Postpartale Depression und »weibliche Identität«: Psychoanalytische Perspektiven auf Mutterschaft 9783839440681

Psychoanalysis shows that postpartum depressions move within symbolic female-motherly conflicts in a woman's struct

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Postpartale Depression und »weibliche Identität«: Psychoanalytische Perspektiven auf Mutterschaft
 9783839440681

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einführung: Depression und Mütterlichkeit
1. Die peripartale Depression
2. Die Weiblichkeit
3. Mutterwerden: der Verlust
A. Psychoanalyse und Weiblichkeit: Frau werden
1. Sigmund Freud
2. Die französische Psychoanalyse- Jacques Lacan
B. U ntergang einer mütterlichen Welt: zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft, Mutter we rde n
1. Grundlage der Reflexion über die PPD
2. Transgenerationale Weitergabe: eine Transmission von Generation zu Generation
3. Eine Ästhetik der Depression als Kompromissbildung zwischen Begehren und Abwehr
Literatur
Abbildungen
Abkürzungen
Danksagung

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Catherine-Olivia Moser Postpartale Depression und »weibliche Identität«

Psychoanalyse

Editorial »Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet.« (Sigmund Freud, Nachwort zur Laienanalyse, 1926, StA Erg.Bd., 348) Die Reihe Psychoanalyse stellt Anwendungen der Psychoanalyse dar, d.h. Arbeiten, die sich mit den Bildungen des Unbewußten beschäftigen, denen wir in der analytischen Kur, in kulturellen und gesellschaftlichen Erscheinungen, aber auch in den Theorien und Forschungsmethoden der Wissenschaften sowie in den Erfahrungsweisen und Darstellungsformen der Künste begegnen. Psychoanalytische Praxis und Theoriebildung stützen sich nicht allein auf die Erfahrungen der analytischen Kur. Sobald ein Psychoanalytiker aber versucht, sein eigenes Tun zu begreifen, begibt er sich in andere Gegenstandsbereiche und befragt andere Disziplinen und Wissensgebiete und ist damit auf die Arbeiten von Wissenschaftlern und Künstlern angewiesen. Insofern exportieren die Anwendungen der Psychoanalyse nicht lediglich nach Art einer Einbahnstraße die Erkenntnisse einer ›fertigen‹ Psychoanalyse in andere Gebiete, Disziplinen und Bereiche, sondern sie wendet sich auch an diese und wendet sie auf sich zurück. Ohne den eingehenden Blick auf die Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mythologien, Literatur und bildenden Künste konnte die Psychoanalyse weder erfunden noch von Freud und seinen Schülern ausgebaut werden. Ein Forum dafür war die 1912 gegründete Zeitschrift und Buchreihe »Imago«, die sich der Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur und die Geisteswissenschaften gewidmet hat; später nannte sie sich allgemeiner »Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen«. Die dort erschienenen Arbeiten sollten andere Disziplinen befruchten, der psychoanalytischen Forschung neue Gebiete erschließen, aber auch in jenen anderen Bereichen Modelle und Darstellungsmöglichkeiten für die psychoanalytische Forschung ausfindig machen. In der Hoffnung auf ein ähnlich gelagertes Interesse von der anderen Seite her, also in der Hoffnung, daß »Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben« (Freud, Frage der Laienanalyse, StA Erg. Bd., 339), wurde um 1920 sogar eine spezielle Art von Lehranalyse« eingerichtet, denn: »Wenn die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psychoanalyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichtspunkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nicht aus, daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse verstehen lernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazu offensteht, indem sie sich selbst einer Analyse unterziehen.« (Freud, ebd.) Für Freud war klar, daß die Erforschung des Einzelmenschen eine Frage der Sozialpsychologie ist, denn »im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht« (Freud, Massenpsychologie und IchAnalyse, 1921, GW Bd. XIII, 73). Ihn interessierte auch, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche

organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden. Er befaßte sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels derer Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. (Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw.) Zugleich erkannte er, daß »manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs [...] leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen« zu erkennen sind. Aufgrund der zumeist unbewußten Natur der »Aggressionen des Über-Ichs« seien die zur Gewissensangst »gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher [...] als sie es beim Einzelmenschen werden können« (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, GW Bd. XIV, 502). Einige wesentliche Elemente seiner Theorie sind für Freud vorzugsweise als »Spiegelung« in kulturellen Erscheinungen beobachtbar. So zeigten manche »der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich« sich viel deutlicher im Bereich der Religionen. Diese Strategie, etwas allein theoretisch Erschlossenes dort erkennbar zu machen, wo es sich wie »auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud, Nachschrift 1935, GW Bd. XVI, 32), verfolgt Freud auch mit seinem Versuch, »einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« (so der Untertitel von »Totem und Tabu«) herauszuarbeiten. Freuds wissenschaftliches Projekt einer Erschließung des ›unerkennbaren‹ Unbewußten – Vorgänge, Inhalte, psychische Gebiete und Strukturen – ist die Darstellung dessen, was er das »Reale« nennt. Diesem Realen, das »immer ›unerkennbar‹ bleiben« (Freud, Abriß der Psychoanalyse, 1940, GW Bd. XVII, 126) wird, begegnet der Psychoanalytiker in erster Linie in Gestalt des Symptoms. Er kann in seiner Forschung nicht auf Versuche anderer Wissenschaften und Künste verzichten, das unerkennbare Reale zu erfassen und darzustellen. Freud wird dabei notwendigerweise selbst zu einem psychoanalytischen Kulturforscher und zu einem wissenschaftlichen Dichter, der seine Theorie der Urhorde »unseren Mythus« und die Triebe »unsere Mythologie« nannte. Jacques Lacan hat sich u.a. von der surrealistischen Bewegung inspirieren lassen, und seine Lehre entsteht aus der Verbindung der klinischen Beobachtung, des Studiums des Freudschen Textes, der kritischen Würdigung der zeitgenössischen psychoanalytischen Literatur im Durchgang durch die Philosophie, linguistische Theorien, Ethnologie, Literatur und Mathematik (Topologie). Der Begegnung der Psychoanalyse mit anderen Wissenschaften und Künsten eignet ein Moment der Nicht-Verfügbarkeit, des Nicht-Verfügens, ein Moment, das Verschiebungen und Veränderungen mit sich bringt. Dadurch entstehen auch in der Psychoanalyse Spielräume für neue Konfigurierungen. In diesem Sinne geht es in der Schriftenreihe um den Stoffwechsel zwischen Psychoanalyse, den Wissenschaften und den Künsten. Nicht nur die psychoanalytische Forschung, sondern auch die psychoanalytische Kur ist von Sigmund Freud als »Kulturarbeit« verstanden worden: sie wirke der »Asozialität des Neurotikers«, der »Kulturfeindschaft« der Menschen und insofern der Barbarei entgegen. Die Reihe wird herausgegeben von Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath und Marianne Schuller. Catherine-Olivia Moser (Dipl.-Psych./M.A.), geb. 1956, ist Psychoanalytikerin in Neu-Ulm. Sie hat u.a. an der Sorbonne Psychologie sowie Philosophie studiert und an der Universität Kassel promoviert. Sie war Mitarbeiterin von Françoise Dolto bei der Maison Verte in Paris.

Catherine-Olivia Moser

Postpartale Depression und »weibliche Identität« Psychoanalytische Perspektiven auf Mutterschaft

Zugleich Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften. Tag der Disputation: 03.11.2016. Originaltitel der Dissertation: »Der blaue Mond der Depression: ein psychoanalytischer Beitrag theoretischer und klinischer Konzeptualisierung der postpartalen Depression«.

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Inhalt

E inführung : D epression und M ütterlichkeit 1. Die peripartale Depression  | 13 2. Die Weiblichkeit  | 19 3. Mutterwerden: der Verlust  | 21

A. P sychoanalyse und W eiblichkeit : F rau werden 1. Sigmund Freud  | 29 1.1 Die Frau | 33 1.2 Schicksalspersonen: der Vater, von Moses bis Ödipus | 35 1.3 Der Familienroman | 40 1.4 Die Bibel, Roman der hystoire und die Wiedergabe des ägyptischen Traums | 42 1.5 Die Frau als Mutter | 44 1.6 Das Naturwesen Frau | 46 1.7 Zwischen Realität und Begehren: Der Geschlechterunterschied | 55 2. Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan  | 67 2.1 Jacques Lacan und die Funktion der Sprache | 69 Exkurs zur Begrifflichkeit Lacans | 73 2.2 Lacan und die weibliche Sexualität | 88 2.3 Lacans Provokation: Die Konstitution der Frau | 93 Eine Fallstudie: Die »Falle« | 98 2.4 Lacan und das Mütterliche | 101 Exkurs: Medea oder von Frau zur Mutter zur Frau | 107

3. Françoise Dolt o: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen  | 115 3.1 Die Geschichte eines Subjekts innerhalb der Dyade Mutter-Kind | 116 3.2 Der Begriff des Körperbildes | 118 3.3 Die ›symboligene‹ Kastration | 124 Eine Fallgeschichte: die Tochter an der Brust der Mutter | 128 3.4 Das Begehren | 131 Ein Fallbeispiel, oder wenn der Name irreführend wirkt | 135 3.5 Die weibliche Sexualität oder l’être au féminin (das weibliche Sein) | 137 3.6 Dolto und das Mütterliche | 143 3.7 Die Geburt | 146 3.8 Ein klinischer Fall: Tarzan | 153

B. U ntergang einer mütterlichen W elt : zwischen W eiblichkeit und M utterschaft , M utter werden 1. Grundlage der Reflexion über die PPD  | 167 1.1 Der klinische Ansatz | 167 1.2 Frau W.: die Frau, die um den Verlust ihres weiblichen Begehrens trauert | 174 1.3 Die Hysterie an der Seite der Depression: der Verlust | 178 1.3.1 Frau Stella: Verlust und Hysterie | 184 1.3.2 Frau Astrid: Verlust und Depression | 187 1.4 Die Melancholie | 191 1.4.1 Dürers Melencolia | 197 1.4.2 Vincent van Gogh | 200

2. Transgenerationale Weitergabe: eine Transmission von Generation zu Generation  | 205 2.1 Eine verdrängte Schwangerschaft: inzestuelle Vater-Tochter-Beziehung | 207 2.2 Transmission oder Weitergabe? »Wir müssen uns an die Zukunft erinnern.« | 209 Gerda Schwabski oder eine chronifizierte postpartale Depression | 213 2.3 Die Mütterlichkeit | 247 2.3.1 Die Wahrnehmung der werdenden Mutter | 250 2.3.2 Das Mutterwerden als Krise | 253 2.3.3 Eine Geburt zwischen Traum und Trauma | 255 2.4 Der Blick und die Leere | 265 2.4.1 Frau Ritter oder der teuflische Blick | 265 2.4.2 Exkurs: der Narzissmus | 278 2.4.3 René Magritte | 282 2.4.4 Die Leere | 286

2.4.5 Die Leere und der Spiegel | 293 2.4.6 Die »tote Mutter« | 297

3. Eine Ästhetik der Depression als Kompromissbildung zwischen Begehren und Abwehr  | 301 3.1 Die mütterliche Depression in der Darstellung des sozialen Elends | 305 3.2 Der blaue Mond der Depression | 317 3.3 Das Marienblau | 320 3.4 Eine Frau ohne Schatten? | 332 3.5 Frida Kahlo | 340 3.6 Der Babyblues | 349

Literatur  | 355 Abbildungen  | 377 Abkürzungen  | 381 Danksagung  | 383

Einführung: Depression und Mütterlichkeit Aus meiner Erfahrung mit den Manifestationen der postpartalen Depression stelle ich die These auf, dass ihr eine dialektische Spannung zwischen der Identität als Frau und der Identität als Mutter im Kern der Weiblichkeit zugrunde liegt. Diese Spannung hat mich in langen Jahren bei der psychoanalytischen Arbeit mit Frauen beschäftigt. Die Schwere und Häufigkeit der Post-partumManifestationen weisen darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen der Konstitution einer weiblichen Identität und den sich daraus ergebenden Frustrationen und Enttäuschungen nach der Geburt geben muss. Mir scheint, dass diese für Mütter typische Depression ein konstitutives Merkmal ihrer Identität als Frau ist. Zwar wird gemeinhin angenommen, dass der Babyblues1, eine leichte Form der PPD (postpartale Depression), als eine Reaktion auf die Geburt, präziser gesagt auf die körperliche Trennung von Mutter und Kind, ganz normal ist. Dennoch lässt die Heftigkeit der Erschütterung bei schweren Formen doch ahnen, dass die Geburt unter dem psychologischen Bindungs- / Entbindungsaspekt einen radikaler Augenblick des Übergangs darstellt. Stern / Bruschweiler-Stern betonen, »dass die traditionellen psychologischen Modelle den Einfluss der Mutterschaft auf die seelische Struktur einer Frau nicht erfassen.«2 In meiner Arbeit möchte ich mich der Radikalität dieser realen Metamorphose zuwenden, wenn sich die halluzinatorischen, irreführenden Schleusen des Begehrens öffnen, wenn ein Konflikt in der Begehrensstruktur entsteht.

1 | Im klinischen Alltag wird der Begriff ›Heultage‹ verwendet, was die Bagatellisierung dieses Phänomens unterstreicht. 2 | Stern, Daniel N. /  B ruschweiler-Stern, Nadia: Geburt einer Mutter, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2014, S. 9.

1. Die peripartale Depression

Die Gesundheit ist »ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«1 Gesundheit in Bezug auf die Geburt ist im klinischen und im allgemeinen Sprachgebrauch ein vieldeutiger Begriff: Von psychischer wie von physischer Gesundheit ist die Rede. Positive Assoziationen zur Geburt sind u. a. Glück, Mutterliebe, Erfüllung, Stillen; negativ konnotiert sind Weinen, Traurigkeit, Gewalt an Kindern, Depression usw. Die Depression wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) so definiert: »Eine Depression ist eine weit verbreitete psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interesselosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühlen und geringem Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen gekennzeichnet sein kann. Sie kann über längere Zeit oder wiederkehrend auftreten und die Fähigkeit einer Person, zu arbeiten, zu lernen oder einfach zu leben beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall kann eine Depression zum Suizid führen.« 2

Nach Einschätzung der WHO gelten 300 Millionen Menschen weltweit als akut depressiv, was mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in Europa entspricht. In Deutschland sterben laut dem Nationalen Ethikrat 3 jährlich 11.000 Personen in 1 | WHO (Hg.): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation [1948], 2014, https:// www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1. pdf, Zugriff am 01.11.2017. 2 | WHO, Regionalbüro für Europa (Hg.): Definition einer Depression, o. D., http://www. euro.who.int/de/health-topics/noncommunicable-diseases/pages/news/news/ 2012/10/depression-in-europe/depression-definition, Zugriff am 01.11.2017. 3 | Vgl. Deutscher Ethikrat (Hg.): Soziales Verhalten in Deutschland, 2012, http:// www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-27-09-2012-schmidtke.pdf, Zugriff am 01.11.2017.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

Folge eines Suizids; 90 Prozent dieser Tode stehen mit psychischen Störungen und mehrheitlich mit Depression in Verbindung. Frauen, insbesondere junge Frauen, die für die Erziehung von jüngeren Kindern verantwortlich sind, sind laut der APA4 überproportional von Depressionen bedroht, und peripartale Dekompensationen sind auffallend häufig. Postpartal und peripartal werden synonym verwendet. Bis zu 80 Prozent der Gebärenden leiden unter Babyblues, der leichten Form der postpartalen Depression. Das berichtete Mechthild Neises in ihrem Vortrag »Babyblues oder Depression?«, den sie im Februar 2015 im Rahmen des 9. Intensivkurses Pränatal- und Geburtsmedizin in Aachen gehalten hat. Der WHO-Gesundheitsbericht von 2012 stellt fest: »Jede fünfte Frau erkrankt durch Schwangerschaft und Geburt an einer postpartalen Depression.«5 Die Auffassungen über die Prävalenz der PPD gehen auseinander: Peripartale Depression erscheint als eines der am besten »gehüteten Geheimnisse sowohl in der Gesellschaft allgemein als auch in den damit befassten wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen der Psychiatrie und Psychotherapie, der Gynäkologie und Geburtshilfe«, schreibt Schroth6. Dennoch ist in den letzten zehn Jahren ein wachsendes Interesse an der Untersuchung von peripartalen Manifestationen sowohl in der Forschung als auch in Ansichten der »neu geborenen Mutter« 7 und populären Publikationen zu verzeichnen. In der Presse8 werden Geschichten von Müttern kolportiert, die von 4 | Vgl. Mazure, Carolyn M. / P uryear Keita, Gwendolyn: Understanding Depression in Women: Applying Empirical Research to Practice and Policy, Washington: APA Books 2006. 5 | WHO (Hg.): The Global Burden of Disease – 2004 Update, 2008, http://www.who. int/healthinfo/global_burden_disease/GBD_report_2004update_full.pdf, Zugriff am 01.11.2017. 6 | Schroth, Gerhard: »Postpartale Depression – Vermeidung und Heilung jenseits der Psychiatrie«, in: Blazy, Helga (Hg.): »Und am Anfang riesige Räume … und dort erschien das Baby«: Berichte aus dem intrauterinen Raum, internationale Tagung der Arbeitsgruppe Bindungsanalyse der ISPPM e. V. in Köln, 23.-25.05.2014, Heidelberg: Mattes 2014, S. 138-154, hier S. 139. 7 | Kürthy, Ildikó von: Unter dem Herzen, Ansichten einer neugeborenen Mutter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012. 8 | Psychische Störungen in der frühen Kindheit werden so beschrieben: »Kinder zeigen bereits in den ersten Lebensmonaten unterscheidbare Emotionen, wie Interesse, Zufriedenheit oder Belastetheit (Distress) […]. Die Regulation der Affekte ist gerade in den ersten Lebensmonaten unauflösbar mit den Affekten der primären Bezugspersonen verwoben. Säuglinge reagieren auf Angst- und Depressionsaffekte bei ihren vertrauten Bezugspersonen mit starken Verhaltens- und Affektdysregulationen (Weinen, Protest, affektiver Rückzug).« Klitzing, Kai von / D öhnert, Mirko / K roll, Michael / G rube, Matthias:

1.  Die peripar tale Depression

der peripartalen Depression betroffen waren. Auch wenn die Artikel der öffentlichen Presse das Thema banalisieren, rücken sie doch in das allgemeine Interesse, was so lange verschwiegen wurde. Das spiegelt sich auch in Filmen aus jüngster Zeit9, im Fernsehen und anderen Medien wider, die eine medikamentöse Behandlung als unvermeidlich, im Fall einer weiteren Schwangerschaft sogar als ratsam hinstellen. »Die Ausbildung und das Wissen um diese Symptomatik und diese Erkrankung sind nicht so gut, wie sie sein sollten«, sagt Andreas Reif 10, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Universität. Aus der psychoanalytischen Forschung kommen einige Beiträge, die auf die bedeutenden Einflüsse persistierender depressiver Konflikte hinweisen, die sich auch in der Erziehung auf die nächste Generation übertragen. LemoineLuccioni, Bydlowski, Naouri, Szejer, Pedrina, Schroth11 referieren u. a. Einzelfallstudien von mütterlicher Depression und ihren Auswirkungen auf das Kind. Der überwiegende Anteil der Studien, so zeigt ein Überblick der Literatur, ist quantitativ angelegt und zieht Prävalenz sowie Gewicht der bereits identifizierten Einflussfaktoren in Betracht. Der Vorteil qualitativer Herangehensweisen ist die Möglichkeit, das Phänomen PPD von dem Erleben der Betroffenen und dem Unbewussten her zu erforschen und dabei neue Einflussfaktoren »Psychische Störungen in der frühen Kindheit«, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 6, 2015, S. 269-278, hier S. 275. Postpartale Depressionen werden ebenso in folgenden Artikeln beschrieben: Lenzen, Manuela: »Als würden wir mit Betonschuhen durch Wasser waten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2007, S. L28. Gräf, Carmen: »Muttersein ist nicht nur kuschelig«, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-03/ helen-walsh-mutterschaft-roman vom 28.03.2012. Harmann, Lisa: »Postpartale Depressionen: Von der Angst, keine gute Mutter zu sein«, http://www.spiegel.de/gesund heit/schwangerschaft/postpartale-depression-von-der-angst-keine-gute-mutter-zusein-a-1005578.html vom 22.12.2014. Schaible, Ira: »Depressionen nach der Geburt: Wenn das Babyglück zum Albtraum wird«, http://www.spiegel.de/gesundheit/psycho logie/depression-und-babyblues-nach-der-geburt-werden-unterschaetzt-a-1055412. html vom 30.09.2015. 9 | »Mein fremdes Kind – wenn Müttern die Liebe fehlt«, Bayrisches Fernsehen, aus der Reihe »Gott und die Welt«, ARD, 05.10.2014. 10 | http://www.fnp.de/rhein-main/E xper ten-Wochenbettdepressionen-werdenunterschaetzt;art1491,1618966, Zugriff am 30.09.2015. 11 | Vgl. Lemoine-Luccioni, Eugénie: Partage des femmes, Paris: Seuil 1976; Bydlowski, Monique: Les enfants du désir, Paris: Odile Jacob 2008; Naouri, Aldo: Les filles et leurs mères, Paris: Odile Jacob 1998; Szejer, Myriam: Platz für Anne. Die Arbeit einer Psychoanalytikerin mit Neugeborenen, München: Antje Kunstmann 1998; Pedrina, Fernanda: Mütter und Babys in psychischen Krisen. Forschungsstudie zu einer therapeutisch geleiteten Mutter-Säugling-Gruppe am Beispiel postpartaler Depression, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2006; Schroth 2014.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

zu entdecken. Für die Psychoanalytiker besteht die Möglichkeit, Erkenntnisse struktureller Natur zu gewinnen, was bei quantitativer Forschung – etwa beim Einsatz vorab erstellter Ratingskalen – nicht in vergleichbarer Weise möglich ist. Eine medizinische Dissertation von Spremberg12 mit dem Thema Postpartale depressive Störung: Häufigkeit und Zusammenhänge mit soziodemographischen und psychosozialen Faktoren  – Literaturübersicht und empirische Untersuchung zeigt nach eigener Einschätzung, wie begrenzt die Erkenntnisse bleiben. Obwohl alle zugehörigen Faktoren bereits untersucht wurden, wie Alter, Nationalität, Schulbildung, Berufsausbildung, Familienstand, Anzahl der Kinder, Planung der Schwangerschaft, Entbindungsart, postnatale Komplikationen, Stillen, relevante Lebensereignisse, Stress, fehlende soziale Unterstützung usw., lautet das Fazit: »Um weitere Kenntnisse über die möglicherweise die postpartalen depressiven Störungen beeinflussenden Faktoren zu erhalten, wären weitergehende statistische Analyseverfahren notwendig.«13 Die Psychoanalyse hat einige Züge der Depression bearbeitet und theoretisiert, wie Chasseguet-Smirgel14 in ihren Ausführungen über Narzissmus, Pedrina15 über Abhängigkeit versus Autonomie, Winnicott16 über Fusion-Trennung. Die Konflikte der Mutter wurden dabei unter dem Blickwinkel ihrer Auswirkungen auf das Kind betrachtet, während die Belastungen der Mutterschaft für die Frau und ihre weibliche Identität vernachlässigt wurden. Als Beispiel dafür werden, wie bereits gezeigt, in der Studie zur PPD psychische Störungen in der frühen Kindheit so beschrieben: »Kinder von Müttern mit postpartalen Depressionen entwickeln häufig schon im frühen Alter kognitive und emotionale Defizite. Oft zeigen sie selbst depressive Affekte im Umgang mit ihren Müttern, die sich auch in der Interaktion mit anderen Bezugs-

12 | Spremberg, Verena Elisabeth: Postpartale depressive Störung: Häufigkeit und Zusammenhänge mit soziodemographischen und psychosozialen Faktoren – Literaturübersicht und empirische Untersuchung. Dissertation der Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2010. http://hss.ulb.uni-bonn. de/2010/2109/2109.htm, Zugriff am 20.02.2013. 13 | Ebd., S. 116. 14 | Vgl. Chasseguet-Smirgel, Janine: Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die ›Krankheit der Idealität‹, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. 15 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys. 16 | Vgl. Winnicot, Donald W.: »Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung« [1967], in: ders.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta 1973, S. 128-135.

1.  Die peripar tale Depression personen wiederfinden, was nahelegt, dass Kleinkinder den depressiven Affekt bereits internalisieren.«17

Während der gesellschaftliche Diskurs die Depressionssymptomatik mit sozial-psychiatrischen Erklärungsversuchen in den Blick nimmt, scheint mir in der vorliegenden Arbeit eine präzise psychoanalytische Untersuchung der weiblichen Depression unumgänglich zu sein, um verstehen zu können, wie eine unbewusste Psychodynamik als Grund und Auslöser agieren kann. In der Arbeit sollen die Wirkungen der Mutterschaft auf das Selbstverständnis der Weiblichkeit untersucht und die Krisenmomente bereits in der Schwangerschaft, aber auch bei der Trennung / Entbindung als Krisenpunkt angezeigt werden. Wenn laut Miller die Depressiven von heute an einer verbreiteten »diskursiven Pathologie« leiden18, sehe ich eine individuelle Untersuchung angebracht, die qualitativ Depressionshinweise liefert, um die anhaltenden unbewussten Konflikte erhellen zu können. Ein verbreitetes Bild der weiblichen Konstitution in der Psychoanalyse ist, dass die Frau schicksalhaft zur Mutterschaft verdammt ist. Eine qualitative Forschung, die Erkenntnisse über die Vernetzung und Zusammenfügung der emotionalen und sozialen Veränderungen in der Psyche jeweiliger betroffener Mütter erbringt, ist nur im therapeutischen Setting möglich. Die strukturale Psychoanalyse als Forschung und klinische Praxis ist gleichzeitig eine Analyse der Theorie und der Theoriemethode, sie deckt dadurch die Struktur des Konflikts auf. Was sagt uns die Zunahme der Depression und besonders der PPD über die Erziehung von Mädchen, die Rolle und Funktion von Frauen und die Einsamkeit der jungen Mütter in unserer Gesellschaft? Die vorliegende Arbeit versteht sich als theoretische Grundlage zum genauen Verständnis des Spannungkonflikts zwischen Mutter und Frau, der in der Depression seinen Ausdruck findet. Die Depression wird dann als Hoffnungszeichen verstanden. Diese Arbeit fokussiert vor dem Hintergrund der lacanschen Theorie Depressionserfahrungen in ihrer strukturellen Qualität. In der lacanschen Weiblichkeitskonstitution überträgt sich die Identifizierung durch Sprache, Blick und Begehren der Mutter, und dadurch findet das Mädchen einen strukturierten Platz im Verlauf der Weitergabe der Familiengeschichte. Die Geburt, die Sprache und der Blick sind als Bedingungen für die Existenz

17 | Vgl. Klitzing et al.: »Psychische Störungen«, S. 275. 18 | Miller, Jacques-Alain: »Sacrosanct Depression«, in: Lacanian Ink 31, 2008, zitiert nach Teuber, Nadine: Das Geschlecht der Depression, Bielefeld: trancript 2011, S. 10.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

zu verstehen. Ich zitiere Lassaad Jamoussi: »Die Sprache entsteht als Frucht des Blicks.«19 Die Psychoanalyse weist eine lange Tradition in der Erforschung psychischer Erscheinungsbilder auf und befasst sich mit der Entstehung des Subjekts. Eine kritische Untersuchung, in der sich psychoanalytische Theorie und klinische Erfahrung reiben, fungiert als methodisches Instrument des Erkenntnisgewinns. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Depression weniger als Zustand, sondern als ein Fehlentwicklungsprozess innerhalb der Struktur des Begehrens. So gesehen ist die PPD keine Pathologie, sondern verweist auf ein strukturelles Moment der Weiblichkeit, wobei der unbewusste Konflikt als Konflikt zwischen dem Begehren der Mutter und dem der Frau theoretisch erfasst wird. Daher werden die folgenden Thesen entwickelt, die die entsprechende Frage bezüglich einer Wissenslücke schließen können: 1. Die Depression ist in der psychischen Entwicklung und Subjektkonstitution jeder Frau strukturell vorhanden. 2. Die Mutter spielt eine vorherrschende Rolle für die psychosexuelle Entwicklung des kleinen Mädchens, indem sie ihm ihre eigene Geschichte anvertraut. 3. Die Geburt ist der Moment der psychischen Transparenz und der Reaktivierung der kindlich-ödipalen Konstellation im Rahmen der transgenerationalen Weitergabe. 4. Der Blick ist der wichtigste, wenn nicht exklusive Faktor dieser Weitergabe, den man auch in der bildenden Kunst findet. In dieser so besonderen und doch allgemein verbreiteten depressiven Phase, die großen Schaden anrichten kann, wird jede Mutter mit der Realität ihres Frauseins konfrontiert. Gegenüber dieser grundsätzlichen Angst, die mit einer tiefgreifenden, unheilbaren Verzweiflung einhergeht, wird sie, indem sie Leben spendet, mit ihrem eigenen Tod konfrontiert, jedoch in der Gewissheit, keine wirkliche Hilfe zu seiner Bewältigung zu erhalten.

19 | Jamoussi, Lassaad: Le pictural dans l’œuvre de Beckett: Approche poïétique de la choseté, Bordeaux: Presses universitaires de Bordeaux 2007, S. 153; eigene Übersetzung.

2. Die Weiblichkeit

Hier geht es darum, den ersten Abschnitt zur Theorie der Weiblichkeit im Prozess der Sexualisierung und der Konzeptualisierung zu analysieren. Das erste Teil der Arbeit befasst sich mit Begriffsbestimmungen zur Weiblichkeit im Wandel der Zeiten und ihre Entwicklung bis hin zur Gegenwart. Im Teil A der vorliegenden Arbeit, Psychoanalyse und Weiblichkeit: Frau werden, stütze ich mich auf die Analyse der Weiblichkeit bei Freud, Lacan und Dolto. Während Freuds Frage »Was will das Weib?« dazu geführt hat, dass positive Antworten im Zusammenhang mit dem Begehren der Frau zu finden waren, hat demgegenüber die theoretische Interpretation von Lacan und dann Dolto die Effekte dieser Fragestellung radikal verändert, indem sie die Begriffe des ›Begehrens‹ und der ›Kastration‹ mit dem des ›Mangels‹ als strukturelle Bestimmung verbunden haben.

Freud Das Bild der Frau bei Freud und nachfolgend in der psychoanalytischen Literatur des 19. Jahrhunderts bleibt dem Aufklärungsverständnis der Bestimmung der Frau in der Konfrontation von Kultur und Natur (nach der Naturrechtslehre Kants) verhaftet und steht damit im Widerspruch zu einer Subjekttheorie der weiblichen Konstitution. Freud hat Lebensgeschichten von Hysterikerinnen untersucht, deren Begehren darin bestand, den Manifestationen des Genießens beim Manne gleichzukommen. Freuds Versuch der Konzeptualisierung der am männlichen ›Modell‹ orientierten weiblichen Sexualität kommt zu keinem einheitlichen und befriedigenden Ergebnis. Gegenüber dem Felsen der Weiblichkeit als ›dunklem Kontinent‹ gelangt er an die Grenzen seiner Möglichkeiten: Die Frage »Was will das Weib?« bleibt unbeantwortet.

Lacan Der lacansche Ansatz der strukturellen Konstitution der Weiblichkeit dient als stützende Säule für meine Arbeit, wobei Weiblichkeit und Mutterschaft als zwei antinomische Konzepte gesehen werden.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

In der lacanschen Weiblichkeitskonstitution überträgt sich die Identifizierung durch Sprache, Blick und Begehren der Mutter, und dadurch findet das Mädchen einen strukturierten Platz im Verlauf der Weitergabe der Familiengeschichte, mit dem »Namen-des-Vaters« als trennende Funktion. Das Frausein und -werden ist bestimmt von Phasen der Identifizierung mit einer idealisierten Gestalt der Mutter, auch geprägt von der Bedeutung des Signifikanten des Mangels, um den Blick der Mutter einzufangen. Lacan stellt die Mutterschaft gegen die Weiblichkeit. Die Subjektkonstitution der Frau mit der Unterwerfung unter den Mangel und der daraus folgenden Dialektik des Begehrens bleibt hinter dem Mütterlichen verborgen, solange der darin angelegte Konflikt nicht manifest wird. Die Depression erscheint als Trauer und Verlust der phallischen Funktion, solange die Illusion der Vollständigkeit nicht aufgelöst und der Tod nicht hingenommen wird.

Dolto Dolto folgt Lacan weitgehend, nimmt aber eine eigene Ausarbeitung des Kastrationsbegriffes vor. Ausgehend von dem freudschen Begriff der Kastration und in Anlehnung an Lacans väterliche Metapher, Konzept des Mangels und des Begehrens, entwickelt Dolto für ihre klinische Arbeit ihre Theorie, die ihre Sicht der Weiblichkeit stützt, mit ›symboligener‹ Kastration oder Körperbild als subjektiver Spur einer mütterlichen Geschichte. Wenngleich Dolto die Position der Mütterlichkeit idealisiert und damit den Konflikt Frau versus Mutter entschärft, bleibt ihre Sicht der Frau abhängig von der Mutter. Die Spannung zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft löst sich für sie in der Schwangerschaft, als abgeschlossene Entwicklung der Frau. Die Depression wird verstanden als eigene Erfahrung des Mädchens, das zur Frau wird, und als Konfrontation mit der Aussage der Mutter zur Weiblichkeit. In der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Doltos stellt sich die folgende Frage: Ist die Art der Transmission der Weiblichkeit ausschlaggebend für die Depression, und inwiefern wird das Frauwerden weitergegeben?1 Die Weiblichkeit ist in ihrer zeitlichen Entwicklung geprägt durch Krisen, die einhergehen mit subjektiven Neugestaltungen, mit Änderungen des körperlichen Erscheinungsbildes und der physiologischen Körpererfahrung. In der Mutterschaft erscheinen diese Themen wieder in einer Perspektive der Reaktivierung der Kindheitskonflikte. 1 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys, S. 154. Pedrina verweist auf die Verschiebung von postpartalen Konflikten, die ihren Ursprung in der Mutter-Tochter-Beziehung haben, auf die Beziehungen mit den Erwachsenen des nahen Umfeldes. Adoleszenz ist für Mädchen eine gefährliche Zeit. Das Risiko ist groß, dass sie ihre Vitalität und ihre Widerstandskraft gegen Depression tauschen, wenn die Konflikte zwischen Abhängigkeit und Autonomie auftreten.

3. Mutterwerden: der Verlust

Im zweiten Teil B befasse ich mich mit dem, was ich Untergang einer mütterlichen Welt: zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft, Mutterwerden nenne, wobei ich der Frage der Mütterlichkeit anhand ihrer psychiatrischen Erscheinungen und psychoanalytischen Bedeutungen, der Rolle der transgenerationalen Weitergabe in der weiblichen Subjektkonstitution und ihren künstlerischen Darstellungen im Zusammenhang mit Mutterschaft und Depression nachgehen werde. Da der theoretische Rahmen an der Psychoanalyse orientiert ist, werden klinische Erfahrungen und Fälle von PPD nach diesen Konzepten erhellt und interpretiert. Ich halte es daher für wesentlich, die Definitionen der Sexualität, der Weiblichkeit, der Mutterschaft festzuschreiben und die Dynamik zwischen Mutter und Kind, zwischen Mutter und Großmutter wie auch die Arten der psychischen Transmission zu erforschen, mit denen die Mutter gewordene Tochter in der übertragenen Generationenfolge ihre geschlechtliche Identität annimmt. Die Frage der Mutter-Tochter-Weitergabe und ihre verhängnisvollen Folgen, die nach Lacan die Mutter zu der machen, die ihr das Gesetz des Genießens1 auferlegt, erhält damit ihre Brisanz für das Werden des Weiblichseins. Zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft, Wunsch und Wirklichkeit, zwischen lasterhafter Frau und tugendhaft-bescheidener Mutter beschreibt der Begriff ›Mütterlichkeit‹ allzu oft die Sehnsucht nach der ›Ursprünglichkeit‹ einer harmonischen Welt, mit der Darstellung von Mutterschaft und naturnaher Einfachheit. 1 | Vgl. Morel, Geneviève: La loi de la mère. Essai sur le sinthome sexuel, Paris: Economica-Anthropos 2008, S. 3: »[L]a loi de la mère […] est faite de mots noués au plaisir et à la souffrance, bref à la jouissance maternelle, qui sont transmis à l’enfant dès son plus jeune âge et s’impriment à jamais dans son inconscient, modelant fantasmes et symptômes.« »Das Gesetz der Mutter […] besteht aus Worten, die mit dem Genießen und dem Leiden verknüpft sind, kurz mit dem mütterlichen Genießen, die dem Kind seit seinem frühesten Alter übertragen wurden und für immer seinem Unbewussten eingeprägt sind und Phantasmen und Symptome formen.« Eigene Übersetzung.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

Dies führt uns zu der Frage, inwiefern die Geburtserfahrung mit der Depression zu tun hat. Die Arbeit mit PPD hat Schleusen geöffnet, die die wichtigen Fragen bezüglich der Position der Frau in der Gesellschaft, aber auch hinsichtlich der Mutterschaft reaktiviert haben. Die Entwicklung und Konstitution der Weiblichkeit nahm seit jeher zwei Linien in den psychischen Strukturen ein als Form des Protests der Frau: die Hysterie und die Depression. Der Verlust einer Position innerhalb der Identifizierungsmöglichkeiten der Frau ist genau das, was post partum wieder aufflackert. Die dargestellten klinischen Fälle zeigen, wie das Begehren der Frau strukturiert wird, als Erinnerung, als Reminiszenz, Richtung Hysterie oder als Ressentiment der Depressiven. Wenn sich die Frau für die Mutterschaft entscheidet, entzündet sich der Konflikt als stummer Protest gegen den Verlust ihrer Weiblichkeit. Der psychodynamische Umfang des Protests soll erfasst werden als Zusammenspiel von bewussten und unbewussten Bindungserfahrungen zur Mutter, reaktivierten Konfliktkonstellationen und strukturellen Bestimmungen, die das Erleben, das Verhalten und die Gestaltung neuer Beziehungen beeinflussen. Im Rahmen dieser Arbeit werden elf klinische Einzelfälle aus psychoanalytischen Behandlungen vorgestellt, die von den lang andauernden Effekten konfliktbesetzter depressiver Erfahrungen zeugen. Die Poetisierung der Sprache innerhalb des Übertragungsgeschehens der analytischen Behandlung verkleidet diese Sprache, und folglich verwandelt die Ästhetisierung den Grund der Depression in eine metaphorische Abbildung. In einer Ästhetik der Depression (Kapitel B.3) werde ich in der Folge untersuchen, wie die Maler von der Renaissance bis in die Moderne die MutterKind-Beziehung in Bildern von Mariä Verkündigung oder der Mutterschaft dargestellt haben. So könnte die Essenz der künstlerischen Schöpfung darin bestehen, dem Drama des Ursprungs durch eine Sublimierung, die die Verschleierung der Gestaltungsarbeit unkenntlich gemacht hat, eine Ausdrucksform zu geben. Ich werde die Darstellungen aus dem Bereich der Malerei oder der Literatur mit dem klinischen Aspekt der psychischen Manifestationen bei jungen Müttern in Verbindung bringen. Eine bildliche Dimension der Depression in der Kunst der Malerei wird anhand von Werken Botticellis, Kahlos, Magrittes und van Goghs dargestellt, als Einschreibung unseres menschlichen Daseins in die Kultur. Die Kunst gilt dann als Kompromissbildung zwischen Depression, Melancholie und Begehren.

3.   Mutterwerden: de r Verlust

Der Vergleich der Post-partum-Zeit mit dem blauen Licht des Mondes oder des Babyblues mit der Melancholie unter der »schwarzen Sonne«, in Anlehnung an Kristevas Arbeit 2, kann seltsam erscheinen. Der blaue Mond der Depression (vgl. Kap. B.3.2): Unter dem Einfluss des Mondes, der Mondphasen in der blauen Nacht, als Metapher der mütterlichen Depression ist die Mutter mit dem Kind durch die Angst verbunden in einem Miteinander von Spiegeln und Spiegelbildern, von Erinnerungen und Momentaufnahmen des Jetzt, hic et nunc, die mit der Vergangenheit und der Zukunft zusammenfließen. Die Weiblichkeit ist per se mit der Frage des unmöglichen Blicks auf das eigene Geschlecht verbunden, beschnitten nach der freudschen Tradition oder von der hysterischen Pathologie ignoriert. Als Werdensprozess enthält die Mutterschaft in sich eine Rückkehr zum Ursprung, zur Urszene, wo die Leere des Blicks vor Blindheit schützt, weil die Leere des Uterus die Geburt und damit die Sexualität bezeugt. Die Frage nach der Funktion des Blicks in unserem Verständnis der PPD erweist sich als elementar, weil die Reflexion im Spiegel und die Konstitution der Weiblichkeit in den Augen der Mutter von einer einzigen psychomentalen Konstruktion zeugen. Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, das psychoanalytische Verstehen der mütterlichen dekompensierten Phase weiter zu konzeptualisieren und für den klinischen Einsatz in der Praxis verwendbar zu machen, indem die wichtigsten identifizierbaren Elemente der Mutterschaft anerkannt und benannt werden. Im Sinne der philosophischen Reflexion und der psychoanalytischen Praxis wird eine permanente Spannung in der Bestimmung der Weiblichkeit und der Mutterschaft, ein Konflikt zwischen den weiblichen psychoanalytischen und ethischen Beziehungen zwischen Tochter, Frau und Mutter erkannt und wahrgenommen. Diskussion und Ausblick auf weitere Behandlungsfragen schließen die Arbeit ab.

2 | Vgl. Kristeva, Julia: Schwarze Sonne. Depression und Melancholie, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2007.

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A. Psychoanalyse und Weiblichkeit: Frau werden »Die Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein.« V ictor H ugo1 »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist’s getan; das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.« J ohann Wolfgang von G oethe 2

Der Versuch, die Psychoanalyse gedanklich unter philosophischen Vorzeichen zu fassen, heißt, Mythos und Theorie in Einklang bringen zu wollen, denn durch solch enge Verquickung von rationalem Schlussfolgern und der Ursprünglichkeit des mythischen Denkens entsteht Wissen oder doch die Möglichkeit von Erkenntnisgewinn. »Wer die Mythen schätzt, nähert sich der Wahrheit«, sagt Aristoteles3, und nach Renggli sind »Mythen Darstellungen von früheren Verletzungen, Konflikten, Ängsten und Panikreaktionen«.4 Zwischen Mythos und Logos, um welche Wahrheit geht es dann? Laut Wiesen5 ist Wahrheit nach Aristoteles keine Eigenschaft von realen Gegenständen oder idealen Charakteren, sondern die Wahrheit muss in der Relation zwischen den vom Subjekt formulierten Aussagen über eine Erkenntnis und dem erkannten Objekt gesucht werden. Durch ein mythisches Denken des Ursprungs wird 1 | Hugo, Victor: Les travailleurs de la mer [1866], Paris: Poche 2002, S. 253: »La mélancolie, c’est le bonheur d’être triste.« Eigene Übersetzung. 2 | Goethe, Johann Wolfgang von: Faust II [1832], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Band 4, Berlin /  Weimar: Aufbau-Verlag 1988, S. 580. 3 | Aristoteles: Metaphysik A. 982b 18-19. 4 | Renggli, Franz: Der Ursprung der Angst. Antike Mythen und das Trauma der Geburt, Zürich: Walter Verlag 2001, S. 15. 5 | Vgl. Wiesen, Brigitte: »Wahrheit«, http://www.philosophie-woerterbuch.de/onlinewoerterbuch, Zugriff am 01.11.2017.

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eine Möglichkeit von Erkenntnis gewonnen. Mythen zeigen das Schicksalhafte und geraten dadurch in Erklärungsnot, weil für Freud nur eine Rationalisierung die einzige Chance zur Verarbeitung von Emotionen darstellt. Das Mythische aber lässt sich nicht rationalisieren und auch nicht lösen. Laut Freud befindet sich der Ort der Psychoanalyse anfangs zwischen Mythos und Ratio, es ist ein Ort des Widerspruchs, zwischen geschichtlicher, biologischer Disposition und theoretischer Konstruktion. Freud hat ihn entdeckt, wobei er ihm gemäß die notwendige Annahme der Mythologie6 aufwies. Aber die Psychoanalyse mit dem Weiterwirken von Mythen ist nicht die einzige Wahrheit. In einer Linie von Freud bis Lacan werden Mythen als Metaphern für die Darstellung einer subjektiven Geschichte und nicht eines kollektiven Schicksals gesehen. In der Psychoanalyse geht es um das Verlorene und das Unsagbare in einer persönlichen Geschichte. Psychoanalyse und Weiblichkeit auf einen Nenner bringen zu wollen, läuft auf den Versuch hinaus, die von der Anatomie und der Vorherbestimmung gesetzten Widersprüche aufzulösen, d. h., gegen die Natur und die Mutterschaft als Essenz der Natur anzutreten, denn Psychoanalyse und Mütterlichkeit sind Gegensätze. In fast allen religiösen Legenden und Mythen ist der Begriff der Weiblichkeit eng mit dem Gleichgewicht von Natur und Kosmos verbunden. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«, schreibt Jaspers7 in seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Vielleicht sollten wir in der Reflexion über die Weiblichkeit innerhalb der Psychoanalyse vom Gegenteil sprechen: Das Seelenleben der Frau können wir erklären, wenn wir die Natur verstehen. Die Frage nach der Frau, Frau als Individuum, als individuelle Geschichte und Subjekt ihres eigenen Lebens und Leidens und nicht als naturbedingtes Schicksal, ist nach wie vor ein Stolperstein für die Psychoanalyse. »Schließlich 6 | In einem Brief an Wilhelm Fließ vom 15. Oktober 1897 formuliert Freud zum ersten Mal den Gedanken, die Sage von König Ödipus (wie übrigens auch der Stoff von Shakespeares Hamlet) weise Analogien auf zu jenen an vielen (neurotischen wie nicht neurotischen) Individuen beobachtbaren Träumen, in denen ein aggressiver, infantiler (Tötungs-)Wunsch gegenüber der primären Bezugsperson einen (assoziativ) entstellten und damit quasi indirekten Ausdruck finde. Vgl. Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, Briefe an Wilhelm Fließ: Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1962, S. 193. Und am 12. Dezember 1897 umschreibt Freud noch einmal, wiederum in der Korrespondenz mit Fließ, seine Vermutung, Mythen seien individuell-»endopsychische« Produktionen von kollektiver Häufigkeit und Bedeutung, sie seien »Psycho-Mythologie«. Vgl. S. 204. 7 | Zitiert nach Warsitz, Rolf-Peter: Zwischen Verstehen und Erklären: die widerständige Erfahrung der Psychoanalyse bei Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Jacques Lacan, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 51.

A.  Psychoanalyse und Weiblichkeit: Frau werden

ist das ›Weibliche‹ kein Synonym für ›Frau‹. Eine Frau erreicht ihre Weiblichkeit anhand psychosexueller Bewegungen, die sie mit ihrem Weiblich-Sein in Einklang bringt. Erst dann wird sie zu einer weiblichen Frau« 8, schreibt Alizade. Und so antwortet der Analytiker auf die freudsche Frage »Was ist eine Frau?« wie folgt: »Eine Frau ist eine solche in psychoanalytischer Behandlung, die mit ihrem Psychoanalytiker spricht.« Die Frau redet und fragt. Sie steht im Mittelpunkt ihrer Äußerungen. Die häufige Aporie in der Diskussion um die Weiblichkeit in der Psychoanalyse beruht auf der Konzeptualisierung der Weiblichkeit in Bezug auf die Kastration und den Penisneid: Freud ist von der Anatomie ausgegangen und stößt an seine Grenzen. Freud beschreibt die Entwicklung der weiblichen Identität in Anlehnung an die männliche Entwicklung, wobei das Mädchen als »kleiner Mann«9 betrachtet wird. Er beschreibt zuerst die Hysterie mithilfe von Krankengeschichten nach Charcot10 oder »Erzählungen« nach Fließ11 als einen Ort, der sich der Medizin entzieht. Die Neurologie des 19. Jahrhunderts liefert die narrative Struktur eines Lebensromans, in dem die Hysterie als Erzählung einer Geschichte fungiert. Freud stellt dann die Sexualität in den Mittelpunkt mit der Frage nach ihrem Ursprung, der sich als Geheimnis, als Rätsel präsentiert. Vom freudschen Versuch einer naturwissenschaftlichen Konzeptualisierung bis zur lacanschen strukturalistischen Theorie der Sprache ist die Frage nach der historischen Perspektive der Psychoanalyse von klein auf mit der Frage der Entwicklung der Weiblichkeit verbunden. Darstellung und Untersuchung der konzeptuellen Verflechtungen in der analytischen Bewegung flackern in der Weiblichkeitsdebatte wieder auf, wie 8 | Alizade, Alcira Mariam: Weibliche Sinnlichkeit, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2014, S. 28. 9 | Freud, Sigmund: »Die Weiblichkeit« [1933], in: ders.: Studienausgabe. Band 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und neue Folge, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 544-565, hier S. 549: »Wir müssen nun anerkennen, das kleine Mädchen sei ein kleiner Mann.« 10 | Vgl. Charcot, Jean-Martin: Leçons cliniques sur les maladies des vieillards et les maladies chroniques, hg. von Benjamin Ball und Charles Bouchard, Paris: Delahaye 1867, o. S.: Krankengeschichte Nr. 6601: »Im Bett gegen Abend war eine Nebenkranke aufgeregt und warf eine Tasse zu Boden; unmittelbar darauf schrie Pat. laut, mark­ erschütternd und lange, fiel dann hin, bekam Schaum vor dem Munde, machte eigentümliche Bewegungen mit dem Mund, Zuckungen der Beine, arc-de-cercle ausgesprochen, und nachher weitausgreifende Bewegungen der Arme und Beine.« Eigene Übersetzung. 11 | Vgl. Brief vom 12. Februar 1900, in: Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, Frankfurt a. M.: Fischer 1962, S. 266: »Könnte ich Dir einmal erzählen […]«.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

unsere Betrachtung zeigt. Dennoch ist es die Kulturtheorie Freuds, die für meine Überlegungen zur Bedeutung der Rolle der Depression in der Entwicklung des Kindes zur Frau und in der therapeutischen Arbeit einen geeigneten Ausgangspunkt darstellt, vorausgesetzt, sie wird – genauso wie die klinischen Themen – immer wieder neu hinterfragt, ergänzt und interpretiert. Und die Sexualität? Ich möchte hier der Frage nach den Ursprüngen nachgehen, möchte versuchen, gestützt auf die Psychoanalyse und die Mythologie, den wiederkehrenden Geheimnissen, Bildern und Ideen auf die Spur zu kommen. Seiner lateinischen etymologischen Herkunft nach heißt ›Sex‹ ›Trennung‹, ›Abschneiden‹ oder auch ›Teilung‹: sexus von secare (sectus), ›sezieren‹, ›zerteilen‹, ›zersägen‹, sectio für ›Kaiserschnitt‹. Im Französischen bezeichnet le sexe das Geschlecht, desgleichen die Geschlechtsorgane. Die Sexualität ist mithin ein Resultat dieser Trennung in Gegensatzpaare wie ›fest und flüssig‹, ›warm und kalt‹ oder im Bereich der Fortpflanzung ›Männchen und Weibchen‹ oder eben ›Männer und Frauen‹. Bei der menschlichen Sexualität wird der biologische Aspekt durch gesellschaftliche Determinanten präjudiziert, sozusagen überlagert. Die durch das Verschwinden der natürlichen Brunftzeiten beim Menschen eingetretene permanente sexuelle Disponibilität hat zu einer gesellschaftlichen Regulierung der Sexualkontakte geführt, mit Regeln, Verboten, Vorschriften bezüglich Paarbildung, Verwandtschaftsbeziehungen, Inzestverbot. Die Sexualität ist also zwischen der Anatomie12 (nach Freud ist die Anatomie Schicksal) und den gesellschaftlichen Gegebenheiten angesiedelt (nach Lacan bestimmt die Sprache das Unbewusste). Freud und seine Nachfolger verorten das Weibliche im Widersprüchlichen – im etymologischen Sinn des Wortes, was im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung steht –, denn die Anatomie wird erst durch die Sprache, mit der auf sie Bezug genommen wird, mit Bedeutung aufgeladen und weitergegeben, sie wird dadurch zum Schicksal. Es ist Freuds Verdienst, einen theoretischen und therapeutischen Ort geschaffen zu haben, an dem sich die Sprache in freier Assoziation entfalten kann. Wenn er auf den Felsen der Weiblichkeit aufgelaufen ist, so mag dies daran liegen, dass die Wissensgrenzen mit der Anerkennung des Geschlechterunterschieds kollidieren. Die Finsternis des ›dunklen Kontinents‹ wäre durch den Mann bestimmt und von der Frau weitergegeben. »Ihm wurde gesagt, dass sein Gesetz immer schon schwarz sei und immer schwärzer würde. Und ein Portier hat ihm zur Vorsicht geraten, denn es würde im weiteren Verlauf noch schlimmer!«13 12 | Vgl. ders.: »Der Untergang des Ödipuskomplexes« [1924], in: ders.: Studienausgabe. Band 5: Sexualleben, Frankfurt a. M.: Fischer 8 2000, S. 243- 251, hier S. 249: »Die Anatomie ist das Schicksal, um ein Wort Napoleons zu variieren.« 13 | Clément, Catherine / C ixous, Hélène: La jeune-née, Paris: 10 /  18 1975, S. 191; eigene Übersetzung.

1. Sigmund Freud1

Das Unbeschreibliche: Freud hat in einer Linie mit Platon, Empedokles von Agrigent und Schopenhauer (diese Autoren nennt er selbst) dieses Nebeneinander von Rationalität und Phantasie in sich vereint: Er nimmt den Mythos ernst, und im Umkehrschluss hält die Psychoanalyse ihn für wahr, erkennt den wahren Kern des Mythos als ein Erkenntnisinstrument. »Ich glaube in der Tat, dass ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts Anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie.«2 Es geht um eine psychische Wahrheit. Der ›dunkle Kontinent‹ wird zu einer Projektion der Vorstellung vom weiblichen Körper, eine Metapher, die Befürchtungen und Ängste, Hoffnungen und Enttäuschungen, Erinnerungen und Gedächtnisfragmente eines archaischen, vorzeitlichen Ursprungsorts transportiert, der Schutz und doch zugleich potenzielle Vernichtung suggeriert. Es wird versucht, diese Ausführungen möglichst nahe an der freudschen Analyse der Weiblichkeit auszurichten oder vielmehr danach zu trachten, bei Freud die Hauptlinien seiner Forschungen zum Sexualleben der Frauen herauszuarbeiten und dabei einen Ursprungsmythos aufzuzeigen, nach dem die Mutter gemäß C.G. Jung »nicht länger Objekt sexuell-inzestuöser Wünsche ist, sondern nur mehr beherbergender Uterus«3. Dies unterstreicht den Mythos und seiner naturalistischen Dimension. Das Thema verortet sich an der phantasmagorischen Bruchstelle mit Kontroversen, die nichts beigetragen haben, zwischen Wissenschaftsgeschichte und mythischem Wissen. Schon die Metapher bildet das Konzept ab, und der Mythos beinhaltet mehr als die angebliche gedankliche Klarheit der Philosophen. Genau durch diesen theoretischen Gegensatz in der Wissensstruktur 1 | Freud Sigmund, 1856-1939. 2 | Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Band 4: Zur Psychopathologie des Alltagslebens [1901], Frankfurt a. M.: Fischer 51969, S. 287. 3 | Gast, Lilli: Libido und Narzissmus, Tübingen: Ed. diskord 1992, S. 131.

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zwischen Freud einerseits und Rank, Ferenczi und Jung andererseits konnte das Verständnis bzw. Unverständnis der weiblichen Sexualität seine entscheidende Rolle innerhalb der psychoanalytischen Institutionen finden und Stoff zu einer Weiblichkeitsdebatte liefern.4 Die Schwere und Häufigkeit der postpartalen Störungen weisen darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen der Konstitution einer weiblichen Identität und den sich daraus ergebenden Frustrationen und Enttäuschungen geben muss. Mir scheint, dass diese für Schwangere typische Depression ein konstitutives Merkmal ihrer Identität als Frau und nicht auf eine Kastration reduzierbar ist, die meines Erachtens nicht nur anatomisch bedingt zu sein scheint. Allerdings wird die Kastration in der frühen Geschichte der Psychoanalyse als erster Erklärungsversuch herangezogen. Damit wird ein wichtiger Punkt der Theorie der Psychoanalyse angesprochen, und er soll neu aufgerollt werden, um Verständnis dafür zu entwickeln, dass die Kastration als symbolisch erfasst werden muss. Um mich einer Antwort über den Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Depression anzunähern, muss ich mithin die Entwicklungsgeschichte der Libido heranziehen, bei der bereits in der Kindheit das sexuelle Begehren auf den Vater oder Bruder fixiert war. In einer Antwort auf die Kausalität bemerkt Lou Andreas-Salomé dazu: »Nun ist ja die Psychoanalyse ihrem historischen Werdegang nach praktische Heilmethodik, und als ich ihr beitrat, war gerade erst die Ermöglichung klargeworden, aus den Zuständen des Kranken auf die Struktur des Gesunden zu schließen, indem hier, wie unter einer Lupe, entziffert werden konnte, was unserm Blick innerhalb des Normalen sonst fast unlesbar bleibt.« 5

Die Depression gilt für uns als Lupe, durch die die Besonderheiten der Mutterschaft vergrößert dargestellt werden. Was gibt es also zu entziffern? Wer ist in der Lage zu verstehen, warum die Frau ein Rätsel ist, da die Erinnerungen konstitutionelle Schutzerinnerungen für die Hysterie sind? Wer oder was kann als Lupe herhalten: das Baby, die Depression? Reproduktionsvorgänge bei Frauen, wie prämenstruelles Syndrom, Schwangerschafts- und PPD, Unfruchtbarkeit oder Abtreibung, Klimakterium, all diese ›Frauenthemen‹ zeigen eine »Interaktion zwischen symbolischen Geschlechtszuschreibungen und geschlechtlich kodiertem Wissen«6. Über einen langen Zeitraum hinweg manifestierte sich eine Identität als Frau nur durch die Mutterschaft. Diese Aussage über die Position der Frau in der Psychoana4 | Vgl. ebd., S. 143. 5 | Salomé, Lou Andreas: Das Erlebnis Freud. Lebensrückblick [1951], Frankfurt a. M.: Insel 1977, S. 152 (Herv. i. O.). 6 | Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 78.

