zu antworten, wenn sie auf die religiösen Fragen nach Sinn und Glück, Tod und Unsterblichkeit angesprochen werden. Nassehi schreibt den »postbürgerlichen« Individuen eine religionsproduktive Einstellung zu. Der Unterschied zum »bürgerlichen Zeitalter« bzw. der klassischen Moderne, so meint er, sei jedoch der, dass die Individuen sich mit ihren religiösen Sinndeutungen nicht mehr auf ein Allgemeines und Objektives, nicht mehr auf eine kirchlich tradierte und normierte Glaubenslehre beziehen, um davon ihren subjektivindividuellen Glauben abzuheben und in Zustimmung oder Kritik zu profilieren. Sie arbeiten sich nicht mehr an vorgegebener Lehre und deren Wahrheitsanspruch ab, um auf diesem Wege zu einer freien Einsicht in die überlieferten Glaubensgehalte zu gelangen – Aufgaben, die Troeltsch der modernen, liberalen Dogmatik und Predigt gestellt hatte. Die Glaubens­inhalte, die von den Kirchen, Religionen und Weltanschauungen vertreten werden, sind – sofern überhaupt bekannt – zu einem frei kombinierbaren Symbol-Material geworden. Sie werden nicht mehr wie vorgegeben angeeignet, sondern liefern Sprache und Vorstellungen, mit denen die sich souverän ihrer religiösen Deutungskompetenz bewussten und an keine Rechtgläubigkeitskriterien mehr gebundenen Subjekte gewissermaßen auf eigene Faust ihre religiösen Sinndeutungen entwickeln. Konsistenzanforderungen, denen die kirchliche Glaubenslehre und -predigt immer noch entsprechen wollen, werden 103 Vgl. Armin Nassehi, Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009. 169–204. 218 

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in der Lebenswelt kaum mehr empfunden. Was in religiöser Kommunikation stattdessen Gewicht zu haben scheint, ist die Anerkennung authentischer religiöser Selbstdeutung. Die religiöse Äußerung will als authentische anerkannt sein: »Ich glaube das so «, »Ich sehe das so«, »Das ist meine Über­ zeugung.« Oder auch bei den Hochreligiösen: »Ich habe das so erfahren«, »Ich habe das erlebt.« Gerade die in Nassehis Bertelsmann-Studie sogenannten Hochreligiösen äußern sich oft kritisch zur Kirche, ihrer Verkündigung und ihrer Theologie. Sie sind diejenigen, die die Untersuchung von Christoph Bochinger die »spirituellen Wanderer« nennt, die religiösen Sinnsucher, die sich aus unterschiedlichen religiösen Symboltraditionen sowie aus der Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur ihre religiösen Sinnkon­ strukte zusammenbauen oder auch sich hochverbindlichen, sektenhaften religiösen Sondergruppen anschließen. Sie ­pochen auf ihre persönliche Gotteserfahrung und die Wende, die ihr Leben durch diese erfahren hat. Dabei kann es durchaus die Bibellektüre sein, auf die sie ihre Bekehrung zurückführen. Immer aber lebt ihre Präsentation der religiösen Erfahrung von der Berufung auf das eigene Erleben. Zu dessen religiöser Artikulation und Kommunikation können von den souverän ihre religiöse Sinnwelt ausbauenden Subjekten – aus theologischer Sicht  – völlig inkommensurable religiöse Vorstellungen auf­ genommen und miteinander verbunden werden. Eine Predigt, die die religiöse Deutungskompetenz der religiösen Subjekte anerkennt, hat nun jedoch die Chance, sich selbst als Explikation humaner Selbstdeutung zu vollziehen. Sie kann sich dazu durch Schleiermachers Leitsatz im § 15 der Glaubenslehre ermutigt wissen, wonach die Glaubenssätze, sei es in der Form der Glaubenslehre oder der der Glaubenspredigt, Auffassungen der christlich-frommen Gemütszustände sind.104 Schleiermachers Verständnis von Glaubenssätzen zielte 104 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. AufLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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bereits darauf, diese als Ausdruck je eigenen religiösen Erlebens aufzufassen. Sie leiten sich nicht von Traditionen oder Lehrgehalten ab, sondern kommen als symbolsprachliche Artikulationen der Selbstdeutung religiöser Erfahrung zu stehen. Zu eben dieser Selbstdeutung sind alle religiösen Subjekte prinzipiell fähig, so dass am Vorgang religiöser Kommunikation, wie ihn die Predigt darstellt, alle gleichermaßen beteiligt sein können. Nur unter dieser Voraussetzung einer Anerkennung der religiösen Selbstdeutungsaktivität der religiösen Subjekte konnte Schleiermacher das Predigtgeschehen schließlich als ein solches verstehen, in dem es zur »Circulation des religiösen Bewußtseins«105 kommt. Die biblischen Texte stellen dabei ebenso wie die Lehrinhalte der dogmatisch-kirch­ lichen Traditionen das symbolische Material für diese religiöse Selbstdeutungspraxis bereit. Was die biblische und dogma­ tische Überlieferung zur Deutung religiöser Selbstdeutungspraxis beitragen, inwieweit sie in der Lage sind, den religiösen Gehalt von Lebenserfahrungen aufzuschließen, dann vor allem aber auch zu vertiefen, das muss sich in der religiösen Kommunikationspraxis zeigen. Die biblischen Texte und dogmatisch-theologischen Lehrbestimmungen sind in Schleiermachers Verständnis der Predigt der religiösen Selbstdeutung der Menschen jedenfalls nicht mehr in normativer Absicht zugeordnet. Bibel und Bekenntnis verhelfen zu einer tieferen Verständigung lebensweltlicher Selbstdeutung religiöser Erfahrung wie auch zur Explikation ihrer christlichen Bestimmtheit. Statt von vorgefassten Glaubenssätzen, von Bibel und Dogma, auszugehen, kann die Predigt sich ermutigt sehen  – in Aufnahme und Fortführung ihres von Schleiermacher entgrund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu herausgegeben und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen von Martin Redeker, Berlin 1960, Bd.1, hier: GL § 15 Leitsatz. 105 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, SW Bd. 13, Berlin 1850, 201–320, 216. 220 

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wickelten Begriffs  –, auf die lebensweltlichen Artikulationen menschlicher Gestimmtheiten und Gefühlserfahrungen zurückzugehen. Sie nimmt dann die religiösen Selbstdeutungen der Menschen auf, versucht sie in ihrer Religionshaltigkeit aufzuschließen und in ihre christliche Bestimmtheit weiterzuführen. Wichtige Themen der Predigt werden dann: Angst, Hoffnung, Glaube, Scham, Liebe, Dankbarkeit, Ehrfurcht, Glück, Sinn, Begeisterung, Demut, Spaß, Schmerz, Freude, Geborgenheit. Allen diesen Wörtern unserer Sprache ist gemeinsam, dass sie positiv wie negativ qualifizierte Gefühle aus­drücken, in denen zugleich immer auch religiöse Selbstdeutungen anklingen, die episodisch das Ganze der Existenz durchdringen können. Die Auslegung der traditionellen Lehrbegriffe christlicher Dogmatik wie Schöpfung und Sünde, Versöhnung und Er­ lösung sind den eben genannten Themen, die in ihrer existenziell-religiösen Relevanz ins Auge springen, nachgängig zuzuordnen. D. h. sie sind an Momente religiöser Selbstdeutung, die die Menschen im lebensweltlichen Selbst- und Weltumgang souverän entwickeln, anschlussfähig zu machen. Es wird sich zeigen, dass die oben genannten Gefühlsausdrücke sich am Leitfaden einer die Rechtfertigungsbotschaft entfaltenden christlichen Glaubenslehre sowohl tiefer über sich selbst verständigen wie eben auch der öffentlichen Kommunikation des christlichen Glaubens zugänglich machen lassen. Glaubenslehre und Glaubenspredigt präsentierten in verschiedenen Darstellungsformen die an der kulturellen Programmatik des Christentums orientierten Deutungen gefühlsbasierter humaner Selbstdeutungen.

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3.3 Das Deutungsangebot des christlichen Glaubens: Die Rechtfertigungsbotschaft Fragen wir nach der religionskulturellen Programmatik des Christentums, dann führt uns dies – folgen wir dem Selbstverständnis der reformatorischen Kirchen – zu der Botschaft von der bedingungslosen Rechtfertigung des Menschen durch Gott, wie sie der Apostel Paulus im Römerbrief formuliert hat. Das überhaupt ist dann die christliche Botschaft, die jede Predigt auszurichten hat: »dass der Mensch gerecht wird ohne des Jede Predigt hat Gottes bedingungs­ lose Rechtfertigung zuzusagen. Im­ Gesetzes Werke, allein durch mer das Gleiche hat sie insofern zu den Glauben« (Röm 3,28). sagen, dieses aber zugleich auch im­ Jede Predigt hat Gottes bedinmer wieder neu und anders, damit die Recht­fertigungsbotschaft mit ih­ gungslose Rechtfertigung zurem befreienden Lebensdeutungs­ zusagen. Immer das Gleiche angebot konkret hervortritt. hat sie insofern zu sagen, dieses aber zugleich auch immer wieder neu und anders, damit die Recht­fertigungsbotschaft mit ihrem befreienden Lebensdeutungsangebot konkret hervortritt. Die Predigt hat im religions­ kulturellen Kontext der GeWer an diesen bedingungslos recht­ fertigenden Gott glauben und auf ihn genwart am ehesten dann die sein Lebensvertrauen setzen kann, Chance, zur religiös anspreder wird von dem Zwang zur perma­ nenten Selbstrechtfertigung entlas­ chenden Rede und zu einem tet, der gewinnt eine unwahrschein­ überzeugenden Akt religiöser liche Daseinssinn­gewissheit und eine Kommunikation zu werden, hoffnungsvolle Lebenszuversicht. wenn ihre Botschaft gewissermaßen zwanglos einleuchtet. Sie muss mit ihrer humanen Evidenz überzeugen. Das kann geschehen, wenn Menschen zu verstehen beginnen: Wer an diesen bedingungslos rechtfertigenden Gott glauben und auf ihn sein Lebensvertrauen setzen kann, der wird von dem Zwang zur permanenten Selbstrechtfertigung entlastet, der gewinnt eine unwahrscheinliche Daseinssinn­gewissheit und eine hoffnungsvolle Lebenszuversicht. 222 

Durchführung

Die Predigt steht also vor der Anforderung, die christliche Rechtfertigungsbotschaft in eine der religionskulturellen Gegenwartslage angemessene religiöse Rede zu überführen. Dabei sollte sie aber auch dessen versichert sein können, die dem christlichen Glauben wesentliche Lebensdeutung zur Sprache zu bringen. Da es auf der Basis der biblischen Texte und die je andere Gegenwartssituation vor Augen die christliche Rechtfertigungsbotschaft mit jeder Predigt immer wieder neu und anders auszurichten gilt, ist hier deshalb auch die systematisch-theologische Reflexionskompetenz von den Predigern und Predigerinnen gefordert. Sie müssen sich im Grundsätz­ lichen ebenso wie im spezifischen Situationsbezug immer wieder Rechenschaft darüber ablegen, dass die paulinische Rechtfertigungsbotschaft im Zentrum des christlichen Glauben steht. Aber eben deshalb – und insofern ist dies nicht nur eine Frage der Exegese, sondern der Exegese und religiöse Gegenwartshermeneutik vermittelnden systematisch-theologischen Reflexion – weil die paulinische Rechtfertigungsbotschaft die Lebensdeutung des christlichen Glaubens heute in ihrem Zentrum ebenso verständlich wie attraktiv macht. Die Frage danach, dass und weshalb die paulinische Rechtfertigungslehre die christliche Botschaft im neuzeitlich-modernen Lebenszusammenhang in ihrem Lebensdeutungssinn zu erschließen vermag, gilt es deshalb als die Grundfrage systematisch-theologischer Reflexion in diesem dritten homiletischen Reflexionsschritt exemplarisch zu beantworten. Auszuweisen ist, dass und weshalb die evangelische Rechtfertigungsbotschaft die Chance bei sich hat, sich als das zentrale religiöse Lebensdeutungsangebot in heutiger religiöser Rede erschließen zu können. Dazu soll im Folgenden ein Versuch unternommen werden. Ich schließe dabei kritisch an die Überlegungen an, die Wilfried Härle »zur Gegenwartsbedeutung der ›Rechtfertigungs‹-Lehre«106 vorgelegt hat. 106 Vgl. Wilfried Härle, Zur Gegenwartsbedeutung der »Rechtferti­g ungs«Lehre. Eine Problemskizze, in: ZThK 95, Beiheft 10, 1998, 101–139. HärLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Die paulinische Rechtfertigungslehre im neuzeitlich-modernen Lebenszusammenhang Härle sieht die enormen Übersetzungsprobleme, soll die Botschaft von der Rechtfertigung des gottlosen Sünders im gegenwartskulturellen Kontext als attraktives Lebensdeutungs­ angebot verständlich werden. Er geht treffsicher auf die sprachlichen wie sachlichen Schwierigkeiten ein, die der Verstehbarkeit dieser für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens zentralen Aussage des Paulus, »dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« les Beitrag steht im Zusammenhang einer breiten Debatte um die Stellung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre im Ganzen der christlichen Lehre, die dann bald darauf durch die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1999) noch einmal enorm verstärkt worden ist. Auf Härles Text nehme ich im Folgenden als einen solchen Bezug, der nicht nur eine breite Debattenlage gut darstellt, sondern dabei auch selbst eine Position vertritt, die von vielen geteilt wird. Ich beziehe mich auf Härle, weil er eine in der systematischen Theologie dominant vertretene Postionen repräsentiert und ich an seinem Text zur Rechtfertigungslehre gut zeigen kann, dass eine systematisch-theologische Verhandlung der Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre, wie sie von ihm auf exemplarische Weise vorgenommen wird, zwar die Probleme richtig erkennt, dann aber, weil sie das praktischtheologische bzw. homiletische Vermittlungsproblem doch gravierend unterschätzt, in eine Sackgasse läuft. Das gibt dann natürlich auch wieder zu kritischen systematisch-theologischen Rückfragen Anlass. Im Hintergrund der in diesem Text von Härle vorgetragenen und auf die »prinzipielle« Bedeutung der Rechtfertigungslehre für das Gesamtverständnis des christlichen Glaubens ausgehenden Argumentation steht die 20 Jahre früher, gemeinsam mit Eilert Herms verfasste Schrift W. Härle/Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Kontext des neuzeitlich-modernen Wirklichkeitsverständnisses, in Verbindung mit einer Reflexion auf die Konsequenzen, die dieses Unternehmen in der kirchlichen (Predigt-)Praxis hat bzw. haben könnte, habe ich damals bereits zusammen mit Dietrich Korsch vorgenommen, in: Wilhelm Gräb/Dietrich Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Dort liegt auch ausführlicher diejenige subjektivitätstheoretische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre vor, an die hier mit knappen Bemerkungen angeschlossen wird. 224 

Durchführung

(Röm 3,28) heute entgegenstehen. Zunächst führt er die strafgerichtliche Metaphorik an, die ihren Sinn nur im Rahmen eines eschatologischen, auf das göttliche Endgericht zulaufenden Geschichts- und Weltbildes hat. Sodann verweist er auf das dunkle Gottesbild, das Gott als den zornigen Richter vorstellt und somit dem negativen Menschenbild, das den Menschen nur als den gefallenen und der göttlichen Erlösung absolut bedürftigen Sünder kennt, korrespondiert. Diese Vorstellungen stehen ja für Paulus im Hintergrund und bilden gleichsam die Negativfolie für seine befreiende Erkenntnis von der im Glauben zu ergreifenden Heilsbedeutung des Kreuzes Christi. Sie werden von den Menschen unserer Gegenwart aber nicht mehr geteilt. Die Menschen wissen sich nicht mehr als Sünder. Sie haben keine Angst vor dem Endgericht und sehen deshalb auch nicht ein, dass sie der göttlichen Gnade bedürftig wären. Sie teilen überhaupt die biblischen Vorstellungwelten nicht mehr, kennen eben deshalb auch die Ängste und Sehnsüchte nicht, die im Hintergrund der paulinischen Rechtfer­ tigungsbotschaft stehen. Kein Wunder, so gibt Härle zu, dass es der kirchlichen Predigt ungeheuer schwer fällt, ihre befreiende Kraft zu vermitteln. Es fehlt allerdings auch nicht an Übersetzungsversuchen, die alle Beachtliches leisten und keineswegs am Kern der Sache vorbeigehen, wie Härle notiert. Härle verweist auf drei Interpretationsansätze, von denen gleichermaßen zu sagen sei, dass sie, zumindest näherungsweise, die Gegenwartsbedeutung der paulinischen Rechtfertigungslehre zu erhellen in der Lage seien.107 Er verweist erstens auf die in der kirchlichen Predigt verbreitet vorkommende Reformulierung der Rechtfertigungslehre, wonach sie die vorbehaltlose, auch noch dem gottlosen Sünder geltende Liebe Gottes zusage. Er erwähnt zweitens die in der kirchlichen Predigt ebenso häufig fest­zustellende Rede von der grundsätzlichen, bedingungslosen Bejahung und Annahme des Menschen. Sie gehe mit einem Verständnis 107 Härle, a. a. O., 114–115. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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vom rechtfertigenden Glauben einher, wonach dieser als unbedingte Akzeptanzgewissheit zu stehen komme, als grundlose Annahme des Angenommen-Seins. Härle verweist in diesem Zusammenhang auch auf Tillichs Radikalisierung dieser modernen Interpretation des Rechtfertigungsglaubens. Dieser habe in seiner Schrift »Der Mut zum Sein« sogar auf den Glauben an Gott als rechtfertigendes Handlungssubjekt verzichtet. Der Rechtfertigungsglaube sei bei Tillich ganz auf die Vergewisserung im Daseinssinn abgestellt worden. Er habe ihn mit der Überzeugung von der Annahme des unbedingten Angenommen-Seins gleichgesetzt.108 Drittens geht Härle auf all diejenigen Ansätze zur Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre ein, die ihre Leistung darin sehen, dass sie zur Unterscheidung der Person von ihren Werken anhalte. Dann könne sie sogar zur theologischen Begründung der unverletzlichen Würde jedes einzelnen Menschen beitragen. Die göttliche Rechtfertigung wäre dann das Ja Gottes zur Person des Menschen, unabhängig von seinen Werken, von seinen Leistungen, seinen ethnischen und kommunalen Zugehörigkeiten, seiner Geschichte und seinem Geschick. Der menschliche Rechtfertigungsglaube schließlich käme der Gründung des Lebensvertrauens (und Selbst­ bewusstseins) nicht auf die eigene Leistung, sondern auf Gottes (allen menschlichen Werken vorgängige) vorbehaltlose Anerkennung gleich.109 Härle behauptet, von keinem dieser drei Interpretationsansätze sagen zu müssen, »daß er schon vom Ansatz her verfehlt und darum grundsätzlich kritikwürdig sei«.110 Dennoch meint er, es seien die theologischen Voraussetzungen, die diese Umformung der paulinischen Rechtfertigungslehre nötig und möglich machten, ungeklärt. Das muss man m. E. nicht so sehen. Unschwer lässt sich vielmehr erkennen, dass diese drei 108 Härle, 115 (Anm. 22). 109 Härle, a. a. O. 115. 110 Ebd. 226 

Durchführung

in der christlichen Predigt heute weit verbreiteten Ansätze durchaus zu einer dem Menschen der Gegenwart potenziell verständlichen Explikation der Rechtfertigungslehre taugen. Dies tun sie, so meine ich, genau deshalb, weil sie keine anderen Voraussetzungen in Anspruch nehmen als eben diejenigen, die mit dem menschlichen Leben als einem bewussten, im Verhältnis zu sich stehenden Leben gegeben sind. Was man diesen Interpretationsansätzen allenfalls zum Vorwurf machen kann, ist, dass sie ihre anthropo-theologischen Voraussetzungen nicht offenlegen. De facto aber reformulieren sie die paulinische Rechtfertigungsbotschaft so, dass in ihr das Angebot einer transzendent begründeten Identitätsgewissheit erkannt werden kann. Der strafgerichtlich-eschatologische Vorstellungszusammenhang wird verlassen. Die Rechtfertigungsbotschaft wird stattdessen an eine gerade heute brisante menschliche Grunderfahrung adressiert. Die Moderne hat eines ihrer die Lebensführungspraxis besonders angreifenden Merkmale eben darin, dass die Menschen ihre personale Identität nicht mehr durch Herkunft und Stand vorgegeben finden, sondern sie sich freigesetzt fühlen, ihre Identität selbst hervorbringen zu können, aber auch hervorbringen zu müssen. Sie stehen vor der Frage, ob sie selbst zum Subjekt ihres Handelns und Erlebens werden können oder bloß der Schauplatz sind, auf dem es sich abspielt. Angesichts dieser in den neuzeitlich-modernen Lebens­ zusammenhängen gesteigert begegnenden Anforderungen an die individuelle Selbstbildung, Selbstbestimmung und Identitätsfindung kann das Lebensdeutungspotenzial der paulinischen Rechtfertigungslehre auf attraktive Weise hervortreten. Sie zeigt dann den Weg zum Grund der Freiheit und damit zu einer Selbstbestimmung, die in dem je eigenen Glauben gründet. Für Paulus drückt sich in diesem Glauben das Überzeugtsein von der Wahrheit des Ereignisses der Auferstehung des Gekreuzigten aus. Wer, so kann daher gesagt werden, an die Auferstehung des gekreuzigten Christus glaubt bzw. von der Wahrheit dieses ErLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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eignisses und damit letztlich vom Sieg des Lebens über den Tod überzeugt ist, dessen Selbstdeutung gewinnt eine ganz neue Ausrichtung. Wer auf Christus sein Vertrauen setzt, so ist das gemeint, der wird zu einem neuen Subjekt, neu deshalb, weil es sich nicht mehr nur von seinen endlichen Möglichkeiten her versteht, sondern vertrauensvoll auf das Wahrsein des Ereignisses der Auferstehung Jesu von den Toten setzt und damit auf die unendliche Macht des Lebens hofft. Die »Recht­ fertigung aus Glauben und nicht aus des Gesetzes Werken« ermöglicht eine aus der Unbedingtheit solchen Vertrauens und Hoffens hervorgehende Selbstgewissheit. Die Identität der so Glaubenden ist nicht mehr durch die ethnischen, sozialen und religiösen Zugehörigkeiten oder der eigenen, persönlichen Lebensleistung bedingt, sondern entsteht aus der Beziehung zu Christus. Genau mit der Eröffnung einer solch transzendenten, in Christus gründenden Selbstgründung stellt der Rechtfertigungsglaube auch heute eine Alternative dar zu einer Identitätsvergewisserung und Selbstrechtfertigung aus den eigenen Lebensleistungen oder aus religiösen, sozialen und kommunitären Zugehörigkeiten. Das religiöse Selbstdeutungsangebot, das die paulinische Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen macht, lautet dann: Der Mensch, der sein Vertrauen auf den Gott Jesu setzt, ist zu einer selbstbestimmten Lebensführung fähig, weil er einer transzendent begründeten, ihm von jenseits seiner selbst her bedingungslos gewährten Selbst-Identität gewiss sein kann. Ein Mensch, der Gott glaubt, muss nicht mehr sein Daseinsrecht legitimieren. Er kann aus einem Daseinssinnvertrauen leben, das ihn zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Tun des Guten aus eigener, vernünftiger Einsicht befähigt. Härle geht bei seiner gegenwartsbezogenen R ­ eformulierung der paulinischen Rechtfertigungslehre allerdings ebenfalls auf die »menschliche Grundsituation« zurück, um von ihr her die Rechtfertigungslehre in ihrem universalen, somit auch den Menschen der Gegenwart erreichenden Geltungsanspruch darzulegen. M. E. schießt er dabei jedoch viel zu weit über 228 

Durchführung

das Ziel hinaus. Denn nun mutet er der paulinischen Rechtfertigungslehre sogar zu, die menschliche Grundsituation allererst über sich aufzuklären. Er stellt sie nicht mehr als eine solche vor, die unter neuzeitlich-modernen Denk- und Lebensbedingungen und kraft der Autonomie des humanen (Selbst-) Bewusstseins anthropo-theologisch reformuliert, somit vor einem ganz anderen hermeneutischen Horizont ausgelegt werden muss, als er mit dem biblischen Kontext gegeben ist. Härle geht vielmehr mit dem biblischen Weltbild gegen den modernen Menschen und sein Selbstverständnis vor. Dem Menschen in seiner natürlichen Selbstwahrnehmung wird die Autonomie bestritten. Ihm wird das Recht verweigert, sich aus eigener Kraft und mit den Mitteln der humanen Vernunft über sich zu verständigen. Das ist genau der umgekehrte Weg, als wir ihn eben, ausgehend von den Trends heutiger Rechtfertigungspredigt, gegangen sind. Auf diesem umgekehrten Weg, dem, wenn ich recht sehe, heute in ihrem theologischen Denken immer noch viele meinen folgen zu müssen, geht man nicht vom heutigen Selbstverständnis der Menschen aus, um dann zu fragen, wie die Rechtfertigungslehre interpretiert werden muss, damit sie den Menschen etwas zu sagen hat. Man konstruiert vielmehr, ausgehend von der paulinischen Rechtfertigungslehre und in deren weltbildhaften Horizont, das christliche Wirklichkeitsverständnisses. Und von diesem behauptet man sodann, dass es auch für den neuzeitlich-modernen Menschen Gültigkeit habe. Der moderne Mensch versteht die Wirklichkeit seines Lebens, so schließlich die Schlussfolgerung am Ende dieses verkehrten Weges, nur dann recht, wenn er sie von der eschatologisch und endgerichtlich gemeinten Rechtfertigungslehre her versteht. Die christliche Wirklichkeit ist dann notwendigerweise  – ob das in den neuzeitlich-modernen Lebenszusammenhang passt oder nicht – die in Christus aus ihrer sündhaften Verlorenheit errettete, durch ihn gerechtfertigte und des zukünftigen Heils gewisse Schöpfungswirklichkeit. Für die souveräne Selbst­ ermächtigung des modernen religiösen Subjekts ist in diesem Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Wirklichkeitsverständnis natürlich kein Platz. Dem modernen Menschen wird kein autonomes, ihm vernünftig erscheinendes Wirklichkeitsverständnis zugestanden. Es bleibt zudem unbedacht, dass Menschen sich heute in viele Wirklichkeiten hineingestellt finden, in denen sich unterschiedliche Wirklichkeitsverständnisse zur Durchsetzung bringen. Gibt es das überhaupt, das christliche Wirklichkeitsverständnis? Müssten, wenn es das gäbe, nicht die vielen Differenzierungen, die moderne Gesellschaften formieren, zurückgebaut werden? Ist eine christentumskulturell integrierte, auf dem christlichen Wirklichkeitsverständnis aufgebaute Gesellschaft überhaupt vorstellbar – und wünschenswert? Doch das ist offensichtlich die Konsequenz, wenn man die paulinische Rechtfertigungsbotschaft weder als ein Angebot an die religiöse Selbstdeutung des neuzeitlich-modernen Menschen versteht, noch bereit ist zuzugeben, dass das christliche Wirklichkeitsverständnis ein Deutungsangebot neben anderen ist. Wenn der christliche Glaube zugleich auf das christliche Wirklichkeitsverständnis verpflichtet  – und darin liegt der auto­ritäre Charakter in der Rede von dem christlichen Wirklichkeitsverständnis  –, dann ist der neuzeitlich-moderne Mensch nicht danach zu fragen, ob er die Wirklichkeit seines Lebens im Lichte der Rechtfertigungsbotschaft sehen will oder nicht. Die Rechtfertigungslehre macht ihm kein Angebot an seine Selbstdeutung. Die Fähigkeit zu solcher Selbst­ deutung wird ihm sogar abgesprochen. Wenn überhaupt, dann erwächst ihm sein souveräner Subjektstatus allererst aus derjenigen Freiheit, in die er durch die Anerkennung der Recht­ fertigungsbotschaft, also im Rechtfertigungsglauben gelangt. Die Rede von dem durch die Rechtfertigungslehre erschlossenen christlichen Wirklichkeitsverständnis läuft im Grunde darauf hinaus, den modernen Anspruch auf die religiöse Selbstdeutung theologisch ins Unrecht zu setzen. Sie kann, da sie unter Absehung von Gottes Rechtfertigungshandeln sich vollzieht, ja nur die sich über ihre wahre Situation hinwegtäuschende Selbstdeutung des Sünders sein. 230 

Durchführung

Das homiletische Deutungsparadigma verlangt eine andere Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre. Diese ist auch möglich, gerade wenn man sie nicht mit einem ontologischen Anspruch anreichert und zur Basis des christlichen Wirklichkeitsverständnisses macht, sondern sie umgekehrt auf der Basis der neuzeitlich-modernen Autonomieanmutung religiöser Subjektivität in ihrem Lebensdeutungsgehalt rekonstruiert. Dann kommt die Rechtfertigungsbotschaft als ein Angebot an den immer schon in Gang befindlichen Vollzug humaner Selbstdeutung in den Blick, als eine Möglichkeit, sich von der unbedingten Zusage, Gott bedingungslos recht zu sein, selbst anders sehen zu können – als den, der vom Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstlegitimierung seines Daseins befreit ist. So kann in der Tat die paulinische Rechtfertigungslehre in der christlichen Predigt die zentrale Rolle spielen. Sie muss lediglich ihre Aufgabe so begreifen, dass sie ein Angebot an die Selbstdeutung macht. Sie verweist dann auf eine entscheidende Perspektivenverschiebung in den Konzepten humaner Selbstdeutung, die Menschen in den modernen Lebensverhältnissen so oder so entwickeln. Es zeigt sich, wie viel eine die evangelische Rechtfertigungsbotschaft ausrichtende Predigt zu sagen hat, wenn es um die förderliche Klärung unserer heutigen Lebenseinstellungen und Lebensvorstellungen geht. Damit dies geschehen kann, muss die paulinische Rechtfertigungsbotschaft von ihren anthropologisch-subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen her und damit wirklich im neuzeitlich-modernen Denk- und Lebenszusammenhang verstanden werden. Sie muss aus ihrem strafgerichtlich-escha­ tologischen Vorstellungszusammenhang herausgenommen und auf eben denjenigen Entwurf humaner Selbstdeutung, den sie anzuregen vermag, fokussiert werden. Dann tritt das ihr im­ plizite Angebot zu einer die Daseinsgewissheit begründenden humanen Selbstdeutung hervor.

Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Humane Selbstdeutung im Horizont der paulinischen Rechtfertigungslehre Die Predigt wird schließlich darauf ausgehen, die Recht­ fertigungsbotschaft immer wieder neu in ihrem existenziellen Sinngehalt aufzuschließen. Sie wird dies umso überzeugender tun, je klarer sie dies nicht gegen den, sondern zusammen mit dem sich in seiner Autonomie souverän behauptenden modernen Menschen tut. Dabei hilft eine gegenüber Härle andere Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre. Darauf hinzuweisen ist, dass Paulus’ Rede von der »Rechtfertigung aus Glauben und nicht aus des Gesetzes Werken« durchaus so verstanden werden kann, dass er damit auf den kontingenten Ermöglichungsgrund einer ebenso individuellen wie universal gültigen menschlichen Selbstgewissheit und Selbstbestimmungsfähigkeit zielt. Das Gesetz versteht Paulus ja ebenso wenig wie die Sünde moralisch. Das Gesetz, das die Sünde allererst mächtig werden lässt, das sind, wie Paulus Röm 7,14–25 deutlich macht, diejenigen Strukturen der humanen Subjektivität, aufgrund deren der Mensch in seinem Lebensvollzug immer schon im (vorbewussten) Verhältnis zu sich selbst steht.111 Sie steuern sein Begehren. Und dieses wiederum hat eine ungeheure Macht über ihn. Indem dieses Begehren Macht über den Menschen gewinnt, verkehrt sich deshalb auch sein Selbstverhältnis ins Negative. Statt sich selbst zu gewinnen, verliert er sich selbst, geraten sein Wollen, das auf Lebens- und Selbstgewissheit zielt, und sein Tun, das unter der Macht des Begehrens dem Tod zuarbeitet, immer weiter auseinander. Dem Scheitern humaner Selbstbegründung aus den eigenen Lebensleistungen und den eigenen kommunitären Zugehörig111 Zur unendlich kontroversen fachexegetischen Debatte um die Aus­ legung von Röm 7, diesem auch für die hier verfolgte Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre zentralen Abschnitt des Röm, in die ich mich hier aber nicht einmischen kann und will, vgl.: Hermann Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNDT 164), Tübingen 2004. 232 

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keiten stellt Paulus die Rechtfertigung allein aus Glauben gegenüber. Mit dem »Glauben«, so kann gesagt werden, ist ein reiner, objektiv unbegründeter, nur dem individuell unvertretbaren Vertrauen möglicher Akt persön­licher Überzeugungsgewissheit gemeint. Der Glaube ist die je eigene Gewissheit von der Wahrheit der Auferstehung des Gekreuzigten, vom Sieg des Lebens über den Tod. Diese Wahrheit(sbehauptung) ist objektiv unbegründet, nicht beweisbar, eben reiner Inhalt des Glaubens. Dieser hat keinen Gegenstand, auf den er intentional ausgerichtet wäre. Der Glaube kommt rein subjektiv als unbedingte Lebensgewissheit auf und muss als solche manifest werden, d. h. öffentlich (qua Predigt) bekannt werden. Damit eröffnet die Rechtfertigungsbotschaft (die die Rechtfertigungslehre ihrem epistemischen Gehalt nach ist) eine grundlegende Transformation in der  – unabhängig von ihr immer schon im Gang befindlichen (aber unter dem »Gesetz« der Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung stehenden)  – humanen Selbstdeutung. Die Rechtfertigungsbotschaft ermöglicht die Überwindung des negativ beDie Rechtfertigungsbotschaft ermög­ licht die Überwindung des negativ stimmten Selbstverhältnisses bestimmten Selbstverhältnisses un­ unter dem »Gesetz«, indem sie ter dem »Gesetz«, indem sie den kon­ den kontingenten, transzentingenten, transzendenten Grund selbstbestimmten Selbst-Sein-Kön­ denten Grund selbstbestimmnens in den Blick rückt. ten Selbst-Sein-Könnens in den Blick rückt. Ist diese Auslegung möglich, dann geht die existenziale Hermeneutik der Rechtfertigungslehre dahin, dass der Mensch im rechtfertigenden Glauben an den gekreuzigten Christus dessen gewiss sein kann, bedingungslos sich in seinem Lebensrecht anerkannt und legitimiert wissen zu können. Selbst dort, so ist in Richtung dieser Hermeneutik der paulinischen Rechtfertigungslehre fortzufahren, wo auch mit (wie es in neuzeitlichmodernen Lebenszusammenhängen der Fall ist) dem Wegfall der personalen Gottesvorstellung gerechnet werden muss, erschließt sich diese in ihrer existenziellen Bedeutung. Sie wird Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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verständlich eben als Angebot einer transzendent begründeten und gerade so die subjekthafte Selbstbestimmung ermöglichenden Selbstdeutung. Sie zieht ihre Attraktivität aus der (Selbst-)Erfahrung der immanenten Grenzen einer souveränen Selbstermächtigung des humanen Subjekts, auch des humanen religiösen Subjekts. Die vom natürlichen Menschen im neuzeitlich-modernen Lebenszusammenhang in Anspruch genommene, wiewohl scheiternde, weil auf dem tödlichen »Gesetz« der Selbstbehauptung aufgebauten, Selbstbegründung wird ihres transzendenten Ermöglichungsgrundes ansichtig. Wenn »Rechtfertigung durch Glauben, ohne des Gesetzes Werke« besagt, dass ich aus einer im Unbedingten (dem kontingenten Ereignis der Auferstehung, der Überzeugung von der prinzipiellen Überwindung des Todes) gegründeten Lebensgewissheit leben darf, dann muss ich mir meine Selbstbestätigungserlebnisse und die Legitimierung meines Daseins nicht mehr durch meinen Selbstbehauptungswillen und aus meinen Lebensleistungen verschaffen. Die paulinische Rechtfertigungslehre wird auf diese Weise schließlich zum Angebot einer ihre immanente Negativität überwindenden, befreienden Selbstdeutung. Sie bietet mir an, mich nicht auf mich selbst und meine letztlich immer wieder zerbrechende Lebenssinnvergewisserung zu verlassen, sondern auf Gottes Zusage bedingungslos gewährter Lebenssinnerfüllung. In der Gegenrichtung ist dann aber, soll die paulinische Rechtfertigungslehre in der christlichen Predigt ihre tragende Rolle gewinnen, die gegenwartshermeneutische Erschließung der heute dominanten Lebenseinstellungen und -vorstellungen genauso energisch vorzunehmen. Diese gegenwartshermeneutische Arbeit kommt meistens in der Frage nach der »Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigung« zu kurz. Dabei können wir, wenn wir bei den Lebensfragen der Menschen heute ansetzen, schnell entdecken, wie virulent das Rechtfertigungsthema ist. Dass wir uns allenthalben Rechtfertigungszwängen ausgesetzt sehen, ist offenkundig. Ebenso aber auch, dass wir meinen, ihnen durch eigene Legitimierungsanstrengun234 

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gen Genüge leisten zu müssen. Besonders deutlich wird dies in der Suche nach einem Lebensstil, auch in der Frage nach einem »geistlichen« Lebensstil, nach christlicher Spiritualität als einer dem Glauben gemäßen Lebensform. Der paulinischen Rechtfertigungslehre ist gerade in den neuzeitlich-modernen Lebenszusammenhängen viel abzugewinnen  – auch wenn deren dominant säkulares Selbstverständnis dem entgegenzustehen scheint.112 Aber die evangelische Rechtfertigungslehre deutet die grundlegende Erfahrung unseres bewussten Lebens, dass wir das Gelingen nicht in der Hand haben, wir unendlich angewiesen sind, wir den Sinn und das Glück, so sie sich einstellen, nie selbst machen können. Letztlich ist alles Gnade. Treffender kann die grundlegende Erfahrung unseres bewussten Lebens nicht gedeutet werden als dadurch, dass ein Mensch den Dank ausspricht für das, was er ist und was er hat. Und da dieser Dank nicht nur diesem und jedem gilt, sondern dem Leben überhaupt, kann er auch nur Gott, dem Schöpfer und Geber aller guten Gaben gelten. Aber nun gerade nicht so, dass wir der Meinung sein könnten, wir hätten einen Anspruch auf das Leben und alle seine guten Gaben. Die Erfahrung unseres bewussten Lebens lehrt uns ja ebenso, wie wahr das Gegenteil ist, dass aller Sinn sich 112 Das hat jüngst Martin Walser auf grandiose Weise deutlich gemacht. Er liest Paulus, Augustin und dann vor allem Karl Barth als die Autoren eines großen Fortsetzungsromans, der von einem Gott handelt, der die Existenz eines Menschen rechtfertigt, der keinerlei Rechtfertigung verdient hat. Ob es diesen Gott gibt, spielt dabei keine Rolle. Auch bei anderen Romanhelden, so Walser, fragen wir ja nicht, ob es sie in Wirklichkeit gibt. Wir fühlen und denken uns in sie hinein, weil sie uns die Wirklichkeit des eigenen Lebens sehen lassen. So ist es auch mit Gott, meint Walser, dass wir eigentlich erst merken, wie sehr er uns fehlt, wenn wir meinen, nicht mehr an ihn glauben zu können. Denn seine Wirklichkeit ist genau die unseres Glaubens an ihn und unseres Hoffens auf ihn, einer Hoffnung, in der sich die Macht des Glaubens zeigt. Es ist ein Glaube, der Gott groß und den Menschen klein macht, der sein permanentes Rechthabenwollen ins Unrecht setzt und so die Hoffnung weckt auf ganz neue Möglichkeiten aus Gottes unendlich lebendiger Schöpferkraft. Vgl. Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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entzieht, dass Lebensprojekte scheitern, dass Menschen in Not und sinnloser Gewalt elend zugrunde gehen. Wer, so er nur einigermaßen bei Verstand ist, kann sich sein Leben, was er ist und was er hat, als sein eigenes Verdienst zuschreiben? Im Grund führt erst der Glaube daran, dass alle WirkIm Grund führt erst der Glaube daran, dass alle Wirklichkeit letzt­ lichkeit letztlich in Gott grünlich in Gott gründet, dass Gott es ist, det, dass Gott es ist, der die der die Möglichkeiten des Gelingens Möglichkeiten des Gelingens schafft, all unser Wissen und Tun, selbst unsere Freiheit durch ihn schafft, all unser Wissen und bedingt sind, in eine wahrhaft rea­ Tun, selbst unsere Freiheit listische Lebenshaltung. durch ihn bedingt sind, in eine wahrhaft realistische Lebenshaltung. Dieser Glaube findet in der Dankbarkeit des Geschöpfs seinem Schöpfer gegenüber seinen angemessenen Ausdruck. Er lässt dann auch ein positives Selbstverhältnis und innere Stabilität gewinnen und ermöglicht diejenige Selbstdeutung, die zu einer Lebenshaltung im Bewusstsein der Freiheit ermutigt. Insofern ist es dann aber auch ein gravierendes Miss­ verständnis, zu behaupten, der Rechtfertigungsglaube sei mit der neuzeitlich-modernen Autonomieanmutung nicht verträglich. Das Gegenteil ist der Fall. Der Rechtfertigungsglaube kann gerade als Befähigung zur Selbstbestimmung verständlich werden, weil er von den allgegenwärtigen Rechtfertigungszwängen und der Verstrickung in immer wieder neue Rechtfertigungsdiskurse entlastet. Er schafft eine heilsame Distanz zur permanenten Selbstrechtfertigung und eröffnet gerade so die Chance, das von der Sache her Notwendige zu tun. Die Rechtfertigungszwänge bedrängen ja in allen Lebensbereichen, in der Politik und der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst und natürlich auch in den persönlichen Beziehungen. Wir müssen uns rechtfertigen, wenn wir den Erwartungen oder Anforderungen nicht entsprechen, in der Schule, im Beruf, gegenüber dem Partner, der Partnerin, in der Familie. Der Erwartungsdruck, der von unseren kommunitären 236 

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Zugehörigkeiten in Familie, Staat und Kirche ausgeht, und die Rechtfertigungsdiskurse, in die wir uns in unseren privaten und öffentlichen Verhältnissen hineingezogen sehen, sind oft ungeheuer. Wir haben diesen Rechtfertigungsdruck alle zutiefst verinnerlicht. Deshalb wollen wir zuletzt immer Recht behalten. Deshalb wollen wir immer im Recht sein. Denn nur solange wir im Recht sind und uns dieses auch von den anderen zuerkannt wird, können wir zu uns selber stehen. Wenn wir nicht Recht bekommen, sehen wir uns in unserem Selbstwert beschädigt, droht manchmal auch der soziale Absturz. Wie sehr wir auf Rechtfertigung angewiesen sind, merken wir, wenn sie uns versagt wird. Wenn man uns beschuldigt, wenn man uns Vorwürfe macht, wenn man uns die Achtung verweigert, wenn man uns gar das Existenzrecht abspielt, dann verlieren wir den Boden unter den Füßen. Wir leben aus und von der Rechtfertigung und merken doch ständig, wie brüchig diese Lebensbasis ist. Ständig können wir einbrechen. Und dann? Die paulinische Rechtfertigungsbotschaft befreit nicht von dem Zwang, sich rechtfertigen zu müssen. Der bleibt bestehen. Er gehört zum Gesetz des Lebens, zu den Bedingungen unserer endlichen und zugleich sozialen Existenz. Doch die Rechtfertigungsbotschaft ermöglicht die Vorstellung, dass wir uns die letzte Rechtfertigung unserer Existenz gerade nicht aus unseren Lebensleistungen beschaffen müssen. In Röm 7,14–25 beschreibt Paulus das Elend, das dadurch entsteht, dass wir den ungeheuren Rechtfertigungsdruck sehen und ihm dann auch noch mit allen möglichen Strategien der Selbstrechtfertigung stand­halten wollen. Es ist ein exemplarisches Individuum, das Paulus da reden lässt und das auf die Geschichte seines vergeblichen Kampfes um die moralische Rechtfertigung seiner Existenz zurückblickt. Doch zuletzt findet dieses Ich in die befreiende Erkenntnis, nicht durch sich und seine Lebensleistung, sondern auf Christus und sein Kreuz blickend und von ihm her sich verstehend, gerechtfertigt zu sein. Zu gewinnen ist diese RechtferLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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tigung um Christi willen somit aber auch nur im Glauben, im Vertrauen auf den Gott Jesu. Dieser Glaube ist eine subjektive Überzeugungsgewissheit, ein unvertretbarer, individuell-persönlicher Akt des Vertrau­ ens. Ihn muss der Mensch selbst vollziehen. Sofern er sich letztlich nicht auf sich, sondern auf Christus verlässt und auf dessen Gerechtigkeit als einer jetzt auch ihm, dem Sünder, aus Gnaden zuteilwerdenden Gerechtigkeit setzt, kann er dessen gewiss sein, im Grunde seines Daseins gerechtfertigt und anerkannt zu sein. Das in Röm 7,14–25 auf das verzweifelte Bemühen um seine Selbstrechtfertigung zurückblickende Ich, bekennt sich in Röm 8,38 genau zu dieser unbedingten Lebensgewissheit. Es weiß sich unendlich in der den Tod (in Christi Auferstehung) überwindenden Liebe Gottes geborgen. Im Aufgang dieser Lebensgewissheit weiß sich die eigene Existenz nicht nur insoweit gerechtfertigt, als sie den gesellschaftlichen oder auch den selbst gesetzten Lebensanforderungen entspricht. Der Rechtfertigungsglaube eröffnet vielmehr diese andere Perspektive der Selbstdeutung. Er transzendiert die ruinö­sen Anforderungen, die wir so lange an uns selbst und an andere stellen, solange das Gelingen, die Erfüllung, der Wert, die Anerkennung des eigenen Daseins Resultat zugleich auch des eigenen Tuns und Leistens sind oder eben aus den sozialen Zugehörigkeiten und gesellschaftlichen Zuschreibungen hervorgehen. Wie »Rechtfertigung« in der christlichen Predigt heute zur Sprache kommen kann Die Vorstellung von Gott als dem Richter ist kaum noch präsent, wie überhaupt die realistische Vorstellung von einem Endgericht, in dem sich entscheidet, ob wir in den Himmel oder in die Hölle kommen sich – zum Glück – verloren hat und weithin auch nicht mehr gepredigt wird. Deshalb aber hat die Botschaft, dass Gott Liebe ist und dem Sünder, der die ewigen Höllenstrafen verdient hat, um Christi willen aus reiner Gnade vergibt, unmittelbar auch keine befreiende und heilende Kraft. 238 

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Wo keine Furcht ist vor einem zornigen Richtergott, dort auch kein Aufatmen angesichts der Botschaft, dass Gott den Gläubigen vergibt, dort kein Erlösungsbedürfnis, dort kein Verlangen nach den »Gnadengaben« der Kirche, dort kein Verständnis für das »Heil«, das schon im Glauben an das Evangelium liegt. Die Umgangssprache enthält jedoch, wie zu zeigen war, Hinweise genug darauf, wo die Rechtfertigungslehre ihren heutigen Sitz im Leben hat. Der gesellschaftlich dominante Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstlegitimierung zeigt, welche Resonanzen die Rechtfertigungsbotschaft finden kann. Jeder und jede erfährt nahezu täglich, wie schwierig es ist  – angesichts der vielfältigen Leistungsanforderungen und der Vielfalt der oft unvereinbaren Rollen, die wir einnehmen müssen – in Freiheit zu sich selbst zu stehen, seiner selbst gewiss und in sich gegründet zu sein. Es ist gleichsam ein innerer Gerichtshof, vor den wir uns permanent gezerrt sehen. Dort werden wir nach unseren Leistungen beurteilt. Dieses Leistungsbewusstsein haben wir zutiefst verinnerlicht. In der Gerichtsverhandlung, die wir in unserem Inneren permanent veranstalten, lässt jedoch die evangelische Rechtfertigungsbotschaft eine andere Stimme zu Wort kommen. Es ist eine sehr fremde Stimme in unserer Gesellschaft, obwohl ihr Plädoyer nicht schlicht auf Freispruch lautet. Damit könnte sie sich auch kein Gehör verschaffen, weil die Verhältnisse im wirklichen Leben nicht so sind. Wir müssen viel leisten und uns bewähren. Der Rechtfertigungszwang ist den gesellschaftlichen Verhältnissen unabänderlich eingeschrieben. Die Stimme der Rechtfertigungsbotschaft bringt sich vor unserem inneren Gerichtshof jedoch mit einer grundlegenden Unterscheidung ein. Sie lässt uns unterscheiden zwischen uns als individuellen Subjekten und den Funktionen, Rollen und Leistungen, die wir erbringen und erfüllen müssen. Sie rückt einen Mehrwert in den Horizont unserer Selbstbeurteilung, indem sie diese Zusage macht: Dein Daseinsrecht resultiert nicht aus den Funktionen, die du erfüllst, nicht aus den Leistungen, durch die du deine Lebensposition behauptest und auf denen Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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du deine Identität und deine Selbstgewissheit aufgebaut hast. Du hast ein unverlierbares Daseinsrecht. Es wächst dir aus der Kraft Gottes zu, so du dich nur bedingungslos auf ihn verlässt. Im Vertrauen auf den Gott Jesu kannst du des unendlichen Wertes deines einzigartigen, individuellen Lebens gewiss sein. Die paulinische Rechtfertigungslehre ist heute zu über­ setzen in solche Fragen nach dem Gewinn einer unverlierbaren, unbedingten Lebens- und Sinngewissheit und damit auch nach einem in Freiheit  – und nicht unter dem Zwang der Selbstrechtfertigung  – vollzogenen Lebenskonzept. Dass es die zentralen religiösen Lebensfragen heute sind, die die Rechtfertigungslehre zu beantworten hilft, ist evident. Recht­ fertigungsdiskurse und Legitimierungsstrategien bestimmen das öffentliche Leben und das private. Wer einen Fehler gemacht hat oder auch nur in den Verdacht gerät, einen Fehler gemacht zu haben, muss sich rechtfertigen. Schließlich zeigt sich der gnadenlose Rechtfertigungsdruck in allen unseren Verhältnissen und Beziehungen, im Verhältnis zu uns selbst, zu anderen Menschen. Er zeigt sich in den ungeheuren Leistungsanforderungen, die in der Schule und im Beruf gemacht werden, schließlich in dem verinnerlichten Verlangen nach An­ erkennung, nach Beachtet-Werden, nach Status. Am mangelnden Interesse an »Rechtfertigung« liegt es nicht, dass die Rechtfertigungslehre, die durch Paulus ins Zentrum des christlichen Glaubens gerückt ist, in der heutigen Predigt so schwer zu vermitteln ist. Wir müssen die Rechtfertigungslehre nur existenzialhermeneutisch, wie das Paulus in Röm 7 im Grunde auch schon getan hat, lesen. Dann kann die aus ihr hervorgehende Botschaft, die zusagt, dass Gott den Sünder (im Gericht) nicht zum Tod verurteilt, sondern ihm aus freier Gnade das (ewige)  Leben schenkt, nicht weil er es verdient hätte, sondern um Christi willen, aus unergründlicher Liebe, neu verstanden werden  – als Angebot an die von jedem und jeder ohnehin zu vollziehende Selbstdeutung. Dann kann die Rechtfertigungsbotschaft ein neues Selbst-Denken anstoßen. Da ist eine unbedingt gute Vorgabe, sagt die Rechtfertigungs­ 240 

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botschaft. Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins. Sein Leben von der Erfahrung einer unbedingt guten Vorgabe her zu verstehen, heißt christlich glauben. Glaube, der rechtfertigt, ist die Aneignung dieser unbedingt guten Vorgabe für mein Leben, dass ich sie auch unbedingt für mich gelten lasse. Wer die Erfahrung, die jeder machen kann, wirklich akzeptiert, dass das Wichtigste im Leben, dieses selbst, sich nicht dem eigenen Tun und Leisten verdankt, der kann gelassener werden. Wer die Einsicht gewinnt, dass nicht alles machbar ist, ich mir gerade das Wichtigste im Leben schenken lassen muss, ich mich auch nicht dafür rechtfertigen muss, dass ich da bin und geliebt werden will, der findet in eine andere Lebensform, in die der Freiheit – von der er dann aber gar nicht mehr meint, dass er selbst sich zu ihr ermächtigen muss. So kommt es zu Entlastungen, angesichts der Zwänge zur permanenten Selbstrechtfertigung, Selbstbehauptung, Selbstlegitimierung. Die Die paulinische Rechtfertigungs­ lehre zeigt den unendlich positiven paulinische RechtfertigungsEffekt einer religiösen Begründung lehre zeigt den unendlich des menschlichen Selbstverhältnisses positiven Effekt einer religiöund Selbstverständnisses. sen Begründung des menschlichen Selbstverhältnisses und Selbstverständnisses. Dieser Weg zu einem im Transzendenten, im Christus­ ereignis grundlos begründeten, deshalb nur im Glauben zu gewinnenden, positiven Selbstverhältnis hat immer auch end­ liche Veranlassungen. Wo geht uns auf, dass wir das Wichtigste im Leben nicht selbst machen können? Dass vor allem Tun, Leisten und Haben das Da-Sein steht? Vor dem »du sollst« das »du bist«! Vor aller Nötigung zur Selbstrechtfertigung, Leistungssteigerung und Selbstinszenierung die Erfahrung: »Du darfst sein, der du bist«! Wo merken wir das? Diese Fragen weisen jeden und jede in lebensgeschichtliche Erfahrungen und Erinnerungen. Vielleicht sind alle Lebensgeschichten, die – wie fragmentarisch auch immer  – erzählt werden, kleine Recht­ fertigungsgeschichten. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Die Suche nach erfülltem Leben, nach Anerkennung jenseits der Leistungszwänge und Rollenanforderungen zeigt sich in der Medien- und Erlebnisgesellschaft freilich auch in den kleinen und großen Fluchten aus dem Alltag: hinein in die Er­lebnisbäder und Erlebnisparks, in die Diskos und zu den Techno- und Rave-Events, ins Kino der großen Gefühle und auf die Inseln des Urlaubsglücks. Die Anforderungen, denen der Einzelne sich in der Leistungs- und Marktgesellschaft gegenüber sieht, sind groß. Groß ist in der Regel ebenso die Bereitschaft, sie zu erfüllen. Aber man möchte dann gewisser­ maßen die Gegenleistung: Ein schönes Leben, Erlebnisse, Spaß und Events, Lifestyle, das entsprechende Outfit, die Zugehörigkeit zu einer Szene, zu einer Clique. Hinter der Lifestyle-, Spaß- und Cliquenkultur verbirgt sich die Suche nach Sinn, nach Zugehörigkeit, tiefer Verbundenheit, Anerkennung, nach der Erfahrung des Wertes des Lebens, jenseits von Leistung und Arbeit.113 Gelebte Rechtfertigung: Perspektivenverschiebung in der Selbstdeutung Die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben formuliert eine bestimmte, sinn- und zielgewisse Selbstdeutung. Sie lehrt, dass die Würde eines Menschen, der Grund dafür, dass er Anerkennung, Wertschätzung und Liebe verdient, nicht in dem besteht, was er hat, was er kann und wie er aussieht, sondern in dem, dass er ist. Vom Haben zum Sein. Vom Sinn, den ich mir selbst schaffe, zu dem, in dem ich mich vorfinde. Du darfst sein, der du bist. Mehr braucht es nicht. Es geht um diesen Blickwechsel. Ich schaue nicht darauf, was ich alles geleistet und in Szene gesetzt habe bzw. noch leisten und in Szene setzen muss, um das Gefühl zu haben, mein Leben lohne sich. Ich schaue mich selbst so nicht mehr an und nicht die andern.

113 Vgl. Hans-Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998. 242 

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Denn solche Selbst- und Weltanschauung rechnet damit, dass der Sinn fern ist, dass Gott, die Fülle des Lebens, das vollkommene Glück im Himmel wohnen oder in einer fernen Zukunft, dass ich sie erarbeiten und erkämpfen muss. Der Glaube, von dem Paulus meinte, dass er ausreicht zur Rechtfertigung, tut dies deshalb, weil er Glaube an das Christusereignis, das Ereignis der den Tod überwindenden, unendlichen Liebe Gottes ist. So lässt er die Überzeugung vom unendlichen Wert und Lebensrecht jedes Einzelnen, seiner unverletzlichen Würde gewinnen. Dieser Glaube, so er denn in der Gestalt meines bewussten Lebens der meinige ist, er­neuert mein Daseinsvertrauen. Jeder Mensch, der zu diesem Glauben findet, kann frei zu sich selbst stehen und andere in ihrem unbedingten Daseinsrecht anerkennen. Das alles unabhängig von seinem Vermögen und seinen Leistungen, seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seinen nationalen und religiösen Zugehörigkeiten. So lebt der christliche Glaube als Rechtfertigungsglaube. Er deutet das Leben. Er ist gelebte Deutung. Er darf nicht moralisch missverstanden werden. Er verpflichtet auch nicht auf einen bestimmten Lebensstil, auch nicht ein »geistliches« Leben, sondern ist gerade die Befreiung von solchen uns heute allerwärts begegnenden Verpflichtungszwängen  – und darin die zielgewisse Orientierung eines Lebens aus der Erfahrung der Gnade.114

3.4 Die religiöse Deutungskraft des christlichen Glaubens Die christliche Rechtfertigungsbotschaft spricht die Menschen dort an, wo sie die religiöse Deutungsbedürftigkeit menschlichen Lebens am stärksten empfinden. Sie nimmt die Erfah114 Wie diese Chance von der protestantischen Predigt wahrgenommen werden kann, zeigt exemplarisch Volker Drehsen, Rechtfertigungs­ geschichten. Protestantisch predigen, Gütersloh 2002. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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rung auf, dass wir es überhaupt nicht in der eigenen Hand haben, ob unser Leben gelingt. Letztlich ist alles Gnade, schon dass wir überhaupt da sind und das Leben haben. Wer sich nur dessen bewusst wird, dass er sein Leben nicht sich selbst verdankt, schon gar nicht die Erfahrungen des Glücks und des Gelingens, der ist ansprechbar auf die Religion, auf einen Gott, an den er seinen Dank richten kann für das Geschenk des Daseins, ebenso seine Klage und Anklage im Leiden, in der Ungerechtigkeit, in den Erfahrungen des Absurden und Desaströ­ sen. Es soll jetzt noch darum gehen, zu zeigen, dass sich die umfassende Deutungskraft des christlichen Glaubens von dessen Zentrum her, der Rechtfertigungsbotschaft, erschließt. In allen Grunderfahrungen des Lebens tritt dessen religiöse Deutungsbedürftigkeit hervor. In ihnen allen erweist sich aber auch die religiöse Deutungskraft des christlichen Rechtfertigungsglaubens. Menschliche Grunderfahrungen im Deutungshorizont des christlichen Glaubens Auf die religiöse Deutungsbedürftigkeit seines Lebens wird im Grund jeder aufmerksam, der nur einiger Selbstbeobachtung fähig ist. Denn sie ist auf das Engste damit verbunden, wie wir uns überhaupt unserer selbst bewusst sind. Zu den elementaren Tatsachen unseres Selbstbewusstseins gehört es, dass wir seiner auf kontingente Weise ansichtig werden. Wir finden uns gewissermaßen in unser Selbstbewusstsein eingesetzt. Es kommt in uns auf, ohne dass wir es bewusst hervorbringen. Wir könnten es auch gar nicht bewusst hervorbringen, selbst wenn wir dies wollten, denn um wollen zu können, dass wir unser selbst bewusst werden, müssen wir ja bereits unser selbst bewusst sein. Unser Selbstbewusstsein entsteht nicht aus Akten unserer Selbstreflexion, sondern es kommt mit dem Gefühl einer unmittelbaren Selbstvertrautheit immer dann in uns auf, wenn wir uns unseres Bezogenseins auf andere und anderes bewusst werden. Denn dann erleben wir, dass wir selbst es sind, die sich des anderen und der anderen, somit einer Welt, 244 

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zu der wir gehören, bewusst sind, dieses Weltbewusstsein aber nicht das unsrige wäre, wenn es von unserem Selbstbewusstsein nicht immer schon begleitet wäre. Kein Weltbewusstsein ohne Selbstbewusstsein, von dem aber zugleich gilt, dass es sich nicht vom Weltbewusstsein herkommen sieht, wiewohl es auch nicht ohne Weltbewusstsein vollzogen wird. Es kommt passiv in uns auf, wir fühlen uns in es eingesetzt, eine Erfahrung kontingenter Faktizität, die dann auch unser ganzes Weltverhältnis durchstimmt. Wir fühlen uns in eine Welt gehörig. Wir erleben, dass wir sie erkennen und gestalten können, und sind uns zugleich dessen bewusst, dass wir uns in diesem Grundverhältnis unseres bewussten Lebens, sobald wir uns seiner bewusst werden, immer schon vorfinden. Genau diese Passivität, in die uns die Konstitution unseres Selbst- und Weltbezuges versetzt, lässt in uns das Gefühl entstehen, das eigene Leben unter Bedingungen führen zu können, aber auch führen zu müssen, die als Ganze weder unserem Erkennen, noch unserem Handeln zugänglich sind. Dieses Gefühl, das uns unabweisbar begleitet, eben aller Bedingungen des eigenen Daseins nicht selbst mächtig zu sein, gleichwohl aber eine elementare Daseins- und Sinngewissheit zu empfinden, ist ein Gefühl, das in die religiöse Deutung drängt. Das schließt keineswegs ein, dass diese Deutung auch vollzogen wird, schon gar nicht, dass dabei auf die geprägten religiösen Deutungstraditionen zurückgegriffen wird. Aber in diesen religiösen Deutungstraditionen, und nun im Aus­ legungszusammenhang des in der evangelischen Rechtfertigungsbotschaft zentrierten Auslegungszusammenhangs des christlichen Glaubens, sind die Deutungsangebote zu finden, die eine Verständigung über das Gefühl dieser elementaren Daseins- und Sinngewissheit möglich machen. Dass die Deutung dieses Gefühls gesucht wird, kann deshalb auch als Ausdruck gesteigerter Bewusstheit im Grundverhältnis unseres bewussten Lebens angesehen werden. Nicht selten kommt es zu dieser gesteigerten Bewusstheit für die Voraussetzungen, denen wir unser bewusstes Lebens verdanken, freilich erst dann, Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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wenn die Selbstverständlichkeit ihres Gegebenseins zerbricht, somit in den Krisenerfahrungen des Lebens, an den Wendepunkten und Grenzmarkierungen der Lebensgeschichte. Dann also, so haben wir bereits dargelegt, wenn die religiöse Rede besonders gefragt ist. Stärker als die Erfahrungen der Selbstvertrautheit und des Passungsverhältnisses zur Welt sind es die Erfahrungen der Differenz, der Selbstverlorenheit und der Weltfremdheit, die mit den Lebens- und Sinnfragen bedrängen. Allerdings, sie würden das nicht tun, wenn nicht doch dieses elementare Gefühl einer Selbstvertrautheit und Weltpassung immer schon in uns aufgekommen wäre. Denn woher sonst sollte uns als Verlust irritieren, womit wir noch gar keine Bekanntschaft haben machen können. Gleichwohl sind diese Differenzerfahrungen Erfahrungen des Negativen, der Selbstentfremdung und der Widrigkeit einer Welt, die die Erwartungen des Gelingens und des Glücks enttäuscht. Es sind die Erfahrungen, in denen Menschen das Gefühl haben, nicht mehr in diese Welt zu passen und dabei zugleich sich selbst zu verlieren, weil ihre Hoffnungen enttäuscht wurden, ihre Lebenspläne nicht aufgehen, der Lebenssinn sich ihnen entzieht. Gerade die Negativität drängt in die religiöse Deutung. Sie provoziert zumeist erst die Lebens- und Sinnfragen. Denn solange das Leben uns in seine Bewegung hineinzieht, solange das Gefühl der Selbstvertrautheit uns in allem un­ serem Handeln begleitet und uns die Welt gewissermaßen entgegenkommt, stellen sich die Lebens- und Sinnfragen zumeist nicht. Sie können unausdrücklich bleiben, solange der eigene Lebensgang als stimmig empfunden wird. Wenn uns jedoch dessen Brüchigkeit und Endlichkeit nicht nur bewusst wird, sondern in seiner ganzen Härte zur Erfahrung wird, dann bedrängen die Warum-Fragen, dann wird nach einer auf Gott als transzendente Sinninstanz ausgreifenden Antwort verlangt. Das ist so, eben weil sich mit Gott ursprünglich die Vorstellung des Grundes verbindet, der uns ins Passungsverhältnis zu uns selbst und zur Welt setzt. Wo wir uns mit den Erfahrungen 246 