1.  Sigmund Freud

lyse verändert sich parallel zu der Entwicklung innerhalb der psychoanalytischen Bewegung. »Die große Frage, die ich trotz meines dreißigjährigen Studiums der weiblichen Seele nicht zu beantworten vermag, lautet: ›Was will eine Frau?‹« 7 »Was will das Weib?«, und: »Was will der Mann?« Oder: Was will ein Mann von der Frau? Handelt es sich hier um eine durch das Wollen determinierte Frage, oder geht es bei dieser Recherche nicht vielmehr um Wissen? Die Psychoanalytiker stellen Fragen nicht über das Wissen, sondern über das Wollen – was wollen die wissen? – eine Wahrheitslehre in der Theorie. Der Mann wiederum stellt die Frage nach dem Wissen der Frau, ein Wissen, das den Beginn der Wissenschaft markiert, nicht aber die Wissenschaft selbst. Dieses Wissen, das Ergebnis der Suche des Mannes nach der Frau, betrifft die Kenntnis der Sexualität der Frau und markiert den Beginn der Wissenschaft und der Poesie. Die Theorie sucht ein besonderes Wissen, poetische Wissenschaft. Nach Baumgartner und Ménard 8 taucht das Wort ›poésie‹ zum ersten Mal im 15. Jahrhundert auf. Es entwickelte sich etymologisch aus dem lateinischen poesis (= Poesie, Dichtkunst), das wiederum vom griechischen poiesis (= Schaffen, Verfertigen poetischer Werke) und von poiein (= verfertigen, dichten) abgeleitet wird. Poesie wird demnach als »Universum ästhetischer Gefühle« definiert, als all das, was sich »aus dem, was überhöht ist«9, ergibt, als das, »was die Sensibilität berührt«10, oder als das, was im Menschen den »poetischen Zustand erwecken«11 kann; gleichzeitig aber ist Poesie das, was vom Menschen geschaffen und verfertigt worden ist, die »Kunst, Klänge, Rhythmen, Worte einer Sprache zu kombinieren, um Bilder zu evozieren, um Empfindungen und Gefühle hervorzulocken«12 . Jede Geschichte ist eine Erzählung in Bildern oder Sprache. In der Poetik schreibt Aristoteles: »Denn Mimesis ist dem Menschen von Kindheit angeboren, und dadurch unterscheidet er sich von den übrigen lebendigen Wesen, dass er das nachahmungssüchtigste ist 7 | Freud, Sigmund: In conversation with Marie Bonaparte [1925], in: Jones, Ernest: The Life and Work of Sigmund Freud, Band 2: Years of Maturity 1901-1919, London: Hogarth Press 1955, S. 468. Vgl. die 33. Vorlesung in Freud: »Die Weiblichkeit«, S. 565: »Wollen Sie mehr über die Weiblichkeit wissen, so befragen Sie Ihre eigenen Lebenserfahrungen, oder Sie wenden sich an die Dichter, oder Sie warten, bis die Wissenschaft Ihnen tiefere und besser zusammenhängende Auskünfte geben kann.« 8 | Vgl. Baumgartner, Emmanuèle / M énard, Philippe: Dictionnaire étymologique et historique de la langue française, Paris: Poche 1997. 9 | Littré, Émile: Union générale d’édition, Paris: Poche 1964, S. 478; eigene Über­ setzung. 10 | O. A.: Le petit Larousse illustré 2008, Paris: Larousse 2008, S. 792. 11 | Robert, Paul (Hg.): Dictionnaire le Robert micro, Paris: Le Robert 1998, S. 1010. 12 | O. A.: Le petit Larousse illustré 2008, S. 792.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« und sein erstes Lernen durch Nachahmung geschieht, sowie Freude an den Werken der nachahmenden Darstellung.(7) Da uns aber die Nachahmung, die Harmonie und der Rhythmus angeboren sind (denn dass die Versmaße Teile der Rhythmen sind, ist offenbar), so haben von Anfang an die, welche am meisten Anlage dazu hatten, durch einen allmählichen Fortschritt aus den Improvisierungen die Dichtkunst hervorgebracht.«13

Mimesis kann zwar zum einen als naturgetreue, realistische Abbildung der Wirklichkeit14 verstanden werden und im Wesentlichen als Mimesis der wesenhaften Wirklichkeit (der Wahrheit) des Seins. Nicht die äußeren Realitäten und Fakten, sondern die ideellen (moralischen und metaphysischen) Werte des Lebens werden in den metaphorischen poetischen Kreationen dargestellt. In unserer kulturellen Tradition ist seit Dante der Mann der Weise, der Philosoph, der Dichter. Die Frau ist das Wissen. Aber dieses Wissen macht Angst, den Männern wie den Frauen. Die Frau inspiriert den Mann dazu, seine Bewunderung und Neugierde sowie seine Angst in Poesie zu fassen, mit Rhythmen, Versen, Musik wie die Troubadours in den chansons galantes. Insofern wäre die Poesie als kreative Mimesis ein Versuch, Wissen über die Frau zu erlangen. Das Wissen des Mannes über die Frauen ist auch in der Wissenschaft ein Wissen der Männer. Die psychoanalytische Beobachtung der rätselhaften Frau, deren einzelne Entwicklungsstadien der Mann und Analytiker Freud beschreibt, ist an ihre Grenze gestoßen: 1895 wird der Analytiker mit einem Chirurgen verglichen, 1899 mit einem Archäologen, der sich damit befasst, das, was vergessen wurde, anhand von hinterlassenen Spuren dieses Vergessens zu erfassen oder, genauer, zu rekonstruieren als Geschichte von Freuds Fällen, und ab 1912 sollte er sich als Spiegel verstehen. Sarah Kofman schreibt: »Freud vergleicht den Analytiker sukzessive mit einem Chirurgen, Bildhauer, Maler, Archäologen, Musiker, Schachspieler oder Patiencenspieler; oder er vergleicht ihn mit einem technischen Instrument wie Spiegel oder Telefon. Dieses permanente Springen von einem metaphorischen Vergleich zum anderen rückt den Analytiker in die Nähe des Sophisten von Platon […], d. h. eher einen nicht einzuordnenden Scharlatan, der sich im Gegensatz zu einem seriösen Berufsausübenden nicht von der Wissenschaft, sondern von Magie und Spielerei leiten lässt.«15 13 | Aristoteles, Poetik, Dichtung als Mimesis, Kap. 4 – 1148b4 – 1449a31. http://www. gottwein.de/Grie/aristot/aristpoet04.php, Zugriff am 01.11.2017. 14 | Vgl. Horaz: Ars poetica. 309 ff. Die Dichtkunst, Lateinisch / D eutsch, übers. u. mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer, Stuttgart 21984, S. 25 ff. 15 | Kofman, Sarah: Un métier impossible. Lecture de »Constructions en analyse«, Paris: Galilée 1983, S. 16; eigene Übersetzung.

1.  Sigmund Freud

Wie kann man also als Mann anders über die Frau sprechen denn als Forscher, der seziert, sucht und reflektiert? Das Wissen hält der Erkenntnis nicht stand. Der Scharlatan als metaphorisches Mittel ist derjenige, der nicht im Dienst der Wissenschaft arbeitet, sondern als Magier gezwungen wird, in einer talking cure zuzuhören. Für eine Frau geht es nicht um die Frage, wie darüber zu sprechen ist, sondern, darüber sprechen zu können in einem existenziell sowohl metaphysisch als auch wissenschaftlich, poetisch und psychoanalytisch mit Leben und Tod verbundenen Wissen um die Sexualität. So wird die Poesie weiblich, im Sinne von Schöpfung, nicht aber Imitation. Die Frau hält sich selbst den Spiegel vor und betrachtet ihr Ebenbild, ein verborgenes Spiegelbild von Narziss, der stets umherirrt, anzieht und bedroht. Im Angesicht des Todes subsumiert und sublimiert die Poesie das todbringende Spiegelbild und erschafft das, was immer schon zum Rest gehörte, was sich nicht fassen lässt: Poesie, Frau, Mutter. Freud ist mit der Wissensfrage zweischneidig konfrontiert: Wer stellt die Frage und wer weiß etwas über die Bestimmung der Körper in Zeit und Raum, wenn der Körper nicht von der Natur bestimmt ist? Es geht darum, sich analysierend mit den unmittelbar am Ort einer entstehenden Weiblichkeit auftauchenden Fragen zu befassen.

1.1 D ie F r au Jeder Untersuchungsansatz muss vom Geheimnis ausgehen, denn wie schon Kant sagte: »Der Mann ist leicht zu durchschauen, die Frau gibt ihr Geheimnis nicht preis«16. Und dazu Freud: »Im Grunde ist es nicht schwer zu verstehen, dass sich ein sorgfältig gehütetes Geheimnis nur durch dezente Anspielungen, allenfalls noch durch Doppel- oder Mehrdeutigkeit zu erkennen gibt.«17 Das Geheimnis ist vorhanden, und zwar bevor sich Männer, Untersuchungsrichter oder Psychoanalytiker näher damit befassen, denn es gibt eine Analogie zwischen dem Kriminellen und dem Hysteriker: In beiden Fällen geht es um etwas Verborgenes. Doch Freud weist auf den Unterschied hin: »Beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und vor Ih-

16 | Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], Stuttgart: Reclam 1983. 17 | Freud, Sigmund: »Antwort auf eine Rundfrage. Vom Lesen und von guten Büchern« [1906], in: ders.: Gesammelte Werke. Nachtragsband, Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 662 ff., hier S. 662.

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nen verbirgt, beim Hysteriker um ein Geheimnis, das auch er selber nicht weiß, das sich vor ihm selbst verbirgt.«18 Mag die Analogie auch etwas gewagt erscheinen, Freud nimmt jedenfalls eine wichtige Verlagerung vor: Der Hysteriker kann auch ein Mann sein, wenngleich die Etymologie auf den Uterus verweist. Freud hebt die Hypothek der anatomischen Determiniertheit auf. Ist dies nun ein verführerischer Trick, so wie er etwa auf der Konferenz über Fragen der Weiblichkeit mit den Begriffen aktiv / passiv angewandt wurde, oder ist es ernst gemeint? Gehen wir also davon aus, dass die Frau eine Kriminelle oder eine Hysterikerin ist, und wir werden entdecken, was in ihrem Seelenhaushalt verborgen ist. Der Psychoanalytiker oder Untersuchungsrichter ist also auch ein Detektiv: »Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters; wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden.«19 Freud stützt somit die Psychoanalyse zugleich auf die Hysterie als notwendige medizinische Etappe und eben gegen die Hysterie, d. h. gegen die Weiblichkeit, die er, gleichsam ein blinder Jäger in Wartestellung, mit offenen Ohren und geschlossenen Augen wahrnimmt. Entgegen dem, was Freud begonnen hat, werden Frauen bis heute definiert als Naturwesen, angepasst und unberührt, idealisiert. Wie lassen sich die Frauen nun heute definieren? Buytendijk 20 betrachtet die Frau unter drei Gesichtspunkten: ihrer Art des Seins, ihrer Erscheinung und ihrer Existenz: • Die Seinsart ist die sexuell bestimmte Natur als solche, die bei Mann und Frau Anlass zu einer objektiven biologischen Feststellung gibt. • Die Erscheinungsart bezieht sich ausschließlich auf den Aspekt des augenscheinlichen körperlichen Ausdrucks. Diese Ausdrucksfähigkeit manifestiert sich im Gesicht, in der Erscheinung, der Haltung, der Stimme, d. h. als nach außen gekehrte ›Innerlichkeit‹. Wir kommen später darauf zurück. • Die Art ihrer Existenz oder die Art ihres körperlichen In-der-Welt-Seins zeigt, inwieweit die Frau sich ihrer eigenen Natur und Erscheinung bewusst ist. Sich ihrer selbst, der Welt und der Bedeutung ihres eigenen Verhaltens bewusst zu sein, kann ganz spontan erfolgen oder als Realitätsbestätigung mit sich selbst als Zeugen auftreten. 18 | Ders.: »Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse« [1906], in: ders.: Gesammelte Werke. Band 7: Werke aus den Jahren 1906-1909, Frankfurt a. M.: Fischer 1947, S. 3-18, hier S. 3 f. 19 | Ebd. 20 | Buytendijk, Frederik: La Femme, Bruges: Ed. Desclée de Brouwer 1954, S. 7 f.

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Erscheinung und / oder Realität, Innerlichkeit, Geheimnis: Es dürfte im Alltagsleben wohl keine Meinung so häufig anzutreffen sein wie die, dass es unmöglich sei, die Frauen oder eine bestimmte Frau zu verstehen. Es hat den Anschein, als ob die Erfahrung uns zwingt, die Frau als Sphinx zu betrachten, als Chamäleon, als verschwiegenes, kapriziöses oder traumhaftes Wesen, auf das man sich nicht verlassen kann, ein dunkler Abgrund oder ein blendender Lichtstrahl, jedenfalls als ein werthaltiges oder defizitäres Wesen mit unverständlichen Absichten, ein Wesen, das eher schweigsam als mitteilsam ist. So liegt der Schluss nahe, dass die Welt der Frau sich mit ihr zu manifestieren, in ihr zu treffen scheint. Trotz seiner psychoanalytischen Forscherinteressen findet diese Angst vor dem Unbekannten auch Freuds Zustimmung: »Ich kann mit dem Weiblichen noch nichts anfangen, und das nährt Zweifel an allem«21. Vor der alles umfassenden Frau gerät er in Zweifel, und das führt uns zu der Analyse der Vorstellung der Frau als Mutter, Frau und Tod: »Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Lauf des Lebens wandelt: die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt.«22

1.2 S chicksalspersonen : der V ater , von M oses bis Ö dipus Freuds Entdeckung der Psychoanalyse fällt mit einem wichtigen Datum zusammen, dem Tod seines Vaters, der ihn dazu veranlasst, sich des Mythos von Ödipus zu bemächtigen. Er stellt Verbindungen her zwischen Träumen bzw. Beobachtungen bezüglich der Träume oder pathologischer Symptome und der griechischen Tragödie. Diese soll als Entschlüsselungsinstrument taugen und bedarf selbst der Interpretation. Ödipus ist die Schicksalstragödie, aus der Freud das Inzestverbot abgeleitet hat. Dazu Freud: »Der Ehemann ist sozusagen immer nur ein Ersatzmann, niemals der Richtige; den ersten Satz auf die Liebesfähigkeit der Frau hat ein anderer, in typischen Fällen der Vater, er höchstens den zweiten.«23

21 | Brief vom 5. November 1899, in: Freud: Briefe an Wilhelm Fließ. Aus den Anfängen, 1962, S. 259. 22 | Ders.: »Das Motiv der Kästchenwahl« [1913], in: ders.: Studienausgabe. Band 10: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt a. M.: Fischer 72000, S. 181-193, hier S. 193. 23 | Ders.: »Das Tabu der Virginität« [1918], in: ders.: Studienausgabe. Band 5, 2000, S. 211-228, hier S. 223.

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Der sein Gesicht verhüllende Orest ist derjenige, demzufolge es für denjenigen, der Mensch bleiben will, nicht möglich ist, die inzestuöse Vereinigung zu genießen. Freud nimmt also einen Umweg über den Mythos, der ihm ein neuer Erkenntnisweg zum Sein des Menschen wird. Wenn Freud indes diesen Mythos als Wissenserklärung versteht und analysiert, indem er das inzestuöse Verlangen des Sohnes nach seiner Mutter herausarbeitet, so entgeht ihm doch ein wichtiges Detail: Der ausgesetzte Ödipus ist an den Füßen verletzt; sein Name bezeugt es, er ist der mit dem Schwellfuß. Dieses Motiv hätte Freud kennen können. In der Sage von Sophokles durchtrennt Typhon Zeus die Fußsehnen. Es ist ein typisches Symbol, der Fuß steht für die Seele, ihren Zustand und ihr Los. Der Mythos vergleicht somit den Weg des Menschen mit seinem psychischen Verhalten, und Ödipus bleibt im Gegensatz zu Zeus verstümmelt, gezeichnet durch die von Laios dem Kind beigebrachte unauslöschliche Wunde. Vorhersage und Drohung sind noch nicht vollzogen. Der jugendliche Ödipus, der vom Orakel über das ihn erwartende Schicksal aufgeklärt ist, verlässt den Schäfer, den er für seinen Vater hält, aus Angst vor der Unabwendbarkeit, ihn töten zu müssen. Er begibt sich nach Theben, der von Laios regierten Stadt. Er ist auf dem Weg, um die Aufgabe, die die Menschen angeht, zu lösen. Das Rätsel, das ihn auf den Weg nach Theben zwingt, stellt eine Anspielung auf die Versehrtheit seines Fußes dar. Jeder Vorbeikommende steht unter der Androhung, bei falscher Lösung verschlungen zu werden. Das Rätsel, das ihm gestellt wird, lautet: Welches Tier geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Füßen? Dieses Ödipus aufgegebene Rätsel betrifft den Fuß und besagt, dass der Mensch sich über die Animalität erheben sollte. Nun musste Ödipus sich aufgrund seiner körperlichen Versehrtheit – Zeichen psychischer Unvollkommenheit – lange Zeit auf vier Füßen dahinschleppen. Er steht der je hälftig aus Frau und Löwe bestehenden Sphinx und ihrem Rätsel mehr als greisenhaftes Kind denn als Held gegenüber, gestützt auf sein drittes Bein, den Stock. Ödipus unternimmt das Wagnis. Er findet die Antwort auf das Rätsel. Die Sphinx stürzt sich ins Meer, die Stadt ist von ihr befreit. Die Lösung dieses Rätsels heißt ›der Mensch‹ und lässt sich mit dem ›Spiegel der Wahrheit‹vergleichen, in dem sich jeder Mensch wiedererkennen müsste. Die Lösung heißt also ›ich selbst‹ als moralische Abschwächung der Aufgabe. Von daher rührt auch das mysteriöse und ironische Lächeln der Sphinx. Seither gilt Ödipus als der tragische Held der Schicksalstragödie, dessen Schicksal auf die Frage nach der Herkunft der Kinder eine unklare Antwort gibt, ist er doch Vater und Bruder seiner Kinder. Die Generationsreihe ist nicht

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respektiert, und das Gesetz ist verletzt. Eine Antwort ist nicht möglich, und genau deshalb verkörpert er das Schicksal, das die einfache Wahrheit der Geburt verschleiert. »So gehorcht Ödipus zunächst unwissentlich dem Schicksal. Erst mit Beginn seines Wissens hebt seine Tragödie an«24, schreibt Camus. Ödipus ist von seiner Familie getrennt worden, er ist des Heims, wo er mit den Seinen hätte weilen sollen, beraubt worden. Was ihm als Symbol oder Zeichen der Anerkennung zugestanden hätte, wird ihm als körperliches Symptom auferlegt, ›Symptom‹ symbolisiert durch das Fortpflanzungsverbot des Königs Laios: »Die Verfehlung geht dem Symbol insofern voraus, als es das durch die Verfehlung verursachte Symptom zerstört«25, schreibt Balmary. Der Mythos König Ödipus wirft deshalb viel weiterreichende und erschreckendere Fragen auf als die nach dem Begehren: Meine These ist, dass es sich hier um nichts weniger als um die Weitergabe der Erbsünde von Generation zu Generation handelt. Die Psychoanalyse zeigt, dass, wenn ein Teil der Geschichte unterschlagen wird, dies darauf hinweist, dass Teile des persönlichen Lebens verdrängt wurden, und was Freud laut Balmary zu erwähnen vergisst, ist »die verheimlichte Verfehlung des Vaters.« Margarete Mitscherlich greift dieses Thema auf und führt dazu weiter aus: »In der psychoanalytischen Auslegung des ödipalen Mythos geht es um den Rivalitätskonflikt des Sohnes mit dem Vater. Faktisch beginnt dieser Mythos aber nicht mit dem Sohn Ödipus, sondern mit dem Vater Laios. Nach der Vertreibung aus Theben von Pelops gastlich aufgenommen, verführt der undankbare Laios dessen Sohn, Chrysippos, der sich aus Scham das Leben nimmt. Pelops’ Fluch: Laios werde wegen dieses Verbrechens dereinst durch die Hand des eigenen Sohnes fallen, führt zu dem Beschluss, Ödipus aussetzen zu lassen. Jokaste, die trotz ihres Wissens um diesen Fluch Laios zur Zeugung des Sohnes verführte, widersetzt sich dem nicht. Der Ödipus- Sage liegt mithin ursprünglich die Schuld des bisexuellen Vaters und nicht die mörderische Eifersucht des Sohnes zugrunde. Also nicht der Sohn will seinen Vater töten, weil er unbewusst seine Mutter begehrt, sondern der Vater, der sich seiner Schuld nicht stellt, entscheidet sich, seinen Sohn, der ihm zum Verhängnis werden soll, beseitigen zu lassen.« 26

Der tragische Effekt von König Ödipus liegt nicht am offenkundigen Inhalt des Dramas, sondern am latenten Sinngehalt, den Freud entsprechend seinen eigenen Phantasmen auslegt. Denn die Tragödie entfaltet Erkenntnispotenzial dadurch, dass sie Kraft der von ihr ausgehenden Faszination eine Wesensver24 | Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Berlin: rororo 1966, S. 100. 25 | Balmary, Marie: L’homme aux statues. Freud et la faute cachée du père, Paris: Grasset 1979, S. 25: »La faute est à l’origine du symptôme par la rupture du symbole qu’elle entraîne.« Eigene Übersetzung. 26 | Mitscherlich, Margarete: Die Radikalität des Alters, Frankfurt a. M.: Fischer 2010.

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wandtschaft zwischen Zuschauer und Held offenbart. Freud postuliert sodann eine Zeitlosigkeit der psychischen Strukturen, die überall und zu allen Zeiten unserer abendländischen Kultur Gültigkeit besitze. Dadurch ist für ihn die ödipale Strukturierung der Identität mit unserer Kultur verbunden. Freud hat die Theorie aus den Mythen abgeleitet und die Erkennungszeichen des menschlichen Daseins durch die Verdichtung der Konstitution der Menschen thematisiert. Die Mythologie bleibt so etwas wie die Grundlage des Triebschicksals für die strukturelle Auslegung. »Wenn ein Denker der Statur Freuds zu einer Frage, die für ihn von vitalem Interesse ist, Stellung bezieht, ist die Welt verpflichtet, ihm zuzuhören«27, schreibt Salo W. Baron, Magister von Yosef Hayim Yerushalmi. Die Gedanken über die Verbindung zwischen Mythos, Wahrheit und Wissen habe ich in Hamburg28 im August 2008 aufzuzeigen versucht. Ich gebe daraus hier einige Bemerkungen wieder. Es geht darum zu zeigen, dass die Spanne zwischen Subjektgeschichte und Diskurs durch psychoanalytische Subtilität eine Kohärenz kreiert, die sich als Theorie manifestiert. Die Genealogie wird Fabel, und die Vernunft zeigt die Unsichtbarkeit des Realen (Lacan) und die Notwendigkeit einer Arbeit über sie selbst, getragen von einer Bewegung der Geschichte, die sie nicht kennt. Das Feld der Phantasmen ist in der Literatur immens, und der Mythos als Weitergabe einer Kultur bemächtigt sich ihrer, um sie in eine ursprüngliche Erfahrung umzuformen. Die Treue zu einer gegebenen Kultur ist mit der Treue zur Kindheit vergleichbar, und sie impliziert die Beständigkeit des Mythos als individuelle Geschichte. Für Freud kommt, was die Psychoanalyse lehren kann, vom Patienten. Lacan knüpft daran an: »Die Tragödie ist im Vordergrund unserer Erfahrung für uns, die Analytiker, anwesend.«29 Es stellt sich heraus, dass viele Tragödien existieren, deren Besonderheiten darin liegen, dass sie mit einer Tragödie im Laufe der Subjektgeschichte verbunden sind, und es stellt sich auch heraus, dass Freud selber am Scheideweg seiner eigenen Geschichte mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts steht. Daher definiert er sich selber als ›Jude ohne Gott‹30 und doch als Fährmann des Judentums, als Figur der Erinnerung wie Moses, als Figur der Geschichte 27 | Salo W. Baron zitiert nach Yerushalmi, Yosef Hayim: Le Moise de Freud. Judaisme terminable et interminable, Paris: Gallimard 1991; eigene Übersetzung. 28 | Der unveröffentlichte Vortrag hatte den Titel »Moses oder ein Aufruf zum Widerstand«, Konferenz im Rahmen des Jüdischen Salons Leonar in Hamburg. 29 | Lacan, Jacques: Das Werk. Das Seminar, Buch 7. Die Ethik der Psychoanalyse [1959-1960], Weinheim / B erlin: Quadriga 1996, S. 293. 30 | Vgl. Brief von Freud an Pastor Oskar Pfister vom 9. Oktober 1918, in: Jones: The Life and Work, S. 64: »Ganz nebenbei, warum hat keiner von all den Frommen die Psychoanalyse geschaffen, warum mußte man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?«

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wie Echnaton. Freud befindet sich am Scheideweg dieser zwei Straßen, und es geht nicht darum zu beurteilen, ob und warum er sich irrt, ob Moses nun Jude oder Ägypter ist, sondern darum herauszufinden, warum diese Vater- / Patriarchenfigur der Juden für Freud ein Ägypter sein musste, der die Juden anführt. Wenn der Vater ein Fremder ist, um auf das Vokabular von Lacan zurückzugreifen, kommt unsere Identität immer von dem Anderen her. Indem Freud den mythischen Helden aufteilt, versucht er das Enigma der väterlichen Funktion aufzulösen, die das Anderssein realisiert und die doch die Identität bewahrt. Moses stellt ein Bündnis her, die jüdische Identität, womit er die heroische Figur aushöhlt. Freud musste den Mythos umschreiben, um die Andersheit des Vaters in seinem Konzept passend zu machen. Der Angelpunkt seines Konstrukts ist, dass der Vater ein Fremder ist. Mit seiner theoretischen Psychoanalyse sieht Freud die Notwendigkeit, den Mythos Moses zu ändern: »Es war der eine Mann Moses, der die Juden geschaffen hat.«31 Lacan greift auf diese Interpretation des Mythos Freuds zurück und entwickelt sein Konzept des kastrierten Vaters: Gerade das Nichtfestgelegte, das Arbiträre zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem macht das Wesen des Symbolischen aus. ›Vater‹ hat keine Bedeutung, er bekommt diese erst durch seine Unterscheidung zu ›Mutter‹ und ›Kind‹ und ›Großvater‹ usw. ›Le père, c’est si peu de chose‹ Der Vater als Meister, als Herr, wird zu einem Vater des Fehlens, des Mangels. Wenn der erste Signifikant, die erste Metapher auftaucht, steht ein Signifikant nicht allein, er kann nicht allein stehen, sondern verweist notwendigerweise auf andere Signifikanten. So liest Lacan Freud indem er das strukturelle Spiel hervorhebt, das aus dem kastrierten Vater eine Null macht und dadurch einem Subjekt erlaubt, durch einen Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert zu werden. In der lacanschen Interpretation ist der Vater der Signifikant eines Mangels am Anderen. Es gibt keinen Vater. Das ist es, was die Juden im Jahre 1939 verzweifeln lässt 32 . In der Lehre Freuds geht es in einer für die Juden Europas tragischen Zeit um die Wahrheit als Quelle unterschiedlicher Einstellungen. Man muss nach seiner Meinung einen Zugang zur Wahrheit schaffen, und das nennt er Geschichte im Sinne der Konstruktion bzw. Rekonstruktion, oder eben auch De31 | Freud, Sigmund: »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« [1939], in: ders.: Studienausgabe. Band 9: Fragen der Gesellschaft / U rsprünge der Religion, Frankfurt a. M.: Fischer 8 2000, S. 455-581, hier S. 553. 32 | Vgl. Brief von Freud an Arnold Zweig vom 30. September 1934, in: ders.: Correspondance 1873-1939, Paris: Gallimard 1966, S. 130: »Angesichts der erneuten Verfolgungen fragt man sich aufs Neue, wie der Jude zu dem geworden ist, was er ist, und warum er so unendlich viel Hass auf sich gezogen hat. Ich habe bald die Formel gefunden: Moses hat den Juden kreiert.« Eigene Übersetzung.

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konstruktion des Mythos und des Phantasmas für die Logik der Strukturierung des Menschen. Die Notion des archaischen Erbes als Angelpunkt zwischen individuellen Vorstellungen und ihrer kollektiven Form impliziert eine Definition der Kultur als System symbolischer Verbindungen, die durch den Vater übertragen worden sind.

1.3 D er F amilienroman Was Freud uns in seiner klinischen Arbeit, die bei ihm selbst Anwendung findet, auf verdeckte Weise mitteilt, ist seine Zugehörigkeit zu einer jüdischen Geschichte und zu dem Ungesagten dieser Geschichte, also zu den ›Gedächtnislücken‹, und zu einer Kultur in Form eines Sprachbades sowie zu einer Familientradition, die typisch für eine besondere Epoche ist, dem Wien der Jahre 1856 bis 1939. Die Fiktion wird sich der junge Sigismund also selbst als »Familienroman des Neurotikers« erschaffen, sich einer ›realen Familie‹ entledigen, um eine ideale Familie für sich zu erfinden. Peter Gay, ein bedeutender Biograph, merkt an: »Der Verlauf der emotionalen Entwicklung Freuds wurde weit weniger durch eine historische Überlieferung bestimmt als durch das verwirrende Geflecht familiärer Beziehungen, in dem er sich sehr schwer zurechtfand. […] Als Jacob Freud 1855 Amalia Nathansohn, seine dritte Frau, heiratete, war er vierzig, zwanzig Jahre älter als seine Braut.« 33

Die Frage, die sich Freud als Kind stellt, hätte er vielleicht auch in den Sprüchen finden können: »Drei sind mir zu wundersam, und vier verstehe ich nicht: des Adlers Weg am Himmel; der Schlange Weg auf dem Felsen; des Schiffes Weg mittem im Meer und des Mannes Weg beim Weibe.«34 Die vier Elemente bleiben also ein noch zu lüftendes und zu verstehendes Geheimnis, wobei die auf den Mann ausgeübte Anziehungskraft der Frau dem vierten Element, dem Feuer, zuzuordnen ist, dem Feuer der Liebe oder der Leidenschaft! Der Analytiker Sigmund ist bei der Arbeit, der kleine Patient Sigismund auch!

33 | Gay, Peter: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 13. 34 | Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel. Neubearbeitete Lutherübersetzung, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1965: Die Sprüche 30, Vers 18-19, S. 702.

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Im Jahr 1909 veröffentlicht Freud einen kleinen, vier Seiten langen Text: Der Familienroman der Neurotiker 35. Er spricht darin von Paranoikern, die sich selber in einem Anflug von Größenwahn eine glänzende Abstammung und außergewöhnliche Eltern erfinden. Von Moses zu Ödipus über Romulus und Lohengrin, diese Helden werden immer als gerettete Kinder dargestellt, die in einem wasserlauf im Stich gelassen oder von ihren königlichen Eltern aufgrund einer verhängnisvollen Wahrsagung den Wetterkapriolen überantwortet wurden. Zum Sterben bestimmt, werden sie auf wundersame Weise von einer pflegenden Familie aus einer niedrigen sozialen Schicht aufgenommen. Im Erwachsenenalter finden sie ihre ursprüngliche Identität wieder, rächen sich an ihrem Vater und erobern ihr Königreich zurück. Dieser Roman entspricht dem Willen, sich dem Ödipuskomplex zu entziehen. Die Kinder errichten diese Fabel, um sich vor allzu starken Gefühlen zu schützen, bei denen sich Liebe und Hass, die sie mit ihren Eltern verbindet, vermengen. Die Kinder versuchen auch, diese Enttäuschung zu überspielen: meine Eltern – nicht mehr als das; ich selber – nicht mehr als das. Der Familienroman ist folglich eine Phantasterei, die man für sich behält, von der man zwar weiß, dass sie falsch ist, an die man aber dennoch glauben muss. Dies nennt der französische Schriftsteller Louis Aragon36 das »wahre Lügen«, »le mentir-vrai«. Also erschafft die Wahrheit im wörtlichen Sinne einen Raum, in dem es darum geht, eine andere Bühne, die des Unbewussten, zu finden. Und Freud spricht vom Anfang, es ist sogar die erste Frage, die sich Sigismund stellt: Woher bin ich, was hat bewirkt, dass ich so bin, wie ich bin? Es gibt keine Antwort, wenn nicht in einer Biographie, in einem Kapitel über die Familie. Und Freud sucht, er kann nicht anders als zu suchen, und weil er mit seinem Vater das Lesen erlernt hat, anhand der Bibel, dem gewaltigen Roman der Herkunft, verdichtet er sein Wissen über die Mythen der Entstehung in einer Theogonie, veranschaulicht durch ägyptische Motive, die er dem Basisrelief von Karnak entnommen hatte. Er übermittelt uns damit durch die Dechiffrierung des einzigen Traumes seiner Kindheit, von dem er berichtet, den ägyptischen Traum.

35 | Freud, Sigmund: »Der Familienroman der Neurotiker« [1909], in: ders.: Studienausgabe. Band 4: Psychologische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer 92000, S. 221226, hier S. 224. 36 | Aragon, Louis: Le mentir-vrai, Paris: Gallimard Collection Blanche, 1980.

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1.4 D ie B ibel , R oman der hystoire und die W iedergabe des ägyp tischen Tr aums In der Schilderung seines ägyptischen Traumes, seines »Angsttraumes«, zitiert Freud die Bibel der Gebrüder Philippson. Und als Anmerkung notiert er: »Die israelitische Bibel, eine Ausgabe des Alten Testaments in hebräischer und deutscher Sprache, Leipzig 1839-54 (2. Aufl. 1858). Im Fünften Buch Mose, 4. Kapitel, sind in einer Fußnote Holzschnitte von ägyptischen Gottheiten enthalten, darunter einige mit Vogelköpfen.« Tatsächlich ist diese Bibel nach Gérard Huber37 (Schriftsteller und Psychoanalytiker) transgressiv, denn sie stellt den hebräischen Text und die deutsche Übersetzung dar sowie die Kommentare, die eine enzyklopädische Funktion haben, und sogar Illustrationen, obwohl diese in der jüdischen Tradition verboten sind. »Du sollst Dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von Himmelskörpern, sowie von irdischen und unterirdischen Gewalten.« Zweites Buch Mose, Kap. 20 Vers. 4. Sie illustriert den Text mit Motiven der ägyptischen Mythologie. Hier der Text des ägyptischen Traumes, entnommen aus der Traumdeutung: »Ich selbst habe seit Jahrzehnten keinen eigentlichen Angsttraum mehr gehabt. Aus meinem siebenten oder achten Jahre erinnere ich mich an einen solchen, den ich etwa dreißig Jahre später der Deutung unterworfen habe. Er war sehr lebhaft und zeigte mir die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck, die von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird. Ich erwachte weinend und schreiend und störte den Schlaf der Eltern. Die – eigentümlich drapierten – überlangen Gestalten mit Vogelschnäbeln hatte ich den Illustrationen der Philippsonschen Bibel entnommen; ich glaube, es waren Götter mit Sperberköpfen von einem ägyptischen Grabrelief. Sonst aber liefert mir die Analyse die Erinnerung an einen ungezogenen Hausmeistersjungen, der mit uns Kindern auf der Wiese vor dem Hause zu spielen pflegte; und ich möchte sagen, er hieß Philipp. Es ist mir dann, als hätte ich von dem Knaben zuerst das vulgäre Wort gehört, welches den sexuellen Verkehr bezeichnet und von den gebildeten nur durch ein lateinisches, durch ›coitieren‹ ersetzt wird, das aber durch die Auswahl der Sperberköpfe deutlich genug gekennzeichnet ist. Ich muss die sexuelle Bedeutung des Wortes aus der Miene des welterfahrenen Lehrmeisters erraten haben. Der Gesichtsausdruck der Mutter im Traume war vom Angesicht des Großvaters kopiert, den ich einige Tage vor seinem Tode im Koma schnarchend gesehen hatte. Die Deutung der sekundären Bearbeitung im Traume muss also gelautet haben, dass die Mutter stirbt, auch das 37 | Vgl. Huber, Gérard: L’Egypte ancienne dans la Psychanalyse, Paris: Maisonneuve et Larose 1987, S. 42 f.

1.  Sigmund Freud Grabrelief stimmt dazu. In dieser Angst erwachte ich und ließ nicht ab, bis ich die Eltern geweckt hatte. Ich erinnere mich, dass ich mich plötzlich beruhigte, als ich die Mutter zu Gesicht bekam, als ob ich der Beruhigung bedurft hätte: sie ist also nicht gestorben. Diese sekundäre Deutung des Traums ist aber schon unter dem Einfluss der entwickelten Angst geschehen. Nicht dass ich ängstlich war, weil ich geträumt hatte, dass die Mutter stirbt; sondern ich deutete den Traum in der vorbewussten Bearbeitung so, weil ich schon unter der Herrschaft der Angst stand. Die Angst aber lässt sich mittels der Verdrängung zurückführen auf ein dunkles, offenkundig sexuelles Gelüste, das in dem visuellen Inhalt des Traums seinen guten Ausdruck gefunden hatte.« 38

Einige Seiten vorher unter der Überschrift »Das Infantile als Traumquelle« hat Freud geschrieben: »Bei einer anderen Reihe von Träumen wird man durch die Analyse belehrt, daß der Wunsch selbst, der den Traum erregt hat, als dessen Erfüllung der Traum sich darstellt, aus dem Kinderleben stammt, so daß man zu seiner Überraschung im Traum das Kind mit seinen Impulsen weiterlebend findet.« 39

Dieser Kindheitsalbtraum, den er auf sein siebtes oder achtes Lebensjahr datiert, verbindet Sexualität und Angst oder genauer gesagt: Sexualität, Inzest und Angst. Nun aber liefert er uns eine Präzisierung, die mit dieser Datierung nicht zu vereinbaren ist, die des im Koma liegenden, sterbenden Großvaters. Zu diesem Zeitpunkt war Freud neuneinhalb Jahre alt, und es ist der Vater der Mutter, Großvater Nathanson, der stirbt. Freud führt eine chronologische und eine psychische Zeit der Ausarbeitung oder Durcharbeitung ein, die bis zur Vollendung 30 Jahre lang andauern wird. In diesem Albtraum sagt er uns: »die geliebte Mutter« und nicht »meine geliebte Mutter«; diese Distanz wird von einer Identitätssuche erfordert, die als nicht unterdrückbarer Öffnungsimpuls verstanden wird, einer Suche nach Wissen, einer Zurückverfolgung in Richtung Herkunftsort, um mit seiner Ursprungslinie zusammenzutreffen. Widerstand? Freud erzählt die Geschichte der Entdeckung des Unbewussten, das universelles Wissen wurde durch Verzicht auf jegliche Verankerung in Religion, eine bewusste Wahl. Dagegen bleibt er jedoch von der ägyptischen Mythologie fasziniert, von den seit seiner Kindheit bekannten Bildern: Die Mutter wird von ägyptischen Göttern davongetragen. Die zwei Ägypter, die die Mutter entführen, können als symbolische Garanten des Unterschiedes zwischen realer und phantasmati38 | Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band 2: Die Traumdeutung [1900], Frankfurt a. M.: Fischer 92000, S. 554 f. (Herv. i. O.). 39 | Ebd., S. 203 (Herv. i. O.).

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scher Mutter verstanden werden. Die Notwendigkeit einer ägyptischen Abstammung durchzieht das gesamte Leben Freuds sowie sein ganzes Werk seit der Traumdeutung, die er in einem Brief an Fließ das »ägyptisch[e] Traumbuch«40 nennt, bis zu Der Mann Moses und die monotheistische Religion über Michelangelos Moses. Die ägyptische Abstammung, die er in den Illustrationen der Bibel findet, kann er in sein »ägyptische[s] Traumbuch« integrieren. Freuds Auseinandersetzung mit der Frau als Mutter ist auf seine eigene Geschichte mit seiner Mutter zurückzuführen. Den Platz der Mutter bezeugt diese analytische Arbeit, die sich auf alle Kinder von allen Müttern bezieht, in der die Frage, die auf das Innere des Ursprungsortes verweist, erotischen Charakter besitzt, während ihre inzestuöse Realisierung durch den Todestrieb, Thanatos, gekennzeichnet ist. Die Fiktion als die in Klammern gesetzte Notwendigkeit einer Rückkehr zu den Anfängen im chronologischen Sinne ist die Voraussetzung für eine Subjektivierung. Diese Gestalten der Herkunft, die ägyptischen Götter mit Vogelköpfen, die die Mutter tragen, und nicht die der direkten Abstammung – »meine Mutter« –, stellen eine Kluft zwischen Struktur und Geschichte dar, die die ganze Analyse lang andauert. Ebenso rekonstruiert Freud diese Zeit des Unbewussten in der ägyptischen Interpretation des Phantasmas, das in der Kindheitserinnerung von Leonardo da Vinci zum Ausdruck kommt. Man erinnert sich: Die Spuren, mit denen sich Freud konfrontiert sieht, sind einerseits der Geier, der mit seinem Schwanz den Mund Leonardos peitscht, der in seiner Wiege liegt, andererseits der Geier, den Pfister in den Falten des Gewandes von Maria (in dem Bild »Anna Selbdritt«) entdeckt. Freud erinnert daran, dass der Geier in den ägyptischen Hieroglyphen feminin ist und nur durch den Wind befruchtet wird. Der Geier weist also klar auf die Mutter Leonardos hin, indem er von der Abwesenheit des Vaters Zeugnis ablegt.

1.5 D ie F r au als M ut ter Freud hat ein sehr eindrucksvolles Bild aus der Philippson-Bibel in Erinnerung behalten. Die Illustration aus einem Grab von Karnak stellt eine Totenbarke dar, die den 28-jährigen Osiris repräsentiert, »Das gute Sein«, zum ersten Mal tot, umgebracht im Zuge eines Komplotts von seinem Bruder Seth, der Inkarnation der Unordnung. Isis trauert, schneidet sich die Haare ab und begibt sich, dem Nil 40 | Vgl. Brief vom 6. August 1899, in: Freud: Briefe an Wilhelm Fließ: Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1902, S. 250: »Mit herzlichsten Grüßen und Dank für Deine Teilnahme am ägyptischen Traumbuch.«

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folgend, auf die Suche nach dem Sarg, in dem der Körper ihres Bruders / Ehemanns eingeschlossen ist. Sie findet ihn im Sumpf an der phönizischen Küste am Fuße einer Tamariske. Sie versteckt ihn zwar, aber Seth, der ihr gefolgt war, zerstückelt den Leichnam des Osiris in 14 Teile, die er sodann verstreut. Das ist sein zweiter Tod. Isis wird alle Teile wieder auffinden können, bis auf einen, den Penis. Sie wird alle Teile wieder anordnen und den Penis aus Limone und ihrem Speichel neu erstellen, dann befruchtet sie ihn als Vogel, um ihm das Leben wieder einzuhauchen. Osiris zieht sich von nun an in das Totenreich (»Champs-Elysées«) zurück, Isis gebärt Horus, ihren Sohn mit Falkenkopf. Den dritten Tod des Osiris wird ihm Echnaton bringen, der ihn zerstört, indem er alles bis hin zu seinem Namen von den ägyptischen Tempeln und Säulen löscht und selbst seinen Platz als Gott der Lebenden und Toten einnimmt. Das ist es also, was Sigismund aus dieser Bibel liest, ein Schema des mütterlichen Prinzips, eine phylogenetische und zugleich auch ontologische Konstruktion. Als er seinen ägyptischen Traum träumt, sieht er diese Repräsentation des Totenbettes mit seiner Mutter, sieht jedoch die Kastration dieser phallischen Mutter als große kastrierte ägyptische Gottheit nicht, und zwar aus gutem Grund. Aber später wird ihm bewusst werden, dass die Philippsons ein Bild unter vielen ausgewählt haben, eines des penislosen Osiris, denn man kann einen Gott nicht mit einer Erektion zeigen. Die Kastration ist ausgelöscht, in seinem Traum bezieht Sigismund sie auf seinen inzestuösen Wunsch bezüglich der Mutter, und Freud wird 30 Jahre benötigen, um das, was er Ödipuskomplex nennt, mit der Angst vor der Kastration zu verbinden. Durch diesen verstärkten Verdrängungsprozess, dem sie während der Interpretation des Traumes unterworfen wird, wird die Kastration, unabhängig von der Beschneidung, zu einem wichtigen Thema der Psychoanalyse. In seinem Traum betont er: »Nicht daß ich ängstlich war, weil ich geträumt hatte, daß die Mutter stirbt; […] Die Angst aber läßt sich mittels der Verdrängung zurückführen auf ein dunkles offenkundig sexuelles Gelüste, das in dem visuellen Inhalt des Traums seinen guten Ausdruck gefunden hatte.« 41

Das Kind Freud träumt vom unbewussten Inhalt der Bibel, der den Stoff der Psychoanalyse ausmacht. Die Beziehung zur eigenen Mutter ist von Tabus geprägt und die weibliche Figur ist nicht ohne die Figur der Mutter denkbar. War für Freud der Weg über das Mütterliche der einzige Weg, das Weibliche zu erforschen und das Rätsel zu lösen? Beide Konzepte greifen ineinander, als Spur der Angst Freuds, dass er seine Mutter eher verliere, als dass er stür-

41 | Ders.: Studienausgabe. Band 2, S. 555.

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be. Die Forschung rührt an die Generationsfolge. Die Weiblichkeit zu erkunden ist ein größeres Unterfangen. Die Bedrohung durch die Kastration ist die Grundlage einer Struktur; Freud präsentiert diese zwar, hat aber nicht die konzeptuellen Mittel einer strukturellen Berücksichtigung. Das Ursprüngliche bleibt an die Handlung gebunden, seine historische Konzeption der Abstammung ist eine Fabel, die sich selber nur auf Bilder stützt. Man kann jetzt viel besser nachvollziehen, wie durch den Verstoß gegen die jüdische Tradition, die jegliche Abbildungen, wie sie in der philippsonschen Bibel vorzufinden sind, verbietet, die verbotene inzestuöse Handlunge sichtbar wird. Für Freud waren das Weibliche, die Hysterie und die Sexualität mithin an diese urägyptische Frage gebunden, genauso wie der Tod: eine hystoire. Ist Freud der neue Ödipus, der danach trachtet, das Rätsel der Frau zu lösen, so wie Ödipus das der Sphinx gelöst hat? Als Einziger im Besitz eines Wissens, das zum Kernbestand unmissverständlicher Kenntnis des Lebens, des Todes und der Sexualität gehört, ent-deckt Freud die Lebensrhythmen, die sie bestimmenden Daten, die der Materie zugrundeliegenden Gesetze, das Leben. Und wenn er nicht die Fähigkeiten eines Magiers hat, so besitzt er doch das Wissen jener Magierin, die eines Tages als ›Metapsychologie‹ bezeichnet werden sollte. Er beabsichtigt, mittels der psychoanalytischen Methode »die Metaphysik in Metapsychologie«42 zu verwandeln. Was bleibt, ist das ›meta‹, das Danach oder Darüberhinaus, die Überschreitung von etwas, einer Grenze, die die Realität als solche sein kann, eine dem Menschen eingravierte Grenze, deren Passieren wie eine Erkenntnisspitze wirkt. Diese Transgression lässt sich an keinem anderen Thema besser anwenden, als an dem der Weiblichkeit: Das Weibliche ist das Objekt seines permanenten, leidenschaftlichen und unbedingt zu zähmenden Versuchs; und dieses bis an sein Lebensende, so wie es sein Abriss der Psychoanalyse 43 bezeugt.

1.6 D as N aturwesen F r au Während Freud sich auf den transgressiven Weg der Aufklärung der Weiblichkeit begibt, liefert Goethe eine mythisch-romantische Erklärung, wie eine Hymne an die Natur. 42 | Vgl. ders.: Gesammelte Werke. Band 4, S. 288: »Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit und dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen.« 43 | Ders.: »Abriss der Psychoanalyse« [1940c], in: ders.: Gesammelte Werke. Band 17: Schriften aus dem Nachlass 1892-1938, Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 97-138.

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Angesichts des Wesens Frau tut sich zugleich die Komplexität einerseits des Begehrens, das gefährliche Geheimnis des mit Horror und Todesdrohung belegten Enthüllens und Entschleierns des Geschlechts der Mutter auf, andererseits das heroisch eingefärbte Vergnügen desjenigen, der nicht davor zurückschreckt, die Rätsel der Natur unter Missachtung der Gesetze zu lösen, so wie sie uns Goethe in dem folgenden Auszug schildert. »Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder – alles ist neu und doch immer das alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie. Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: Aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus. Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie’s für uns, die wir in der Ecke stehen. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann. Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt’s mit vielen so im Verborgenen, dass sie’s zu Ende spielt, ehe sie’s merken. Auch das Unnatürlichste ist die Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht. Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer lässt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich, sich mitzuteilen. Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz. Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen. Die Bahn kennt sie. Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig. Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben. Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Licht. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer und schüttelt ihn immer wieder auf. Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, dass sie alle diese Bewegung mit so Wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist Wohltat. Schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht. Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle Augenblicke am Ziele. Sie ist die Eitelkeit selbst; aber nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat. Sie lässt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, tausend stumpf über sich hingehen und nichts sehen und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung. Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat; denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumt, dass man sie verlange; sie eilt, dass man sie nicht satt werde. Sie hat keine Sprache noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos. Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rau und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken. Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s immer treiben. Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe. Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist, und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.« 44 44 | Goethe, Johann Wolfgang von: »Natur« [1782], http://www.wissen-im-netz.info/ literatur/goethe/aufsatz/03.htm, Zugriff am 01.11.2017.

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Die Natur als solche, d. h. etymologisch von dem lateinischen Verb nascor kommend als die Neugeborene zu betrachten, die immer wieder ersteht, bedeutet, sich immer wieder überraschen zu lassen. Die Frau verkörpert die Natur, genauer das weibliche Geschlechtsorgan: so eine Patientin zu Freud, dem sie von ihrem Bruder berichtete, der in einem Anfall von Übermut ausrief »Natur, Natur!« Die Frau ist Natur, sie ist, wie sie ist, so als ob sie nicht geworden wäre, sondern aufgrund einer ihr eigenen Entwicklung das, was sie schon immer gewesen ist, zur Geltung bringen würde. Bei ihr sind weder Geschichte noch Zukunft angezeigt, sie ist die Unveränderlichkeit selbst, auch wenn sie sich in ihrem magischen Tanz bewegt; sie bleibt rätselhaft. Die Frau als Naturwesen zu verpflichten, heißt in archetypischer Denkart, das Wesen Frau in der Natur zu verhaften. Bereits bei dem Soziologen Durkheim wird die Frau als »primitive Natur« beschrieben, während der Mann als »fortschrittliche Kultur«45 dargestellt wird. Mutterschaft als Essenz ihrer Natur findet sich in der Tradition C. G. Jungs wieder, der als Repräsentant des Bürgertums des 19. Jahrhunderts gilt, jedoch im Gegensatz zu Freuds Aufklärungsarbeit steht. Sabina Spielrein hat versucht, die beiden zu versöhnen, oder hat sich zumindest bemüht, dass sie sich verstehen. Ihre Arbeit ist eine Mischung aus dem, was Jung ihr überträgt, und dem, was sie von den Ideen Freuds versteht. Sie wird in einer klinischen Arbeit Jungs vom September 1927 erwähnt, in der Korrespondenz zwischen Freud und Jung, genauer in den Briefen, die ihre Krankheit und später ihre analytische Karriere betreffen. Spielrein wird von August 1904 bis Juni 1905 im Spital Burghölzli bei Zürich hospitalisiert, und Jung schreibt in einem Brief vom 23. Oktober 1906: »Schwerer Fall, 20jährige russische Studentin, krank seit sechs Jahren.«46 Spielrein schreibt am 20. Juni 1909 an Freud, den sie zur Hilfe ruft: »Wir kommen an einer Analyse an, wo auf kommt, dass Dr. Jung vor einigen Jahren ein junges hysterisches Mädchen geliebt hat, mit dunklem Teint, die SW hieß, und sich immer Jüdin nannte (in Wirklichkeit aber keine war).«47 Jung bestätigt diese These, als er seinerseits an Freud schreibt: »Dann tauchte die Jüdin in anderer Form auf, nämlich in Gestalt meiner Patientin.«48 Am 20. August 1912 schreibt Freud an Sabina: »Ich gebe im Nachhinein zu, dass mir ihre Phantasie von der Geburt des Heilands aus einer Mischvereinigung gar nicht sympa45 | Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21988, S. 304. 46 | Freud, Sigmund /  J ung, Carl Gustav: Briefwechsel, Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 7. 47 | Brief von Spielrein an Freud vom 20. Juni 1909, in: Spielrein, Sabina: Entre Freud et Jung, Paris: Aubier-Montaigne 1981, S. 133. 48 | Brief vom 4. Juni 1909, in: Freud /  J ung: Briefwechsel, S. 253.

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thisch war. Während seiner antisemitischen Zeit hatte Gott ihn aus bester jüdischer Rasse zur Welt kommen lassen.«49 Am 20. Januar 1913 schreibt Freud an Sabina: »Mein persönliches Verhältnis zu Ihrem germanischen Heros ist definitiv in die Brüche gegangen. Sein Benehmen war zu schlecht.«50 Sabina Spielrein ist ungefähr im Jahr 1937 nach Russland zurückgegangen. Sie entschwand ihrem germanischen Helden, um sich mit ihren Ursprüngen zu versöhnen, wie Freud es ihr vorschlug. Sie entkommt Jung im theoretischen Sinn, um sich über die freudsche Theorie zu artikulieren, aber indem sie neue Ideen und Wege auftut. Von 1920 an erkennt Freud das, was sich Todestrieb nennt, nämlich die enge Verknotung der Repräsentationen von Leben und Tod zu jeder Zeit des Subjekts. Das verdankt Freud Sabina Spielrein51. Das freudsche Unbewusste ist eine Konstruktion, eine Fiktion, während für C. G. Jung das Unbewusste eine Materialisierung des Ursprungs ist. Jung wusste, ›wie die Natur der Frau‹ ist, und dachte nie, dass er Sabina Spielrein in der Gegenübertragungsliebe der Therapie missbrauche, sondern dass sie eine natürliche Bestimmung sei, wovon er profitierte. Was wir von dieser doppelten Konfrontation Natur und / oder Frau sowie Jung / Freud behalten, ist das Risiko des Wahnsinns oder des Todes. Freud ist sich dessen bewusst, wenn er schreibt: »Ja, Ihr habt Recht, wir zwei sind die Narren. Daß ›mea res agitur‹ 52 , daran mahnt mich energisch die Erwähnung des kleinen, unvergleichlich schönen Aufsatzes von Goethe, denn der Vortrag dieses Aufsatzes in einer populären Vorlesung war es, der mich schwankenden Abiturienten zum Studium der Naturwissenschaft drängte.« 53

Narren zu sein ist gefährlich, auch bezüglich der Konsequenzen jugendlichen Leichtsinns, der allgemeinen Lähmung, die bei dieser Gelegenheit aus der Geheimhaltung wieder ans Tageslicht gelangen, Narren angesichts der Frau, die als Trägerin wie Überträgerin von Krankheiten Gefahr signalisiert. Wahnsinn droht, mithin, aber auch Tod, denn mit Blick auf die Schicksalspersonen mit weiblichen Zügen nimmt das Schicksal für uns alle die Gestalt einer Frau (oder deren mehrere) an54, und der Mann wird von Todesangst er49 | Brief von Spielrein an Freud vom 20. August 1912, in: Spielrein: Entre Freud, S. 264. 50 | Brief von Freud an Spielrein vom 20. Januar 2013, in: ebd., S. 266. 51 | Dies.: »Die Destruktion als Ursache des Werdens«, in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse Nr. 4, 1912, S. 465-503. 52 | Meine Sache wird verhandelt. 53 | Freud: Studienausgabe. Band 2, S. 426 (Herv. i. O.). 54 | Geburtstagsbrief an Ferenczi vom 9. Juli 1913, in: Freud, Sigmund / F erenczi, Sandor: Briefwechsel, hg. von Eva Brabant und Ernst Falzeder, Band 1 / 2: 1912-1914, Wien / Köln /  Weimar: Böhlau 1993, S. 235.

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griffen. Der Rückgriff auf die Mythen ist für Freud folglich ganz und gar sinnvoll; er verlangt von »den Mythologen, Belehrung über Rolle und Herkunft der Schicksalsgöttinnen«55. Die Spekulation über die Zukunft verlängert sich in eine Aussage über die Herkunft, die diese Mutmaßung erst ermöglicht. Der Mythos gehört nicht mehr zur Menschheitsgeschichte, weil diese auf ihm beruht, sondern zu einer auf die Schöpfung bezogenen zeitlichen Ewigkeit, zur Bewältigung des Chaos. Sich auf den Mythos zu beziehen, heißt, rituell das Drama zu wiederholen, durch das der Mann seiner Angst Herr wird. Mythen sind ein Versuch der Rationalität, einen vergrößerten Raum zu erschaffen, um die Geschichte hervorzuheben. Mythen eröffnen einen Raum jenseits des logischen Denkens, die ein Mehr der Geschichte erfassen. Freud beruft sich auf die Moiren (aus dem lateinischen Parca: die Parzen), jene Göttinnen der Notwendigkeit, Hüterinnen der Naturgesetze, die, wie er glaubt, auch streng über die erforderliche Planmäßigkeit des menschlichen Lebens wachen. Es sind ihrer drei als Personifizierung des Schicksals jedes Menschen. Im Mythos von Er, mit dem Platon seine Republik beschließt, bleibt der vor Lachesis, Klotho und Atropos erschienenen Seele keine andere Wahl, als sich den unerbittlichen Gesetzen ihres neuen Geschicks zu unterwerfen: »Ohne dass es noch möglich gewesen wäre, zurückzukehren, ging es voran dem Thron der Notwendigkeit entgegen.«56 Die Wahl wurde von jedem nach Maßgabe seines individuellen Daseins frei getroffen. Nur der Philosoph ist, wenn er sich während mehrerer aufeinander folgender Leben bewährt hat, von Rechts wegen von diesem infernalischen Missgeschick der Wahlfreiheit befreit, denn wessen Bewusstsein sich dem Wissen geöffnet hat, der kann nicht mehr nach Belieben über seine Fähigkeiten verfügen, da er in einem ständigen Ideenaustausch lebt. Die Kreation der Moiren als Bestätigungsinstanz der Wahl konfrontiert den Menschen mit dem ehernen Gesetz der Natur, dem Gesetz des Todes. Atropos lehrt, sich schweigend in das Unvermeidliche zu fügen, in die Unausweichlichkeit des Todes, in die ›unannehmbare, verblüffende Notwendigkeit des Todes‹. Lachesis scheint auf den Zufall zu setzen, der sich innerhalb der Schicksalsgesetze manifestiert. Man kann sich dem nur äußerst widerstrebend beugen, denn die Absurdität und Ungerechtigkeit entziehen sich jeder Kontrolle, jeder Weisheit, auch jeder Trost verheißenden Formel57. »Und

55 | Vgl. Freud: »Das Motiv der Kästchenwahl«, S. 188. 56 | Platon: La République X. 621, Paris: Garnier-Flammarion 1966, S. 385; »Alors, sans se retourner, l’âme passait sous le trône de la Nécessité.« Eigene Übersetzung. 57 | Kristeva, Julia: Pulsions du temps, Paris: Fayard 2013, S. 27: »Les Grecs avaient entrevu la difficulté de cette représentation du maternel en imaginant trois Moires qui

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dann bliebe für Klotho die Bedeutung der verhängnisvollen, mitgebrachten Anlage.«58 Freud konnte sich nie mit Lachesis abfinden, was sich darin zeigte, dass er sein Leben nicht vor seiner Mutter verlieren wollte. »Der Verlust der Mutter muß etwas ganz Merkwürdiges, mit anderem Unvergleichbares sein und Erregungen erwecken, die schwer zu fassen sind. Ich habe selbst noch meine Mutter, und sie sperrt mir den Weg zur ersehnten Ruhe, zum ewigen Nichts; ich könnte es mir gewissermaßen nicht verzeihen, daß ich vor ihr sterben sollte. Sie aber sind jung, haben das eigentlich schönste und inhaltreichste Jahrzehnt, das von fünfzig bis sechzig, noch vor sich, und Ihre Freunde dürfen hoffen, daß Sie sich bald mit einem Unglück aussöhnen werden, das die Geleise des normalen Schicksals nicht überschreitet.« 59

Nach dem Muster von Winnicotts Befund, dass der Säugling ohne seine Mutter nicht existieren kann, zwingt laut Pommier und Scelles60 die Konfrontation mit einem Trauerfall dazu, sich daran zu erinnern, dass man ein Geschöpf der Anderen ist und deren Verschwinden mit der eigenen Existenz verbunden ist. Vladimir Jankelevitch bestätigt dies: »Der Trauerfall ist eine Angelegenheit der Lebenden: Es sind die Lebenden, die sich geschäftig kümmern und den Augenblick als Aufführung inszenieren; der Tote ist bekanntlich allem Geschäftigen enthoben.«61 Die Mutter ist eine Figur, die das Leben garantiert. Sie repräsentiert auch das Gesetz und die Notwendigkeit der Zeit, die Differenz und das, was den Unterschied zwischen Geburt und Tod ausmacht. Notwendigkeit und Geburt: Freud zwingt uns den Gedanken an den Ort, den topos auf. Eine Mutter zu haben, heißt anerkennen, dass man aus sich selbst weder das Leben noch den Tod erobern kann. Man kann diese privilegierte Beziehung zwischen Sigmund und seiner Mutter nicht ignorieren, über die er berichtet: »Es gibt indessen eine Sache, derer ich sicher sein kann: Daß tief in mir verborgen noch das glückliche Kind von Freiberg vorhanden ist, der Erstgebon’étaient que tisseuses coupant et reliant le Temps et le Chaos: la Fileuse, l’Enrouleuse de fil, la Coupeuse de fil.« Eigene Übersetzung. 58 | Freud: »Das Motiv der Kästchenwahl«, S. 190. 59 | Brief an Max Eitingon vom 01.12.1929, in: Freud, Sigmund / E itingon, Max: Briefwechsel 1906-1939, Band 2, hg. von Michael Schröter, Tübingen: Ed. diskord 2004, S. 427. 60 | Vgl. Pommier, François /  S celles, Régine: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Mort et travail de pensée. Points de vue théoriques et expériences cliniques, Toulouse: Erès 2011, S. 7-12. 61 | Jankelevitch, Vladimir: La mort, Paris: Flammarion 1977, S. 226; eigene Übersetzung.

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rene einer jungen Mutter, der aus dieser Luft, aus diesem Boden seine ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hat.«62 Eine Mutter zu haben, heißt gestehen, dass die drei unvermeidlichen Beziehungen des Mannes zur Frau »als die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin«63 für das Kind nur die Repräsentationen des Bildes seiner Mutter darstellen. Aber die Mutter eines Sechsjährigen ist noch nicht in drei Personen repräsentiert, sondern ist nur die Mutter, die versorgt. Seine persönliche Geschichte verwertet Freud wieder in seinem theoretischen Diskurs und erklärt: So erkennt jeder Mann in jeder Frau das Abbild, die Nachahmung und die Mimesis derjenigen, die ihn gewiegt und geliebt hat. Seine Mutter brachte ihm, als er sechs Jahre alt war und den ersten Unterricht bei ihr genoss, bei: »dass wir aus Erde gemacht sind und darum zur Erde zurückkehren müssen. Es behagte mir aber nicht, und ich zweifelte die Lehre an. Da rieb die Mutter die Handflächen aneinander ganz ähnlich wie beim Knödelmachen, nur dass sich kein Teig zwischen ihnen befindet – und zeigte mir die schwärzlichen Epidermisschuppen, die sich dabei abreiben, als eine Probe der Erde, aus der wir gemacht sind, vor. Mein Erstaunen über diese Demonstration ad oculos war grenzenlos, und ich ergab mich in das, was ich später in den Worten ausgedrückt hören sollte: Du bist der Natur einen Tod schuldig.« 64

Mutter heißt auf lateinisch Mater. Materia ist folglich das Element Erde. Materialistisch denken wäre dann mutterbezogen denken. »So wird im Patriarchat bei dem Symbol der ›materia‹ der Charakter der ›mater‹ entwertet und damit das ›Materielle‹ im Gegensatz zum Ideellen – das zur Vater-Mann-Seite gerechnet wird – als etwas Geringwertiges angesehen.«65 Dass Freud das aber nicht tat, zeigt, wie wichtig seine Mutter für ihn war. Im Grunde ist das, was er schreibt, keineswegs eine einfache Geschichte. Es stellt eine Vor-Geschichte dar, sozusagen einen Mythos. Ein Mythos hat, wie Lacan in der Psychoanalyse zeigt, eine Struktur in Form einer Erzählung, die einen Sinn zuschreibt. Insofern stellt er eine Fiktion dar, weil er eine enge Beziehung zur Wahrheit aufrechterhält, da die Fiktion die einzige Möglichkeit bedeutet, etwas über die Wahrheit des Subjekts auszudrücken. Dieser Mythos be-

62 | Freud, Sigmund: »Brief an den Bürgermeister der Stadt Príbor« [25.10.1931], in: ders.: Gesammelte Werke. Band 14: Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt a. M.: Fischer 1948. 63 | Vgl. Freud: »Das Motiv der Kästchenwahl«, S. 193. 64 | Ders.: Studienausgabe. Band 2, S. 215 (Herv. i. O.). 65 | Neumann, Erich: Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, Zürich: Fischer Verlag 1949, S. 60 (Herv. i. O.).

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rührt eine spezifische Tätigkeit am Rande des Imaginären und des Realen66, ähnlich wie die infantilen Theorien der Sexualität, die uns Freud bewusstgemacht hat. Und der Tod kündigt das Ende der Möglichkeit zur imaginären Rückkehr zu der Mutter als Stütze des Begehrens an. Der Tod wird durch das Bild der toten Mutter zur Wahrheit. Der Tod ist selber nicht darstellbar, wird dennoch immer besprochen. Es ist wichtig, auf diesem Zusammenhang zwischen Tod, Natur und Mutter zu bestehen sowie darauf, dass sich der Tod offensichtlich in der Nähe der Wahrheit befindet. Roland Barthes schreibt: »Die Wahrheit wäre das, was, einem vorenthalten, keine andere Möglichkeit mehr offenließe als den Tod (so wie man sagt: das Leben lohnt nicht mehr, gelebt zu werden). Etwa wie beim Namen des Golem: Emeth heißt er, Wahrheit; um einen Buchstaben verkürzt, wird daraus Meth (er ist tot).«67 Und er zitiert Grimm: »Der Golem ist ein Mensch aus Ton oder Leimen. […] Reden kann er zwar nicht, versteht aber ziemlich, was man spricht oder befiehlt. Sie heißen ihn Golem und brauchen ihn zu einem Aufwärter, allerlei Hausarbeit zu verrichten. Allein er darf nimmer aus dem Hause gehen. An seiner Stirn steht geschrieben Emeth (Wahrheit), er nimmt aber täglich zu und wird leicht größer und stärker als alle Hausgenossen, so klein er anfangs gewesen ist. Daher sie aus Furcht vor ihm den ersten Buchstaben auslöschen, so daß nichts bleibt als Meth (er ist tot), worauf er zusammenfällt und wieder in Ton aufgelöst wird.« 68

Dieser Koloss, ein mächtiger Fetisch, stellt die Negation einer von ihm verkörperten imaginären Macht und zugleich die Präsenz eines unvollständigen Wesens, eines unvollendeten Entwurfs dar, da er der Sprache nicht mächtig ist. Golem ist das hebräische Wort für »Ungeformtes«, aber auch für »Embryo«69. Auch wird eine noch kinderlose Frau Golem genannt. Um mit den Worten Lacans zu sprechen, befindet sich folglich die Wahrheit, in der Nähe des Begehrens, als Metapher einer mütterlichen Struktur, die als Musterbild einer kulturellen Beziehung fungieren wird. Die Mutter steht 66 | Laut Lacan sind die Kategorien von Gut und Böse, Leben und Tod, als Frage des Realen, Blick und Stimme als Paradigmen des In-der-Welt-Seins, Frage des Imaginären zu verstehen; die Frage der Identität und der Sprache sind als symbolische Struktur anzunehmen. Siehe Didier-Weill, Alain: Les trois temps de la Loi, Paris: Seuil 1995. 67 | Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M., Suhrkamp 2015, S. 244 f. 68 | Das schrieb Barthes in dem Artikel von »Grimm« über der Golem in der Zeitung für Einsiedler 1808, zitiert nach Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 210. 69 | Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel, Psalm 139, Vers 16, S. 674.

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nach Freud für Wahrheit und Tod und ist mit dem Unheimlichen gleichzusetzen, denn »das Weib oder das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat.« 70 Die Wahrheit ist das, was – in wörtlichem Sinn – ›Anlass gibt‹, denn es geht dabei darum, eine andere Szene zu veranlassen, die des Unheimlichen, die des Unbewussten. Die Konstituierung dieser ersten Metapher, welche Freud Urverdrängung nennt, nämlich das Begehren der Mutter als eines inzestuösen Objekts, wurde verdrängt von dem das Symbolische tragenden Namen des Vaters. Die Erweiterung von Freuds Theoriebildung der Psychoanalyse findet zwangsläufig mit der Theorie der psychosexuellen Entwicklung des Mädchens statt.

1.7 Z wischen R ealität und B egehren : D er G eschlechterunterschied Freud 71 erfasst die Entwicklung des Mädchens zur Frau als ein Geschehen von Verlust, Neid und Unvollständigkeit. Er war zunächst der Meinung, die Frau sei ein einfaches Gegenstück zum Mann, was ihn dazu veranlasste, das, was reine epistemologische Spekulation war, als Modell und Selbstzweck aufzufassen. Dann entdeckt er 1923 die präödipale Phase des Mädchens, was die Allgemeingültigkeit der These, der zufolge der Ödipuskomplex den Kern der Neurosen ausmacht, in Frage stellt. »Die Einsicht in die präödipale Vorzeit des Mädchens wirkt als Überraschung, ähnlich wie auf anderem Gebiet die Aufdeckung der minoisch-mykenischen Kultur hinter der griechischen« 72, schreibt Freud. In der bis zum Alter von vier Jahren dauernden präödipalen Phase ist das kleine Mädchen an die Mutter gebunden, und der Vater ist in seinen Augen nicht viel mehr als ein lästiger Rivale. Freud vermutet eine enge Verbindung zwischen dieser Phase der Fixierung und der Entstehung der Hysterie. Ein Vergleich zwischen der Vorgeschichte des kleinen Mädchens und der minoisch-mykenischen Kultur markiert die epistemologische Grenzziehung zwischen animistischem und zivilisiertem Denken: An Zufälle zu glauben setzt bereits ein gewisses Kulturniveau voraus, denn es bedeutet, daran zu glauben, dass alles, was geschieht, motiviert ist. Es heißt, dem kleinen Mädchen 70 | Freud, Sigmund: »Das Unheimliche« [1919], in: ders.: Studienausgabe. Band 4, 2000, S. 241-274, hier S. 267. 71 | Vgl. ders.: »Die Weiblichkeit«, S. 548. 72 | Ders.: »Über die weibliche Sexualität« [1931], in: ders.: Studienausgabe. Band 5, 2000, S. 273-292, hier S. 276.

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eine Vorgeschichte der zivilisierten Welt zuzuerkennen; eine legendäre, wilde und primitive geschichtliche Epoche, die der Reifephase einer Kultur vorausgeht: ein epochaler Bruch von einem Zeitalter zum nächsten, der durch nichts überbrückbar ist. Das war die zur Zeit Freuds herrschende Lehrmeinung, die in der mykenischen die Vorstufe der griechischen Geschichte sah, ahistorisch und unabhängig und nicht, wie heute in Anbetracht der Nutzung der LinearB-Schrift und der archäologischen Funde allgemein anerkannt und bestätigt, ihr erstes Kapitel – eine fürwahr überraschende Entdeckung! Während der Ödipuskomplex alle Beziehungsaspekte des Kindes zu den beiden Elternteilen beinhaltet, wird das Mädchen von diesem Komplex zugleich erst nach einer Vorbereitungsphase erfasst, die unter negativen Vorzeichen steht. Das kleine Mädchen verlagert nach seiner präödipalen Fixierung auf die Mutter in der Tat sein Liebesobjekt von der Mutter auf den Vater. »Während der Ödipuskomplex des Knaben am Kastrationskomplex zugrunde geht, wird der des Mädchens durch den Kastrationskomplex ermöglicht und eingeleitet.« 73 Dieser Komplex bestimmt für Freud »eine fundamentale Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Art, wie der Mensch darin seinen Platz findet und ihn sich zu eigen macht.« 74 Daraus ergeben sich zwei Etappen, die bis heute Knotenpunkte der Diskussion über Weiblichkeit sind: • In dem Maße, wie sich die Weiblichkeit herausbildet, verlagert sich das Empfindungsvermögen ganz oder teilweise von der Klitoris zur Vagina: »In der weiblichen Entwicklung gibt es so einen Prozess der Überführung der einen Phase in die andere, dem beim Manne nichts analog ist.« 75 • Während die Mutter, da sie die Erfüllung der essentiellen Überlebensbedürfnisse sicherstellt, das erste Objekt der Hinwendung darstellt, wird der Vater als Mann zum neuen Liebesobjekt. »Dem Geschlechtswechsel des Weibes muss ein Wechsel im Geschlecht des Objekts entsprechen.« 76 Welche Faktoren sind für diesen Prozess ausschlaggebend? Das kleine Mädchen ist auf die anderen Familienmitglieder, auf Brüder und Vater, eifersüchtig, die ebenfalls die Liebe der Mutter teilen: Die kindliche Liebe, schreibt Freud, ist maßlos, sie verlangt Ausschließlichkeit und gibt sich nicht mit ›Anteilen‹ zufrieden. Dieses Thema des Anspruchs des Kindes an die 73 | Ders.: »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« [1925], in: ders.: Studienausgabe. Band 5, 2000, S. 253-266, hier S. 264. 74 | Laplanche, Jean /  P ontalis, Jean-Bertrand: Le vocabulaire de la psychanalyse, Paris: PUF 1967, S. 73; eigene Übersetzung. 75 | Freud: »Über die weibliche Sexualität«, S. 278. 76 | Ebd.

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Mutter wird bekanntlich in der analytischen Theorie von Lacan aufgenommen und in seiner folgenreichen Bedeutung herausgearbeitet. Das kleine Mädchen wendet sich von seiner Mutter ab unter dem Einfluss des Kastrationskomplexes: Es hat seine ›organische Minderwertigkeit‹ entdeckt, wirft seiner Mutter vor, ihm keinen Penis gegeben zu haben, und macht sie dafür verantwortlich. Sie hat es als Frau geboren! Freud leitet die Entwicklung des Mädchens vom Komplex der Kastration ab. Er zögert nicht, lässt aber diese Hypothese nicht ohne Bedenken stehen. Das kleine Mädchen beschuldigt in seiner Vorstellung die Mutter, es aufgrund der Geburt eines jüngeren Geschwisterchens nicht ausreichend und lange genug gestillt zu haben. Vor allem aber wirft das Mädchen der Mutter vor, es verführt zu haben, indem sie im Zuge der täglichen Körperpflege seine sexuelle Aktivität angeregt und damit eine phallische masturbatorische Aktivität angestoßen habe, die von der Mutter selbst indessen sogleich wieder unterdrückt wurde. In der phallischen Phase machen sich auch starke aktive Gefühlsregungen gegen die repressive Mutter bemerkbar. Und während sich das Mädchen von der Mutter abwendet, ist eine starke Reduktion der aktiven sexuellen Regungen zu beobachten: Das väterliche Liebesobjekt gewinnt aufgrund der passiven Impulse die Oberhand. Dennoch macht Freud geltend, dass all diese Motivierungen zur Rechtfertigung der endlichen Feindseligkeit unzureichend zu sein scheinen.77 Freuds Position bleibt dadurch bestimmt, dass er versucht, die Weiblichkeit von der Gegenüberstellung zur psychosexuellen Entwicklung des Jungens abzuleiten. So kann das kleine Mädchen nach Freud durch die Ablösung von der Mutter den Weg der Weiblichkeit einschlagen, einen gewundenen Weg, der unter dem Einfluss der Kastration zum Ödipuskomplex führt. Das Mädchen wird den »Verzicht auf den Penis […] nicht ohne einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären.« 78

Das Mädchen wendet sich gekränkt von der Mutter ab und stattdessen hin zum Vater, von dem es sich einen Penis erhofft und sich schließlich die Zeugung eines Sohnes wünscht, der ihre Vollständigkeit restauriert. Der entscheidende Wendepunkt ist bei Freud die Entdeckung der Kastration, markiert er doch zugleich den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Weiblichkeit, aber auch der Neurosen, Perversionen und Depressionen. Freud 77 | Vgl. ebd., S. 284. 78 | Ders.: »Der Untergang des Ödipuskomplexes«, S. 250.

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schreibt: »Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit.« 79 Das ›überlegene‹ Männliche wird zum Ideal einer Vorstellung, zum Maßstab, an dem das Mädchen gemessen wird. Ich zitiere Lilli Gast: »Die Konsequenz einer solchen Herangehensweise aber ist, dass die begriffliche und metatheoretische Bestimmung von ›Weiblichkeit‹ diskursiv nur mehr in der quantitativen Differenz zum Männlichen repräsentierbar wird, dass im Grunde genommen die Abweichung, der Mangel im Vergleich zum normativ Männlichen vordergründig gegenstandsbildend ist.« 80

So kann Freud auf dem primären Charakter des Penisneids bestehen, will sagen auf der Macht der frühreifen infantilen Fixierungen: Die phallische Aktivität wird verdrängt, und genau dadurch wird die Herausbildung der Weiblichkeit eingeleitet. Er sucht weiter. 1931 kommt Freud in dem Text Über die weibliche Sexualität auf diesen Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, zurück, allerdings nicht als Manifestation der Weiblichkeit, sondern als Identifikation mit der Mutter. Das Kind wird zum Symbol von Weiblichkeit. Und dies schließt für ihn die Vorgeschichte der Frau ab, die endlich einen Ort des Friedens und der Ruhe, einen Hafen findet. Die nicht geklärten Bestimmungsgründe der Weiblichkeit sind ein Geschenk, insofern sie eine Offenheit in der weiteren Entwicklung der Theorie bedeuten, sodass Alizade die Vorzeichen umdrehen und die Formulierung wagen kann: »Es ist das Privileg der Frau, keinen Penis zu besitzen.« 81 Damit kehrt sie die schicksalhafte Determiniertheit der Anatomie um. Dennoch ist die von Alizade vertretene Position ambivalent. In der von Freud entdeckten latenten Ruhephase liegt die für die weibliche Konstitution grundlegende Depression. Es ist tatsächlich so – und die Psychoanalytiker der kleinschen Schule, die unter Einbeziehung der frühesten Stadien der Kindheit arbeiten, wissen es –, dass die depressive Neigung auf den Ödipuskomplex zurückzuführen ist. Pathologische Symptome als spezifische Züge der Entwicklung erlauben im Rückblick ein Verständnis in der Konstitution der Weiblichkeit, und im klinischen Bereich werden Hysterie und Depression davon abgeleitet. Die Arbeiten Kleins und ihrer Nachfolger haben den Blick auf die depressive Phase beim Säugling sehr erweitert. Das Grundlegende für die Depression wird hier wieder aufgegriffen. Die Entwicklung der Beziehung zur Mutter könnte einen Moment der Haltlosigkeit im Leben darstellen, »[w]enn der diatrophisch-anaklitische ›Container‹ 79 | Ders.: »Über die weibliche Sexualität«, S. 279. 80 | Gast: Libido und Narzissmus, S. 144 f. 81 | Alizade: Weibliche Sinnlichkeit, S. 98.

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des Subjekts, um auf das Vokabular von Spitz und Bion zurückzugreifen, als ein Garant von Schutz, Wärme, Geborgenheit, Entspannung und Regeneration versagt.«82 Etwas bleibt ungelöst in der Beziehung zur Mutter, wenn »eine Anzahl von weiblichen Wesen in der ursprünglichen Mutterbindung steckenbleibt und es niemals zu einer richtigen Wendung zum Manne bringt.[…] Die präödipale Phase des Weibes rückt hiermit zu einer Bedeutung auf, die wir ihr bisher nicht zugeschrieben haben.«83 »Das einschneidendste Ereignis für die weibliche Psyche ist die Enttäuschung des Mädchens über die Inexistenz eines Phallus, von dem es jedoch geglaubt hatte, dass es ihn besitze. Diese mit Wut und Nostalgie gemischte Enttäuschung mündet schließlich in einen ausgeprägten Neidaffekt: den Penisneid. Und viel später hat Freud seine Kastrationstheorie ergänzt […] durch einen anderen als den Neidaffekt, durch den der Angst. Einer Angst nicht etwa um den Verlust des Penis / P hallus, den sie nie besessen hat, sondern um den jenes unschätzbaren anderen Phallus, die Liebe des geliebten Objekts. Die Kastrationsangst der Frau ist somit nichts anderes als die Angst um den Verlust der Liebe des geliebten Menschen« 84,

betont dann Nasio. Der Vater kann also kein Liebesobjekt oder begehrtes Lustobjekt sein, wie die Mutter es gewesen ist, sondern wird zum narzisstischen Objekt des phallischen Ersatzes, »da er selbst ja im Besitz narzisstisch-phallischer Vollständigkeit zu sein scheint.«85 Um die Figur des Vaters spielt sich das Drama der Frau – ein hysterisches Drama – ab: Die Verführungsszene durch den Vater ist der Angelpunkt, um den sich für Freud das Reale dreht, und in der Struktur der Szene selbst lokalisiert er alsdann das Phantasma. »Das Mädchen muss in seiner schmerzlichen Wendung zur Weiblichkeit / Passivität auf sein sexuelles Begehren verzichten, um sich narzisstisch restituieren zu können, es muss das passive Geliebtwerden selbst […] narzisstisch besetzen.« 86 Die narzisstische Lie-

82 | Döser, Johannes: »Jetzt ist es zu spät …«. Ein Beitrag zur Depression im Kindesalter, dargestellt am Initialtraum und seiner Verarbeitung, in: Depression im Kindes- und Jugendalter. 29. Workshop zur Psychoanalyse mit Kindern und Jugendlichen der Universität Kassel, Arbeitshefte 42, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel Verlag 2008, S. 41-72, hier S. 41. 83 | Freud: »Über die weibliche Sexualität«, S. 276. 84 | Nasio, Juan David: Introduction aux œuvres de Freud, Ferenczi, Groddeck, Paris: Payot-Rivages 1994, S. 59 f.; eigene Übersetzung. 85 | Gast: Libido und Narzissmus, S. 147. 86 | Ebd., S. 149.

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be hat Vorrang vor der Liebe des Objekts, denn es geht darum, auf das Liebesobjekt zu verzichten, um die Integrität seiner Person zu retten. Freud hat die weibliche Konstitution von der Hysterie abgeleitet. Sein Konzeptualisierungsversuch zur Depression wird jetzt Thema sein. Die freudsche Theorie zur Weiblichkeit kennt damit nur die zwei Entwicklungslinien. Die Frau ist per se entweder der Reminiszenz oder dem Ressentiment zugeneigt, denn sie vergisst nicht, dass sie eine Wahl hat treffen müssen und dass sie eine duale Konstitution aufweist. Die Reminiszenz ist der Hysterie zuzuordnen 87 und das Ressentiment der Depression. Die Theorie über das Weibliche hat eine Verankerung in jahrhundertealten Auffassungen und Mythen, die eine Dualität aufweisen. Dualität bezogen auf die weibliche Regel: Als Hüterin der Zivilisation ist sie Mutter und Ehefrau, und zum anderen bezogen auf die vorgeschriebenen Regeln, weil sie natürliche Unregelmäßigkeiten, Widersprüchlichkeiten, Ordnung und Unordnung, Abweichungen verkörpert. Und genau in dieser natürlichen Periodenabfolge nistet sich die Furcht, der immanente Schrecken ein, denn die Frau ist der Ort der unrealisierbaren Kompromisse, der imaginären Übergänge, des symbolischen Abseits. Dazu gehören die Grenzbereiche der Geburt und des Todes, was die Hebammen in Verruf gebracht hat, Hexen zu sein. Diese Dualität ist nicht weit vom Diabolischen entfernt, etymologisch das, was trennt, separiert und teilt. Der Teufel ist das Doppelte: »Der böse Dämon des christlichen Glaubens, der Teufel des Mittelalters, war nach der christlichen Mythologie selbst ein gefallener Engel und gottgleicher Natur. Es braucht nicht viel analytischen Scharfsinn, um zu erraten, dass Gott und Teufel ursprünglich identisch waren, eine einzige Gestalt, die später in zwei mit entgegengesetzten Eigenschaften zerlegt wurde. […] Wenn der gütige und gerechte Gott ein Vaterersatz ist, so darf man sich nicht darüber wundern, dass auch die feindliche Einstellung, die ihn hasst und fürchtet und sich über ihn beklagt, in der Schöpfung des Satans zum Ausdruck gekommen ist. Der Vater wäre also das individuelle Urbild sowohl Gottes wie des Teufels.« 88

Aufgrund ihres Doppelwesens wird die Frau als Hexe gesehen. Die Erwähnung von Hexen taucht bei Freud 1897 auf, als er die Parallele aufdeckt zwischen dem, was er im Malleus Maleficarum der beiden dominikanischen Inquisitoren Sprenger und Institor entdeckt, und dem, was er bei seinen Patientinnen feststellt. »Wir dürfen nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zei87 | Vgl. Breuer, Josef /  F reud, Sigmund: Studien über Hysterie [1895], Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 86: »der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen«. 88 | Freud, Sigmund: »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert« [1923], in: ders.: Studienausgabe. Band 7: Zwang, Paranoia und Perversion, Frankfurt a. M.: Fischer 7 2000, S. 283-319, hier S. 301.

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ten im dämonologischen Gewande auftreten, während die der unpsychologischen Jetztzeit im hypochondrischen, als organische Krankheiten verkleidet, erscheinen.«89 Die Hexen sind demnach hysterisch. Lesen wir, wie Françoise Mallet-Joris eine solche Frau beschreibt: »Sie übte selbst noch in reifen Jahren die Faszination aus, die ihr seit der Kindheit eigen war. Sie war immer von dieser Bewunderung, dieser ein wenig unklaren Neugierde umgeben, die ihre Aura ausmachte. Ihr Wesensmerkmal war von jeher die Zwiespältigkeit, die Fähigkeit zu Gesten der größten Freigiebigkeit, zu den höchsten Mutmaßungen, von seltener Strenge, dabei jedoch von beunruhigender Geschicklichkeit, mit einer Verführungskunst und einer Autorität versehen, die einen verwirren konnte.« 90

Und widersinnigerweise findet die Hexe auf der Ebene des Phantasmas in der vom Inquisitor empfundenen Faszination oder in dessen Abscheu jene persönliche Macht wieder, die ihr versagt wird. »Wer im Fruchtbaren nur das Furchtbare sieht, kann selbst nicht fruchtbar, sondern nur furchtbar werden«91, schreibt Scherf in ihrem Buch. Freud erkennt in den hysterischen Geständnissen die Hexen von damals. Oder präziser formuliert, erkennt er den grundlegenden Unterschied zwischen den Geständnissen der Hexen von damals und den »Geständnissen« seiner Patientinnen in der analytischen Kur. Aber das Wissen um die Hexen kann nicht das Wissen der Psychoanalyse sein. Die Verfahren der Inquisition zielen darauf ab, ein Geständnis zu erpressen. Wir sprechen von Geständnissen, denn Ziel des Verfahrens ist, dass die Befragte zugibt, vertritt und ausspricht, was es mit ihrem Begehren auf sich hat, und die fortschreitende Entwicklung des Verfahrens basiert auf dem Prinzip der angenommenen universellen und absoluten Macht der Wahrheit im Sinne der Inquisitoren. Diese Erkenntnis der Hexe hat Freuds Versuch vereitelt, die Priorität des Phallus und den Nachweis der Allgemeingültigkeit, die dem Status der Kastration zukommt, hervorzuheben. So stellt die Hexe in der freudschen Psychoanalyse ein Abbild der Verdichtung dar. Hexe ist diejenige, die mit diabolischen Mitteln etwas zu erreichen versucht. Sie »ist die entfesselte Leidenschaft im Rahmen einer unaufhörlichen Überschreitung«92, schreibt Bataille.

89 | Ebd., S. 211. 90 | Mallet-Joris, Françoise: Trois âges de la nuit, Paris: Grasset 1970, S. 219; eigene Übersetzung. 91 | Scherf, Dagmar: Der Teufel und das Weib. Aspekte einer Kulturgeschichte des »Bösen« [1990], Nachdruck, Frankfurt a. M.: VAS 2002, S. 206. 92 | Bataille, Georges: Die Erotik [1957], München: Matthes & Seitz 1994, S. 63.

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Bei den Überlegungen zum Thema ›Frau‹, die Hexe als Prüfstein einzusetzen, erscheint eine Beschäftigung mit der Konversion als folgerichtig: hier die Symbolisierung eines Konflikts in der Darstellung einer Symptombildung und seine schmerzliche Lösung in der Krankheit Hysterie, dort diese umgekehrte Figur der christlichen ›Konversion‹, der symbolische Pakt mit dem Teufel, der ebenfalls nur abgeschlossen wurde, um einer inakzeptablen Situation abzuhelfen. Das Symptom der Hysterie taucht dort auf, wo ein Symbol bezüglich des Diaptoms fehlt (griechisch diaptoma bedeutet Fall, Fehltritt, Fehler). Die Hysterikerin lebt ihr Phantasma in der Realität aus: »Die Kranke mit der einen Hand (als Mann) das Kleid herunterreißt, während sie es mit der anderen (als Weib), an den Leib preßt.«93 Sie spielt gleichzeitig die Rolle des Mannes und der Frau, heißt es bei Catherine Clément und Hélène Cixous94 . Ebenso bei Freud: Durch zwei Gesten, zwei Hände und ein Kleid entstehen auf hilflose Weise symbolisierte Trugbilder – ein Doppelspiel, auch hier wieder die Kondensierung der Bisexualität in einem Symptom, mithin körperliche Konversion, Ausdruck eines unbewussten Doppelphantasmas, einer doppelten Identifikation mit Verbergen und Zurschaustellung. Die Hysterie ist somit Vergegenwärtigung und Erinnerung an die verlorene erogene Zone, abgeleitet aus der Körperhaltung. In der Behandlung geht es darum, die Patientin zur Aufgabe einer direkten und unmittelbar erwartbaren Lustbefriedigung zu veranlassen; die Hysterikerin will allerdings auf nichts verzichten, sie will nichts verlieren. Das ist für Freud der Beweis, dass die Entwicklung zur ›normalen‹ Weiblichkeit nicht ohne einen Verlust zu haben ist, und zwar den des Primats der Klitoris zugunsten der Vagina als primäre erogene Zone, denn dies macht die Patientin zur Gewinnerin einer »reifen Weiblichkeit«95. Aber so kommt das ›Weib‹ nicht zu eigenem Begehren, und anhand dieser negativen Tendenz zeigt uns Freud, wie sich Weiblichkeit und Depression überlappen. Er schreibt: »Die Melancholie bestünde in der Trauer über den Verlust der Libido.«96 So weit ist Freud gekommen, das Rätsel bleibt dennoch die Frage, vor der der Mann Freud steht: Warum zeigt sich die eingebildete Verführung durch Vater oder Mutter als Hindernis des wirklichen Wunsches, tatsächlich verführt zu werden? Wie kann man den Weg bestimmen, den das Begehren nimmt, um sich als Symptom zu aktualisieren? 93 | Freud, Sigmund: »Allgemeines über den hysterischen Anfall« [1909], in: ders.: Studienausgabe. Band 6: Hysterie und Angst, Frankfurt a. M.: Fischer 92000, S. 197-203, hier S. 200. 94 | Vgl. Clément /  C ixous: La jeune née, S. 110. 95 | Freud: »Die Weiblichkeit«, S. 562. 96 | Freud: Briefe an Wilhelm Fließ: 1887-1902, S. 92.

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Was die Frau rätselhaft erscheinen lässt, ist deshalb nicht mehr ihre durch Geburt erworbene Unzulänglichkeit, ihr ›Seinsmangel‹, sondern ihr überbordender Narzissmus. Sie trägt diese schöne Indifferenz zur Schau, und der Mann bewundert und beneidet sie darum, dass sie diesen Narzissmus hat beibehalten können: In der Hysterikerin sieht der Mann die Frau schlechthin, sie repräsentiert seinen verlorenen eigenen, nach außen projizierten Narzissmus. Sie ist unangreif bar. Schließlich ist dies die Erkenntnis, die die Hysterikerin Freud bringt. Sein Weiblichkeitskonzept endet in der normativen Bestimmung einer vorherrschenden sozialen Umwelt. Diese ›analytische Konstruktion‹ mündet in eine Sackgasse, die uns in höchstem Maße interessiert. Freud stellt fest, dass der exzessive Narzissmus der Frau die Ausmaße eines archaischen Egoismus annimmt, der sich nur durch die Schwangerschaft in eine objektbezogene Liebe umformen lässt: Das Kind wird alsdann als Verlängerung des eigenen Körpers erlebt, und die Frau stützt ihre Mutterliebe auf die Versorgung, die sie ihrem Kind angedeihen lässt. Einmal mehr scheint hier die Mutterschaft als Alternativlösung zur Psychoanalyse zu fungieren, insofern sie der Frau ihre ›fehlende Ganzheit‹ zurückgibt. In dieser normativen Bestimmungslinie Freuds ist auch Salomé steckengeblieben. Sie zitiert Goethe: »Gib wie eine Frau gibt, wenn sie liebt; die Frucht des Geschenks bleibt in ihrem Schoß.«97 In dieser Dualität von Geben und Nehmen ist das Rätsel nicht nur der Weiblichkeit verborgen, sondern der Mutterwerdung, Angelpunkt der Theorie, aber auch Ungewissheit: Gegenüber dem Felsen der Weiblichkeit gelangt man an die Grenzen seiner Möglichkeiten.98 Nach der Triebtheorie ist für Freud durch die libidinöse Entwicklung der Weiblichkeit im Mütterlichen das Geben enthalten, als Verpflichtung, etwas geben zu müssen. Du musst das Leben an die Natur geben. So gilt gleichzeitig der Wunsch für die Zukunft der Eltern als Ursprung für die Geburt eines Kindes in der Zukunft, und als Schuld der Eltern, die Großeltern dem Tode näherzurücken.99 Wir tilgen die Schuld des Lebens mit dem Fleisch des Kindes, das unser Tribut an das Leben ist, das uns gegeben wurde. Die Schuld, die diesem Erbe im 97 | Briefe vom 12. und 14. März 1913, in: Salomé: Das Erlebnis Freud. 98 | Vgl. Freud, Sigmund: »Die endliche und die unendliche Analyse« [1937], in: ders.: Studienausgabe. Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt a. M.: Fischer 52000, S. 351-392, hier S. 392. 99 | »Sehr zentral war für mich das Thema ›Generationenwechsel‹ bzw. ›Tod‹. Mit dem Gefühl konfrontiert zu sein, dass insbesondere die eigenen Eltern älter werden, hat mir sehr zu schaffen gemacht. Dies einmal offen anzusprechen, war enorm wichtig – die wenigsten werden hierüber wohl mit den eigenen Eltern sprechen.« So unterstreicht eine meiner Patientinnen mit PPD die Wichtigkeit dieses Themas.

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Imaginären geschuldet ist, wird durch die Erschaffung eines Erben getilgt, in dem sich Leben und Leere in der Schwangerschaft und schließlich in der Niederkunft vereinen. Die symbolische Versuchung, diese Schuld gegenüber den Eltern, d. h. der vorhergehenden Generation, abzutragen, trifft zusammen mit dem Schuldgefühl bei der Entdeckung und dem Genießen der Sexualität, wenn man selbst Mutter oder Vater wird und die Eltern im Zuge des unaufhaltsamen Ablaufs der Zeit dem Tod näherbringt. Es ist schwierig, gleichzeitig Kind und Elternteil zu sein, weil mit der neuen Elternschaft der als aggressiv verstandene Akt verbunden ist, die eigenen Eltern auf den Platz derjenigen zu verweisen, die als nächste in der Generationsreihe sterben werden. Die Schwangerschaft ist ein point of no return100 und wird sich in einen Verlust verwandeln. Dadurch ist Geben mit einer Beeinträchtigung verbunden, ist ein Verzicht auf das Genießen, das die Schwangerschaft aktiv symbolisieren muss. Geben, Zurückgeben, der Sinn des Gebens als Tausch zwischen Mutter und Kind dienen der Milderung der Schuld als gegenseitiges Verlangen. Die ödipale Restrukturierung beeinflusst die libidinöse Konfliktkonstellation der Weiblichkeit und droht bei der Geburt des eigenen Kindes, den Weg in die Depression einzuschlagen. Was fehlt, fehlt immer am gleichen Ort, und in dieser Hinsicht ist Weiblichkeit die Wahrheit der Kastration, die »Kastrationswahrheit«101, wie Derrida schreibt, denn die Frau war schon immer kastriert gewesen. Die Hysterikerin lässt Freud mithin erkennen, dass sich »die Wahrheit in einer fiktiven Struktur kundtut […] So bezieht die ›Wahrheit‹ ihre Garantie von anderswo her als von der Realität, mit der sie zu tun hat: nämlich vom Sprechen. Wie sie von ihm auch das Kennzeichen empfängt, durch das sie ›auf eine Fiktionsstruktur gegründet wird‹.«102 Um Sarah Kofman zu paraphrasieren, ließe sich anmerken, dass »das von Freud unternommene Auf klärungsprojekt besser einem Verschleierungsunternehmen ähnelt: D. h. okkult, weil autoritär postuliert und selbstbezogen.«103 100 | Vgl. Bibring, Grete et al.: »A study of the psychological process in pregnancy and of the earliest mother-child relationship«, in: Psychoanalytic Study of the Child 16, 1961, S. 9-72. 101 | Derrida, Jacques: La carte postale. De Socrate à Freud et au-delà, Paris: Flammarion 1980, S. 469. 102 | Lacan, Jacques: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 808, zitiert nach Nemitz, Rolf: Lacan entziffern, Blog, https://lacan-entziffern.de/texte/die-schriften/die-schriften-2/, Zugriff am 01.08.2014. 103 | Kofman, Sarah: Séductions de Sartre à Héraclite, Paris: Galilée 1990, S. 108; eigene Übersetzung.

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Es ist monistisch. Die Kritik der Feministen und Psychoanalytiker richtet sich an den Mann Freud, als Kind seiner Zeit. Rhode-Dachser prangert also den phallischen Monismus und die Ergänzungsbestimmung des Weiblichen an, die durch die Bibel verbreitet und vom Begründer der Psychoanalyse aufgegriffen wird, an, um die Geschlechterrelation als gottgewollt legitimiert und gleichzeitig Phantasie vom Mann als Menschen und Krone der Schöpfung zu dekonstruieren. Sie schreibt: »Der biblische Mythos der Erschaffung der Frau kann als Paradigma dieser für das Patriarchat konstitutiven Geschlechterrelation verstanden werden.«104 Die Versuche, das Mann-Frau-Verhältnis zu erläutern, fußen also auf einer Interpretation eines Gründermythos der Schöpfung: »Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. […] Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.«105

Wenn man von Freuds phallischer Logik ausgeht, bekommt die Kategorie des Mangels oder des Negativen ihre Begründung. David-Ménard schreibt: »Die Negation hat keinen Bezug zum Nicht-Sein, sie bezieht sich auf den Unterschied zwischen Ausgeschlossensein und Existieren. […] Das Akzeptieren des Geschlechtsunterschieds durch unser Denken und unsere Wahrnehmung zwingt uns dazu, aus der halluzinatorischen Allmacht unserer Wünsche hinauszutreten.«106

In Bezug auf die Konzeptualisierung der Weiblichkeit und ihre Anlehnung an die religiös geprägte Auffassung scheint mir die Existenz der Frau mit der Frage des Geschlechtsunterschieds verbunden. Könnte man in der Art der Geburt Evas einen Schnitt wahrnehmen, vergleichbar mit dem Kaiserschnitt oder mit der Kastration, ohne dass man dafür vielleicht einen direkten Beweis führen kann? Ich behaupte, es geht in Be104 | Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin / H eidelberg: Springer 1991, S. 98. 105 | Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel, Genesis, Kap. 2, Vers 18-23, S. 11 (Herv. i. O.). 106 | David-Ménard, Monique: »Welchen Begriff der Negation brauchen wir, um die Negativität des Begehrens psychoanalytisch zu denken?«, in: Brede, Karola (Hg.): Nein, Verneinung, Konstruktion, Tübingen: Ed. diskord 2004, S. 9-20, hier S. 11 und S. 18.

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zug auf die Weiblichkeitskonstitution jedes Mal um etwas nicht Integres, nicht Eins-Seiendes, nicht Vollkommenes, und zwar ausgehend von Religion, von Gesellschaft und von (abendländischer) Kultur. Es scheint, als ob es eine Vervielfachung des Schnittes gäbe, besonders bei der Geburt einer Frau: zuerst Teil des Körpers des Mannes, »indem in der Figur des Vaters verschiedene Funktionen vereinigt sind, wie Vaterschaft, Autorität und Gesetz«107, dann als von der Mutter durch den Nabelschnurschnitt getrenntes Kind und endlich in ihrem eigenen Körper als symbolisch kastriert. Die verschiedenen Repräsentanten der Weiblichkeit, die diesen monistischen Diskurs nicht akzeptieren, sind paradoxalerweise diejenigen, die auf der weiblichen Seite für die Generationsreihe zuständig sind. Es sind die frühen Hebammen, die Hexen, die den autoritären, männlichen Diskurs nicht wiederholen. Das mütterliche Geschlecht ist der Ort, aus dem jeder hervorgegangen ist und der alle ethischen Werte zusammenfasst, die ein Mensch in sich hat. Der gemeinsame Punkt zwischen der Urszene und den religiösen Idealen ist die Frage nach dem Ursprung. Die weibliche Sexualität und besonders die Sexualität der Mutter sind tabuisiert und werfen die Frage nach dem Begehren der Weiblichkeit auf. Wenn Freud die Hysterie mit Besessenheit, Teufel und Hexen verbindet, macht Lacan aus der Frage des Mannes: »Was will die Frau?«, die Frage des Teufels an ebendiese Frau: »Was willst Du?« Das Weibliche leistet Widerstand, protestiert. Lacan führt Freuds Untersuchung über die psychosexuelle Genese der Weiblichkeit mithilfe seines Konzepts des weiblichen Begehrens an und stellt direkt die Frage an die Frau als Subjekt. Die bekannte Frage »Was will das Weib?« wird unbeantwortet bleiben. Eine Frau zu fragen, was sie weiß, was sie definieren kann, hieße laut Alizade, sie aus dem Ort ihrer Weiblichkeit zu entfernen. »Auf jeden Fall wird sie die lähmenden, ödipalen Geister verscheuchen wollen, um so den Weg der Regression zu finden und sich willig, widerstandslos in die Arme des Mannes sinken zu lassen, der sie an dem von ihr halluzinierten Ort der Selbstaufgabe versetzen wird, eine amouröse Ekstase, in der die Symbole entfallen und das Untertauchen in eine Geschichte heraufzieht, über die nur das Unbewusste zu berichten wüsste. Die offene, narzisstische Wunde in der vermeintlich schamerfüllten Kastration eines Körpers, der ›entstellt‹ oder verkrüppelt ist, macht den Weg für eine neue Begegnung mit den Wirkungen des Unbewussten frei.«108

107 | Green, André: Der Kastrationskomplex, Gießen: Psychosozial-Verlag 2007, S. 146. 108 | Alizade: Weibliche Sinnlichkeit, S. 159.

2. Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan1

Lacan greift einerseits Freuds Ansatz zur Psychoanalyse der Weiblichkeit auf, andererseits verfolgt er insofern einen eigenen Weg, als er den von Freud nicht gelösten, in eine Sackgasse manövrierten Fragen mit spezifischen Konzepten der strukturalen Psychoanalyse nachforscht und diese neu bearbeitet, insbesondere bei der Betrachtung der Hysterie. Zwischen den Positionen von Freud und Lacan gibt es Brüche, aber im Hinblick auf das Weibliche besteht im Wesentlichen Übereinstimmung. Während Freud die Hysterie in Beziehung zur Besessenheit durch Dämonen gesetzt hatte, weist Lacan der Hysterie als hystoire der Psychoanalyse die Funktion der De-Naturalisierung, der Verneinung der Mutterschaft (De-Maternalisierung) zu. Dies verleitet Kritiker (wie Psychoanalytiker und Feministen) zu der Aussage, die Psychoanalyse richte sich gegen das Mütterliche, d. h. gegen eine naturalistische Einstellung. Es liegt in der Natur der menschlichen Sexualität, dass die Mutterschaft immer an eine Entscheidung gebunden ist, sodass die Fortpflanzung nach Freud der Sexualität eine Freiheit zuschreibt. Mit anderen Worten: Es liegt nicht in der Natur der Frau, Mutter zu werden. Wenn sie meint, Mutter werden zu müssen, lebt sie in einem Konflikt, der in ihren Kindern weiterbesteht. Der Wunsch, Mutter zu werden, gehört in ein anderes Register als die Tatsache, Frau zu sein. Es besteht eine strukturelle Kernfragilität in der Beziehung des Weiblichen zum Mütterlichen. Diese Fragilität der Ich-Konstitution nimmt eine spezifische Form in der Beziehung des Weiblichen zum Mütterlichen an. Man könnte von einer dialektischen Spannung zwischen der Identität als Frau und der Identität als Mutter im Kern der Weiblichkeit sprechen. Die Spannung findet aufgrund der Schwierigkeit im Prozess der Identifizierung der Tochter mit der Mutter in den klinischen Fällen eine besondere Bedeutung. Das Wissen widersetzt sich dem Frausein-Wollen durch die Frage der Übertragung des Weibli1 | Lacan Jacques, 1901-1981.

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chen. Wie kann sich eine weibliche Identität anders übertragen als durch die Sprache der Mutter? Durch diese Umkehrung des Wollens – wer will was? – überwindet Lacan die Aporie, die freudsche Sackgasse, indem er die Kritik der Feministen, aber auch die der Psychoanalytiker, die sich ihnen angeschlossen haben, zurückweist. L’invention du féminin, d. h. die Erfindung des Weiblichen, um den Titel eines Kolloquiums aufzunehmen, das im November 20002 in Paris abgehalten wurde, bedeutet, die Erfindung der Psychoanalyse auszuweiten. Denn Hysterie drängt zur Erfindung, enthält aber auch die Einsicht darüber, was das Mütterliche dem Weiblichen schuldet! Der Übergang in der Frage der Weiblichkeit von Freud zu Lacan stellt sich nicht in Form der imaginären Frustration oder realen Privation dar, sondern als symbolische Kastration eines imaginären Phallus. Lacan besteht auf dem Begehren der Mutter für ihre Tochter, ein Begehren, das Mangel und Liebe, Identifikation und Projektion in sich vereinigt. Im Blick der Mutter auf sich selbst erkennt die Tochter, ob und wie sie ihren Platz im Verlauf der Transmission der Geschichte einnehmen kann. In der lacanschen Subjektkonstitution der weiblichen Identität überträgt sich die Identifizierung durch die Sprache und den Blick der Mutter. Lacan macht daraus einen Moment von entscheidender Bedeutung. Der freudsche Ödipusmythos wird so in seiner Funktion der Vermittlung des Gesetzes innerhalb der Kulturarbeit mit dem lacanschen Namen-des-Vaters (le Nom-duPère) verbunden. Was die Definition der Mutter betrifft, so wird die Kastration in der theoretischen Arbeit Lacans nicht als anatomischer, sondern als symbolischer Mangel eines imaginären Phallus definiert. Die Mutter ist der Ort, an dem sich dieser Mangel zu erkennen gibt. Die paradigmatische Mutter ist diejenige, von der man träumt oder geträumt hat, weil sie ohne jede Gegenleistung Hilfe leisten und trösten kann, ohne dass eine andere als symbolische Schuld entsteht. Das Ideal der Treue und des Vertrauens wird in der symbolischen Dyade Mutter-Kind deutlich, in der die Mutter für ihr Kind als kontinuierliches und konstantes Objekt erscheint, das aber bereits dabei sein, es zu enttäuschen, dem Untergang des Ödipuskomplexes folgend: Mütterliche Untreue ist die notwendige Bedingung der Triangulierung. Lacan hat die Frage des Vaters dort aufgegriffen, wo sie von Freud ›vergessen‹ worden ist, und definiert sie als eine Struktur von trennender Funktion, das Nein-des-Vaters zur Mutter. Es besteht eine Art doppelter Dialektik, wie 2 | Société de psychanalyse freudienne (Hg.): Invention du féminin. Actes de colloque, Paris, 18. /  19.11.2000, Paris: Campagne Première 2002.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

im Rätsel des Ödipus, mit zwei Fragen: einerseits der Frage der Frau: Was ist die Frau in ihrer Beziehung zum Realen? Und andererseits: Was ist ein Vater in seiner Beziehung zum Symbolischen? Diese beiden Rätsel nehmen in Anspruch, durch eine Lüge gelöst zu werden: das imaginäre Kind, das es als solches nicht gibt. Uns bleibt die Aufgabe, diese bei Freud angedeutete und von Jacques Lacan aufgenommene Bedeutungskette analytisch zu durchleuchten: Wahrheit – entschleierte Frau – Inzestverbot – Kastration – Scham – Fragment.

2.1 J acques L acan und die F unk tion der S pr ache »Denken Sie an das Losungswort (mot de passe). Ich wähle ausdrücklich dieses Beispiel, weil der Trug, wenn man von Sprache spricht, stets der ist zu glauben, dass ihre Bedeutung das ist, was sie bezeichnet. Aber nein, aber nein. […] Das Losungswort hat diese Eigenschaft, dass es eben auf einer von seiner Bedeutung völlig unabhängigen Weise ausgewählt wurde […]. Es lässt sich nicht bestreiten, dass das Losungswort die wertvollsten Qualitäten hat, denn es dient Ihnen ganz einfach dazu zu verhindern, dass Sie getötet werden.« 3

Dieses Zitat Lacans unterstreicht den Übergang zwischen Frau und Mutter, der den Tod beinhaltet. Tatsächlich ist der Tod, wie wir gesehen haben, in den drei Darstellungen der Frau bei Freud immer schon enthalten, sobald ein Kind geboren wird. Wenn das Kind nur das imaginäre Kind seiner Mutter ist und diese sich durch die drei unvermeidlichen Beziehungen zum Mann »als Erzeugerin, Gefährtin und Zerstörerin« definiert, übersetzt sich das Begehren des Kindes zu leben in Angst. Die Angst ist Zeichen und Zeugnis einer existenziellen Hinterfragung, die sich an die Mutter – den Tod – richtet. Das Losungswort, das uns hier interessiert, wäre das, was dem Kind erlaubt, dem Tod zu entgehen. Eine Garantie für die Berechtigung des Seins – so sichert das Losungswort-Passwort die Sicherheit für das Kind. Der Name-des-Vaters steht für das Losungswort als Garant der Trennung zur Mutter. Der Übergang von Freud zu Lacan vollzog sich nicht ausgehend von der Psychoanalyse, sondern von einer neuen theoretischen Fragestellung durch die Psychiatrie und die Philosophie. Lacan als französischer Psychiater mit seiner 3 | Lacan, Jacques: Des Noms-du-Père [1963], Paris: Seuil 2005, S. 27: »Le mot de passe. Je choisis exprès cet exemple, parce que le mirage, quand on parle du langage, est toujours de croire que sa signification est ce qu’il désigne. Mais non, mais non. […] Le mot de passe a cette propriété d’être choisi justement d’une façon tout à fait indépendante de sa signification […]. On ne peut nier que le mot de passe ait les vertus les plus précieuses, puisqu’il sert tout simplement à vous éviter d’être tué.« Eigene Übersetzung.

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traditionellen Ausbildung nimmt unter dem Einfluss der Mathematiker um Nicolas Bourbaki, der Linguistik nach Ferdinand de Saussure und des Strukturalismus nach Claude Lévi-Strauss subjekttheoretische Fragen auf und analysiert die für ihn fundamentalen Positionen des Subjekts, des Ichs, des Bewusstseins, des Irreseins, des Todes. Seine medizinische Dissertation4 von 1932 Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, die er, wie er selbst kommentiert, »nur mit Zögern5 veröffentlicht«, schließt mit folgenden Worten: »[D]ie symbolische Interpretation des Materials der Bilder ist in unseren Augen weniger aussagekräftig als die Widerstände, an denen sich die Behandlung misst. Mit anderen Worten hat das Scheitern der Behandlung beim jetzigen Stand der Technik und unter der Annahme ihrer perfekten Durchführung für die Disposition der Psychose einen diagnostischen Wert, der dem der intentionellen Äußerungen gleichkommt oder ihn sogar übertrifft. […] Nur eine Untersuchung dieser Widerstände und dieses Scheiterns kann die Grundlagen der neuen psychoanalytischen Technik liefern, von der wir eine gesteuerte Psychotherapie erwarten. […] Nur eine fundierte Untersuchung erlaubt eine korrekte und differenzierte Einschätzung • der Lebensumstände, die die Psychose bedingen, und insbesondere der anfänglichen Umstände der Kindheit (konstante Anomalien der Familiensituation) […] • der aggressiven Triebe, besonders der Tötungstriebe, die zuweilen ohne wahnhafte Begleitumstände und ›stumm‹ auftreten, aber dennoch eine spezifische Anomalie, die einer Psychose gleichkommt, erkennen lassen«. 6

4 | Vgl. ders.: De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, Paris: Seuil 1932. 5 | Das Zögern meint er in Bezug darauf, dass er sich von der psychiatrischen Linie entfernt hat. 6 | Ebd., S. 348: »[L]’interprétation symbolique du matériel des images vaut moins à nos yeux que les résistances auxquelles se mesure le traitement. En d’autres termes, dans l’état actuel de la technique, et en la supposant parfaitement menée, les échecs du traitement ont, pour la disposition à la psychose, une valeur diagnostique égale et supérieure à ses révélations intentionnelles. […] Seule l’étude de ces résistances et de ces échecs pourra fournir les bases de la nouvelle technique psychanalytique, dont nous attendons une psychothérapie dirigée. […] Seule une étude fondée […] permettra une appréciation juste et différenciée - des situations vitales qui déterminent la psychose, et tout spécialement des situations initiales de l’enfance (anomalies constantes de la situation familiale); […] - des pulsions agressives, spécialement homicides, qui se manifestent parfois sans épiphénomène délirant et ›à la muette‹, n’en révèlent pas moins une anomalie spécifique, identique à la psychose«; eigene Übersetzung (Herv. i. O.).

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

Diese Arbeit Lacans über das Verständnis der psychiatrischen Krankheitslehre konnte von den Misserfolgen und Widerständen der damals üblichen Behandlungen profitieren. Lacan besteht darauf, »die Psychose in ihrer Ganzheit zu sehen«, d. h. als sozialisierte Störung eines menschlichen psychischen Verhaltens. Er schreibt: »Die Natur des Menschen ist seine Beziehung zum Menschen.« 7 Jeder delirierende Gedanke wird also nicht mehr als chaotischer Gedanke definiert, der jenseits jeder Norm und daher anormal ist, sondern als logische Entwicklung einer in einer Geschichte erzeugten Essenz.8 Lacan verlagert die durch die Natur gekennzeichnete Determiniertheit des psychotischen Deliriums auf die familialen Gegebenheiten. Im Jahr 1938 behandelt Jacques Lacan in seinem Essay »Les complexes familiaux dans la formation de l’individu9 « erstmals die Frage der Vaterschaft innerhalb der sozialen Organisation der Familie, deren Rolle darin besteht, den Fortgang, den Übergang und die Weitergabe der Kultur in einer psychischen Kontinuität zwischen den Generationen sicherzustellen. Wenn der delirierende Gedanke eine Übersetzung einer internen Normativität, einer Wesensart des Subjekts ist, die hic et nunc nicht den Erwartungen der sozialen Gruppe entspricht, so ist es Aufgabe der Psychoanalyse zu entziffern, was diese Wahrheit oder dieses unbewusste Wissen des Patienten über ihn selbst aussagt.10 Lacan will eine originale und originelle Gestaltung der psychischen Kausalität erkennen, er will die Ursache des Zwiespalts zwischen der Entwicklung des Subjekts und seiner negativen Beziehung zur Wirklichkeit untersuchen.

7 | Ders.: »Au-delà du ›Principe de réalité‹« [1936], in: ders.: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 73-92, hier S. 88; dt: »Jenseits des ›Realitätsprinzips‹«, in: ders.: Schriften 3, Olten / Freiburg i. Br.: Walter Verlag 1980, S. 15-37, hier S. 32. 8 | Vgl. Ogilvie, Bertrand: Lacan, le sujet. Philosophies, Paris: PUF 1987, S. 64. 9 | Lacan, J: Les complexes familiaux dans la formation de l’individu. Essai d’analyse d’une fonction en psychologie [1938], in: Autres Écrits, Paris: Seuil 1984, S. 23-84. 10 | Ich zitiere aus dem Vortrag von Raymond Borens: »Die Unvollständigkeit des Symbolischen«, gehalten an der Herbsttagung der DPV am 23.11.2002 in Frankfurt a. M., http://www.psychanalyse.lu/articles/BorensUnvollstaendigkeitSymbolische.htm, Zugriff am 01.11.2017: »Bleuler wollte sehen, wie es einem von ihm betreuten und nach Hause entlassenen schizophrenen Patienten ging, und so machte er sich auf, um bei dem Manne, der von Beruf Bäcker war, Brot zu kaufen. Er trat in den Laden und fragte die Bäckersfrau, wo ihr Mann sei. Der ist wohl in der Backstube und bereitet Teig, erwiderte diese. Bleuler fand den Bäcker allerdings nicht dort, sondern im dahinter liegenden Garten, wo er dabei war, dünn gewalzte Teigscheiben auf Bäume zu werfen. Auf die Frage, was er denn da mache, antwortete er: ›Ich mache Blätterteig.‹«

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Mit dieser Negativität entsteht die Struktur einer inhärenten, radikalen Unkenntnis, die der Psyche eine eigene Dimension verleiht: den Mangel. Durch eine immer gezieltere, progressive Fokussierung seines Arbeitsbereiches kommt er von der Gesellschaft zur Familie, von der Familie zum Spiegel – dem Bildner der Funktion des Ich (je) –, bis er schließlich die Sprache als eigentlichen Ort des Unbewussten identifiziert. »Ob sie sich als Instrument der Heilung, der Berufsausbildung oder der Tiefeninterpretation versteht, die Psychoanalyse hat nur ein Medium: das Sprechen des Patienten. Die Offensichtlichkeit dieser Tatsache entschuldigt nicht, dass man sie übergeht. Denn jedes Sprechen appelliert an eine Antwort.«11 Mit diesen Worten fängt Lacan seine ersten Kapitel der ›Rede von Rom‹ an. Laut Pagel12 hat der Psychoanalytiker die Funktion zwischen der sich entfaltenden Rede des Ich und jener dahinter verborgenen ›anderen Rede‹ des Unbewussten zu unterscheiden. »Je est un autre. Ich ist ein anderer«, lautet der berühmte Ausdruck Arthur Rimbauds13 in einem Brief an Izambard (1871). Lacan übernimmt diese Formel und betont dabei, dass der verborgene Sinn jener anderen Rede des Unbewussten zu erraten ist. »Die Worte, die hochkommen, wissen etwas von uns, was wir von ihnen nicht wissen«14, schreibt der Dichter R. Char. »Die Funktion der Sprache besteht ja hier nicht darin zu informieren, sondern zu evozieren«, und »[d]er Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat«15, formuliert Lacan. Im folgenden Exkurs werden Konzepte wie Körperbild, Begehren, Anspruch, Bedürfnis, Spiegelbild, Mangel sowie die phallische Funktion untersucht. Diese Konzepte sind grundlegend, um die Konstitution der Subjektbildung zu verstehen, wie sie Lacan in seiner Theorie der Weiblichkeit entwickelt. Im Hinblick auf die Verflechtung von Mutterschaft und Depression wird eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Weiblichkeit, einem unmöglichen

11 | Lacan, Jacques: »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse« [1953], in: ders.: Écrits, 1966, S. 111-208, hier S. 123; dt.: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften 1, Olten / F reiburg i. Br.: Walter Verlag 1973, S. 71-169, hier S. 84. 12 | Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung, Hamburg: Junius 2002, S. 112. 13 | Rimbaud, Arthur: Brief an Izambard 13.05.1871, https://fr.wikisource.org/wiki/ Lettre_de_Rimbaud_%C3%A0_Georges_Izambard_-_13_mai_1871, Zugriff am 01.11. 2017. 14 | Char, René: Chants de la Balandrane, »Sept saisis par l’hiver«, Paris: Gallimard 1977, S. 16: »Les mots qui vont surgir savent de nous des choses que nous ignorons d’eux.« Eigene Übersetzung. 15 | Lacan, J: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften 1, 1973, S. 71-169, hier S. 143.

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Verhältnis Mann-Frau und dem Spiegelstadium expliziert, als Konsequenz des ravage in der destruktiven Mutter-Tochter Beziehung.

E xkurs zur Begrifflichkeit Lacans Drei Hauptbegriffe strukturieren die lacansche Sprach- und Theoriebildung: das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. In jeder Aussage sind diese drei Register enthalten. Ich beziehe mich auf die Ausführungen von Peter Widmer.16

Das Reale, das Imaginäre und das Symbolische Mit dem Akt des Aussprechens wird das Symbolische erfassbar, wenn ich höre, dass der andere spricht und wie der andere spricht. Was er sagt, wird dagegen vernachlässigt. Die symbolische Dimension muss in Betracht gezogen werden, und es ist die Struktur der Sprache selbst (das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert). Also verweist das Symbolische gleichzeitig auf die Sprache und auf das Gesetz und erfüllt gemäß Claude Levi-Strauss17 die Funktion des Organisierenden innerhalb der sozialen Gruppen. Die Ordnung der Sprache, bzw. die symbolische Ordnung eines sozialen Systems stellt kollektive Beziehungen dar, denen jeder, der spricht, unterworfen ist. Bei Lacan steht das Symbolische nicht am Ende einer Entwicklungskette, deren Ziel es bilden würde, es ist da, ehe das Kind zur Welt kommt. Das Symbolische ist da, weil Lacan, Saussure folgend, zeigt, dass jeder Mensch in eine vorgegebene symbolische Ordnung hineingeboren wird, nämlich in die der Sprache, deren Struktur auf einem Gesetz fußt, das es begründet: dem symbolischen Vater oder Nom-du-Père. Das Imaginäre beinhaltet eine Vorstellung, ein inneres Bild, das ich von einer Sache habe. Um dieses Register erfahrbar zu machen, höre ich nicht auf die Stimme, wie jemand etwas sagt, sondern, was er damit sagt. Das Imaginäre bezeichnet den Zusammenhang zwischen dem Bildnis des Ähnlichen und dem eigenen Körper. Die Erfahrungen des Spiegelbildes sind von vornherein dem Register des Imaginären zuzuordnen, weil nicht das rein Visuelle gemeint ist. Ebenso ist das, was sich auf dem Niveau der Wahrnehmung, der Illusion, der Arten der Befriedigung des Subjektes abspielt, dem Imaginären zuzuordnen. Weil wir uns alles vorstellen können, sogar, was wir nie gesehen oder gehört haben, umfasst das Imaginäre die Phantasie. Dennoch können diese imaginären Elemente eine symbolische Dimension haben, die man demgemäß analy16 | Vgl. Widmer, Peter: Metamorphosen des Signifikanten. Zur Bedeutung des Körperbilds für die Realität des Subjekts, Bielefeld: transcript 2006, S. 15. 17 | Vgl. Levi-Strauss, Claude: Les structures élémentaires de la parenté, Paris: PUF 1949; dt.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961.

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sieren kann. Dies ist die Möglichkeit, die durch die symbolische Identifizierung erreicht wird, die den Status der Imago bestimmt. Das Reale ist, worauf sich das Sprechen und der Inhalt des Sprechens beziehen. Das Reale, das von der Realität unterschieden werden muss, ist ein Effekt des Symbolischen in dem Sinne, dass sich das Unsagbare durch das Nadelöhr der Sprache an ein Subjekt wendet. Es ist zugleich das, was vom Symbolischen, indem dies zustande kommt, hervorgebracht wird, der unvordenkliche Anfang und das Ende, Geburt und Tod. Es ist, was vom Symbolischen nicht erreicht wird, was sich ihm entzieht. Das Reale ist, wie Lacan immer wieder betont, absolut ohne Riss, weil in ihm Innen und Außen, Phantasie und Realität, Ich und Anderer zusammenfallen. »Es bezeichnet die Erfahrung des Seins in seiner primären Undifferenziertheit und Positivität, wie sie nach Freud dem Subjekt im Anfangsstadium eignet«18, schreibt Pagel. Es gibt einen Rest, das Urverdrängte laut Freud19. Es ist wie ein Kern, von dem her es spricht. Wenn ich sage, es spricht, so ist dieses Es nicht nur grammatisch: Freud hat daraus eine Instanz gemacht, erklärt Widmer. Der Rest gibt dem Realen seinen Platz. Das Reale, um mit Lacans Worten zu sprechen, Ursache des Begehrens, ist zugleich auch sein Objekt, Ort eines Mangels, der nicht ohne Verlust sowohl des Begehrens als auch des Lebens behoben werden kann. Anders die menschliche Wunscherfüllung, die auf die ›Not des Lebens‹ reagiert: Sie hat keine Beziehung zum Realen. Es gibt eine hilfreiche Definition eines französischen Autors namens Milner, der die drei Register folgendermaßen definiert hat: Das Symbolische trennt; das Imaginäre verbindet; das Reale persistiert.20 In der Ethik arbeitet Lacan an dem Begriff der Konstitution des Subjekts in seiner Beziehung zum Unbewussten. Sein Ausgangspunkt ist, dass das Unbewusste nur ›Wahrnehmungszeichen‹ von Genuss (plaisir) oder Mühe (peine) empfängt. Sicherlich ist das, was dem Subjekt nicht bewusst wird, ihm gleichwohl durch Signifikanten übermittelt. Das Entscheidende, was Lacan bei Freud entdeckt, ist, dass die ganze Geschichte der Begriffe, also des Bekannten, des Unbewussten, mit einem Schrei beginnt. Das erste Objekt ist zunächst einmal sehr unangenehm. »Das Objekt als Feindseliges zeigt sich, wie Freud uns sagt, auf der Ebene des Bewusstseins nur an, indem der Schmerz das Subjekt einen Schrei ausstoßen lässt. Die Existenz des feindlichen Objekts als solchen ist der Schrei des Subjekts.«21 Lacan fährt fort: »Der Schrei erfüllt da die Funkti18 | Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 57. 19 | Vgl. Freud, Sigmund: »Die Verdrängung« [1915], in: ders. Studienausgabe. Band 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M.: Fischer 92000, S. 103-118, hier S. 110. 20 | Vgl. Milner, Jean-Claude: Les noms indistincts, Paris: Seuil 1983, S. 7. 21 | Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 7, S. 43; Herv. i. O.