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des Negativen konfrontiert sehen, uns in den Erfahrungen des Verlustes und des Scheiterns, der Schuld und des Versagens selbst zu verlieren drohen und die Welt uns fremd und abweisend erscheint, dort bedrängt uns deshalb auch die Frage nach Gott. Oder aber es kommt zum performativen Ausdruck des Schmerzes, der empfunden wird, zu einer an Gott gerichteten Klage und Anklage. Auch dieser performative Ausdruck des religiösen Gefühls geht zusammen mit dem Vollzug seiner Deutung, sei es, dass in der Positivität des Grundverhältnisses der Dank an Gott zum Ausdruck kommt für die Gegebenheit des Lebens, sei es, dass in der Erfahrung des Negativen Menschen sich in Klage und Anklage, mit Flehen und Bitten an Gott wenden. Die reflexive Deutung steht dem performativen Ausdruck des religiösen Gefühls keineswegs entgegen. Das zu meinen, liefe vielmehr auf ein intellektuelles Missverständnis des religiösen Gefühls hinaus. Seine Eigentümlichkeit besteht vielmehr gerade darin, dass es dort, wo es aufkommt, sich auch äußert, leibhaft spürbar wird und die unwillkürlichen Möglichkeiten seiner Mitteilung ergreift. Der performative Ausdruck des religiösen Gefühls und seine Deutung bauen aufeinander auf. Sie verweisen auf die subjektive Religion 1 und die objektive Religion 2, denn der per­ formative Gefühlsausdruck entspricht dem Vollzug des religiö­ sen Bewusstseins und dessen religiöse Deutung verlangt die Aufnahme und Aneignung der religiösen Deutungssprache. Die religiöse Rede ist, wo sie Menschen wirklich erreicht, die deutungssprachliche Vermittlung des zutiefst ambivalenten, ja oft gegenläufigen Ausdrucks religiösen Gefühlsbewusstseins. Das religiöse Gefühlsbewusstsein geht schließlich aber auch noch darüber hinaus, der Ambivalenz von Positivität und Negativität im Grundverhältnis unseres bewussten Lebens Ausdruck zu geben. Auch die negativen Erfahrungen der Selbstverlorenheit und Weltdistanz zehren ja immer noch davon, dass sie als Verlust ursprünglicher Selbstvertrautheit und Weltpassung empfunden und erlitten werden. Der Negativität im Grundverhältnis unseres bewussten Lebens tritt deshalb zuLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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letzt immer noch einmal deren Negation entgegen. Das religiöse Gefühlsbewusstsein setzt der Negativität im Grundverhältnis ein trotziges Dennoch entgegen. Dann spüren wir die Kraft der Hoffnung, die uns nicht aufgeben lässt, den Lebensmut, der dafür sorgt, dass wir im tätigen zielorientierten Lebensvollzug begriffen bleiben. Auch diese Negation der Negation, die in unserem religiösen Gefühlsbewusstsein vorgeht und der wir die widerständige Affirmation im positiv bestimmten Grundverhältnis unseres bewussten Lebens verdanken, drängt in die religiöse Deutung, freilich nicht ohne ihrerseits den performativen Ausdruck zu suchen. Die re­f lexive Deutung korrespondiert vielmehr dem religiösen Gefühl, das als Erneuerung des Lebensmutes und als Quelle der Hoffnung empfunden wird. Die religiöse Rede muss dann ebenfalls beidem entsprechen, der Performativität des religiö­sen Gefühls wie dessen reflexiver Verständigung über sich. Die religiöse Die religiöse Rede muss ihrerseits zum performativen Sprechakt wer­ Rede muss ihrerseits zum perforden, zur verheißungsvollen Zusage, mativen Sprechakt werden, zur zum ermutigenden Versprechen und zum aufrichtenden Trostwort. verheißungsvollen Zusage, zum ermutigenden Versprechen und zum aufrichtenden Trostwort. Darüber hinaus muss sie die Bilder der Hoffnung, die die objektive Religion 2 enthält, aufnehmen und zur Ausdeutung dessen gestalten, worauf die von ihr ausgehende Lebensermutigung sich richtet. Die religiöse Rede kann dabei aber auch zurückgreifen auf den Reichtum der Heilsversprechen und unabgegoltenen Visio­nen gelingenden Lebens, die die biblischen Überlieferungen bereithalten. Wer hofft, gibt sich selbst und diese Welt nicht verloren, auch dann nicht, wenn offenkundig ist, dass wir am Ende unserer menschlichen Möglichkeiten angekommen sind. Alle Hoffnung ist religiös grundiert. Diese religiöse Grundierung der Hoffnung ausdrücklich zu machen und zugleich zu solcher Hoffnung zu motivieren, führt somit auf den dritten und letzten Aspekt in der Konzeption einer als Akt religiöser Lebensdeutung sich vollziehenden religiösen Rede. 248 

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Die christlich-religiöse Deutungskompetenz der Predigt erweist sich darin, dass sie alle drei Erfahrungsdimensionen – die der Einheit, der Differenz und der nach vorne offenen Ganzheit selbstbewussten menschlichen Lebens – aufnehmen und im Deutungshorizont des christlichen Glaubens zur Sprache bringen kann. Stellt die Predigt sich dieser Herausforderung, dann kann sie zugleich als Ort der Produktion einer gegenwartsbezogenen christlichen Glaubenslehre aufgefasst werden. Die Erfahrung der immer schon vorausgesetzten Einheit unseres Daseins finden wir symbolisch ausgedrückt im Glauben an Gott den Schöpfer. Die Erfahrung der Differenz und dessen, was zum Gelingen des Lebens fehlt, finden wir ausgedrückt im Glauben an den in Christus den Sünder rechtfertigenden Gott. Die Erfahrung der ausstehenden Ganzheit und damit dessen, was uns auf die Vollendung unseres Lebens und dieser Welt hoffen lässt, finden wir ausgedrückt im Glauben an Die Erfahrung der Differenz und dessen, was zum Gelingen des Le­ den in uns Menschen präsenten, bens fehlt, finden wir ausgedrückt zu Glaube, Liebe und Hoffnung im Glauben an den in Christus den ermutigenden Gott. Diese uniSünder rechtfertigenden Gott. Die Erfahrung der ausstehenden Ganz­ versale, kraftvolle Präsenz Gotheit und damit dessen, was uns auf tes im Menschen sowie, von ihm die Vollendung unseres Lebens und ausgehend, im Ganzen der von dieser Welt hoffen lässt, finden wir ausgedrückt im Glauben an den in ihm (in der Reich-Gottes-Persuns Menschen präsenten, zu Glaube, pektive)  gestalteten GeschichtsLiebe und Hoffnung ermutigenden und Kulturwirklichkeit expliziert Gott. die Dogmatik in der Lehre vom Heiligen Geist. Wer predigt, muss die Symbolsprache des christlichen Glaubens sprechen lernen, damit er zur Deutung wie zur Initiierung der Grunderfahrungen menschlichen Lebens beiträgt. So sehr die Predigt in der Ausrichtung der christlichen Botschaft auf die biblischen Texte verwiesen ist, braucht sie aber auch die Ausrichtung an der christlichen Glaubenslehre, arbeitet sie mit an dem für die Kirche verbindlichen Glaubensausdruck. Sie tut dies aber nicht im Sinn eines lehrgesetzlich verstandenen DogLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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mas, sondern – protestantisch gesehen – im Sinne orientierender Symbole für die Artikulation derjenigen Lebensdeutungsgehalte, die dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens entsprechen, die es deshalb auch hervorrufen können. Die Predigt als Produktionsort der Glaubenslehre Die Dogmatik des christlichen Glaubens wird insofern mit jeder Predigt, die ihren Auftrag recht versteht, weitergeschrieben.115 Denn die Predigt ist, so gesehen, der je gegenwärtige, performative Ausdruck der christlichen Lebensdeutung. Sie bringt diese so zur Sprache, dass sich das in den Erfahrungen des Lebens aufkommende und dialektisch vollziehende religiöse Gefühlsbewusstsein im Lichte des christlichen (Rechtfertigungs-)Glaubens über sich verständigt wie auch immer wieder neu zu seiner Selbstaktualisierung aufgefordert findet. Im Unterschied zur Predigt steigert die systematisch-theologisch durchgeführte Glaubenslehre lediglich das Niveau der gedanklichen Durchdringung und systematischen Formung der die Grunderfahrungen des Lebens im Lichte der christlichen Rechtfertigungsbotschaft verarbeitenden christlichen Glaubensgedanken. Predigt und Glaubenslehre schöpfen Predigt und Glaubenslehre schöpfen gleichermaßen aus diesen drei Quel­ gleicher­ maßen aus diesen drei len: den biblischen Überlieferungen, Quellen: den biblischen Überlieder christlichen Tradition und den Einsichten aus der Hermeneutik ferungen, der christlichen Tradides religiösen Gefühlsbewusstseins. tion und den Einsichten aus der Hermeneutik des religiösen Gefühlsbewusstseins. Glaubenslehre wie Glaubensrede zielen darauf, die christliche-religiöse Lebensdeutung für die je eigene Zeit zu formulieren. Der nicht unerhebliche Unterschied ist allerdings der, dass die Glaubenslehre die christlich-religiöse Lebensdeutung 115 Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt meinen Aufsatz: Dogmatik als Stück der Praktischen Theologie. Das normative Grundproblem in der praktisch-theologischen Theoriebildung. In: ZThK 85/1988, 474–492. 250 

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im systematischen Lehrgefüge darlegt, während die Glaubenspredigt immer auch der performative Ausdruck des religiösen Gefühlsbewusstseins zur Mitteilung bringen will. Die Predigt will als religiöse Rede den Glauben nicht allein als Deutung der Grunderfahrungen unseres Lebens zum Verständnis bringen, sondern zu einer sich auf die Performanz des je eigenen Gefühlsbewusstsein richtendenden und durch sie provozierten religiösen Selbstdeutung anregen. Die Predigt will das Leben im Lichte des christlichen Glaubens religiös deuten, indem sie zu solchem Glauben zugleich anstiftet und ermutigt. Die neuzeitliche protestantische Theologie hat die Dogmatik bzw. Glaubenslehre explizit als eine im geschichtlichen Wandel befindliche, je zeitbedingte Interpretationsgestalt christ­ lichen Glaubens und Lebens begriffen.116 Sie geht letztlich davon aus, dass in ihr nichts anderes als in jeder Predigt auch geschieht,117 mit dem nicht unerheblichen Unterschied nur, dass die Predigt die Hörenden existenziell anzusprechen und in ihrem Gefühlsbewusstsein zu erreichen die Aufgabe hat. Die Predigt möchte dazu veranlassen, die Rechtfertigungsbotschaft in ihrem das christliche Leben erschließenden Sinn zu verstehen, um gerade so das Vertrauen auf diese Botschaft zu stärken und zu einer ihr entsprechenden Lebensführung zu ermutigen. Sie weiß also, dass sie zum Glauben auf eine gedanklich nachvollziehbare Weise nur dann ermutigt, wenn sie – ob116 Friedrich Schleiermacher hat in seiner »Einleitung« in die Glaubenslehre das bis heute gültige Konzept einer so verstandenen »Dogmatik«, die vom christlichen Erfahrungsbewusstsein und nicht von biblischen Lehrsätzen und kirchlichen Bekenntnissen ausgeht, allerdings ohne mit diesen in Widerspruch zu geraten, sie vielmehr in einer erfahrungsbezogenen, existentialen Interpretation aufschließt, begründet. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Lehre der Kirche und die Symbolsprachen der gelebten Religion, in: Ulrich Barth, Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf, Wilhelm Gräb (Hg.), Die aufgeklärte Religion und ihre Probleme, Schleiermacher – Troeltsch – Tillich (TBT 165), Berlin/Boston 2013, 137–154. 117 Insofern hat auch Karl Barth recht, wenn er in der Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack sagt: »Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt.«, in: Karl Barth, Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge, Zollikon 1957, 10. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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wohl darin nicht aufgehend – der systematisch verfahrenden Dogmatik bzw. Glaubenslehre entsprechend die Grunderfahrungen des Lebens im Lichte der christlichen Botschaft zu deuten versucht. Der innere Zusammenhang von Glaubenslehre und Glaubenspredigt Wir folgen hier nun noch ein Stück weit dem Verfahren, Glaubenslehre und Glaubenspredigt im inneren Zusammenhang zu entfalten. Unsere Absicht ist, die in diesem Abschnitt schon gegebenen Hinweise aufnehmend, zeigen zu können, wie die christliche Glaubenslehre die grundlegenden, religiös relevanten Erfahrungsdimensionen menschlichen Lebens, seine Einheit, Differenz und Ganzheit, im Licht der zentralen christ­ lichen Rechtfertigungsbotschaft deutend zu erschließen vermag. Die religiöse Deutungsbedürftigkeit menschlichen Leben, so haben wir gesehen, zeigt sich darin, dass es sich im Grund seiner unmittelbar in ihm aufkommenden Selbstgewissheit vorprädikativ erschlossen ist, dass es auch in den schmerzhaften Erfahrungen der Differenz mit sich identisch bleiben kann und dass es im hoffenden Ausgriff auf die transzendente Ganzheit der Wirklichkeit seines Daseinssinnes gewiss wird. Wir können diese drei Erfahrungsdimensionen im dreigliedrigen apostolischen Credo aufgenommen und insofern mit der Lehre von Gott Wir können diese drei Erfahrungsdi­ mensionen im dreigliedrigen aposto­ dem Schöpfer des Universums, lischen Credo aufgenommen und in­ von Jesus Christus, dem Versöhsofern mit der Lehre von Gott dem Schöpfer des Universums, von Jesus ner der zerrissenen Welt, und dem Christus, dem Versöhner der zerris­ Heiligen Geist als dem eschatosenen Welt, und dem Heiligen Geist logischen Vollender der Menschals dem eschatologischen Vollender der Menschheit ihrer deutenden Er­ heit ihrer deu­ tenden Erschlieschließung entgegengeführt sehen. ßung entgegengeführt sehen.118 118 Vgl. dazu das Konzept und die Durchführung der den Hauptstücken von Luthers Kleinem Katechismus folgenden Dogmatik von Dietrich Korsch, Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung des menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000. Dietrich 252 

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Dies im Einzelnen hier zu entfalten, würde die Ausführung einer Glaubenslehre zur Folge haben müssen. Das kann im Zusammenhang einer Homiletik natürlich nicht geschehen. Wir müssen uns mit Andeutungen begnügen. Diese aber sollten eben dies zeigen, dass die wesentlichen Gehalte des christlichen Rechtfertigungsglaubens genau eine solche deutende Erschließung der grundlegenden Erfahrungsdimensionen menschlichen Lebens zu leisten vermögen. Dabei schließen wir uns freilich an das eben skizzierte Verständnis dessen an, was Glaubenssätze sind, das Konzept von Dogmatik, das durch Friedrich Schleiermacher ausgebildet und der neuzeitlichen Dogmatik, die durch ihn zur Glaubenslehre wurde, auf den Weg gegeben worden ist.119 Danach sind Glaubenssätze solche Sätze, die im Rekurs auf Bibel und Bekenntnis zur deutenden Erschließung religiöser Erfahrung führen. Es zeigt sich, dass, so gesehen, keine Rede davon sein kann, die Dogmatik habe die Auslegung des der Predigt zugrunde liegenden Textes normativ zu steuern. Auch sind von ihr keine direktiven Vorgaben im Blick auf die Erschließung der homiletischen Situation zu erwarten. Sehr wohl aber klärt sich, dass die Glaubenslehre die symbolische Verdichtung der religiösen Deutungskultur des Christentums hervorbringt und insofern auch Predigende sich permanent um deren Fortschreibung bemühen, ja, sie mit betreiben müssen. Glaubenssätze formulieren keine gegenständlichen Bestimmungen über die Inhalte des christlichen Glaubens, sondern Korsch legt in diesem Buch eine Dogmatik vor, die sich als Glaubenslehre begreift, indem sie ihre Sätze aus der Reflexion auf »gelebten Glauben« hervorgehen lässt. Durch eine vom Lebensvollzug ausgehende und auf ihn gerichtete Deutung erschließt sich der Sinngehalt der traditionellen Lehrstücke der christlichen Dogmatik. 119 Vgl. dazu ausführlich Wilhelm Gräb, Religion als humane Selbstdeutungskultur. Schleiermachers Konzeption einer modernen Glaubenslehre und Glaubenspredigt, in: Wilhelm Gräb, Notger Slenczka (Hg.), Universität  – Theologie  – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011, 241–256. Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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liefern sprachliche Codierungen, die die grundlegenden Erfahrungsdimensionen menschlichen Lebens deutend erschließen. Dabei sind sie zugleich auf die biblischen Texte zurückzuführen, wie das konkret eben auch in jeder Predigt geschieht. Die für die Predigt entscheidende Leistung systematisch-theologischer Reflexion liegt darin, erkennbar zu machen, welch konkretes, gegenwärtig ansprechendes Lebensdeutungsangebot die biblischen Symbole von Gott dem Schöpfer, Jesus Christus, dem Versöhner und dem Heiligen Geist als dem Vollender in sich tragen. Die materiale Entfaltung der Glaubenslehre Wenden wir uns genauer den drei beschriebenen Erfahrungsdimensionen und ihrer Deutung in der Symbolsprache des christlichen Glaubens zu. a. Der Glaube an Gott den Schöpfer Aus der unmittelbaren Selbstvertrautheit menschlichen Lebens rührt eine elementare Daseinsgewissheit. Deren Grund kann ich jedoch nicht objektiv vor mich bringen. Ich finde mich vielmehr in dieser Selbstvertrautheit und der mit ihr einhergehenden Daseinsgewissheit immer schon vor. So sehr ich mir dieses Grundes, der mich trägt und aus dem mir meine Lebenszuversicht zuwächst, bewusst bin, so wenig kann ich ihn wissen. Ich kann ihn nicht zum Gegenstand meiner Erkenntnis machen, geschweige denn sein Gegeben-Sein selbst garantieren. Meine Selbstvertrautheit und die aus ihr resultierende Daseinsgewissheit gründen in einem zwar kognitiv relevanten und reflexiv tätigen Gefühl, das aber gleichwohl nicht in ein objektives Wissen überführt werden kann. Schleiermacher hat dieses Gefühl das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« genannt. Er hat darauf hingewiesen, dass dieses Abhängigkeitsgefühl das menschliche Freiheitsbewusstseins nicht nur einschließt, sondern es recht eigentlich von ihm herkommt, eben weil es die Gewissheit des Grundes tätiger Lebensbejahung und Welterschließung begleitet und ermöglicht. 254 

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Diese Gewissheit des GrunDiese Gewissheit des Grundes tätiger Lebensbejahung und Welt­ des tätiger Lebensbejahung und erschließung bekennt der christliche Welterschließung bekennt der Glaube, indem er im ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekennt­ christliche Glaube, indem er im nisses Gott als den Schöpfer der Welt ersten Artikel des Apostolischen bekennt. Glaubensbekenntnisses Gott als den Schöpfer der Welt bekennt. Wer Gott als den Schöpfer der Welt und seines Lebens bekennt, deutet zugleich sich selbst und alle Wirklichkeit als durch den intentionalen, aber gleichwohl weltlich nichtbedingten göttlichen Willen hervorgebracht. Die unmittelbare Selbstvertrautheit, die ich e­ mpfinde und aus der mir meine Selbst- und Weltgewissheit immer schon zuwächst, erhält im Glauben an Gott den Schöpfer somit einen unbedingten Grund und einen sinnintentionalen Gehalt. Denn Gott der Schöpfer ist im Glauben an ihn der, aus dessen bestimmtem Willen ich mich selbst und alle Kreatur letztlich hervorgehen sehe, dem ich mein Leben verdanke und der meinem Leben seine Bestimmung gibt, eben dem Ziel zu folgen, das Gott seinen Geschöpfen gesetzt hat. Es ist diese, die Selbstvoraussetzung, das Gegebensein der WirkEs ist diese, die Selbstvorausset­ zung, das Gegebensein der Wirklich­ lichkeit anerkennende Selbstdeukeit anerkennende Selbstdeutung, tung, die sich im Bekenntnis zu die sich im Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer ausspricht. Gott dem Schöpfer ausspricht. Ich deute mich einschließlich meiner Mitwelt so, dass ich zum Ausdruck bringe, nicht selbst der Grund und Ursprung der Bedingungen meines Daseins zu sein. Ich glaube, wenn ich an Gott den Schöpfer glaube, dass ich selbst Teil einer Welt bin, die sich insgesamt einem intentionalen göttlichen Willen verdankt. Ich glaube, dass die Welt und mein Dasein unter Bedingungen stehen, die sie nicht selbst gesetzt haben, aber unter sinnintentional verstehbaren Bedingungen. So bin ich nicht einem blinden Schicksal unterworfen, nicht in ein sinnleeres Universum ausgesetzt, sondern mit einem Auftrag zur Weltgestaltung und -bewahrung ausgestattet. Dieser Glaube ist kein gegenständliches Wissen, sondern expressive ArLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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tikulation und vorstellungspraktische Symbo­lisierung der unmittelbar aufkommenden und meinen ganzen Lebensvollzug begleitenden Daseinsgewissheit. Gebe ich dieser Gewissheit lebendigen Ausdruck, dann ist Gott der Schöpfer für mich der, an den ich mich richte im Dank für das Ge­gebenseins des Lebens und den ich anrufe mit der Bitte um seine Erhaltung und Bewahrung. Der Glaube an Gott den Schöpfer ist kein gegenständliches Wissen, sondern die personale Adressierung des Vertrauens in den Grund des Grundvertrauens ins Dasein wie dann auch des Vertrauens in die Möglichkeiten menschlicher Welterkenntnis und Weltgestaltung. Im performativen Ausdruck dieses Glaubens vollziehen wir die Hinwendung zu Gott dem Schöpfer im Gebet, in Dank und Bitte. Dieser performative Glaubensausdruck ist deshalb auch begleitet von der Vorstellung des personalen Gegenübers, an das die Glaubenden und Betenden sich wenden. Es verbindet sich mit diesem Glauben aber kein Anspruch auf die objektive Erkenntnis Gottes, weder seines Wesens noch seines Handelns. Ebenso folgt aus dem Schöpfungsglauben keine Erkenntnis hinsichtlich der Entstehung des Universums und der Evolution des Lebens auf dem Planeten Erde. Der Glaube an Gott den Schöpfer ist vielmehr performativer Ausdruck wie symbolsprachlicher Ausdruck derjenigen Lebensdeutung, die die unbedingt begründete, göttliche Selbstvoraussetzung allen Lebens bekennt. Im Schöpfungsglauben spricht sich kein kosmologisches Wissen aus, sondern das gläubige Bewusstsein davon, dass wir in all seinem Wissen und Handeln von Voraussetzungen leben, die wir durch unser Wissen und Handeln nie einholen können, weil sie deren Ermöglichungsgrund sind. Deshalb empfindet, wer sich zu Gott dem Schöpfer bekennt, Dankbarkeit ihm gegenüber in den Erfahrungen der Bewahrung und des Gelingens. Deshalb richtet er seine Bitten, aber auch seine Klagen und Anklagen an ihn als den (immer wieder erschütterten) Grund seines Vertrauens  – in Erfahrungen, in denen die Wirklichkeit sich in ihrer Brüchigkeit und Gefährdung 256 

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zeigt oder gar aller Sinn sich entzieht und der Zweifel an Gott mächtig wird. Man muss dieses Vertrauen ein objektiv grundloses Grundvertrauen nennen. Die Dankbarkeit ist dann eine solche, die aus dem Empfinden der Gabe des Lebens selbst erwächst, die Bitte und die Klage sind dann solche, die sich an Gott richten, indem sie der unendlichen Angewiesenheit und Bedürftigkeit unseres endlichen Daseins einen oft verzweifelten Ausdruck geben. Indem das christliche Leben sich selbst als ein solches deutet, das im Vertrauen auf Gott sowie im Dank und der Bitte ihm gegenüber vollzogen wird, erfolgt diese Verständigung bereits in der Symbolsprache christlicher Lebensdeutung. Im Anschluss an die biblischen Texte und die kirchliche Sprachtradition findet die Lebenshaltung des Vertrauens, der Dankbarkeit und der Angewiesenheit einen ungeheuren Reichtum an Formen, um in das Lob Gottes des Schöpfers, in die dankbare Anrede an ihn als den Geber aller guten Gaben wie in die Bitte um Bewahrung und in die Klage über die enttäuschte Erwartung und die trügerische Hoffnung hineinzufinden. Die Predigt muss im situativen Bezug eben diese im Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer ausgedrückte Lebensdeutungund Lebenseinstellung artikulieren. Sie muss unter Umständen dem Missverständnis entgegentreten, als verweise die Rede von Gott dem Schöpfer auf die gegenständliche Vorstellung eines personal existierenden, extramundanen Handlungssubjektes, das die Entstehung des Universums und den weiteren Hergang der Dinge in Natur und Geschichte zu steuern in der Lage sei. Sichtbar zu machen hat die Predigt, dass das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer solche Behauptungen über einen Gott außerhalb der Welt und unabhängig von dem sich in Dank, Bitte und Klage ihm personal zuwendenden Menschen keineswegs impliziert. Das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer bringt vielmehr die grundlegenden Momente im Selbstverständnis menschlicher Existenz expressiv zum Ausdruck. Es baut in der existenziell vollzogenen Hinwendung zu Gott, wie sie das GeLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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bet vollzieht, auch die Vorstellung von ihm als einem personalen, das Gebet erhörenden Gegenüber auf. Das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer findet dann in die Gestalt eines Lebens, das ein personales Gegenüber hat, dem der Dank gesagt werden kann für das Geschenk des Lebens, ein Gegenüber für die Bitte um seine Bewahrung, für die Klage in den negativen Erfahrungen des Lebens. In solchen Vollzügen einer existenziell lebendigen Gottesbeziehung erlangt das Vertrauen auf die Unbedingtheit des Grundes des Grundvertrauens innere Festigkeit, ohne sich in Konflikte mit dem objektiven Weltwissen verwickeln zu müssen. Martin Luther hat den existenziellen Deutungssinn des Schöpfungsglaubens mit seiner Erklärung des Ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus eben dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer in die geschöpfliche Selbstthematisierung des Glaubenden hineingenommen hat. »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen…« Darin liegt, dass sich das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer nicht als Einstieg in die Welterklärung versteht, sondern als Artikulation einer bestimmten, die schlechtinnige Abhängigkeit seiner selbst wie des Ganzen einer Welt artikulierenden Lebensdeutung und -einstellung. In der religiösen Selbstauslegung christlicher Existenz, wie sie die Predigt zu vollziehen hat, wird Gott der Schöpfer als das personale Gegenüber der Hinwendung zum Grund der je subjektiv empfundenen Daseinsgewissheit zur Sprache gebracht. Er ist der, an den sich der Dank richtet für das Geschenk des Lebens. Auf ihn gründen Glaubende ihr Daseinsvertrauen, auch noch auf brüchigem Lebensgelände. b. Der Glaube an den in Christus rechtfertigenden Gott Die zweite grundlegende, in die religiöse Auslegung drängende Erfahrungsdimension menschlichen Lebens ist die Erfahrung der Differenz, des Negativen, der Schuld, der Sünde und des Todes. Auch im Blick auf die Differenz- und Negativitätserfahrungen des Lebens hat das Christentum mit seiner in der 258 

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Rechtfertigungsbotschaft zentrierten Glaubenslehre Symbole entwickelt, die diese Erfahrungen deutend erschließen. Findet die Abhängigkeitserfahrung in der Schöpfungslehre ihre religiöse Auslegung, so die Erfahrung der Verarbeitung der Differenz, des Bösen und des Negativen in der christologisch bestimmten, sich auf das Evangelium von Jesus Christus gründenden Rechtfertigungslehre. In Jesus Christus, in dessen In Jesus Christus, in dessen Lebens­ geschichte und Lebensgeschick, in Lebensgeschichte und Lebensgedessen ganzer Existenz findet die schick, in dessen ganzer Existenz Glaubenslehre das »urbildliche«, pa­ findet die Glaubenslehre das »urradigmatische Modell einer die Dif­ ferenzerfahrungen des Lebens verar­ bildliche«, paradigmatische Mobeitenden religiösen Lebensdeutung. dell einer die Differenzerfahrungen des Lebens verarbeitenden religiösen Lebensdeutung. Die Glaubenslehre fußt dabei auf den neutestamentlichen Evangelien und der neutestament­ lichen Brief­literatur, deren Erzählung vom Leben und Sterben Jesu bereits im Licht einer Deutung steht, die die Auferweckung des Gekreuzigten von den Toten nicht nur einbezieht, sondern von ihr her auch die Negativitätserfahrungen mit einem positiven Sinn versieht. Was im Neuen Testament von Jesus gesagt wird, von seinen Taten und seinem Reden, von seinem Leiden, seinem Sterben und seiner Auferstehung, steht insgesamt für den exemplarischen Fall eines Lebens, das selbst durch die härtesten Differenz- und Negativitätserfahrungen, durch die unausweichliche Konfrontation mit der Macht des Bösen, nicht aus der Verbundenheit mit Gott, dem Schöpfer herausfällt. Mit Jesus tritt wirksam das Bild eines Lebensvollzuges vor Augen, der eine Gott ganz hingegebene, auch noch in den Erfahrungen von Anfeindung, von Leiden und Tod die Gottesbeziehung durchhaltende Ausrichtung zeigt. Wer auf Jesus schaut, seine Werke sieht, auf sein Reden hört und sein Leiden bedenkt, so die Botschaft, begegnet einem Menschen, der sein Vertrauen vorbehaltlos und bedingungslos auf Gott richtet. Er hält dieses Vertrauen auch noch in den härtesten Erfahrungen der Verleugnung, der Anfeindung, des Leidens und Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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Sterbens, ja, sogar im Gefühl der Gottverlassenheit fest. So tritt in seinem Reden und Handeln wie mit der Geschichte und dem Geschick seines ganzen Lebens und Sterbens die Kraft einer Lebensdeutung hervor, die auch noch die Erfahrungen der Differenz und des Negativen in den Sinn des Ganzen von Welt und Leben auf­nehmen und ihnen eine positives Vorzeichen geben kann. Paulus hat diese Lebensdeutung mit seiner Explikation der Botschaft vom Kreuz als dem Evangelium, das gerade in den Schwachen zur unversieglichen Lebenskraft wird, am prägnantesten zur Sprache gebracht. In seinen Augen sind es die Sünder, also die, die ihr Lebensrecht verwirkt haben, für die Jesus am Kreuz gestorben ist (Röm 5,8). Die Gottlosen, so ­Paulus, sind es, die Gott um Jesu Christi willen gerecht macht, denen er das Lebensrecht schenkt, bedingungslos. Das ist dann für Paulus der Glaube, aus dem die Gerechtigkeit kommt, dieses grundlose Grundvertrauen derer, die Gott los sind. Der Glaube derer, die nicht mehr oder noch nicht glauben können. Dieser Glaube garantiert das Lebensrecht, weil er der Akt des absoluten Sich-Verlassens eines Menschen ist. Wer glaubt, verlässt sich. Er geht aus sich heraus und verlässt sich unbedingt, ohne, dass ihm einer oder etwas gegeben wäre, auf das er sich verlassen könnte. Er hat keine Sicherheiten, eben nichts Gegebenes. Radikales Vertrauen, wirklicher Glaube sind verlangt. Nur so findet ein Mensch zu Gott, indem er sich selbst und alle anderen Gegebenheiten und scheinbaren Sicherheiten verlässt. Dann ist Gott der Inhalt reinen Vertrauens, der als solcher aber gerade nicht gegeben sein kann. Und nur der Mensch, der sich weder auf sich selbst noch auf anderes verlässt, das eine Sicherheit zu bieten scheint, schließlich auch ohne Absicherung durch einen »gegebenen« Gott sein Leben führt, selbst Gott los ist, glaubt wirklich. Wer aber wirklich glaubt, der findet den Zugang zu einer unbedingten, auch noch die tödlichen Differenz- und Negativitätserfahrungen aushaltenden und überwindenden Lebensgewissheit.