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on einer Abfuhr und spielt die Rolle einer Brücke, auf deren Ebene sich etwas von dem, was sich abspielt, im Bewusstsein des Subjekts erfassen und identifizieren lässt.«22 Die ›genügend gute‹ Mutter interpretiert den Schrei des Kindes vom ersten Moment an, sie nimmt die Bedürfnisse ihres Kindes wahr. Deshalb ist die Erfahrung des Kindes die Folgende: Ist sie da, ist zuverlässige Befriedigung gewährt, ist sie fort, ist die Befriedigung versagt. Schrei des Säuglings bei der Geburt, Schrei des gehassten Objekts: Das neugeborene Kind ist Objekt des Begehrens seiner Eltern, weil ihnen etwas gefehlt hat. Aus diesem Mangel macht Lacan einen logischen Operator, das Objekt a. Von dem Objekt, das das Kind für die Eltern-Mutter darstellte, weiß es nichts, und die nur wenig. Der Mangel der Eltern als Ursache für die Geburt des Kindes, wovon sie nicht wissen, hinterlässt insofern Spuren im Unbewussten, als das Kind diesen Mangel nicht ausfüllt. Das Fehlen ist nicht darstellbar. Das Objekt a wird Angelpunkt der Trennung und bedeutet gleichwohl das Objekt des Begehrens der Eltern oder das Objekt als Ursache des Begehrens im Phantasma des Subjekts: Das Kind ist nicht alles, infolge dessen kann es nicht den ganzen Platz besetzen. Das freudsche Konzept des »Dings« wird ausgehend vom ersten Partner des Subjekts, dem Nebenmenschen, definiert. Es ist die »erste Kraft«, die dem Subjekt seine erste Befriedigung wie sein erstes Unbehagen verschafft. Das Subjekt spaltet dieses Andere, die Mutter, in zwei Teile. Ein Teil umfasst das, was es aufgrund seiner ersten Erfahrungen erkennen kann, der zweite all das, was unerkannt bleibt, was aber eine konstante Ordnung aufweist und ein Ganzes bildet. »Am Nebenmenschen lernt darum der Mensch erkennen«, schreibt Freud 23. Lacan analysiert laut Pagel »die ›Dialektik des Begehrens‹ als ein eng verschlungenes Netzwerk von Sprache, Wunsch und Intersubjektivität. Anhand der Triade von Bedürfnis, Anspruch und Begehren zeigt er auf, wie der Wunsch in Sprache einmündet.«24 Es handelt sich also darum, als Analytiker eine Beziehung der Sprache aufzubauen, die es erlaubt, mein Gefühl der Frustration mit einem Mangel zu verbinden, der den Patienten von seinem Imperativ der Befriedigung enthebt. Denn die Stille bedeutet in einer therapeutischen Beziehung das, was sie ist: die Unmöglichkeit zu sprechen.

22 | Ebd. 23 | Freud: Briefe an Wilhelm Fließ: 1887-1902, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 297-384, hier S. 337. 24 | Vgl. Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 61.

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Das Begehren (le désir), das Bedürfnis (le besoin) und der Anspruch (la demande) Das, was sich in der Entwicklung des Kindes von seiner Geburt bis zur Auflösung des Ödipuskomplexes, also bis zur Adoleszenz niederschlägt, ist deshalb von so großer Wichtigkeit, weil es auf einer Chronologie des Unbewussten beruht, auf einer Zeitachse. Lacan25 definiert das Begehren als Differenz zwischen Bedürfnisbefriedigung und dem Anspruch auf Liebe. Lacan hat uns eine Skizze hinterlassen, die die verschiedenen Begriffen darstellt: Das Symbolische / der Anspruch auf Liebe wendet sich an den Anderen. Begehren



Objekt, Grund des Begehrens



Phantasma

Trieb



Erogene Zonen



Körperbild

Bedürfnis



Körperpflege



Körperschema

Man kann dieses Schema so lesen: Die Bedürfnisse des Körpers werden durch die mütterliche Betreuung erfüllt. Das Körperschema nimmt Gestalt an. Die Triebe und die verschiedenen Stadien bilden die erogenen Zonen und schreiben sich im Körper ein. Dazu sei Kipp zitiert: »Das Konzept des Begehrens ist innerhalb der Lehre Lacans an die Stelle von Freuds Begriff des ›unbewussten Wunsches‹ getreten, bewahrt aber zugleich diejenigen Dimensionen, die Freud mit dem Begriff des Triebes zu fassen versuchte […] In Freuds Wunschbegriff bleibt die Wiederholung an die lineare Zeit gebunden: ›Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns […] in die Zukunft‹ (Traumdeutung GW II  / I II; S.  626). Hier ist Lacans Konzept des Begehrens radikaler gefasst: Das Begehren entspringt nicht zurückliegenden, verlorenen Befriedigungen, sondern dem Verlust von vermeintlicher Einheit und Präsenz, d. h. der Zerstörung einer Illusion. Diese schwer fassbare, theoretisch bestimmte Struktur erscheint weniger abstrakt, wenn man sie von den primären Bezügen des Kindes erschließt, dem Bedürfnis und dem Liebesanspruch. Letzterer, der 25 | Lacan, Jacques: »La signification du phallus.« [1958], in: ders.: Écrits 2, Paris: Seuil 1971, S. 103-115, hier S. 110: »Le désir n’est ni l’appétit de la satisfaction, ni la demande d’amour, mais la différence qui résulte de la soustraction du premier à la seconde, le phénomène même de leur refente (Spaltung).« Dt.: »Die Bedeutung des Phallus«, in: ders.: Schriften 2, Olten /  F reiburg i. Br.: Walter Verlag 1975, S. 119-132, hier S. 127.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan ein Anspruch auf Anwesenheit der mütterlichen Person ist, ist in seinem Anspruch auf unverlierbare Präsenz nicht erfüllbar. Das Kind ist angewiesen auf die Illusion einer Ungeschiedenheit, einer Einheit mit der Mutter, die durch die Befriedigung der Bedürfnisse abgestützt wird. Bedürfnis und Anspruch sind für eine gewisse Zeit der kindlichen Entwicklung verbunden: Die Befriedigung ist Zeichen der Liebe, die Erfüllung des Anspruchs Garantie gegen die Not des Lebens.« 26

Was Lacan das Begehren nennt, entsteht aus der Geschichte des Triebschicksals. Sowohl das Bedürfnis als auch der Anspruch werden als artikulierte Regungen immer wieder von der Ebene der Repräsentation durchquert, sodass das Begehren die eigentliche Dimension des Wunsches ist. »Bedürfnis und Anspruch (an die Mutter) sind Regungen, die nach Erfüllung verlangen und in der Sättigung zum Stillstand kommen. Das Begehren dagegen ist eine Struktur, die den Mangel zur unaufhebbaren Voraussetzung hat.«27 Dunker und Kluttig schreiben: »Das Begehren geht im Sinne Lacans (1966) über den Wunsch hinaus. Es ist eine sprachgebundene und reife, nach außen gerichtete Kommunikationsform, die sich der Sprache bedient. Das Begehren unterstellt die Unterwerfung unter das Gesetz des Symbolischen, das der Sprache.«28 Der Anspruch ist ein Versuch, dem Begehren einen Halt, eine Verankerung zu geben. Das Begehren ist das, was im Anspruch zugleich über den Anspruch hinausweist. Die offene Dimension der Klage oder des Unbehagens des Patienten ermöglicht ihm, sein Begehren zu begreifen. Kläui fasst das wie folgt zusammen: »Es gibt offenbar eine Kluft zwischen dem, was im Anspruch auf Befriedigung eingefordert wird, und etwas anderem, das über jede mögliche Befriedigung des Anspruchs hinausweist und offen und unbefriedigt bleibt.«29 Der Mangel verweist auf positive Vorzeichen des Begehrens und das Begehren nicht auf eine Negativität des Mangels. »D. h., dass das Subjekt lernen muss, sich nicht in der Präsenz des Wunschzustandes zu erschöpfen, sondern den

26 | Kipp, Hilde: »Hans-Christoph Koller: Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erziehers. Erziehungskonzeption und Schreibweise pädagogischer Texte von Pestalozzi und Jean Paul«, in: Zeitschrift für Pädagogik 39, Heft 2, 1993, S. 355-364, hier S. 357. 27 | Ebd., S. 361. 28 | Dunker, Heinfried / K luttig, Tilman: »Der zersprungene Spiegel, vom idealisierten Wunsch zum realen Kind«, in: Arbeitshefte kinderpsychoanalyse 37: Der Platz des Kindes im Begehren seiner Eltern, Heft 2, 2006, S. 107-123, hier S. 107. 29 | Kläui, Christian: Psychoanalytisches Arbeiten. Für eine Theorie der Praxis, Bern: Hans Huber 2008, S. 42.

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Umweg zu einer ›realitätsverkostenden‹ Phantasie zu gehen, die dem Wunsch Erfüllung in Form der Repräsentation gewährt.«30 Lacan bestätigt dies folgendermaßen: »Das Begehren des Menschen ist das Begehren nach dem Anderen.«31 In meiner Ausführung des Konzepts des Begehrens, möchte ich auf einen Text Lacans hinweisen, wo es im Deutschen (in der Übersetzung von Norbert Haas) heißt: »In Abänderung meiner Formel für das Begehren als unbewußtes – das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen – möchte ich sagen, daß es sich hier um eine Art Begehren nach dem Anderen / désir à l’Autre handelt, an dessen Ende das Zu-Sehen-Geben / le donner-à-voir steht.«32 Diese abweichende Formulierung Lacans soll in dem besonderen Fall der Mutterschaft betonen, wie die Sprache als Struktur auf das unmögliche Ziel ausgerichtet ist, »eine Einheit herzustellen«33. Durch seine Hilflosigkeit ist das Neugeborene in einem Maße auf die Mutter angewiesen, dass daraus für die Mutter eine starke psychische Abhängigkeit resultiert. Die Depression ist in Lacans strukturaler Auffassung insofern eine Position des Subjekts (z. B. Mutter) im Hinblick auf das Begehren, als das Begehren verfehlt wird. Ein mütterliches Begehren des Anderen gibt es nicht, wohl aber nach dem Anderen, weil das Kind die Stelle des Mangels besetzt. Mit der Übersetzung »Begehren nach dem Anderen« ist eine Dimension des Begehrens gegeben, die das Kind vor der Mutter retten kann, die nur durch das Kind zur ›ganzen Mutter‹ geworden ist. Das Zu-Sehen-Geben betont dann das konstitutionelle Andere der Weiblichkeit, d. h., jede Frau sieht in der Mutterschaft das »Bild einer in sich geschlossenen

30 | Vgl. Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 60. 31 | Lacan, Jacques: Le séminaire, livre 10. L’Angoisse [1962-1963], Paris: Le Seuil 2004, S. 32: »Je vous l’ai dit, le désir de l’homme est le désir de l’Autre.« Eigene Übersetzung. Auch dt.: Das Seminar, Buch 10. Die Angst, Wien /  B erlin: Turia + Kant 2010, S. 220: »Wir haben anzunehmen, dass das Begehren des Menschen das Begehren des Anderen ist.« 32 | Ders.: Das Seminar, Buch 11. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse [1964], Olten /  F reiburg i. Br.: Walter Verlag 1978, S. 122; Original: Le séminaire, livre 10I. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris: Seuil, 1973, S. 105: »Modifiant la formule qui est celle que je donne du désir en tant qu’inconscient – le désir de l’homme est le désir de l’Autre – je dirai que c’est d’une sorte de désir à l’Autre qu’il s’agit, au bout duquel est le donner-à-voir.« (Beide: Herv. i. O.) 33 | Widmer, Peter: Die traumatische Verfassung des Subjekts II, Wien / B erlin: Turia + Kant 2016, S. 110.

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Erfüllung«34. Und Lacan besiegelt seine Argumentation so: »Die Frau tritt in Funktion […] nur als die Mutter.«35

Kastration, Privation und Frustration Kastration, Privation und Frustration sind die drei Manifestationen des Mangels in Bezug auf die drei Register des Realen (R), des Symbolischen (S) und des Imaginären (I). Sie sind das, was das Kind durch die Anerkennung des Mangels erfährt. Es wird dadurch zum Subjekt der Kastration, die wiederum ihn als Begehrenden für den Anderen konstituiert. Der Mangel äußert sich entsprechend der Struktur der Persönlichkeit, und im Zusammenspiel mit dieser. Neben der symbolischen Kastration definierte Lacan: • die Privation, die mit einem treffenden Wort zu tun hat, nämlich das Sein zu definieren; das Fehlen als solches ist nicht darstellbar. Das Sein des Menschen ist durch den Mangel charakterisiert. Die Privation bestimmt sich als realer Mangel eines symbolischen Objekts, d. h., etwas fehlt an einem symbolischen Objekt, ohne repräsentiert zu sein. Im Falle der Frau ist die Privation ursächlich, sie ist real: Es fehlt die Darstellung des Mangels. • Die Frustration ist der Mangel, der im Körperlichen empfunden wird, wenn der Körper bedürftig ist. »Der Körper wird zum Schauplatz des Wunsches«, schreibt Widmer36. So versteht sich die Klage der Hysterikerin, die nicht hat. Die Frustration bestimmt sich also als imaginärer Mangel eines realen Objekts: etwas wird nicht realisiert; • die Kastration ist bestimmt als symbolischer Mangel eines imaginären Objekts wie der Phallus, schließlich könnte es dazu kommen, dass etwas fehlt. Das Begehren wäre Ausdruck der symbolischen Kastration, eine Darstellung des Mangels; das Bedürfnis Ausdruck der Frustration, die mit Haben zu tun hat; und der Anspruch Ausdruck der Privation, die das Sein betrifft. Indem Lacan zwischen imaginärer und symbolischer Kastration unterscheidet, kann er das Paradoxon der Position des Kindes gegenüber der Mutter in Freuds Theorie der Weiblichkeit auflösen. Die imaginäre Kastration kann als

34 | Lacan, Jacques: Das Werk. Das Seminar, Buch 20. Encore [1972-1973], Weinheim / Berlin: Quadriga 1986, S. 122; Original: Le séminaire, livre 20. Encore, Paris: Seuil 1975, S. 106: »[L]’image d’une complétude qui se referme.« 35 | Ebd., S. 39; Original: S. 36: »La femme n’entre en fonction […] qu’en tant que la mère.« 36 | Widmer: Metamorphosen des Signifikanten, S. 10.

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Folge des Namens-des-Vaters37, auch »Nein-des-Vaters« im französischen Wortspiel nom und non, die das Begehren der Mutter ablöst, verstanden werden. Die Mutter hat ein Kind und sieht es als Phallus. Der Name-des-Vaters spricht ein Verbot aus und untersagt der Mutter, das Kind in die Position eines Phallus zu erheben. Es wäre sonst eine Wunscherfüllung, und ihr Begehren wäre erstickt. Die symbolische Kastration wird als Folge der väterlichen Funktion verstanden, das Inzesttabu. Damit tritt das Gesetz an die Stelle der Untersagung.

Der Phallus »Der Penis, so Lacan, kommt als Begriff dem anatomischen Organ zu, während der Phallus prinzipiell der symbolischen, aber auch imaginären Funktion vorbehalten ist«38, erinnert uns Green. Phallus oder Vater oder Name-des-Vaters: Er ist ein Symbol für den Unterschied zwischen den Geschlechtern und den Generationen. In einem einleuchtenden Text erläutert Conté die Beziehungen zwischen den verschiedenen Konzepten: »Das Kind, das zunächst als dem Begehren der Mutter unterworfen geboren wird, bevor es Subjekt wird, besetzt ursprünglich die Stelle des Phallus als Objekt des Begehrens. In dem Sprachbad, in das es eintaucht, bevor es seinen Platz in einem gegenseitigen Gespräch einnimmt, bringt es in seine erste libidinöse Beziehung das Bild der Mutter ein, um sich in seiner Beziehung zu ihr in seinem zerstückelten Körper zu positionieren, bevor es im Spiegelstadium die Autoidentifikation erreicht. Anschließend vertreibt die Wahrnehmung eines Hinweises der Mutter auf einen Dritten es von seiner Position eines privilegierten Objekts des Begehrens. Der Phallus ist anderswo, und die duale Welt, in der es bis dahin gelebt hat, wird durch das Erscheinen des Vaters zu einem Dreieck. Die Tatsache, dass das Kind über das, was das Objekt der Begierde der Mutter ist, verfügt, dass der Vater uneingeschränkt die phallische Funktion einnimmt, deren erste Regungen das Kind in seiner Fixierung auf die Mutter durchlebt, dass die Mutter davon kastriert erscheint, was sie im Mann begehrt – das schafft die Bedingungen für eine erste Kastrationsangst, die sich auf das Bild des Penismangels bei der Frau (imaginäre Kastration) und auf die Erkenntnis stützt, dass die Verlautbarung des Gesetzes, soweit sie vom Vater kommt, das Kind seiner Privilegien beraubt und ihm mit seinem ersten phallischen Begehren die Exklusivität der Liebe seiner Mutter verwehrt.« 39 37 | Siehe unten den Abschnitt »Der Name-des-Vaters«. 38 | Green: Der Kastrationskomplex, S. 144. 39 | Conté, Claude / P errier, François: »La névrose phobique«, in: Encyclopédie médicochirurgicale (Psychiatrie), Issy-les Moulineaux: Elsevier Masson 1964, fascicule 37360 A 10, S. 47 f.: »L’enfant, qui nait comme d’abord assujetti au désir de la mère avant de devenir sujet, occupe primitivement comme objet de désir la place du phallus. Dans le bain de langage où il est plongé dès avant d’assumer sa place dans une inter-locution, il

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»Der Phallus als Signifikant gibt die ›raison‹ des Begehrens«, formuliert Lacan. Das Begehren um den Phallus kann sich weder an objektiven Realitäten befriedigen, noch kann es sich im imaginären Anspruch an den anderen erfüllen. Lacan schreibt: »Der Phallus in der freudschen Doktrin ist kein Phantasma, wenn man unter Phantasma eine imaginäre Wirkung verstehen muss. Er ist als solcher ebenso wenig ein Objekt (ein partiales, internes, gutes, böses …), insofern dieser Begriff die Realität hervorhebt, die in einer Beziehung angesprochen wird. Noch weniger wohl ist er das Organ, Penis oder Klitoris, das er symbolisiert.« 40

Der Phallus ist das ›Konzept‹ des Genießens, »der Signifikant der Lust« 41, und zwar in dem Sinne, dass das Konzept gleichzeitig Mord und Befreiung der Sache ist, weil er das Subjekt als Mangelndes konstituiert und damit als Begehrendes. Als Signifikant des Mangels verweist der Phallus auf die Struktur des Begehrens, was bedeutet, dass jedes Objekt sich durch diesen Mangel definiert. Das Genießen bringt die Sprache mit dem Körper in Verbindung.

Der Name-des-Vaters Innerhalb des Prozesses der psychischen Strukturierung muss es den symbolischen Vater, den Signifikanten des Vaters, wie Lacan42 sagt, geben, der als Vertreter des Gesetzes das Subjekt daran hindert, am Begehren der Mutter haften va investir dans sa première relation libidinale l’imago maternelle pour se situer par rapport à elle dans son corps morcelé, avant d’en venir à l’auto-identification du stade du miroir. Secondairement, l’aperception d’une référence de la mère à un tiers le déboute de sa position d’objet privilégié du désir. Le phallus est ailleurs et le monde duel dans lequel il vivait jusqu’alors se triangularise de par l’apparition du père. Que l’enfant ne soit pas sans avoir ce quelque chose qui est l’objet du désir de la mère; que le père possède pleinement la fonction phallique dont l’enfant vit les balbutiements dans sa fixation à la mère; que la mère apparaisse secondairement castrée de ce qu’elle désire en l’homme, cela crée les conditions d’une première angoisse de castration, qui s’appuie à la fois sur l’image de l’absence du pénis chez la femme( castration imaginaire) et sur la prise de conscience que l’expression de la loi, pour autant qu’elle vient du père, prive l’enfant de ses privilèges et lui interdit avec son premier désir phallique l’exclusivité de l’amour de sa mère.« Eigene Übersetzung. 40 | Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, S. 125. 41 | Vgl. Green: Der Kastrationskomplex, S. 144. 42 | Vgl. Lacan, Jacques: »D’une question préliminaire à tout traitement de la psychose« [1958], in: ders.: Écrits 2, 1971, S. 43-102, hier S. 72; dt.: »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: ders.: Schriften 2, 1975, S. 61117, hier S. 89.

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zu bleiben: Um psychisch überleben zu können, muss sich das Kind zwangsläufig von der Mutter trennen. Der Name-des-Vaters stellt ein Nein dar. Lacans Ausarbeitung des Konzepts Name-des-Vaters erlaubt es, zwischen der Funktion und der Rolle des Vaters zu unterscheiden. Die Funktion des Vaters verweist auf die psychische Position des Vaters und seine Anerkennung durch die Mutter. Die väterliche Funktion bedarf einer doppelten Bedingung: »Es bedarf aber insbesondere des Vaters, und zwar sowohl in seiner Funktion als körperlich und geistig Anwesendem [für das Kind; CM] als auch in der Position dessen, der von der Mutter begehrt wird. In diesen beiden Rollen muss er sowohl als Begehrter der Mutter als auch als Vater des Kindes von ihr benannt oder berufen werden.« 43

Dieser Prozess wird durch das Sprechen der Mutter ermöglicht, die dem Kind ihr Begehren nach einem Mann mitteilt, einer Drittinstanz, die zur Trennung des Kindes von der Mutter führt. Daraus ergibt sich die Eingliederung des Kindes in die symbolische Ordnung der ödipalen Strukturierung durch die Mutter. Die Ausarbeitung der Metapher des Vaters steht in Verbindung mit der Interpretation des Ödipuskomplexes. Der Ödipuskomplex ist der Ursprung des Begehrens des Subjekts, nämlich Begehren als Begehren des Anderen. Der Signifikant Name-des-Vaters ermöglicht die metaphorische Substitution, da durch ihn das Begehren der Mutter auch das Begehren von etwas anderem außerhalb des Kindes werden kann. Der Name-des-Vaters ist damit Garant für die Entstehung von Sinn, denn damit wird der bereits durch die depressive Dekompensation bezeugte Mangel behoben.

Eine kurze Fallvignette Die kurze Fallvignette eines achtjährigen Mädchens, Fatima, illustriert, wie dieser Name-des-Vaters wirkt, obwohl der Vater als Fata Morgana eingeführt wird. Sie hat sehr lange Haare, ist immer perfekt gekämmt, entweder mit Zöpfen oder Rattenschwänzen, manchmal offen auf dem Rücken, immer streicht sie sie glatt, berührt sie, stellt sie in den Vordergrund wie eine Frau, die einen imaginären Mann verführen möchte. Fatima nimmt ein Buch aus meinem Regal und fängt an, eine Geschichte über Geister vorzulesen. Sie stolpert über »Fata Morgana«, ich glaube, bin eigentlich sicher, »Vater Morgana« gehört zu haben, sage aber nichts. Dann kommt der Begriff noch einmal und ich unterbreche sie. Ich frage, ob sie weiß, was »Fata Morgana« ist. »Ja«, sagt sie, »so wie in der Wüste, wenn man Durst hat, sieht eine Quelle, geht dahin, aber dort ist nichts!« 43 | Vgl. Dunker / K luttig: »Der zersprungene Spiegel«, S. 112.

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»Ja«, sage ich dann, »ist das nicht deine Geschichte mit deinem Vater?« Sie sieht mich sehr gerührt an, große Tränen kommen und sie sagt, »Genau, er verschwindet, wenn ich näher komme!« Fatima kennt ihren Vater nicht, sie hat selber bei ihm angerufen, als sie eingeschult wurde, wollte ihn einladen, er sagte zu, kam aber nicht. Seitdem hat er sich bei der Mutter gemeldet und darum gebeten, in Ruhe gelassen zu werden. Er habe kein Interesse an seiner Tochter, sei wieder verheiratet, und seine Frau erwarte ein Kind. Fatima kommt zu mir, weil sie nicht in die Schule will, sie will nicht wachsen. Und sie lügt, klagt die Mutter, und sie stört. ADS-Kind, sagt die Lehrerin. Eine Diagnose für ein störendes Kind, von dem man nicht weiß, was wirklich mit ihm ist. Fatima ist ohne Vater aufgewachsen, und das ist der Grund. Der Vater sei ein Gauner, ein Macho, er wolle nur das eine, … aber er war ein schöner Mann. Hier manifestiert sich die hässliche Schattenseite der Geschichte, weil die Mutter über ihre Verführung durch diesen Mann nicht sprechen kann oder will. Fatima sieht sich gezwungen, eine schöne Frau zu werden, mit langem hellem Haar, schönen dunklen Augen, um diesen Vater an sich binden zu können. Sie muss endlich Erfolg darin haben, wo ihre Mutter gescheitert ist. FataFatima, eine Vorstellung auf dem Höhepunkt einer ödipalen Verliebtheit, mit schwierigen, depressiven Folgen auf beiden Seiten. Fatum-Vater-Fata Morgana, der andere Name des Vaters, symbolisch gesehen. Jedoch hat sich hier die Funktion des Namens-des-Vaters nicht ohne Fehlschlag vollzogen. Wenn diese Mutter dem Kind die Trennung nicht erläutern kann, wird es in einer entfremdenden imaginären Abhängigkeit vom Begehren ihrer Mutter verharren, was einen psychotischen Wahn auslösen kann. Green schreibt: »[D]er Vater muss nicht nur in den Rang eines ödipalen Objekts erhoben werden, sondern es muss auch eine Umkehrung stattfinden, nämlich das präödipale Objekt der Abhängigkeit in das ödipale Objekt des Rivalen verkehrt werden.«44

44 | Green: Der Kastrationskomplex, S. 154 (Herv. i. O.).

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Das Spiegelstadium »Nie erblickst Du mich da, wo ich Dich sehe.« Jacques L acan 45

Lacan beschreibt das Spiegelstadium als eine »Phase des menschlichen Daseins, das sich zwischen dem sechsten und dem 18. Lebensmonat entfaltet. Das Kind, das sich noch in einem Zustand der Machtlosigkeit befindet und noch nicht fähig ist, die Motorik zu koordinieren, ahnt in der Vorstellung die Erfassung und die Beherrschung seiner körperlichen Einheit voraus. Diese imaginäre Vereinigung wirkt durch die Identifikation mit dem Bild des Gleichen als einheitliche Form; sie fällt auf und erscheint durch die konkrete Erfahrung des Kindes, das sein eigenes Bild, sein Selbstbildnis in einem Spiegel betrachtet.« 46

Ausgehend von der französischen Tradition, wie sie erst Wallon und dann Zazzo47 beschrieben haben, erfindet Lacan das Konzept des Spiegelstadiums, in dem er all seine Untersuchungen konzentriert und vollendet, um es zur Grundlage einer Theorie des psychologischen Subjekts zu machen. Allerdings weist Lacan die Erfahrung der Psychologie zurück, wonach die Konfrontation des Kindes mit seinem Spiegelbild seine Fähigkeit zeige, ein Problem zu lösen, wie es nämlich sein Ich (moi) mit seiner Umwelt vereinigen kann. Die Konzeption des Spiegelstadiums wurde 1936 beim Internationalen Kongress der Psychoanalyse in Marienbad vorgestellt. Lacan betont »das triumphierende Aufsteigen des Bildes mit der jubelnden Mimik, die diesen Vorgang begleitet«48; dieser Moment stellt die Konstitution des ersten Entwurfs des ›Ich‹ dar, die Etablierung des Narzissmus. Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion zeigt, wie unwiderruflich das Spiegelbild die Identität zu verbürgen scheint und wie fundamental fremd sie sich erweist. Die Erfahrungen der Psychoanalyse widersprechen der Auffassung über die Funktion des Ich (je) in der Philosophie. Lacan erklärt, »unsere spezielle Erfahrung stellt uns jeder Philosophie entgegen, die sich unmittelbar vom cogi45 | Lacan: Das Seminar, Buch 11, S. 97; Original: Le séminaire, livre 11, S. 85: »Jamais tu ne me regardes là où je te vois.« 46 | Laplanche, Jean / P ontalis, Jean-Bertrand: »Stade du miroir«, in: dies.: Le vocabulaire de la psychanalyse, 1967, S. 452 f., hier S. 452. 47 | Vgl. Wallon, Henri: »Comment se développe chez l’enfant la notion de corps«, in: Journal de Psychologie, Band 27, Nov. / D ez. 1931, S. 705-748; Zazzo, René: Reflets de miroir et autres doubles, Paris: PUF, 1993. 48 | Laplanche /  P ontalis: »Stade du miroir«, S. 452.

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to ableitet«49. Im Subjekt, das mit seinem Spiegelbild konfrontiert ist, verknotet sich etwas ohne sein Wissen, die Identifizierung mit dem Bild und die Anerkennung als sein Eigenes. Diese Konfrontation erbringt keinerlei Fortschritt im Wissen, kein psychologisches Reifen, das es dem Subjekt erlauben würde, seine Motorik zu koordinieren. Während der Psychologe wissen möchte, ob das Kind weiß, womit es zu tun hat, nämlich mit seinem Ebenbild, erkennt das Kind nach Lacans Theorie »im Spiegel bereits sein eigenes Bild als solches«50, und es erfasst etwas, das es unmittelbar betrifft, in einer Art »jubilatorischer Aufnahme«51 in einer Phase, in der es noch nicht weiß, was es sucht, und wissen will, was es in seinem Bild findet. Lacan schreibt: »Solche Aktivität behält für uns bis zum Alter von achtzehn Monaten den Sinn, den wir ihr geben. Sie verrät nicht nur einen libidinösen Dynamismus, der bis dahin problematisch geblieben ist, sondern auch eine ontologische Struktur der menschlichen Welt, die in unsere Reflexionen über paranoische Erkenntnis eingeht.« 52

Was das Kind findet, so Lacan, ist das Begehren, das hell beleuchtet auf der glänzend-glatten Oberfläche des Spiegels erscheint, der seine illusorische Tiefe offenbart. Das Begehren ist reine Faszination gegenüber dem Bild, eine Beziehung zum Selbst, die über eine Beziehung zum (großen) Anderen entsteht. Daher der Satz, den er von Kojève aus dessen Lektüre von Hegel übernimmt, so Ogilvie: »Das Begehren ist nicht das Begehren des Anderen, sondern das Begehren des Anderen zu begehren.«53 Lacan überträgt dieses Wissen auf die Bildung des Subjekts, denn das Subjekt steht nicht vor einer Welt von Formen, die es faszinieren, sondern es bildet sich durch diese Formen und in diesen. Anders gesagt, das Äußere ist nicht außerhalb, sondern innerhalb des Subjekts. Das Begehren ist in seiner Struktur unerfüllbar, und es ist verborgen von der Angst. Ich begehre etwas, weil es mir selbst ähnlich ist; werde ich aber 49 | Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« [1949], in: ders.: Schriften 1, 1973, S. 61-70, hier S. 63. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 64. 52 | Ebd., S. 63 f. 53 | Ogilvie: Lacan, le sujet, S. 105; eigene Übersetzung. Vgl. auch Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens: Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 12: »Bei Kojève manifestiert sich die Begehrensstruktur des Menschen als das ›Begehren des Begehrens des Anderen‹ bzw. als ›Begehren, das Begehren des Anderen zu begehren‹« – freundlicher Hinweis von R.-P. Warsitz.

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mit dieser Ähnlichkeit konfrontiert, bedroht sie mich: ich wechsle vom Subjekt zum Objekt und zurück. »Dies Der-eine-oder-der-andere, das ist die depressive Wiederkehr der zweiten Phase bei Melanie Klein«54, fügt Lacan hinzu. Die Angst stellt sich diesen Wechsel vor: das ist auch, was das Kind in seinem Spiegelbild findet. »Die Angst ist ein entscheidender Bezugspunkt für die Analyse, tatsächlich ist sie das, was nicht täuscht«55, schreibt Lacan. Das erklärt die inhärente Angst des Kindes, wenn das Bild der Mutter aus seinem Sichtfeld entschwindet, sobald die Kontinuität der Identität nicht mehr sichergestellt ist. Die imaginäre Beziehung ist eine spielerische Spiegelung, die von wechselseitigen Erwartungen bestimmt ist: Wenn das Kind sich in einem Spiegel erkennt, verkennt es sich zugleich, da nur ein Bild von ihm da ist. Der Blick der Mutter bedeutet den Beginn der Konstituierung des Subjekts. Sie ist Garant des Individualisierungsprozesses, weil es Teil von ihr ist, und sie ist Teil des Kindes. Das Kind, das sich noch in einem Zustand der Ohnmacht und der unkoordinierten Motorik befindet, antizipiert imaginär das Ergreifen und die Beherrschung der Einheit seines Körpers. »Diese imaginäre Vereinheitlichung geschieht durch Identifizierung mit dem Bild des Ähnlichen als einer totalen Gestalt; die Identifizierung geschieht und aktualisiert sich in der konkreten Erfahrung, bei der das Kind sein eigenes Bild im Spiegel wahrnimmt.«56 Das Spiegelbild ist die Einschreibung des für die Konstitution des Ich notwendigen Blicks der Mutter im Spiegel auf dem Körper des Kindes. Nach Kofman57 leiht die Mutter ihre Augen im Spiegel aus, sowohl als Lebensprinzip für die Einheit als auch für eine fremde und dadurch unheimliche Doppelung. Ich bin ich und ein Anderer. Die Angst ist das Zeichen dieses existenziellen Bruchs. Die doppelte, zerrissene Funktion der Mutter findet hier statt als Unterstützung der Ich-Funktion einerseits und als Begleiterin der Trennung von (Mutter und Kind) anderseits. Körperbild und Spiegelbild begleiten die Konstitution der Kindheit. »Dieser Mangel an sensomotorischer Koordination hindert den Säugling nicht daran, vom menschlichen Gesicht fasziniert zu sein, und dies, sobald er das Tageslicht erblickt, wobei er auch auf deutlichste Weise zeigt, dass er von allem,was ihn umgibt, seine Mutter unterscheidet« schreibt

54 | Lacan, Jacques: »Von dem, was uns vorausging« [1966], in: ders.: Schriften 3, 1980, S. 7-14, hier S. 13. 55 | Ders.: Das Seminar, Buch 11, S. 47; Original: Le séminaire, livre 11, S. 40: »L’an­ goisse est pour l’analyse un terme de référence crucial, parce qu’en effet l’angoisse est ce qui ne trompe pas.« 56 | Laplanche /  P ontalis: »Stade du miroir«, S. 452. 57 | Vgl. Kofman, Sarah: Quatre romans analytiques, Paris: Galilée 1973, S. 160.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

J. Lacan.58 Das Körperbild als Metapher der Mutter ist das, was bleibt, wenn alles andere vergessen wird, die Spur einer vergeblichen Liebe, ein Rest. Das Kind entwöhnt sich selbst mit dem Spiel Fort-Da, indem es dieses Entschwinden / Wiedererscheinen symbolisiert und damit seine Angst beherrscht, sobald es sie erblickt. Im Spiegel ist es die Erfahrung des Knotens der Entwöhnung, die in einem Geniestreich diesen ersten Moment der Beziehung zum Selbst begründet, der für immer zum Moment der Beziehung zum anderen wird. Durch das Spiegelstadium tritt das Kind in die symbolische Ordnung ein. Das ist eines der drei essentiellen Register des lacanschen psychoanalytischen Denkens und der menschlichen Realität 59. Das Drama des Spiegelstadiums und die Dynamik, die es auszeichnet, sind »[f]ür die narzisstisch bestimmenden Identifikationen und Anbindungen des gesamten Lebens eine fortdauernde dialektische Konstellation«, schreiben Dunker und Kluttig60. Blumenstein hat die Konzepte Lacans wie Begehren, Melancholie und Depression in Bezug auf die Kunstwerke herausgearbeitet. Sie fasst die Begriffe, die für unser Thema wichtig sind, so zusammen: »In Anlehnung an Lacans Begriff des Begehrens geht es aus einem grundlegenden Mangel im Subjekt hervor. Dieser Mangel entsteht, weil das Subjekt in die Sprache eingeführt wird. Wir müssen sprechen und sagen gleichzeitig immer mehr und weniger, als wir ›meinen‹ oder als wir sagen ›wollen‹. Deshalb erscheint der Mangel im Zwischenraum dessen, was Sprache kommunizieren soll und was sie mittransportiert. Durch die Trennung – normalerweise, aber nicht notwendig im wörtlichen Sinne von der Mutter – nimmt das Subjekt diesen Mangel an und betritt die symbolische Welt der Sprache. Es ist diese Spaltung, die das Subjekt in ein soziales Ich verwandelt, das die Welt seiner eigenen Einheit folgend konstruiert, welche es im Spiegel-Stadium erlebt hat und welche die eigene imaginäre Selbstwahrnehmung bestimmt, die das Begehren versucht, zu überwinden und mit anderen Objekten aufzufüllen. Demnach resultiert Begehren aus dem Verlangen, einen grundlegenden Mangel im Subjekt auffüllen zu wollen. […] Dieser Mangel entsteht ursprünglich aus dem Trauma der Geburt, bei der das Kind aus der vollkommenen Symbiose mit seiner Mutter herausgerissen wird, und wird verstärkt mittels der Trennung von der Mutter durch den Eintritt in die symbolische Welt der Sprache.« 61

58 | Vgl. Lacan: »Quelques réflexions sur l’Ego«, in: Le Coq héron, Nr. 78, 1980, S. 9; eigene Übersetzung. 59 | Vanier, Alain: Lacan, Paris: Les belles lettres 2003. 60 | Dunker /  K luttig: »Der zersprungene Spiegel«, S. 108. 61 | Blumenstein, Ellen: »Name your desire, das Benennen von Begehren«, in: dies. / Ensslin, Felix (Hg.): Between two deaths, Ausstellungskatalog, ZKM Karlsruhe, 12.05.19.08.2007, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2007, S. 16-25; eigene Übersetzung.

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Wenn wir Freuds Begriff der Depression als nicht zu Ende geführte Trauer um den Verlust eines geliebten Objekts verstehen, ist bei Lacan die Position des Subjekts in Bezug auf das Begehren als strukturell depressiv zu begreifen. Depression und Begehren lassen sich in ein reziprokes Verhältnis zueinander setzen. Wenn ich der Auffassung der Weiblichkeitstheorie folge, dann scheint es unverzichtbar für das Verständnis der Depression zu sein, die Situierung der Nichterfüllbarkeit des Begehrens in Betracht zu ziehen. Der Bezug zum Spiegelstadium ist für dieses Thema von höchster Wichtigkeit, und die Brisanz der Unterwerfung unter das Bild des Anderen und das damit verbundene Bild seines Ichs dominiert das ganze Leben. Die Unterwerfung unter das eigene Spiegelbild manifestiert sich in seiner Zerbrechlichkeit besonders, wenn Lebensepisoden für die Instabilität im inneren Gleichgewicht sorgen. Für Lacan ist die Dynamik des Spiegelstadiums die Grundlage der Intersubjektivität.

2.2 L acan und die weibliche S e xualität Für die Psychoanalyse steht das Verhältnis zur Sexualität im Zentrum der menschlichen Erfahrung. Die Sexualität erscheint in ihrer zweifachen Bedeutung, als Geschlechterdifferenz und in ihrer Beziehung zur Fortpflanzung bzw. Fortdauer des Lebens. Strukturell konfliktbeladen macht die Sexualität den Kern aus, und damit ist das psychische Leben grundlegend konflikthaft. Durch die Offenheit und nicht festgelegte Bestimmung der Sexualität ist es dem Menschen möglich zu erfahren, dass sein Wesen als Subjekt vom Nichtwissen dessen, was er selber ist, geprägt ist. Das Subjekt, Mann oder Frau, wird mit der Frage seiner sexuellen Identität allein gelassen, auch wenn die kulturellen Modelle des Mann- oder Frauseins normativ wirken. Da das Werden jeder Sexuierung individuell ist, erstaunt es nicht, in welcher Vielfalt die Frau in der Vorstellung der Männer erscheint, vom dunklen Kontinent bis hin zur Darstellung oder Inkarnation des Phallus62: In Form eines ausgehöhlten Objektes, das aussieht wie ein umgedrehter Handschuhfinger, wird die Vagina zum Geheimnis. Lacan kommentiert dazu: Die Natur des vaginalen Orgasmus bewahrt ihre unverletzte Dunkelheit63. Lacan postuliert, dass sich dem Subjekt im Moment der Erkenntnis einer männlich-weiblichen Opposition eine Kluft auftut, die Freud die Kastration 62 | Vgl. Perrier, François /  G ranoff, Wladimir: »Le problème de la perversion chez la femme et les idéaux féminins«, in: La Psychanalyse 7, 1964, S. 141-199. 63 | Vgl. Lacan, Jacques: »Leitsätze für einen Kongress über weibliche Sexualität« [1958], in: ders.: Schriften 3, 1980, S. 223-235, hier S. 226.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

nennt. Durch Kastration wird das Subjekt geschaffen. Dazu schreiben Conté und Safouan: »Die Kastration steht im Innersten des Begehrens, sie beweist unlöslich und schlagartig die Unfähigkeit des Subjekts zur Sexualität und zum Entstehen der Subjektivität, da sich der Mann, der dieses Zeichen eines Mangels erkennt, als begehrendes Subjekt verhält, das auf dem Entzug dessen beruht, was ihn – wenn es nicht vorhanden wäre – gleichermaßen als Begehrenden und als Subjekt vernichten würde.« 64

Freud hat mithilfe der Mythen seine Theorie der Kastration entwickelt, dagegen stellt Lacan durch sein Konzept des Begehrens und des Mangels eine erweiterte Theorie des freudschen Verständnisses der weiblichen Sexualität dar. »Ich lasse für meinen Teil den Mythenbegriff beiseite«, argumentiert Lacan65 in Bezug auf den freudschen Triebbegriff. Während Freud die Kastration als Effekt der Wahrnehmung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes bestimmt hatte, erinnert Lacan daran, dass die Kastration beide Geschlechter betrifft, beide dem Mangel unterworfen sind. Die Subjektkonstitution des weiblichen Wesens ist der des männlichen Wesens gleich: Beide sind Mangelwesen. Es gibt keine Sexuierung, beide biologischen Geschlechter sind phallische Wesen, wobei man den Phallus (es gibt ihn nicht) von phallischen Objekten (die den Phallus verkörpern) unterscheiden muss. Eine wesentliche Veränderung gegenüber Freud ist bei Lacan nicht so sehr auf die Sexualität oder den Menschen als Geschlechtswesen zurückzuführen, sondern geht auf die Intersubjektivität in der Konstitution des Subjekts zurück, das seine Abhängigkeit vom Anderen betont. Die Kastration ist an dieses Konzept der drei Register RSI gebunden – und an die Konzeptualisierung des symbolischen Begehrens. Das, was jeder Mensch anstrebt, ist also das, was dem Anderen fehlt und was den Anderen als Begehrenden ausmacht. Lacan situiert die Nichterfüllbarkeit des Begehrens auf der Seite der Wunscherfüllung, die von der Abhängigkeit vom Anderen bestimmt ist. Die Notwendigkeit der Alterität ist damit begründet. Daraus folgert Lacan, dass jedes Subjekt dem Gesetz des Begehrens als »Begehren des Begehrens« des Anderen folgt. 64 | Conté, Claude /  S afouan, Moustapha: »Sexualité humaine«, in: Encyclopaedia Universalis, Paris: Encyclopædia Britannica 1968: »La castration s’inscrit au cœur du désir, c’est-à-dire qu’indissolublement et du même coup, elle marque l’inaptitude du sujet à la sexualité et à la naissance même de la subjectivité, puisque, c’est à recevoir cette marque d’un manque que l’homme trouve à se soutenir comme sujet désirant, fondé donc sur la soustraction de ce dont la présence l’abolirait tout à la fois comme désir et comme sujet.« Eigene Übersetzung. 65 | Lacan: Das Seminar, Buch 11, S. 171.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« »Man begreift, wie die sexuelle Beziehung dieses geschlossene Feld des Begehrens einnimmt und ihr Los hier ausspielen wird. Denn dieses Feld ist gemacht dazu, dass auf ihm sich das Rätsel produziert, das jene Beziehung im Subjekt aufwirft, und das sie ihm doppelt ›signifiziert‹: Als Wiederkehr des Anspruchs, den sie auslöst, als Anspruch an das Subjekt des Bedürfnisses, als Ambiguität, die vergegenwärtigt wird bezüglich des Andern, das im beanspruchten Liebesbeweis im Spiel ist. Das Auseinanderklaffen in diesem Rätsel zeigt, wodurch es determiniert ist, in der einfachsten Formel, die es offenlegt: Dass nämlich weder das Subjekt noch der Andere (für jeden der Beziehungspartner) sich damit zufriedengeben können, Subjekte des Bedürfnisses oder Objekte der Liebe zu sein, sondern einzig und allein damit, Statthalter zu sein für die Ursache des Begehrens.« 66

Wir müssen bei unseren Überlegungen zur Sexualität der Frau von diesen theoretischen Definitionen ausgehen, um zu begreifen, inwieweit die Kastration sowohl für den Mann als auch für die Frau in Bezug auf die Konstitution des Begehrens wie auf die Bestimmung der pathologischen Kategorien der Neurose, der Perversion oder der Psychose selbst unlöslich mit der Symbolik der phallischen Funktion verbunden ist. So scheint die Art und Weise, in der Sexualität verstanden und gelebt wird, in der ein Kind als Produkt eines Geschlechtsaktes gezeugt wird, von der Erfahrung der Kastration und ihrer Bewältigung durch das psychische Subjekt abzuhängen. Der Mensch wird von seiner anatomisch-biologischen Realität gelöst, um ihm seine eigene psychische Determiniertheit aufzuerlegen. Auf diese Weise wird er zum Subjekt seiner eigenen Geschichte. Die Sexualität stellt das Subjekt in Frage. Widmer beschreibt, wie das Subjekt in der Reflexion des Spiegelbilds durch eine Infragestellung seines Seins hindurchgeht und wie die symbolische Kastration als Effekt der Reflexion im Spiegel sich konstituiert: »Es gibt dabei einen Verlust der Einheit [in der Beziehung zur Mutter; CM], die zuerst als Trennung vom Spiegelbild empfunden wird. Das Subjekt teilt sich, und die Einheit erscheint nachträglich als eine verlorene. […] Das Subjekt steht am Schnittpunkt des Wunsches nach Wiedererreichen der Einheit und der Ordnung der Signifikanten, die dieser Einheit im Wege steht. Mit der Teilung des Subjekts kann man zwei Dimensionen unterscheiden: eine des Seins und eine des Habens. Die Reflexion führt das Subjekt in den Mangel an Sein ein. Da das Wiedererreichen des Seins, das eine Einheit wäre, unmöglich ist, wird das Subjekt auf die Bahn der Objektbeziehung geleitet. […] Auf diese Art konstituiert sich das, was in der lacanschen Psychoanalyse symbolische Kastration genannt

66 | Ders.: »Die Bedeutung des Phallus«, S. 127.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan wird. Sie geht davon aus, dass die Einheit des Seins verloren oder präziser: unmöglich ist. An ihrer Stelle konstituieren sich Objekte des Begehrens.« 67

Aus der symbolischen Kastration geht die Objektbeziehung des Habens hervor. »Der Phallus konstituiert sich gerade dort, wo die Teilung in den Seins- und in den Habensbezug des Subjekts stattfindet, d. h. dort, wo der Verlust empfunden und die Einheit als eine verlorene aufgefasst wird«68, betont Widmer. Für das Verständnis der Depression ist es unverzichtbar, eine Weiblichkeitstheorie zugrunde zu legen, die die Rolle des Phallus in diesem Sinn bestimmt, nämlich als Ort einer verlorenen Einheit. Bei Widmer lesen wir: »Wenn das Begehren der Mutter der Phallus ist, will das Kind, um es zu befriedigen, Phallus sein.« Ihr Begehren ist es, an der das kindliche Begehren sich erprobt. Solange das Kind nur ein Produkt des Imaginären seiner Mutter ist, kann das Kind nicht, laut Lacan, einen eigenständigen Platz in der Struktur (Einheit MutterKind) annehmen. Der Phallus, so Pagel, »ist das ›Symbol‹ für den Mangel schlechthin, für den Mangel, der sich in immer neuer Gestalt in jenen Objekten ›klein a‹ verkörpert, die das menschliche Begehren auf seiner Suche nach libidinöser Erfüllung umkreist.«69 In diesem Seinsverfehlen sieht Lacan die condition humaine verankert. Der Phallus, präzisiert Widmer weiter, hat genau dort, am Schnittpunkt zwischen diesem Verlust, der empfunden wird, und der Wiederherstellung, seinen Ort. Jedoch ist dieser Ort atopisch, ohne eine im Körper eingeschriebene Stelle. »Er verdankt sich der Logik« 70, aber: »Da er […] einer Denknotwendigkeit entspricht, […] wird er in verschiedenen Verkörperungen repräsentiert, vorgestellt, als Kind, als geistige Macht, wie eben der ›logos spermatikos‹, als vollständiger Körper, der vielleicht sogar als unsterblich gedacht wird.« 71 Der Phallus enthält – wie in seinen Definitionen beschrieben – in sich drei Dimensionen zur gleichen Zeit: einen Ort des symbolischen Mangels, der imaginären Idee der Erfüllung und der realen Vollständigkeit. »Wir sehen, dass der Phallus seinen Ort im Schnittpunkt von Sein und Haben, Libido und Signifikanten, Subjekt und Objekt, Mangel und Phantasma hat.« 72 So wird der Phallus definiert als Signifikant der unmöglichen Beziehung des Subjekts zum Anderen, des Subjekts, das dem Mangel unterworfen und damit Begehrender ist. 67 | Widmer, Peter: »Sexualität und Körperbild«, in: ders.: Metamorphosen des Signifikanten, 2006, S. 111-122, hier S. 112. 68 | Ebd., S. 113. 69 | Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 103. 70 | Widmer: »Sexualität und Körperbild«, S. 113. 71 | Ebd. 72 | Ebd., S. 114.

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Das Spiegelstadium als Identifizierung mit dem eigenen Bild und die Stimme des Anderen, die das ausspricht, befreien von der Herrschaft des Imaginären. Die Beziehung zum (großen) Anderen ist entscheidend für das Eintreten in die symbolische Ordnung. Das Erreichen der Subjektkonstitution im Spiegelbild ist der Ausgangspunkt für die Triebentwicklung bis hin zu jenem ödipalen Schicksal und seinem Angelpunkt, an dem die Kastration ihre Bedeutung erhält, die ein Geheimnis verbirgt: Lacan beschreibt, wie beide Geschlechter dem Primat des Phallus unterworfen sind, und beide dem Kastrationskomplex, dem »gewachsenen Fels« 73 unterliegen. Der Phallus ist, was die Kastration abschaffen soll: Er ist »zugleich Ort des Mangels wie auch der unmöglichen Ganzheit und der Erfüllung«, schreibt Widmer 74. Der Phallus als imaginäres Organ gilt für beide Geschlechter. Aber die Sicht des Penis bekommt für beide Geschlechter einen phallischen Wert und wird als Inbegriff der Vollständigkeit aufgefasst. Die Phallizität definiert sich nach der ödipalen Verarbeitung und wird laut Widmer entscheidend für die Begegnung mit dem anderen Geschlecht. Für beide ist die Phallizität Ausgangspunkt der Sexualität. Freud hat dem weiblichen Kind ein Fehlen gegenüber dem männlichen Kind, das als vollständig gilt, zugeschrieben: Das Kind hat die Vagina ignoriert. Weil die Vagina als weibliches Geschlechtsteil ignoriert wird, allerdings immer schon als verborgener Phallus bzw. als Brust erkannt wird, gibt es keinen Signifikanten des weiblichen Geschlechts, und die Begriffe des Lochs und Nichts, mit denen es blind beschrieben wird, lassen nur die Ränder der Leere erahnen, die sie immer wieder beschwören. Durch die Position beider Geschlechter kann es kein komplementäres Verhältnis auf der symbolischen Ebene geben. Lacan erläutert, dass die Frauen ihre Antwort finden müssen, ihre eigene, die weder identisch noch komplementär zur Antwort des Mannes ist. Der Phallus reicht nicht aus, um das Genießen in der Sprache zu erfassen, zu beschreiben; die Frau geht nicht darin auf, Objekt des Begehrens ihres Mannes zu sein. Indem Lacan die Frau als Objekt des Begehrens des Mannes und zugleich als Subjekt des Begehrens bestimmt, ist implizit, dass das weibliche Rätsel durch das Rätsel des weiblichen Begehrens ersetzt wird. Für den Mann mündet das Begehren in eine andere Richtung als für die Frau, was die Rolle des Phallus unterstreicht. Was steht an der Stelle des Phallus für den Mann, wenn er auch dem Mangel unterworfen ist? Das Symbol für den Mangel des Mannes wäre, die Position des Vaters des Mannes zu erringen, während für die Frau das mütterliche Begehren als weibliche Kompensa-

73 | Freud: »Die endliche und die unendliche Analyse«, S. 351-392, hier S. 392. 74 | Widmer: »Sexualität und Körperbild«, S. 114.

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tion des Mangels zu fungieren scheint. Dadurch stellt sich die Frage der Position der Frau als ›Weib‹ im Verhältnis zur Mutter. Wir sehen auf den Fresken der Villa dei Misteri in Pompej einen Phallus: »Der Phallus in dieser Freskendarstellung ist nichts anderes als ein Kind in der Wiege.« 75 So lautet die Antwort in der Antike. Und heute? Freud ist an der Theorie der Weiblichkeit gescheitert, weil es keine Darstellung des weiblichen Begehrens gibt. Dadurch, dass Freud die Frau als Mangelwesen beschrieben hat, ist ihr Begehren als Phallussuchende viel existenzieller als das als Mutter. Für Freud ist die Erfüllung durch Mutterwerden möglich gewesen, was für Lacan unmöglich erscheint: Die scheinbare Ergänzung durch die Gleichung Kind = Phallus, die ihren Mangel repräsentiert, geht nicht auf. Das Kind als Subjekt muss abgegeben werden, um sich zu entwickeln, und die Metapher des Vaters ist wirksam: Ihr Begehren ist ein nicht erfüllbares Verfehlen.

2.3 L acans P rovok ation : D ie K onstitution der F r au Insofern provoziert Lacan durch sein Evozieren, wenn er behauptet: »La femme n’existe pas.« 76 Seine herausfordernde Provokation77 ist an die Psychoanalytikerinnen adressiert und bezeichnet das gezielte Hervorrufen einer Reaktion, um ihm als Mann und Psychoanalytiker zu erklären, was die weibliche jouissance einer nicht existierenden Frau ist. Weil diese trotz inständigen Bittens dies nicht sagen, schließt Lacan daraus, dass sie von dem supplementären Genießen nichts wissen. Dennoch: Mit dem Lebenstrieb (Sexual- und Ichtrieb) insistiert die Existenz, und mit dem Todestrieb existiert die Insistenz. Es ist das weibliche Genießen, das uns auf den Weg zur Existenz bringt, d. h. nach außen: exsister. Er schreibt ex-sistence, um auf das topologische Fundament zu verweisen (in einem Außen sein).

75 | Ebd., S. 113. 76 | Vgl. Lacan: Le séminaire, livre 20, S. 68 f. Lacans Aussage in Bezug auf die Passagen zur Existenz von der Frau findet sich in der Sitzung vom 20. Februar 1973, wo er sagt: »Il y a une jouissance à elle, à cette elle qui n’existe pas et ne signifie rien.« In der deutschen Übersetzung (von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger) heißt es: »Es gibt ein Genießen für sie, für diese sie, die nicht existiert und nichts bedeutet.« Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 20, S. 80 f. (beide: Herv. i. O.). 77 | Vgl. ebd., S. 54: »Nos collègues les dames analystes, sur la sexualité féminine elles ne nous disent … pas tout!« Dt.: S. 63: »[U]nsere Kollegen, die Damen Analytiker, über die weibliche Sexualität sagen sie uns … nicht alles!«

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Die Frau existiert nicht 78, oder: »Es gibt nicht Die Frau« in dem Sinne, in dem die Theorie Freuds sie bestimmt hat, nämlich als kastrierten Mann. Die Anatomie des Geschlechtsunterschiedes ist nicht darstellbar, sondern sie repräsentiert als Signifikant den Mangel. Keiner hat den Phallus. Lacan meint hier nicht eine Abwertung der Frau, sondern er weist darauf hin, dass sie kein empirisches Merkmal hat, das sie definiert, es fehlt ein Zeichen, ein Signifikant. Die Frau ist auch im phallischen Diskurs, jedoch nicht ganz, nämlich durch die Kastration, die nie abschließbar ist, schreibt er. Deswegen gibt es die Teilung in Weiblichkeit und Mütterlichkeit. Die Frau existiert nur verankert in ihrem Genießen, draußen zu sein; sie insistiert, um zu ex-sistieren, indem sie Mutter wird. Mit dem Wunsch nach einem Kind, als das Kind, das in ihrer Vorstellung schwebt, kann sich die Mutter auf die Phallizität beziehen, mit der Macht, zu erschaffen, was sie nicht hat, und das Kind kann auf diese Art in eine phallische Position gebracht werden. Das Phalluskind bezeichnet hier die Signifikanz einer Leerstelle bei der Mutter. Währenddessen ist die Weiblichkeit offen in Bezug auf das Begehren und fordert eine Antwort vom Anderen auf ihre Frage nach ihrem Sein. In dem Seminar Encore (deutsch: noch) (was man auch lesen kann als encorps, (deutsch: im Körper), wobei ich mich auf Serge André 79 beziehe, greift Lacan die Thesen über die weibliche Sexualität auf: • Das Besondere des Weiblichen ist die Verdoppelung des Genießens, die nicht einfach durch die Opposition von Vagina zu Klitoris bedingt ist: Auf dieser Ebene wird die weibliche Sexualität damit eher durch Trennung als durch Kastration definiert. • Das freudsche Konzept der Libido als männlich bestimmt muss überdacht werden, weil die weibliche Sexualität als Begehren nicht wie die männliche Sexualität strukturiert ist und weil die Frau ihre Antwort finden muss. • Ein Geheimnis besteht höchstens dadurch, dass die Frau die Nichtexistenz des (großen) Anderen im Hinblick auf das Geschlecht ersetzen soll. Laut Lacan gibt es ›nicht ein‹ sexuelles Verhältnis, sondern sexuelle Beziehungen, nur die gibt es Sexualität ist nicht die Realisierung eines Verhältnisses – im mathematischen Sinne – der Komplementarität zwischen Frau und Mann. Das sexuelle Verhältnis lässt sich nicht schreiben: Es gibt keine Repräsentation auf der Signifikantebene. Es ist unmöglich, die Beziehung voll zu erfassen, die die Sexualität der Sprechenden ausmacht. Denn dieses Nichtver-

78 | Ders.: Télévision, Paris: Seuil 1974, S. 60: »La Femme n’ex-siste pas«; dt.: Radiophonie. Television, Weinheim / B erlin: Quadriga 1988, S. 80 (Herv. i. O.). 79 | Vgl. André, Serge: Que veut une femme? Paris: Seuil 1995, S. 218.