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Nachträglich, sekundär wird Denn es gibt Gott nicht unabhängig davon, dass Menschen auf ihn ihr der absolute, grundlose Grund ganzes Vertrauen setzen, aber genau unserer Daseinsgewissheit und dadurch, dass sie sich nicht auf sich selbst, sondern auf ihn verlassen, Lebenszuversicht mit dem symzu Menschen werden, die nun auch bolischen Ausdruck »Gott« beganz in Gott gegründet sind, von legt. Er ist unser Gott, weil wir alihm her ihre Selbst- und Daseins­ les von ihm erwarten und nichts gewissheit gewinnen, von ihm her und auf ihn hin leben. ihm anzubieten haben, nicht einmal unseren Glauben an ihn. Denn es gibt Gott nicht unabhängig davon, dass Menschen auf ihn ihr ganzes Vertrauen setzen, aber genau dadurch, dass sie sich nicht auf sich selbst, sondern auf ihn verlassen, zu Menschen werden, die nun auch ganz in Gott gegründet sind, von ihm her ihre Selbst- und Daseinsgewissheit ge­winnen, von ihm her und auf ihn hin leben. Dieser Gott ist der Gott des christlichen Glaubens. Er ist kein höheres Wesen, keine überweltliche und übermenschliche Macht, die in ihrer Allmacht und Allwissenheit über uns Menschen zu verfügen und den Lauf der Dinge in Natur und Geschichte zu steuern hätte. Dieser Gott ist der grundlose Grund unseres Grundvertrauens. Dem, der sich absolut auf ihn verlässt ist dieser Gott der, der durchs Leben trägt. Weil der »Glaube an« diesen Gott in Wahrheit ein grundlosen Grundvertrauen ist, kann dieser Glaube sich auf keine objektiven Gegebenheiten gründen, weder auf die biblisch bezeugte Gottesoffenbarung noch auf die persönliche Gotteserfahrung. Denn in beiden Fällen würde Gott zu einer unabhängig vom Glauben anzuerkennenden Gegebenheit gemacht und dem Glauben die Kraft genommen, dieser reine, die Existenz bestimmende … nur der Glaube, der auf die Ab­ sicherung im Objektiven und Gege­ Akt des Sich-auf-Gott-Verlassens benen verzichtet, kann einen Gott zu sein. Aber nur der Glaube, der zum Inhalt haben, der nicht selbst auf die Absicherung im Objekein Gegenstand in dieser Welt ist, sondern die Welt, all unser Handeln tiven und Gegebenen verzichtet, in ihr und all unser Wissen von ihr kann einen Gott zum Inhalt haträgt und ermöglicht. ben, der nicht selbst ein GegenLeben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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stand in dieser Welt ist, sondern die Welt, all unser Handeln in ihr und all unser Wissen von ihr trägt und ermöglicht. Diesen Glauben hat Jesus gelebt. An ihm, dem gekreuzigten Auferstandenen sehen wir dann auch, wie dieser Glaube die Erfahrungen der Differenz zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen, zur Welt, die Differenz schließlich auch zu Gott, alle Erfahrungen des Negativen, des Scheiterns, des Versagen, des Bösen, der Schuld, somit der Selbst-, Welt und Gottverlorenheit durchlebt und überwindet. Wenn alle scheinbaren Sicherheiten zerbrechen, auch der Gott, von dem es hieß, dass auf ihn Verlass sei, dem zweifelnden Auge entschwindet, dann kann es geschehen, dass ein Mensch aufmerksam wird auf die ihm ebenso grundlos wie bedingungslos sich einstellende, in seinem Selbstgefühl präsente Daseinsgewissheit. Diese unbedingte Daseinsgewissheit ist es, die sich im Glauben an Gott ausspricht. Die Orientierung an Jesus bzw. an den Deutungen, die die neutestamentlichen Zeugen seiner Geschichte und seinem Geschick gegeben haben, kann die Lebensdeutung, die zu diesem überraschenden Umgang mit den Differenz- und Negati­ vitätserfahrungen des Lebens befähigt, motivieren. Blicken wir auf ihn, so sehen wir den, der sich immer zuerst den Verlorenen und den Sündern zugewandt hat, denen, die ihr Leben verfehlt hatten und aus der Gemeinschaft der Rechtschaffenen aus­geschlossen waren. Wir sehen den, der schließlich selbst auf die Seite der Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit geriet und am Kreuz die Erfahrung der Gottverlassenheit machen musste, der aber gerade als der von Gott Verlassene zu dem wurde, den Gott aus dem Tode ins ewige Leben gerufen hat. Im Aufsehen zu Jesus, dem Gekreuzigten, kann deshalb diese ungeheure Verschiebung in den Perspektiven unserer Selbstdeutung provoziert werden. Wir können, auf Jesus blickend, zu einer Lebensdeutung finden, wonach auch noch ein Leben, das scheitert, ein Leben, das nicht wieder gut zu machende Schuld auf sich lädt, durch Gott eine bedingungslose Recht­fertigung und Vergebung zuteilwird. Ebenso können wir, auf Jesus bli262 

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ckend, zu einer Lebensdeutung finden, wonach auch ein Leben, das zum unschuldigen Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt wird, nicht vergeblich gewesen sein muss, weil es in Gott seine Anerkennung findet. Nur können solche Umdeutungen und Umwertungen nicht im Stile von Behauptungen über die mit einem bestimmten Leben objektiv gegebenen Tatbestände vorgenommen werden. Verbindlichkeit und Überzeugungskraft gewinnt diese religiöse Lebensdeutung nur aufgrund der im Lichte der Rechtfertigungsbotschaft vollzogenen Selbstdeutung. Das wiederum ist die Aufgabe der Predigt. Sie hat das in der Rechtfertigungsbotschaft aufleuchtende Lebensdeutungsangebot, mit allen sich in ihr anbietenden Möglichkeiten einer überzeugungsorientierten Kommunikation, in den Vollzug je individueller Selbstdeutung einzuspielen. c. Der Glaube an den im Heiligen Geist präsenten Gott Die dritte elementare Erfahrungsdimension menschlichen Lebens bringt das christliche Glaubensbekenntnis mit der Rede vom Heiligen Geist zum Ausdruck. Die Rede vom Heiligen Geist macht die Einheit Gottes mit der Vielfalt der menschlichen Lebenswirklichkeit aussagbar und das mit Blick auf die keineswegs einheitliche, sondern zerrissene, aber zugleich doch auch einige Menschheitsfamilie, über alle Grenzen von Leben und Tod hinweg (ewige Gemeinschaft) und alle Brüche umgreifend und heilend (Vergebung der Sünden, Auf­ erstehung der Toten). Der Heilige Geist steht für die Energie, die die zerrissene Menschheitsfamilie zusammen und die Vision ihrer universalen Versöhnung, damit die Überwindung von Sünde und Schuld, lebendig hält. Er stiftet an zur Hoffnung auf die Vollendung der Welt  – und die jedes einzelnen Menschenlebens – in Gottes ewigem Reich. Artikuliert die Lehre von Gott dem Schöpfer die christliche Antwort auf die Frage nach dem Woher des menschlichen Lebens und wird der in Jesus Christus Mensch gewordene, die menschliche Ohnmacht und Endlichkeit durchleidende Gott Leben deuten: Homiletische Glaubenslehre

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zum Bild des wahren Lebens, so zeigt die universale, alle Gegensätze in sich aufhebende Geistgemeinschaft der einigen Menschheitsfamilie das letzte Wohin und Ziel des mensch­lichen Lebens. Mit dem Symbol des Heiligen Geistes gewinnt die Predigt insofern die Möglichkeit des Ausgriffs auf die­jenige Bestimmung in der christlichen Lebensdeutung, die jedes Leben, auch die zerbrochene und gescheiterte Existenz in die Perspektive eines universalen, unendlichen Gelingens rückt. Sie exponiert das christliche Lebensdeutungsangebot als ein solches, aus dem allen Menschen die Gewissheit erwachsen kann, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Das ist die eschatologische Initiation der Hoffnung auf eine Welt, in der die Differenzund Negativitätserfahrungen, dann auch die Macht des Bösen überwunden und allem Widerstreit zum Trotz in eine versöhnte Einheit eingebracht sein wird. Auch die Rede vom Heiligen Geist bleibt damit jedoch auf der symbolischen Ebene. Ihr Realitätsgehalt ist genauso wie der der Gotteslehre und der christologisch bestimmten Rechtfertigungslehre daran gebunden, dass Menschen sich selbst und den Vollzug ihres tätigen Lebens in der Perspektive dieser universalen Vollendung deuten. Wenn es der Predigt gelingt, nicht nur den Geist als die zur Hoffnung immer wieder neu ermutigende Lebenskraft verständlich zu machen, sondern das Empfinden für die Begabung mit dieser Lebenskraft in den Hörenden zu wecken, dann wird sie zu einer zugleich performativen religiösen Rede. Dann deutet sie das christliche Leben im Licht der ihm verheißenen Vollendung und stiftet somit immer wieder zu neuer Lebenszuversicht an.

Mit dem Symbol des Heiligen Geistes gewinnt die Predigt insofern die Möglichkeit des Ausgriffs auf die­jenige Bestimmung in der christlichen Lebensdeutung, die jedes Leben, auch die zerbrochene und gescheiterte Existenz in die Per­ spektive eines universalen, unend­ lichen Gelingens rückt.

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4. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik Die Predigt wird schreibend hervorgebracht, aber sie wird als Rede vorgetragen. Eine Rede ist ein Akt rhetorischer Kommunikation, genauer eine »rhetorische Sprechhandlung«120. Das gilt auch für die Predigt als religiöse Rede. Dem ist in diesem vierten und letzten Reflexionsschritt nachzugehen. Wie jede Handlung will die rhetorische Sprechhandlung der Predigt redend etwas erreichen. Sie will redend Religion mitteilen, was eben dies beides einschließt, das Leben religiös deuten und zum religiösen Selbstdeutungsvollzug ermutigen. Dazu gehört, was zu jeder Rede gehört, dass sie von einem Sprechenden laut und deutlich, mit einer klaren und verständlichen Intention vorgetragen wird. Der Vortrag setzt die Beachtung der rhetorischen Regeln, das Auffinden des Stoffs und des Themas der Rede, die Reflexion auf die Situation und die Intention, die sie verfolgt, voraus. Alle homiletischen Reflexions­ schritte sind im Grunde auf den Vortrag ausgerichtet. Denn mit der Absicht, eine Predigt vorzutragen, gehen Predigende in den biblischen Text hinein, versuchen sie die gelebte Religion zu verstehen, exponieren sie schließlich die christliche Botschaft, um sie in den je individuellen Vollzug religiöser Selbstdeutung einzuspielen. Der Vortrag der religiösen Rede ist das innere Telos ihrer Produktion. Der Vortrag der Predigt lebt zugleich von der Subjektivität des Predigers und der Predigerin. Denn Religion zur Mitteilung zu bringen heißt, sich selbst mitzuteilen, der eigenen inneren Überzeugungsgewissheit engagiert Ausdruck zu geben, um diese bei anderen zu wecken und zu stärken. Es ist immer auch die subjektive Religion, die die religiöse Rede zur Sprache bringt. Deshalb ist im Blick auf die Rhetorik der religiösen 120 Vgl. zu diesem in der Sprechwissenschaft ausgearbeiteten, den Redevortrag akzentuierenden Ansatz der Rhetorik: Hellmut Geißner, Zur Theorie rhetorischer Sprechhandlungen, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Stuttgart 1980, 26–42. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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Rede neben dem Vortrag zweitens auch von der Expressivität der religiösen Rede zu handeln. Diese Expressivität darf allerdings nicht zu flachschichtig verstanden werden. Die religiöse Rede gibt dem Ausdruck, was die eigene Subjektivität bewegt oder, genauer: Über die exem­plarische religiöse Subjektivität des Predigers kommt zum Ausdruck, welche religiösen Resonanzen das Leben einem bereithält. Sie kehrt ein Inneres nach außen. Sie gibt gewissermaßen einer vorsprach­lichen, dem individuellen Gefühlsbewusstsein evidenten Überzeugung einen sprachlichen, sie allererst mitteilbar machenden Ausdruck. Damit tritt aber auch eine reflexive, schließlich theologisch bestimmte Brechung in die rhetorische Gestalt der religiösen Rede ein. Die Überzeugung, der sie Ausdruck gibt, ist dennoch nie nur ein unmittelbar aufkommendes Gefühlsbewusstsein. Diese Überzeugung ist vielmehr in der Auseinandersetzung mit den biblischen Texten und den dogmatisch reflektierten Ausdrucksgestalten des christlichen Glaubens gewonnen. Deshalb ist es schließlich nicht mehr allein die subjektive Überzeugung, sondern die sie fundierende christliche Botschaft, die die religiöse Rede auf subjektiv überzeugte und intersubjektiv überzeugende Weise zur Sprache bringt. Das aber geschieht mit eben dem Ziel, die in der christlichen Botschaft gründende und auf sie sich berufende Überzeugungsgewissheit auch in anderen zu wecken und zu stärken. Obwohl die religiöse Rede der je eigenen religiösen Subjektivität Ausdruck gibt, führt die rhetorische Gestaltung dieses expressiven Aktes nicht zur platten Selbstinszenierung, sondern zu der durch die Auslegung des biblischen Textes vermittelten und dogmatisch reflektierten Verkündigung der christ­lichen Botschaft. So verfahrend exponiert die religiöse Rede die Botschaft, die sie auszurichten hat, so, dass sie wiederum die je subjektive religiöse Selbstdeutungsaktivität der Hörenden anregt. Hier liegt der, religiös betrachtet, tiefere Grund dafür, die religiöse Rede als einen rhetorisch inszenierten Akt religiöser Lebensdeutung, aber mit performativer Kraft zu begreifen. Indem sie die christliche Lebensdeutung exponiert, versucht sie 266 

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den Deutungsvollzug am Ort der Hörer und Hörerinnen selbst hervorzurufen, somit sie zum Glauben, zur Liebe, zur Hoffnung zu ermutigen. Die religiöse Rede wird zu einer religiösen Sprechhandlung, die hervorbringt, was sie bereits voraussetzt, die je individuelle religiöse Überzeugungsgewissheit. Der religiösen Rede kommt es zu, die implizite, subjektive Religion explizit zu machen. Sie bringt die subjektive reli­ giöse Überzeugungsgewissheit objektiv zur Sprache. Dabei bewegt sie sich, obwohl von der je subjektiven religiösen Über­ zeugungsgewissheit getragen, im Medium der objektiven, des näheren kirchlichen Religion. Sie legt die biblischen Texte aus. Sie interpretiert die Sprache der kirchlichen Überlieferungen. Sie bemüht sich darum, die Sprache der Tradition in ihrem heute ansprechenden Lebensdeutungsgehalt zu erschließen und zum Vollzug einer entsprechenden religiösen Selbst­deutung zu ermutigen. Zur Rhetorik der religiösen Rede gehört insofern drittens die Arbeit an ihrer Sprache. Die Predigt ist ganz entscheidend immer auch Arbeit an der religiösen Sprache. Sie muss eine Sprache finden, die die je eigene religiöse Überzeugungsgewissheit zum Ausdruck bringt, dies aber so tut, dass sie anderen verständlich wird, also intersubjektiv nachvollziehbar wird. Man könnte vielleicht auch sagen, es geht darum, in der Predigt eine Sprache zu sprechen, die die christliche Bot… es geht darum, in der Predigt eine Sprache zu sprechen, die die christ­ schaft, die sie ausrichtet, wahr liche Botschaft, die sie ausrichtet, macht, ihren religiös sinnstifwahr macht, ihren religiös sinnstif­ tenden Gehalt aktuell erschließt, tenden Gehalt aktuell erschließt, ihn zur gemeinsamen Sache werden lässt ihn zur gemeinsamen Sache werund somit zu einer ihr entsprechenden den lässt und somit zu einer Lebensführung befähigt. ihr entsprechenden Lebensfüh­ rung befähigt. Damit kommt dann das Ziel der religiösen Rede in den Blick. Sie will auf dem Wege der Auslegung eines biblischen Textes die christliche Botschaft ausrichten, also die objektive Religion zur Sprache bringen, damit sich an ihr subjektive ReliReden gestalten: Homiletische Rhetorik

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gion als je eigene, persönliche Überzeugungsgewissheit bildet. Der Vollzug des Glaubens, dieses grundlose Grundvertrauen soll initiiert und zu ihm soll angehalten werden. Das bedeutet viertens und letztens, dass die Predigt als religiöse Rede zur erbaulichen Rede werden muss. Eine erbauliche Rede ist eine solche, die hervorbringt, was sie schon voraussetzt. Sie macht als erbauliche religiöse Rede die implizite Gewissheit unseres Lebenssinnvertrauens auf seinen göttlichen Grund hin durchsichtig. Sie ermöglicht es, indem sie die Hörenden als die Subjekte ihres Glaubens anspricht, sich über den Grund der Gewissheit, die in ihnen ist, zu verständigen, sowie den Glaubenszweifeln und Sinnkrisen, die sie ständig bedrohen, zu begegnen. Das Erbauliche ist recht eigentlich das, was die Predigt dazu anhält, zur performativen Sprechhandlung zu werden. Als religiös affektiver Sprechakt bewirkt sie, dass Menschen sich in dem, was sie in religiöser Hinsicht bewegt und beschäftigt, nicht nur verstanden fühlen, sondern in ihrem religiösen Gefühlsbewusstsein gestärkt, zum Glauben angehalten, zur Liebe befähigt und zur Hoffnung ermutigt finden. Dann gelingt es der Predigt, dass die sie Hörenden im aktiven Vollzug ihres Hörens bereits den festen Halt empfinden und die innere Stabilität erfahren, die der christliche Glaube als dieser reine Akt des Vertrauens dem Leben zu geben vermag.

4.1 Der Vortrag der religiösen Rede Die Predigt ist eine religiöse Rede, die vorgetragen wird. Der Vortrag der religiösen Rede ist der performative religiöse Sprechakt. Wenn er gelingt, dann bringt er dasjenige, was durch ihn zur Sprache kommt, zugleich hervor. Durch ihn erfüllt sich der Zweck der religiösen Rede, Religion mitzuteilen. Die religiöse Sprechhandlung, der Vortrag der religiösen Rede, liegt deshalb in der Fluchtlinie aller homiletischen Reflexion. Das gilt auch dann, wenn die Predigt nicht nur schreibend verfasst, sondern unter Zugrundelegung eines Manuskripts 268 

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vorgetragen wird. Entscheidend ist der Auftritt eines Sprechers, der sich an eine Hörerschaft wendet, zu der er spricht. Dieser Aufritt ist der finale Akt rhetorischer Kommunikation. Mit ihm verbindet sich der Vortrag der religiösen Rede. Deren Konzeption läuft immer, ob sie nun frei vorgetragen wird oder nicht, sofern nur ihr Vortrag homiletisch reflektiert geschieht, dem Vortrag voraus. Die Konzeption der religiösen Rede verlangt die Auslegung des biblischen Texts und deren Überführung in eine dogmatisch reflektierte, lebensdeutungspraktisch relevante, religiöse Selbstauslegung. Auf die Sprechhandlung, den Vortrag der religiösen Rede, läuft deren homiletische Konzeption jedoch eben deshalb zu, weil nur ihm die performative Kraft zugeschrieben werden kann, dass er zugleich hervorbringt, wovon die Rede ist. Der Vortrag entscheidet nicht unerheblich über die Performanz der religiösen Rede. Am Vortrag liegt es, ob es gelingt, Religion redend hervorzubringen. Dabei lebt der Vortrag von der subjektiven religiösen Überzeugungsgewissheit des Vortragenden, die sich nun freilich gerade über seine leibliche Präsenz kundgibt.121 Ganz entscheidend für die Wirkung des Vortrags sind die Kraft und der Klang der Stimme des Vortragenden, die Deutlichkeit seiner Aussprache, die Angemessenheit seiner Gestik. Die leibliche Präsenz wird vor allem akustisch, durch die Stimme hergestellt, sodass die Überlegungen zur leiblichen Präsenz auch die Formen massenmedial vermittelter religiöser Rede, wie z. B. die Rundfunkandacht, in sich einbeziehen können. Immer ist die Stimme, die spricht, von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Sie trägt wesentlich zur affektiv-emotionalen Wirkung der religiösen Rede bei. Für die religiöse Rede ist es enorm 121 Vgl. Norbert Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006; Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck: Anthropologie der Artikulation (Human­projekt), Berlin 2009. Alle diese Arbeiten zeigen, dass Ausdruck immer schon etwas ist, was, selbst wenn es innen gebildet ist, schon öffentlich ist, vgl. dazu auch Volker Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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wichtig, wie die Stimme beim Vortrag eingesetzt wird, wie phonetische Zäsuren markiert und Modulationen vorgenommen werden. Denn es ist die Stimme, vermittels derer der Vortrag auch die emotionalen, vorprädikativen Dimensionen des religiösen Bewusstseins erreicht. Der Klang der Stimme spricht die Hörenden auf der Gefühlsebene an. Ihm gelingt es am ehesten, die subjektive Religion vom emotionalen Selbstverhältnis her aufzubauen. Wenn die Predigt die Hörenden ergreift und bewegt, wenn sie das Gefühl haben, angesprochen worden zu sein, dann deshalb, weil ihr Vortrag sie emotional berührt. Das aber erreicht der Vortragende vor allem durch den Einsatz seiner Stimme. Gleichwohl lebt natürlich der Vortrag nicht allein von seiner phonetischen Gestalt, sondern auch davon, wie er mit dem, was er sagt, zusammenstimmt. Die emotionale Gestimmtheit der religiösen Rede muss sich mit der gedanklichen Nachvollziehbarkeit ihres semantischen Gehaltes verbinden. Dann erst steht die rhetorische Performanz ihres Vortrags wirklich in Aussicht. Die Predigt muss das religiöse Gefühl ansprechen, ebenso aber auch einen religiösen Gedanken entfalten. Wenn ihr das gelingt, dann bringt sie die christliche Botschaft so zur Sprache, dass sie sich in ihrem religiös sinnstiftenden und lebens­orientierenden Gehalt erschließt. Der Vortrag der religiösen Rede muss das Emotionale und das Rationale, gedankliche Transparenz mit poetischer Dichte zusammenbringen. Davon hängt ganz entscheidend ab, ob es zu dem der religiösen Mitteilung eigentümlichen Ineinander von Erleben und Deuten kommt. Kommt es dazu, dann kann die religiöse Mitteilung sogar eine religiöse Erfahrung aus­ lösen. Dann wird der Vortrag der religiösen Rede zu dem, was in der Wort-Gottes-Theologie das »Sprachereignis« genannt wurde.122 Denn damit war ja gemeint, dass das menschliche 122 Vgl. Ernst Fuchs, Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, in der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen. In: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation. Gesammelte Aufsätze Bd. I. 2. durchges. Auflage. Tübingen 1965, S. 281 ff. 270 

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Wort der Predigt in der Kraft des Geistes zu Gottes Glauben schaffendem Wort zu werden vermag. Das eben sollte die Predigt theologisch qualifizieren, dann auch den herausgehobenen Ort im gottesdienstlichen Geschehen legitimieren, dass sie die christliche Botschaft nicht nur ausrichtet, sondern es schafft, dass Menschen ihr Vertrauen schenken, sie sich selbst und ihr Leben von der Rechtfertigungszusage her verstehen und aus diesem Selbstverständnis heraus ihr Leben führen. Diese religiöse Performanz, auf die die Predigt ausgeht, berechtigt dann auch dazu, ihren Vortrag als ein inszenatorisches Geschehen zu beschreiben, bei dem die »Ästhetik des Performativen« (Fischer-Lichte) eine große Rolle spielt.123 Die Ästhetik setzt auf Unmittelbarkeit in der Wirkung einer Rede, auf Wirkung gewissermaßen, die direkt auf den Körper geht, sich in diesen einschreibt. Dann muss das von ihr Bedeutete nicht erst hermeneutisch erschlossen werden, sondern es wird gewissermaßen präreflexiv emotional verstanden. Dass dies geschehen kann, darauf ist beim Vortrag der religiösen Rede zu achten. Ihr gedanklicher Gehalt ist nicht argumentativ aufzubauen, sondern direkt in die Form der ansprechenden Anrede zu bringen. Die religiöse Wirkung der Predigt hängt jedenfalls von der Ästhetik ihres Vortrags ab. Die Rede muss unmittelbar ansprechen und in ihrem religiösen Gehalt evident werden. Das Sinnlich-Affektive in der religiösen Erfahrung ist ja überhaupt das Ästhetische, der Eindruck, den eine Begebenheit auf mich macht, dass ich mich angesprochen fühle. Religiös ist die transzendente, auf Gottes Handeln bezogene Deutung des Anspruchs, der mich trifft. Die ästhetische Unmittelbarkeit, in der eine Rede ihrer Hörer erreicht und der religiöse Bedeutungsgehalt, der sich ihnen dabei erschließt, liegen ineinander und bedingen sich wechselseitig. Die rhetorische Form der religiösen Rede ist der ästhetisch ansprechende Eindruck, den sie auf die Hörenden macht, dass sie diese innerlich ergreift 123 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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und emotional erreicht. Der religiöse Gehalt ist schon deshalb nicht ohne diesen ästhetisch-emotionalen Eindruck vermittelbar, weil er zu ihm selbst gehört. Im religiösen Bewusstsein, das die religiöse Rede kommuniziert, verschränken sich emotionale Unmittelbarkeit und hermeneutische Reflexion. Wird also der Vortrag der religiösen Rede als ästhetisches Inszenierungsgeschehen konzipiert, was richtig ist, dann ist aber auch zu beachten, dass das Bewegende und Erregende des Auftritts zugleich die Deutung dessen, was unmittelbar anspricht, mit sich führt und befördert. Das bedeutet, dass der Vortrag der religiösen Rede dasjenige zum Thema machen sollte, Das bedeutet, dass der Vortrag der religiösen Rede dasjenige zum was ins Zentrum des biblischen Thema machen sollte, was ins Zen­ Textes trifft und die durch den trum des biblischen Textes trifft und Text profilierte christliche Botdie durch den Text profilierte christ­ liche Botschaft zum Leuchten bringt, schaft zum Leuchten bringt, zuzugleich aber auch einen religiös gleich aber auch einen religiös sensiblen Nerv heutigen Lebens be­ sensiblen Nerv heutigen Lebens rührt, indem sie die Lebenssituation, die sie anspricht, in eine nachvoll­ berührt, indem sie die Lebenssiziehbare religiöse Deutung hebt. tuation, die sie anspricht, in eine nachvollziehbare religiöse Deutung hebt. Auf die Predigt als ästhetisch-performatives Inszenierungsgeschehen aufmerksam zu machen, bedeutet keine Entlastung davon, dass der Vortrag der Predigt gedanklich stimmig, gegenwartssituativ treffend und existenziell nachvollziehbar sein sollte. Die Predigenden stehen vielmehr mit jeder Predigt neu gerade vor dieser Aufgabe, dasjenige in die Gestalt einer emo­ tional ansprechenden und den religiösen Selbstdeutungsvollzug gedanklich anregenden Rede zu bringen, was jetzt zur situativ treffenden christlichen Botschaft werden kann. Der Vortrag sollte zum Zuhören animieren und die christliche Botschaft in ihrem religiös sinnstiftenden Gehalt verständlich machen, sich dabei aber auch den Hindernissen, die sich der lebenspraktischen Aneignung der christlichen Botschaft entgegenstellen, aussetzen. Dann erst, wenn sie sich den Wi272 

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derständen stellt, die die Lebenswirklichkeit der Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft entgegenstellt, kann die Predigt, nicht nur in ihrer Form, sondern auch nach ihrem Inhalt zu einem dramatischen Inszenierungsvorgang werden – wenn wir uns schon dieser Metaphorik bedienen wollen. Denn dann bleibt, wie bei einem spannenden Film oder Theaterstück, der Ausgang des Geschehens bis zuletzt offen. Die Zuhörer werden durch die Szenen geführt, in denen sich der Konflikt, der die Handlung in Gang gebracht hat, immer weiter steigert. Wer mitgegangen ist, erlebt, wie er mit sich selbst, seinem eigenen Erleben konfrontiert wird. Damit führt der Vortrag der Predigt in eine religiöse Erfahrung. Wir werden unmittelbar angesprochen und begegnen zugleich einer anderen und neuen Möglichkeit unserer Selbstdeutung.