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hältnis ist die Voraussetzung dafür, dass man miteinander sprechen muss, als narzisstische Besetzung der Anderen. • Die Funktion des Phallus wirkt auf der Ebene des Unbewussten als die Funktion eines Signifikanten. Im Begehren der werdenden Mutter wird das Kind als phallisches Objekt zum Beheben des Mangels, der das Begehren auslöscht, denn es macht seine Mutter zu einer erfüllten, befriedigten Mutter. Das Begehren der Mutter nach einem realen Kind ist gleichzeitig das Begehren der Mutter nach ihrem Kind und das Begehren des Kindes nach dieser Mutter, indem das Kind mit dem Begehren der Mutter identifiziert ist und gleichzeitig das Begehren nach der Mutter darstellt. Für Lacan ist die Strukturierung des Begehrens der weiblichen Sexualität durch die Mutterschaft bedingt. Die Strukturierung des Begehrens der Mutter hängt von ihrer Beziehung zu ihrer eigenen Mutter ab. Ihre Zukunft als Mutter wird für die Frau dadurch bedingt wie sie in ihrer Rolle als Propfen von ihrer eigenen Mutter wahrgenommen wurde, und durch die Depression, die für diese Mutter infolge der Verstörung gegenüber einem fremden und unbekannten Neugeborenen entstand. Die Überlegungen Lacans zur weiblichen Sexualität führen uns zurück zu dem, was die Frau bei der Zeugung, beim Eintritt in die Mutterschaft kennzeichnet. Nach André ist »jede Zeugung der Versuch einer Antwort auf die Nichtexistenz der Frau« 80 und erweist sich als nicht repräsentiert durch den Phallus. Die Zeugung, schreibt er, ist nichts anderes als die Erzeugung eines neuen Signifikanten anstelle des fehlenden Signifikanten. Die Frau bekommt dadurch eine Macht, indem sie ihren Kinderwunsch an das Begehren nach dem Begehren des Mannes bindet und sich als Schöpferin präsentiert. Die Theoretisierung, die ein spezifisches weibliches Begehren in der Mutterschaft auf diese Weise bestimmt, nimmt ihr die Harmlosigkeit des Mutterglücks. Die Konflikthaftigkeit, die in der Mutterschaft liegt, wird offenkundig. Denn das Kind wäre hier als Schöpfung einer Mutter geboren, für die der Mann nur als Werkzeug eingesetzt wird, vergleichbar mit dem Pinsel des Malers. Jede Frau wird auf die Macht verzichten müssen, d. h., sie wird die phallische Funktion ausüben, nur um sich davon wieder trennen müssen. Für die Krankheitslehre ist das ein relevanter Punkt: die Mutter als Schöpferin eines neuen Leben anzusehen. »Frau ist einer der zahlreichen Namen Gottes«, lautet die Bildunterschrift eines Bildes Wolinskis (vgl. Abb. 1), in Anlehnung an Lacans Satz:

80 | Ebd., S. 294. eigene Übersetzung.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« »Man könnte sagen, dass je mehr der Mann für die Frau Anlass gibt, ihn zu verwechseln mit Gott, d. h. das, wovon sie genießt, erinnern Sie sich an mein Schema vom letzten Mal, um so weniger il hait, hasst er, und im selben, um so weniger il est, ist er, d. h., daß in dieser Affäre umso weniger er liebt.« 81

Abbildung 1  Wolinski: »Frau ist einer der zahlreichen Namen Gottes« 82 (2015)

Lacans Provokation gegenüber der Geschlechtsfrage betrifft im Grunde drei Momente der Weiblichkeitstheorie in ihrer Struktur: 81 | Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 20, S. 98 (Herv. i. O.); Frz.: Le séminaire, livre 20, S. 84: »On pourrait dire que plus l’homme prête à la femme de le confondre avec Dieu, c’est-à-dire ce dont elle jouit, rappelez-vous mon schéma de la dernière fois, moins il hait, et du même coup, moins il est, c’est-à-dire que dans cette affaire moins il aime.« 82 | »Femme est l’un des nombreux noms de Dieu«; eigene Übersetzung.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

1. »La femme n’existe pas«, die Frau existiert nicht: Es gibt keine Verknüpfung des phallischen Signifikanten mit dem Körper. Es fehlt ein sie definierendes Merkmal. Es gibt die Frauen im Plural (elle n’est pas toute), aber nicht im Singular, weil sie nicht-ganz im Phallischen positioniert ist. Mit Lacan kann man sagen: »il n’y a pas La femme« / »es gibt nicht Die Frau.« 83 2. »Il n’y a pas de rapport sexuel«, es gibt kein sexuelles Verhältnis: Das sexuelle Verhältnis lässt sich nicht schreiben, da es keine mathematisch festgelegte Zuordnung gibt. Das eine Geschlecht hat ein Merkmal, das es definiert, das andere nicht. 3. »Es bleibt nicht minder, daß, wenn sie [die Frau; CM] ausgeschlossen ist durch die Natur der Dinge, so justament deshalb, daß, daraus, nicht alle zu sein, sie, im Verhältnis zu dem, was die phallische Funktion an Genuß bezeichnet, ein supplementäres Genießen hat. […] Also nennt man’s, wie man kann, dieses Genießen, vaginal.«84 Die Frau lässt sich definieren als nicht-alle gegenüber dem phallischen Genießen, weil sie mehr genießen kann. Pagel erklärt: »Während der Mann sozusagen an der ›Natur des Dinges‹ klebt und den Körper der Frau über den ›Genuss des Organs‹ erfahren kann, so dass er die eine wie die andere Frau aus seiner phallischen Funktion heraus begehrt, kann die Frau das Genießen der Anderen und ihres Körpers jenseits der phallischen Lust erfahren.« 85

Und Lacan: »Ich glaube an das Genießen der Frau, insofern es mehr ist, unter der Bedingung, daß dieses mehr, Sie davor einen Schirm stellen, bevor ich es recht erklärt habe.«86 Pagel schreibt weiter: »So kann sie ein Verhältnis zu ihrem Körper und ihrem Sein gewinnen, das nicht wie beim Mann aus sich herausgehend den anderen angehen muss. Vielmehr kann die Frau bei sich bleibend den (großen)

83 | Ebd., S. 68; dt.: S. 80 (beide: Herv. i. O.). 84 | Ebd., S. 80 ff.; Original: S. 68 f.: »Si la femme est exclue par la nature des choses, c’est justement de ceci que d’être pas toute, elle a, par rapport à ce que désigne de jouissance la fonction phallique, une jouissance supplémentaire. […] Alors on l’appelle comme on peut, cette jouissance, vaginale.« (Beide: Herv. i. O.) 85 | Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 107. 86 | Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 20, Weinheim 1991, S. 71-84, hier S. 83 (Herv. i. O.); Original: S. 71: »Je crois à la jouissance de la femme en tant qu’elle est en plus, à condition que cet en plus, vous y mettiez un écran avant que je l’aie bien expliqué.«

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Anderen als Ort des Begehrens erfahren und sich dabei selbst in ihrem Sein genügen.« 87 Die Begehrensstruktur der Frau wirkt emanzipatorisch, wenn man die freudschen Rätsel über Fortpflanzung als Bestimmung der Frau in der Mutterwerdung betrachtet. Wenn aber die Liebesgeschichte der Frau als Offenheit der eigenen Frage verstanden wird, als Ort der Kreativität und Reflexivität, bleibt die Frau in ihrem Bezug zum Mangel in einer konstitutiven Verluststruktur der Weiblichkeit: Als Subjekt der symbolischen Kastration ist sie dem Mangel unterworfen, weil das Begehren in seiner Struktur unerfüllbar ist und in die depressive Position führt, verborgen von der Angst. Lacan versucht, die Position der Frau zwischen zwei Richtungen zu definieren: Die Phallizität, bei der das Objekt-Kind als phallisch betrachtet wird – in dieser dyadischen Situation wird das Dritte als Signifikant des Anderen verdrängt –, und die Mütterlichkeit, die unter dem Deckmantel der Weiblichkeit beschreibt, dass  – wenn eine Mutter ihre Weiblichkeit annimmt  – das Kind mehr als ein phallisches Objekt werden kann. Mir scheint, dass es wohl ein Geschlechtsverhältnis gibt, nicht aber, wie Lacan es betont, zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Mann und Mutter als Frau. Die Subjektkonstitution der Frau mit der Unterwerfung unter den Mangel und der daraus folgenden Dialektik des Begehrens versteckt sich hinter dem Mütterlichen. Bevor diese Problematik weiter verfolgt werden kann, um die strukturelle Wendung von der Frau zur Mutter zu vertiefen, soll die große Bedeutung der klinischen Fälle gezeigt werden, in denen die Frau der Verführung erliegt, nicht auf die Macht des Genießens der Mutterschaft zu verzichten.

Eine Fallstudie: Die »Falle« Im Folgenden beschreibe ich eine Fallstudie, in der die Tochter ein Propfen für die begehrende Mutter war, aber keine Bindung mit ihr eingehen konnte. Die Mutter hatte die Tochter dem Vater ausgeliefert, um sich selbst vor ihm zu schützen. Um diese nicht existierende Bindung zwischen Mutter und Tochter und die Rolle des Vaters in der daraus resultierenden schweren psychischen Störung aufgrund eines sehr, ja, zu innigen Einverständnisses zwischen Vater und Tochter zu illustrieren, möchte ich den Fall einer jungen Frau schildern, die aufgrund einer PPD nach der Geburt ihres Sohnes zur Psychoanalyse kam. Lassen wir sie sprechen: »Erniedrigung, warum muss ich gerade heute immer wieder an diesem Wort herumdenken. Ich habe mich erniedrigt, klein gemacht, um dieser unendlichen Liebe [des Vaters; 87 | Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 113 f.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan CM] zu entkommen. Grenzenlose Liebe in jeder Hinsicht. Er kannte keine Grenzen, war auch nicht in der Lage, mir welche zu setzen. Später bekam ich sie nicht mehr, die Liebe, und hat Liebe überhaupt etwas mit kontrollieren zu tun? Kontrolle. Mein Vater war sehr eifersüchtig, aber er war nie selbstlos. Er lachte über meine Bedürfnisse, ich habe das Gefühl, er lachte über ein Nein.«

Fünf Monate später sagt sie: »Ich fühle mich so … vergewaltigt. Und doch kann ich ohne diesen Vergewaltiger nicht leben, denn ohne ihn existiere ich nicht. Ich habe solche Angst wieder und wieder … Ich sehe immer nur diese riesigen Hände vor mir, die rau sind von der vielen Arbeit. Die drücken und halten fest. Ja, es ist, als ob mein Sohn durch eine Vergewaltigung entstanden wäre, er verkörpert den Schmerz, die Angst, er bedeutet Gefahr, er will mich … sein kleines Mädchen. Er hat Macht, sooooo viel Macht, und ich weiß, dass ich ohne ihn nicht überleben kann. Ich will nicht neben ihm liegen, ja ich hasse ihn, und es ist gut zu wissen, dass ich nicht meinen Sohn hasse. Ich muss einfach noch manche Dinge loswerden. Die versteht doch sonst keiner … Ich muss immer wieder an das Erbrechen, Ausspucken denken. Denn der Drang nach schneiden ist im Moment auch wieder da … Ich will es herausschneiden, loswerden … doch ich glaube, ich kann es nur durch hinschauen loswerden. Was ist es? Die Demütigung, die Schuld, die Angst, es fühlt sich wie eingepflanzt an … ein Kind eingepflanzt, das für immer zu mir gehört, da habe ich wohl vieles vertauscht und verwechselt …«

Ein Jahr später: »Habe ich von seinen Händen schon erzählt, riesigen Händen. Ich weinte in meinem Zimmer am Tag meiner ersten Periode. Mein Vater kam und streichelte meinen Kopf, lange, sanft. Von dem Moment an wusste ich, dass ich mich entscheiden musste, ob ich ein kleiner Junge ›bleiben‹ oder ein Mädchen ›werden‹ wollte, beschützt von meinem Vater, mit seinen großen Händen. Gleichzeitig wusste ich, dass ich ihn verlassen musste, ihn meiner Mutter überlassen musste, die sich nichts daraus machen würde. … Sie war immer kränklich, unterwürfig, inexistent … nur da, um das Essen zu machen, auch heute noch! Ich wusste: Es gehört sich nicht, eine Beziehung innerhalb der Familie mit seinem Vater zu haben! Und trotzdem war meine Kindheit, das Glück der ersten Liebe zu meinem Vater gelebt zu haben. Noch heute, wenn ich an das Glück denke, sehe ich mich durch eine Wiese mit Sommerblumen mit einem Blumenstrauß laufen, den ich für meinen Vater gepflückt habe und den ich ihm hinhalte, während ich in seine offenen Arme laufe [sie weint]. […] Er hat auch auf mich verzichten müssen, damit ich groß werden und Frau werden konnte. Wissen Sie, mein Vater war mein Star, groß und so schön. Ich sehe noch sein Gesicht wie ausgeschnitten vor dem Himmel, wenn ich den Kopf hob, um ihn anzusehen, wie man

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« einen Stern ansieht. … Ich war die Jüngste, er hatte mehr Zeit für mich als für meine Geschwister. … Er hat mich allein gelassen, und ich habe seitdem so viele Abenteuer gehabt, um ihn zu provozieren, und er hat alle meine Freunde rausgeworfen und wie Idioten behandelt! Und er, er hat sich zu der Zeit eine Geliebte zugelegt, und meine Mutter hat nichts gesagt. Nie mehr, bis zu seinem Tod. Danach hat sie mich angesehen, als mein Sohn geboren war, und hat mir anvertraut, dass mein Vater immer mit ihr schlafen wollte, immer mehr. … Sie war seine Frau, nicht ich. Warum erzählt sie mir das? … Penisneid, kenne ich nicht! Ich war als kleines Mädchen immer ein Junge. … Bin ich deshalb depressiv geworden, als ich verzichten musste, nicht darauf, ein kleiner Junge zu sein, sondern auf meinen Vater? Und ich bringe einen kleinen Jungen zur Welt – ich habe ihn gehasst! Mein kleiner Junge hat mich geboren. Was für ein Durcheinander! Ich war so verliebt in meinen Vater und wollte nur eines: groß werden und ein Mann wie er werden! Meine Mutter hat mir nie etwas bedeutet!«

Die Patientin analysiert unter Lachen, Tränen und Schluchzen, was diese Kindheit und ihre Entdeckung einer kindlichen, um nicht zu sagen: infantilen Sexualität war, einer phallischen Liebe vergleichbar. In diesem Fall ist kein Versagen oder Festhalten der Mutter an ihr als unmögliche Trennung von Mutter und Kind feststellbar, sondern durch die fehlende Beziehung ist die Tochter in eine viel kompliziertere Situation geraten. Dieses kleine Mädchen ist durch die Funktion, die sie für ihre Mutter erfüllen musste, allein gelassen worden. Weil diese Mutter kein Begehren mehr hat, kann sie diese Tochter nicht besetzen, und die Tochter kann sich nicht mit dem Begehren der Mutter identifizieren. Die Tochter hat für sie die Funktion gehabt, das versiegte, mangelnde Begehren ihrer Mutter durch die Geburt der Tochter, als Werkzeug eingesetzt, zu schützen. Der Missbrauch der Tochter liegt bei der Mutter, die ihre Macht ausübt, und ihre Tochter kann nicht Subjekt für die Mutter sein und folglich nicht in Beziehung zu ihr treten. Eine weibliche Subjektivierung und Entwicklung wurden erheblich verhindert und in Frage gestellt. Das ist zur Ursache einer tiefgreifenden Störung geworden. Alles, was ihr als Bezugsrahmen gegeben ist, beruht auf einer Identifizierung mit dem Vater und überschattet alles, was mit ihrer Weiblichkeit zusammenhängt. Die Mutter kann ihrer Tochter diesen ›einzigen Zug‹ als eine Einschreibung, die als Stütze, Basis für den Sexualunterschied gilt, der deren Identität als Tochter bewirken könnte, nicht geben, denn sie füllt den Phallusmangel bei der Mutter aus. Diese fehlende Identifikation reproduziert und reaktiviert diesen Mangel – »Penisneid, kenne ich nicht!« – als Phallusmangel bei der Mutter. In diesem verheerenden Schaden der Mutter-Tochter-Beziehung liegt die Ursache der Depression im Sinne einer eingebildeten Herabwürdigung einer Mut-

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ter, deren Unfähigkeit in der misslungenen Liebesbeziehung zu dem Vater der Kind-Tochter gipfelt. Wie soll man sich mit einer Mutter, die unter ihrer eigenen Weiblichkeit leidet, identifizieren, deren Blick nicht auf dem Schmerz der kleinen Tochter haften bleibt und die Tochter damit auf eine ideale Projektionsfläche des männlichen Vaters lenkt?

2.4 L acan und das M üt terliche Im Tierreich gibt es das berühmte Beispiel der Gottesanbeterin, bei der die Paarung etwa so abläuft: Damit das Weibchen befruchtet wird, muss – wie die Entomologie erläutert  – das Männchen sterben. Freud bestätigt das: Mit seiner Geschlechtlichkeit gewinnt das Subjekt seine Sterblichkeit. Nach den Anfängen seiner Trieblehre, bei der er angenommen hatte, dass die Sexualtriebe den Ich-Trieben entgegengesetzt sind, musste Freud aufgeben: Die Sexualtriebe dienen nicht der Selbsterhaltung des Lebens, sondern werden sublimiert, um das Genießen des Lebens zu befriedigen. Der Mensch ist als sexuelles begehrendes Wesen konstituiert und nimmt sich als sterblich wahr, obwohl diese Angst, sterblich zu sein, nicht repräsentierbar, nicht vorstellbar ist, sie ist eine unnennbare Bedrohung, denn niemand hat den Tod erfahren. Wir können den Tod nicht denken und repräsentieren, aber das Sterben schon. Das Nichts ist nicht darstellbar, sodass die Bedrohung vernichtet und durch ein Symbol ersetzt werden muss. Das Kind erfüllt diese Funktion: Es wird zum Symbol88 der Unsterblichkeit. In etymologischem Sinn ist das Symbol als Symbolon eine bildliche Darstellung, die für ein Konzept steht, dessen Bild es ist – ein in zwei Teile geteiltes Objekt. Dennoch verbindet das Symbol. Das Kind als Produkt und Subjekt der Reproduktion ist nicht kreiert, sondern biologisch reproduziert: Es verfehlt für die Mutter das Ziel, Ersatz für den Phallus zu sein. Diese Doppelheit des Kindes verweist auf die Doppelheit der Position, die das Kind besetzt, Teil der Mutter zu sein und Objekt, das noch nicht weiß, was es ist. Ist das nicht das Los jeden Kindes? Die Depression ist dann nicht weit entfernt: Teilung, Partus, Geburt. Für die junge Mutter stellt die Geburt die Bedrohung dar, durch die sie den Verlust der körperlichen Vereinigung mit dem Kind erleidet. Diese Bedrohung, sich trennen zu müssen, ist bereits vorhanden, wenn sie Mutter wird. Für sie sei die Geburt ein Schlitten in den Tod. Lacan erinnert an die Notwendigkeit, dass die Mutter ihre Sterblichkeit anerkennt, damit sie das Kind in dieser Funktion entlasten kann, und dadurch 88 | Für Diderot war das Symbol ein Zeichen, das mit dem Objekt verbunden ist und dessen Idee man wecken möchte.

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sieht Lacan die Notwendigkeit des Glaubens. »Den Schlüssel, der den Weg zu den Müttern geöffnet hätte«89, zu erlangen, ist eine Aufgabe des Phänomens der Übertragung, zwischen Glauben und Tod. »Der Tod gehört dem Bereich des Glaubens an. Sie tun gut daran zu glauben, dass Sie sterben werden. Das hilft Ihnen. Wenn Sie es nicht glaubten, könnten Sie dann das Leben ertragen, das Sie haben? Wenn man sich nicht fest stützen konnte auf diese Gewissheit, dass es enden wird, könnten Sie dann diese ganze Geschichte ertragen?« 90

Die ganze Geschichte zu ertragen, beruht auf der Sublimierung des eigenen Lebens durch die Verarbeitung der Biographie. Im Moment der Geburt erfolgt der notwendige Verlust der phallischen Funktion und der mütterlichen Einheit, und die alten Konflikte und Ängste vor Sexualität und Tod werden hervorgerufen. Die Trauerarbeit und Überwindung des Verlustes bedeuten das Akzeptieren der Generationsreihe, mit Annahme des Begehrens. Wenn das Kind auch nach der Geburt die Funktion erfüllen muss, den Schöpfungsakt der Frau zu bezeugen, und nicht als gemeinsames Kind der Eltern gesehen wird, dann versagt das Begehren der Frau, Frau zu sein. Auf diese Weise wird die durch das phallische Begehren definierte Position der Mutterschaft der Weiblichkeit gegenübergestellt. Was bedeutet es für die Frau, dass sie eine Wahl treffen muss, weil Mutterschaft nicht ›ihre natürliche‹ Bestimmung ist? Wenn eine Wahl getroffen werden muss, was bestimmt diese Wahl? Sie muss eine Wahl treffen. Die Wahl liegt in der Erfahrung der eigenen Kindheit, in der Erfahrung des Verlassenseins. Es geht um sich zeitweise überlagernde Phasen in der subjektiven Wahrnehmung des damaligen Frauwerdens. Die Bedrohung wird mit der Geburt neu geweckt in einer Situation voller interner Konflikte, die im Rahmen einer Trauerarbeit gelöst werden müssen. Die Erfahrung des Verlassenseins in der frühen Kindheit und der vorzeitige Verzicht auf das idealisierte Objekt sind Grundlage der Depression in der Frau, die sie geworden ist. Das Kind des Unmöglichen, das lebt oder stirbt, dient als Stütze einer Forderung nach Anerkennung, die aus der Kindheit seiner Erzeugerin stammt. Der Partus, die Geburt, die ganze Dramatik der psychischen 89 | Brief von Freud an S. Zweig, 1932, in: Freud, Sidmund: Briefe 1873-1939, ausgew. u. hg. von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt a. M.: Fischer 1980, S. 42. 90 | Lacan, Jacques: Konferenz in Louvain, 13.10.1972; http://www.valas.fr/JacquesLacan-Conference-a-Louvain-le-13-octobre-1972,013, Zugriff am 01.11.2017: »La mort est du domaine de la foi. Vous avez bien raison de croire que vous allez mourir bien sûr; ça vous soutient. Si vous n’y croyez pas, est-ce que vous pourriez supporter la vie que vous avez? Si on n’était pas solidement appuyé sur cette certitude que ça finira, estce que vous pourriez supporter cette histoire; néanmoins ce n’est qu’un acte de foi; le comble du comble, c’est que vous n’en êtes pas sûr.« Eigene Übersetzung.

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Wendung der Mutter zur Frau liegt in der Trauer. Die Antwort zu finden ist zugleich Trauerprozess, der in Sprache kommt. Es ist die Aufgabe der Psychoanalyse, sie offenzulegen. Deshalb spricht man von der Arbeit der Entbindung (labour-travail) und den schmerzhaften Geburtswehen, die damit einhergehen. Man spricht von dem Schnitt, der Sectio, dem Kaiserschnitt und dem Abtrennen der Nabelschnur. Das infans, das Neugeborene ohne Sprache, gewinnt sein Leben durch die Individualisierung gegenüber dem Körper der Mutter, gegenüber ihrer / seiner Plazenta, durch Abtrennung und Ablösung vom Körper der Mutter. Für sie bedeutet es, die Illusion der Vollständigkeit, die durch die Schwangerschaft möglich war, zu verlieren. Das ihm bei der Geburt von der Mutter gegebene Leben ist gleichzeitig für sie wie für das Kind eine ihren Körpern eingeprägte Hinnahme des Todes. Diese Trauerarbeit einer anfänglichen dyadischen Einheit findet ihr Echo im ersten Blick der Mutter auf ihr Neugeborenes, ein Blick, der sie daran erinnert, dass Sex (Geschlecht) und Trennung Conditio sine qua non des psychischen Überlebens sind. Das ist der Preis für das entstehende je: Ich weiß um mich. Die Begriffe der ›Arbeit‹: die Arbeit des Unbewussten in der Psychoanalyse und die Arbeit (labour) zum Erwerb des Lebensunterhalts, teilen beide diese Konnotation des Überlebens. Durch diesen Doppelsinn, verstärkt durch die Begriffe ›Widerstand‹, ›Verdrängung‹, ›Deutung‹, trägt die Psychoanalyse das Problem der metaphorischen Sprache von Anfang an in sich. Freud wies darauf hin: Es gibt keine Arbeit ohne Widerstand, denn – wie die Etymologie es bestätigt – Arbeit ist Quälerei, und Trennung ist Arbeit. Man muss den Verlust hinnehmen und Arbeit leisten, um sich zu befreien, sonst schreibt sich die Geschichte in einer hemmenden Weise ein. Deswegen ist psychoanalytische Arbeit an dem Ort und in dem Moment so wichtig, »wo Raum und Zeit zusammenfallen, um das neue Wesen zu gebären.«91 In Lacans Psychoanalyse ist die Konstitution des mütterlichen Begehrens untrennbar mit der Beziehung der Mutter als Tochter zu ihrer eigenen Mutter verbunden. An diesem Ort liegt die Kreuzung einer persönlichen Geschichte mit einem historischen Ereignis, worüber ich nachdenken möchte, ein Ort, der wie ein Fischernetz das Wesentliche eines Lebens zurückhält, in dem Beginn, Krise und Ende einer Psychoanalyse in einem signifikanten Gewebe miteinander verflochten sind, das immer da war, aber aufgrund des Widerstands immer verkannt oder unbekannt blieb.

91 | Auhagen-Stephanos, Ute: Damit mein Baby bleibt. Zwiesprache mit dem Embryo von Anfang an, München: Kösel Verlag 2010, S. 92.

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Die freudsche Mythologie sieht in der Mutter das Ideal des Frauseins, und zwar aus der Sicht des Habens. Dieses freudsche Verständnis stützte sich auf das Phantasma des Matriarchats, und die Ära der Muttergottheiten, der Göttinnen der Antike wie der idealisierten Figur einer Muttergottheit, die Freud in verschiedenen Formen evoziert – von Diana aus Ephesos, über Upis und Artemis bis zu Maria –, führte zur Theorie der Großen Muttergöttin, die vor dem Einsetzen des Patriarchats bestand. Diese Position der »großen Mutter«92 in der Mythologie ist nicht ein Ideal, sondern hat zugleich eine gefährliche tödliche Seite: Sie verweist auf den Weg des kleinen Mädchens zur Frau, die Mutter wird, auf die Fallstricke und Klippen, die auf sie lauern. Diese Gefahr in der Mythologie sollte beherzigt und nicht den Müttern unterstellt werden: Sie sind von den Konflikten betroffen. Die Mutter ist der Wut gegen sich selbst, gegen ihre Mutterschaft und die Mutterschaft ihrer eigenen Mutter ausgesetzt. Zur Beschreibung der Mutter-Tochter-Beziehung benutzt Lacan das durchschlagende Wort »ravage«93 (Verwüstung), um zu zeigen, dass die Geschichte einer Tochter mit ihrer Mutter »wie die Geschichte einer immer wieder hinausgeschobenen Trennung«94 erscheint. Diese Beziehung trägt insofern alle Züge einer leidenschaftlichen Beziehung, als die Mutter in der Strukturierung der Tochter einen doppelten Status einnimmt, als Liebesobjekt und gleichzeitig als Identifikationspol: »Der Moment, in dem die Tochter ihre Mutter am meisten hasst, ist auch der Moment, indem sie sich mit ihr identifizieren muss«, so André weiter. In der Mutter-Tochter-Beziehung und dem damit verbundenen Konflikt liegt eine unheimliche Differenz. Einerseits besteht die Verschiedenheit der beiden Persönlichkeiten und Rollen, anderseits bedingt die Weiblichkeit der einen die Mütterlichkeit der anderen. Im Bezug der einen auf die andere stößt man zwangsläufig auf die Fragestellung einer Wiederholung oder Verdopplung ohne Gegenwart, ohne Vergangenheit, ohne Zwischenzeit. In der besonderen Geschichte, die jede Tochter mit ihrer Mutter im Laufe ihrer Kindheit und Adoleszenz erlebt, bildet sich eine wachsende Indifferenz gegenüber der Mutter im Zuge ihrer eigenen Identifikation als Frau aus. Der Körper und das Begehren der Mutter erweisen sich als stärker als ihre eigenen, weil sich allmählich im Unbewussten die Folgen bemerkbar machen: der Wunsch, nah bei der Mutter zu bleiben, und gleichzeitig die Notwendigkeit, sich von ihr zu entfernen. »Das Gesetz der Mutter ist wohlgemerkt die Tatsache, dass die Mutter ein sprechendes Wesen ist, und das reicht, um zu le-

92 | Brun, Danièle: Mères majuscules, Paris: Odile Jacob 2011. 93 | Lacan, Jacques: »L’étourdit«, in: Scilicet 4, 1973, S. 5-52, hier S. 21. 94 | Vgl. André: Que veut une femme?, S. 197; eigene Übersetzung.

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gitimieren, dass ich ›das Gesetz der Mutter‹ sage. Nichtsdestoweniger ist dieses Gesetz, wenn ich so sagen darf, ein unkontrolliertes Gesetz«, so Lacan95. Das bestätigt der französische Kinderarzt Aldo Naouri: »Ich konnte während des ganzen Lebens meiner Mutter die negativen und positiven Auswirkungen ihrer vollen Verfügbarkeit, Effizienz und, in einem Wort, ihrer Allmacht, während ihres ganzes Leben lang untersuchen.«96 Diese Allmacht einer Mutter lässt ihre Tochter im Rahmen ihrer Therapie sagen: »Ich stehe unter Einfluss. Ich habe geheiratet, um meinen Frieden mit ihr zu machen. Warum wurde ich so vernichtet, warum musste ich erst meiner Mutter ein Kind geben, nicht um ›ihren‹ Sieg, sondern ›meine‹ Niederlage zu sichern?« Dabei geht es um die Konfrontation zweier heterogener Kräfte, die sich aber in ihrer Intensität und ihrem Status entsprechen, eine Konfrontation im Rahmen der vier Begriffe ›Leben‹, ›Tod‹, ›Liebe‹ und ›Macht‹. Zur Verwüstung kommt es, weil die Wut als Mittel zur Selbstzerstörung und nicht als Lebenskraft eingesetzt wird. Und dennoch: Die Tochter bleibt immer in Erwartung von etwas seitens ihrer Mutter, das nicht eintritt, einem ungesagten, unsichtbaren Rest. Das Unsagbare oder Unsichtbare zu entdecken, ist mit der Befürchtung verbunden, nicht von der Mutter geliebt werden zu können. Der Blick in die Augen der Mutter ist ein Spiegel, in dem das Kind sich sieht und sich erfährt. Das Kind identifiziert sich mit ihren Projektionen, Erwartungen, Wünschen. Rhode-Dachser schreibt, dass »die Mutter nicht nur als einzige Identifikationsfigur, sondern auch als einzige Projektionsfigur übrig bleibt. […] Das Gesicht, das uns aus diesem Spiegel entgegenblickt, spiegelt unsere eigenen Entbehrungen, Enttäuschungen, unseren Neid, unseren Haß und unsere Wut zurück, die wir einmal in diesem Mutterbild deponiert haben.« 97

Die Mutter wird zum Kristallisationspunkt. Der leere Blick der Mutter kann Veranlassung dazu sein, dass ich mich als defekt im Blick der Mutter fühle, obwohl ich in ihren Blick eingehüllt bin. Ist das nicht die ambivalente Botschaft des narzisstischen Abenteuers der Geburt: auf der Welt und trotzdem unsichtbar für die Mutter zu sein? Aus Freuds Texten über die Entwicklung der Sexualität des Mädchens wird ersichtlich, dass diese Entwicklung in erster Linie von der Verdoppelung in der 95 | Lacan, Jacques: Le séminaire, livre 5. Les formations de l’inconscient [1957-1958], Paris: Seuil 1998, S. 188: »La loi de la mère, c’est, bien entendu, le fait que la mère est un être parlant, et cela suffit à légitimer que je dise ›la Loi de la mère‹. Néanmoins, cette loi est, si je puis dire une loi incontrolée.« Eigene Übersetzung. 96 | Naouri: Les filles et leurs mères, S. 27; eigene Übersetzung. 97 | Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent, S. 205 (Herv. i. O.).

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präödipalen und dann der ödipalen Beziehung zur Mutter abhängt, zwischen Vater und Mutter. Lacan übernimmt den Begriff der Verdoppelung von Freud und analysiert ausgehend von der phallischen Logik des Ödipuskomplexes die Beziehungen der Tochter zur Mutter und zum Vater. Die Bedingung der Subjektkonstituierung der Tochter durch die symbolische Kastration seitens des Vaters in der Mutter-Tochter-Beziehung reicht nicht aus, um die Frage der weiblichen Identifikation zu lösen, auch wenn sie strukturell notwendig ist. Nach Überwinden des Ödipuskomplexes kann die Tochter eine mögliche Identifikation nur in der Beziehung mit ihrer Mutter finden, die wie sie selbst Frau ist. Dabei bleibt für die Tochter im Prozess ihrer Ablösung von der Mutter ein Rest. Lacan forscht diesem ödipalen Rest im weiblichen Schicksal nach. Die Weiblichkeit einer Frau bildet sich so könnte man sagen, zwischen zwei Müttern heraus. Die Person der Mutter verdoppelt sich für die Tochter in eine mütterliche und eine weibliche Funktion, denn die Mutter ist auch eine Frau. »Die Tochter scheint als Frau mehr ›Subsistanz‹ von ihrer Mutter zu erwarten«, schreibt Lacan98. Zalcberg bestätigt in ihrem Buch, wie leidenschaftlich und konfliktbeladen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter sein kann: »Darin, dass eine Mutter als Mutter und Frau leben kann, ohne auf einen dieser beiden Aspekte, durch die sich die Weiblichkeit konstituiert, zu verzichten, kann die Tochter eine Stütze zur Ausformung ihrer Weiblichkeit finden, die notwendigerweise von der ihrer Mutter verschieden sein muss. Jede Frau muss sich eine weibliche Identifikation durch Invention und durch Kreation schaffen.« 99

Es scheint, dass die schwierige Entscheidung zwischen dem Schicksal der Frau und dem der Mutter von der Beziehung zwischen Mutter und Tochter abhängt. Im folgenden Exkurs wird die mythische Figur Medea als fragende Verbindung zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft untersucht. Die Verflechtung von weiblicher Sexualität, männlichem Begehren und Enttäuschung erweist sich als tragisch für die Mutterschaft.

98 | Vgl. Lacan: »L’étourdit«, S. 21: »La fille semble attendre comme femme plus de ›subsistance‹ [de sa mère; C.M.] que de son père.« 99 | Zalcberg, Malvine: Qu’est-ce-qu’une fille attend de sa mère?, Paris: Odile Jacob 2010, S. 16: »C’est dans la possibilité qu’une mère puisse vivre comme mère et femme, sans abdiquer aucun de ces deux aspects par lesquels se constitue sa féminité, que la fille peut trouver un appui pour former sa féminité qui devra être nécessairement distincte de celle de sa mère. Il revient à chaque femme de se forger une identification féminine par les voies de l’invention et de la création.« Eigene Übersetzung.

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E xkurs: Medea oder von Frau zur Mutter zur Frau »Medea!«, schreit die Amme, die sie zurückhalten will. »Medea, werde ich sein«, antwortet diese und legt die Betonung auf die Tat, die ihr ihren Namen verleiht, die Tat, die bewirkt, dass dort, wo Medea aufsteht, es keine Götter gibt. So entsteht der Mythos. Die Figur der Medea erscheint im psychoanalytischen Diskurs oft als Inkarnation der betrogenen Frau, die sich verraten fühlt und Rache übt, oder sie wird als melancholische Gestalt dargestellt, die unter der Dynamik des Verlusts des primären Liebesobjekts bzw. unter der verfehlten Begegnung mit dem Verlust leidet.100 Zu dieser mythischen Darstellung gibt es allerdings vielfältige Interpretationen, je nachdem, ob der Akzent eher auf die Weiblichkeit oder die Mutterschaft gelegt wird. Leuzinger-Bohleber101 analysiert in einem Aufsatz die Auswirkungen einer transgenerationalen Weitergabe der Depression. Dabei untersucht sie die Folgen der Depression der Mutter auf das psychische Leben der Tochter. Sie postuliert, dass der Medea-Mythos bei Patientinnen eine zentrale unbewusste Phantasie über Erfahrungen der Weiblichkeit darstellt. Meines Erachtens reduziert sie in ihrer Analyse Schwierigkeiten mit der Weiblichkeit auf Symptome psychogener Frigidität und Sterilität, die sich in sexuellen Störungen äußern. Die von Leuzinger-Bohleber vertretene Auffassung, die Mutterschaft als ein Symptom der Weiblichkeit zu sehen, führt nicht weit genug. Ich setze dieser Auffassung Lacans Begriff der Mutterschaft als Struktur des Begehrens entgegen. Die Mutterschaft ist in meinen Augen etwas anderes als ein Symptom der Weiblichkeitsentwicklung. Nicht jede Frau mit einer depressiven Mutter ist eine Medea102 im Sinne des Mythos. Des Weiteren hat die Bezeichnung des ›Medeakomplexes‹ wenig zu tun mit dem Sachverhalt, wie er heute angewendet wird, wobei es darum geht, dass eine verlassene Mutter dem Vater nicht erlaubt, seine Kinder zu sehen. »Aus Verzweiflung, Rachsucht und Hass ermordet sie ihre beiden Söhne, symbolisiert weibliche Destruktivität im Extrem. […] Destruktivität im Gewand der depressiven ›toten Mutter‹«,

100 | Warsitz, Rolf-Peter: »Die Anästhesie des Begehrens und die melancholische Position im psychoanalytischen Prozess«, in: Michels, André /  M üller, Peter / P erner, Achim / Rath, Claus-Dieter (Hg.): Melancholie und Depression. Jahrbuch für klinische Psychoanalyse, Band 5, Tübingen: Ed. diskord 2003, S. 249-269, hier S. 258. 101 | Vgl. Leuzinger-Bohleber, Marianne: »The Medea fantasy. An unconscious determinant of psychogenetic sterility«, in: International Journal of Psychoanalysis 82, 2001, S. 323-333. 102 | Rolf-Peter Warsitz fügt hinzu, dass »von Medeas Mutter nirgends die Rede [ist; C.M.], bzw. es existieren in den mythischen Überlieferungen gar mehrere Mutterfiguren« Warsitz: »Die Anästhesie des Begehrens«, S. 258.

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schreibt Teuber103. Auch Teuber verwendet den »Medeakomplex« auf ähnliche Weise wie Leuzinger-Bohleber. In der Tragödie geht es, wenn Medea ihre Kinder tötet, nicht nur – wie beim ›Medeakomplex‹ in der aktuellen Literatur – um eine Mutter, die den Vater seiner Kinder beraubt, sondern um eine Mutter, die eine bestimmte Idee der Frau verficht. Medea scheint die Mutterschaft gegen die Weiblichkeit zu stellen, und das mit all ihren übernatürlichen Kräften, über die sie verfügt, als Zauberin, grausam und zärtlich zugleich. Von ihrer Genealogie her wird Medea als Zauberin und Hexe dargestellt, die Tinkturen und Gifte einsetzt, um zu schützen, zu verjüngen, zu vergiften, zu töten, zu verbrennen, und die ihre göttlichen Fähigkeiten dazu nutzt, sich in einem von zwei Drachen gezogenen Wagen fortzubewegen. Die Tochter des Aetes, Königs der Kolchier, und der Eidyia, ist die Enkelin von Uranos-Himmel und von Gaia-Erde. Medea, deren Name auch ›schlau‹ und ›weise‹ bedeutet, symbolisiert mit ihrer Existenz das gesamte Universum, denn sie ist durch ihren Vater auch Enkelin der Sonne und durch die Okeanide Eidyia Enkelin des Meeres. Das Drama Medeas konstituiert in sich selbst das Drama, Mensch zu sein, in allen vier Elementen und allen Variationen des Seins. Euripides Tragödie Medea wurde 431 v. Chr. anlässlich eines großen Festes zu Ehren von Dionysos in Athen aufgeführt. Der Mythos: Medea ist eine Frau, die ihren Vater Aetes und ihren Bruder aus Liebe zu einem Mann, dem Argonauten Jason, tötet, um mit diesem ihre Heimat zu verlassen, um ihm zu dienen und ihm zu helfen, das goldene Vlies zu erlangen. Medea, die ohne Hilfe der Aphrodite nicht in der Lage gewesen wäre, Kinder zu gebären, hat zwei Kinder von Jason. Während ihrer Fahrt gelangen sie in das Königreich Korinth, wo Jason sich in die Tochter des Königs Kreon, Glauke, verliebt, sie heiraten und Medea verlassen will, vielleicht auch wegen ihrer Zauberkraft. Damit deckt die Mythologie auf, dass das, was die Männer verführt, das Zauberwissen der Frauen, sie aber auch trennt: Zauberinnen sind gefährlich, weil sie eine unkontrollierbare Macht ausüben. Darin finden wir erneut die Rolle der Hexen, Hebammen und andere Bilder der Frau, die über Leben und Tod herrschen und auf die wir bereits verwiesen haben. Medea hätte sich damit begnügen können, ihre Rivalin oder Jason zu töten und ihren Trost in ihren Kindern zu suchen. Aber entgegen seinen Erwartungen tötet Medea nicht Jason, sondern seine Söhne. Medeas Tragik liegt darin, dass ihr Handeln nicht allein auf Befriedigung der mütterlichen Funktion ausgerichtet ist; sie kann nicht ganz (Lacan) sein, was man von ihr erwartet: eine Mutter. Um die mütterliche Funktion zu erhal103 | Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 225.

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ten, bringt sie die Kinder um, und sie bringt das Muttersein um. Sie braucht einen Jason, der sie gleichzeitig als Mutter und als geliebte Frau annimmt. Mit dem Verlust von Jasons Liebe verliert Medea alles. »Es gibt keine Grenzen«, sagt Lacan, »für die Zugeständnisse, die jede Frau einem Mann macht: ihr Körper, ihre Seele, ihr Eigentum.«104 Medea ist eine dieser Frauen. Sie opfert, sie tötet die beiden Kinder, die sie mit Jason hat, die auch seine Kinder sind. Denn die Kinder eines Mannes, die Kinder, die eine Frau mit einem Mann hat, geben diesem Mann seinen Platz in der Generationenfolge. Sie fügen diesen Mann ein in die symbolische Kette der Abstammung, der Familie mit seinem Namen, dem Namen seines Vaters. Sie tötet ihn nicht in ihrer Rache, diese Strafe wäre zu mild, sie verschont ihn. Sie nimmt Jason darüber hinaus das Objekt seines Begehrens, die Prinzessin Glauke, und die Möglichkeit, mit ihr Nachkommen zu haben. Mit der Tötung ihrer eigenen Kinder verletzt sie sich selbst. Darum geht es bei der wahren Frau: ein Subjekt, das nichts besitzt, nichts verlieren kann und das den Verlust genießt, indem es sich ein Sein schafft – nachdem es sich von seinem Haben befreit hat. Für ihre Rache, für ihr Genießen, ist sie bereit zu allem – bis zum »Durchwühlen ihres Leibes mit dem Schwert«, um das kleinste Pfand ihrer Verbindung mit Jason auszureißen. »In mater si quod pignus etiam nunc latet, scrutabor ense viscera et ferro extraham.«105 Medea will also Jasons Namen aus Rache vernichten, weil dieser Name ihn überleben und im Nachhinein an seine Stelle treten könnte, in seiner Nachkommenschaft, die ihn am Leben erhalten würde. Daher tötet sie seine beiden Kinder, um die symbolische väterliche Ordnung zu zerstören, und noch weitergehend verweigert sie Jason, als der sie um die Leichen seiner Kinder bittet, um sie zu beerdigen, d. h. um einen Namen, seinen Namen, auf ein Grab zu setzen, die Leichname der beiden Kinder, die sie mit sich nimmt. Damit zeigt sie Jason, dass ihr Hass, aus dem heraus sie handelt, ein symbolischer Hass ist, der sich auf das Subjekt und nicht auf seine Person bezieht, da sie sein Leben unversehrt lässt. Sie lässt ihm das Leben und nimmt ihm im Gegenzug seine Nachkommen. Sie lässt sein Leben unversehrt, um die symbolische Ordnung zu erschüttern. Im Mythos nimmt sie, die unsterbliche Göttin, ihre toten Kinder in ihrem Sonnenwagen mit sich in die Gefilde der Seligen, die Champs-Elysées, das Totenreich – ohne eine Spur von Depression, wie Euripides sagt. Der Medea-Mythos unterstreicht indes in meinen Augen die Dimension des Symbolischen, die bewirkt, dass eine Frau-Mutter nicht nur Repräsentan104 | Vgl. Lacan: Télévision, S. 63. 105 | Seneca: Medea, Lateinisch / D eutsch, hg. und übers. von Bruno W. Häuptli, Leipzig: Reclam 1993, Verse 1012 f.

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tin ihres Potenzials zur Generativität oder Zerstörung von Generativität ist. Die Zauberin ist auch die Hexe, Inkarnation einer Macht zur Destruktivität des Scheins, der darin besteht, den Phallus besitzen zu können. In seiner Interpretation von Medea definiert Lacan Medeas Verbrechen als: »Tat einer Frau, einer wahren Frau in ihrer Ganzheit als Frau.«106 Diese Bezeichnung der »wahren Frau« als das, was bleibt, wenn die Mutter sich selbst auslöscht und vernichtet, lässt uns innehalten und fragen, was dieser Gegensatz bedeutet. Die ›wahre Frau‹ wäre dann nach Lacan diejenige, die sich nicht oder nicht mehr bemüht, die Leere zu verdecken, diejenige, die den Signifikanten (Phallus) nicht mehr begehrt. Mit der Tötung ihrer eigenen Kinder gibt Medea alle Begierden auf, die wir phallisch nennen; sie nimmt ihre eigene Leere an. Medeas Schicksal ist – und das macht ihre Modernität aus – das jeder Frau, die ihr Kind nicht allein ihrem phallischen Begehren unterstellt. Ihre Tragik ist, dass sie in ihrer Not, ihr Frausein zurückzugewinnen und als Objekt des Begehrens zu erhalten, alles opfern muss. Medea ist Mutter, weil sie ›hat‹, und auch Frau, weil sie sich als Phallus begreift, als »Signifikant des Begehrens des anderen (signifiant du désir de l’autre)«. Mit dem Opfer ihrer Kinder auf dem Altar der Weiblichkeit verzichtet sie darauf. Der Angriff auf die Mutterschaft macht aus ihr eine wahre Frau. Sie setzt die Zerstörung in enger Beziehung zu einem Mann ein, der sie zerstört hat. Medea ergründet das Dilemma der Frau in der alltäglichen Lebenssituation, in der die Verführung mit dem Ziel des Habens und das Aufgeben ihres Begehrens aufeinandertreffen. Medea muss ihr Frausein oder aber ihr Muttersein opfern; ihr Begehren bedeutet immer Verletzung. Wo der Mythos die Diskrepanz zwischen Frau und Mutter hervorhebt, zeigt er vor allem, dass eine wahre Frau ein unbekanntes Gebiet erforscht und dabei die Grenzen übersteigt, um in einen unbekannten Bereich ohne Begrenzung zu stoßen. Als sie Jason verliert, ist Medea weder Geliebte noch Mutter, sondern befindet sich in einer Grauzone, in der sie nur noch Verletzung ist und sich dem Horror gegenübersieht, den diese Zerstörung auslöst. Medeas Tragödie zeigt die Verletzlichkeit der weiblichen Entwicklung, zeigt ihre Schwachstelle, die die Frau in Abhängigkeit dieses »mindestens Einen« versetzt, des Ehemannes, des Geliebten, von dem sie sich von außen ihre Existenz erwartet und von dem sie sagt: »Wir aber müssen nach des Einen Launen sehn«. Weil aber dieser Eine sie betrügt, »der, der mein Alles war«, und sich einer anderen Frau zuwendet, verliert Medea nicht nur »den Herren ihres Lei106 | Lacan, Jacques: »Jeunesse de Gide ou la lettre et le désir« [1958], in: ders.: Écrits, 1966, S. 739-764, hier S. 761: »l’acte d’une femme, d’une vraie femme dans son entièreté de femme«; eigene Übersetzung.

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bes« und »ihr neidenswertes Leben als Ehefrau«, sondern auch die Möglichkeit, sich als Mutter seiner Kinder zu erkennen und zu bewähren.107 Lemoine gibt uns den folgenden inneren Dialog wieder, der auf treffende Weise Medeas Schicksal bezeugt: »Erinnerst Du dich, Jason, an diesen Tag, diese Nacht, diesen Moment, an dem wir zusammen waren, als unser Erstgeborener auf die Welt kam? Aber nein, Jason erinnert sich nicht. Die Männer sind immer anderswo; sie sind nicht fähig, völlig da zu sein, einfach, weil nur ein Teil von ihnen selbst am Liebesakt und der Zeugung beteiligt ist: das männliche Organ. Nur Gott ist vollständig da. Aber wer hat Medea gesagt, dass Jason ein Gott war? Als es sich zeigt, dass er es nicht ist, weil er nicht fähig ist zu dem Wort, das Leben und Genießen schenkt, da wird die Frau, die Medea geworden war, wieder zu einer Wilden.«108

An dieser Stelle löst Medea Entsetzen aus, weil sie uns zwingt, das zu denken, was nicht gedacht werden kann, das Unnennbare zu benennen: Medea beleuchtet die geheime Faszination über die Mutter, die tötet und riskiert, die Kindestötung zum Paradigma dieses Teils der Weiblichkeit bei der Mutter zu machen. Weit entfernt von der mordenden Irrsinnigen, die man in ihr sehen will, nimmt Medea in der Tragödie des Euripides den Kindesmord auf sich, weil sie nicht toute-mère, ganz Mutter, ist. Medea verzichtet darauf, ganz Mutter zu sein, und stimmt dem Mord zu, dem Mord der Kinder, um ihnen etwas anderes als die Mutter zu geben, d. h., um ihnen den Weg zur Weiblichkeit zu öffnen, zum Ort des Risses als Frau. Mit ihrer radikalen Andersartigkeit, ihrer Alterität, hinterfragt sie die Beziehung des parlêtre – des Wortseins – zur Weiblichkeit, aber sie erkennt insbesondere im Streit, im Riss in der Weiblichkeit zwischen Frau und Mutter den engagierten Widerspruch, die Alternative. Es gibt aber keine Alternative, weil jede Mutter auch Frau ist; aber nicht die geliebte Frau. In Euripides’ Tragödie ist nicht die Rivalität zwischen Medea und Glauke tragisch – das 107 | Pesenti-Irrmann, Marie: »La mère et le féminin«, in: La clinique lacanienne 11, Heft 2, 2006, S. 65-75, auch online unter http://www.cairn.info/revue-la-clinique-la canienne-2006-2-page-65.htm, Zugriff am 01.11.2017; eigene Übersetzung. 108 | Lemoine, Génie: »Médée«, in: La Lettre Mensuelle, Ecole de la Cause Freudienne 122, Sep. / O kt. 1993, S. 22: »Te rappelles-tu Jason, ce jour, cette nuit, cet instant, où nous étions ensemble, et notre premier-né est venu au jour? Mais non, Jason ne se rappelle pas. Les hommes sont toujours ailleurs; ils ne sont pas capables de pleine présence pour la raison simple qu’ils ne mettent qu’une part d’eux-mêmes dans l’acte d’amour et d’engendrement: l’organe mâle. Seul Dieu est capable de cette présence. Mais qui avait dit à Médée que Jason était un Dieu? Quand il s’avère qu’il ne l’est pas, puisqu’il n’est pas capable de cette parole qui donne vie et jouissance, alors La femme qu’était devenue Médée redevient sauvage.« Eigene Übersetzung.

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wäre eher eine Komödie109 –, sondern das Verhältnis zwischen Medea und ihren Kindern, »diesen verwünschten Kindern einer hassenswerten Mutter«, »ihren teuren Kindern«. Diese Kinder, »die zu gebären schwerer ist, als in Schlachten zu stehen«, muss sie töten, »niemand lebet, der sie retten kann«. »Die Tat ist unabwendbar.«110 Jason konnte das nicht erkennen, sondern glaubte lieber, dass, wenn »den Menschen sollt auf andrem Weg Fortpflanzung werden, Frauen nicht geschaffen sein; so wär die Welt auch frei von allem Ungemach«111, womit er interessanterweise der Meinung der Wissenschaft Ausdruck verleiht. Die Tat einer wahren Frau ist das Opfern des für sie Kostbarsten, um den Mann zu treffen, der sie verraten hat, und in ihm ein Loch zu graben, das sich nicht mehr schließen kann: Die Auslöschung des Vaternamens. Medea wirft die Frage nach der Mütterlichkeit auf, wobei das Kind jedoch den authentischsten Weg der Weiblichkeit darstellt. »Das Weibliche ist der Ort der Erklärung und führt ›unausweichlich zur Frage nach dem Ursprung‹, nach dem Woher des Atems der Sprache, dem Anderen.«112 Das Weibliche ist verankert im Mütterlichen. Das bestätigt Euripides’ Tragödie. Die Mutter, das ist die Frau in den Augen des Mannes, laut Lacan. Für Lacan ist die Wahl in dieser Loslösung der Mutter von der Frau gefallen, die in der Figur der Medea zum Äußersten getrieben ist. Medea vollzieht diese lautlose Tat, deren Sinn über alle möglichen Bedeutungen hinausreicht. »Medea zeigt uns, was geschieht, wenn das in der Mutter verborgene ›von der Frau‹ hochkommt – wenn die Logik des Signifikanten Frau stärker ist als die der Mutter – wenn die Kastration stärker ist als das Haben, das sie maskiert«, schreibt Miller.113 Im Prozess der psychischen Strukturierung der Frau und dann der Mutter scheint Lacan ein verschlingendes und kastrierendes Bild der Mutter zu privilegieren, dieser Mutter, die man insofern als imaginär einstufen kann, als sie 109 | Vgl. Pesenti-Irrmann: »La mère et le féminin«. 110 | Euripides: Medea, zitiert nach http://www.zeno.org/Literatur/M/Euripides/Tra gödien/Medea, Zugriff am 01.11.2017, Verse 635, 653, 666. 111 | Vgl. ebd., Vers 647. 112 | Porret, Philippe: »Et ils ôtèrent les menottes aux fleurs«, in: Société de psychanalyse freudienne (Hg.): Invention du Féminin, 2002, S. 171-185, hier S. 176: »Le féminin est lieu d’énonciation et amène immanquablement à questionner l’originaire, là où est d’abord venu le souffle de la langue, l’Autre.« Eigene Übersetzung. 113 | Miller, Jacques-Alain: »Médée à mi-dire«, in: La lettre Mensuelle 122, 1993, S. 20: »Médée est là pour nous montrer ce qui arrive quand surgit le ›de la femme‹ tapi dans la mère – quand la logique du signifiant femme l’emporte sur mère – quand la castration l’emporte sur l’avoir qui la masque.« Eigene Übersetzung.

2.  Die französische Psychoanalyse – Jacques Lacan

an das Kind, Sohn oder Tochter, gekettet bleibt und eine Spur der Indifferenzierung in Bezug auf ihre eigene Identifikation hinterlässt. Der symbolische Vater ermöglicht nach Lacan die metaphorische Substitution durch den Namen-desVaters, denn er bezeichnet die Möglichkeit für das Begehren der Mutter, Begehren nach etwas anderem als dem Kind zu werden. Die Rolle der Mutter in Frage zu stellen, so wie Lacan es beschreibt, entspricht, das Gesetz der Mutter, die Muttersprache und besonders die Unterwerfung, die dies für ihren Anspruch, ihr Begehren und ihr Genießen bedeutet, zu hinterfragen. Wenn das Begehren der Mutter sich auf ihr Verlangen zu verschlingen reduzieren lässt, so wie die Gottesanbeterin114 oder das Krokodil115, bei dem der Phallus sich wie ein Stock in das Maul stellt und so verhindert, dass es sich über dem Kind schließt, darf man sich fragen, welche Funktion diese Bilder des Verschlingens haben. Die Verzweiflung, die von diesen Frauen in Bezug auf ihre Position als Tochter geschildert wird, greift die Frage nach der möglichen Identifikation mit ihrer Mutter auf. Das Frauseinwerden ist bestimmt von Phasen der Fixierung, der Identifizierung mit idealisierten Figuren, der Inkarnation des Signifikanten des Mangels in der Beziehung zur Mutter, um den Blick der Mutter einzufangen. Das Mutterwerden und das Frausein sind nie deckungsgleich. Im Untergang des Ödipuskomplexes findet die Tochter in der Beziehung zu ihrer Mutter eine von der »Symptomverlängerung« befreite Identifikation, und sie hat die Möglichkeit zu korrigieren, d. h. zu modifizieren und im eigenen Namen ein neues unerwartetes Symptom zu erfinden. Ein Kind? Der Kinderwunsch kann nicht allein als Folge der Entwicklung der Weiblichkeit in der Beziehung zur Mutter interpretiert werden, sondern muss die Qualität der Struktur des Begehrens zwischen Vater und Mutter berücksichtigen, die immer schon da ist und in der die künftige Mutter heranwächst. Das, was ich ›Name-der-Mutter‹ nennen möchte, wäre also einerseits etwas, was diese Ursprungsmutter trennt, die in der Dyade Mutter-Kind gefangen ist, und andererseits etwas, was mit der symbolischen Kastration als Vor-

114 | Vgl. die Sitzung vom 14.11.1962: Lacan: Le séminaire, livre 5, S. 14; dt.: S. 15. 115 | Vgl. ders.: Le séminaire, livre 17. L’Envers de la psychanalyse, Paris: Seuil 1991, S. 191: »Das Begehren der Mutter ist nicht irgendetwas, was man einfach so ertragen kann […] Ein großes Krokodil, in dessen Maul Sie sich befinden, das ist die Mutter. Man weiß nicht genau, was sie daran hindern könnte, plötzlich ihre Maulklappe zu schließen. Das ist das Begehren der Mutter. Also habe ich versucht, zu erklären, daß es da etwas gibt, was Sicherheit gibt. Es gibt da eine Steinwalze, einen sichereren Ankerplatz, der auf der Ebene der Klappe immer Macht ausübt, das bringt sie zum Klemmen. Das nennt man den Phallus. Es ist diese Steinwalze, die Sie schützt, wenn sich das Maul plötzlich schließt.« Eigene Übersetzung.

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aussetzung die Geschichte der Muttersprache in einer kulturellen Familie von Generation zu Generation weitergibt. Die ›symbolische Mutter‹ wäre in diesem Sinne diejenige, die die Weiblichkeit als Ort einer positiven Differenz zum Mann erläutern könnte: Denn durch den Geschlechtsunterschied, gepaart mit dem sexuellen Verhältnis, konstituiert sich das weibliche Subjekt, im Namen der Mutter. Françoise Dolto greift die freud-lacansche Tradition der Weiblichkeitskonstitution auf und versucht, durch ihr Konzept der weiblichen Libido die Entwicklung des Mädchens neu zu definieren. Sie setzt den Akzent auf die sprechende Mutter, die eine symbolische Bedeutung für das Mädchen enthält.

3. Françoise Dolto 1: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen »Das Wort gehört zur Hälfte dem, welcher spricht, und zur Hälfte dem, welcher hört.« M ichel Eyquem de M ontaigne 2

Über das Wirken von Jacques Lacan und Françoise Dolto in Frankreich schreibt Christiane Buhmann: »Dolto und Lacan haben der Psychoanalyse in Frankreich einen Platz in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen erobert, der mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Psychoanalyse nach 1945 in Deutschland nicht zu vergleichen ist. Sie sind nicht den Weg der Anpassung gegangen, sondern haben das Querliegende zu Herrschaftsdiskursen betont. Dolto und Lacan haben arbeitsteilig Seite an Seite gestritten […]. Lacans Theorien stehen Pate für die Arbeit mit Erwachsenen, Doltos Werk begleitet sie in der Arbeit mit Kindern.« 3

Lacan stellt einen Ausgangspunkt der Theoretisierungsarbeit für Dolto dar. Ich möchte die grundlegende Konzeptualisierung Doltos für ihre theoretischen und klinischen Beiträge zur Psychoanalyse darstellen.

1 | Dolto, Françoise, 1908-1988. 2 | Montaigne, Michel Eyquem de: Essais, Frankfurt a. M.: Insel 1980, S. 246. 3 | Buhmann, Christiane: Kind – Körper – Subjekt. Therapie, Erziehung und Prävention im Werk von Françoise Dolto, Gießen: Psychosozial Verlag 1997, S. 13.

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3.1 D ie G eschichte eines S ubjek ts innerhalb der D yade M ut ter -K ind Françoise Dolto erweitert Lacans Begriffe des Genießens und des Begehrens in Bezug auf das Körperliche und erarbeitet eine Theorie der Weiblichkeit unter dem Aspekt der klinischen Anwendung. Im Mittelpunkt ihrer theoretischen Arbeit steht die Ausarbeitung des unbewussten Körperbildes. Das unbewusste Körperbild bezeichnet eine psychische Strukturierung innerhalb der Geschichte des Subjekts. Entscheidend ist Doltos Unterscheidung zwischen dem basalen unbewussten Körperbild und den sich darüber auf bauenden Stufen des Körperbildes entsprechend den Stadien der kindlichen und adoleszenten Entwicklung. Das basale unbewusste Körperbild ist der Niederschlag der Körper-an-Körper-Erfahrungen mit allen sinnlichen Eindrucken in der frühesten MutterKind-Dyade. Das basale Körperbild entspricht damit in etwa Freuds Kern des Unbewussten, das nie bewusst gewesene Unbewusste. Diese psychische Struktur ist für Dolto die Garantie der Kontinuität des Seins für das Subjekt. Das sich darüber auf bauende unbewusste Körperbild vollzieht sich als Symbolisierung der Körperlichkeit. Dolto entwickelt ihre Theorie in sehr enger Beziehung zu konkretem Fallmaterial, wobei es ihr in erster Linie darum geht, die Komplexität der klinischen Erfahrung zu erhalten, und erst in zweiter Linie um systematische Begriffe. Grundlegend für das Verständnis ihrer klinischen Arbeit über die MutterKind-Beziehung sind die beiden Begriffe: das unbewusste Körperbild und die symboligene Kastration. Doltos Ausarbeitung dieser theoretischen Begriffe ist eingebettet in ihre oft kritisierte konservative Gesellschaftsauffassung. Tatsächlich erweist sich ihr Gesellschaftsbild als eine notwendige Grundlage für das Gelingen der von ihr sehr scharf erfassten Notwendigkeit der Trennungs-(Abtrennungs-)Prozesse im Mutter-Kind-Verhältnis. Mit dieser klaren Sicht rücken auch die Gefahren in den Hintergrund, dass diesem nicht genügend Bindungskräfte zur Verfügung stehen, was wesentlich eine Frage der kulturellen Entwicklung in der Moderne ist. Der Begriff der symboligenen Kastration hat deshalb ein so großes Gewicht, weil er die Kastration als unvermeidliche Trennung-Abtrennung mit der Notwendigkeit der Symbolisierung verbindet. Dolto beschreibt den Prozess der Symbolisierung der Körperlichkeit anhand von Körperbild und Sprache. Auf der Grundlage des basalen unbewussten Körperbildes, das die Kontinuität des Seins garantiert, baut sich »durch unterschiedliche Erfahrungen in Zeit und Raum hindurch, […] die Rekonstruktion

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

der Urszene und die damit verbundene ödipale Kastration auf. Sie beinhaltet den Verzicht auf die Mutter als begehrtes Sexualobjekt«, schreibt Buhmann4. Dies ist die zentrale Thematik von Dolto. Das Bemühen, psychische Strukturen zu erfassen, die eine Kontinuität im Psychischen garantieren, und die Stadien der Entwicklung, die dem Auf bau des Psychischen gerecht werden, lässt Dolto einen grundlegenden Narzissmus bestimmen. Sie konzipiert damit den Narzissmus nach Freuds Definition als ›Libidobesetzung auf das Ich‹5, im Gegensatz zur freudschen Theorie der primären und sekundären Narzissmen. Das notwendige, normale Stadium der Entwicklung wird, wenn die gesunden Voraussetzungen nicht gegeben werden können, als ›Fixierungsort einer neurotischen Störung‹ angesehen. Die Unterscheidung zwischen Narzissmus und Körperbild, basalen Strukturierungen und psychischem Wachstum entlang der Zeitachse lässt sich für Dolto im Rahmen der Entwicklung des Kindes nicht feststellen. Die Artikulation zwischen der erforderlichen libidinösen Besetzung des eigenen Körpers und der Benutzung des eigenen Körpers als Sexualobjekt unterstreicht die Komplexität des psychischen Falles. Dolto hebt damit die Wichtigkeit der Beziehung Mutter-Kind hervor, und zwar eingebunden in die Kultur innerhalb des Kontexts der Generationen, der sozialen Ordnung, und abhängig von konventionellen Bildern. Das Gesellschaftliche ist aber vor allem Ort der Sprache. Die Mutter enthält, laut Dolto, in sich als sprechende Mutter die symbolische Potenzialität und symbolische Potenz, um das Kind zum Anderen zu öffnen. Das unbewusste Körperbild strukturiert sich innerhalb der Beziehung zur sprechenden Mutter, innerhalb dieser symbolischen Bindung, die uns durch die Sprache als Subjekt unserer Geschichte kennzeichnet. Es geht Dolto darum, die Subjektivierung innerhalb der lebensweltlichen Bezüge und menschlichen Verhältnisse zu stärken. Sie betont, wie die Struktur der Genealogie Halt für die Subjektposition geben kann. Ihr Versuch einer sehr präzisen Anamnese des Lebens des Patienten zielt auf die Ereignisse des kindlichen und erwachsenen Patienten, seine Toten, die verbannten oder gefürchteten Familienmitglieder, das Schweigen sowie die Geheimnisse der Familie. Im Erwachsenen hört sie immer das Kind, das er gewesen ist. Sie sieht in den Regeln, die jede Familie oder soziale Gruppe aufstellt, eine Erziehung zur Flexibilität und Toleranz den anderen Gruppen gegenüber. Jedoch hat das Gesetz insofern, als jeder ihm unterworfen ist, eine strukturierende Kraft, die allgemeingültig ist. Es muss durch eine symbolische Figur vertreten sein, um das Kind davor zu bewahren, in die Pathologie zu geraten. 4 | Ebd., S. 112. 5 | Freud, Sigmund: »Zur Einführung des Narzißmus« [1914], in: ders.: Studienausgabe. Band 3, 2000, S. 37- 68, hier S. 49.

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So überdenkt sie das Konzept der Kastration und nennt sie ›symboligen‹ um zu betonen, dass diese einen Prozess der Symbolisierung einleitet. Es braucht ›Regeln‹6, damit ein Verbot mit Symbolcharakter für das Kind einen Sinn bekommt. Für Dolto hat Psychoanalyse nur dann Wert, wenn sie sich auf das, was ihre Grundlage ist, bezieht, nämlich die Sprache. Es ist kennzeichnend für Dolto, dass sie auch die institutionelle Umsetzung ihres psychoanalytisch begründeten gesellschaftlichen Einspruchs betrieben hat. Neben öffentlichen Radiovorträgen mit praktischen Ratschlägen für Eltern hat sie die Maison Verte gegründet, eine Tageseinrichtung für Kleinkinder von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren und ihre Mütter. Seit 1979 arbeitet die erste Gruppe von Psychoanalytikern und accueillants 7 um Françoise Dolto. Die zahlreich gegründeten weiteren Maisons Vertes sind Ausdruck der Einsamkeit der Mütter mit ihren kleinen Kindern in der modernen Gesellschaft. Die Unsicherheit der Mütter im Umgang mit ihren Kindern und in Erziehungsfragen, gepaart mit einem Zusammenbruch der Familienstrukturen, der soziale Rückzug von der Arbeitswelt, die Überforderung, wenn die Väter tagsüber aus dem Haus sind, und die Hilflosigkeit ohne Rücksprachemöglichkeiten, alles dies entfacht das Leiden, dem die Mutter wie das Kind ausgesetzt sind. Dolto und ihr Team übersetzen dann die Symptome, um ihnen einen Sinn, ihren Sinn, zurückzugeben. Durch die Symbolisierung wird das zerstörerische Agieren beendet.

3.2 D er B egriff des K örperbildes Françoise Dolto entwickelt aus ihrer analytischen Arbeit heraus ihr Konzept ›Bild des Körpers und körperliches Schema‹. Die anamnestische Rekonstruktion, die Genese der Erogenität, nennt sie Image inconsciente du Corps (so der Title ihres 1984 erschienenen Monographie), das unbewusste Körperbild. Es ist eine psychische Dimension, die sie als Gegensatz zum Körperschema bestimmt. Das Körperschema ist der anatomische Körper, während das unbewusste Körperbild den subjektiv erlebten Körper mit all den unbewussten und bewussten Gedanken, Gefühlen, Einstellungen und deren psychischen Niederschlag. Das Körperbild variiert situativ mit allen Lebenseinflüssen und kann sich je nach zeitlichem Geschehen und Grad des schädigenden Einflusses auf körperlicher Ebene manifestieren. Das Körperbild verrät die Stadien der Entwicklung, und durch die Pathologie verrät es

6 | Ein Beispiel für ein Hilfsmittel, das ein Verbot darstellt, ist die rote Linie in der Maison Verte in Paris, die die Bereiche zwischen krabbelnden Babies und motorisch aktiven Kinder trennt. 7 | Accueillant ist der, der willkommen heißt.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

auch die Brüche auf der Zeitachse, in dem sie sich auf der körperlichen Ebene einschreiben und Symptome ausbilden. Das Symptom versteckt sich hinter dem Subjekt, während das Subjekt das Symptom verstecken möchte. Es nimmt auf diese Weise die Form eines verunglückten Symbols an. Das Subjekt hängt nur noch an einem hauchdünnen Faden und weist mit dem Symptom auf die Erinnerungsspuren der Zeit hin, in der das Unsagbare geschah. Das Symptom wird zum misslungenen Kompromiss einer Symbolproduktion. Die Spur erlaubt, das Primat des Subjekts in Frage zu stellen: Man muss das Leben als Trasse begreifen. Das ist die Trasse, die Spur einer Struktur, die sich im Körper einschreibt. Sie ist die Dimension einer Erinnerung, die unbewusst bleibt, die Erinnerung eines erlebten frühkindlichen Beziehungsmusters. Das Körperbild bei Dolto ist ›ausschließlich auf das Imaginäre zu beziehen‹, allerdings auf ein intersubjektiv Imaginäres, das beim Menschen von vornherein mit einer symbolischen Dimension versehen und das durch die Erinnerung an die Kastrationen strukturiert ist. Diese Kastration, dieses Nein zum Genießen, ist in seiner Gewichtung grundlegend sprachlich. Das unbewusste Körperbild beschreibt, was sich im Infantilen abspielt, ohne bewusste Reflexion. Es bildet sich, es strukturiert sich, es wird. Dolto definiert drei zu unterscheidende Modalitäten des Körperbildes8, die sich aber überlappen, und durch eine vierte Dimension, die eher als funktionelles Geschehen denn als eine psychische Instanz zu begreifen ist, das ›dynamische Körperbild‹, zusammen gehalten werden. Dolto entwickelt ihre Idee des dynamischen Körperbildes, das sie als korrespondierend zum ›Verlangen zu Sein‹ (Désir d’être) und dem Beharren auf eine Zukunft definiert. Sie schreibt:

8 | Dolto, Françoise: L’image inconsciente du corps, Paris: Seuil 1984, S. 50-57: »1. L’image de base est ce qui permet à l’enfant de se ressentir dans une ›mêmeté d’être‹, c’est-à-dire dans une continuité narcissique ou dans une continuité spatio-temporelle qui demeure et s’étoffe depuis sa naissance, garantie ontique inscrivant une continuité qui permettra au sujet d’intégrer les expériences de la discontinuité. Elle fonde le sujet comme incarné. […] 2. L’image fonctionnelle soutient les expériences sensori-motrices de l’enfant et organise un retour vers l’organisme, en utilisant le schéma corporel, pour objectiver la relation au monde et à autrui, dans la visée du plaisir. […] 3. L’image érogène, associée à l’image de base et à l’image fonctionnelle, assure que le principe de fonctionnement du corps est celui du plaisir-déplaisir érotique, dans un rapport dedans-dehors constitutif de la dimension de l’autre.« Eigene Übersetzung. Dt.: Das unbewusste Bild des Körpers, Weinheim /  B erlin: Quadriga 1987.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« »Dieses Verlangen, soweit fundamental mit dem Mangel gekennzeichnet, ist immer für das Unbekannte offen. Das dynamische Bild ›hat also keine Repräsentation, die ihm eigen ist, es ist Spannung der Absicht (tension d’intention)‹; seine Repräsentation wäre das Wort ›Begehren‹, wie ein Verb konjugiert, teilnehmend und anwesend beim Subjekt.« 9

Dolto beschreibt die »tension d’intention« als organisierendes Prinzip, das den Prozess im Auf bau des Körperbildes vorantreibt und die drei Modalitäten des Körperbildes miteinander verbindet: 1. Das Basisbild erlaubt »dem Kind, in einer Gleichheit des Seins zu sein, d. h. sich in einer räumlich-zeitlichen Kontinuität zu spüren«10. Damit erwirbt das Kind eine ontische Garantie, die sich in eine Kontinuität einschreibt, die dem Objekt erlaubt, die Erfahrungen der Diskontinuität zu integrieren. Damit wird die Inkarnation des Subjekts begründet, in der Sicherheit der Kontinuität. 2. Das erogene Bild, das mit dem Basisbild und dem funktionellen Bild assoziiert ist, stellt sicher, dass der Körper nach dem Prinzip des VergnügensMissvergnügens (Lust) funktioniert, in einem Drinnen-draußen-Verhältnis, das die Dimension des Anderen konstituiert. 3. Das funktionelle Bild unterstützt die sensomotorischen Erfahrungen des Kindes und organisiert eine Reflexion auf den Organismus, indem es das Körperschema benutzt, um die Verbindung mit der Umwelt und zum Anderen mit dem Ziel des Genießens zu verknüpfen. Das dynamische Bild als verknüpfendes Element kann höchstens als die gestrichelte Linie des Begehrens dargestellt werden, die vom Subjekt zum Objekt geht. Wenn das Begehren, zu sein, damit beginnt, sich in das Basisbild einzuschreiben, mit dem funktionellen Bild zu experimentieren und sich im erogenen Bild zu fokussieren, dann ist dieses Begehren nicht als extrinsischer idealer oder gar göttlicher Bewegungsgrund zu verstehen. Dolto sagt: »Das Körperbild verbindet das Subjekt des Begehrens mit seinem Gewissen mittels der Sprache, die sich durch die Kommunikation zwischen zwei Subjekten eingeprägt hat.«11 Dieses Begehren eines kleinen Menschen, der sich entwickelt, ist nicht nur in ihm enthalten, sondern es drückt sich in und durch seinen Körper aus, in einer dynamischen Vision dessen, was ihn konstituiert und was ihn stützt. Das Körperbild bildet sich mit der primären Beziehung (siehe oben) und trägt des 9 | Ebd., S. 58; eigene Übersetzung. 10 | Dies.: L’image inconsciente du corps, Paris: Seuil 1984, S. 50 f.; eigene Übersetzung. 11 | Ebd., S. 23.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Weiteren die Spur der Einschreibung der dyadischen Verbindungen zur Mutter und / oder triadischen Erfahrungen zu Anderen. Das Körperbild hat mit dem Imaginären, mit der Phantasie zu tun: Einerseits sind wir Körper, anderseits haben wir einen Körper. Von da aus findet zwischen dem Bild des lebendigen Körpers und dem Narzissmus des Subjekts der weitere Auf bau statt. Der Begriff des Körperbildes in Bezug auf die vier oben zitierten Begriffe schreibt sich in eine zeitliche und eine die menschliche Entwicklung konstituierende Perspektive ein und ist für den Zugang zur Kultur fundamental. Die der Entwicklung des Kindes zugesprochene Wichtigkeit, die sich von Geburt an bis zur Auflösung des Ödipuskomplexes, also bis zur Adoleszenz, etabliert, beruht auf einer Chronologie des Unbewussten auf der Zeitachse. Das Körperbild ist ein Bild des Imperfekten einer immer unvollständigen Vergangenheit. Ich zitiere Widmer: »Das Körperbild verwandelt sich unter der auflösenden Kraft der Reflexion, die Schein und Sein, Sichtbares und Unsichtbares, Reales und Imaginäres trennt, wobei es sich in immer neuen Formen sedimentiert, die zur kulturellen Substanz gehören: als Sprache, als Kunst, als Schrift, als Produktion.«12 Der Begriff ›Körperbild‹ stammt nicht von Dolto selbst. Er geht auf den Neurologen Paul Schilder13 (1886-1940) zurück. Er bezieht sich ursprünglich auf neurologische Erscheinungen, von denen die spektakulärste jene der Phantomschmerzen ist, wie Ambroise Paré sie beschreibt.14 Dabei empfindet ein Amputierter die Anwesenheit des in Wirklichkeit abgenommenen Körperteils so wie vorher, als wäre es noch vorhanden. Das lässt darauf schließen, dass es ein mentales Körperbild gibt, das intakt bleiben kann. Schilder15 hat als Erster versucht, das psychoanalytische Konzept mit dem neurologischen zu assoziieren. Ebenso war er der Erste, der eine terminologische Unterscheidung zwischen Körperschema und Körperbild16 eingeführt hat. Dolto bedient sich dieses Ansatzes, um die allgemeine Physiologie und Anatomie des Körpers, als Objekt der Medizin, von dem zu unterscheiden, was den Körper in der subjektiven Geschichte des Begehrens des Subjekts, also das eigentliche ›Körperbild‹, betrifft. Der Lehre Lacans folgend, fügt sie dem Körperbild das Adjektiv ›unbewusst‹ hinzu und konzipiert die Körperbildtheorie als eine Metaphorisierung des Körpers: Es geht um eine »subjektive Metapher der aktiven und passiven Lebenstriebe, welche dem biologischen Sein entspringen, 12 | Widmer: Metamorphosen des Signifikanten, S. 10. 13 | Schilder, Paul: L’image du corps, Paris: Gallimard 1968. 14 | Vgl. Guillerault, Gérard: Comprendre Dolto, Paris: Armand Colin 2008, S. 97. 15 | Ebd. 16 | Die Struktur des Körperbildes beinhaltet alle Komponenten des anatomischen Systems des Körpers. Die Körperfunktion bezeichnet die normal physiologischen und pathologischen Vorgänge des Bewegungsapparates sowie die Vitalparameter.

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und die ununterbrochen aufrechterhalten bleiben durch das Begehren des Subjekts, mit einem anderen Subjekt und mittels eines sensoriell bedeutsam gewordenen partiellen Objekts zu kommunizieren.«17 Die Körperbildtheorie Doltos ist sehr lebendig, weil damit die Hypothese einer spezifischen Zeitphase formuliert wird, in der, wie Guillerault18 schreibt, eine symbolische Dimension der Sprache in ständigem Austausch mit der besonderen Geschichte des Kindes steht und »eine symbolische Verknüpfung des Körpers mit dem Wort« erfolgt. Damit kann bei Aufkommen einer Schwierigkeit bestimmt werden, wann und wo sich die maligne Regression an ein früheres Körperbild angeheftet hat. Freud, der mit dem Konzept der Nachträglichkeit arbeitet, um in der Therapie des Erwachsenen die Vergangenheit des Kindes zu dechiffrieren und zu rekonstruieren, legt den Schwerpunkt auf die Dimension des Infantilen. Dolto erweitert Freuds Ansatz, knüpft mit ihren Konzepten an die freudsche Trieblehre und die Lehre der Kastration an und validiert dies in ihrer direkten Arbeit mit dem Kind. Mit ihrem Begriff des Körperbildes versucht sie, die Konstitution des Subjekts von der frühesten Zeit der Mutter-Kind-Beziehung zu erfassen: infantil-unbewusst-neurotisch im Status Nascendi. Dabei setzt sie das Unbewusste mit dem Infantilen gleich. Durch diesen Umweg erschließen sich ihre Konzepte noch einmal von der freudschen Psychoanalyse her. Der Gedanke des unbewussten Körperbildes als Konzept der Frühreife (précocité) erlaubt als operationeller Begriff dem Psychoanalytiker, der mit der Theorie Doltos arbeitet, Zugang zum Infantilen zu bekommen, sich zum Archaischen zurückzuarbeiten, sogar bis zum Ursprung. Aber das Körperbild ist keineswegs imaginär. Es handelt sich um eine geleitete Spur, die Erinnerung an die Arbeit des infantil Gelebten vor Ödipus, vor der gesprochenen Sprache, vor der Bildung der Instanzen der Psyche, vor der Ausbildung des Ich (moi), das Ich sagt, und vor dem Spiegelstadium. Das freudsche Unvordenkliche wäre hier auch gemeint, als Spur im Subjekt, die jedem vorausgeht. Das basale Körperbild entsteht vor dem Spiegelstadium, und wenn es evoziert wird, appelliert es beim Kind an feinere körperliche Empfindungen wie den Geruchssinn, den Tastsinn, den Rhythmus … Dolto buchstabiert das französische Wort ›Bild‹, Image, I-ma-ge, folgendermaßen: • »I« ist die Identität, die man ›sich bilden lassen muss‹. • »Ma« ist die erste Silbe des Wortes ›Mama‹, welches das Kind immer in der Verbindung mit »Moi ma maman« (»Ich-meine-Mama«) gebraucht, die Art, 17 | Dolto: L’image inconsciente, S. 49. 18 | Vgl. Guillerault: Comprendre Dolto, S. 128.

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wie sich das ganz Kleine zuerst identifiziert. »Meine Mama« wird dann erweitert zu »ma maman m’aime«, also »meine Mama hat mich lieb«, mit der Homophonie »m’aime« und »même« im Französischen19: Die absolute Identifizierung mit der Mutter ist dabei erreicht. • »Ge«, griechisch: Erde, soll für die Basis oder auch den Körper sowie für »ich« (»je«) stehen, dem Pronomen der ersten Person des Singulars, welches schließlich zum Ich wird, wenn es zur Grundlage der gesprochenen Identität wird. So bestimmt sie I-Ma-Ge als den Parcours, der zur subjektivierten Verwandlung des einen Ich, welches Ich sagt, führt 20. In dem kleinen Buch L’enfant dans la ville schreibt Dolto: »Ich glaube, dass wir uns schon viel früher, bevor sich die Symptome, nämlich die Zeichen von Leiden und Angst beim Kind manifestieren, darum kümmern müssen, es unter den bestmöglichen Bedingungen aufwachsen zu lassen. Wir müssen den Säugling, der noch mit seiner Mutter ›verbunden‹ ist, als Partialobjekt seiner Mutter respektieren. Er ist schon Subjekt dessen, was er empfindet, ohne jedoch zu wissen, wo seine Grenzen sind, da er von Anfang an die Verlängerung des Körpers seiner Mutter darstellt, von dem er glaubt, es sei sein eigener. Erst durch das Wort der Mutter tritt das Kind in Erscheinung, nämlich wenn die Mutter zu ihm spricht, indem sie es zu einer dritten Person ins Verhältnis bringt.« 21

Das Kind, das im Spiegel das Bild des Erwachsenen sieht, welches sich von seinem eigenen unterscheidet, entdeckt, dass es ein Kind ist. Der Spiegel hilft dem Kind gewahr zu werden, dass ein Unterschied zwischen seinem eigenen Spiegelbild und dem des Erwachsenen besteht. Erinnern wir uns, dass das unbewusste Körperbild eine subjektive Trasse ist, die die Kraft der Botschaft dessen widerspiegelt, was das Baby in der Zeit der Subjektivierung erlebt hat, im Sinne (oder auch nicht) seiner positiven Entwicklung des Begehrens, entlang der Entwicklung der erogenen Zonen. Die Niederschrift im Körperbild unterstreicht die Doppelstruktur von Erfüllung (Erwartung / Hoffnung) und Verfehlung (Verletzung / Mangel). Dies dient der Aufbewahrung jeder Geschichte innerhalb der Dynamik, welche die Biographie eines Kindes ausmacht. Dolto definiert es so:

19 | Vgl. Dolto, Françoise / N asio, Juan David: L’enfant du miroir, Paris: Payot-Rivages 1987, S. 13; eigene Übersetzung. 20 | Vgl. Dolto, Françoise /  W inter, Jean-Pierre: Les images, les mots, le corps, Paris: Gallimard 2002, S. 31-37; eigene Übersetzung. 21 | Dies.: L’enfant dans la ville, Nizza: Z’éditions 1988, S. 10; eigene Übersetzung.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« »Das Körperbild stellt eine gegenwärtige lebendige Synthese unserer emotionalen Erfahrungen dar, die wiederholt über spezielle erogene, archaische und weniger archaische Empfindungen unseres Körpers erlebt werden; eine bedeutsame aktuelle innere Erregung lenkt die unbewusste Wahl der latenten emotionalen Assoziationen und erlaubt ihnen, zum Vorschein zu kommen.« 22

Der Begriff des Körperbildes in der Konstruktion Doltos hat, laut Buhmann23, einen historischen und einen aktuellen Aspekt, er spiegelt die psychischen Instanzen in ihrer Konflikthaftigkeit wider und stellt Beziehungen zwischen Teilobjekten und ganzen Objekten her. Während Freud auf der Basis seines Konzepts der Nachträglichkeit die Zeichen und Bedeutungen der Pathologien beim Erwachsenen interpretiert, stellt Dolto a priori Hypothesen auf und versucht, die Störungen der psychischen Entwicklung zu beschreiben, die sie auf nachträglich gewonnene klinische Beobachtungen stützt. Das unbewusste Körperbild ist der rote Faden, der das Subjekt aus dem Labyrinth der Symptome herausführt. Mit den Worten Doltos klingt das so: »wie das Selbst-Sein, bekannt und wiedererkannt, gehend-werdend im Genie seines Geschlechts, auf seine Eltern gestützt, in die lebendige Dynamik des der Zukunft zugewandten Kindes eingefügt.«24

3.3 D ie › symboligene ‹ K astr ation Dolto versteht Freuds Begriff der Kastration als Prozess, der in einem Menschen abläuft, wenn ein anderer Mensch ihm zu verstehen gibt, dass die Erfüllung seines Begehrens in der Form, die er ihm geben möchte, durch das Gesetz verboten ist. Die primäre Liebe zur Mutter wird verboten (Inzestverbot, ›symbolische Kastration‹), wodurch ein endloser Substitutionsprozess, ein Prozess unstillbaren Begehrens in Gang kommt. Innerhalb Doltos Arbeit steht ihre Beschäftigung mit Freuds Kastrationskomplex am Anfang. 1939 veröffentlicht sie ihre medizinische Doktorarbeit

22 | Dies.: Über das Begehren, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 89. 23 | Vgl. Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 161. 24 | Dolto: L’image inconsciente, S. 50: »comme la mêmeté d’être, connue et reconnue, allant-devenant pour chacun dans le génie de son sexe, appuyé sur ses parents«; eigene Übersetzung.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Psychoanalyse und Pädiatrie 25 mit einem Untertitel: Der Komplex der Kastration – allgemeine Studie, klinische Fälle. Ein kleiner Mensch muss durch den Komplex der Kastration hindurch, um das Enigma seines Geschlechtes zu ergründen, und Guillerault fügt hinzu: »d. h., was sein Geschlecht ist im Verhältnis zum Unterschied der Geschlechter.«26 Dolto stützt sich auf den freudschen Kastrationskomplex, baut ihn aber Lacan folgend um. Für Freud, der sich auf das männliche Kind bezieht, ist das Kind auf eine brutale, gewalttätige, sogar dramatische Art mit dem Unterschied der Geschlechter konfrontiert. Deshalb kann die Kastration nur durch die imaginären Kanäle einer zerstörerischen Konzeption (abgeschnitten, abgenommen, verstümmelt) erfasst werden, die mit Entsetzen beladen ist. D. h., dass die Problematik der Sexuierung bei Freud, bevor sie denn symbolisiert ist, nur in Form von Aspekten einer imaginierten Phantasmagorie (Trugbild) erscheint, die von einem kindlichen Universum zeugt, das von Angst beherrscht wird. Das Entsetzliche der Vision einer realen und nicht metaphorischen Kastration besteht darin, dass dem Kind eine Verstümmelung seines geschlechtlichen Körpers vorstellbar erscheint als Antwort auf ein verwirrendes und somit zu bestrafendes Begehren. Die Kastration wäre also eine Bestrafung im Realen. Dolto setzt sich mit dieser Sicht in La cause des enfants27 auseinander; sie lehnt diese Auffassung ab. Für sie ist das Entsetzliche der Vision eine katastrophale Phantasmagorie. Im Altgriechischen bedeutet Katastrophe (kata-strephein) wörtlich ›herabwenden‹ oder anders gesagt: ›nach unten schauen‹. Es geht also nicht mehr darum, die Katastrophe an den Rand eines Modells abzuschieben, sondern sie als Anzeichen einer zu erfindenden Dekonstruktion zu betrachten, als Prinzip einer Wende. Nach Barrau 28 ist die Katastrophe eine Bruchstelle, im Umfeld von Orten von Spannungen, die auf radikale Weise zu neuen Konstruktionen führt. Nach unten schauen ist genau das, was das Begehren, zu wissen, antreibt. Im Lateinischen bedeutet ›Katastrophe‹ die plötzliche Wendung oder die Auflösung einer Tragödie, d. h. den letzten von fünf Akten, in dem der Held seine Strafe erhält. Schuldig, mea culpa: Im Französischen wird coupable auch im Sinne von ›beschnitten‹, ›bestraft‹ verstanden. Es ist genau das, was das kleine 25 | Vgl. dies.: Psychanalyse et pédiatrie, Paris: Seuil 1971; den Untertitel hat sie später nicht mehr verwendet, weil der Hinweis auf den Komplex der Kastration bei den Verlagen Anstoß erregt hat. 26 | Guillerault: Comprendre Dolto, S. 48; eigene Übersetzung. 27 | Vgl. Dolto, Françoise: La cause des enfants, Paris: Robert Laffont 1985, S. 183. 28 | Vgl. Barrau, Aurélien: »Catastrophe: signe ou concept pour la physique contemporaine?«, in: Le Portique [En ligne], Heft 22, 2009, http://leportique.revues.org/2053 vom 10.04.2009.

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Mädchen empfindet, wenn es die Unterschiede der Geschlechter entdeckt. In dieser Bedeutung ist die Katastrophe zweifellos weniger spektakulär, aber dafür umso tiefergehend. Damit wird eine radikale ontologische Umkehr vorgeschlagen, von der Verstümmelung zu einem Moment, wo etwas fehlt, einem Moment der Schuld. Entscheidend in Doltos Konzept ist nicht dieser Szenenwechsel, sondern die Erkenntnis, dass es etwas Unsagbares in dem Gesagten gibt. Die Katastrophe ist fundamental für die Konzeptualisierung, weil sie einen Wechsel der Perspektive erzwingt, die die Fundamente für ein neues Bewusstsein der wahrgenommenen Welt legt. Für Françoise Dolto ist die deterministische freudsche Konzeption ›Anatomie ist Schicksal‹ ein Modell, das ihrer Ansicht nach zu realem Unglück, Katastrophen, zu Brüchen in der Entwicklung führt und von dem sie sich distanziert. Denn es ist der Komplex der Kastration im freudschen Sinne, der den Menschen zur Neurose verurteilt, der den neurotischen Menschen leiden lässt. Dies hat Konsequenzen für ihre psychoanalytische Arbeit mit den Kindern, die der Verstümmelung im Imaginären ausgesetzt sind. Guillerault schreibt: »Weit entfernt vom freudschen Kastrationskomplex, der bis zu einem bestimmten Punkt das Subjekt in Angst und Schrecken versetzt oder zumindest mit einer ersten furchtbaren Annäherung an das Begehren konfrontiert, erscheint die Kastration für Dolto im Kontrast dazu eher als etwas das das Subjekt zur subjektivierenden Annahme öffnet und eine Befreiung des Begehrens bewirkt.« 29

Dolto wird in ihrer klinischen Arbeit die Kinder von dieser Phantasmagorie der Kastration entlasten, indem sie ihnen zeigt, dass die Kastration nicht ein Effekt der Struktur, sondern ein irreführendes Sprechen als symbolischer Defekt der Sprache ist: Es gibt keinen Grund, eine körperliche Beschädigung zu befürchten, es ist eine falsche Geschichte oder eine falsche Theorie über den Geschlechtsunterschied, die erzählt wird. »Der Mensch wird nämlich für Dolto nicht als Mensch geboren, sondern er wird erst dank der Kastrationen zum Menschen gemacht. Diesen Prozess im weitesten Sinne der Erziehung bezeichnet sie als Humanisation, als Menschenwerdung«, schreibt Buhmann30. Die Arbeit der Sprache in der Psychoanalyse mit Kindern führt vom imaginären freudschen Kastrationskomplex zur symbolischen Kastration Lacans 29 | Guillerault, Gérard: »Dolto, Freud: du complexe de castration à la castration symboligène«, in: Le Coq-héron 168, Heft 1, 2002, S. 37-46: »Loin du complexe de castration freudien qui jusqu’à un certain point enferme, confine le sujet dans la terreur, le confronte du moins à une première approche terrifiée du désir, la castration doltoïenne en advient par contraste comme étant plutôt ce qui va ouvrir à l’assomption subjectivante et libératoire du désir.« Eigene Übersetzung. 30 | Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 206.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

durch die sprachlichen Trennungsschritte der Symbolisierung. Dolto reiht sich hier ein und erfindet als zentralen Begriff die castration symboligène, die symboligene Kastration, um zu betonen, dass es sich darum handelt, dass »das Subjekt auf einer Trasse vorankommt, auf der die Symbolisierung wie auch die subjektive Annahme zunimmt«, erklärt Guillerault31. Und bei Schauder heißt es weiter: »Das Konzept der symboligenen Kastration bezeichnet den positiven symbolischen Akt, welcher von Geburt an über die Sprache erfolgt.«32 Dolto benutzt das Konzept der Kastration, um auf drei Fragen zu antworten, die für die Untersuchung der Entwicklung des Kindes und schließlich seine Behandlung determinierend sind: • die Frage der Interaktion zwischen einem Subjekt, das von dem Begehren, zu leben, getrieben wird, und den Anderen, darunter die Eltern, die es begleiten müssen und es lieben, ohne es zu fest zu binden; • die Frage der Artikulation zwischen dem Imaginären des Körperbildes und dem Symbolischen, denn das menschliche Subjekt ist verpflichtet, in einer gesprochenen und sprechenden Welt zu leben; und • die Frage der Kontinuität im Rahmen der Entwicklung des Kindes, die die Impulse des Lebens ordnet, immer jedoch auf das Unerlaubte, das Unmögliche oder auf inhärente Grenzen stoßend. Doltos Konzeption33 macht aus der Kastration, als Akteur der Symbolisierung und somit der Beruhigung, Schritte für die Humanisierung durch die Einschränkungen. Nach Duncker und Kluttig ist der Begriff ›humanisierende Kastration‹ zu verstehen als »Kastration im Sinne der Unausweichlichkeit, in der es nicht die Möglichkeit gibt, sich ein bisschen zu unterwerfen. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass es sich um einen immer zu wiederholenden Vorgang handelt.«34 Dolto unterscheidet dabei fünf Arten von Kastrationen: die Nabelschnurkastration, die orale, die anale, die primäre und die genital-ödipale. Die Nabelschnur- und die orale Kastration bringen das Subjekt zu seinem Sein, die anale Kastration bestimmt sein Handeln und die primäre sowie die genital-ödipale bedingen seine Sexualisierung. Dolto stützt sich auf die drei Instanzen RSI und platziert die Kastration nicht mehr auf der Seite des Imaginären, die Angst und Schrecken verbreiten 31 | Guillerault: Comprendre Dolto, S. 130; eigene Übersetzung. 32 | Schauder, Claude: »Unbewußtes Körperbild und die symboligene Kastration im Werk von Françoise Dolto«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 26, Nov. 1998, S. 105133, hier S. 119. 33 | Vgl. Dolto: Das unbewusste Bild, S. 70. 34 | Duncker /  K luttig: »Der zersprungene Spiegel«, S. 110.

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konnte, sondern sie macht daraus etwas Wertvolles für diese Seite des Kindes, ein Verbot, das strukturiert und durch die sprachliche Trennung die Symbolisierung ermöglicht. Die sprechende Mutter wird zum Akteur der Trennung, und dabei verschiebt sich ihre Theorie. Doltos Kritik an der imaginären Überladung des freudschen Kastrationskomplexes lässt noch nicht erkennen, wie weitreichend ihr Ansatz für das Verständnis der Bedrohung reicht, der die Mutter ausgesetzt ist. Einerseits ist sie durch die Schwangerschaft dem Besitz unterworfen, dann muss sie sich davon trennen. Kritisch schreibt Schauder: »An dieser Stelle unterscheidet sie sich radikal von Lacan, indem sie von der Artikulation des Imaginären mit dem Symbolischen ausgeht. Das Reale, wie wir dies bei Lacan kennen, existiert in ihrer Theorie nicht.«35 Sie positioniert sich auf der Seite einer symbolischen, sprechenden Mutter, die das Kind in seinem gänzlich einheitlichen Begehren begleitet. Als ›symbolische Mutter‹ führt sie, so meine These, so etwas wie ein Konzept des ›Muttersignifikanten‹ ein, als ›mütterlicher Signifikant‹ zu fassen, nämlich als Begehren der Mutter, das auf die Kastration verweist, die dieser von der eigenen Mutter weitergegeben wurde. In Anlehnung an Lacans väterliche Metapher muss die doltosche positive symboligene Mutter das Gesetz mit Halt und Autorität innerhalb der Kultur vertreten, braucht aber an ihrer Seite jemanden, der als Autorität sprechen kann. Dennoch fungiert die mütterliche Metapher, wenn sie diesen strukturierenden Platz für das Kind besetzt, als Ort des Sprechens, und das sieht Dolto durch ihre klinische Erfahrung bestätigt. Dolto wendet sich an die Öffentlichkeit, um eine Berechtigung zu erhalten. Weil ›alles Sprache‹ ist, kann die Sprache alles, laut Dolto, und d. h., dass alles symbolisierbar ist, eingebettet in die Kultur. Die Frage ist aber, ob man alles sagen darf. Gibt es dann Grenzbereiche? Die Sprache ist für sie die Sicherung vor jeglicher Gefahr des nicht Symbolisierbaren oder des Nicht-symbolisiert-Werdens.

Eine Fallgeschichte: die Tochter an der Brust der Mutter In dieser Fallgeschichte geht es um den Ursprung des Oraltriebs, wenn sich das ›In-eins-Fallen‹ der Gegenwart mit der Vergangenheit auf das Unbewusste erstreckt. Die Anorexie verkörpert die unmögliche Trilogie Liebe-Sexualität-Mutter, die uns mit Erschauern, Angst und Schrecken erfüllt, wenn die Stimme, die durch die Nabelschnur geht, nicht fleischlich ist, schreckliche Stimme, deren metaphorische Funktion der Hunger ist – und manchmal, in bis zu 25 Prozent der Fälle, der Tod. 35 | Schauder: »Unbewußtes Körperbild«, S. 114.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Das anorektische Kind stellt körperlich die soziale Transmission der Elternschaft mit ihrer transgenerationalen Komponente und deren psychische Transmission in Frage, indem es jeden Elternteil zu dem Sinn zurückschickt, den das Zusammensein für sie haben kann. Das bestätigen Raimbault und Eliacheff 36: »Die Subjekte stellen, jedes auf seine Art, die Frage nach ihrem Platz in der genealogischen familären und sozialen Ordnung.« Der Mund, Aufnahmeplatz der Nahrung, aber auch der Ort, aus dem Sprache und Worte hervorquellen; und sein Korrelat: der Mund, der Nahrung in Gift verwandelt, wie der Anthropologe Marcel Mauss37 in seinen Ausführungen die Definition von Gift / Geschenk erläutert – vielleicht kannte Freud diese Definition, als er schrieb: »Mit der Entziehung der Brust hängt wahrscheinlich auch die Angst vor Vergiftung zusammen. Gift ist die Nahrung, die einen krank macht.«38 Dies ist der Ausdruck des Widerspruchs und des Vorwurfs und die Stimme der Mutter in unreiner Verkörperung von verhungerten und enttäuschten Worten. Der Mund, Kreuzung des Austausches zwischen der Welt und mir, ist das Theater der Absorption und der Zurückweisung, des Vergnügens und des Schmerzes, des Erotismus und der Grausamkeit. Bocca del leone in Venedig, dieser hohle Stein, in dem die Italiener anonym ihre Feinde denunzierten, indem sie kleine Papiere deponierten; Bocca della Verità in Rom (Mund der Wahrheit), wo derjenige, der seine Hand in diesen Mund legt und dabei nicht die Wahrheit sagt, diese Hand verliert: Kann man sagen, dass die Magersüchtigen ihre Münder verschließen, um nicht die unausgesprochenen Familiengeschichten auszuplaudern, die Trauerfälle und die geheimgebliebenen Perversionen, Missbrauch, die Feinde seit jeher, seit dem Ursprung ihrer Tage? Dolto beschreibt bei dem kleinen Kind von vornherein die Möglichkeit eines Zugangs zu einem Anderen, einen sofortigen Appetit nach Verbindung, eine wahrhaftige Gourmandise der Beziehung (das sei gesagt, um hier den Begriff der Oralität, der passt, einzubringen), eine Libido, die sich spontan der Kommunikation öffnet. Der folgende Fall von Karin dient der Illustration.

36 | Raimbault, Ginette / E liacheff, Caroline: Les Indomptables. Figures de l’anorexie, Paris: Odile Jacob 1989, S. 48; eigene Übersetzung. 37 | Mauss, Marcel: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925], mit einem Vorwort von E. E. Evans-Pritchard, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 195. 38 | Freud, Sigmund: »Die Weiblichkeit« [1933], in: ders.: Studienausgabe. Band 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und neue Folge, Frankfurt a. M.: Fischer 2000, S. 544-565, hier S. 553.

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Karin, acht Jahre alt, verweigerte seit vier Wochen jegliche Nahrung. Sie war ein paar Tage vorher ins Krankenhaus eingeliefert worden und führte seitdem Krieg. Ich war entsetzt, als ich das kleine Mädchen in seinem isolierten Zimmer, blass und ohne Ablenkungsmöglichkeiten, besuchte. Zuerst lehnte sie jeglichen Kontakt ab. Ich sprach dann mit ihr und erzählte, was ich über sie wusste, ihre Geschwister – sie war die Älteste von drei Kindern, eine Schwester (18 Monate jünger) und ein Bruder (vier Jahre jünger) – und die Mutter, die im vierten Monat schwanger war; dass sie eine sehr gute Schülerin war, sehr musikbegabt … Ich versuchte, mit ihr in Kontakt zu kommen, und beobachtete auch intensiv, wie sie reagierte. Bei der Erwähnung der Schwangerschaft der Mutter glaubte ich, eine Reaktion gesehen zu haben … Sie drehte den Kopf zu mir, schwieg aber weiter. Ich fragte dann, ob sie wusste, wie und warum Mamas Bauch immer dicker wurde. Sie guckte sehr interessiert, doch bevor sie antworten konnte, kam der Chefarzt ins Zimmer. Unser Gespräch war somit abrupt beendet, und er kündigte eine Infusion für den Nachmittag an, wenn sie nicht Mittag essen wollte. Er wollte auch die Eltern von ihrer Einstellung informieren und ihnen nur gestatten, sie zu besuchen, wenn sie etwas esse. Daraufhin verschwand er, umgeben von seinem Stab. Ich blieb genauso niedergeschlagen, wertlos, machtlos und frustriert wie sie zurück. Ihr Blick wurde leer, sie wirkte zusammengesunken und warf das Laken über ihren Kopf. Ich sagte ihr, dass ich ihre Entscheidung verstehe, nicht mit mir sprechen zu wollen, und dass ich am nächsten Tag wiederkäme, wenn sie es wünsche. Sie könne es mir mit einer Geste, einer Bewegung oder einem Wort klarmachen. Aber es kam keine Reaktion und ich verließ den Raum ihr vermittelnd, dass ich ihre Entscheidung respektiere. In dem Moment, als ich das Zimmer verließ, drehte ich mich zu ihr um und sah, dass sie mich durch eine kleine Ecke des Lakens anblickte, die sie angehoben hatte. Zwei große blaue, unterlaufene, verlorene Augen. Ich lächelte und sagte: »Bis morgen!« Am nächsten Morgen ging ich also zu Karin, die mich lächelnd, jedoch reserviert empfing. Man hatte ihr eine Infusion gelegt, und ich sagte ihr, dass ihr Körper sich entspannen sollte, da er etwas trinken könne! Sie antwortete nicht. Ich versuchte also, die Diskussion des Vortages aufzugreifen, und sprach von der Schwangerschaft ihrer Mutter. Ich sagte ihr, dass auch sie in dem Bauch ihrer Mutter gewesen sei, weil ihre Eltern sich sehr liebten und eine Frucht ihrer Liebe haben wollten, und da ich nicht wisse, ob sie von ihrer Mutter gestillt worden sei müsse sie sie fragen, wenn sie dies wissen wolle. Vielleicht erinnere sie sich an ihre Mutter, wie diese ihren Bruder und ihre Schwester gestillt habe.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Ich merkte, dass sie sich nach und nach entspannte, und als ich einen Apfel neben ihrem Bett liegen sah, fragte ich sie, ob sie wolle, dass ich ihr für später ein Viertel zuschneide. Sie lächelte. Ich sagte: »Schau mal, ein Liebesapfel!« Wenig später ging ich und fragte sie, ob sie mich wieder empfangen würde. Lächeln. Unsere Sitzungen dauerten eine Woche. Karin kämpfte gegen die Ärzte, die immer noch den Besuch der Eltern verweigerten, und ich sagte: »Siehst Du, Du kämpfst, weil Du glaubtest, dass Deine Eltern Dich nicht mehr liebhaben, weil sie noch andere Kinder bekommen haben, und die Ärzte kämpfen, damit Du so schnell wie möglich wieder zu Dir nach Hause gehen kannst zu Deiner Familie, die Dich lieb hat.« Als ich nach dem Wochenende wiederkam, erfuhr ich, dass sie am Vorabend nach Hause entlassen worden war, sie hatte den Hals ihrer Mutter umschlungen und sagte: »Weißt Du, ich habe geglaubt, dass Du mich nicht mehr liebhast, und dass Papa Dir wehtat, ich möchte auch ein Baby in meinem Bauch haben!« Die Krankenschwester, die dieser Szene beigewohnt hatte, konnte ihren Ohren nicht trauen! Karin hatte den ganzen Liebesapfel gegessen! Später erfuhr ich, dass Karins Mutter vier Wochen vorher ihre eigene Mutter verloren hatte.

3.4 D as B egehren Die symbolische Dimension des Begehrens als tragender Pfeiler des Mangels repräsentiert für Dolto eine ethische Positivität (mit einer Wertschätzung der positiven Macht des Begehrens), während für Lacan der Ausdruck einer strukturellen Negativität die Mutter selbst beschreibt (eine negative Vision des Begehrens mit dem Mangel verbunden). Aus meiner klinischen Arbeit verstehe ich, warum für Françoise Dolto das Reale oder die Unmöglichkeit, zu symbolisieren – d. h., unfähig zu sein, das Ereignis, das Ding zu benennen –, intrinsisch in der unvermeidbaren Angst enthalten ist, die mit dem Begehren verbunden ist. Das Reale unterstreicht für sie den ethischen Wert des Begehrens und impliziert ebenso die Notwendigkeit aller Kastration. Mit den symbolstiftenden Kastrationen sind die notwendigen Trennungen gemeint und der Verzicht auf symbiotische Bindungen mit dem Körper der Mutter, Voraussetzung der Symbolisierung. Deswegen definiert Dolto die Kastration folgendermaßen: »Ein Verbot der Erfüllung des Begehrens […] hat einen harmonisierenden und fördernden Effekt«39 und ist nicht als neue Bestrafung zu verstehen. »Bei allen Men39 | Dolto, Françoise: Au jeu du désir, Paris: Seuil 1981, S. 301; eigene Übersetzung.

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schen gibt es Momente der Veränderung für die Modalitäten des Begehrens. In der Psychoanalyse spricht man hier von Kastrationen. Sie treten in opportunen Momenten der Entwicklung auf, sie bewirken das Entstehen der Sublimierung des Begehrens.«40 Durch die Kastration wird eine Grenze gezogen, die den Bezug zum Gesetz herstellt, ohne das Begehren zu zerstören, was eine Bedingung für die strukturierende Subjektkonstitution ist. Dadurch kann das Kind seinen Platz in der Generationsreihe einnehmen ohne zerstörerische Rivalität, weil das Verbot als Repräsentant des Inzestverbots für alle gilt. Wo es Freud für notwendig war, dass die infantilen Triebe untergehen, indem sie verdrängt werden, sieht Dolto eine Verzichtsarbeit, und sie plädiert für die symboligene Kastration, die die Triebe durch Erziehung begrenzt. Das richtige Sprechen und seine Reichweite annullieren das Reale. Dolto hat mit ihrem Vertrauen in die Arbeit und in ihrem gesellschaftlichen Engagement immer die Bedeutung von Regeln und Gesetzen hervorgehoben. Lucien Israël bestätigt uns: »Die symbolische Kastration ist die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass sich eine Verbindung zum Anderen bildet.«41 Die Kastration ist ein Geschenk für das Kind, »um ihm zu erlauben, auf seinem eigenen Weg voranzukommen, wohl wissend, dass der Erwachsene ebenso wie das Kind dem Verbot unterworfen ist.«42 Erziehen heißt dann, symboligene Kastrationen erteilen. Er-ziehen, betonte Dolto, bedeutet nach oben ziehen. Als Parallele fügt sie die Arbeit eines Gärtners an43: Wer schöne Rosen haben will, muss die zuerst Erblühten abschneiden, da diese den Stiel schwächen. Man muss also auf eine sofortige Befriedigung verzichten können, und das ist insofern Sublimierung, als die Blüte das sexuelle Organ der Pflanze ist. Die Erziehung (éducation) muss begleiten, stützen, unterstützen, fordern und fördern. Kleinkinder werden durch Prävention sozialisiert, was alle Maßnahmen umfasst, die eine Gefahr, ein Risiko, einen Schaden abwenden sollen: Kinder lernen dadurch zu handeln, und gleichzeitig dabei Rücksicht auf den anderen zu nehmen. 40 | Ebd., S. 302; eigene Übersetzung. 41 | Israël, Lucien: Le désir à l’œil, Straßburg: Arcanes 1994, S. 52: »La castration symbolique est la condition nécessaire et suffisante pour qu’un lien se crée à l’autre.« Eigene Übersetzung. 42 | Vgl. dies.: L’image inconsciente du corps, S. 79: »pour lui permettre d’avancer sur son chemin propre, en sachant que l’adulte est aussi marqué que lui par cet interdit«; eigene Übersetzung. 43 | Ebd. dies.: »[L]e jardinier […] fournit à la plante l’épreuve de la nullité de la gloire liée à la première floraison, qu’elle imaginait être promesse de sa seule chance de fécondité.«

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Für diese Rücksicht, diesen Respekt für den anderen, das Neugeborene oder das Kind, setzte sich Dolto ihr ganzes Leben lang ein. »Jedes Kind bringt etwas Neues«, sagte sie in einem Interview mit Elisabeth Roudinesco. Aber es hängt vom Unbewussten seiner Eltern ab, und damit ist es ihrer Verführung oder ihrer Gewalt ausgesetzt. Dolto stellt die folgende Hypothese auf: Das Kind ist an dem elterlichen Unbewussten ›erkrankt‹, es ist Erbe unserer Schulden als Erwachsene, es ist Symptom dessen, was in den Generationen vor uns unausgesprochen blieb. Sie schreibt, ein Kinderpsychoanalytiker müsse vor allem an den Menschen glauben, »als Subjekt einer symbolischen Funktion, als unbewusstes Subjekt seiner Geschichte, die die seine ist, ein Subjekt, das sich mitteilen will, das Antwort auf seine Frage verlangt.«44 Der Eckstein der Theorie Doltos ist die Anerkennung der primären Beziehung zur Mutter. Dolto selbst, die ihre Mutter als »Neurasthenikerin« beschreibt, vergleicht ihre eigene Neurose mit der der Mutter, was sie dazu antrieb, eine psychoanalytische Arbeit mit René Laforgue (1894-1962) zu beginnen. Sie beschreibt ihre Geschichte in der Korrespondenz mit ihrem Vater folgendermaßen: »Von selbst habe ich verstanden, indem ich eingesehen habe, dass meine eigene Neurose völlig der von Mutter entsprach. Wer könnte also besser als ich verstehen und sich darüber beklagen, schließlich war ich mit 20 Jahren schon ebenso krank wie sie mit 40, und hätte allein nur mir und denen, die ich lieben würde, Unglück gebracht.« 45

Hervorgerufen durch ihre persönliche Erfahrung der unüberwindlichen mütterlichen Trauer, formen sich also sehr früh zwei bedeutende Achsen in ih44 | Dies.: Le cas Dominique, Paris: Seuil 1971, S. 193: »Un psychanalyste d’enfants, devrait surtout croire en l’être humain, sujet d’une fonction symbolique, sujet inconscient de son histoire, qui est la sienne, sujet désirant se signifier, sujet appelant réponse à sa question.« Eigene Übersetzung. 45 | Dies.: »Dossier Dolto, les mères, les filles«, in: Le Nouvel Observateur 1991, Nr. 1405 vom 10.10 1991, S. 11-30, hier S. 27: »Toute seule j’ai compris, en comprenant ma propre névrose entièrement calquée sur celle de Maman. Aussi qui plus que moi peut comprendre et s’en plaindre puisqu’à 20 ans j’étais déjà aussi malade qu’elle a 40 ans et que seule je n’aurais fait que mon malheur et celui de tous ceux que j’aurais aimés. […] Bander sa volonté pour surmonter les conflits ›en les faisant taire‹ et remplacer l’enfant perdue par une autre… Cette arme-là, quand elle réussit, n’a 90 fois sur 100 qu’un résultat transitoire s’il est satisfaisant ou même merveilleux en apparence. C’est la thérapeutique utilisée par les psychiatres et les directeurs de conscience. Il a comme dangereuse contrepartie, de renforcer pour l’avenir les conflits, à la mesure de la force de caractère: le symptome en l’occurrence, c’est la dépression mélancolique.« Eigene Übersetzung.

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ren Gedanken bezüglich der psychischen Organisation der Familie, d. h. die Mutter-Kind-Beziehung und das unbewusste Körperbild. Ihre Ausdrücke ›la fille dans le sein et au sein de sa mère‹46 (die Tochter in der Brust, im Schoß, und an der Brust der Mutter, auch: innerhalb der Mutter) sind phänomenologische Illustrationen. In Bezug auf diese Prüfung der Trauer versucht sie seit 1938 die Bedeutung eines Symptoms zu beschreiben und teilt ihrem Vater mit, was nach ihrer Einschätzung die Krankheit nur verstärkt, mit dem Vorwand sie zu heilen: »Seinen Willen einzubinden, um die Konflikte zu überwinden, indem ›man sie zum Schweigen bringt‹, und das verlorene Kind durch ein anderes zu ersetzen […] diese Waffe, wenn sie denn funktioniert, hat in 90 von 100 Fällen nur einen vorübergehenden Effekt, wenn er denn zufriedenstellend ist, oder gar augenscheinlich wunderbar. Dies ist die Therapeutik, die von Psychiatern und von Beichtvätern angewendet wird. Sie hat als gefährlichen Nebeneffekt, die Konflikte für die Zukunft zu verstärken, in Abhängigkeit der Stärke des Charakters: In diesem Fall ist das Symptom die melancholische Depression.« 47

Dolto kritisiert diese Art der therapeutischen Praktiken. Den Patienten in die Nostalgie eines ersten Objektes exklusiver Liebe zurückzuführen bedeutet, dass man auf diese Liebe nicht verzichten kann, ohne depressiv zu werden. Die melancholische Depression wäre Symptom eines unsagbar gebliebenen, zum Schweigen gebrachten Schmerzes. Dolto engagiert sich, um der Bedeutung der Kindheit in der psychischen Entwicklung Gehör zu schenken. Bei Freud findet sie die Bestätigung dessen, was sie von ihrer eigenen Geschichte, ihrer Kindheit weiß, nämlich die entscheidende Stellung der Kindheit für die Zukunft der menschlichen Existenz. Das hat sie auch bei Sophie Morgenstern48 gelernt und praktiziert, die den Service du Laboratoire et du Dispensaire de Psychanalyse in Paris bis 1940 leitete. Sie übernimmt, was Morgenstern schreibt: »Was das Kind nicht zu sagen noch zu schreiben wagt, legt es in seinen Zeichnungen offen, denn es ahnt nicht, dass man seinen Charakter an Hand eines kleinen Bildes ebenso wie im Gesprochenen oder Geschriebenen entschlüsseln kann. Es wagt, es selbst zu sein. Es begibt sich in ein Abenteuer, es drückt sich aus.« 49 46 | Dies: Weibliche Sexualität, S. 73. 47 | Ebd.; eigene Übersetzung. 48 | Vgl. Morgenstern, Sophie: Symbolisme et valeurs cliniques des créations imaginatives chez l’enfant, Bibliothèque des Introuvables, Paris: Cl. Tchou 2003; eigene Übersetzung. 49 | Ebd., S. 114; eigene Übersetzung.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Die Bilder kommentieren die gesprochenen Worte und umgekehrt. »Die Erfahrung lehrt uns, dass in der Kinderanalyse der verbale Ausdruck nicht die einzige Vermittlung sein darf […]. Man braucht ein Material, das zwischen dem Körper des Kindes und ihm selbst vermittelt, damit es zur symbolischen Suche nach der komplementären Ergänzung kommt, solange die Struktur noch nicht voll ausgebildet ist.« 50

Für Dolto hat das Zeichnen in der Sitzung oft selbst eine kathartische Funktion, und die Bilder haben den gleichen Stellenwert wie Fehlleistungen und Träume in der Erwachsenenanalyse. Durch die Bilder äußert sich das Subjekt des Unbewussten, wobei dem dialektischen Verhältnis von Bild und Wort, Zeichnung und Körper keine herausgehobene Relevanz für die Deutung zukommt. Zur Bedeutung der Kinderzeichnung sagt sie: »Es ist eine Sprache, die sich von der gesprochenen unterscheidet. Die Zeichnung ist eine Körperstruktur, die das Kind projiziert und mittels derer es seine Beziehung zur Welt artikuliert. Ich will damit sagen, dass das Kind durch die Vermittlung der Zeichnung seine Beziehung zur Welt in eine zeitliche und räumliche Ordnung bringt. Eine Zeichnung ist mehr als das Äquivalent eines Traumes, sie ist in sich ein Traum oder, wenn Sie so wollen, ein lebendig gewordenes Phantasma. Die Zeichnung lässt das unbewusste Bild des Körpers in seiner vermittelnden Funktion konkret existieren.« 51

Das Körperbild birgt all das, was sich in der Beziehung zur Mutter abspielt, und zwar nicht nur von Seiten dieses – auch werdenden – Kindes, sondern auch seitens der Mutter, mit ihrer Geschichte und ihrem gegenwärtigen Zustand als Frau52 . Das Körperbild stellt sich dar als die subjektive Spur einer Geschichte, als Metapher der Mutter, als Zugang zur Geschichte der Mutter.

Ein Fallbeispiel, oder wenn der Name irreführend wirkt Frühzeitige traumatische Erfahrungen können den Narzissmus in Mitleidenschaft ziehen. Buhmann schreibt: »Die Wirkung des Traumas besteht darin, dass das Subjekt die mit bestimmten Erfahrungen verbundenen Triebregungen nicht mehr als die Seinen anerkennen kann und sie als feindselige in die Außenwelt projiziert.«53

50 | Dolto: Au jeu du désir, S. 69; eigene Übersetzung. 51 | Dolto /  N asio: L’enfant du miroir, S. 37; eigene Übersetzung. 52 | Vgl. Guillerault: Comprendre Dolto, S. 113. 53 | Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 111.

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Ein klinisches Beispiel aus meiner Praxis, seinerzeit unter der Supervision Françoise Doltos, illustriert die Notwendigkeit und die Schwierigkeit meines Patienten, seine sexuelle Identität zu erkunden. Der damals fünfjährige Sacha kommt wegen Störung des Verhaltens, begleitet von sozialen Schwierigkeiten im Kindergarten, zu mir. Er schubst alle kleinen Mädchen, bis sie zu Boden fallen, und erscheint von seiner eigenen Handlung entsetzt. Seine Mutter erwähnt Schwierigkeiten in der Familie, denn der Vater arbeitet nachts und kümmert sich nur wenig um seinen einzigen Sohn. Schon in seinem ersten Bild erscheint der Signifikant ›chat‹ (Katze) in Form einer Katze, die alle Krallen ausgefahren hat. Ich frage ihn, ob es sich um eine Katze oder einen Kater handle … Erstarren in seinem Blick, und er legt seine Hände zwischen seine Beine. Im Verlaufe der Analyse dieses Kindes stellt sich endlich für ihn die Frage der Sexuation. Gefangen in den Worten konnte sich Sacha weder ›son chat‹ noch ›sa chatte‹ vorstellen (im Französischen: männliche (son) bzw. weibliche (sa) Form von ›seiner Katze‹). ›Sacha‹ als französisches Wort ist insofern nicht korrekt, weder maskulin noch feminin. Er blieb asexuell, in einer pathogenen Neutralität, denn er hatte keine Antwort zur Verfügung, um sich selbst als kleiner Junge, also männlichen Geschlechts, zu definieren: Kleine Mädchen umstoßen war das Symptom und also die Lösung, die er gefunden hatte, um auf die Frage der Geschlechtsunterschiede zu antworten, indem er versuchte, etwas zu erfahren, während seine Mutter ebenso wie der abwesende Vater nicht in der Lage waren, auf diese sexuale Forschung zu antworten. Der Kastrationsbeweis, nämlich der Anblick des penislosen Mädchens, war für ihn im Hinblick auf seine sexuelle Identität nicht annehmbar. Die Therapie laut Dolto leistet eine Aufklärungsarbeit, »indem sie die Genitalien beim Namen nennt, über die Geschlechterdifferenz spricht, über die Rolle des Vaters bei der Fortpflanzung und über das Verhältnis der Eltern.«54 Dolto betont nachdrücklich, dass der Vater in der Mutter-Kind-Beziehung eine humanisierende Funktion hat, indem er das Kind aus einer imaginären Beziehung befreit, die die Regression fördert. Er ist damit der Angelpunkt in einer Dreiecksstruktur und positioniert mit seiner narzisstischen identifikatorischen Unterstützung das Kind in seiner Sexuation. Sie schreibt: »Das Gesetz des Vaters ist ein Gesetz der heilsamen Loslösung von der innigen Dyade des Säuglings.«55 Die Frage der weiblichen Sexualität 54 | Ebd., S. 123. 55 | Dolto, Françoise: Dialogues québécois, Paris: Seuil 1987, S. 186: »La loi du père est une loi salutairement dissociative pour la dyade exquise du nourrisson.« Eigene Übersetzung.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

verweist auf die Rolle des Unterschieds der Geschlechter im Unbewussten und macht es noch wichtiger, das Objekt des Begehrens zu sein oder zu haben, d. h., in der Lage zu sein, dem anderen zu geben, was dieser nicht hat oder nicht ist. Diese Frage der Identität begründet in unseren Beziehungsmustern das Verhältnis zum anderen. Die doltosche Subjektkonstitution befasst sich mit der Frage nach dem Ursprung des Subjekts, mit der Urszene. Denn wir entstammen einer Szene, bei der wir nicht anwesend waren. Die Geschlechtsidentität ist verankert in der Anerkennung des sexuellen Verhältnisses, aus der das Subjekt hervorgegangen ist. Repräsentiert diese Mutter-Tochter-Beziehung einen strukturellen Moment der Weiblichkeitskonstitution, oder bleibt Dolto, wie Freud und Lacan vor ihr, bei einem kulturell geprägten Weiblichkeitsbild, mit der Kastration als Fels? Kann die Theorie Doltos als Erklärungsmodell für die weibliche Sexualität fungieren, und inwiefern bringt sie eine neue Perspektive nach der Sicht von Freud und Lacan? Wenn sich die Genese der Störungen, wie Traumata und neurotische Fixierungen, mithilfe des doltoschen psychoanalytischen theoretischen Konzepts erfassen lässt, wie weit gilt dies auch für die PPD als Entgleisung der allerersten Kastration, der Nabelschnurkastration? Aufgrund welcher strukturellen oder sozialen Bedingungen ertragen Frauen die Geburt nicht? Wie weit geht man mit Vertrauen in die Psychoanalyse in der Abstammungslinie zurück? Welche strukturelle Position ergreift für Dolto die Mutter als Vertreterin des Gesetzes, Agentin einer Metaphorisierung des Namens der Mutter?