4.2 Die Expressivität der religiösen Rede Die Predigt gibt als religiöse Rede immer auch der individuellen religiösen Überzeugungsgewissheit des Predigers, der Predigerin Ausdruck. Sie ist eine expressive Rede, Ausdruck der religiösen Subjektivität des/der Redenden. Denn dort, am Ort der individuellen Subjektivität, findet die Religion ja statt. Die subjektive Religion ist der individuelle Vollzug religiöser Selbstdeutung. Ihn bringen Predigende redend zur Darstellung. Predigende machen die Predigt zu einem expressiven Akt religiöser Selbstdeutung. Die Person des Predigers, der Predigerin gewinnt insofern für die rhetorische Gestalt der Predigt eine ganz entscheidende Bedeutung. Die religiöse Rede muss zum Prediger, zur Predigerin passen. Es muss spürbar werden, dass sie selbst von dem überzeugt sind, was sie sagen. Denn das spezifische Kommunikations­ medium der religiösen Rede ist eben der »Glaube«, verstanden als der je persönliche Akt des Vertrauens bzw. die je persönliche Überzeugungs- und Sinngewissheit. In religiöser Rede wird »Glauben« kommuniziert, das individuelle Sich-Verlassen auf Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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die Wahrheit der Botschaft, die sie ausrichtet. Die rhetorische Kommunikationssituation der religiösen Rede ist spezifisch dadurch gekennzeichnet, dass sie ein anderes Rekursfundament für ihre Wahrheit nicht hat. Die Rechtfertigungsbotschaft, die die Predigt auszurichten hat, ermöglicht schließlich genau dieses Selbstverständnis, wonach ein Mensch sich unbedingt in Gott gegründet weiß. Weil die Rechtfertigungsbotschaft keine Mitteilung über objektiv gegebene metaphysische Tatbestände ist, sondern die Einladung in ein religiös bestimmtes Selbstverständnis, die Einübung ins Christentum gewissermaßen, deshalb sind die Predigenden mit ihrer eigenen Subjektivität auch immer in die Ausrichtung dieser Botschaft einbezogen. Sie können, wenn sie den Charakter dieser Botschaft verstanden haben, diese zwar von ihrem Selbstbezug auf sie unterscheiden, nie aber die Botschaft vollständig davon lösen, der Bezugsgrund des christlichen Selbstverständnisses, somit auch ihrer eigenen Selbstdeutung, zu sein. Die Hörenden jedenfalls müssen das Gefühl gewinnen, dass der Predigende selbst von der Botschaft, die er ausrichtet, überzeugt ist und selbst an diese »glaubt«, somit seine Selbstgewissheit auf sie gründet. Die religiöse Rede hat eines ihrer entscheidenden Merkmale darin,– so kann auch allgemeiner formuliert werden  – dass sie ihre Kraft zur Mitteilung von Religion aus dem Passungsverhältnis der Rede zur Subjektivität der Redenden gewinnt. Sie stellt keine Referenz zu Tatbeständen her, die unabhängig von dem religiösen Vollzug, dem die Rede Ausdruck gibt, gegeben wären. Sie redet auch nicht über Religion, thematisiert nicht Vorkommnisse, die die Kirche oder die Gemeinde in ihren äußer­lichen Angelegenheiten betreffen. Die religiöse Rede redet dort, wo sie Religion mitteilt, vielmehr aus Religion, aus einem Religiösen-Sich-Selbst-Verstehen. Sie nimmt die Perspek­tive des religiösen Verhältnisses ein, stellt sich in den Vollzug religiöser Selbstauslegung. Für die rhetorische Gestalt der religiösen Rede bedeutet ihre Expressivität somit in erster Linie, dass sie wahrhaftig sein sollte. Wahrhaftigkeit  – womit vielleicht treffender bezeich274 

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net ist, was man sonst aber auch Wahrhaftigkeit – womit vielleicht treffender bezeichnet ist, was mit dem Begriff der Authentiman sonst aber auch mit dem Be­ zität beschreiben könnte  – wird griff der Authentizität beschreiben könnte – wird zu einem der wichtigs­ zu einem der wichtigsten Kriteten Kriterien für die religiöse Rede. rien für die religiöse Rede. An ihr hängt deren Überzeugungskraft ganz wesentlich. Was eine religiöse Rede wahrhaftig macht, ist freilich gar nicht so leicht zu beschreiben. Denn immer ist die Anwendung dieses Kriteriums an das aktuale Erleben der rhetorischen Kommunikation selbst gebunden. In ihr aber meint sie auf Seiten des Redenden eben diejenige rhetorische Kompetenz, die es macht, dass der Eindruck entsteht, er/sie selbst stehe hinter dem, was er/sie sagt, sei von dessen Wahrheit und Lebensbedeutsamkeit selbst überzeugt. Es genügt auf Seiten der Redenden gerade nicht, dass dies der Fall ist. Dass es der Fall ist, ist freilich vorauszusetzen. Doch das betrifft gewissermaßen die Ethik der rhetorischen Kommunikation. Sie verpflichtet die Redenden darauf, die Hörenden nicht durch den Schein schöner Wort zu hintergehen und eine Wahrheitsüberzeugung vorzutäuschen, die gar nicht gegeben ist. Aber die religiöse Rede verlangt als Akt rhetorischer Kommunikation von den Redenden eben nicht nur, dass sie von der Wahrheit dessen, was sie sagen, selbst überzeugt sind. Sie müssen den Eindruck der Stimmigkeit ihrer Rede, das Gefühl für deren Wahrhaftigkeit bzw. dann eben doch der Authentizität auch auf Seiten der Hörenden zu erzeugen im Stande sein. Die Expressivität der religiösen Rede steht insofern überhaupt nicht gegen deren kreative Inszenierung als rhetorischen Akt. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit auf Parallelen zwischen dem Vortrag einer Predigt und dem theatralen Auftritt eines seinen Text rezitierenden Schauspielers auf der Bühne kann auf die rhetorischen Mechanismen aufmerksam machen, die zur Herstellung des Eindrucks von Authentizität124 beitra124 Und Authentizität meint eben auch, dass diese es schafft beim Gegenüber »Resonanzen« zu wecken, im Aufbau einer bestimmten »gefühlsmäßigen« Atmosphäre. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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gen.125 Auch wenn es gar nicht sein eigener Text ist, gelingt es dem guten Schauspieler dennoch, diesen authentisch vorzutragen, also so, als wäre es sein eigener. Dazu freilich muss er sich in den Text hineingedacht, ihn sich, vor allem auch emotional, anverwandelt haben. Er muss sich mit der »Sache« des Textes auseinandersetzen, verstehen, worum es im Text geht, sich schließlich mit der Rolle, die er spielt, identifizieren. Je besser ihm das gelingt, so dass er ganz bei seiner Sache ist und seine Rolle »verkörpert«, desto authentischer wirkt sein Auftritt. Es erlischt sodann auch auf Seiten des Publikums die Aufmerksamkeit darauf, dass hier einer eine Rolle spielt. Dann identi­ fiziert auch das Publikum den Schauspieler mit der Person, die er »verkörpert«. So ist es auch beim Predigtvortrag. Der Prediger/die Predigerin muss den Text nicht frei vortragen, aber er/sie muss ihn sich so anverwandelt haben, dass kein Papier mehr raschelt. Es muss vielmehr der Eindruck entstehen, dass der Text, der vorgetragen wird, ganz und gar sein/ihr Text ist, dass er/sie die Verkörperung dieses Textes ist, bzw. dieser Text Ausdruck derjenigen religiösen Überzeugungsgewissheit, die er/sie zum Ausdruck bringt. Predigende müssen ihre Rolle als religiöse Redner und Rednerinnen annehmen. Das ist der entscheidende Punkt. Denn als religiöse Redner und Rednerinnen verfahren sie nur dann professionell kompetent, wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass sie nicht über objektive Tatbestände berichten, sondern den normativen Gehalten christlichen Glaubens in Entsprechung zu den Lehrgrundlagen ihrer Kirchengemeinschaft einen persönlich überzeugten und auf den Gewinn persönlicher Überzeugung zielenden Ausdruck geben. Sie beziehen sich nicht auf empirische oder metaphysische Gegebenheiten, sondern exponieren die Gussformen christlicher Selbstund Weltdeutung. Dies aber müssen sie eben so tun, dass sie zugleich ihr eigenes religiöses Selbstbewusstsein äußern. Die 125 Vgl. Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh 2006. 276 

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Predigt als expressive religiöse Rede aufzufassen, bedeutet, genau darauf aufmerksam zu sein, dass ihre kirchliche Auftrags­ bestimmtheit keineswegs davon entlastet, dass die Redenden sich persönlich mit der von ihnen vertretenen Botschaft identifizieren. Eine Predigt, die sich als religiöse Rede versteht, wird immer eine persönliche Predigt sein wollen. Sie wird es gerade dann sein wollen, wenn sie  – im kirchlichen Auftrag erfolgend – die Sprache der objektiven Religion, orientiert an Lehre und Bekenntnis, spricht. Denn genau ihr kirchlicher Auftrag impliziert ja die Herausforderung, die objektive Wahrheit des Glaubens, die als solche eine immer nur kirchlich behauptete sein kann, in eine subjektiv evidente Überzeugungsgewissheit zu überführen. Eben dazu ist es erforderlich, dass religiös Redende ihrer individuellen Subjektivität Ausdruck geben. Das tut dem Allgemeinheitsanspruch dessen, was sie sagen, keinerlei Abbruch. Die Wahrheit des Glaubens kann immer nur von individuellen Subjekten vertreten werden und dies gelingt umso besser, je klarer es den Sprechenden gelingt, ihre Rolle, sofern sie diese im kirchlichen Auftrag als Predigende wahrzunehmen haben, authentisch auszufüllen. Die Analogie mit der Theatralität einer inszenatorischen Aufführung zeigt zudem, dass das Kriterium der Authenti­ zität auch beim religiösen Redner am ehesten dann erfüllt sein dürfte, wenn die religiöse Rede der Subjektivität des Redenden nicht auf naive Weise, also in unreflektierter Unmittelbarkeit Ausdruck gibt. Authentizität will vielmehr professionell hergestellt sein, eben durch Identifikation mit der Rolle dessen, der zum Ausdruck bringt, was den Redenden mit seinen ­Hörern im gemeinsamen Glauben verbindet. Die Hörenden sollen zu ihrem eigenen Glauben ja ermutigt werden und sich in diesem gestärkt finden. Nicht an die individuelle Subjek­ tivität des Predigers und der Predigerin sollen sie sich binden, sondern zu einer ihnen nachvollziehbaren religiösen Selbstdeutung geführt werden, dadurch, dass der Prediger oder die Predigerin auf individuelle Weise dem Allgemeinen (Schleiermacher) des sich in der christlichen Botschaft gründenden Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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christlichen Glaubens Ausdruck gibt. Die professionell kompetent agierende Predigersubjektivität ist immer eine solche, die ihre allgemeine Rolle auf individuell überzeugende Weise ausfüllt. Sie bekennt nie schlicht ihren persönlichen Glauben, spreizt sich schon gar nicht mit ihrer individuellen Überzeugungsgewissheit demonstrativ auf, sondern bringt auf individuelle Weise den objektiven Deutungshorizont zur Sprache, vor dem sich die je eigene religiöse Überzeugungsgewissheit bildet. Die Predigt wirkt umso authentischer, je weniger die Predigenden direkt von sich selbst, ihren persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen sprechen. Auch der Bericht davon, wie es ihnen mit dem biblischen Text bei der Predigtvorbereitung gegangen ist, steigert die Überzeugungskraft ihrer Rede nicht. Die Häufigkeit, mit der Predigende »Ich« sagen, ist ebenfalls kein Indiz für die authentische religiöse Expressivität ihrer Predigt. Diese lebt vielmehr von der Individualität des Allge­ meinen, davon dass Predigende ihre individuelle Subjektivität im Horizont des für die Kirchengemeinschaft allgemein Verbindlichen zu reflektieren und nach Maßgabe intersubjektiver Nachvollziehbarkeit rednerisch zu gestalten in der Lage sind. Im Sinne der Privatisierung individueller Subjektivität wird die These von der Predigt als einem Akt religiöser Selbst­ deutung freilich oft missverstanden. Behauptet wird, dass eine solche Predigtauffassung in einen haltlosen religiösen Subjektivismus führe. Dabei liegt dann schnell die Polemik gegen eine Predigt nahe, die sich nicht mehr in den Dienst der ihr aufgetragenen christlichen Botschaft stelle, sondern nur noch die eitle Selbstinszenierung der Predigenden betreibe. In all dem wird übersehen, dass die religiöse Subjektivität, dort, wo sie als gebildete auftritt, wie es bei der professionellen religiösen Rede, der Predigt im kirchlichen Auftrag, der Fall ist, hermeneutisch konstituiert ist und deshalb von religiöser Selbstdeutung bzw. Selbstauslegung ausgegangen werden kann. Die religiöse Subjektivität, die der je eigenen religiösen Überzeugungsgewissheit in der Predigt Ausdruck gibt, tut dies immer im Kontext und Auftrag einer Kirche und damit im 278 

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Medium einer objektiven religiöDie religiöse Subjektivität, die der je eigenen religiösen Überzeugungs­ sen Ausdruckskultur, des Nähegewissheit in der Predigt Ausdruck ren auf dem Wege der Auslegung gibt, tut dies immer im Kontext und Auftrag einer Kirche und damit eines biblischen Textes und konim Medium einer objektiven religi­ trolliert am Leitfaden einer sysösen Ausdruckskultur, des Näheren tematisch kohärenten Auslegung auf dem Wege der Auslegung eines biblischen Textes und kontrolliert des christlichen Glaubens. Dem am Leitfaden einer systematisch biblischen Text gewinnt die relikohärenten Auslegung des christ­ giöse Rede die Botschaft ab, auf lichen Glaubens. die die religiöse Überzeugungsgewissheit, der sie auf glaubwürdige Weise Ausdruck zu geben versucht, sich stützt. Die christliche Glaubenslehre hilft ihr, die christliche Botschaft im Horizont der religiösen Deutungsbedürftigkeit der je eigenen Zeit auf glaubwürdige Weise zu entfalten. Nur in diesen die theologische Reflexion herausfordernden Vermittlungszusammenhängen sind Predigende als religiös Redende ganz bei dem, woraus ihnen ihre religiöse Überzeugungsgewissheit erwächst und was sie von daher zum religiösen Deutungsangebot an die Hörenden zu machen versuchen. Die christliche Botschaft, in der sich die religiöse Gewissheit gegründet weiß, ist es letztlich, die die religiöse Rede in Szene setzt, nicht die individuelle religiöse Erfahrung – auch wenn ihr diese immer zugrunde liegen muss. Es ist demnach höchst angemessen, den expressiven Akt der religiösen Rede analog eines theatralen Auftritts zu beschreiben, in dem alles an der Identifikation mit der Rolle hängt, die derjenige auszufüllen hat, der auftritt. Denn gerade weil es letztlich so ist, dass die religiöse Subjektivität nicht auf sich selbst steht, sondern in einer Botschaft gründet, die sie in dem ihr fremden Text der Bibel findet und die sie im Zusammenhang der christlichen Glaubenslehre auslegt, darf sie nicht sich selbst exponieren. Sie muss die Botschaft zur Sprache bringen. Aber dies wiederum müssen religiös Redende eben so tun, dass diese Botschaft nun ihre Botschaft ist. Sie sagen, was ihnen der biblische Text sagt, was ihnen der biblische Text als UrsprungsReden gestalten: Homiletische Rhetorik

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zeugnis christlichen Glaubens zu verstehen gibt – genau über sie selbst zu verstehen gibt. Das Theatrale ihres rhetorischen Auftrags liegt darin, dass sie ganz und gar ihre Rolle als Predigende ausfüllen. Das tun sie, indem sie Einsichten, die in der Exegese, der Religions- und Gegenwartshermeneutik und der systematisch-theologischen Reflexion gewonnen wurden und nun den Inhalt ihrer Predigt bestimmen, als ihren eigenen Text vortragen. Das ergibt schließlich die Botschaft, die sie als ihre persönliche Botschaft ausrichten, mit der sie ihrer eigenen religiösen Überzeugungsgewissheit Ausdruck geben. Dann nimmt man ihnen ab, was sie sagen. Denn dann sind sie ganz im biblischen Text, ganz die Träger einer ihnen aufgetragenen Botschaft und zugleich ganz bei sich selbst. Dann geben sie auf authentische Weise Zeugnis von der Wahrheit, die sich ihnen in der dem kirchlichen Auftrag entsprechenden Aus­ legung des biblischen Textes erschlossen hat. Die Predigt als expressiver Akt einer religiösen Rede ist immer persönliche Predigt. Aber das Persönliche an der Predigt lässt sich dabei nicht trennen von dem Vollzug der durch den biblischen Text und die christliche Lehrtradition vermittelten religiösen Selbstauslegung der Predigenden. Jede Predigt bedeutet für die Predigenden gewissermaßen neue Arbeit an der eigenen religiösen Identität, eine neue Vergewisserung im Glauben, ein neues Ringen mit dem Zweifel an seiner Wahrheit – und zwar wiederum nicht in privativ aufdring­licher oder stereotyper, sondern paradigmatisch-exemplarischer Weise! Das macht die Predigt zu einer so besonderen Herausforderung. Das Rhetorische und das Religiöse liegen ineinander und bedingen sich wechselseitig. Denn zumeist käme es gar nicht zur rhetorischen Selbstmanifestation der religiösen Gewissheit, wenn da nicht der Auftrag zur glaubwürdigen Ausrichtung der im biblischen Ursprungszeugnis christlichen Glaubens gründenden Botschaft wäre. Die subjektive religiöse Überzeugungsgewissheit wiederum drängt es danach, sich immer wieder neu über ihren Grund und Inhalt zu verständigen. Denn nie ist die religiöse Subjektivität der Predigenden eine vorgegebene und unab280 

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hängig vom Vollzug religiöser Selbstdeutung zu beschreibende Größe. Die religiöse Subjektivität wird vielmehr nur von innen her zugänglich, nur in der Teilhabe an dem Vollzug religiöser Selbstdeutung, über den sie sich aufbaut. Auch in dieser Hinsicht lässt die neuere homiletische Literatur erhebliche Missverständnisse erkennen. Zumeist wird nämlich die Persönlichkeit der Predigenden als eine solche verstanden, die auf bestimmte psychoanalytisch erhobene Persönlichkeitsmerkmale festgelegt erscheint. Sie sollen ganz unabhängig vom Vollzug religiöser Selbstdeutung, die ja wiederum ohne die Textdeutung nicht zu stehen kommt, beschreibbar sein.126 Die religiöse Subjektivität wird gerade nicht als Vollzug einer religiös bestimmten Selbstdeutung verstanden, sondern zum vergegenständlichten Produkt einer mit psychoanalytischen Kategorien arbeitenden Fremdzuschreibung gemacht. Predigende werden auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale festgelegt und ihr Predigtstil von diesen her erklärt. Das kann man machen, aber man muss sich dabei im Klaren darüber sein, dass auf diese Weise das Religiöse zur abhängigen Variablen psychologischer Dispositionen gemacht wird. Die religiöse Überzeugung hat auf dem Wege der Funktionalisierung für psychologische Strukturen keine Chance mehr zum konstitutiven Faktor in der Ausbildung personaler Identität und einer von ihr getragenen Lebenssinngewissheit zu werden. Genau darauf aber kommt es bei der Predigt als expressiver religiöser Rede an.

4.3 Die Sprache der religiösen Rede Die religiöse Rede verlangt die kreative Arbeit an ihrer Sprache. Die angemessene Sprache zu finden, die Worte, die aufrichten und Leben spenden, den Glauben stärken und zur 126 Vgl. Axel Denecke, Persönlich Predigen. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage mit einem kommunikationspsychologischen Geleitwort von Friedemann Schulz zu Thun, Münster 2002. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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Hoffnung ermutigen, stellt eine eigene Herausforderung an die Predigenden dar. Es ist dabei immer auch in Sprache zu überführen, was selbst in Sprache nicht aufgeht, die vorsprach­ liche Überzeugungsgewissheit, die am Ort des religiösen Gefühls sich unmittelbaren Ausdruck verschafft. Schleiermacher sprach deshalb von der sich mitteilenden Darstellung des religiösen Bewusstseins als einem symbolisierenden Handeln.127 Dabei waren ihm zwar nicht allein sprachliche Zeichen wichtig, sondern auch Töne, Gesten und Gebärden, schließlich die Kunst, die Musik, die Poesie, sollten dem religiösen Gefühl Ausdruck geben. Aber auch für ihn strebte die Darstellung des religiösen Gefühls zuletzt immer in die Sprache. Die Sprache der religiösen Rede muss die Bewegung des Die Sprache der religiösen Rede muss die Bewegung des religiösen religiösen Gefühls in sich aufGefühls in sich aufnehmen. Deshalb nehmen. Deshalb der besondere der besondere Tonfall, die genaue Tonfall, die genaue Tonart, die Tonart, die die religiöse Rede finden muss. Sie braucht die Beweglichkeit die religiöse Rede finden muss. der Sprache, ihre auch emotiv an­ Sie braucht die Beweglichkeit rührende Kraft. Sie muss die theolo­ der Sprache, ihre auch emotiv gischen Begriffe, die oft zu Formeln erstarrt sind, wieder verflüssigen, anrührende Kraft. Sie muss die muss neue Sprachbilder, neue Meta­ theologischen Begriffe, die oft phern entwickeln, poetische zu Formeln erstarrt sind, wieder Kraft gewinnen. verflüssigen, muss neue Sprachbilder, neue Metaphern entwickeln, poetische Kraft gewinnen. Sie muss eine Sprache finden, die nicht eine vorhandene Wirklichkeit abbildet, sondern der es gelingt, die fiktionale Vor­stellung einer Wirklichkeit zu generieren, die den Rückschluss auf Selbsterlebtes ermöglicht, aber dann auch die Realitäten des Alltag in einem anderen Licht erscheinen lässt. Religiös Redende sollten fähig sein,

127 Vgl. Martina Kumlehn, Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999. 282 

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mit der ebenso fiktionalen wie per­formativen Kraft der Sprache umgehen zu können.128 Predigende, die zur religiösen Rede fähig sind, sind jedenfalls dazu angehalten, an ihren sprachschöpferischen Fähigkeiten zu arbeiten. Sie sollten die Kompetenz zu kreativem Sprechen gewinnen. Es geht nicht darum, eine religiöse Sprache zu lernen. Die religiöse Rede spricht keine andere Sprache, als sie auch sonst gesprochen wird. Schon gar nicht ist eine Sprache zu sprechen, die nur den kirchlichen Insidern verständlich wäre. Es ist die Sprache zu sprechen, die auch sonst gesprochen wird, aber eben so, dass die der Alltagssprache innewohnende metaphorisch-poetische Kraft freigesetzt wird. Dann gewinnt die Sprache die Kraft, die Wirklichkeit im Lichte derjenigen Deutung sehen zu lassen, die ihr die Religion zuspielt. Das geschieht durch den metaphorischen Gebrauch der Sprache, dadurch dass die religiöse Rede ihren symbolischen Mehrwert zum Zuge bringt. Religiöse Rede ist immer meReligiöse Rede ist immer meta­ phorische und symbolische Rede. Sie taphorische und symbolische geht im Verweis auf Vorhandenes Rede. Sie geht im Verweis auf nicht auf, sondern macht dieses zum Vorhandenes nicht auf, sondern Gleichnis derjenigen Wirklichkeit, die das religiöse Symbol erschließt. macht dieses zum Gleichnis derjenigen Wirklichkeit, die das religiöse Symbol erschließt. So macht sie ein deutungs­bewusstes Verhältnis zu dem möglich, was ohne sie verschlossen bliebe. Sie spricht eben von dem, was nur im Modus der Hin-Deutung gegeben ist, nur metaphorisch, nur symbolisch – aber das ist keine Einschränkung, denn das Symbolische ist der einzige Zugang zur Transzendenz, zu dem uns unbedingt Angehen128 Der »Poetik der Predigt«, ihrer metaphorischen Rede, der von ihr verlangten Arbeit am sprachlichen Aufbau von der Alltagswelt unterschiedener wie zugleich sie erhellender »fiktionaler Welten« hat Albrecht Grözinger in seiner Homiletik tiefgreifende und hilfreiche Ausführungen gewidmet. Ich verweise deshalb dankbar, auf die entsprechende Passage in seinem Buch. Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2006, 221–242. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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den, zum Grund des Vertrauens in den Sinn des Ganzen der Wirklichkeit und des eigenen Daseins in ihr – der doch nie gegeben ist, nicht gegenständlich gewusst werden kann, sondern geglaubt und auf den vertraut werden muss. »Wie können wir von dem reden, wovon wir nichts sagen können, das uns aber doch unhintergehbar betrifft?« Die Antwort ist eben die, dass die metaphorische Symbolsprache der Religion, die die religiöse Rede zu sprechen versucht, diese uns unbedingt angehende Wirklichkeit nicht objektiviert, nicht ihr Gegebensein zu beweisen unternimmt, sondern das gläubige Vertrauen auf sie mit der Kraft ihrer bewegenden und heil­samen Worte schafft. Wo ihr das gelingt, stellt sie sogar ein personales Verhältnis zur göttlichen Wirklichkeit her. Dann verhalten die von der religiösen Rede innerlich Ergriffenen sich in Dank und Bitte zu dem Gott, dem sie vertrauen, dem sie glauben und auf den sie hoffen. An der religiösen Sprache zu arbeiten, heißt somit für die religiöse Rede, die christliche Botschaft in der Sprache unserer Zeit zu sprechen, und sie damit so zu sprechen, dass die Deutung, die sie den existenziellen Grunderfahrungen gibt, nicht nur verständlich wird, sondern als Selbstdeutung unseres Daseins wirksam hervorgerufen wird und dass der Glaube gestärkt und zur Hoffnung ermutigt wird. Sie erzählt nicht von einer die Heilsgeschichte materialisierenden religiösen Sonderwelt. Sie operiert nicht mit doppelten Wirklichkeiten, einer menschlichen und einer göttlichen Wirklichkeit, einer Menschengeschichte und einer Gottesgeschichte, sondern spricht so von dieser einen Lebens- und Weltwirklichkeit, die wir nur haben, dass wir sie in den uns immer wieder neu aufrichtenden und in Bewegung versetzenden göttlichen Möglichkeiten ihres Heilwerdens erkennen. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, die biblisch tradierte religiöse Symbolsprache in eine andere, säkulare oder poetisch-säkulare Sprache zu übersetzen. Die religiöse Rede hat keine andere Sprache als die biblische, die von Gott dem Schöpfer, von des Menschen Sünde und seiner Er­ 284 

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lösung durch Jesus Christus spricht. Nicht eine andere Sprache ist zu sprechen, aber die religiöse Rede sollte die traditionelle religiöse Symbolsprache in ihrem religiösen Deutungssinn immer wieder neu erschließen und zur existenziellen Aneignung anbieten. Die Frage nach der existenziellen Bedeutung und Aneignungstauglichkeit muss gewissermaßen alle Predigthandlungen begleiten, freilich ohne selbst ihr Thema zu sein. Letzteres zu vermeiden und diese Frage implizit dennoch zu beantworten, das macht die religiöse Sprachkompetenz der Predigenden aus. Sie gipfelt, wie gesagt, nicht darin, die religiöse Sprache in eine andere Sprache übersetzen zu können, sondern darin, die religiöse Sprache in ihren religiösen Sinngehalt verständlich und sinnstiftend wirksam zu machen.129 So wenig es eine religiöse Sprache gibt, gibt es eine säkulare Sprache. Es gibt einen religiösen und einen säkularen Gebrauch der Sprache. Der religiöse Gebrauch der Sprache ist der metaphorische und symbolsprachliche. Dieser ist eben deshalb religiös, weil er ein Sinn deutendes Verhältnis zur ­Transzendenz- und Unbedingtheitsdimension der Wirklichkeit, und damit zu den letzten Sinnfragen des Lebens herstellt. Der säkulare Gebrauch der Sprache ist der, der die Möglichkeit eines ausdrücklichen Sich-Verhaltens zur Unbedingtheitsdimension der Wirklichkeit auf sich beruhen lässt bzw. dieses der Zuständigkeit der Religionen und ihren Anhängern überlässt. Von der religiösen Sprache wird ja auch zumeist dann gesprochen, wenn in den Blick kommt, dass die kulturelle Selbstständigkeit einer Religion vor allem auf ihrer symbolbildenden Kraft aufruht. Religionen bilden religiöse Symbolsprachen und die mit ihnen verbundenen Rituale aus. Religionen und die 129 Das ist das Missverständnis in der von Habermas aufgebrachten Zumutung, die Religiösen müssten ihre Sprache den religiös Unmusika­lischen übersetzen. Bei Lichte besehen, meint Habermas damit ja auch gar nicht die Verständigung über den religiösen Gehalt der reli­giösen Sprache, sondern die Affirmation ihrer ethischen Implikationen. Vgl. Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion: Philoso­phische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005; ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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ihnen enger Verbundenen verständigen sich in der Symbol­ sprache ihrer Religion, zumeist dann, wenn sie an ihren Ri­ tualen teilnehmen. Diese Verständigungsbasis, wie sie in traditionsorientierten, dann auch engen, sektenhaften religiösen Gemeinschaften auch heute gegeben ist, ist in der gesellschaftsöffentlichen, volkskirchlichen Praxis des Christentums weithin brüchig geworden. Dennoch geht es, wie gesagt, gerade nicht darum, sie nicht mehr zu verwenden, nicht mehr von Gott und Schöpfung, Sünde und Gnade, Rechtfertigung, Versöhnung und Er­lösung zu sprechen. Diese Symbole werden ja sogar im sogenannten säkularen Raum verwendet, in Verfassungsgrundsätzen und Parteiprogrammen, in Popsongs und auf der Theaterbühne, sie geben den Stoff für die Storys von Blockbusterfilmen und für populäre Romane. Nicht die Vermeidung religiöser Sprache ist geboten, auch nicht ihre Übersetzung in eine angeblich säkulare Sprache. Die religiöse LeistungsNicht die Vermeidung religiöser Sprache ist geboten, auch nicht kraft der religiösen Sprache vielihre Übersetzung in eine angeblich mehr gilt es zum Zuge zu brinsäkulare Sprache. Die religiöse Leis­ gen. Das aber heißt, zu einem tungskraft der religiösen Sprache vielmehr gilt es zum Zuge zu brin­ solchen Gebrauch der traditiogen. Das aber heißt, zu einem sol­ nellen, biblisch verankerten rechen Gebrauch der traditionellen, ligiösen Sprache fähig zu sein, biblisch verankerten religiösen Spra­ che fähig zu sein, durch den sich die durch den sich die Deutung erDeutung erschließt, die die christ­ schließt, die die christliche Botliche Botschaft unserem Leben auf wirksame Weise gibt. schaft unserem Leben auf wirksame Weise gibt. Die Arbeit an der Sprache, die die Predigt und damit die kirchlich gebotene, professionelle religiöse Rede leisten muss, führt uns so wieder hin zu der zentralen Aufgabe, vor die sich die heutige Predigt überhaupt gestellt sieht, nämlich die Er­ fahrungen des Lebens auf einleuchtende, überzeugende und gewinnende Weise ins Licht derjenigen religiösen Deutung zu heben, die die christliche Rechtfertigungsbotschaft ihnen gibt. Dieser Aufgabe nachgehend, erschließt sie das religiös sinn286 