3.5 D ie weibliche S e xualität oder l’être au féminin (das weibliche S ein) Auf die Einladung von Lacan und Lagache, über die Frage der weiblichen Sexualität zu reden, erläutert Françoise Dolto 1960 in Amsterdam ihre Arbeit. In ihrem Aufsatz Die Libido und ihr weibliches Schicksal heißt es, dass sie doch »ziemlich große Erfahrung besaß und einiges zu sagen hatte«56, ohne dabei auf die Weiblichkeitsdebatte der zwanziger Jahre einzugehen.57 56 | Zu diesen Aussagen vgl. das Gespräch mit E. Roudinesco: »Entretiens Elisabeth Roudinesco – Françoise Dolto 1986«, in: Aubry, Jenny: Quelques pas sur le chemin de Françoise Dolto, Paris: Seuil 1988, S. 11-42. 57 | Vgl. Djéribi-Valentin, Muriel: »Vorwort«, in: Dolto, Françoise: Weibliche Sexualität. Die Libido und ihr weibliches Schicksal. Hg., eingel. und mit Anm. versehen von Muriel Djéribi-Valentin und Elisabeth Kouki, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 9-34, hier S. 22 f., Fußnote 42: »Bei der Lektüre des Werkes von Dolto wird deutlich, dass sie keinen gro-

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Die Arbeit Doltos über die Weiblichkeitskonstitution stellt einen Befreiungsversuch dar, von Freud bis Lacan. Zur Erinnerung: Während in Freuds Triebtheorie die Frau als ›kastrierter Mann‹ und defizitär dargestellt wird, die erst durch die Mutterschaft ihre ›fehlende Ganzheit‹ wiedererhält, beschreibt Lacan mithilfe seiner Subjektposition einen Mangel für beide, Mann und Frau. Die Konstitution des Subjekts als Begehrendes ist Grundlage für das Geschlechtsverhältnis. Die konstitutive Verluststruktur in der Weiblichkeit als begehrendes Subjekt beschreibt die Frau durch ihr weibliches Genießen, gekennzeichnet durch die Qualität ihres Begehrens für einen Mann. Die Frau stellt sich somit ihrem Mann als scheinbarer Phallus dar, sie bietet sich dem Mann nicht als Phallus dar, sagt er uns, sondern sie will den Phallus durch das Kind erringen. Die Mutterschaft hängt von dieser Bedingung ab. Lacans Theorie der Weiblichkeit ist weniger eindeutig als seine Theorie des Mütterlichen, wobei sich die drei Instanzen der Mütterlichkeit reiben, die imaginäre, die symbolische und die reale Mutter. Er schreibt: »Die Frau tritt in Funktion im Geschlechtsrapport nur als die Mutter.«58 Denn wenn die Frau diejenige ist, die nicht hat, dann ist die Mutter die, die hat. Und die Tochter erwartet von ihrer Mutter Hilfe, um ihre Existenz zu ertragen, indem sie ihren Körper existieren lässt. Lacan sagt aber, dass die Weiblichkeit nicht geteilt werden kann (denn der Signifikant der Weiblichkeit ist ein verworfener Signifikant). Anlehnend an Kierkegaard meint Lacan dazu: »Die erstaunliche Bemerkung Kierkegaards, die Frau sei ängstlicher als der Mann, ist, wie ich glaube, sehr zutreffend. Wie wäre es möglich, dass auf zentraler, phallischer Ebene die Angst eben nicht gerade aus der Beziehung zum Begehren des Anderen entstünde?«59 Lacan positioniert also die Angst, die Depression, auf die Ebene der Weiblichkeit und sieht darin einen strukturbedingten Effekt, wobei er präzisiert, ßen Wert auf Anmerkungen aus der Sekundärliteratur legte, und dieser Sachverhalt bildet einen der wichtigsten Aspekte ihres Werks. In der Öffentlichkeit wie in der theoretischen Auseinandersetzung wagte sie sich meistens allein vor; ihre in der klinischen Praxis gewonnenen grundlegenden Einsichten verteidigte sie aber sehr nachdrücklich und sehr hartnäckig, hielt sich dabei von jeder Polemik fern und betonte vor allem ihre Position als Analytikerin.« 58 | Vgl. Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 20, S. 39; Original: Le séminaire, livre 20, S. 36: »La femme n’entre en fonction dans le rapport sexuel qu’en tant que la mère«. 59 | Ders.: Le séminaire, livre 10, S. 383: »La remarque singulière de Kierkegaard, que la femme est plus angoissée que l’homme, est, je crois, profondément juste. Comment cela serait-il possible si, au niveau central, phallique, l’angoisse n’était pas faite précisément de la relation au désir de l’Autre?« Eigene Übersetzung.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

dass die Angst an das Begehren des Anderen gebunden ist. Dabei stellt sich die Frage der Definition der Frau als grundlegend von Angst geprägt. Die Genealogie der Frauen von Mutter zu Tochter bezeichnet die Mutterschaft als Wirklichkeit und Möglichkeit, sich voneinander zu lösen, dennoch mit der Angst, dass die Mutter ihr weibliches Gesetz mit der Tochter nicht teilt. Das Kind erwirbt seinen Platz und erfüllt seine Rolle als antidepressiver Propfen in einer libidinösen Konfliktkonstellation der Weiblichkeit, wo Verlust, Verzicht, Mangel und Begehren den Übergang zur Mutterschaft kennzeichnen. Das scheint im Widerspruch zu stehen zu der gegenüber Freud neuen Auffassung Lacans vom Begehren und vom Mangel, die sowohl den Mann als auch die Frau betreffen. Für Lacan ist also die Frau der Angst unterlegen, nicht aber die Mutter, weil sie ›hat‹. Der lacansche Ansatz der Rückführung des Geschlechts auf eine Sprachfunktion erscheint gegenüber der weiblichen Position nach Freud progressiv, bleibt aber theoretisch kulturell geprägt. Dolto folgt Lacan, wird aber konkreter mit ihrer Beschreibung der Theorie der Weiblichkeit, die gemäß ihrer Auffassung der zeitlichen Kontinuität.stark von Entwicklungsstadien geprägt ist. Françoise Dolto geht von einer konzeptuellen klinischen Arbeitstriade des unbewussten Körperbilds, der symboligenen Kastration und des Narzissmus aus. Auf der Grundlage ihrer klinischen Erfahrung mit Kindern erarbeitet Dolto theoretische Ansätze, um zu verstehen, was ein Symptom bedeutet, und beschreibt, wie oben ausgeführt, die Auswirkungen einer katastrophalen imaginären Kastration insbesondere auf Mädchen. Mithilfe ihres Konzepts des Körperbildes als zentralem Konzept des psychischen Apparats zeigt Dolto, wie das Mädchen ihr Begehren auf die Beziehung zur Mutter stützen kann. Ich werde untersuchen, ob und inwiefern die Subjektkonstitution der Weiblichkeit ihre depressive Struktur erwirbt und welche Stelle die Mutterschaft einnimmt. Der Mensch ist für Dolto ein sexuelles Wesen – Junge oder Mädchen – mit seiner Identität, nämlich Sohn oder Tochter seiner Eltern, mit seiner Geschichte seit seiner Geburt, das nach gelungener ödipaler Auflösung sein Leben frei gestalten kann. Dolto schreibt: »Was den Kindern gesagt werden muss, ist, dass ihr / sein Begehren nicht nur nicht verboten, sondern erlaubt und gültig ist, wenn sie nicht mehr nach inzestuösen Objekten streben.«60 Dolto geht von dem »typischen Ablauf eines subjektiven Werdens entsprechend seinem zeitlichen Ablauf«61 vom Anfang des Lebens bis zum Alter aus, indem sie der weiblichen Sexualität die gleiche Bedeutung beimisst wie der Struktur des unbewussten Körperbildes oder der Kastration. 60 | Dolto: Das unbewusste Bild, S. 183. 61 | Guillerault: Comprendre Dolto, S. 163; eigene Übersetzung.

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Obwohl sie sich auf Freuds Theorie zur Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes des kleinen Mädchens stützt, hält sich Dolto nicht mit dem »Sichtbaren« auf, sondern fügt das versichernde Wort, das »Sagbare«, hinzu. Die Vergleichbarkeit der Tochter mit der Mutter, die als Frau allein Babys haben kann, beruhigt. Ich beziehe mich auf die Monographie Guilleraults über die doltosche Theorie. »Ein Mädchen ist zwar ein weiblicher Vertreter der Gattung Mensch, aber seine Weiblichkeit wird ihm durch die Sprache als ein Wert vermittelt […]. Der weibliche Säugling baut die Vorstellung seiner Weiblichkeit über jene positiven symbolischen Werte auf, die er von anderen über sein Dasein auf der Welt, über sein Körper, seine lebendige Anwesenheit und sein Aussehen vermittelt bekommt.« 62

Dolto grenzt sich also von Freud und seinem ›einen Penis haben oder nicht‹ ab und konzentriert sich nach Guillerault63 auf das weibliche Wesen und seinen Parcours im Laufe der Zeit, ein Frauwerden, das Ethik und Ästhetik eines Erwartens / Wartens miteinander verbindet. Für sie ist das existierende sexuelle Leben, so sagt Guillerault64, nicht notwendigerweise Zeichen einer wahrhaftigen Genitalität. Was wichtig ist, sind die gesagten Worte, Grundlagen der erwarteten Werte: »Diejenigen Werte, die durch sprachliche Kommunikation entstanden und im Gedächtnis haften geblieben sind, unterrichten das Subjekt im Verlauf seiner Kindheit über seinen Narzissmus, der zusammen mit seinem Wissen über sein Dasein, sein Haben und sein Tun in einer Harmonie existiert, die aufgrund seiner Erfahrungen so empfunden wird, als wäre sie mit den Erziehungspersonen abgestimmt worden.« 65

Der Einfluss der Sozialisierung durch die Sprache bestimmt, was das Mädchen wird. Der Mensch ist ein Sprachwesen, und so wird das mütterliche Begehren eine weibliche Position aufkommen lassen, während sich ihre Position als Frau als das Begehren des Mannes begehrend beschreiben lässt. Dolto will mit ihrer auf Freud und Lacan gestützten Praxis darlegen, dass die weibliche Sexualität oder, um ihre Worte aufzunehmen, die Libido weiblich ist. Sie schreibt:

62 | Dolto: Weibliche Sexualität, S. 158. 63 | Vgl. Guillerault: Comprendre Dolto, S. 164. 64 | Vgl. ebd.: S. 172. 65 | Dolto: Weibliche Sexualität, S. 250.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen »Ich habe den Titel ›Sexualité féminine‹ gewählt, um irgendwie das Verständnis zu erleichtern, aber in Wirklichkeit geht es nie um Sexualität, sondern um die Libido, insofern sie unbewusst ist. Die Sexualität gehört dem Bewusstsein an […]. Gerade die Verwechslung von (bewusster) Sexualität und (unbewusster) Libido führt in eine Sackgasse, sodass der Widerstand wächst […]. Die Sexualität kann ›weibchenhaft‹, die Libido dagegen kann nur ›weiblich‹ sein.« 66

Mit der Bezeichnung ›weiblich‹ für das Schicksal der Libido geht Dolto, laut Djeribi-Valentin67, einen entscheidenden Schritt weiter: Sie übernimmt Freuds These einer aktiven, männlichen Libido, wie er sie in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie vertritt, macht aber daraus eine Libido im Dienste der Erfüllung der Frau, die von einem Grade der Verwirklichung der Weiblichkeitsentwicklung als Strukturierung der weiblichen Persönlichkeit zeugt. Dolto vertritt die Idee, dass sich für die Frau, im Gegensatz zum Mann, das weibliche Schicksal der Libido durch eine Tendenz des An-sich-Heranziehens definiert, während der Mann die Tendenz hat, zu geben. Das Engagement der Frau in einer emotionalen Begegnung mit einem maskulinen Partner erfordert nach Djéribi-Valentin68 eine totale Einbeziehung dessen, was sie nicht kennt und was mit dem, was sie an Phallischem in ihrem eigenen Narzissmus trägt, in Konflikt gerät. Das Anliegen Doltos aufgreifend präzisiert sie, dass der Narzissmus der Frau die Hin-Gabe der Frau an den Mann nicht anerkennt. Für den Mann wie die Frau bedeutet der Koitus den Verlust ihrer gemeinsamen und sich ergänzenden Referenz an den Phallus, ein Verlust, der eine Entrealisierung bedeutet. In diesem Moment des Verlassens trifft die Frau auf die Gefahr des Weiblichen, sich selbst Nichts-Werden zu fühlen, wobei die Hingabe des Geschlechts mit dem Verlust an Wert assoziiert wird. Das ist der Grund, warum die Frau in diesem Moment der Begegnung und der Hingabe an den Anderen der Bestätigung ihres Wertes bedarf. Wenn diese Anerkennung nicht erfolgt, wird alles in einer katastrophalen Aneinanderreihung möglich, wo eine Dualität und / oder Partnerschaft keine Aussagekraft mehr hat. Die Entwirklichung, Entrealisierung, betrifft eine Einheit, die auf eine Singularität und nicht auf eine Zweisamkeit verweist. Das Paar kann also, so sagt Dolto, nicht zu einer Konjugalität Zugang finden. Die weibliche Libido überdeckt die Bedeutung des Moments des Begehrens in Form dessen, was sich durch das Körperbild in den Körper einschreibt, welches unterschwellig vorhanden ist. Wenn die Theorie des Körperbildes die Art und Weise untersucht, wie der Körper dem Unbewussten unterstellt ist, impli66 | Dolto: Dialogues québécois, S. 121; eigene Übersetzung. 67 | Vgl. Djéribi-Valentin: »Vorwort«, S. 23. 68 | Vgl. dies.: »Vorwort«, S. 31.

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ziert sie auch eine körperliche Materialisierung dieses Bildes durch die Libido, die sie animiert. Dieser Gegensatz zwischen der Verkörperung der Psyche oder des Unbewussten und der Spiritualisierung des Körpers durch die Sprache wird in der Theorie Doltos herausgearbeitet, wobei die Mutterschaft als Versprechen einer Entschädigung für die Kastration verstanden wird. Allerdings kommt Dolto im Anhang auf die Rolle der primären Kastration zurück. Sie schreibt: »Das phallische Ich des Mädchens erfährt das Trauma der primären Kastration in dem Augenblick, da es die sexuell-phallomorphe Konstitution der Jungen bemerkt. Diese narzisstische Wunde eröffnet dem Mädchen symbolisch den Zugang zu seiner Weiblichkeit insofern, als es weiß, dass der ganz besondere Wert seiner Person in den Augen von Jungen an die Tatsache gebunden ist, dass sein Genitale gerade nicht das typisch phallomorphe Merkmal besitzt. Das Ich, das beim Mädchen immer noch phallisch ist und bleibt, akzeptiert dann sein hohlförmiges Genitale und seine Klitoris, weil es sich für das phallische Ich-Ideal entschieden hat, welches das Mädchen zu einer zentripetal-phallischen Dynamik in seinem verführerischen Verhalten gegenüber Personen mit phallomorpher Konstitution von Körper und Genitale anhält. Dabei laufen beim Mädchen Identifikationen und Introjektionen von Verhalten und Begehren von Frauen aus seinem Umfeld ab (die Vorbild für das Leben sind), insbesondere mit verheirateten Frauen, die Kinder haben.« 69

Die Depression als metaphorischer Reifungsprozess der Weiblichkeit dient der Milderung der Schuld wegen der phallischen Position – geben-zurückgeben –, die das Mädchen und dann die Frau nicht abgeben kann oder will. Die Verpflichtung der Frau, Mutter zu sein, Empfangende zu sein, gepaart mit der Wirkung der Erziehung im sozialen Kontext sieht Dolto als Risiko und Grund an, dass für die Mutter die Entbindung vom Kind, das sie hergeben muss, zu einem nicht symbolisierbaren Verlust werden kann. Dolto greift die Frage der Angst der Frau auf und stellt, genau wie Freud und Lacan, einen Zusammenhang mit der depressiven Position der Mutter aufgrund des Schicksals der phallischen Phase bei der Tochter her. »In der Dynamik der weiblichen Entwicklung bleiben für Dolto Enttäuschungen nicht aus; aber die Dynamik erneuert sich immer wieder und ist geprägt von den aufeinanderfolgenden Phasen schwieriger und belastender Situationen, die gleichwohl neue Wege eröffnen. So setzt sich hier allmählich, wie Dolto gern zu sagen pflegte, ›der vom Wesen des Geschlechts her bestimmte Entwicklungsdrang durch‹, der für sie in gleicher Weise beim männlichen Geschlecht anzutreffen ist.« 70 69 | Dolto, Weibliche Sexualität, S. 407. 70 | Djéribi-Valentin: »Vorwort«, S. 29.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Doltos Standpunkt zur reifen Sexualität ist nicht unproblematisch. Sie beschreibt zwar die Entwicklungsstufen beim Mann: »Im Vergleich zur Mutterschaft bringt die Vaterschaft für den Mann nur Belastungen und moralische Verantwortung mit sich sowie den zeitweiligen Verzicht auf seine Frau […]. Eine noch größere Gefahr besteht für den nun zum Vater gewordenen Mann in einer homosexuellen Regression, bei der er sich mit seinem Vater identifiziert.« 71

Sie sieht aber auch in der Mutterschaft die unvermeidliche Voraussetzung für die Lösung des Kastrationskomplexes, die »Auflösung der ödipalen Situation mit dem vergeblichen Traum einer inzestuösen Mutterschaft« 72 und das Wiederauftreten des phallischen Narzissmus, der damit verbunden ist. Dolto schreibt: »Die völlige Auflösung der letzten aus der ödipalen Situation stammenden emotionalen Bindungen wird in der sexuellen Entwicklung der Frau nicht schon mit der ersehnten Defloration durch einen Mann erreicht, dem sich die Frau aus freiem Entschluss hingegeben hat und der wusste, wie er mit ihr umzugehen hat, sondern nach einer tatsächlich erlebten Mutterschaft; erst dann kann sie den phallischen Narzissmus ihres Körpers und ihres Genitales betrauern und ihr Genitale einem Mann hingeben, dem sie treu bleiben wird, weil sie ihn aus Liebe frei gewählt hat, und nicht, weil sie dazu gezwungen worden wäre.« 73

Die Schwangerschaft erhält für Dolto den Wert einer abgeschlossenen Entwicklung der Weiblichkeit, sie nennt es »Entfaltung« 74 der Frau.

3.6 D olto und das M üt terliche In ihrem Beitrag über die weibliche Sexualität erkennt Dolto, dass »die Mutterschaft eine Rolle bei der sexuellen Entwicklung der Frau« 75 spielt. Sie betont, wie Schwangerschaft und die anschließende Mutterschaft eine radikale Verwandlung in der psychischen Struktur des Ich bewirken, weil sie »im Körper der Frau die Gefahr – oder die Sicherheit – einer genitalen Identifikation mit der Mutter herbei[führen] […]; für das Ich steht nun nicht mehr der eigene, sondern der 71 | Vgl. Dolto, S. 155. 72 | Ebd., S. 121. 73 | Ebd., S. 152. 74 | Ebd. 75 | Ebd., S. 153.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« Körper des Kindes im Mittelpunkt, und das männliche Objekt, das bisher der einzige Repräsentant des Phallischen war, erfährt einen relativen Besetzungsentzug.« 76

Dolto fügt hinzu, dass, wenn die Mutter stolz ist, eine Frau und glückliche Mutter einer Tochter zu sein, alles für die Tochter in Ordnung sein wird, und sie dann ihre Weiblichkeit positiv besetzen kann. »Das Wort ›Mutter‹ bedeutet nicht, dass die Frau eine passive, schwangere Kreatur ist oder eine Frau, die sich dessen bewusst ist, dass in ihr Leben wächst oder dass sie leibliche Kinder auf die Welt gebracht hat; ›Mutter‹ bedeutet – jenseits der glücklichen oder unglücklichen Geschichte der Fetus und des Säuglings – die menschliche Repräsentanz der Kreativität, das Symbol der menschlichen Fruchtbarkeit schlechthin. Da die Fruchtbarkeit so empfunden wird, als wäre sie durch den Phallus bedingt, wird die Mutter für sich und die anderen zum Bild des Urphallus, und dies nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch in der Säuglingsphase des Kindes, so lange, bis es seine körperliche Mobilität in bezug auf die Umwelt erlangt. Die Mutter ist die lebendige Gebärmutter, die weiß, auf welche Weise und durch wen und für wen dieses Leben, das sie in sich trägt, einen Sinn hat.« 77

Die doltosche Theorie des Körperbildes ist laut Guillerault als Metapher der Mutter zu verstehen, als »Strukturierung des Ichs« 78 innerhalb der Dyade. Das Körperbild, die Metapher der Mutter, so wie Dolto es in beiden Schriften über das Körperbild darlegt, repräsentiert die Matrix für die Entwicklung dieses Begriffes. Der Körper wird zum Träger des Symptoms, Ort einer Symptomatik, die eine subjektive Bedeutung zeigt. Ein klinischer Fall Doltos zeigt, wie essentiell die körperliche Verfassung des Kindes ist. Buhmann stellt den Fall so vor: »Agnès ist sechs Tage alt und wurde regelmäßig gestillt, als ihre Mutter wegen plötzlicher starker Blutungen hospitalisiert werden musste. Agnès’ Vater und die auch seit ihrer Geburt anwesende Tante versuchen vergebens, ihr die Flasche zu geben. Agnès kann nicht mehr saugen. Auf Grund der Gefahr der Dehydratation und des damit verbundenen Todes bittet der behandelnde Arzt den Vater, Dolto um Rat zu fragen. Diese Vorgänge ereigneten sich während des Zweiten Weltkrieges in der Provinz weit entfernt von Paris. Dolto rät dem Vater also per Telefon, ein getragenes Nachthemd seiner Frau aus dem Krankenhaus zu holen, dafür zu sorgen, dass der Geruch erhalten bleibt und es um die Flasche zu wickeln. Agnès trank die Flasche und überlebte.« 79 76 | Ebd. 77 | Ebd., S. 136. 78 | Ebd., S. 102. 79 | Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 161.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Weil die Mutter durch ihren Geruch repräsentiert wird, den Geruch, den das Kind ›mit-gesaugt‹ hatte, während es gestillt wurde, konnte Agnès in Abwesenheit ihrer Mutter nicht mehr saugen. Der Geruch war Teil des Stillens, ohne ihn war auch der Mund nicht mehr da. Der Mund als Körperstelle, an der die Beziehung zur Mutter stattfand, ist kein neutraler Ort der Wahrnehmung. Es ist, als ob ein Teil ihres Körpers weg wäre, weggerissen durch eine frühe, traumatische Erfahrung, »etwas von seiner Nase, seinen Lippen, seinen Bronchien, seiner Zunge, seines Gehörs, seines Geruchsinnes, die mit der Brust, die zusammen mit der Mutter verschwunden ist, imaginär verbunden sind: ihre Stimme, ihr Geruch, ihre lebendige Fühlbarkeit« 80, bestätigt Dolto und besteht auf »einer Verletzung in der Beziehung des Subjekts zu seinem Körper, weil dem Körper eine erogene Zone, die mit der Mutter verschwunden ist, amputiert wurde, die für den Säugling Geruch und Geschmack war.«81 Sie schreibt: »Der Narzissmus des Körperbildes des Kindes wird von dem Körperschema seines physiologischen Alters abgezogen.«82 Sie kommentiert den Vorgang des Falles so: »Es war die Arbeit über den Begriff des Körperbildes, die mich auf diesen Vorschlag gebracht hatte. Was fehlte diesem Baby, um trotz der Abwesenheit seiner Mutter etwas hinunterschlucken zu können? Es war nicht krank, verlor aber sein Gewicht, es hatte Hunger. Nachdem es drei oder vier Tage lang gestillt worden war, konnte es nur das Bild der Geruchsempfindung der so plötzlich nicht mehr anwesenden Mutter sein, das ihm fehlte. Der fundamentale Narzissmus des Subjekts (welcher dem Körper erlaubt zu leben) ist in den ersten sich wiederholenden Beziehungen verwurzelt, welche gleichzeitig die Atmung, die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses und die Befriedigung von Teilbegehren begleiten – Teilbegehren, wie diejenigen des Geruchs, des Gehörs, des Sehens, des Berührens, welche, wie man sagen könnte, die Kommunikation von Psychischem zu Psychischem des Subjektes-Baby mit dem Subjekt-seine-Mutter illustrieren.« 83

Laut Buhmann84 spaltet sich die Mutter in eine äußere Mutter auf, die erhalten bleibt und mit der das Kind mit seinen Sinnesorganen auch auf Distanz in Kontakt bleibt, und einer inneren Mutter, die den Körper des Kindes durchquert. Wenn die äußere Mutter nicht präsent genug ist, dem Kind nicht genug Zeichen gibt, sodass das Kind auch in ihrer Abwesenheit memorieren kann, dann tritt die Sprache seiner Eingeweide an die Stelle eines Austausches mit der äußeren Mutter. 80 | Dolto: L’image inconsciente; S. 212; eigene Übersetzung. 81 | Ebd., S. 212; eigene Übersetzung. 82 | Dies.: S. 280. 83 | Dies.: Das unbewusste Bild, S. 61. 84 | Buhmann: Kind- Körper- Subjekt, S. 164.

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Das Körperbild ist also Mittel und Produkt, Frucht der ersten Begegnung zwischen Mutter und Kind. Der Körper, der von der Sprache erfasst wird, bewirkt, dass diese Beziehung zur Begegnung zwischen einem infans, das nicht sprechen kann, und einer Mutter wird, die ihm die richtigen Antworten gibt. In Doltos Beitrag zum Verständnis dieser in den Körper eingeschriebenen Phänomene, die mit dem Körperschema zusammenhängen, deren Verzerrungen und Deprivationen sich aber metaphorisch im imaginären Körperäquivalent, d. h. dem Körperbild, niederschlagen, besteht ihre wichtigste Lehre, die sie uns hinterlassen hat. Denn damit kann metaphorisch erfasst werden, was sich in der dyadischen Beziehung zwischen Kind und Mutter ereignet. Mit der psychoanalytischen Arbeit anhand der Begriffe des Körperschemas und des Körperbildes von Geburt an kann festgestellt werden, wo die narzisstischen Wunden aufgrund eines Unverständnisses oder einer Traumatisierung liegen. So kann das Leiden des Säuglings in Worte gefasst werden. Die Sprache der Mutter ist körpergebunden. Das Körperbild ist die unbewusste Übersetzung dieses infantilen Rests nach der Verarbeitung dieser Stadien, olfaktorisch und respiratorisch um die Geburt herum, oral, anal, phallisch und ödipal. Die Sprache symbolisiert die Kastration der Geburt. Der Verlust der Mutter ist die Bedingung für unsere Subjektivierung.

3.7 D ie G eburt »Die Todesängste des Menschen werden mit jenen Gefahren in Zusammenhang gebracht, denen jeder zum ersten Mal bei der Geburt ausgesetzt ist, wenn der Wechsel von der inneren Symbiose mit dem Körper der Mutter zum Leben in der Außenwelt und den Beziehungen und Abhängigkeiten in der Dyade von Mutter und Kind eintritt. […] Alles spricht dafür, dass der in organischer und libidinöser Hinsicht gesunde Säugling sein Dasein in vollkommenem Einklang erlebt sowohl mit den Affekten der beiden Eltern bei seiner Geburt als auch mit ihren emotionalen Reaktionen bei der Feststellung, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Man kann sagen, dass ein weiblicher Säugling, den man als wohlgeraten, hübsch und drollig empfindet, bereits eine Gefahrensituation gut überstanden hat, wenn er eine Mutter vorfindet, die von ihrer Mutterschaft beglückt ist, von ihrem Partner geliebt wird und hocherfreut an ihrem Kind Merkmale von sich und ihrem Partner wahrnimmt.« 85

Die Entwicklung des Kindes ist von Anfang an mit Kastration verbunden, als Abtrennung der Nabelschnur. Dabei drängt sich ein Bild des Fötus auf, das durch die Nabelschnurkastration abgelöst wird. Die imaginäre Kastration der 85 | Dies.: Weibliche Sexualität, S. 77 f.

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Geburt bedeutet, dass das Kind eine symbolische Kastration erleidet: Die symboligene Kastration bedeutet Ende, Verlust und Veränderung der Beziehung zum Anderen, die Veränderung der Triebrichtung. Die Nabelschnurkastration, die erste aller Kastrationen, bedeutet Abnabelung, Ende der Einheit mit der Mutter, des Drinnenseins, der Ernährung durch die Nabelschnur, bedeutet Verlust der Hülle, der Gebärmutter, Verlust des Hörens des eigenen Herzschlags und desjenigen der Mutter. Diese Erfahrung schlägt sich, wie wir gesehen haben, im unbewussten Körperbild nieder. Die Abnabelung wirkt sich am deutlichsten auf die Realität des Körpers aus. Für das Kind verlagert die Nabelschnurkastration den Mittelpunkt seines Körpers von der Nabelschnur, die ein reales Band darstellte, zu dem nach außen geöffneten Mund. Für die Eltern vollzieht sich eine symboligene Kastration, nämlich mit der Anzeige auf dem Standesamt, mit der das Kind in eine symbolische Ordnung eingetragen wird. »Diese Schrift, deren Spur auf dem Standesamt gelassen wird, verbunden mit einem Familiennamen, gibt ihm für sein ganzes Leben den Hauptsignifikanten seines Seins auf der Welt, denjenigen, den sein Körper bis zum Tod tragen wird.« 86 Die Eltern verzichten damit, sagt Dolto, auf das imaginäre Kind, das Wunschkind, was sich in der Wahl des Vornamens ausdrückt. Das Kind ist nicht mehr beliebig phantasierbar, sondern erhält durch seinen Vornamen eine Festlegung, die anerkannt wird und damit für alle geltend ist. Die Ausführung dieses doppelten Vorgangs, seitens der Eltern und des Kindes, impliziert bereits eine Kommunikation, ja fast eine Kommunion zwischen Eltern und Kind, die mit Erregung verbunden ist. Dolto sieht im Fehlen des Sprechens über das Erleben der Eltern und des Kindes eine Gefahr der Psychose zu diesem Zeitpunkt. Von Geburt an befindet sich das Kind in einem Geflecht des Symbolischen und des Imaginären, des Äußeren und des Inneren, des Subjekts und des Objekts, der Vergangenheit (der eigenen als Fötus und der der Eltern) und der Zukunft: Es verlässt seinerseits diese Position des imaginären Kindes, auf das seine Eltern seit der Nabelschnurkastration und nach der Geburt verzichten mussten. Dolto sieht in jeder Störung eine Art von Pathologie, eine Regression zu einem bestimmten Entwicklungsstadium, wobei die Regression die Funktion hat, das Gefühl des Lebendigseins aufrechtzuerhalten. Die Regression im Dienst des Lebens kann sehr weit gehen, bis hin zu körperlichen Reaktionen, als Ausdrucksmittel, ohne Wort. An dieser Stelle soll Dolto zitiert werden: »Jedes Kind versteht die Sprache, wenn derjenige, der spricht, ihm authentisch etwas sagen will, das für ihn wahr ist.«87 86 | Dies.: Das unbewusste Körperbild, S. 85. 87 | Dies.: »Rencontre avec Françoise Dolto«, in: Archives France-Culture, 14.09.1987: »Tout enfant a l’entendement de la parole quand celui qui lui parle, lui parle authenti­

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Dolto hat eine Praxis des Sprechens zu kleinen Kindern entwickelt, mit der sie versucht hat, sie in ihrem Leid zu erreichen. Deswegen kann sie Babys, die im Heim versorgt werden müssen, eine narzisstische Stütze in Form einer Lebensbotschaft geben. Man muss immer die Verantwortung des Kindes wecken, indem man in den Eltern der Urszene eine narzisstische Stütze gibt. Die Geburt und ihre Folge bedeuten für das Kind, dass es in ein feindliches Milieu hineingeboren wird. »Du hast diese Eltern gewählt, du hast keine einfachen Bedingungen für Dein Leben gewählt, Du hast es wirklich nicht leicht gehabt, Dich diesen Eltern verständlich zu machen, doch wenn Du diese schwierigen Bedingungen gesucht hast, dann weil Du auch genügend Kraft in Dir hast, damit umzugehen. […] Der Subjektkbegriff Doltos unterstellt eine ursprüngliche Bejahung des Lebens, jenseits aller im Verhalten sichtbaren Negativität oder Verleugnung. Diesen mythischen Zeitpunkt gilt es wiederzufinden, das ›Ja‹ als Quelle des Lebens«,

schreibt Buhmann.88 In ihrer Arbeit mit Säuglingen hat sie Erfolg gehabt, weil die Schwierigkeiten der Babys zur Sprache kommen können. Sie ist davon ausgegangen, dass es für kleine Kinder eine Sprache für ihr Leiden geben kann, die das Leiden mindert. Die Wahrnehmung des Kindes bezieht sich auf das Ohr, weil das archaische Bild des Körpers um die Geburt herum vor allem durch Hören entsteht: Das unbewusste Bild des Körpers ist das des hörenden Körpers, und das Pendant des hörenden Ohres des Kindes ist die Stimme. Was bedeutet ein symbolisches Missverständnis zwischen seiner Mutter und ihm für ein Baby, das eng mit der Stimmung seiner Mutter verbunden ist? Das Sprechen wiederholt die Dialektik von Stimme, Stimmung und Begehren. Die Identifizierung mit einer depressiv erlebten und doch omnipräsenten Mutter ist unmöglich, und die Folgen sind leicht zu erraten. In dem Austausch zwischen Sprechen und Zuhören versteht Dolto den Niederschlag von Verlust oder Trauermanifestation im Körper. Das Fehlen des Anderen als imaginärer Grund der Pathologie ist in dem Körperbild enthalten. Doltos Erkenntnis hat zu einer Praxis des Imaginären mit einer Artikulation des körperlichen Symptoms in Bildern geführt. Der Zugang zum Imaginären erlaubt Dolto, die Regressionen auf der Achse der Entwicklung zu deuten, Regressionen, die sich als Depression äußern und eine große Rolle in der psychischen Ökonomie des Subjekts spielen. Zwischen

quement en voulant communiquer quelque chose qui pour lui est vrai.« Eigene Über­ setzung. 88 | Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 235 ff.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Theorie und Praxis der Psychoanalyse kann dadurch jede Darstellung des ›gelebtes Worts‹ entziffert werden. Die Geburt ist das Modell der Frustration, weil das Bedürfnis nicht erfüllt werden kann. Die Geburt ist als Grund des Mangels zu verstehen, als irreparabler Verlust. Für Dolto lässt sich die Geburt nicht auf ein natürliches Ereignis oder ein Trauma reduzieren. Auf einer öffentlichen Konferenz89 nennt Françoise Dolto die Geburt ein Nichtereignis: »Dies ist kein Ereignis, das wir erleben müssen, wir erleben dieses Ereignis nie. Es sind die anderen, die gesehen haben, wie wir geboren wurden, wir selbst haben lediglich seit dem Tag der Zeugung weitergelebt, an dem ein Paar sich auf eine Weise betragen hat, die nur eins zuließ, nämlich sich durch unsere Gegenwart stören zu lassen, und an dieses Paar sind wir nun gebunden, um ohne ihr Wissen ihr Glück zu unterbrechen. An diesem Tag wurden wir gezeugt, aber das wussten wir nicht einmal, obwohl es unser unbewusstes Begehren war, uns in diese Verbindung der väterlichen und mütterlichen Keimzellen hineinzudrängen. […] Und dann haben die anderen gesehen, wie wir geboren wurden; wir selbst haben lediglich einen Tod erlitten: der Fötus ist tot, aber das nennen die anderen eine Geburt. Sie sind ganz glücklich, aber wer ist unglücklicher, der Fötus oder die Plazenta? Denn für das Kind ist seine Plazenta ein Teil seiner selbst. Eine Trennung, die todbringend sein kann.«

Entscheidend auf dieser Konferenz war, dass festgestellt wurde, wie weitreichend ihre Theorie ist: Die Geburt geht mit einem Verlust einher, dem Verlust eines Organs – der Plazenta – und dem Verlust eines Milieus, in dem sich der Fötus bewegt hat. »Im allgemeinen spricht man von Trennung meist aus der Sicht der Mutter, aber die Post-partum-Phase wird nicht nur von der Mutter, sondern genauso vom Säugling erlebt. Er liegt eingewickelt in seinen Tüchern da, und seine Abtrennung geschieht gerade über diese Tücher. Die Post-partum-Phase kann man also aus beiden Blickwinkeln betrachten.« 90

Und weiter: »Alles läuft so ab, als ob die Schwangerschaft eine ebenso affektive wie organische Menschwerdung wäre, als würde sich der Fötus nach einem organisch-affektiven Programm entwickeln.«91 Die Geburt geht mit ei89 | Dolto, Françoise: »La mort a-t-elle de l’avenir?«, in: Conférence publique Forum Saint-Eloi, Ecole de Propédeutique à la Connaissance de l’Inconscient EPCI-Paris, 14.10.1985, http://www.epci-paris.fr/publications/conférences, Zugriff am 12.09.2015. 90 | Dies.: Weibliche Sexualität, S. 363 (= Kommentar Nr. 80 im Anhang). 91 | Ebd., S. 76.

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nem Schrei einher, der von der Mutter beantwortet werden muss, als Zeichen der ersten Kastration. Der Ausdruck der Existenz des feindlichen Objekts, des neuen Milieus als solchem, ist der Schrei des Subjekts. Der Schrei bedeutet Gewicht, Anwesenheit und Struktur und ist die erste Manifestation der Sprache. Es ist dem Menschen eigen zu sprechen, und das Kind wird seinen Körper von dem Moment an bewohnen, in dem es zu dem Anderen in Relation tritt. Der erste Schrei, den ein Neugeborenes ausstößt, ist der bei seiner Geburt, oder genauer im Moment der ersten Atmung, die seine Lungen sich ausbilden lässt. »Zu Beginn des Lebens erfolgt die Abtrennung der Plazenta, die ein so wesentlicher Teil des Fötus ist, dass es, wenn er bei der Geburt fast erstickt – denn das drohende Gefühl zu ersticken löst die Arbeit der Gebärmutter zu seiner Austreibung aus –, zu einer schwierigen Abtrennung kommt […]. Die Geburt folgt auf diese Erstickungsarbeit.«

So äußert sie sich auf oben erwähnter Konferenz. Bei der Geburt verlässt es einen Zustand, den man als aquatisch, im Wasser lebend, bezeichnen könnte, bildlich gesehen an seine Mutter angeschlossen. Durch den Schrei, Zeugnis des Verlustes des vorherigen Raumes, der vom Gefühl des beginnenden Erstickens begleitet wird, tritt das Subjekt in diese neue, luftige, der Schwerkraft unterliegende Welt ein und markiert die Unmöglichkeit, jemals wieder zu dem Lebensmodus zurückzukehren, den es dort gekannt, und zu genießen, wie es dort gelebt hat. Die Tatsache, in einer anderen Welt, der Luftwelt, nahezu erstickt anzukommen, macht Angst, und diese Angst ist laut Lacan ein Signal. Denn: »Dass die Angst gewissermaßen – Freud ist es, der uns das hier andeutet – als ein Signal für etwas ausgewählt worden ist – müssen wir, in diesem radikalen Eindringen von etwas, das dem menschlichen Lebewesen so anders ist, müssen wir darin nicht den wesentlichen Zug erkennen, den bereits der Übertritt in die Atmosphäre darstellt? Genau das ist der wesentliche Zug, durch den das menschliche Lebewesen, das in dieser Welt erscheint, in der es atmen muss, zunächst buchstäblich erstickt wird, erstickt durch das, was man das Trauma genannt hat – es gibt kein anderes –, das Trauma der Geburt, das nicht Trennung von der Mutter ist, sondern In-sich-einatmen dieses grundlegend anderen Milieus.« 92 92 | Lacan: Le séminaire, livre 10, S. 378, »L’angoisse a été choisie par Freud comme signal de quelque chose. Ce quelque chose, ne devons-nous pas en reconnaitre ici le trait essentiel? – dans l’intrusion radicale de quelque chose de si Autre à l’être vivant humain que constitue déjà pour lui le fait d’être passé dans l’atmosphère, qu’en émergeant à ce monde où il doit respirer, il est d’abord littéralement étouffé, suffoqué. C’est ce que l’on a appelé le trauma – il n’y en a pas d’autre –, le trauma de la naissance, qui

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Dolto nimmt Lacans Aussage wieder auf und ergänzt sie so: »Die Geburt ist eine Verwandlung, die den Übergang des Fötus zum Säugling und seine Anpassung an das Leben in der Luft und an die Verdauung erlaubt.«93 Das infans spricht zwar nicht, aber es schreit das heraus, was gehört werden soll: den Verlust und dass es auf eine Antwort angewiesen ist. Niemandem zu begegnen ist beim Kind ein Moment der Infragestellung des Gefühls, zu existieren, sagt Dolto. Sie betont, dass nicht das Ereignis der Geburt traumatisierend ist, sondern »das Fehlen einer Symbolisierung«94 und die Einsamkeit, die daraus resultiert, dass der Schmerz oder die Verwirrung nicht beantwortet werden. Das Kind muss den Verzicht auf sich nehmen und den Wunsch der Rückkehr aufgeben. Diese Prüfung der Geburt, diese Verlusterfahrung wird in späteren Kastrationen, doch vor allem während der Adoleszenz noch einmal durchlebt, fügt Buhmann hinzu, und »wird als Matrix für die Art und Weise der späteren Kastrationen dienen.«95 Wir befinden uns im Kern des Problems der Zeit in der Psychoanalyse, eine Zeit, die nicht eindimensional ist, sondern sich in verschiedenen Dimensionen entfaltet, die aber durch die Sprache der Mutter begrenzt wird. Die Mutter skandiert, rhythmisiert das Leben von Geburt an bis zum Tod. Dolto schreibt: »Der Mann ist nicht der Repräsentant des Todes für das Unbewusste. Die Frau ist es, weil von ihr das Genießen kommt, das das Subjekt seinen Körper und das Kind sein Dasein vergessen lässt. Wenn sie das hungrige Kind gesättigt hat, wenn sie das verängstigte Kind getröstet hat, fühlt es sich zu ihr selbst geworden, aber es muss auch auf sie verzichten. […] Daher glaube ich, dass die Mutter Symbol des Todes wie des Lebens sein kann.« 96

Die Geburt als Kastrationsereignis stellt für Dolto den Tod dar. Tod oder Leben, die Mutter oder die Frau oder das weibliche Wesen generell ist mit einer Kastration konfrontiert, die ihren Wert in Frage zu stellen scheint. Dolto betont, n’est pas séparation d’avec la mère, mais aspiration en soi d’un milieu foncièrement Autre.« Eigene Übersetzung. 93 | Buhmann: Kind – Körper – Subjekt, S. 209. 94 | Ebd., S. 75. 95 | Dolto: Das Unbewusste Bild des Körpers, S. 82. 96 | Dies.: L’image inconsciente, S. 224: »L’homme n’est pas le représentant de la mort pour l’inconscient. La femme l’est, parce que c’est d’elle que viennent les jouissances qui font oublier son corps au sujet et son être à l’enfant. Lorsque, affamé, elle l’a apaisé, lorsque, angoissé, elle l’a consolé, il se sent devenu elle, mais c’est à elle aussi qu’il doit renoncer. […] C’est pourquoi je pense que la mère peut être symbole de la mort autant que de la vie.« Eigene Übersetzung.

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wie Weiblichkeit und Zeit miteinander verwoben sind, weil die Mutter die andere Seite der Sprache ist, die Seite des Körpers. Die Weiblichkeit und das Leben rhythmisieren, strukturieren die Zeit des Begehrens, die Zeit, in der das Kind das Begehren der Eltern ist. Perioden, ihr Ausbleiben neun Monate lang, bis das Kind kommt, oder nach Jahren, als Zeichen, dass nun keine mehr kommen: Die Mutterschaft rhythmisiert die Zeit. Das Kind wird also etwas anderes, als es selbst ist, ein Objekt der unbewussten Idealisierung, mit einer doppelten Konsequenz: der unausweichlichen Desillusionierung seitens der Eltern und der kindlichen Ablehnung der elterlichen Erwartungen, die unscharf, maßlos und nicht auf das Kind ausgerichtet sind. Deswegen wird das Kind zum Symptom einer familiären Struktur, innerhalb derer es sich zurechtfinden muss, zwischen der Sprache der Mutter und dem Namen-des-Vaters, bis der Ödipuskomplex vollendet ist. »Das Kind ist der Vater des Mannes«97, schreibt Freud nach Wordsworth, »weil der Mensch schon von Geburt an und noch nach dem Tode in eine symbolische Reihe eingefügt ist, eine symbolische Reihe, die hier eine Abstammung begründet, noch ehe Geschichte gewoben ward«, bestätigt Lacan.98 Laut Dolto steht das Kind am Schnittpunkt der Frau-Mutter-Konstellation, und es ist nicht sicher, inwiefern für Dolto die eine oder die andere Bezeichnung Wirkung zeigt: Sie spricht, ohne unterscheiden zu wollen, von Frau oder von Mutter in Bezug auf das Kind. Sie wendet sich an das Geschlechtswesen des Subjekts: weiblich. Und mit weiblich betont Dolto, dass alles Sprache ist, was für sie gleichwertig ist mit der anderen Parabel: Alles ist Körper. Die Macht des Körpers versteht sich als eine Aktualisierung der Kraft der Sprache. Ihr Konzept des Körperbildes lässt sich für den Bereich des Zusammenhangs zwischen mütterlicher Krise und Gefahr für das Baby heranziehen. Sie gibt ein Beispiel: Ist die Mutter depressiv, dann spuckt das Kind und hat Verdauungsstörungen. Gerade durch diese Sprache des Körpers definiert sich für Dolto die Weiblichkeit, als Erfolg einer sprechenden Mutter. Es beinhaltet die Abhängigkeit des Kindes und den Narzissmus der Frau als hervorgehobene Gefährdung einer gelungenen Mutterschaft. Die doltoschen Konzepte, abgeleitet von ihrer klinischen Arbeit, erlauben das Verständnis der Symptome bei Babys und erschließen das Verständnis für die PPD bei den Müttern. In dieser postnatalen Krise seitens des Kindes hilft die Anwendung dieses Konzeptes zu verstehen, wo die Sprache in der Beziehung zum Kind stecken geblieben ist. Desgleichen hilft das

97 | Wordsworth, William: Gedicht 1807. »My heart leaps up when I behold«, in: Ahnungen der Unsterblichkeit durch Erinnerungen der frühesten Kindheit. Vgl. Gothein, Marie: William Wordsworth. Sein Leben, seine Werke, seine Zeitgenossen, Band 1, Halle: Max Niemeyer 1983. 98 | Vgl. Lacan: Écrits, S. 392.

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theoretische Verständnis bei der Beziehungsstörung der Mutter, nämlich während der postpartalen Krise, wenn die Mutter Zeichen von Verzweiflung zeigt. An diesem Punkt der Darstellung von Doltos Konzepten möchte ich darlegen, wie diese Begriffe sich umsetzen und in der Arbeit der Psychoanalyse mit Kindern identifizieren lassen, da, wo Arbeit im Traum und im Trauma verflochten sind.

3.8 E in klinischer F all : Tarz an Der Name des Jungen, der meine Sprechstunde aufsuchte, klang für mich wie Tarzan. Und so werde ich ihn nennen. Ein Fall, sagt man; ein allgemeines Wort, das die subjektive Geschichte ausdrückt. Der ›Fall‹ als signifikante Bedeutung im theoretischen Diskurs taucht hier im Diskurs des Patienten auf. Das ist das Symptom meines Patienten, sechs Jahre alt, erste Klasse. Es gibt Kinder in Zickzackform … wie Tar(z)an, der mich mit weiten Assoziationen dazu bringt, von Baum zu Baum zu springen – und zu fallen. Beim ersten Gespräch sind Tarzan und seine Mutter zusammen, und sie sagt, dass er immer und überall auffällt und auch immer fällt. Er hat sich den linken Arm gebrochen und trägt einen Gips. Er ist von Geburt an immer auffällig, störend in Bewegung, ging schon im Kindergarten in eine Integrationsgruppe, mit Verdacht auf ADHS, begleitet von Wahrnehmungsstörungen, Wutausbrüchen und fehlender Körperbeherrschung. »Ein Fall«, sage ich, ›für die Therapie‹, denke ich. Die Mutter, wie erstarrt, hört mir zu und fängt an zu weinen. Mir wird bewusst, dass ich eine Deutung gegeben habe. Ich wiederhole dann: »Ein Fall?« Tarzan malt sehr konzentriert, ruhig. Sein Bild ist farbenfroh, auf eine Insel malt er ein schwarzes Haus, das eine ausgeprägte Traurigkeit ausstrahlt. Die Triangulierung ist gesichert: Nach Doltos Auffassung bedeuten die durchkreuzten Fenster das ödipale Verbot. Obwohl die Pflanzenwelt – eine Insel mit Palmen und Wiesen – üppig wächst, bleibt das Lebendige arm. Das ›z‹ in Tarzan ist ein ›z‹, das einen Zickzackkurs um die Hindernisse herum beschreibt. Das sehe ich in seiner Zeichnung. Das Imaginäre, von Lacan als kreatives Konzept der Psychoanalyse angewendet, steht mit vielfältigen Assoziationen im Mittelpunkt. Dabei kommt es auf das genaue Hören des Buchstabens an, als Signifikant, der einen nicht zu verfehlenden Sinn ausdrückt. Ist die Psychoanalyse also eine Praxis der Buchstaben? Im Buch ist ›Tarzan‹ der Sohn eines britischen Lords und dessen Frau, die von Meuterern an der afrikanischen Küste ausgesetzt werden. Sein richtiger Name ist John Clayton III. Lord Greystoke. Seine Eltern sterben an einer

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Abbildung 2  Tarzan: »Insel der Ruhe« (2010)

Seuche, als er noch ein Baby ist, und von da an wird Tarzan von einer Gruppe Affen aufgezogen, von denen sich die Affenfrau Kala besonders um ihn kümmert. Kala, die Gute! Wie Tarzan im Buch von Edgar Rice Burroughs ist dieser sechsjährige Patient auch auf einer Insel gelandet. Nur allein hat er Ruhe. Auf seinem Bild von der Insel hat er ein Feuer gemacht, um seine Kleidung zu trocknen, und ganz nackt wiegt er sich in einer Hängematte. Alles ist auf dem Bild dargestellt. Das Familienhaus, besser gesagt die Vorstellung seines Hauses, ist braun, erdfarben, mineralisch und leer. Ein Tier, ein Pferd vielleicht, hat seinen Kopf verloren, azephal. Der Kopf des Tieres am Rand des Blattes ist nicht mehr auf diesem Blatt, sondern verrückt, verrückt auf die andere Seite des Blattes. Daran sehe ich ein frühes beschädigtes Körperbild, und ich spitze die Ohren, wenn ich mit der Mutter spreche: Die Ohren sind zu sehen. Durch das Bild des Kindes in der Hängematte habe ich die Idee eines Babys. Was hat er gehört, als er noch nicht laufen konnte, auf allen Vieren kroch? Was ist die anamnestische Spur dieses ersten Bildes der Therapie? Er selbst sagt zu seinem Bild: - »Ich möchte der Erste sein, aber manchmal habe ich Angst.« - »Deswegen kommst du zu mir?«, frage ich. - »Ja«, antwortet er, »weißt du, jede Nacht habe ich einen Albtraum. Ich sehe eine männliche Gestalt, die herunterkommt durch eine kaputte Tür, die ist so schrecklich, dass ich schreien muss und wach werde. Und ich rufe ›Mama!‹« Ohne abzuwarten malt er ein zweites Bild.

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Abbildung 3  Tarzan: »Bartimäus« (2010)

Die Mutter nickt und berichtet, wie schwer es gegenwärtig geworden ist, Tarzan ins Bett zu bringen. - »Ja«, fügt er hinzu, »Mama hat mich geärgert. Ich wollte nicht tun, was Mama wollte, gegen halb acht Uhr ins Bett zu gehen, sondern ich wollte mit Mama und Papa gegen zehn Uhr ins Bett gehen.« - Ich: »Weil du wieder Angst hattest vor diesem Traum?« - Er: »Ja.« - Ich: »Seit wann träumst du das?« - Er: »Die Religionslehrerin hat uns eine Geschichte erzählt, von Bartimäus, und uns ein Bild dazu gezeigt.« - Ich: »Erzähl mal.«

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- Er: »In Jesus’ Buch99 gibt es einen Zöllner und der sagt: ›Kommt, kommt, Jesus ist bei uns‹. Und Bartimäus möchte auch zu Jesus, weil er blind ist, aber er kann dort nicht hingehen. Also ruft er: ›Jesus, Jesus, hilf mir!‹ Und Jesus hört ihn und sagt dem Zöllner, er solle dem blinden Mann helfen, zu ihm zu kommen. Und Jesus legt seine Hände auf die dreckige Augenbinde, reißt sie weg und Bartimäus kann wieder sehen. Aber das Bild … ich habe so Angst!« - Ich: »Weißt du, warum er blind geworden ist?« - Er: »Nein, vielleicht ist er gefallen.« Die Mutter weint wieder. Ich frage Tarzan, ob er das schreckliche Bild malen möchte, und währenddessen widme ich mich ganz der Mutter. Ich frage sie, wie Schwangerschaft und Geburt waren. Sie erzählt weinend, dass Tarzan ein Zwilling ist. Er hat eine Schwester, die eineinhalb Stunden später geboren ist, mit Saugglocke, sodass die Mutter völlig am Ende war, weil Tarzan selbst mit einer Zange geholt werden musste. Sie fühlte sich danach im Krankenhaus so allein, hatte eine Brustentzündung, und wenige Tage später, als die Krankenschwester die Kinder brachte, hatte sie die Zwillingsschwester aufgenommen und wollte auch Tarzan festhalten. Sie hatte aber keine Kraft mehr dazu, und er stürzte auf den Boden. Mit dem Gesicht auf die Fliesen. Er hatte nicht geschrien, und sie dachte, er wäre tot. Die Mutter weint in Erinnerung danach bitterlich. Ich sage: - »Sie fühlen sich alleine mit diesen Kindern.« Und sie antwortet, -»Ich bin immer alleine. Mein Mann spielt Fußball, dreimal in der Woche, kommt von seiner Arbeit zurück, isst was und geht wieder ins Training.« Tarzan beobachtet die ganze Zeit seiner Mutter, während sie erzählt, und sagt: - »Sie weint nicht, weil sie traurig ist.« - »Du hast Recht«, antworte ich sofort, »sie weint, weil sie so ein schlechtes Gewissen dir gegenüber hat, weil du gefallen bist.« - »Mama, ich bin nicht tot«, sagt er dann und kuschelt sich an sie. Ich frage sie, was er denn nach dem Sturz gehabt habe. - »Er blutete schrecklich aus Nase und Mund. Die Ärzte haben ihn untersucht und eine Bandage über seine Augen gelegt.« Tarzan war dann drei Tage lang blind, als Schutzmaßnahme wegen seiner Gehirnerschütterung. Wie Bartimäus konnte er aber weiterhin alles fühlen, spüren und hören.

99 | Vgl. Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel, Evangelium Markus, Kap. 10, Vers 46-52, S. 65.

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Die Erinnerung an diese Verletzung hat sich in sein Körperbild eingeschrieben, weil es der Mutter nie möglich war, über die Ereignisse und die Schuld zu sprechen. Der ›Fall‹ war der signifikante Begriff, der durch die Religionsgeschichte reaktiviert wurde. ›Le symptôme est la trace d’un dire sur un corps‹, laut Lacan100. Bis zu diesem postnatalen Trauma wirkte die Regression in der Therapie wie eine Erlösung, eine Auflösung der Fixierung durch die Sprache. Damit war die Arbeit eingeleitet. Später in der Therapie haben wir eine Geschichte schreiben wollen. Er guckte meinen Arm an, weil ich ein weißes, langärmliges T-Shirt trug, und sagte: - »Hast du dir auch den Arm gebrochen? Du bist wie ich, Frau Moser.« Er fügte hinzu: - »Es war einmal ein Tarzan, der im Krankenhaus war und sich verletzt hatte. Im Traum, das war mein schönstes Erlebnis.« - Ich: »Warum ist das Krankenhaus so schön?« - Er: »Weil man dorthin geht, um Babys zu bekommen. Es ist schön, vor der Geburt ins Krankenhaus zu gehen, da freuen sich die Eltern … Attacke, ich rette dich, Frau Moser, guck, da ist das Jesuskind, in der Krippe liegend, ich sehe es mit meinen Augen. Und Bartimäus ist tot, prima! Die Piraten haben ihn getötet, es tropft alles runter, Bluttränen …« Abbildung 4  Tarzan: »Bluttränen« (2010)

100 | Lacan, Jacques: »Conférence à Genève sur le symptôme«, in: aejcpp.free.fr/lacan/ 1975-10-04.htm, Zugriff am 12.09.2015: »Das Symptom ist die Spur eines Sagens im Körper.« Eigene Übersetzung.

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Er pfeift erleichtert. Dann nimmt er einen Stift, lässt ihn fallen und sagt: - »Ich bin kaputt wie die Mine im Stift, wenn sie runterfällt. Und Mama ist alleine, kaputt … Du, Frau Moser, bin ich auch innerlich kaputt?« Er setzt diesen Stift wieder in die Box, als ob dieser Stift ein Kind wäre, und er saugt mit seinem Mund wie ein Baby. Dann steht er auf, fragt, ob er auf meine Seite des Tisches kommen darf und ich auf seine und sagt dann sehr ernsthaft: - »Ich male jetzt eine Sphinx, aus was entsteht die Erdkugel, warum gibt es Menschen, warum sind solche schreckliche Kreaturen geboren und warum können Menschen so Mist sein?« Das »Wieso, Weshalb, Warum« stellt Fragen, die über die Sexualität hinausgehen, Fragen, die innerhalb der Therapie Antworten bekommen. Seinem Wissen ist keine Grenze mehr gesetzt, er kann jetzt sublimieren. Der Zugang zum Wissen ist jetzt freigelegt, es ist laut Freud ›Sexual-Forschung‹. Dann steht er wieder auf und sagt: - »Mein Vater will nicht mehr, dass ich zu dir komme. Papa sagt, sie hat ihren Auftrag erfüllt.« - »Er hat Recht«, sage ich. »Dein Papa kümmert sich jetzt um dich.« - Er: »Aber wir sehen uns wieder, im Sommer beim Grillen. Ich lade dich ein.« Und er malt: - »Guck, Fleisch für dich und auch ein Spieß, Tschüss! Ich habe jetzt 34-35 Schuhgröße!« - »So groß«, sage ich, »und du wirst noch wachsen!!« An diesem Fall erkennt man, dass die Fixierung auf dieses Stadium der extremen Abhängigkeit von einer leidenden Mutter paradoxerweise eine Form des Genießens, zu leiden, zu fallen, provoziert, um so die Aufmerksamkeit dieser zerbrechlichen Mutter zu erlangen und ihr einziges Kind zu werden, indem es versucht, sie durch wiederholtes Fallen dazu zu bringen, zu sagen, was vorge-›fallen‹ ist! Für diese Mutter brachten Tarzan und seine Verhaltensschwierigkeiten den Beweis, dass etwas zerbrochen war, zerschellt an dem Tag seines Falls, zerstörte(s) Bild / Reflexion in den Augen seiner Mutter, die ihn, so glaube ich, immer und immer wieder blutend, tot, auf dem Boden liegend, sah. Sie antwortete auf ein so früh verletztes Körperschema mit ihrer narzisstischen eigenen Verletzung. Und sein unbewusstes Körperbild, von nun an verletzt, nahm diese phantasierte Einschreibung einer Schuldhaftigkeit, die nicht benannt werden konnte, auf und schlug sich im Handeln nieder. Die unaufhörliche, hyperaktive Bewegung Tarzans wirkte wie ein vergeblicher Versuch, die zerbrochenen Teile zu vereinen. Tarzan spielt den Affen, er klettert auf Bäume, springt auf Tische! Im Verlaufe der Therapie musste Tarzan lernen, auf dieses masochistische Genießen zu verzichten, um eine neue Stufe der Reifung zu erlangen. Der

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Schmerz ist niemals weit vom Genießen entfernt! Der Schmerz als ›Nabel des Traumas‹ um Freud zu paraphrasieren, die andere Seite des Genießens, laut Lacan. Der Schrei! Das Genießen bringt die Sprache mit dem Körper in Verbindung, wobei der Signifikant ›Fall‹ dieses Genießen beinhaltet. Abbildung 5  Tarzan: »Sommergrillen« (2010)

Mit dieser symbolischen Kastration kann die vitale Dynamik wieder beginnen. Er akzeptiert, von dem, was er kennt, getrennt, kastriert zu werden – der Fall, das Leiden –, diese Art des perversen Genießens der polymorph-perversen Kindheit, um etwas anderes zu gewinnen. Dieses Verzichten generiert Symbolisches, es trägt das Versprechen, zu wachsen, in sich. Die Sphinxfigur, die Tarzan in die Therapie mitbringt, ebenso unerwartet wie signifikant, macht aus ihm einen in der Chronologie umgekehrten Ödipus, zunächst blindes Kind, dann sehend mit gebrochenen Armen – nicht mit geschwollenen Füßen –, der das Rätsel des Lebens löst, zuerst mit vier Beinen, dann mit zweien, schließlich mit dreien, aber mit einem Kopf, er ist nicht mehr azephal. Die analytische Kur mit Tarzan zeigt, wie man mit RSI als Registern arbeiten kann. Mit Signifikanten arbeiten zu können heißt doch, eine Struktur des Unbewussten zu entdecken, zu entziffern, ein Symptom als dechiffrierbare Metapher zu verstehen. Es scheint, dass die Klärungsarbeit über Weiblichkeit und Mutterschaft in ihren theoretischen Beiträgen wie auch in ihren klinischen Fällen in einer Erziehungsfrage endet. Wenn Dolto über die phallische Disposition der Frau referiert, sieht sie als Risiko, dass die Entbindung vom Kind, das die Mutter hergeben muss, in einem nicht symbolisierbaren Verlust enden kann. Die Geburt deutet sie als nicht

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symbolisierbare Kastration, als ob die Mutter ihre immer wiederkehrende phallische Kastration an die nächste Generation weitergeben müsste. In dieser Dualität von Geben und Behalten, Angelpunkt der Mutterwerdung, und trotz Sprache, findet der Grund der Depression bei Müttern seinen Ausdruck. »Daher können postpartale Psychosen entstehen, da eine Frau empfänglich ist, nichts anderes als empfänglich sein kann. Sie sollte nichts von sich geben, die Tatsache, dass sie ein Kind ›abgibt‹, Junge oder Mädchen, ist unbewusst ein phallischer Akt. Der Phallus (die Macht!) der Frau ist ihr Kind in dem Moment, in dem es ihren Körper verlässt. Manche können dies nicht ertragen. Es ist dies ein solches Problem der tiefen Widersprüchlichkeit mit ihrer affektiven Struktur, und hinterher ist ihnen in ihrer Beziehung zu Männern und Frauen die Tatsache, dass sie sich ›phallisch‹ gezeigt haben, eine unmögliche Übertretung. Das macht sie ›verrückt‹«101,

lehrt uns Dolto. Dolto behandelt an dieser Stelle die Entbindung als weiblichen Ödipus – die Frau muss auf die phallische Macht, das Kind, verzichten – und bleibt bei der Frage der Weiblichkeitskonstitution stecken. Im klinischen Teil dieser Arbeit werde ich mich hauptsächlich auf die Depressionen nach der Geburt beschränken ohne Einbeziehung der Schwangerschaft, der Geburt oder der Entwicklung des Neugeborenen in den ersten Wochen. Zahlreiche Studien haben sich mit den verschiedenen Entwicklungsphasen des Säuglings befasst und eine ›Dynamik des Säuglings‹(siehe Brazelton102) ausgehend von seinem Verhalten analysiert (Spitz103, Piaget und später Winnicott), wobei sie unter dem Aspekt der Fusion / Trennung die Dyade Mutter-Kind mit der Entwicklung des Kindes gleichgesetzt haben. Die Frage, die uns hier gestellt ist, betrifft die Arbeit der Psychoanalytiker und was diese für Züge der Depression klinischer und theoretischer Arbeit geliefert haben. Chasseguet-Smirgel hat sich des Begriffes des Narzissmus bedient, Pedrina hat das Paar Abhängigkeit versus Autonomie bearbeitet und Winnicott den Konflikt Fusion-Trennung104, wobei die Mutter im Dienst des

101 | Dolto, Françoise: »Heures et jours qui suivent l’accouchement«: Actes des rencontres de l’hôpital Saint-Vincent-de-Paul. 17-18 juin et 15 oct. 1977, in: dies.: Naître… et ensuite? Paris: Stock 1978, S. 103-150, hier S. 118; eigene Übersetzung. 102 | Brazelton, Thomas Berry: Babys erstes Lebensjahr. Unterschiede in der geistigen und körperlichen Entwicklung: ein Ratgeber für junge Eltern. Ravensburg: Maier 1970. 103 | Spitz, René: De la naissance à la parole, Paris: Puf 1968. 104 | Diese Autoren haben, wie es unter Fachkollegen bekannt ist, in der Forschungsliteratur der Psychoanalyse, Pädiatrie und Pädagogik die Themen um die Mutter-Säuglings-Interaktion bearbeitet. Es würde an dieser Stelle viel zu weit führen, die Dynamik der Säuglingsentwicklung zu erörten.