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stiftende Deutungspotenzial der in der Rechtfertigungsbotschaft zentrierten biblischen Symbolwelt, zeigt sie, welches Selbst- und Weltverständnis uns der christliche Rechtfertigungsglaube gewinnen lässt. Ihre Deutungsarbeit ist letztlich immer verständigungsorientierte und um eine ansprechende Sprache bemühte Arbeit an der religiösen Symbolsprache der christlichen Tradition. Allerdings muss auch betont werden, dass sich heute das säkulare Bewusstsein in großer Selbstbewusstheit behauptet. Daran liegt es schließlich, dass die Predigt die religiöse Symbolsprache in ihrem religiös sinnstiftenden Deutungsgehalt immer wieder neu deuten muss. Sie muss dies gegenüber einer gesellschaftskulturell dominanten Bewusstseinsstellung tun, in der die humane Vernunft einen Anspruch auf allgemeine Geltung erhebt, den sie den religiösen Sondersprachen zugleich verweigert. Einer sich autonom behauptenden, säkular-humanen Vernunft gegenüber ist die Religion rechenschaftspflichtig geworden. Auch wenn die Religion zu Recht auf ihrer Selbstständigkeit besteht, also auch darauf, nicht ohne Rest ins ethische oder ästhetische Daseinsverhältnis überführt werden zu können, muss sie sich doch eben in ihrer Lebensdeutungskraft immer wieder neu verständlich machen. Die Arbeit an der Sprache ist somit zugleich die für jede Predigt entscheidende Arbeit an der Botschaft, die sie auszurichten hat, an dem, was sie zu sagen hat – nämlich so zu sagen hat, dass es einleuchtet, plausibel und potenziell jedem und jeder nachvollziehbar wird. Sie muss das auch weiterhin in Dann spricht die Predigt so von Gott und seiner Schöpfung, von des der dem christlichen Glauben in Menschen Sünde und seiner Recht­ seinem biblischen Gehalt eigenfertigung, von Jesu Kreuz und seiner Auferstehung, dass hervortritt, wie tümlichen religiösen Symbolspraauf diese Weise existenzielle Grund­ che tun. Aber eben in hermeneuerfahrungen, elementare Sehnsüchte, tischer Brechung. Dann spricht Erwartungen und Hoffnungen menschlichen Lebens im Deutungs­ die Predigt so von Gott und seizusammenhang des christlichen ner Schöpfung, von des Menschen Glaubens zur Sprache kommen. Sünde und seiner Rechtfertigung, Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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von Jesu Kreuz und seiner Auferstehung, dass hervortritt, wie auf diese Weise existenzielle Grunderfahrungen, elementare Sehnsüchte, Erwartungen und Hoffnungen menschlichen Lebens im Deutungszusammenhang des christlichen Glaubens zur Sprache kommen. So verfahrend, ist den Predigenden klar, dass sie auf dem Wege der Auslegung eines biblischen Textes und am Leit­ faden der symbolischen Ordnung der christlichen Glaubenslehre selbst diejenigen sind, die symbolisierend handeln, indem sie von den überlieferten, aber immer noch tragfähigen, in ihrem Sinndeutungsgehalt unausschöpflichen Symbolen der biblischen Überlieferungen Gebrauch machen. Dadurch, dass Predigende die biblische Symbolsprache in ihre eigene Sprache integrieren, sie also authentisch sprechen, gewinnt ihre Predigt diejenige Sensibilität, die sie heute braucht, will sie in den Erfahrungen der Brüchigkeit des Lebens auf die existenzielle Not angesichts des unendlichen Mangels an Sinn verweisen und in den Erfahrungen des Glücks und des Gelingens das Gefühl der Dankbarkeit Gott gegenüber zum Ausdruck bringen. Wenn es der Predigt gelingt, so zu sprechen, dass die Hörenden sich in den widersprüchlichen Gegebenheiten des Lebens verstanden fühlen, dann aber auch den Trost der göttlichen Heilszusage lebendig erfahren, hat sie ihre Sprache gefunden.130

130 Die Sprache der religiösen Symbole involviert die Menschen in ihrer Existenz. Deswegen steht sie gegen religiösen Positivismus und dok­ trinäres Ideologiedenken. Aber zugleich verweisen alle Symbole darauf, dass ihr Sinnüberschuss sie zu »broken symbols« (Tillich) macht. Darin liegt ihre »truth«. Das ist der Grundgedanke auch der auf die paulinische »Torheit« der Predigt setzenden Homiletik von Charles L. Campbell/­Johan H. Cilliers, Preaching Fools. The Gospel as a Rhetoric of Folly (Baylor University Press) Waco, Texas 2012. 288 

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4.4 Die Erbaulichkeit der religiösen Rede Die religiöse Rede redet nicht Die religiöse Rede redet nicht über Religion. Sie redet aus Religion, aus über Religion. Sie redet aus Rereligiöser Überzeugung und zielt auf ligion, aus religiöser Überzeudie heilsame Mitteilung von Religion. gung und zielt auf die heilsame Mitteilung von Religion. Was ist zu tun, wie ist in der Rede zu verfahren, damit es zur Mitteilung von Religion kommt? Das ist die für die Gestaltung der religiösen Rede zuletzt wichtige Frage. Denn jetzt gilt es, die der religiösen Rede eigentüm­liche Schwierigkeit mit rhetorischen Mitteln zu lösen. Die eigentümliche Schwierigkeit der rhetorischen Mitteilung von Religion besteht darin, dass sie mit den Mitteln der Sprache auf ein persönliches Erleben und auf einen existenziellen Vollzug zielt. Sie geht in ihrem sprachlichen Ausdruck nicht auf und beschränkt sich nicht auf die kognitive und inhaltliche Dimension des religiösen Verhältnisses. Die Religion als persönliches Erleben und existenzieller Vollzug, hier immer die Religion 1 genannt, kann von der religiösen Rede nur angeregt, nicht aber hervorgebracht werden. Das genau ist deshalb die zentrale Frage an die Rhetorik der religiösen Rede: Wie ist zu verfahren, welche formalen Gesichtspunkte sind in der Gestaltung der religiösen Rede zu berücksichtigen, damit diese ein religiöses Erleben auszulösen und zum Vollzug religiöser Selbstaus­ legung anzustiften vermag? Zu sagen, dass eine Predigt erbaulich sein sollte, scheint zwar etwas aus der Zeit gefallen zu sein. Dennoch soll sie hier wieder aufgenommen werden. Denn der Begriff des Erbaulichen der religiösen Rede bringt genau dies zum Ausdruck, dass die religiöse Rede emotional ansprechen, dass sie berühren, gleichermaßen etwas zu fühlen wie dann auch zu denken geben sollte. Das Erbauliche der religiöse Rede ist das, was es macht, dass die Rede die Hörenden innerlich ergreift, sie das Empfinden haben, gemeint zu sein, dass es um sie selbst geht, deshalb von ihnen aber auch verlangt ist, sich auf das, was Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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da gesagt wird, einzulassen, ja, es im eigenen Herzen zu bewegen. Was also kann die religiöse Rede tun, welche rhetorischen Gesichtspunkte sollte sie beachten, damit sie zur erbaulichen religiösen Rede wird? Drei Kriterien will ich nennen:131 a) Die religiöse Rede muss unmittelbar verständlich sein. Sie muss die Sprache derer sprechen, an die sie sich wendet. Sie darf keine fremde Sprache sprechen, keine Sprache, die sich an historisch, räumlich und kulturell entfernte Menschen richtet. Würde sie eine solch fremde Sprache sprechen, dann müsste diese ja erst übersetzt werden, um zu einer ergreifenden, die Hörer und Hörerinnen angehenden Rede werden zu können. Das bräuchte viel zu viel Zeit. Es würde verhindert, dass die Hörenden sich selbst ins Verhältnis zur Botschaft der Rede setzen. Die Form der religiösen Rede stimmt nur dann mit ihrem Inhalt zusammen, wenn sie diesen selbst mit hervorruft, also es macht, dass die Hörenden sich von ihm angesprochen und in ein religiöses Erleben hineinge­ zogen finden. Damit die religiöse Rede für die Hörenden zum religiösen Erlebnis wird, muss sie jedes unnötige Übersetzungsproblem vermeiden. Nur in der unmittelbar verständlichen Ansprache kann sie die Hörenden emotional ergreifen sowie zur religiösen Selbstreflexion anregen. b) Die religiöse Rede muss die gegebene Situation ins Auge fas­ sen. Sie darf sich nicht an Menschen in anderen Räumen oder fernen Zeiten richten. Unmissverständlich klar muss sein, wovon die Rede ist: Gemeint ist die Gegenwart, betroffen ist die Gegenwart, sind die Menschen, die jetzt und hier leben und die die potenziell Hörenden sind. Sie sind es, die

Das Erbauliche der religiöse Rede ist das, was es macht, dass die Rede die Hörenden innerlich er­ greift, sie das Empfinden haben, ge­ meint zu sein, dass es um sie selbst geht, deshalb von ihnen aber auch verlangt ist, sich auf das, was da gesagt wird, einzulassen, ja, es im eigenen Herzen zu bewegen.

131 Dabei nehme ich Anregungen auf, die der Sozialphilosoph Bruno ­Latour der religiösen Rede gegeben hat, indem er ihre Sprache nach Analogie der Sprache der Liebe zu beschreiben unternommen hat. Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, 80–85. 290 

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zum Glauben ermutigt, der Liebe versichert und zur Hoffnung angestachelt werden sollen. c) Die religiöse Rede muss eine wirksame Sprache sprechen. Sie redet nicht von Tatsachen. Sie informiert nicht über Sachverhalte. Sie behauptet kein Wissen. Sie redet von dem, worauf der Glaube sich richtet. Das geschieht in der Form performativer Zusagen, die ein Sich-auf-sie-Verlassen einfordern, aber zugleich auch hervorrufen. Dann spricht die religiöse Rede die Sprache der Verheißung, des unabgegoltenen Versprechens. Dann setzt sie darauf, dass es ihr gelingt, diese Sprache so zu sprechen, dass die Hörenden die Er­mutigung empfinden, sich auf sie einzulassen. Im Sinne einer handwerklichen Anweisung zum Predigen könnte man diese drei Kriterien auch so auf den Punkt bringen: a) Gebrauche keine Fremdworte, b) Mache keine Umwege, c) Suche die unmittelbare Ansprache. Insbesondere das Kriterium c) der religiösen Rede als einer wirksamen, die Predigt zum religiösen Erlebnis machender Rede, lässt eine gewisse Nähe der hier vorgeschlagenen Predigtrhetorik zum sogenannten »ästhetischen Paradigma« erkennen. Dieses wurde von Gerhard M. Martin in die Homile­ tik eingeführt.132 Es hat zuletzt durch Martin Nicol mit dem Konzept der »dramaturgischen Homiletik« einflussreich Eingang in die homiletische Ausbildung gefunden.133 Diese Nähe ist, was die Wirksamkeit der religiösen Rede anbetrifft, auch 132 Vgl. Gerhard Marcel Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 44, 1984, 46–58. Die semiotischen Hintergründe Ecos stärker aufnehmend hat sich diesem Slogan dann auch Wilfried Engemann angeschlossen, vgl. Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen, Tübingen, Basel 1993. 133 Vgl. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002. Martin Nicol, Alexander Deeg, Einander ins Bild setzen, in: Lars Charbonnier, Konrad Merzyn und Peter Meyer (Hg.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 68–84. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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gewollt. Denn es ist in der Tat ganz wichtig, dass die Predigt die Hörenden affektiv ergreift, dass diese sich in das Predigtgeschehen einbezogen finden und dadurch zur religiösen Selbstauslegung ermutigt fühlen. Die Hörenden sollen merken, dass es in und mit der Predigt um sie selbst, um ihr Sich-selbstVerstehen geht. Leider wird das »ästhetische Paradigma« in der »dramaturgischen Homiletik« aber nur auf den Umgang mit dem biblischen Text bezogen134 und dabei mit einer bibelhermeneutischen These verbunden, die sich die Sache entschieden zu einfach macht. Nicol setzt schlicht voraus, dass das Kriterium a) und b) durch die biblischen Texte selbst bereits erfüllt ist. Er denkt von der bibelhermeneutischen These her, wonach biblische Texte keine Übersetzung und keine Auslegung, noch gar die Bestimmung ihrer Sinnintention und die Erkundung ihres aktuellen Situationsbezuges brauchen. Dass die Predigt nur dann zur wirksamen religiösen Rede werden kann, wenn sie eine Sprache spricht, die unmittelbar verständlich ist und die gegenwärtige Situation ins Auge fasst, das hat Nicol richtig gesehen. Aber er macht die Erfüllung dieser Kriterien nicht zur rhetorisch-homiletischen Aufgabe. Er sieht überhaupt nicht mehr, dass die religiöse Rede eine Rede bleibt, in und mit der die Redenden so zu sprechen versuchen, dass sie unmittelbar verstanden werden, dass sie die gegenwärtige Situation treffen und die Hörenden sich aktiv auf sie einlassen können. Statt an Gesichtspunkten der Rhetorik und damit am Verfertigen der Predigt als einer überzeugungsorientierten religiösen Rede sich auszurichten, setzt die »dramaturgische Homiletik« darauf, die Predigt nach Analogie eines theatralen Inszenierungsgeschehens zu gestalten. Der biblische Text liefert das Stück,

134 Die »dramaturgische Homiletik« der biblischen Texte unterschlägt aber auch, dass die Bibel durchaus auch deutende, auslegende, fordernde und andere Sprachargumentationen kennt, keineswegs nur erzählende Texte. Ihr ist also auch die Einziehung der Polysemie und Vielfalt ­biblisch-religiöser Rede zum Vorwurf zu machen. 292 

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das in der Predigt zur Aufführung kommen soll. Das kann gelingen. Dabei kann eine Predigt entstehen, die die Sprache der Hörenden spricht, die die gegenwärtige Situation im Auge hat und zu einem aktuellen religiösen Erleben führt. Das setzt dann aber voraus, dass die Predigenden bzw. Bibeltext-Dramaturgen alle die Reflexionsschritte durchlaufen haben, die notwendig sind, um die ansprechende Sprache und die wirksame religiöse Rede finden zu können. Das jedoch sieht die »dramaturgische ­Homiletik« nicht vor. Die »dramaturgische Homiletik« entlastet die Predigenden ebenso davon, sich über die Intention des biblischen Textes Rechen­schaft abzulegen, wie es ihnen die situative Kon­k retion ihrer Botschaft abnimmt. Demgegenüber fällt es dann den Hörenden als Chance wie als Aufgabe zu, nicht sich zur Botschaft, die die Predigt ihnen mitteilt, zu verhalten, denn eine solche Botschaft gibt es nicht; sie sollen vielmehr zu Subjekten der Auslegung des biblischen Textes werden. Die Predigt öffnet den »Textraum«135 der Bibel, so stellt die »dramaturgische Homiletik« sich die Sache vor. Sie entwirft lebendige Szenen, in denen sich intertextuelle Bezüge zwischen den Texten der Bibel und denen unserer Gegenwart einstellen. In den »Worten, Bildern und Geschichten«, die die Predigt, im offenen »Textraum« der Bibel sich bewegend, den Hörenden anbietet, sollen diese dasjenige finden, was sie mitnehmen und ins eigene Leben überführen können. Kierkegaard hat dem Erbaulichen der religiösen Rede demgegenüber immer noch bedenkenswerte Überlegungen gewidmet. Er hat vor allem die Anforderungen, die das Erbauliche an die Rhetorik der religiösen Rede stellt, bedacht.136 Für Kierke­ gaard sollte die Predigt zur erbaulichen religiösen Rede wer135 Vgl. Alexander Deeg, Martin Nicol, Texträume öffnen. Die homiletische Frage nach dem Hörer aus Sicht der »Göttinger Predigtmedita­ tionen«, in: Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienst­ liche Fragen der EKD 23, H. 2, 2009, 34–40. 136 Vgl. Albrecht Haizmann, Indirekte Homiletik. Kierkegaards Predigtlehre in seinen Reden, Leipzig 2006. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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den. Darin ist sie eine ebenso exemplarische (des Predigers) wie paradigmatische (weil stellvertretend übernommene) indirekte Existenzmitteilung. Sie wird zur unmittelbar verständlichen und zur religiösen Selbstauslegung auffordernden Anrede an die Hörenden, weil sie den aneignenden Glauben verlangt. Der religiöse Inhalt der Predigt ist es, der die Form einer Rede braucht, die die Hörenden recht eigentlich zum Subjekt der Predigt macht. Die Hörenden sollen diejenigen werden, die sich die Predigt zuletzt selbst halten, weil sie merken, dass das, wovon die Rede ist, sie selbst unbedingt angeht und ihren eigenen Glauben verlangt. Der Vollzug des eigenen Glaubens ist die Selbstdeutung ihrer Existenz im Licht der sie unmittelbar angehenden, ihre Situation treffenden und ihren Glauben in Anspruch nehmenden Rede. Die Einsichten der Rezeptionsästhetik sind allerdings auch nicht für homiletisch belanglos zu erklären. Der Anstoß, den Gerhard Marcel Martin Anfang der 1980er Jahre in Anlehnung an Umberto Eco mit der Rede von der Predigt als »offenem Kunstwerk« gegeben hat, kann hier unter dem Gesichtspunkt des Erbaulichen der religiösen Rede durchaus aufgenommen werden. Die Rezeptionsästhetik hat vor allem dafür gesorgt, dass die Hörenden als aktive Rezipienten in den Blick k­ amen, als solche, die an der Botschaft der Predigt mitarbeiten. Das technische Sender-Nachricht-Empfänger-Modell, dementspre­ chend bei den Hörenden genau das ankommen soll, was der Prediger ihnen sagen will, während ein anderes Verstehen auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sei, ist mit Hilfe der Rezeptionsästhetik überwunden worden. Sie hat das Hören der Predigt als einen konstruktiven und interpretativen Vorgang aufgefasst, der die emotive, kognitive und voluntative Selbsttätigkeit der Hörenden verlangt. Das Hören als rezeptive Tätigkeit, so die These der Rezeptions­ästhetik, ist selbst ein aktiver Prozess bereits der Wahrnehmung und Verarbeitung des Gehörten. Die Hörenden wählen aus, was sie mit ihren eigenen Gefühlen, Gedanken und Absichten verknüpfen können. Sie nehmen an, was ihnen anschlussfähig erscheint an selbst Er294 

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lebtes, was sie beziehen können auf Fragen, die ihnen wichtig sind, was sie zum Mitdenken motiviert. Die Frage ist nur, was diese rezeptionsästhetischen Überlegungen für die rhetorische Konzeption der Predigt als religiöser Rede bedeuten. Da eben scheint mir die Strategie der »dramaturgischen Homiletik« die text-, religions- und gegenwartshermeneutischen Anforderungen, die eine religiös glückende Textinszenierung verlangt und die die Rhetorik der religiösen Rede zu berücksichtigen hat, längst nicht ernst genug zu nehmen. Gerhard Marcel Martin und auch Wilfried Engemann137 betonten noch, dass die interpretative Aktivität des Hörers dadurch erreicht werde und dieser zu einer bestimmten Interpretation der Predigt dadurch angeregt werde, dass bestimmte Interpretationserwartungen enttäuscht und andere vorgeschlagen würden. Sie insistierten zu Recht darauf, dass die Rezeptionsaktivität der Hörenden durch die direkte Anrede und eine in ihrer Intention durchsichtige, die Hörenden in der ihnen eigenen Gegenwart anredende Predigt erreicht wird. Die Offenheit, Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit der Predigt, die sie braucht, um die Deutungsaktivität der Hörenden freizusetzen, hat Wilfried Engemann deshalb zu Recht auf eine »taktische Ambiguität«138 eingeschränkt. In Nicols Konzept der »dramaturgischen Homiletik« hingegen müssen Predigende sich nicht mehr zu einer den Hörenden unmittelbar verständlichen und ihre Situation treffenden Sprache auf dem Weg text- und religionshermeneutischer Bemühungen hindurcharbeiten. Das wird alles der performativen Kraft der biblischen Texte selbst und dann natürlich auch dem Wirken des Heiligen Geistes überlassen. »Predigt als Kunstwerk ist offen. Sie eröffnet Pluralität des Verstehens, die sich als Widerhall einer Pluralität im Wirken des Heiligen Geistes

137 Vgl. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen, Basel 2002, 316–325. 138 A. a. O. 319. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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deuten lässt.«139 Es dürfte jedoch zu fragen sein, ob die konstruktive Aktivität der Hörenden  – ihr Etwas-mit-der-Redeselbst-anfangen-Können  – überhaupt in Gang kommt, wenn die Predigt sie weder mit einer sinnintentional klaren Lesart des biblischen Textes konfrontiert noch ihre Botschaft unmittelbar verständlich und ihr gedanklicher Aufbau nachvollziehbar werden.140 Predigende müssen wissen, wie sie selbst den biblischen Text verstehen, was sie mit ihrer Predigt sagen wollen und welche Botschaft bei den Hörern und Hörerinnen ankommen soll. Die Rezeptionsästhetik entlastet weder von der durch den Prediger/die Predigerin selbst zu leistenden Textauslegung noch von der Klärung der Intention der Predigt. Sie verlangt vielmehr beides, die gegenwartsbezogene Interpretation des biblischen Textes wie die rhetorischen Überlegungen zu einer der Predigtintention angemessenen Form der Predigt. Einen Text zu interpretieren heißt, zu verstehen, was er heute zu sa139 Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002, 63. 140 Vgl. die treffsichere Kritik von Birgit Weyel an der hermeneutischen Leichtfertigkeit, mit der Nicol/Deeg von biblischen Texten als »Räumen« sprechen«, in denen die Predigthörer, angeleitet durch die Predigenden, sollen herumgehen können, um zu sehen, in welcher Ecke sie sich, den Text auf sich und ihre Lebenssituation beziehend, niederlassen wollen: Birgit Weyel, Der Hörer steckt im Text? Skizze zu einer theologisch-homiletischen Kontroverse, in: Freude am Predigen. 40 Jahre Predigtstudien 1968–2008. Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen Kirche Deutschlands, Heft 2 (2009) 23. Jg., Hannover 2009, 41–48. Birgit Weyel arbeitet in ihrer knappen Skizze luzide heraus, dass die Predigt durchgängig von der Auslegung des biblischen Textes, über die Feststellung seines situativen Gegenwartsbezuges bis hinein in die Ausarbeitung des Predigtvortrags als eine hermeneutische Operation durchzuführen ist. Predigen heißt interpretieren, so betont sie, im Anschluss an Ricœur dann auch, dass die Textinterpretation sich mit Selbstinterpretation verbindet und mögliche Weltbezüge für die Leser und Hörer herstellt. Predigende müssen Textstrategien rekonstruieren und selbst verfolgen, sich auf eine bestimmte Lesart des Textes festlegen und im Klaren darüber sein, was sie selbst sagen wollen. Dann wird es auch den Hörenden gelingen, die Predigt auf sich und ihr Leben zu beziehen. 296 

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gen hat, heißt also Referenzen an die Gegenwart herzustellen. Die Referenz auf die Gegenwart liegt schon in der Textinterpretation. Den biblischen Text interpretierend gilt es bereits die Sprache zu finden, mit der ich als Predigender mich direkt an die Hörenden wenden kann, die sie anspricht, die sie verstehen. Die Rezeptionsästhetik wird deshalb mit der Behauptung homiletisch aufgenommen, dass die Predigt die Hörenden emotional am stärksten anspricht, ihnen am meisten zu denken gibt und sie zu einem bestimmten Wollen anregt, je eindeutiger, klarer, einleuchtender und provokativer sie ihre Botschaft vorträgt. Sie erreicht ihre Hörer und Hörerinnen nicht dadurch, dass sie sie über ihre Lesart des biblischen Textes oder ihre eigene Botschaft im Unklaren lässt. Sie gewinnt sie vielmehr dadurch, dass sie etwas Bestimmtes sagt und dies vom biblischen Text her in seinem religiös sinnstiftenden Gehalt einleuchtend zu machen versucht. Je klarer die Predigt in dem ist, je mehr das Gesagte den Hörenden einleuchtet, desto stärker können sie selbst etwas mit der Predigt anfangen und entwickelt sich ihre Bereitschaft, die Botschaft der Predigt auf sich selbst zu beziehen. Darauf kommt es der Predigt als religiöser Rede ganz entscheidend an. Denn dadurch allererst, dass die Hörenden sich die Botschaft der Predigt nicht nur gesagt sein lassen, sondern sie sich diese zu eigen machen, kann die Predigt zur erbaulichen religiösen Rede werden und ihre Religion bildende Kraft entfalten. Die Rezeptionsästhetik wird hier also nicht zurückgewiesen, sie wird recht eigentlich erst in ihrer religionstheolo­ gischen Bedeutung gewürdigt und für die Predigtarbeit zur Geltung gebracht. Es sind keineswegs nur ästhetische Gründe, die darauf drängen, die Predigt rhetorisch so zu konzipieren, dass sie für vielfältige, Lebenssituationen konkretisierende, von den Hörenden eigenaktiv zu vollziehende Rezeptionsprozesse offen bleibt. Es sind vielmehr theologische, die Predigt als religiöse Rede qualifizierende Gründe, die es verlangen, die Predigtrede so zu gestalten, dass diese Rede sich erst in Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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der Rezeption durch ihre Hörer und Hörerinnen vollendet. Das liegt an der Botschaft, die sie als religiöse Rede auszurichten hat, daran, dass sie eine religiöse Botschaft auszurichten hat. Denn eine religiöse Botschaft ist eine solche, die den Glauben verlangt. Sie hat keine anderen Referenzen als die Menschen, die ihr Vertrauen schenken. Sie besteht aus einer Zusage, die dann wahr wird, also die Wirklichkeit menschlichen Lebens erschließt, wenn Menschen sich in ihr und durch sie sich selbst verstehen, sie im Licht dieser Botschaft die Erfahrungen ihres Lebens deuten und in ihrem Verhalten an ihr orientieren. Die Botschaft der religiösen Rede teilt Religion mit und wirkt Religion bildend genau dann  – man möchte sogar sagen, nur dann – wenn sie im Glauben ergriffen wird, wenn Menschen sich in ihr und von ihr her verstehen und aus solchem Sich-selbst-Verstehen ihr Leben führen. Die Predigt erfüllt ihren Auftrag und erreicht ihr Ziel, wenn die Lebensdeutung, die die christliche Botschaft ermöglicht, in die je eigene Selbst­deutung integriert wird. Kierkegaard sprach deshalb von der erbaulichen Rede als einer indirekten Rede, weil sie auf den Glauben zielt, den die Rede nicht machen, sondern den sie lediglich am Ort der Hörenden als deren Selbstvollzug anregen kann. Der Glaube, das vertrauensvolle Sich-in-Gott-gründen, ist ein je individueller Vollzug. Im Glauben ist jeder unvertretbar er selbst. Keiner kann für einen anderen glauben. Keiner kann in einem anderen den Glauben bewirken. Der Glaube ist das von jedem und jeder selbst zu erbringende Wagnis, sich vorbehaltlos, ohne objektive Absicherung auf Gott zu verlassen und ihm zu vertrauen. Deshalb wird für Kierkegaard die Predigt allenfalls auf indirekte Weise zur religiös erbaulichen Rede, dadurch nur, dass die Hörenden die Botschaft, die die Predigt ausrichtet, ergreifen und sich aneignen.

Es sind vielmehr theologische, die Predigt als religiöse Rede quali­ fizierende Gründe, die es verlangen, die Predigtrede so zu gestalten, dass diese Rede sich erst in der Rezeption durch ihre Hörer und Hörerinnen vollendet. Das liegt an der Botschaft, die sie als religiöse Rede auszurich­ ten hat, daran, dass sie eine religiöse Botschaft auszurichten hat.

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Dass es der Predigt um die religiöse Gründung der je eigenen Existenzgewissheit geht, muss sich durch ihre rhetorische Form mitteilen. Sie darf kein Lehrvortrag sein und keine exegetische Abhandlung. Sie verlangt, dass die Predigenden sich mit ihrer religiösen Subjektivität in die Predigt einbringen und ebenso die Hörenden sich nach ihrer religiösen Subjektivität gefragt finden. Sie spricht insofern nicht über Religion, sondern aus ihr heraus. Sie artikuliert den Vollzug der religiösen Selbstauslegung, in dem die Predigenden stehen und in den sie auch die Hörenden hineinnehmen wollen. Damit die Hörenden sich als diejenigen angesprochen wissen, die selbst in den religiösen Vollzug hineinfinden müssen, deshalb muss die Predigt den Hörenden die Chance zur Mitarbeit an ihrer Botschaft geben. Sie darf diese nicht als absolut vorgegebene Wahrheit proklamieren, sondern braucht genau diese Offenheit, die die Hörenden ermutigt, ihre Botschaft im eigenen Lebens­vollzug zu konkretisieren. Dann wird die Botschaft der Predigt im Vollzug ihrer Aneignung und lebenspraktischen Ausführung wahr. So erst, durch die Inanspruchnahme der Hörenden nicht als Adressaten, sondern als Subjekte der religiösen Rede, kann die Predigt zu einer religiös erbaulichen Rede werden. Denn so gibt sie den Hörenden Veranlassung, sich aktiv selbst im reli­giösen Verhältnis zu verhalten, dieses als einen Akt ihrer religiösen Selbstdeutung zu vollziehen. Das Erbauliche der Predigt als Das Erbauliche der Predigt als reli­ giöser Rede liegt im Grunde darin, religiöser Rede liegt im Grunde dass sie hervorbringt, was sie bei je­ darin, dass sie hervorbringt, was dem und jeder zugleich auch schon voraussetzt. Deshalb möglichst der sie bei jedem und jeder zugleich offene Schluss der Rede, der Verzicht auch schon voraussetzt. Deshalb darauf, ins endlos begründende Er­ möglichst der offene Schluss der klären zu geraten. Deshalb die Zu­ mutung an die Hörenden, die Pre­ Rede, der Verzicht darauf, ins digt sich zuletzt selbst zu halten, ihr endlos begründende Erklären zu Ende ins eigene Leben hinein auszu­ geraten. Deshalb die Zumutung führen. Mit dieser Zumutung kann die Predigt nur arbeiten, wenn sie an die Hörenden, die Predigt sich davon ausgeht, dass auf die religiöse zuletzt selbst zu halten, ihr Ende Dimension seines Lebens jeder und ins eigene Leben hinein auszujede ansprechbar ist. Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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führen. Mit dieser Zumutung kann die Predigt nur arbeiten, wenn sie davon ausgeht, dass auf die religiöse Dimension seines Lebens jeder und jede ansprechbar ist. Bis in die rhetorische Form hinein muss die Predigt mit diesem transzendental-anthropologischen Religions­begriff arbeiten, der die Vorstellung ermöglicht, dass die subjektive Religion 1 ins Grundverhältnis jeden bewussten Lebens gehört. Denn dann nur kann sie die christliche Botschaft zu dem Versprechen machen wollen, das den Vollzug eines sich ihm öffnenden Selbstverstehens ermöglicht. Der rezeptions­ästhetische Hinweis, dass ein Kunstwerk sich immer erst im Auge des Betrachters vollendet, eben weil es aufgrund seiner eigenen, strukturell ihm eingeschriebenen Mehrdeutigkeit die Deutungszuschreibung des Betrachters verlangt, wäre damit religionstheologisch eingeholt. Recht eigentlich müssten wir dann aber auch von einer rezeptionsreligiösen Sprachgestalt der erbaulichen Predigt sprechen. Sie nimmt die Selbstdeutungsaktivität der Hörenden in Anspruch und gewinnt durch ihre offene, diese Selbstdeutungsaktivität einfordernde Struktur die religiös angemessene Form.141 Die rezeptionsästhetische Wirkung der Predigt macht sie zum Erlebnis, macht, dass die Hörenden von der Predigt auch emotional ergriffen werden. Die rezeptionsreligiöse Wirkung der Predigt geht darüber hinaus. Sie zeigt sich daran, dass sie religiöse Selbstdeutungsvollzüge auslöst. Wir können die Zusammengehörigkeit und Unterscheidung des Rezeptions­ ästhetischen und Rezeptionsreligiösen auch mit der Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung vergleichen, ohne dass wir uns gleich der Rede von der Predigt als »Kunstwerk« anschließen müssen. Von der Predigt als einem Kunstwerk zu sprechen scheint mir, bei aller Kunst der Rede, deren auch die Predigt bedarf, doch eben deshalb nicht angemessen, weil die Predigt als auftragsgebundene Rede immer den Zweck verfolgt, dass sie Re141 Vgl. Wilhelm Gräb/Dietrich Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen 1985. 300 

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ligion mitteilen, den Glauben wecken und stärken will. Einem Kunstwerk ist eine solch religiöse Zweckbestimmung nicht angemessen. Ein Kunstwerk, das in ästhetische Erfahrungen führt, spricht seine Betrachter an, erregt ihr Gefallen, lässt sie Lust empfinden. Sie wollen bei ihm verweilen, weil es ihnen das Gefühl gibt, einem Stück Welt zu begegnen, mit dem diese ihnen als Ganze entgegenkommt, das ihnen somit das Gefühl gibt, selbst in die Welt zu passen. Das sind ästhetische, die Sinneslust und den Daseinsgenuss steigernde Erfahrungen, die in der Begegnung mit Werken der Kunst gemacht werden. Solche ästhetischen Erfahrungen können auch religiös gedeutet werden, aber sie müssen es nicht. Immer jedenfalls liegt das Reli­giöse allererst in der Deutung der ästhetischen Erfahrung. Aber die religiöse Deutung wird von der Kunst doch nie in dieser Weise intendiert, wie das bei der Predigt der Fall ist. Es ist die Zweckbestimmung der Predigt als einer religiösen Es ist die Zweckbestimmung der Pre­ digt als einer religiösen Rede, Religion Rede, Religion mitzuteilen und mitzuteilen und das heißt: zu einer das heißt: zu einer religiösen religiösen Deutung des Lebens so­ Deutung des Lebens sowohl zu wohl zu ermutigen wie zu befähigen. ermutigen wie zu befähigen. Sie verfolgt die Absicht, die religiöse Selbst- und Weltdeutung der Hörenden anzuregen und zu befördern. Weil die Hörenden es selbst sein sollen, die sich zum Vollzug religiöser Erfahrungsdeutung ermächtigt und ermutigt sehen, spielt bei der Predigt die ästhetische Performanz eine so entscheidende Rolle. Die Hörenden sollen angesprochen werden, emotional berührt, einbezogen in die Rede als diejenigen, die sie unbedingt angeht. Die Bereitschaft, die Botschaft der Predigt auf sich zu beziehen und in die eigene Lebensdeutung zu integrieren, ist damit unbedingt von ihnen gefordert. Alles Weitere darf die Predigt den Hörenden überlassen. Sie können und werden den Weg des christlichen Lebens selbst gehen.

Reden gestalten: Homiletische Rhetorik

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Schluss: Eine Anleitung zum Predigen und einige Beispiele aus der eigenen Predigtpraxis

Der folgende Abschnitt1 versucht die Grundlinien der in diesem Buch entwickelten Auffassung von der Predigt als einer religiösen Rede noch einmal knapp zusammenzufassen und die Anstöße, die sich für die Vorbereitung einer Predigt er­geben, auf den Punkt zu bringen. Zuletzt füge ich vier Predigten hinzu, die einen Einblick in meine eigene Predigtpraxis geben. Eine dieser Predigten habe ich im Festgottesdienst am ersten Weihnachtstag 2012 in meiner Gemeinde in Berlin-­Frohnau gehalten. Ihr liegt der nach der Perikopenordnung vorgesehene Text zugrunde. Die weiteren drei Predigten gehörten in die Berliner Universitätsgottesdienste. Diese haben jeweils ein Semesterthema, dem dann das Thema des Sonntags sowie der biblische Text zugeordnet sind. Das Semesterthema, das Sonntagsthema, der biblische Text und der Sonntag des Kirchenjahres sind bei jeder der ausgewählten Universitäts-Predigten angegeben. Die Entstehung der Predigt in den Korrespondenzen zwischen Text- und Situationshermeneutik Der Blick auf die Hörenden und ihre religiöse bzw. für die religiöse Interpretation offene Selbstdeutung steht in strikter Korrespondenz zur Auslegung des biblischen Textes. Der religiösen Interpretation der gegenwärtigen Situation entspricht die Interpretation des biblischen Textes als Ausdruck religiöser Erfahrung. Worüber ist im Horizont dieses biblischen Textes zu 1 Dieser Abschnitt geht zurück auf einen kleinen Teil meines Beitrags in: Lars Charbonnier/Konrad Merzyn/Peter Meyer (Hg.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 219–222. 302 

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reden, weil es die Hörenden in der Situation ihres heutigen Lebens unbedingt angeht? Das ist die den Weg zur Predigt von Anfang bis Ende begleitende homiletische Leitfrage. Die Frage nach den Hörenden und ihrer Situation haben bereits Ernst Lange2 und Gert Otto3 ins Zentrum der Predigtarbeit gerückt. Daran schließt das hier vorgestellte Konzept an, mit dem entscheidenden Unterschied, energisch darauf zu bestehen, dass auch die Hörersituation religiös interpretiert werden muss – nicht weniger als der biblische Text. Natürlich, der biblische Text will ausgelegt und in dem, was er an Erfahrungen und Erwartungen, an Glaubensäußerungen und Lebensdeutungen zur Sprache bringt, verstanden sein. »Wie verstehe ich diesen Text heute?« – ist die Leitfrage der Texthermeneutik. So formuliert ist aber auch klar, dass die texthermeneu­tische Leitfrage bereits auf dem Hintergrund der religiös zu deutenden Wirklichkeit der Hörenden, die zugleich immer eine solche für sie selbst ist, gestellt wird. Sie korrespondiert der religionshermeneutischen Leitfrage: »Welche Erfahrungen und Situationen bzw. Momente religiöser Selbstdeutung habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?« Text- und Religionshermeneutik müssen letztlich im Zusammenspiel ihren Beitrag dazu leisten, dass Predigende 1. den religiös Sinn stiftenden Gehalt des biblischen Textes erkennen, sein Lebensdeutungsangebot (texthermeneutischer Schwerpunkt), 2. die gegenwärtige Relevanz und subjektive Aneignungstauglichkeit dieses Lebensdeutungsangebotes erfassen (religionshermeneutischer Schwerpunkt), 3. sehen, wie sie dieses Lebensdeutungsangebot der aktualen Selbstdeutung der Hörenden auf ansprechende Weise zur Verfügung stellen können (rhetorischer Schwerpunkt). 2 Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders. Predigen als Beruf, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 9–51, ders. Zur Aufgabe christlicher Rede, a. a. O., 52–67. 3 Vgl. Gert Otto, Predigt als Rede. Über Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart 1976. Schluss

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Die religionshermeneutische Erschließung der Hörersituation verlangt die aufmerksame Beobachtung dessen, was vorgeht in der Gemeinde, in Politik und Gesellschaft und nicht zuletzt im je eigenen Leben. Ernst Lange sprach von der Hörersituation als der »homiletischen Situation«.4 Damit meinte er im Grunde bereits die in ihrer impliziten religiösen Offenheit markierte Situation. Die »homiletische Situation« ist die religiös gedeutete Hörersituation, gedeutet in den Motiven, die dazu drängen, in der Predigt als einer religiösen Rede angesprochen und mit der Textauslegung verknüpft zu werden. Die Wahrnehmung der »homiletischen Situation« lässt erst die aktuelle Herausforderung zur Predigt erkennen. Sie rückt die religiös re­levanten Erfahrungen und Phänomene, Fragen und Themen in den Blick und macht auf deren Anschlüsse an die Textauslegung aufmerksam. Als religiös gedeutete bzw. religiös deutungsfähige homiletische Situation stellt die Hörersituation immer eine durch die Predigenden hergestellte bzw. definierte Situation dar. Mit ihr treten den Predigenden Erfahrungen und Themen, Fragen und Probleme vor Augen, die die Hörenden (zu denen natürlich auch die Predigenden selbst zu zählen sind) betreffen. Dabei darf aber nicht der Eindruck entstehen, als sei die Hörersituation zum Zweck eines möglichst reibungslosen Text­ anschlusses konstruiert. Eine homiletische Konzeption, die darauf insistiert, dass die Religionshermeneutik eigenen Rechts ist und nicht nur zum Zweck der Applikation des biblischen Textes unternommen wird, sondern um der gegenwärtig relevanten existenziell-religiösen Sinnfragen ansichtig zu werden, kann zur Vermeidung dieser unernsten Textanwendung entschieden beitragen. Es geht gerade nicht darum, den biblischen Text auf die Hörersituation anzuwenden. Eher umgekehrt ist zu ver­fahren: Durch die religiöse Interpretation der Hörersituation sollten diejenigen Erfahrungen und Phänomene, Fragen und Pro4 Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis, a. a. O., 22. 304 

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bleme gefunden werden, die sich mit dem Predigttext aufnehmen, bearbeiten und kritisch diskutieren lassen. Wird die Hörersituation durch ihre religiöse Interpretation zur »homi­ letischen Situation«, dann liefert sie gleichsam den hermeneutischen Schlüssel auch noch für die Textauslegung. Dann gewinnen diejenigen Erfahrungen und Themen, Fragen und Probleme, die die Hörenden so oder so in religiöser Hinsicht angehen, bewegen und beschäftigen (könnten), diese unbedingte Dringlichkeit, die nach der Antwort im Lichte der christlichen Botschaft verlangt.

1. Exempel: Predigt im Universitätsgottesdienst des Winter­ semesters 2012/13/ am 1. Advent 2012 / Semesterthema: »Oden an die Freude« / Predigttext: Lk 1,67–80 – Thema des Sonntags: »Freude, schöner Götterfunke«

Liebe Gemeinde! Das gibt es, solche Momente, da wir uns unbeschreiblich freuen, einfach nur glücklich sind. Ich weiß nicht, wann Ihnen das zuletzt passiert ist. Nach einer bestandenen Prüfung vielleicht. Als Sie bis über beide Ohren verliebt waren. An einem wunderschönen Sommertag, mit Freunden auf einer Bergwanderung. Ein unglaubliches Gefühl ist das. Ein inneres Glühen. Und auf einmal, für diesen Moment sieht die Welt ganz anders aus. Viel heller, wärmer, runder. Auf einmal fühlten wir uns ganz leicht, unbeschwert. Ich hätte jetzt auch einem wildfremden Menschen um den Hals fallen können. Schillers »Ode an die Freude«, aus einem solchen Impuls heraus muss er sie aufgeschrieben haben. Im Gefühl unbändiger Freude. Er war nicht allein. Andere waren dabei, seine Freunde, die kräftig mitfeierten. Der Pokal kreiste in der Runde und das Bier spritzte bis zum Himmel. Eine fröhliche, ausgelassene Bande war da beieinander. Und plötzlich fing einer an zu erzählen. Wisst ihr noch, wie das war, damals. Ich freue mich riesig, dass wir uns jetzt wieder getroffen haben: Kommt, lasst Schluss

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uns etwas unternehmen. Warum haben wir uns nur so lange aus den Augen verloren? Jetzt, da wir wieder zusammen sind, ist es doch, als wären wir nie weg und voneinander getrennt gewesen. Das muss gefeiert werden. Der Lobgesang des Zacharias. Auch dieser eine einzige Ode an die Freude, Freude darüber, dass endlich ein Licht am Ende des Tunnel sichtbar wird, dass das Elend ein Ende hat und das Leben wieder eine Perspektive. Freude über die Chance eines neuen Anfangs. Unbändige Freude, dass endlich die Feindseligkeiten überwunden werden, dass das eigene Volk, ja, die ganze Menschheit auf den Weg des Friedens findet. Zacharias singt heraus, was ihn innerlich bewegt und plötzlich mit einer unbändigen Hoffnung erfüllt. So kann ein Mensch sich freuen, dem eine ungeheuer große Last von der Seele fällt. Nun geschieht doch, womit er gar nicht mehr gerechnet hatte. Das Wunder einer großen Wende. Was war geschehen? Dem Zacharias war von seiner Frau Elisa­beth ein Kind geboren worden, sein Sohn Johannes. Zacharias und seine Frau Elisabeth waren ja beide hochbetagt. So hat es dem Zacharias, als er die Nachricht erhielt, dass seine Frau ein Kind bekommen soll, zuerst ganz die Sprache verschlagen. Mit einem solch freudigen Ereignis hatte er nicht mehr ge­rechnet. Aber auch wenn die Umstände nicht so dramatisch sind: Wer das schon einmal miterleben durfte, weiß, die Geburt des eigenen Kindes ist das schönste Erlebnis, das zwei Menschen überhaupt haben können. Wer sich da nicht freut, der kann sich überhaupt nicht freuen. Zacharias konnte sich freuen. Und er lässt seiner Freude freien Lauf. Er verliert fast gar seinen Kopf. Ein Sohn ist ihm geboren und er redet vom Aufgang aus der Höhe, von dem Gott, der sein Volk besucht, von den Füßen, die auf den Weg des Friedens finden. Überschwängliche Bilder einer besseren Welt. Ein Ende haben Streit und Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit, Hass und Todschlag. Jetzt wird alles anders, ganz anders. Eine unbeschreibliche Hoffnung, zu der ihn die Freude über sein neugeborenes Kind ermutigt. Hoffnung 306 

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nicht nur für Zacharias und Elisabeth, nicht nur für ihr kleines familiäres Glück. Nein, Hoffnung darauf, dass jetzt alles Elend ein Ende hat und das Leben einen Sinn. Hoffnung gerade für die, die in der Finsternis und im Schatten des Todes sitzen. Trost für die Trostlosen, Frieden den bedrängten Hütten. Freude, »schöner Götterfunken«. Wenn Erfreuliches geschieht, dann freuen wir uns unwillkürlich. Dann ergreift uns diese Freude. Wir spüren sie tief innerlich und geben sie zugleich mit Händen und Füßen nach außen kund. Wer sich freut, dem ist das anzusehen, obwohl die Menschen auch in ihrer Freude durchaus verschieden sind. Die einen lachen und tanzen, die anderen werden eher still und wirken in sich gekehrt. Immer aber, wenn wir uns freuen, geschieht es, dass wir über uns hinaus geraten, dass Ketten gesprengt und Grenzen überwunden werden. »Wir betreten feuertrunken, Himmlische, Dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.« So singt die fröhliche Runde, die den Pokal kreisen lässt. Sie geben ihrer Freude freien Lauf und schon merken sie unmittelbar, wie alles das verschwindet, was die Menschen sonst voneinander trennt. Soziale Schicht, Herkunft und Stand, Besitz und Leistung, arm und reich, alles das spielt keine Rolle mehr. Von dem allem kommt ja her, was uns immer wieder Sorgen macht, in Streit bringt und Anlass zur Klage gibt. Doch wo die Freude, diese Himmelskraft, herrscht, da können wir für Momente, für Stunden die Sorgen vergessen, da stürzen die Mauern ein, da werden Grenzen durchlässig. Und bitte, sagt nicht, das sei nur eine Flucht vor den Pro­ blemen. Nein, es hat mit der Freude etwas viel Tieferes auf sich. Sie ist das Gespür für das, was uns wahrhaft am Leben hält, woher die Kraft zum Leben kommt und der Mut auch, an sein Gelingen zu glauben. Gerade weil wir in den Momenten, in denen wir uns von Herzen freuen, nicht daran denken, was alles noch erledigt sein muss, was morgen schon an Schlimmem passieren kann, was meine Pflichten und Schulden sind, eben Schluss

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deshalb liegt in der Freude dieses Empfinden für das wunderbare Geschenk des Lebens, dass es einfach ein Glück ist, da zu sein. Es ist im Grunde gar nicht so wichtig, was die Freude auslöst. Wenn sie uns ergreift, dann bringt sie uns in Kontakt mit dem göttlichen Quellgrund allen Lebens. Freude, schöner Götterfunke. Er springt über, bei Zacharias, da ihm, dem alten Mann, ein göttliches Kind geboren wird. Er kann aber auch überspringen, auf der Fan-Meile, wenn das Tor für die eigene Mannschaft fällt. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen. Das Trennende, die Sorgen die Krisen, persönliche Not, Wirtschaftskrisen, bevorstehende Prüfungen, schlechte Nachrichten, alles das verschwindet für Momente. Es tritt die andere Wirklichkeit hervor. »Diesen Kuss der ganzen Welt. Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.« Auf einmal glauben sie alle, dass das wahr ist. Dass ein Gott ist, der diese problembeladene Welt liebevoll in seinen Händen hält. Von diesen Momenten zehren wir dann ein Leben lang. Denken wir nur an den 9. November 1989. Die Mauer öffnete sich, die ersten Trabbis fuhren über den Grenzübergang Bornholmer Straße und alle lagen sich vor Freude in den Armen. Die Grenze zwischen Ost und West war offen. Man brauchte keinen Passierschein mehr. Man konnte reisen, jetzt auch von Ost nach West. Freilich, bald schon, die etwas Älteren erinnern sich, bald schon setzte wieder der Zweifel ein. Über dem zerfallenden »Palast der Republik« war dieses Wort in großen Lettern zu lesen. Die alltäglichen, wirtschaftlichen Probleme holten die Menschen ein. Bald schon gab es nicht wenige, die sich am liebsten die Mauer zurückgewünscht hätten. »Freude, schöner Götterfunke«. Wie bist du so kostbar, aber auch so flüchtig, eine himmlische Erscheinung. ­Überwältigend, wunderbar, eine Gotteserfahrung. Sie kommt über uns, weiß nicht wie, lässt das Herz höher schlagen, ohne dass wir einen Einfluss darauf hätten. So ist sie, die himmlische Freude. Was wäre 1989 alles möglich gewesen, wenn wir uns die überschwängliche Freude nur ein wenig länger bewahrt hätten. 308 

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Also genießen wir die glücklichen Stunden. Sie sind so kostbar, die Urlaubstage, die bevorstehen, Weihnachten, der Heiligabend im Kreis der Familie, hoffentlich ohne Streit. Wie schön wäre das? Weihnachten zu feiern, in Harmonie mit uns selbst und mit denen, die wir lieben. Doch das Fest kann so leicht schief gehen. Und aus lauter Angst und Sorge, dass es wieder Streit gibt, wagen wir schon gar nicht mehr, uns richtig zu freuen. Die Kälte zieht herauf. Eine frostige Atmosphäre breitet sich aus. Warum nur? Alles hätte doch so schön sein können. Wir lieben uns doch. Oder ist das nicht mehr wahr? Warum schaust du so verächtlich? Ach, geht doch weg! Davor haben wir Angst, auch an Weihnachten oder vielleicht gerade dann, wenn es auf Weihnachten zugeht. Mehr als eine mühselige Klagfreude will nicht aufkommen. Aber dann ist die Erwartung doch nicht wegzukriegen. Denn sie steckt tief in uns drin, die Vorfreude auch auf Weihnachten, ein unbestimmtes Gefühl, eine bedrohte Sehnsucht, aber sie ist da, der Wunsch nach Wärme ist da, nach Geborgenheit, nach tiefer Verbundenheit, nach Glück. Die Chance ist erkennbar, dass wir die Leichtigkeit, die das Leben haben kann, wieder einmal spüren, die Frische des Anfangs. Die Geburt des göttlichen Kindes, nicht irgendwo, nicht damals nur in Bethlehem, nein, in meinem eigenen Herzen. Wir haben diese Chance, alle Jahre wieder. Ob ich sie dieses Mal ergreife? Ich will mich darauf vorbereiten. Ja, jetzt ist Advent. Das ist die Hoffnung, die weiter reicht als bis ins private Glück. Sie umschließt, dass wir zueinander finden in der Familie, aber auch in den Euro-geplagten Ländern. Dass an den Frieden weiterhin geglaubt wird, überall, in Syrien, in Palästina, in Ägypten. »Seid umschlungen, Millionen«. »Alle Menschen werden Brüder.« Himmlischer Vater, erscheine doch auch denen, »die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.« Ja, ich will mich aufmachen, dich zu sehen, göttliches Kind. Licht vom Lichte. Aufgehendes Licht aus der Höhe. Ja, mein Liebes, »ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt Schluss

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sehen. Und weil ich nun nicht weiter kann, bleib ich anbetend stehen. Oh, dass mein Sinn ein Abgrund wäre und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.« Maria, so heißt es, sie bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen. Sie hat die Freude in sich aufgenommen, diese unbeschreibliche Freude, mit der sie angesteckt wurde, als die Hirten von den Feldern Bethlehems herab gekommen waren, um das göttliche Kind in der Krippe anzubeten. Und auch die Hirten breiteten aus, was sie gehört und gesehen hatten. Sie erzählten von ihrer Freude über die Geburt des Gottessohnes. Von diesem großen, lichten Moment in ihrem Leben. Und alles das fing an mit Zacharias, der in seinen Lobgesang ausbrach. Und es ging weiter mit Schiller, der die Freude, den schönen Götterfunken, besang. Seine Ode an die Freude ist mit der Melodie von Beethoven zur Europa-Hymne geworden. »Freude heißt die starke Feder … Freude, Freude treibt die Räder.«  – auch zur Überwindung der Euro-Krise. Wer sich freuen kann, gewinnt immer wieder neuen Lebensmut und eine zähe Hoffnung. Solch göttliche Freude wünsche ich uns allen für diese Advents- und Weihnachtszeit. Amen

2. Exempel: Weihnachtspredigt in der Johanneskirche BerlinFrohnau / Predigttext zum 1. Weihnachtstag 2012: Joh 3,31–36

Liebe Festtagsgemeinde! »Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.« »Alle Jahre wieder« der Engelsruf. »Alle Jahre wieder« Weihnachten. Viele Menschen erleben Weihnachten und die obligaten Familienfeiern am Weihnachtstag wie eine »ewige Wiederkehr des Gleichen«. Manchen wird es zu viel. Die vielen Weihnachtsfeiern, schon wochenlang, jetzt das Schenken, die 310 

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Besuche, die Festessen, der Harmoniezwang und die Gefühlsdichte. Ich habe sogar den Eindruck, es werden immer mehr, die es leid sind. Alle Jahre wieder so viel Energie, so viel Vorfreude. Und dann? Viele sehen keinen Sinn mehr darin, sich immer wieder auf Weihnachten einzulassen. Ich kann das gut verstehen. Andererseits, ich freue mich doch auch jedes Mal wieder auf Weihnachten. Konkrete Erwartungen habe ich eigentlich nicht. Aber ich denke doch, es würde mir etwas fehlen im Rhythmus des Jahres, wenn es nicht immer wieder Weihnachten würde. Was ist das? Was eigentlich würde mir fehlen? Ja, doch, das Fest, würde mir fehlen, mit allem, was dazugehört, dem Christbaum im Wohnzimmer, der Liturgie des Heiligen Abends, den Festessen an den Weihnachtstagen. Das Fest würde mir fehlen. Das liegt natürlich auch an den Kindern. Die sind inzwischen zwar erwachsen. Sie kommen auch nicht mehr alle an Weihnachten nach Hause, weil sie inzwischen selbst Familie mit Kindern haben. Aber die, die an Weihnachten nach Hause kommen, die bestehen darauf, dass alles so ist und bleibt, wie es immer war. Selbstverständlich gehört der Besuch des Gottesdienstes am Heiligabend ebenfalls zum familiären Weihnachtsritual. Eigentlich mag ich Weihnachten doch, obwohl ich natürlich sehe, wie total kommerzialisiert es ist, wie es gleichsam im Konsum erstickt und wie viel oberflächlicher Gefühlskitsch produziert wird. Aber auch diese Klage gehört ja zu Weihnachten. Alle Jahre wieder das Lamento, dass der ganze Konsumterror, die Gefühlsduselei und der familiäre Harmoniezwang den tieferen Sinn von Weihnachten verdunkele. Gott habe man bei dem allem aus den Augen verloren, schon die Frage nach ihm sei abhanden gekommen. Wie kann man nur so gottvergessen Weihnachten feiern, rufen die weihnachtlichen Gerichtsprediger. Weihnachten sei doch ein christliches Fest, an dem die Geburt Jesu und damit die Menschwerdung Gottes gefeiert werde. Und insoweit haben sie ja auch ein bisschen recht, die weihnacht­ lichen Gerichtsprediger. »Fürchtet euch nicht, euch ist heute Schluss

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der Heiland geboren«, dieser Ruf des Engels gehört nun wirklich auch zu Weihnachten. »Euch ist heute der Heiland geboren.« Dieses Heute ist immer dann, wenn dieser Ruf ertönt. Dann ist Weihnachten. Ich muss gestehen, für mich gehört dieser Engelsruf genauso zu Weihnachten wie all die Weihnachtsfeiern, wie der Christbaum, wie die Festessen und die Geschenke. Und ich möchte diese Dinge auch gar nicht gegeneinander ausspielen. Es würde ja meiner eigenen Praxis, Weihnachten zu feiern, widersprechen. Allerdings, jetzt sind wir hier in der Kirche, da können wir die Gelegenheit wahrnehmen, dem inneren Zusammenhang zwischen dem Weihnachtsfest und seinem christlichen Sinn nachzudenken. Die Botschaft des Engels, die so zentral auch zu Weihnachten gehört, will verstanden und gedeutet werden. Gerade dann, wenn er sie heute sagt, wenn er sie an uns richtet, wenn wir hier in Frohnau damit gemeint sind: »Euch ist heute der Heiland geboren.« Aber überall auf der Welt wird in diesen Tagen Weihnachten gefeiert. Überall haben sie Christbäume aufgestellt und Weihnachtsmänner auf die Reise geschickt. Und überall auf der Welt ertönt in diesen Tagen mal lauter, mal verständlicher, mal leiser, mal unverständlicher der Ruf des Engels: »Euch ist heute der Heiland geboren.« Und der Engel, der in der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangelium auftritt, der redet ja noch weiter: »Das habt zum Zeichen«, so fährt der Engel fort: »Und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.« Die Geburt des Heilandes ist ein bedeutungsvolles Zeichen. Als solches will es gedeutet werden. Und da kommt uns nun heute Morgen das Johannes-Evangelium, woraus ich einen Abschnitt gerade vorgelesen habe, ein wenig zu Hilfe. Das Johannes-Evangelium erzählt nicht, nicht von den Hirten, nicht von dem Engel und nicht von der Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem. Aber es versucht zu erklären, warum die Geburt dieses Kindes die Geburt des Heilandes ist, warum dieses Kind heilen kann, die Welt heilen kann, jeden Menschen heilen kann, überall auf der Welt. 312 

Schluss

»Die Welt ist nicht genug.« Das ist nicht nur der Titel eines James-Bond-Films. Es könnte auch der Titel des JohannesEvangeliums sein. Die Welt ist nicht genug. Es braucht auch den, der vom Himmel kommt. Jesus, dieser Mensch, sagt das Johannes-Evangelium, das ist der, der vom Himmel kommt. Ihn sollt ihr hören, denn er redet Gottes Worte. Deshalb ist er gekommen, der, der vom Himmel kommt, um Gottes Wort zu reden, um Gott zu den Menschen zu bringen, ja, noch viel mehr, um selbst Mensch zu werden. Und das Wort war Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit, sagt das Johannes-Evan­ gelium. Gott im Fleische, ein Mensch, ein kleines Kind, das uns anrührt. Zudem ein armes Kind, das unser Mitleid erregt. Der Stall und die Krippe, das war keine Idylle. Dort war es kalt und der Gestank war unbeschreiblich. Ein verlorenes Straßenkind war dieses Neugeborene. Dazu ist der Gott geworden, der, der vom Himmel kommt. Wäre Weihnachten jemals dieses mächtige Fest geworden ohne die Kinder, die sich immer wieder neu hineinversetzen in die Hirten auf den Feldern rings um Bethlehem, in die Maria und den Josef, den Ochsen und den Esel? Könnten wir den Sinn von Weihnachten überhaupt je erfassen ohne die Kinder? Wenn Kinder das Unglück trifft, wenn sie hungern oder fliehen müssen, wenn sie gar sinnlos ermordet werden, wie wir das gerade in Newtown mit ansehen mussten. Kinder die leiden müssen. Kinder, die sterben müssen. Das ist das Schrecklichste, was es überhaupt gibt. Das halten wir nicht aus. Nie, unter gar keinen Umständen und schon gar nicht an Weihnachten. Es ist schon richtig: Weihnachten ist das Fest der Gefühle. An Weihnachten reagieren wir noch sehr viel stärker als sonst auf Menschenleid und Schuld. Wir fühlen mit, besonders mit den Kindern. Wie wunderbar ist es, ein Neugeborenes zu sehen oder gar in den Armen halten zu dürfen. Dabei wird uns zugleich das göttliche Geschenk des Lebens bewusst. Und genauso fühlen wir mit, mit denen, die Not leiden, obdachlos sind, hungern und frieren, auf der Flucht sind, leiden und sterben müssen. Wir können nicht Weihnachten feiern, ohne dass Schluss

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wir mitfühlen mit denen, die es nicht so gut haben, die schwere Zeiten durchmachen müssen, die ganz unten und im Dunkeln sind. Genauso wie wir die Geborgenheit und Ruhe suchen, beieinander sein wollen, in der Familie, mit den Kindern – es soll alles so sein, wie es immer war. Das geht oft nicht, weil die Familie zerfallen ist, weil Streit ist, weil wir uns nicht mehr verstehen, weil wir den uns lieben Menschen verloren haben. Aber dann spüren wir gerade an Weihnachten wie nie sonst im Jahr, was fehlt. Dann fliehen wir vielleicht auch vor Weihnachten, weil es nicht mehr hält, was es einmal versprochen hatte. In all diesen Widersprüchen verläuft sie, die Dynamik von Weihnachten. Wir müssen uns unserer weihnachtlichen Gefühle aber auch nicht schämen. Sie haben dieses Fest so mächtig gemacht. Sie haben es zum Menschheitsfest gemacht. Wenn das nur endlich alle begreifen würden. Die Weihnachtsbotschaft klingt so theologisch, so abstrakt. Es scheint, als wären es nur große Worte. »Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit«, wie das Johannes-Evangelium die Weihnachtsbotschaft ausdrückt oder jetzt in unserer Textstelle, ebenfalls bei Johannes, da ist Christus der Gottessohn, der von oben her kommt, vom Himmel kommt, von dort, wo er über allem steht und über alle herrscht. Von dort kommt er ganz nach unten und bleibt doch in engster Verbundenheit mit Gott, seinem Vater. Der Sohn, das Christuskind, ganz eins mit Gott dem Vater. Deshalb redet dieses Kind auch Gottes Worte, ist es das Zeichen, das Gott uns von sich selber gibt. Deshalb erkennen wir in ihm, wer Gott ist und wie er zu uns Menschen steht. Wir erkennen ihn als den, der selbst ein Mensch wird, ein Mensch wie du und ich, ein ganz menschlicher Mensch, einer sogar, den es ganz nach unten zieht, der ganz arm und gering wird: angewiesen auf Liebe, der Anerkennung bedürftig, das Recht auf ein menschenwürdiges Leben einfordernd. Wer an diesen Mensch gewordenen Gott glaubt, also wer Gott im armen und geringen, auf Hilfe angewiesenen und der Liebe bedürftigen Menschen erkennt, so fährt das Johannes-Evangelium 314 

Schluss

fort, der hat das ewige Leben, ein erfülltes Leben, das wahre Leben gefunden. Und es ist ja auch wirklich so und geschieht so: Gerade an Weihnachten empfinden Menschen auf aller Welt ein tiefes Mitgefühl mit anderen Menschen, mit den Schwachen und den Kleinen, denen die ganz unten sind. In den Weltkriegen des 20. Jahrhundert konnte es an Weihnachten geschehen, dass für Stunden die Waffen schwiegen. Christbäume leuchteten in den Schützengräben vor Verdun oder Stalingrad. Gefühlskitsch? So würde ich das eben nicht abtun. Ich sehe im weihnachtlichen Gefühl die Erkenntnis aufblitzen vom unendlichen Wert eines jeden Menschenlebens, dass Menschen im anderen Menschen den Menschen sehen, verletzlich und der Liebe bedürftig. Jeder Mensch ein Kind Gottes, alle miteinander verbunden in der einen großen Menschheitsfamilie. Die Hirten, sie sich haben anrühren lassen und dem Kind in der Krippe ihre Geschenke gebracht. Sie haben die Deutung des Zeichens, das ihnen die Engel gegeben haben, verstanden. Gott thront nicht droben im Himmel, sondern wir erkennen seine Herrlichkeit ganz unten, in jedem Menschen der unsere Liebe, unsere Hilfe, unsere Anerkennung braucht. Seht doch, wie liebevoll uns dieses Kind anschaut. Ja, wer diesem Kind vertraut, der hat das ewige Leben, der ist ganz bei Gott und Gott in ihm. Die Sehnsucht ist in allen, dass es möglich ist, und sei es nur für Stunden, berührt zu werden von einer Welt voll Wärme und Licht. So geschieht Erlösung – die Loslösung aus der eindimensionalen Welt bloß zweckhafter Rationalität, einer Welt in der Geld, Macht und Besitz den Ton angeben. Deutet die Zeichen. Sie zeigen auf den, der vom Himmel kommt, um als heilender Mensch geboren zu werden. Deutet die Zeichen! Das tun auch die Lichtbögen, die in den Fenstern aufgestellt sind, die bunten Girlanden, die die Straßen, Geschäfte und Gebäude umsäumen. Wenn ich mich frage, wo sich mir am stärksten meine weihnachtliche Gefühle mit der theologischen Deutung von WeihSchluss

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nachten verbinden, dann singe ich am liebsten, alle Jahre wieder, das Lied von Paul Gerhardt: »Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben« (EG 37). Ich muss selbst hingehen zur Krippe. Ich muss mich selbst anrühren lassen von diesem Menschlein, diesem bedürftigen und auf Liebe angewiesenen Kind. Dann kann geschehen, was Paul Gerhardt im 4. Vers seines Liedes sagt, dass ich mich in diesem Kind wiedererkenne, als ein selbst unendlich der Liebe bedürftiger Mensch. Dann kann es aber auch geschehen, dass ich selbst ein anderer werde, liebevoller, hilfsbereiter, freundlicher, einer, der für andere da ist, die Hilfe brauchen. Ich merke, wie ich in einen weiten Raum gerate und mein Herz sich öffnet, einfach weil dieses Kind die Freude am Leben, ja, die Ehrfurcht vor dem Leben in mir weckt: »Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich an­betend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.« So geschieht die weihnachtliche Verwandlung. Ich spüre sie, alle Jahre wieder. Sie ist der tiefere Grund, dass ich Weihnachten nicht missen möchte. Aber zu ihm würde ich nicht ge­ langen, ohne all das andere, die Weihnachtsfeiern, den Christbaum und die gemütlichen Stunden. Denn diese Verwandlung ist nicht nur eine Kopfsache, sie geht in meinem Gefühl vor. Sie ergreift mich mit Leib und Seele. Es ist mir, wenn ich Paul Gerhardts Weihnachtslied weitersinge, immer noch ganz weihnachtlich zumute und zugleich werde ich aber auch über mein weihnachtliches Gefühl verständigt. Denn dieses Lied spricht von der Geburt Gottes im eigenen Herzen. Dann, ja, dann ist wirklich Weihnachten, wenn Gott in mir und in dir, in jedem von uns zur Welt kommt. »Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland nicht versagen, dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen. So lass mich doch dein Kripplein sein, komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.« Amen

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3. Exempel: Predigt im Universitätsgottesdienst des Sommer­ semesters 2012 / am 29.04.12 (Jubilate) / Semesterthema: »Sündenregister« / Predigttext: Mt 5,48 – Thema des Sonntags: »Hybris«

Liebe Gemeinde, Fremd, ja, unverständlich ist die Rede von der Sünde geworden. Wie konntet ihr nur ein solches Thema zum Semesterthema für die Universitätsgottesdienste machen, bin ich immer wieder gefragt worden. Wenn in der Kirche von der Sünde geredet wird, so kommt das heute selten gut an. Hat die Kirche nicht über Jahrhunderte mit ihrer Sündenpredigt das Ziel verfolgt, den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen, die natürlichsten Bedürfnisse und Regungen in Misskredit zu bringen? Völlerei sollte eine Todsünde sein, aber in Wahrheit ging es doch darum, den Menschen die Freude am Genuss zu nehmen. Die Wollust sollte eine Todsünde sein, aber in Wahrheit ging es doch darum, die sexuelle Lust, die so schön sein kann, zu unter­drücken. Die Faulheit sollte eine Todsünde sein, aber in Wahrheit ging es doch darum, einen Angriff gegen das süße Nichtstun und die zweckfreie Muße zu führen. Die Hybris, der Hochmut, der Stolz, sie sollten eine Todsünde sein, aber in Wahrheit ging es doch nur darum, Unterwerfung zu fordern, die Menschen klein zu machen, um besser über sie herrschen zu können. So wäre noch lange fortzufahren und nicht wenige tun das auch. Dabei können sie sich richtig in Rage reden wie etwa der Kultursoziologe Gerhard Schulze. Er hat ein Buch über die Sünde geschrieben, mit dem Untertitel: »Das schöne Leben und seine Feinde«. Denn das eben meint er in der Sündenpredigt sehen zu müssen, den fulminanten Angriff der Kirche gegen das schöne Leben, gegen das irdische Glück. Was das Register der Todsünden mit der Androhung ewiger Höllenstrafen verbindet, sind doch, so meint er, tief menschliche, wenn auch oft problematische Regungen. Wer ist frei von ihnen? Schluss

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Ich, so muss ich in der Tat zugeben, bin es nicht. Schnell steigt mir die Zornesröte ins Gesicht. Nicht selten trete ich mit einem überzogenen, an Hybris grenzenden Selbstbewusstsein auf. Der Völlerei bin ich manchmal durchaus nicht abgeneigt. Dass ich furchtbar neidisch sein kann, weiß ich von Kindheit an. Auch Gier und Wollust sind mir nicht fremd. Muss das wirklich alles Sünde sein und als Todsünde gar die ewige Verdammnis zur Folge haben? Für uns Heutige handelt es sich bei all dem, was die kirchliche Tradition zur Todsünde erklärt hat, um Gefühlsregungen und Leidenschaften, die wir zwar nicht immer akzeptieren, um deren Gefährlichkeit wir wissen, die wir vielleicht auch fürchten, aber die wir doch zumindest auch von uns selbst kennen. Ja, sie sind höchst ambivalent, manchmal auch destruktiv. Ich akzeptiere diese Gefühle und Leidenschaften oft nicht, schon gar nicht im Exzess. Aber ich kann sie dennoch nicht als Fluch empfinden. Ich finde ja doch auch Schönes darin. Auf die schönen Seiten der sogenannten Todsünden hat der Soziologe mit seinem Sündenbuch die Aufmerksamkeit lenken wollen. Und dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Sündenprediger in Wahrheit nur die Feinde des schönen Lebens sind. Indem sie die Sünde anprangern, so sein Fazit, verdammen sie zugleich alles, was zu einem intensiven, erfüllten, wirklich lebendigen und attraktiven menschliche Leben gehört: genussvolles Essen, Emotionen, Sex, Wohlstand, Selbstentfaltung, Entspannung, Ehrgeiz. Alles das, was den ebenso wilden wie gefährlichen, wie beglückenden Reiz des Lebens ausmacht, die ganze Fülle des Lebens, sie sollen nicht sein. Aber, so können wir natürlich auch fragen: Ertönt solche Sündenpredigt heute überhaupt noch? Wo eigentlich? Doch nicht von den Kanzeln der Kirchen. Und in der Alltagswelt, da ist von Sünde doch allenfalls beim Verstoß gegen Diätvorschriften oder bei Einträgen im Flensburger Verkehrssünder­ register die Rede. Für die meisten Menschen, so gibt auch Schulze zu, ist die Sünde in der Tat gar kein Thema mehr. Die sieben Todsünden bringt kaum noch jemand zusammen. 318 

Schluss

Schon die Worte, die sie einst bezeichnen sollten, haben sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verloren. Völlerei, Unkeuschheit, Hoffart – diese Worte sind ebenso verschwunden wie der mit ihnen verbundene Fluch auf das irdische Glück. Warum schreibt dann ein Soziologe dennoch ein solch dickes Buch über die Sünde – nur weil er dagegen ist? Durchaus aus aktuellem Anlass, so behauptet er. Denn die Sündenprediger, so meint er, sie erheben wieder ihre Stimme. Nicht in der Mitte der traditionellen Großkirchen, aber an deren ausfransenden, evangelikalen Rändern, vor allem aber in weltweit sich bemerkbar machenden, neuen religiös-fundamentalistischen Bewegungen. Ein politisch rechtslastiger, religiös begründeter Fundamentalismus macht sich breit, so meint er. Da wird der religiös-weltanschauliche Pluralismus abgelehnt, werden die individuellen Freiheitrechte bekämpft, wird gegen alles Anderssein und Fremde Front gemacht. Es sind die Feinde der Freiheit, die mit ihrer Sündenpredigt zum moralischen Angriff übergehen. Evangelikale Christen und kulturkämpferische Islamisten gönnen uns die Freude am Leben nicht, den Genuss, die ökonomischen Selbstentfaltung, die individuell als stimmig empfundene sexuelle Orientierung. Das irdische Glück wird, wie so oft in der Geschichte, erneut im Namen eines herrischen Gottes madig gemacht. Ich weiß nicht, ob man das so dramatisch sehen muss. Aber, richtig ist, den Sündenpredigern gegenüber gilt es, wo immer sie auftreten, die evangelische Freiheit zu verteidigen. Dabei hilft vielleicht auch der Hinweis, dass das natürliche Verlangen nach Lust und Genuss, nach Glück und einem erfüllten Leben in der Bibel keineswegs verboten wird. Das Wort »Todsünde« kommt in der Bibel gar nicht vor. Man findet vielmehr in der Bibel Stellen genug, die den Daseinsgenuss rechtfertigen. Wiederholt feiert der Prediger Salomo etwa die Sinnlichkeit: »So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut … Lass deine Kleider weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast.« (Prediger Salomo 9,7–9). Davon wird Schluss

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in der Predigt des nächsten Sonntags, in der es um die Völlerei geht, dann auch die Rede sein. Und zur Todsünde des heutigen Gottesdienstes, der Hybris, ist zu sagen, dass wir in der Bergpredigt Jesus hören, wie er der Schar seiner Nachfolger zuruft, was hochmütiger kaum klingen könnte: »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.« Wenn das keine Aufforderung zur Hybris ist, so vollkommen sein zu wollen wie Gott! Halten wir uns an die Bibel, so muss, wer von der Sünde redet, offensichtlich kein Feind des schönen, erfüllten, gelingenden Lebens sein. Sollten wir also gar nicht mehr von der Sünde reden? So einfach geht es dann auch wieder nicht. Denn, es wird ja nicht nur das Positive und Schöne des Lebens in den sieben Todsünden angesprochen. Es sind gefährliche Lüste und Begierden, tief ambivalent sind sie jedenfalls. Hinzu kommt, dass die modernen Menschen, die die Sünde abgeschafft haben, dennoch nicht zu einem ungetrübten Lebensgenuss fähig sind. Die auf ihre Freiheit und Selbstbestimmung pochenden, gegen die Rede von der Sünde allergischen Zeitgenossen verwandeln vielmehr die göttliche Sündenpredigt in eine noch viel anstrengendere, ebenso kritische Selbstbeobachtung. Die Sünde der Völlerei wurde abgeschafft, umso energischer meinen jetzt viele, den Kalorientabellen und Diätplänen gehorchen zu müssen. Die Sünde der Wollust wurde abgeschafft, dafür gilt es nun zahlreiche Sicherheitsvorschriften beim Sex zu beachten. Die Sünde der Faulheit wurde abgeschafft. Warum nur muss jetzt jeder um seine gesellschaftliche Existenzberechtigung fürchten, wenn er nicht wenigstens einmal in seiner beruflichen Existenz Symptome eines Burnouts gezeigt hat? Die Sünde des Zorns wurde abgeschafft, dennoch muss derjenige, der ungebremst aus der Haut fährt, damit rechnen, dass er fortan schlicht als uncool gilt. Die Sünde der Gier wurde abgeschafft, dafür wird jetzt von den einen mit dem Slogan »Geiz ist geil« geworben und die anderen stellen die Konzernlenker und Banker mit ihren millionenschweren Jahreseinkommen an den Pranger. Die Sünde der Hybris und des Hochmutes wurde 320 

Schluss

abgeschafft. Doch weltweit wächst die Kritik an einer Technik und einer Ökonomie, die verheerende ökologische Folgen haben. Jetzt werden sogar die Atomkraftwerke wieder abgeschaltet. Die schmerzliche Einsicht setzt sich durch, dass wir uns in unserer Selbstüberheblichkeit mit dieser Technik heillos übernommen haben, dass sie uns über den Kopf gewachsen ist, dass wir ihre gefährlichen Langzeitwirkungen von der Endlagerung bis zum Super-Gau nicht in den Griff kriegen. So könnte ich noch lange fortfahren. Von Sünde wird nicht geredet, von den Todsünden schon gar nicht. Und doch stoßen wir allenthalben in der Gesellschaft auf ein Bewusstsein davon, dass so vieles nicht ist, wie es sein sollte, dass so viel fehlt zum Gelingen, dass wir schlicht über unsere Verhältnisse leben. Wir spüren einen unendlichen Mangel. Wir erkennen unsere elementare Bedürftigkeit und unsere Angewiesenheit, unsere Fehlerhaftigkeit. Wir sind, wenn etwas Schlimmes passiert, sofort auf der Suche nach den Schuldigen, um endgültig den Stab über sie zu brechen. Da nun aber erreicht uns das Wort Jesu am Ende der Bergpredigt. »Ihr sollt vollkommen sein wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.« Das ist die Anrede des Evangeliums. Jesus macht uns nicht klein. Er prangert nicht die Sünde an. Er ruft zur Vollkommenheit auf. Diese traut er uns also zu. Vollkommen sollen wir sein, wie Gott vollkommen ist. Wenn das keine Aufforderung zur Hybris, zu einer gesunden Selbstüberschätzung, ist! Ja, das ist es. Denn: Worin sollen wir vollkommen sein? Vollkommen in der Liebe sollen wir sein, wie Gott in der Liebe vollkommen ist. Die Liebe, so wusste auch Paulus zu sagen, erträgt alles. Sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf. Gott ist der, der vollkommen ist, von dem wir alles Gute erwarten dürfen. Wie sollte er gegen das irdische Glück sein? Nein, er will, dass das Leben gelingt und Freude macht. Alles ist gut, was das Leben schön macht. Aber wenn es nicht dem Leben dient, dann ist es verwerflich. Dann zerstöre ich mein Leben und das anderer in meiner Hybris, in meinem Zorn, mit meinem Neid und meiner Gier, in meiner Wollust und mit Schluss

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meiner Völlerei. Ich muss in das richtige, maßvolle Verhältnis zu den ebenso schönen wie gefährlichen Dingen des Leben finden, ins lebensdienliche Verhältnis auch zu meinen Lüsten und Begierden finden. So ist es mit allem, mit dem Hochmut und der Hybris, mit dem Genuss, dem Neid und der Gier. So ist es mit dem ganzen Sündenregister. Wir erkennen darin unsere Bedürfnisse und Lüste, wonach wir verlangen und wovon wir getrieben werden. Wir können zu all diesen Bedürfnissen und Veranlagungen auch stehen. Sie sind nicht notwendigerweise böse. Das lassen wir uns von keinem Sündenprediger mehr einreden. Der Genuss und der Zorn, die Faulheit und der Neid, die Gier und die Lust, ja, selbst der Hochmut und die Hybris, das alles gehört zu uns. Das alles hat auch positive Seiten. Das alles kann das Leben auch schön machen. Aber schön wird das Leben nur, wo auch die Liebe ist, die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Liebe und tu, was du willst, hat der Kirchenvater Augustin gesagt. Das gilt auch für all das, was in der langen Liste des Sünden­ registers aufgeführt ist. Wenn wir an einer Zusammenstellung des Sündenregisters für unsere heutige Zeit arbeiten, was wir in diesem Sommersemester tun, dann nicht deshalb, um gegen die Freude am Leben vorzugehen, sondern um Wege auszuzeichnen, auf denen das Leben schön werden kann. Seid vollkommen in der Liebe, wie der Gott, der euch geschaffen hat, vollkommen ist in seiner Liebe. Dann wird euch alles, selbst eure Sünde, zum Besten dienen. Amen

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Schluss

4. Exempel: Predigt im Universitätsgottesdienst des Winter­ semesters 2011/12 / am 23.10.11 (18. Sonntag nach Trinitatis) /  Semesterthema: »Gnadenlos« / Predigttext: Röm 5,6–11 – Thema des Sonntags: »Bild dir deine Meinung!«

Liebe Gemeinde! Wir haben, so denke ich, die Bilder noch gut vor Augen. Wie ein Großer aus Politik und Finanzwelt in Handschellen vor ein New Yorker Gericht geführt wurde. Dann auch, wie Hunderte von Kameras auf den Mann von den Wetternachrichten gerichtet waren, als er das Untersuchungsgefängnis wieder verlassen durfte. »Bild dir deine Meinung.« Doch das Urteil ist längst schon gefallen. Die Bilder werden zumeist so ins Bild gesetzt, dass sie das Urteil bereits gesprochen haben. Schuldig. Selbst ein späterer Freispruch vor Gericht ändert an der öffentlichen Meinung nichts mehr. Die Person ist erledigt. »Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln« – so der Titel einer Dokumentarserie auf einem der privaten Fernsehkanäle. Gefahndet wird nach Harz IV-Empfängern, die die Sozialhilfe angeblich zu Unrecht erhalten. »Bild dir deine Meinung« – in diesem Fall nicht über die Verwerflichkeit von Prominenten. An den TV-Prager werden die gestellt, die in prekären Verhältnissen leben und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Gnadenlos gerecht – das soll eigentlich ja bedeuten: wahrhaft gerecht, ohne Ansehen der Person. Geurteilt allein nach Recht und Gesetz. Ausschließlich aufgrund der Fakten. Doch dann werden die Menschen gezielt übersehen, sind die Einzelnen nur noch ein Fall von vielen. Die öffentlich inszenierte Meinung steckt alle in die gleiche Schublade. Da wird keine Ausnahme gemacht, niemandes Herz angesehen. Und wenn die Fakten nicht eindeutig sind? Wenn der an­ gebliche Täter die Tat bestreitet? Dann müssen noch energischer die Bilder sprechen. Ein Prominenter in Handschellen, ein Harz IV-Empfänger auf seinem Boot in Florida. Und die Meinung ist gebildet. Die Bilder sprechen doch für sich. So sind sie alle. Die Person ist erledigt. Schluss

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Bild dir deine Meinung. Gnadenlos ehrlich, auch über dich selbst. Oder sind wir gegenüber uns selbst eher zur Nachsicht bereit? Vielleicht wären wir es gern. Aber die Verhältnisse lassen es nicht zu. Wer wüsste das besser als die Studierenden und Lehrenden an der Universität? Gnadenlos wird Hochleistung gefordert. Eine Prüfung jagt die andere. Auch die Lehrenden werden neuerdings in jeder Lehrveranstaltung evaluiert. Den Leistungsdruck haben wir alle total verinnerlicht. Gnadenlos richten wir uns selbst nach unseren Werken. Denn ich will eine hohe Meinung von mir selbst haben können, will anerkannt sein und geachtet. Ich will sogar beliebt sein, um nicht zu sagen, geliebt werden. Wir sind über uns selbst enttäuscht, wenn wir den Erwartungen und Anforderungen nicht entsprechen, in der Schule, im Studium, im Beruf, aber auch gegenüber dem Partner, der Partnerin, in der Familie. Und wir spüren permanent den ungeheuren Erwartungsdruck, der von den Beziehungen, in denen wir stehen, ausgeht. Gerade jetzt wieder ganz besonders, am Anfang des Semesters. Werde ich das alles schaffen? Die Prüfung rückt immer näher und ich weiß doch so vieles noch nicht. Was ist, wenn ich versage? Was ist, wenn ich nicht bestehe? Halten die anderen dann noch zu mir? Wird mich meine Partnerin verlassen? Traue ich mir überhaupt noch etwas zu? Wir sind auf Anerkennung, auf Zustimmung so sehr angewiesen. Wer bei Facebook ist und dort Kontakt mit seinen »Freunden« pflegt, kriegt dies ständig mit. Marc Zuckerberg ist auch ein guter Psychologe. Deshalb hat er an der entsprechenden Stelle ledig den Button »Gefällt mir« vorgesehen. Nur Zustimmung ist erlaubt, Anerkennung, Freundschaft. Wenn ich nicht zustimmen kann, mir nicht gefällt, was der andere sagt oder tut, dann muss ich ihn stillschweigend übergehen. Immer sagen zu müssen: »Gefällt mir«, ist freilich auch etwas merkwürdig. Sonderlich ehrlich komme ich mir dabei nicht vor, jedenfalls nicht »gnadenlos ehrlich«. Aber das wollen wir ja auch gar nicht sein, »gnadenlos ehrlich«? Wie aber soll es dann gehen? Ehrlich zu bleiben, wirklich die eigene Meinung sich 324 

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zu bilden und sie auch zu sagen? Aber nicht gnadenlos, nicht verletzend, sondern klärend, zu Recht bringend, aufbauend? Wie kann das gehen, dass wir uns nichts vormachen und die Welt einfach schön reden, zu allem und jedem sagen: »Gefällt mir«? Wie kann es gehen, dass wir realistisch bleiben und kritisch, wir uns den oft harten Verpflichtungen und Prüfungen stellen, in der Schule, im Studium, im Beruf und in der Partnerschaft? Aber nicht gnadenlos, nicht zu den anderen und auch nicht zu uns selbst. Wie das gehen kann, hat der Apostel Paulus in seinem Brief an die frühe christliche Gemeinde in Rom zu zeigen versucht. Durch die Einführung einer dritten Größe, Gott, den er in der Begegnung mit Jesus Christus gefunden hat. Gott, so hat ­Paulus erkannt, das ist der, auf den ich mich beziehen, auf den ich mich auf alle Fälle stützen kann. Gott akzeptiert mich, auch wenn ich versage oder ich in den Augen der anderen ein Verlierer bin. Paulus führt diesen Gedanken aus in dem Abschnitt des Briefes an die Gemeinde in Rom, den wir vorhin gehört haben. Denkt doch, sagt er da, Christus ist am Kreuz für uns gestorben. Er hat sein Leben für uns hingegeben, als wir noch Sünder waren. Das heißt doch, er ist für uns eingetreten, obwohl da nichts war, was für uns gesprochen hätte, nichts, womit ich seinen Einsatz verdient hätte. Warum hat er das getan, warum ist er für mich da? Offensichtlich aus reiner, vor­behaltloser, grundloser Liebe. Es fällt uns Heutigen nicht leicht, die Wörter und Sätze des Paulus zu verstehen. Schon, was Sünde heißt, macht uns Schwierigkeiten. Erst recht, warum Jesus am Kreuz sterben musste, damit uns Gott seine unendliche Liebe zeigen konnte. Da wird eine göttliche Verhaltenslogik behauptet, der wir nicht zu folgen vermögen. Ich auch nicht. Aber gemeint ist damit eine bestimmte Gotteserkenntnis, die Paulus in der Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Christus ge­ funden hat. Die naheliegende Gleichung, dass Gott und Rechtschaffenheit, Gott und Erfolg, Gott und Wohlergehen zusammengehöSchluss

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ren, stimmt nicht. Im Gegenteil. Wenn Christus für die Sünder gestorben ist, dann, so folgert Paulus, gilt die Liebe Gottes auch den Gottlosen, den Erfolglosen, den Versagern. Dann kann er ein verlässlicher Halt sein, gerade im Leben derer, die als Versager und Verlierer dastehen, die man abgeschrieben hat und die sich jetzt von Gott und aller Welt verlassen fühlen. So hat Paulus Christi Kreuz und Auferstehung gedeutet, dass er sagen konnte: Gott steht zu mir, auch wenn ich versage, auch wenn ich mich schuldig gemacht habe, auch wenn ich ganz und gar am Ende bin. Deshalb dann aber auch die Botschaft, die Paulus prägnant in dem berühmten Satz zusammengefasst hat: »dass der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Röm 3,28). Diese Botschaft hat nicht nur die Reformation einer in Macht und Reichtum verliebten Kirche vor 500 Jahren angestoßen. Sie kann auch heute ihre erlösende Kraft freisetzen. Dennoch muss ich mich immer wieder fragen, ob ich mir das auch wirklich zu Herzen nehme. Ob ich auch so lebe? Ob ich, wenn es hart auf hart kommt, wirklich darauf vertraue, dass ich im Grunde meines Daseins gehalten bin, akzeptiert, ja, geliebt bin, ganz unabhängig von dem, was ich leiste und bin. Anerkannt, auch wenn ich versage. Dennoch einer zumindest ist da, der eine gute Meinung von mir hat. Eigentlich ist es so doch nicht. Eigentlich muss ich gestehen, dass ich zumeist nicht den Eindruck von mir habe, als lebte ich aus diesem Vertrauen in Gottes vorbehaltlose Liebe. Wenn es so wäre, dann hätte ich mir nicht diesen Panzer der Rechthaberei zugelegt, dann wäre ich nicht so unruhig, immer auf Leistung aus, immer um eine gute Meinung über mich bemüht, immer nach Anerkennung heischend, getrieben von unbändigem Ehrgeiz, deprimiert in den Niederlagen, voller Angst vor dem Absturz. Ich merke, dass ich der erlöste Mensch, der sich auf Gottes vorbehaltlose Liebe verlässt, nicht bin. Aber dann höre ich Paulus einige Abschnitte später im Römerbrief selbst sagen: So geht 326 

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es mir auch. Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das, was ich nicht will, das tue ich. Aber, seht doch, angesichts dieser verzweifelten Situation, in der ich mich selbst befinde, habe ich die Botschaft von dem Christus, der für die Sünder gestorben ist, erst richtig verstanden. Es ist mir aufgegangen, dass Gott, wenn er die Sünder liebt, er recht verstanden doch die die Gottlosen liebt, die, die kein Vertrauen zu ihm aufbringen, ja, gar nicht an ihn glauben können. Klar, wir haben erst recht Schwierigkeiten, diese Rede des Paulus zu verstehen. Wie soll Gott für mich da sein, die Vertrauensbasis, auf der ich mein Leben führe, wenn ich gar nicht an ihn glaube? Sofern wir weiterlesen im Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom, kommen wir aber auch in dieser Frage vielleicht ein kleines Stück weiter. Denn: Was heißt eigentlich glauben, auf Gott vertrauen?, fragt Paulus da. Und seine Antwort ist: Glauben heißt, alles von Gott erwarten, nicht von sich selbst, auch das Glauben nicht, auch das Vertrauen nicht. Auch das sind keine Leistungen, zu denen du dich zwingen musst. Das Glauben-Können, das Vertrauen, dein Gottvertrauen, dein Grundvertrauen, sie wachsen dir zu. Sieh doch, dieses grundlegende, Grund unter die Füße gebende Vertrauen ist dir längst schon zugewachsen. Du übersiehst das nur immer wieder, nennst es zumeist auch gar nicht Gottvertrauen. Dabei wärst du gar nicht lebensfähig, wenn du nicht von Anfang an, von klein auf, Menschen um dich gehabt hättest, die dich geliebt haben, vorbehaltlos, dich anerkannten, dann immer wieder, auch später, dich akzeptierten, trotz deiner Unzulänglichkeit, Schwächen und Unerträglichkeiten. Das ist doch so, bis heute: Nur wenn wir Menschen um uns haben, nach deren Meinung über uns wir nicht schielen müssen, sondern auf die wir uns verlassen können, was auch immer geschehen mag, geht es uns gut im Leben. So ist Gott, das ist Gott, will Paulus sagen, er ist der un­ erschütterliche Grund unseres Grundvertrauens ins Leben, des Vertrauens gerade auch zu uns selbst, Grund unseres Selbstvertrauens und unserer Lebenszuversicht. Er ist da, in mir und Schluss

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um mich, auch wenn ich nicht an ihn glauben kann. Wie sollte ich überhaupt an einen Gott glauben können, ihn zum Gegenstand meines Für-Wahr-Haltens machen können? Nein, das geht nicht, denn Gott ist mir näher, als ich mir selbst nahe bin. Er schafft und trägt all meinen Lebensmut, mein Wissen und Tun. Dieser Gott ist der Grund der unmittelbaren Selbstvertrautheit, aus der heraus wir unser Leben führen. Gewiss, lebens­ geschichtlich ist diese Selbstvertrautheit uns zugewachsen von den Menschen, die uns liebten, längst bevor unser Selbst­ bewusstsein erwachte. Doch alle diese Menschen sind Seitenarme in dem göttlichen Wärmestrom, der unser Leben trägt. Dieser Wärmestrom hält letztlich die ganze Welt zusammen und ganz besonders auch mein eigenes Ich. Je besser es mir gelingt, mich von diesem göttlichen Wärmestrom tragen zu lassen, desto leichter fällt es mir, dass ich, auch wenn es hart auf hart kommt, aufrecht stehen und meiner Selbst gewiss den rechten Weg gehen kann. Bild dir deine Meinung, ja, schau ehrlich auf dich selbst und die anderen. Aber wie auch immer diese Meinung ausfällt, selbst wenn du dich verkannt und missachtet siehst, es ist immer einer da, dir unendlich nah. Der dir so nah ist, spricht mit der Stimme deines Herzens. Sie sagt nur eins, dies aber un­ ablässig: Ich meine es unendlich gut mit dir. Amen

328 

Schluss

Bibliographie

Im Folgenden wird nicht nur die Literatur aufgeführt, auf die in den Fußnoten bereits hingewiesen wurde, sondern darüber hinaus eine Zusammenstellung derjenigen Literatur vorgenommen, auf die die Diskussion in der Homiletik im deutschsprachigen Kontext aktuell referiert. Um diesen Überblick zu erleichtern, wird in einer ersten Rubrik die Literatur angegeben, die im engeren Sinn der praktisch-theologischen Disziplin der Homiletik zuzuordnen ist. In einer zweiten Rubrik wird die Literatur aus anderen Wissenschaftsdisziplinen zusammengestellt, die in der aktuellen homiletischen Diskussion für die Bearbeitung intra- und interdisziplinärer Fragestellungen herangezogen wird. Es ist dabei vor allem auf Texte zu verweisen, die den exegetischen und systematisch-theologischen Disziplinen der Theologie zuzuordnen sind sowie für die Fragestellung der Homiletik relevante Beiträge zur Hermeneutik und Rhetorik, Religions-, Kulturund Gesellschaftstheorie darstellen. Nicht immer ist die Zuordnung zu diesen beiden Rubriken zweifelsfrei vorzunehmen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass diese Bibliographie keine Vollständigkeit beansprucht, sondern, obwohl recht umfassend, letztlich doch nur eine Auswahl derjenigen Literatur darstellt, die dem Autor des vorliegenden Buches für die Predigtarbeit wichtig erscheint.

Bibliographie

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