2.  Françoise Dolto: Sprechen – Zuhören – Schauen – Sehen

Kindes steht und in Haft genommen wird für die Entwicklung des Babys. Nicht die Frau ist für Winnicott wichtig, sondern die Mutter. Aus psychoanalytischer Sicht geht es um die Struktur des Begehrens. Und aus der strukturalen Perspektive der Psychoanalyse ist es die Rolle der Mutter, dem Kind seine Angst in ihrer Abwesenheit zu nehmen.

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B. Untergang einer mütterlichen Welt: zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft, Mutter werden »Die Angleichung der Frauen an die verlorene Mutter ist einfach, schließlich gleichen sie ihr wie ihr Ebenbild: Auch ihre Liebe ist in erster Linie mütterlich, sie richtet sich auf das Kind, das sie haben können, dass sie in sich tragen, gebären werden und wachsen sehen, dieses Mal aktiv annehmend, was sie passiv erlitten haben, indem sie selber die Gesten wiederholen, die ihnen wehgetan haben, und sich auf diese Weise von ihrer Verwünschung befreien.« F erdinand A lquié 1

Das Verständnis der peripartalen Depression ist in der öffentlichen Wahrnehmung sehr konfliktbehaftet. Die peripartale Depression ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit, das wegen seiner Häufigkeit und seiner schwerwiegenden Auswirkungen auf Familie, Kinder und Partnerschaft von der Gesellschaft angegangen werden muss. Die Bedeutung einer postpartalen Dekompensation wird meines Erachtens bestenfalls erahnt und nicht in dem Diskurs von Betroffenen gesucht und gehört. Mit dem theoretischen Instrumentarium der Konstitution von Weiblichkeit nach Freud, Lacan und Dolto soll eine Ausarbeitung der zugrunde liegenden unbewussten Dynamik der postpartalen Krise in der Mutterschaft in Verbindung mit dem Begehren der Frau vorgelegt werden. 1 | Alquié, Ferdinand: Le désir d’éternité, Paris: PUF 1943, S. 53: »L’assimilation des femmes à la mère perdue est aisée, puisqu’elles en sont l’image: aussi leur amour est-il avant tout maternel, il s’oriente vers l’enfant qu’elles pourront avoir, qu’elles porteront à leur tour, feront naitre et verront grandir, assumant cette fois par l’action ce qu’elles ont passivement subi, refaisant pour leur compte les gestes qui les ont désolées, et se délivrant ainsi de leur envoûtement.« Eigene Übersetzung.

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Die Sinnlosigkeit als Fehlen, Absenz – ab-sens – des Sinns, die in der Zeit nach der Entbindung entsteht, ist nachvollziehbar in dem Ablauf des Geburtsvorgangs und in dem darauffolgenden symptomatischen Absturz, der Dekompensation, die durch die Regression ermöglicht wird. Die Parallele zwischen den Positionen des Babys und der Mutter wird von manchen Frauen als wichtig erfahren, besonders was die Bedeutung der Binde und / oder Windeln angeht. Die Regression in der Abhängigkeit bedingt die Dekompensation. So kann die Problematik mit einer gewissen Schärfe angegangen werden. Wird die PPD nicht angemessen behandelt, kann sie sich zu einer langwierigen Erkrankung wie einer chronischen Depression entwickeln, deren Diagnose oft vernachlässigt wird, weil es zweifellos nicht genügend Therapeuten gibt, die mit einem Verständnis für die konflikthafte Begehrensstruktur arbeiten. Mit der folgenden Ausarbeitung soll die Psychodynamik der peripartalen Dekompensation um Schwangerschaft und Geburt vorgeschlagen und mit dem Begehren der Frau als Tochter und als Mutter in Verbindung gebracht werden. Indem sie die Weitergabe von der Mutter zur Tochter als konstitutionelle oder als biographische Belastung betrachtet, verfolgt die vorliegende Arbeit mehrere Ziele. Es soll nach der lacanschen psychoanalytischen Theorie über Frau-MutterTochter versucht werden zu verstehen, wie eine Geburt sich als Transmission durch die Mutter vollzieht und durch sie zur Sprache kommt. Dies soll uns erlauben, im therapeutischen Gespräch eine präzise Analyse der unbewussten Konflikte der Gebärenden durchzuführen, gestützt auf das, was wir von der jungen Mutter über ihre eigene Geschichte in Erfahrung bringen können. Die Darstellung der Fallbeispiele und klinischen Vignetten der Patientinnen werden dazu beitragen. Indem die klinische Arbeit mit Patientinnen vorgestellt wird, soll die Häufigkeit depressiver Komponenten um Leere und Blick identifiziert und gezeigt werden, dass solche Konzepte eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der PPD haben. Damit soll ein wesentlicher Zug der Depression im Zusammenhang mit der ›Mutterschaft‹ zwischen Mutter und Kind bestimmt werden: Depression als in den Körper eingeschriebene Narbe, Schnitt  – kaiserlich oder bürgerlich – oder Streifen, Ritzen oder Schwangerschaft, Zeichen der Geburt, Zeichen des Verlusts, wie sie in der lacanschen Theorie bestimmt ist. Der Auf bau dieser Arbeit spiegelt den Entstehungsprozess der Reflexion mit den und über die Patientinnen wider, die sich nach schweren Krisen in psychoanalytische Behandlung begeben haben. Dabei werden Fragen nach Deutungen und Vorgehensweisen gestellt: Die PPD entsteht aus den Erfahrungen des kleinen Mädchens, das zur Frau wird und dabei nicht nur mit dem Bild der eigenen Mutter, sondern auch mit ihrer Stellung zur Weiblichkeit konfrontiert wird. Es ist nicht unwichtig, was die Mutter sagt.

B.  Untergang einer mütterlichen Welt

In jedem Fall hängt es von der Lockerung bzw. der Unlösbarkeit der Identifizierung mit der Mutter ab, ob die Tochter beim Eintritt in die eigene Mutterschaft sich mehr oder weniger gut von der Last der unverarbeiteten Geschichte zur Mutter befreien und in ihrer Beziehung zu ihrem Mann ihre eigene Weiblichkeit entdecken kann. Diese Ent-Wicklung, dieses Ablegen der Säuglingswindeln, wird im Laufe der Generationen von Frau zu Frau übertragen. Gestützt auf die Destruktion von Weiblichkeit in Bezug auf die Mutterschaft und in Anlehnung an das Klinische gehen wir anhand von klinischen Fällen der Fragilität der Brüchigkeit der Identität der Frau nach. Dabei wird der Konflikt zwischen dem Anspruch der Frau, ihre Weiblichkeit zu leben, und dem Wunsch, der Mutterrolle gerecht zu werden, bis hin zur Notwendigkeit der Erfüllung des Ideals, in seiner ganzen Tragweite erscheinen.

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1. Grundlage der Reflexion über die PPD

Im ersten Teil der Arbeit habe ich unter Verweis auf Freud darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der Weiblichkeit nicht ohne Verlust verläuft. Züge dieser Entfaltung erlauben es rüblickend, ein Verständnis davon zu erlangen, wie sich die Weiblichkeit konstituiert, und im klinischen Bereich werden Hysterie und Depression davon abgeleitet. Die freudsche Theorie zur Weiblichkeit kennt nur diese beiden Entwicklungslinien. Die Frau ist per se entweder der Reminiszenz oder dem Ressentiment zugeneigt, denn sie vergisst nicht, dass sie eine Wahl hat treffen müssen. Die Theorie über das Weibliche ist in jahrhundertealten Auffassungen und Mythen verankert, die diese Dualität aufweisen: Die Reminiszenz ist der Hysterie zuzuordnen, und das Ressentiment der Depression. In der Hysterie vergegenwärtigt und erinnert sich die Frau an die Wahl, die zum Verlust geführt hat, während die Depression (das Ich ist arm und leer, laut Freud) eine Klage an das primäre Objekt Mutter richtet. Verlust ist zu einem Zentralbegriff sowohl der Depression als Verfehlen der Subjektposition als auch der Hysterie in seinen (reichen und vollen) multikausalen Verflechtungen innerhalb der psychischen Struktur geworden. Jede Mutter wird versuchen, in der Liebe zu ihrem Kind eine Entschädigung für diesen Verlust zu finden. Die Mutter versucht, durch die Mutterschaft der Depression zu entgehen. Die Tendenz der Mutter wird von ihrer Umgebung noch unterstützt, wenn diese nicht wissen will, dass die Mutter damit einen Konflikt befrieden soll. Mutter werden, ohne Verlust zu erleiden, ist unmöglich, so meine These.

1.1 D er klinische A nsat z Die Klinik der Psychoanalyse ist nicht die Anwendung eines vorab verfügbaren Wissens, sondern eine Entdeckung, und muss die radikale Einzigartigkeit des Falles bewahren. Das eröffnet zwischen den Polen, das Begehren der Frau

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zu retten und sich in der Mütterlichkeit allein wiederzufinden, ein weites Feld von individuellen Schicksalen. Der übliche Umgang mit der PPD in der Klinik bedeutet aus der Sicht der Psychoanalyse, dass ein der Struktur des Begehrens inhärenter Konflikt kodifiziert und pathologisiert und so eine Psychopathologie des alltäglichen Lebens psychiatrisiert wird. Damit stellt sich die Psychoanalyse der modernen Diagnostik entgegen. Die Klassifikation des Leidens als Krankheit raubt dem Subjekt sein Leiden. Für den Psychoanalytiker ist die Depression nicht als Zustand zu verstehen, sondern eher als ein Prozess, ein Entwicklungsprozess bzw. die Folge einer Fehlentwicklung, Fehlanpassung1 in der Mutter-Tochter-Beziehung. Freud beschreibt die Depression als pathologische Abart der Trauerreaktion mit drei Besonderheiten: • extreme Ich-Hemmung in Form von Apathie und Antriebsarmut, die den Charakter eines Abwehrmechanismus annimmt; • Aggressionen, Anklagen gegen das verlorene Objekt, die als massive autoaggressive Phantasien wiederkehren in Form von Selbstvorwürfen, Selbstanklagen, Nahrungsverweigerung, Selbstverstümmelung bis hin zu Suizidalität; sowie • orale Fixierung auf der Basis der Identifizierung zur Introjektion des zugleich gehassten und auch geliebten Objektes. »Viele depressive Zustände beginnen nach einem faktischen oder symbolischen Objektverlust und  /  oder einer narzisstischen Traumatisierung oder Kränkung. […] Bei der Depression geht es um den Verlust des Liebes-Anerkennung-Aufwertung bietenden Objektes«, schreiben Heinemann und Hopf2 . Das wäre der einfache Verlust. Aber man verliert das Kind und gleichzeitig das eigene Kindsein seiner Mutter gegenüber. Und das macht die Depression bei der Wende der libidinösen Position der Frau bei dem ersten Kind so kompliziert. Genau das geschieht bei der PPD, eine Geburt, die sich als Verlust, als Ent-Bindung entpuppt, und sich zur narzisstischen, ja sogar psychotischen Störung entwickelt. Alle psychiatrischen oder sozialen Ansätze zum Verständnis der PPD sind als Behandlungsformen begrenzt, wenn sie sich darauf beschränken, nur die 1 | Die unbewussten Konflikte der werdenden Mutter stehen in Bezug zu der Positionierung ihrer eigenen Mutter. Siehe Fraiberg, Selma: »Schatten der Vergangenheit im Kinderzimmer«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 11-12, 1990, S. 141-160. 2 | Heinemann, Evelyn / H opf, Hans: Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Symptome – Psychodynamik – Fallbeispiele – psychoanalytische Therapie, Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 120 ff.

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sozialen Lücken zu füllen. Es lohnt sich, das Feld zu klären. Der streng psychoanalytische Ansatz im Hinblick auf die PPD besteht auf der Priorität der Behandlung in Anerkennung der Begehrensstruktur. Die Psychoanalyse orientiert sich an den Konflikten des Begehrens und deckt tiefgehende Problematiken dieser bestimmten Begehrensstruktur auf. Das strukturelle Wissen trägt zum Verständnis bei, gerade wenn schwere Formen der PPD eine soziale Gruppe sprengen. Nach Pedrina heißt sozial, was unser Wissen erweitern muss, wenn eine Psychiatrisierung in Frage kommt. Untersucht man die Geschichte des Verständnisses der PPD im Laufe der Zeit, so zeigt sich, dass in der Gleichung ›irrsinnige = entfremdete Frau und Mutter‹ Änderungen vorgenommen wurden. Die Psychiatrie hat laut Foucault3, wie die Untersuchung der Begriffe der Weiblichkeit zeigt, bis ins 19. Jahrhundert hinein eine bestimmte Auffassung der Frau als Hexe, verrückt und / oder hysterisch, propagiert. Die historische Entwicklung dieses Konzepts der postpartalen Depression in meiner klinischen Arbeit fußt auf der Beschreibung des Kindbettwahnsinns in der Psychiatrie. Offensichtlich hat sie ihr bevorzugtes Gebiet nicht aufgegeben, da noch heute Störungen als ein kausaler Zusammenhang der Pathogenese mit Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett interpretiert werden, verstanden als Bestandteil des anatomischen oder neurophysiologischen Determinismus jeder Frau. Zu diesem Zeitpunkt entsteht erstmals ein psychiatrischer Diskurs um den weiblichen reproduktiven Zyklus. Laut Teuber4 werden Frauen diesem Diskurs zufolge »verrückt« in der Zeit der Schwangerschaft, nach der Entbindung und zum Zeitpunkt der ersten Perioden und der Menopause. In den Modellen zur Konzeptualisierung der Weiblichkeit wird nach wie vor eine hormonelle Determiniertheit als prägendes Merkmal eines femininen Wesens herausgestellt. Die Etikettierungen in medizinischen Kategorien und psychiatrischen Syndromen finden in der Diagnose ihr Echo im Babyblues, in der postpartalen Depression oder prämenstruelles Syndrom, PMS. Dennoch manifestiert sich gerade nach der Entbindung die psychische Labilität, die, wie mir scheint, durch die Kausalität physiologischer Prägung nicht ausreichend erklärt wird.

3 | Vgl. Michel Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Gallimard, 1972, S. 158: »Im Jahr 1795 ist P. Pinel leitender Arzt des Krankenhauses Salpetrière in Paris. Er überzeugt die Fachwelt davon, dass Störungen der Psyche genauso als Krankheiten anzusehen seien wie organische Leiden, und er löst die Ketten der Geisteskranken. Sie werden nicht mehr ins Gefängnis gesteckt, sondern im Krankenhaus aufgenommen.« Eigene Übersetzung. 4 | Vgl. Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 271.

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In der von Pedrina5 vorgelegten Untersuchung wurde das ICD-10 der WHO angewandt. In der kategorisierten Begriffsbestimmung der drei Störungsbilder wird der Babyblues, die mildere Form, angegeben als vorübergehende Erscheinung, die bis ca. 80 Prozent aller Wöchnerinnen betrifft; die PPD, von der 15 Prozent der Gebärenden betroffen sind, mit Manifestationen wie Stimmungsschwankungen, exzessiver Müdigkeit, Weinen, aber auch Selbstzweifeln und Schuldgefühlen; und das schwere Krankheitsbild, die postpartale Psychose (zwei Promille der Gebärenden), die kurz nach der Entbindung anfängt mit schweren depressiven Zuständen, mit Wahnideen oder aggressiv-gefährlichem Verhalten und meist stationär behandelt wird. Aber bereits präpartal kann eine depressive Symptomatik assoziiert mit erhöhtem Frühgeburtsrisiko6, geringerem Geburtsgewicht und intrauteriner Wachstumsverzögerung mit veränderter fötaler Herzaktivität 7 auftreten. Wahnsinn und Irrsinn: Die Psychoanalyse bewahrt das Wissen, das der Medizin verloren gegangen ist. Die Psychiatrie als Naturwissenschaft hat hier zum Teil einen Wissensfortschritt. Der Sinn der Depression geht aber dabei verloren, was zu einem Spannungsfeld mit dem Verständnis der Depression in psychiatrischem Sinne führt. Depression im psychiatrischen Sinn benennt einen sichtbaren Zustand, der ein Zeichen, ein Symptom der unsichtbaren Krankheit ist, sodass die medizinische Diagnose eine Medikation enthält und erlaubt. In meiner klinischen Studie werde ich, was die Psychodynamik dieser Krisen angeht, keine Unterschiede nach dem Schweregrad der depressiven Krise machen, wie es in der klinischen Diagnostik üblich ist: In der psychoanalytischen Arbeit mit betroffenen Frauen scheint mir außerordentlich wichtig, in dem Ausmaß der Krise ihre Konfliktgeschichte zu suchen, ohne Abgrenzungskriterium. Von dieser Auffassung her orientiere ich mich über den Symptomwert an den drei Stufen, vom Babyblues, postpartaleDepression mit oder ohne psychotischen Manifestationen bis zur chronifizierten Depression. Diese Störungen zeigen Schwierigkeiten auf, Mutter zu werden, vor der Entbindung, unabhängig von der Persönlichkeitsstruktur, jedoch in Abhängigkeit der Abwehrmechanismen des Ich. Bei der PPD sehen Ärzte, Hebammen oder Psychiater die Ursache in einer multikausalen Einflusskette von hormoneller Umstellung, genetischer Veranlagung und sozialen Faktoren, gepaart vielleicht mit psychologischen Auslösersituationen. Obgleich im Allgemeinen psychische Erkrankungen im Kontext somatischer Diagnosen stehen und somit von der Betroffenen leichter ange5 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys, S. 31. 6 | Gemeint ist eine Fehlgeburt als präpartale Krise infolge des Verlustes. 7  |  Hübner-Liebermann, Bettina  /   H ausner, Helmut  /   W ittmann, Markus: »Peripartale Depressionen erkennen und behandeln«, in: Deutsches Ärzteblatt 109, Heft 24, 2012, S. 419-424.

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nommen werden können, löst im konkreten Fall die PPD in der Öffentlichkeit Scham, Unverständnis und Angst aus. Postpartale Erkrankungen, das ist die Angst. In der Geschichte der Psychiatrie im 20. Jahrhundert gewinnen die Psychosen unter dem Einfluss der Psychoanalyse eine gewisse Anerkennung. Freud zeigt, dass die Psychose grundsätzlich im Bereich der Bandbreite menschlicher Psyche liegt. Die Depression ist demzufolge als Konfliktdynamik zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft zu verstehen – und ist nicht das Andere der Mutterschaft. Es kann verwunderlich oder übertrieben erscheinen, die postpartale Psychose innerhalb einer Struktur der Weiblichkeit zu definieren, um die mit der künftigen Mutterschaft verbundenen psychischen Veränderungen besser zu verstehen. Und doch weisen alle postpartalen depressiven Manifestationen die beschriebenen Faktoren auf, da sie in der Struktur des Begehrens der zur Mutter gewordenen Frau enthalten sind. Im Folgenden werde ich mich auf die Psychose im Rahmen der Mutterschaft konzentrieren und zeigen, wie das psychiatrische Verständnis eine begrenzende, ja sogar annullierende Deutung der frühen Mutter-Tochter-Beziehungen entstehen lässt, um eine reine Beschreibung der Symptome gelten zu lassen. Es ist jedoch eine gesellschaftliche Aufgabe, mit psychotischen Müttern zu arbeiten. Die klinischen Erscheinungsbilder der Dekompensation zeigen, dass für jede Mutter ein Konflikt zwischen der weiblichen Konstitution und der Mutterschaft entsteht abhängig von dem Schicksal der Mutter-Tochter-Beziehung in der Geschichte der werdenden Mutter. Einem Teil der Mütter gelingt es, die Mutterschaft ohne Störung anzunehmen, wenn sie weiterhin ihre Weiblichkeit noch in sich spüren. Vom Babyblues bis hin zur Psychose – nach dem doltoschen Begriff des Körperbildes regrediert die junge Mutter zu dem biographischen Punkt auf der Zeitachse, der Halt bieten kann. Teuns zieht aus seinen klinischen Erfahrungen die Schlussfolgerung, dass eine therapeutische Begleitung während der Schwangerschaft depressive Stimmungen nicht ausschließt, obwohl sie die Frau radikal vom Stigma der Strafe oder Krankheit befreit. Er schreibt: »Wie sehr solche Stigmatisierung in unserer Gesellschaft noch mit dem Erleben des Gebärens sich vermischt, ist daran abzulesen, dass die meisten Geburten noch immer im Krankenhaus [Herv. i. O.] stattfinden, also Schwangerschaft mit Krankheitsbildern belegt wird.«8 Wenn man von Krankheit spricht, wird damit betont, dass man diese Krankheit erleiden muss. Wendet man diesen Ausdruck auf den Geburtsvor8 | Teuns, Sjef: »Abschied und Ankunft. Beobachtungen über Schwangerschaft, Geburt und Autonomie des Kindes, Vorlesung vom 16.07.1979«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 3, 1983, S. 66-97, hier S. 71.

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gang an, so heißt das, dass die Frau den Geburtsprozess passiv als gebärende Patientin erleben muss. Teuns zitiert ein deutsches Lehrbuch: »Der Geburtshelfer entbindet das Kind von der Mutter, nicht etwa die Mutter entbindet!«9 Die sogenannte Schwangerschaftskrankheit der Frau wirkt wie eine zusätzliche Kränkung, eine Machtergreifung des aktiven Mannes versus verrückte passive Frau, Opfer ihrer natürlichen hormonellen Determiniertheit. Die Psychoanalyse hört genau hin auf das, was in der historischen Wahrheit erfasst wurde: Die Medizin hat andere Schlüsse gezogen als die Psychoanalyse, obwohl die Geschichte der Patientin die gleiche ist: Angst ist in der Mutterschaft immer präsent, vor, während oder nach der Geburt, aber die Qualität der Angst ist entscheidend. Die Angst der Mutter in der postpartalen Phase ist unmittelbar Zeichen eines drohenden Verlusts. Die Angst ist sehr häufig beherrschend, mit zeitweiligen Gefühlen der Fremdheit, der Entpersonalisierung oder Todesangst. Die Angst der Mutter steigt, ebenso wie die der umgebenen Personen, und der Wahn bricht aus. Die Mutter erlebt seltsame hartnäckige Ängste wegen der bevorstehenden Geburt, die auf das Kind gerichtet sind, mit einer Negierung der Mutterschaft, dem Empfinden der Nichtexistenz des Kindes, das gleichzeitig mit der ambivalenten Angst vor seinem Tod auftritt. Immer im Hinblick auf die Mutterschaft muss das Funktionieren der Mutter-Kind-Beziehung erforscht werden, um die folgende Dramatik erklären zu können: Eine Fremdunterbringung des Kindes kann nicht die Lösung sein, gerade weil die Mutter-Kind-Bindung so prägend ist. Wie steht es dann mit einer Behandlung durch Zuhören der Mutter, um die Risiken der Dekompensation, die sich auf das Kind auswirken könnte, zu verringern? Denn trotz der Bemühungen in verschiedenen Therapierichtungen bleibt die Gefahr sehr groß, dass die extrem verletzlichen Kleinkinder von kaum wiedergutzumachenden Traumata und Schädigungen bedroht sind, und sogar, dass die betroffenen Mütter sich oder ihren Kindern etwas antun. Daher der Aufruf eines Uro-Gynäkologen auf einem Hebammenkongress im Juli 2012 in Paris: »Wie können wir noch ruhig schlafen, wenn so viele junge Mütter in großen Schwierigkeiten, ja in ernster Gefahr schweben, und ihre Babys auch? Können wir wirklich noch schlafen?«10 In ihrer Arbeit als Psychoanalytikerin am Eltern-&-Kinder-Notruf in Zürich stützt sich Mögel auf drei Beobachtungen: »Die erste gilt dem Hass zwischen Eltern und Kindern, die zweite der besonderen psychischen Bezie-

9 | Mörike, Klaus D. / B etz, Eberhard /  M ergenthaler, Walter: Biologie des Menschen [1963], Wiebelsheim: Quelle und Meyer 15 2001, S. 358. 10 | Haab, François: Hôpital Tenon, Paris.

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hung zwischen Müttern und ihren Säuglingen und die dritte den frühen Schuldgefühlen.«11 Schuldgefühl, Angst, Trauer oder das Gefühl des Verlustes in der Konfrontation mit diesem »imaginären Kind«, wie Soulé es beschreibt12, all diese Empfindungen sind vom Moment der Geburt an mehr oder weniger präsent. In einer ersten Annäherung zeigt sich die Depression als das Gewahrwerden der Frau, dass für sie der Weg der Liebe, Mutterliebe, nicht der des Glücks ist. Jede Mutter nimmt dieses Wagnis der Liebe an und ist damit in Gefahr, ihr Begehren als Frau zu verlieren. Die Weiblichkeit ist in ihrer zeitlichen Entwicklung geprägt durch Krisen, die einhergehen mit subjektiven Neugestaltun-

11 | Mögel, Maria: »Wenn das Baby zum Feind der Mutter wird«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 17, 1993, S. 31-43, hier S. 32. Sie bezieht sich auf Freuds Text »Zur Einführung des Narzissmus«, wenn sie schreibt: »Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuss, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His majesty the Baby, wie man sich einst selber dünkte. […] Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der wiedergeborene Narzissmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart.« Sie fährt fort: »Die Wiederbelebung der eigenen kindlichen Allmachtsphantasien erlaubt es wohl, die oft verwirrenden und auch beängstigenden Vorgänge um Schwangerschaft und Geburt besser aushalten zu können. […] Die frühesten Ängste und Bedürfnisse und deren Entsprechung, Erfahrungen von Gehalten- oder Nicht-Gehaltenwerden werden nicht als Erinnerung im üblichen Sinn, sondern eher in der Atmosphäre und Stimmung zwischen den Eltern und ihrem Baby wiederbelebt.« Und weiter: »Gerade bei Eltern, die als kleines Kind misshandelt oder vernachlässigt wurden, oder allzulange elterlicher Depression oder gar dem Verlust eines Elternteils ausgesetzt waren, kann die Wiederbelebung dieser Gefühle bedrohliche Zustände von aggressiver Spannung oder depressiver Lähmung auslösen.« Ebd., S. 57 f. Mögel beschreibt in Anlehnung an Winnicott, wie das Zusammentreffen der Bedürftigkeit eines Kindes mit der Bedürftigkeit der Mutter eine gefährliche Destruktivität auslösen kann, wenn dabei droht, dass das Baby zum Ort eigener unbefriedigter Wünsche der Mutter nach Halt und Zuneigung wird. Schuldgefühle und Ängste treten dann an die Stelle der Fähigkeit zur Wiedergutmachung, und das Kind wird zum Rivalen um Fürsorge und Zuwendung und damit zum Verfolger, der die Mutter, den Vater immer wieder in die Situation des noch hilfloseren Kindes regredieren lässt. Das Kind wird dann als Feind der Mutter erlebt, und Hass macht sich breit. 12 | Soulé, Michel: »L’enfant dans la tête, l’enfant imaginaire«, in: Brazelton, Thomas Berry  /  C ramer, Bertrand  /  K reisler, Léon /  S chäppi, Rolf  /ders. (Hg.):  L a dynamique du nourrisson, Paris: ESF 1982, S. 135-175; eigene Übersetzung.

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gen, mit Änderungen des körperlichen Erscheinungsbildes und der physiologischen Körpererfahrung.

1.2 F r au W.: die F r au , die um den V erlust ihres weiblichen B egehrens tr auert Die nicht gelösten Konflikte, deren Deutungen die Vulnerabilität für Depression fördern, können dann innerhalb der transgenerationellen Weitergabe während der Mutterschaft reaktiviert werden. Eine der Arbeitshypothesen laut Pedrina13 besagt, dass junge Eltern durch das begleitende Miterleben der Entwicklungsphasen ihrer Kinder Bedürfnisse und Wünsche wiedererfahren, die auf eigene Kindheitserinnerungen hinweisen. Die Selbstständigkeit des Kindes hilft der Mutter, innerhalb ihrer Gruppenarbeit selbstständig zu werden, und durch ständige unaufhaltsame Fortschritte in der Entwicklung des Kindes werden die Vulnerabilität und Verletztheit der Mutter aufgefangen. In der Mutterschaft erscheinen diese Themen wieder in einer Perspektive der Reaktivierung der Kindheitskonflikte, wenn die Frauen als Mütter in die Praxis kommen. Das hat mir die Analyse mit Frau W. gezeigt. Frau W. kommt von der Beratungsstelle zu mir mit Verdacht auf PPD. Sie ist Mutter zweier Kinder, eines Sohnes von vier Jahren und eines Mädchens von sieben Monaten. Sie beschreibt, wie ihr Zustand sich abrupt verschlechtert hat, mit Erschöpfung, Überforderung. Ihre Frauenärztin hatte als Behandlungsmöglichkeit Tee aus China vorgeschlagen. Ich sehe eine sehr blasse junge Frau (25 Jahre), die sofort erzählt, dass sie aus Russland stammt. Als sie elf Jahre alt war, vor 14 Jahren, ist sie nach Deutschland gekommen. Sie weint und sagt, dass sie alles verloren hat: ihre Sprache, ihre Kindheit, ihre Freunde und ihre Großeltern väterlicherseits. Ihre Großmutter mütterlicherseits war für sie ein »Grundstein«; sie ist vor fünf Jahren gestorben. Hier hat Frau W. nach der mittleren Reife eine Ausbildung als Außenhandelskauffrau abgeschlossen, obgleich sie in ihrer Ausbildungsklasse Außenseiterin war und es nicht leicht hatte. Sie kommt heute, weil die Beziehung zu ihrem Mann sehr problematisch ist. Er ist vier Jahre älter und meint, sie müsse gehorchen, weil er älter sei. Die Patientin beschreibt ihren Mann als Muttersöhnchen. Er verlangt, dass die Familie jeden Tag bei seiner Mutter isst und dass diese in Erziehungsfragen letzte Instanz sei. Dann berichtet sie, sie entziehe sich jeglichem sexuellen Kontakt, sie sei mit ihrem Körper nicht zufrieden, sie brauche keine Sexualität. In diesem Moment ändert sich ihre Schilderung völlig, und sie erzählt von einem »Lebensgeheimnis«. Mit 15 Jahren ist sie ungewollt schwanger gewor13 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys, S. 154.

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den, ihr Freund, der ebenfalls aus Russland stammte, war 17. Sie musste abtreiben, genau vor zehn Jahren. Sie weint sehr viel und sagt, »Es lebt immer noch in mir! Als ich mit meinem zweiten Kind schwanger wurde, sagte meine Mutter: ›Willst Du es wirklich? Sonst machen wir alles möglich, dass Du abtreibst.‹ Sie hat selbst zwei Fehlgeburten nach mir gehabt, und hat immer erzählt, wie schrecklich meine Geburt [die Patientin ist Einzelkind] für sie war. Wie konnte ich mein zweites Kind akzeptieren, wenn meine Mutter nicht hinter mir stand? Ich wollte so sehr eine gute Mutter sein – ich bin eine Kriminelle!«

Ich frage sie dann nach der Beziehung zu ihrem Vater, als sie 15 war. Sie berichtet, dass er unglücklich ist, seitdem er nach Deutschland gekommen ist, und dass die eheliche Beziehung wohl auch seit langer Zeit aufgrund der Dominanz ihrer Mutter nicht zum Besten stehe. Ich deute, dass sie, damals in der Pubertät, ihrem Vater ein ödipales Geschenk machen wollte, um ihn glücklich zu machen, eine unbewusste Wiedergutmachung des Verlustes der russischen Identität. Sie nickt, und als Bestätigung erzählt sie, wie er den heute vierjährigen Enkelsohn nach der Geburt stundenlang im Arm hielt und ihn betrachtete. Sie ist noch überwältigt von der Emotionalität dieser Situation. Das Mutterwerden hat auf ganz besondere Weise alle genealogischen Etappen ihrer eigenen Geschichte reaktiviert und fügt sich in ein Geflecht aus Begehren und Trennung ein, das von ihren symbolischen Erfahrungen als sprechender Mensch geprägt ist. Wie kann sie dann mit ihrer sieben Monate alten Tochter diesen Moment des Glücks übertreffen? Die Geburt ihrer Tochter wird von der Ablehnung ihrer Mutter, ›willst Du es wirklich?‹, beherrscht. Nach der holländischen Psychoanalytikerin Hendrika C. HalberstadtFreud14 besteht die seelische Krise aus zwei Elementen, • erstens der multigenerationellen Verwicklung der Frau in ihre gleichsam homosexuelle Bindung an ihre Mutter und / oder hier Schwiegermutter, • zweitens der Illusion der Symbiose, die sie zusammen mit ihrer Mutter, der sie psychisch wie anatomisch gleicht, ausbilden konnte. Die Symbiose, die aus der Besetzung des Neugeborenen durch die Mutter entsteht, hat sich durch die Identifizierung mit ihrer eigenen Mutter verschoben. Der erzwungene Schwangerschaftsabbruch mit 15 Jahren wird reaktiviert, als 14 | Halberstadt-Freud, Hendrika C.: »Postpartale Depression und die Illusion der Symbiose«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 47, Heft 11, 1993, S. 1041-1063, hier S. 1041.

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die Mutter eine erneute Abtreibung vorschlägt. Die Haltung ihrer Mutter zu ihrer zweiten Schwangerschaft hat sie in eine Situation der unauflösbaren Identifizierung mit ihrer eigenen Mutter gezwungen. Sie soll wie ihre Mutter eine Frau sein, die nur ein Kind hat. Die Illusion der Symbiose ist pathogen. Die postpartale Krise der Patientin, die um die Themen Geburt, Abtreibung und Sexualität kreist, ist nicht Zeichen einer Fehlentwicklung, sondern Symptom des Nichtgelingens der Mutterliebe. Die Patientin hat verstanden, dass sie als Frau mit ihrem Liebesleben in Gefahr geraten ist, und sie ist dadurch zur psychoanalytischen Behandlung gekommen. Die Liebe zu ihrem Kind steht nicht im Vordergrund. In ihrer ersten Liebesbeziehung wurden beide Begehren, als Frau und als werdende Mutter, nebeneinander und zugleich erlebt. Ihr weibliches Begehren und das Muttersein wurden von der Mutter ausgeschlagen. Die junge Frau hat gezeigt, welche Rolle der Verlust der Adoleszenz auf das weibliche Begehren und die Mutterschaft heute hat. Sie trauert immer noch und ist verzweifelt. Das Mutterwerden ohne Verlust ist unmöglich. Sie wird Mutter mit der Illusion einer Vereinbarkeit, Vereinbarung ohne Kosten der Entschädigung. Das Mädchen als Anhaltspunkt dieser Entschädigung kann nicht geliebt werden, und durch die Intervention der Mutter haben sich Riss und Sinnlosigkeit in erster Linie in Bezug auf den Verlust der Weiblichkeit gefunden. Der Depression einen Sinn zu geben heißt, das Leben in seinen bewegungsreichen Phasen zu respektieren, denn sonst entsteht eine Pathologie, die man nicht aufhalten kann und die die ganze Familie betrifft. Es würde auch die Fortsetzung des Leidens bedeuten. Der Verlust der Sinnhaftigkeit in dieser Zeit bringt die Chance mit sich, dass die Geschichte wieder hervorkommt. Aus dem Blickwinkel der weiblichen Position lehnt die Patientin das Kind weiter ab. Und im Hinblick auf die Frage nach der Mutterschaft wurde der Konflikt für diese Mutter, zwischen Abhängigkeit und Autonomie, vordergründig erlebt. Es handelt sich also um einen generellen Prozess der Anpassung (Akkommodation) des Ich an die Veränderungen der intrafamiliären Verbindungen, die sich aus einer Geburt ergeben, eines der zentralen Themen der Untersuchung im Buch von Pedrina15. Für meine Patientin kann der Fehlschlag in der Mutter-Kind-Beziehung als lebendiger Beweis der sexualen Entwicklung und Nebenerscheinung des unbefriedigenden Sexuallebens der Mutter verstanden werden. Entscheidend ist auch die Persönlichkeit des Vaters. Sie ist ihrem Vater näher, der auch unter seiner dominanten Frau einen Mangel im Liebesleben erfährt. Außerdem bestätigt der Mangel an Sympathie des Ehemanns sowie die Qualität der Liebesbeziehung eine Reihe von Verlusten, die an den Vater gekop-

15 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys.

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD

pelt ist. Der Verlust hat sich summiert. Die Kette der Verluste bestimmte die multigenerationale Verwicklung. Diese mütterliche Krise könnte als Hinweis darauf dienen, was sich hinter dem Phänomen der Mutterschaft verbirgt. Dabei ist der Bereich der klinischen Bestimmungen von Muttersein breiter, als man gemeinhin annimmt. Wir befassen uns damit, wie eine Frau Mutter ihres Kindes wird und wie ihre Beziehung zum Kind sich zwischen ›nicht genug‹ und ›zu viel‹ in der Identität ihrer eigenen Geschichte gestaltet. Die Patientin hat die Mutterschaft bewältigt, um ihr eigenes Begehren jenseits der Mutterschaft in ein neues Projekt (Studium) zu investieren. Die Mutterschaft wurde als begrenzte Aufgabe angenommen, und sie hat für die Wiederbelebung des Liebeswunsches zum ersten Partner ihrer Adoleszenz ihren Lebensplatz geschaffen. Sie hat eine Lockerung und Ablösung der einengenden Mutter-Tochter-Beziehung erarbeitet, mit dem Rückkehrwunsch in die Heimat, im Sinne eines Gewinns und nicht einer Resignation. Während der analytischen Arbeit, die insgesamt neun Monate dauerte, blieben Fragen über ihre Rolle als Mutter im Hintergrund. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihre Rolle als stolze Mutter erfüllte. Im Vordergrund stand die Auseinandersetzung mit der Forderung der Schwiegermutter und den einengenden Erwartungen ihres Mannes. Die erste Phase der Arbeit war erfüllt mit der Klage über ihre Position als Ehefrau. Diese Phase endete mit ihrer unerwarteten Mitteilung, dass sie ein Studium aufgenommen habe. In der zweiten Phase stand das Thema der Abtreibung und der schmerzlichen Erfahrung des Verlusts und der Anklage gegen die Mutter mit der Frage der für sie als befriedigend erlebten Liebesbeziehung als Jugendliche im Vordergrund. Die dritte Phase war bestimmt von ihren Plänen, die Beziehung zu diesem Freund, der inzwischen zurückgegangen war, wieder aufzunehmen. Sie hatte eine E-Mail geschrieben, die so positiv von ihm beantwortet wurde, dass sie beschloss, nach Russland zurückzugehen. Mit der Mitteilung dieser Entscheidung hat sie die analytische Behandlung beendet. Mein Kommentar: Als Psychoanalytikerin habe ich den Abbruch der Therapie als Konflikt zwischen Weiblichkeit und Mutterschaft gesehen und gedeutet. Die Mutterschaft wäre stärker gewesen, aber für die Weiblichkeit war sie bereit, den Preis zu bezahlen und das Kind in der Obhut der Schwiegermutter zu lassen.

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1.3 D ie H ysterie an der S eite der D epression : der V erlust »Der Begriff Hysterie muß erhalten werden […] es wäre heute sehr schwierig, ihn zu modifizieren, und in der Tat hat er eine so große und schöne Geschichte, dass es schade wäre, darauf zu verzichten.«16 In der Zeit der Geburt und der Zeit danach besteht die Gefahr, dass die Frau in einen Zustand der Sinnlosigkeit verfällt, ausgelöst durch die Entbindung, den Ablauf des Geburtvorgangs. Der darauffolgende symptomatische Absturz ist Ausdruck der Regression, die durch die Dekompensation ermöglicht wird. Damit sind die verbundenen Bedeutungen der Depression im Hinblick auf die Leere, das Begehren und die Sprache, die das Neugeborene umgeben, virulent. Die Trennung durch das Zerschneiden der Nabelschnur ist der Preis einer Individuation und der Preis eines Verlusts, die von der psycho-mentalen Geschichte dieser Frau ausgehen. Die Einstellung der Ärzte und der Familie gegenüber dem depressiven Zustand der PPD beschränkt sich zu oft auf eine physiologische Erklärung, die das hormonelle Chaos als Primärursache annimmt. Aber im Ursachenbild der weiblichen Depression ist die Biologie der Frau nur ein Puzzlestein von vielen. Das folgende Zitat Leuzinger-Bohlebers unterstreicht noch einmal, dass die weibliche Depression nicht eine Pathologie per se ist: »Sicher kann man eine genetische Komponente nicht leugnen. Aber die Frage […] ist doch: wann entfalten diese Gene ihre Wirkung? Verursachen biologische Prozesse die Depression oder ist es nicht eher umgekehrt? Verändern nicht-chronische Depressionen auch neurobiologische Prozesse? […] Monokausale Erklärungen greifen zu kurz.«17

Mutter sein, Mutter werden, Mutter haben … Tochter gewesen zu sein, Tochter sein, Tochter haben! Quälende Erinnerungen drängen sich immer wieder auf, und die Homöostase ist gefährdet. In ihrer Studie beschreibt Tauber: »Wie aber sind diese frühen Verluste und die mit ihnen einhergehenden Kränkungen und Getrenntheitserfahrungen, nicht Alles sein zu können und nicht Al-

16 | Janet, Pierre: L’état mental des hystériques. Les accidents mentaux, Paris: Rueff & Cie 1894, S. 300: »Le mot Hystérie doit être conservé […] il serait très difficile aujourd’hui de le modifier, et, vraiment il a une si grande et si belle histoire qu’il serait pénible d’y renoncer.« Eigene Übersetzung. 17 | Leuzinger-Bohleber, Marianne. »Depressive müssen sich angenommen fühlen in ihrem Leid«, in: Psychologie Heute 33, Heft 8, Weinheim: Beltz 2006, S. 27-31, zitiert nach Nuber, Ursula: Wer bin ich ohne Dich? Warum Frauen depressiv werden – und wie sie zu sich selbst finden, Frankfurt a. M. / N ew York: Campus Verlag 2012, S. 51.

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les haben zu können, mit der Aneignung und Anerkennung der Geschlechtsdifferenz verknüpft?«18 Diese wichtige Frage stellt eine Verbindung zwischen Weiblichkeit, Verlust und Depression dar und zielt auf die These einer strukturellen Depression innerhalb der weiblichen-mütterlichen Entwicklung. Ein massiver Konflikt zwischen abhängigen-symbiotischen Bestrebungen und autonomer Bemächtigung mit großer Angst wird aktualisiert, wenn das kleine Mädchen, das eine traumatisierte Frau geworden ist, selbst Leben zur Welt bringt. • Sie hat große Angst, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Vor dieser immensen Verantwortung wird die Unsicherheit ihren Höhepunkt erreichen. • Die Emotionen, die während der Kindheit verdrängt wurden, werden versuchen, wieder an die Oberfläche zu kommen im Kontakt mit diesem kleinen Wesen, das ausschließlich Emotion ist. Das kann sehr viel Angst machen, denn man müsste die Qualen, die man am Anfang seiner Existenz durchlitten hat, noch einmal erleben. Um diese Qualen zu unterdrücken, bringt die junge Mutter unbewusst eine enorme Energie auf. Sie hat dann keine Energie mehr, um ihr eigenes Leben meistern zu können. • Der Zorn, den sie als kleines Kind empfand, als sie von denen abhängig war, die sie nicht gut behandelt haben, wird sich teilweise entfesseln und gegen das Kind, gegen den Partner oder gegen ein anderes Mitglied der Familie wenden. • Für die werdende Mutter ist die Schwangerschaft die Möglichkeit, alle Stadien der Libido im Schnelldurchgang noch einmal zu durchleben. Sie konfrontiert sich u. a. also mit der ödipalen Periode und dem Komplex der Kastration. In diesem Moment durchlebt die Mutter noch einmal die Erfahrung, dass sie auch Kind ihrer Mutter ist, sie gleitet in den inneren Konflikt der Repräsentanzen. Zusätzlich wird der gefühlte Stress laut Odent19 von Neuem die Ausscheidung von Oxytozin blockieren. Angst, Emotionen, Zorn und Wut, alle diese Gefühle, lange verdrängt als Beweis einer kindlichen Anpassung an die Regeln, an die Konventionen, sind vor18 | Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 170. 19 | Vgl. Odent, Michel: »Les positions de la mère pendant l’accouchement«, in: Corps de mère, corps d’enfant, Les Cahiers du nouveau-né, Heft 4, 1980, S. 13-28, hier S. 13. Odent erklärt, wie die Auslösung der Geburt durch Spritzen von künstlichem Oxytozin auch die Diffusion von natürlichem Oxytozin im Körper der Frau hemmt. Dieser Neurotransmitter wird normalerweise bei Mutter und Kind ausgeschieden, er favorisiert die Mutter-Kind-Bindung. Wenn das Funktionieren des emotionalen Gehirns schon während der Kindheit beeinträchtigt wurde, kann die Blockade vollständig sein, und die Mutter fühlt für ihr Kind keine Liebe.

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handen als stummer Protest gegen die Eltern, die Mutter, den Verlust. Mit der Geburt ändert sich die Situation, als ob das Recht, etwas zu sagen oder zu wagen, andere Kanäle öffnet und benutzt, wie die der Hysterie als Provokation, etymologisch abzuleiten von pro vocare: das, was ruft. Die Auseinandersetzung mit der Hysterie ist von großem Interesse für diese Arbeit, weil die Hysterie laut Freud für Weiblichkeit steht und diese repräsentiert. Nikulka20 erinnert daran, dass das griechische Wort für Gebärmutter Hystera ist, und Hysteria wiederum wurde als Wanderung der Gebärmutter definiert. Diese Wanderung macht die Gebärmutter zum unkontrollierbaren Tier, das im Leib der Frau wohnt und rastlos zu wandern beginnt, sobald es nicht regelmäßig mit Sperma gefüttert wird und unbefriedigt ist. Bis sie sich schließlich auf ihrer Wanderung im Gehirn festbeißt 21, wo ihr »die weiße Substanz das zu spärlich zur Verfügung gestellte Sperma ersetzt.«22 Das Bild der Frau bei Freud und nachfolgend in der psychoanalytischen Literatur des 19. Jahrhunderts hängt ab von der Konfrontation von Kultur und Natur im Gegensatz zu einer Subjekttheorie der weiblichen Konstitution. Damit hat Freud der Sichtweise Vorschub geleistet, die vorher in der psychoanalytischen Literatur das Bild der Weiblichkeit aus der Konfrontation Kultur-Natur bestimmt hatte. Freud hat ausgehend von den Mythen der Hysterikerinnen, deren Begehren darin besteht, es den Manifestationen des Genießens beim Manne gleichzutun, ihrem individuellen Werdegang zugehört. Er hat für die Hysterikerinnen erkannt, dass die Hysterie zur Weiblichkeit gehört.23 In der orthodoxen freudschen Tradition z. B. bei Chasseguet-Smirgel24 wird das spezifisch Weibliche im Narzissmus gesehen, dem die reife Frau als Mutter gegenübersteht, und damit wird die Perspektive auf ein Begehren jenseits der Mutterschaft nicht zugelassen. Demgegenüber ist es ein zentrales Anliegen in der Psychoanalyse nach Lacan, die Frage nach dem weiblichen Begehren offenzuhalten.

20 | Vgl. Nikulka, Iris: »Das Drama der Urszene«, in: Psychoanalyse der Weiblichen Identität 46: Teil 1, Heft 165, 2015, S. 49-72, hier S. 50. 21 | Laut Hippokrates quaerens quem devorat, vgl. Israël, Lucien: L’hystérique, le sexe et le médecin, Paris: Masson 1976, S. 4. 22 | Ders.: Die unerhörte Botschaft der Hysterie [1987], München: Ernst Reinhard 2001, S. 12. 23 | Vgl. Freud: »Über die weibliche Sexualität«, S. 277: Die Phase der Mutterbindung und die Hysterie gehören »zu den besonderen Charakteren der Weiblichkeit«. 24 | Vgl. Chasseguet- Smirgel, Janine: Psychoanalyse der weiblichen Sexualität [1964], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.

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Lacan und nach ihm Dolto haben versucht, in diesem Zusammenhang dem freudschen Konzept der Kastration einen anderen Sinn zu verleihen, und gezeigt, dass beide, Mann und Frau, mit ihr konfrontiert sind: Jeder ist dem Mangel unterworfen. Jeder interpretiert den Mangel als Verlust. Die Hysterikerinnen kommen in der Regel nicht wegen PPD in die Praxis. Jedoch kommen sie in die Therapie, wenn sie von Verlust oder Erinnerungen überwältigt werden, in diesen Fall, wenn etwas Weibliches sie überrollt, präziser formuliert, wenn sich weibliche Sexualität und Gewalt im Unbewussten25 in einem Symptom treffen. Die psychoanalytische Behandlung orientiert sich an den Konflikten des Begehrens und deckt die tiefgehende Problematik dieser bestimmten weiblichen Begehrensstruktur auf. Die PPD gilt nicht in jedem Fall als Frauenkrankheit, wohl aber als Frauensache, typisch weiblich. Typisch weiblich, dieses Votum teilt die PPD mit der Hysterie. So entsteht ein Verdacht: Ist die Weiblichkeit selbst eine Krankheit? Ein Privileg der Frau besteht darin, dass sie Kinder gebären. Nichtsdestotrotz ist sie nicht auf diese Funktion zu reduzieren. Während Israel26, als Schüler Lacans, von der Auseinandersetzung mit der Struktur der Hysterie auf einen Gegensatz von Frausein und Muttersein hinweist, ist der Psychoanalytiker Leader in seiner Arbeit über die Entstehung der Depression auf eine erstaunliche Parallellität zwischen Hysterie und Depression gestoßen. In Anlehnung an Freuds Theorie der Hysterie spielen Verlust und Trauer eine zentrale Rolle für die Entstehung der Depression. Leader sieht in der Depression einen weiblichen Protest, der dem der Hysterie vergleichbar ist. Er sieht die depressive Störung als unbewussten Appell an die Gesellschaft: »Depression is thus a way of saying NO to what we are told to be.«27 Damit wird auch die der Hysterikerin eigene Fähigkeit, in viele Rollen zu schlüpfen, als Leiden gesehen: Ihr Ich ist immer eine Andere, ihr Ich ist viele. Es ist auch eine großartige Fähigkeit: Sie entzieht sich damit den Weiblichkeitszuschreibungen und bleibt dabei, dass ihr etwas fehlt. Das ist ein hysterisches Symptom: Die Sexualität wird verdrängt. Damit aber ist ihre Weiblichkeit nicht auf Mütterlichkeit reduzierbar. Der Hysterie des 19. Jahrhunderts und der Depression des 20. Jahrhunderts ist gemeinsam, dass sie auf eine körperliche Ursache zurückgeführt werden. Hysterie und Depression als Form des Protests, als Kampf um die Weiblich-

25 | Vgl. Chauvelot, Diane: L’hystérie vous salue bien! Sexe et violence dans l’inconscient, Paris: Denoël 1995. 26 | Vgl. Israël: Die unerhörte Botschaft, S. 120. 27 | Vgl. Leader, Darian: The New Black: Mourning, Melancholia and Depression, London: Penguin 2008, S. 13.

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keit, sind einander näher, als das in der psychoanalytischen Arbeit gemeinhin gesehen wird. Die entscheidende theoretische Wende ist darin begründet, dass das Weibliche als Nachwirkung der phallischen Trennung vom Mütterlichen gelöst wurde. Diese Wende wurde durch das Anhören der Hysterikerin als Geburtshelferin der Psychoanalyse möglich. Die Anerkennung des eigenständigen Begehrens der Frau ist damit verbunden. Die Weiblichkeit ist durch die Mutterschaft bedroht. Die Depression ist Ausdruck des Schnittes, der nicht symbolisiert ist. Die heutigen Depressiven beklagen sich über den Verlust, als Ver-Lust verstanden, des Lebensantriebs, der Begierde, der Libido. Sie haben keine Lust mehr, an nichts Freude und Interesse. »Die Lust bezeichnet das Ende, den Verlust des Genießens«, und setzt einen Spannungszustand voraus, schreibt Israel28. Das Gefühl des Energieverlusts und eine vermehrte Müdigkeit sowie verminderter Appetit mit Gewichtsverlust sind charakteristisch für die Depression ebenso wie für die Hysterie. Die Depression ist als Dekompensation dieses Zustands zu verstehen, die Hysterie hingegen als Versuch, ihn zu kompensieren: Beide stehen mit dem Verlust in Verbindung. Gleichermaßen hat sich die Definition der Hysterie für die Philosophen, insbesondere bei Vignemont entwickelt: »Nicht mehr können wollen, nicht mehr wollen können«29. Damit wäre die Hysterie eine Störung des Wollens, ein Verlust der kausalen Effizienz der Intention, eine Beeinträchtigung der intentionalen Aktionen. Israel notiert: »Manchmal wird das übliche Desinteresse in eine Forderung verkehrt. Die Klage lautet nicht mehr: ›Ich interessiere mich für nichts mehr‹, sondern ›Nichts und niemand interessiert sich für mich‹. Anders gesagt: ›Niemand liebt mich‹. Das kann sich dann ohne weiteres in ein ›Niemand hilft mir‹ verwandeln. Die erste Formel ist eher eine weibliche, die zweite eher eine männliche Version.« 30

Ebenso lässt sich, wie am Fallbeispiel oben erkennbar, bei der depressiven Krise der Schwangeren eine Beziehung zur Zeit herstellen: Die depressive Dekompensation stellt sich am Ende eines Zustandes ein, wenn die Befriedigungen mit dem Bild zusammenhängen, das man von sich selbst hatte. Israel schreibt weiter: 28 | Israël: Die unerhörte Botschaft, S. 104. 29 | Vignemont, Frédérique de: »Ne plus vouloir pouvoir, ne plus pouvoir vouloir«, in: Philosophiques, philosophie et psychopathologie 33, Heft 1, 2006, S. 197-215. 30 | Israël: Die unerhörte Botschaft, S. 175.

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD »Es gab etwas vorzuzeigen. Wie immer, wenn man glaubt, etwas zum Vorzeigen zu besitzen, denkt man dabei in keiner Weise an den realen Zuschauer. Man setzt sich an seine Stelle, weist ihm eine Spiegelfunktion zu und nimmt von der Realität nur das zur Kenntnis, was das Phantasma stützt. […] Wenn sich dann die jeweiligen Umstände ändern, in diesem Fall die der Schwangerschaft, dauert es eine gewisse Zeit, eben die der ›Depression‹, bis sich das Phantasma wiederherstellen und neue Objekte zu seiner Befriedigung benützen kann. Das eben geborene Kind, das in utero die Befriedigung eines aufsehenerregenden Bauches ermöglichte, eignet sich sehr gut zur ›Wiederbesetzung‹. Es wird zum äußeren Exhibitionsobjekt.« 31

Teuns zeigt, wie »das beginnende ›Autonom-Werden‹ des Neugeborenen für die Eltern ein Verlieren, einen Verlust bedeutet«32, und weiter: »Die ganze Zeit der psychischen Entwicklung bzw. Ablösung des Kindes ist von Abschiedsmomenten begleitet.« Und er fragt zusätzlich: »Welche Trauerarbeit ist dabei notwendig, welche Depressionen treten während der Schwangerschaft auf?«33 Die Depression verstehen wir besser, weil sie denselben Verlauf nimmt wie die Hysterie vor ihr. Und Israel beendet seine Beschreibung der Depression mit der Schilderung des Objektverlusts oder der Entdeckung des verlorenen Objekts. Der Sinn der Depression ist das Gefühl, sich selbst verloren zu haben, und paradoxerweise reagiert das Subjekt mit Suizidgedanken, häufig bei hysterischer Persönlichkeitsstruktur. Wenn sich in unseren Ländern die Pathologie der Depression in so umfangreichem Maße manifestiert, verdrängt sie damit nicht die Diagnose der Hysterie? Tatsächlich wird im ICD-10 der WHO seit 1952 der Begriff Hysterie durch den der somatoformen funktionellen Störung, Konversionsstörung bzw. die Bezeichnungen dissoziative Störung (F.44) und histrionische Persönlichkeitsstörung (F.60.4) ersetzt. Zur Illustration werde ich nun zwei parallele Fälle des Ausdrucks eines Protests beschreiben, die sich allerdings in zwei nosographischen Einheiten ausdrücken, einer über den hysterischen Modus (Frau Stella), der andere über den depressiven Modus von Frau Astrid.

31 | Ebd. 32 | Vgl. Teuns: »Abschied und Ankunft«, S. 68. 33 | Ebd., S. 72.

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1.3.1 Frau Stella: Verlust und Hysterie Die junge Patientin (25 Jahre) wird von ihrer Hebamme zu mir überwiesen, weil sie gerade ein ›Sternenkind‹ geboren hat; so nennt man die Kinder, die tot geboren werden. Das Mädchen starb in utero drei Tage vor dem Entbindungstermin und wurde per Kaiserschnitt geholt. Ich sehe eine ganz in schwarz gekleidete junge Frau, sehr blass und sehr wacklig auf den Beinen. Ihr Freund begleitet sie, bleibt aber im Wartezimmer. Sie weint viel und erzählt, wie sie schon wusste und spürte, dass das Kind in Gefahr sei. Sie hatte Bauchschmerzen und spuckte die letzten Wochen, und war schon drei oder viermal im Krankenhaus, wurde jedoch immer wieder nach Hause geschickt. Sie nennt mir den Namen der Ärztin, Gynäkologin, die sie als Mörderin und Kriminelle bezeichnet, und beteuert, dass sie diese Frau, falls sie sie irgendwo träfe, erwürgen würde. Ihre Mutter konnte ihr nicht helfen, sie leidet an multipler Sklerose und verlässt kaum das Haus, im Rollstuhl sitzend. Übrigens hat diese Mutter immer gearbeitet (als Sekretärin), als sie klein war, und ihre ältere Schwester (neun Jahre älter) hat als Ersatzmutter fungiert. Ihr Vater ist als Bauarbeiter aus Süditalien gekommen und stammt aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Er hat sich durch seinen großen Fleiß eine Existenzgrundlage geschaffen und heiratete dann seine deutsche Frau, die Mutter der Patientin. Die Patientin ist voller Bewunderung für ihn. Sie erzählt auch, dass sie ihrer Mutter gegenüber nie Respekt hatte, und jetzt, wo sie im Rollstuhl sitzt, verachte sie die Mutter und mache sie lächerlich: Mit ihrer Schwäche tyrannisiere sie die Familie. Dann sagt sie, wie sie die Nonna vermisst (die italienische Großmutter), die, wenn sie als Kind in Italien in den Ferien war, mit ihr spielte, backte, ins Meer ging … Im Anschluss an die Erinnerung an die Großmutter spricht sie unvermittelt davon, dass es ihr schwerfällt, allein zum Friedhof zu gehen, um das Grab des Kindes zu besuchen, obwohl alles für ein würdevolles und liebevolles Begräbnis des Kindes getan wurde: Ein weißer Sarg, ausgeschlagen mit rosa Seidentuch, und sogar der Bestatter hat ein Plüschtier geschenkt. Nur mit ihrem Vater könnte sie dorthin gehen, aber er weint so sehr. Sie fragt mich, ob ich sie dorthin begleiten kann. In der ersten Phase der Trauer hat die Patientin weiterhin gespuckt und über anhaltende Bauchschmerzen geklagt. Sie isst kaum etwas, raucht aber sehr viel, wozu sie sich auf den Balkon zurückziehen kann: »Ich brauche meine Ruhe.« Ihr Freund hat aus seiner Ehe einen zehnjährigen Sohn, der bei seiner Mutter lebt.

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Ich habe gemerkt, dass er auf mich einen sehr niedergeschlagenen Eindruck gemacht hat. Deshalb habe ich ihn gefragt, ob er auch Hilfe in Anspruch nimmt. Er verweist darauf, dass er sehr viel arbeitet. Ich nehme an, dass seine Freundin in ihrem gegenwärtigen Zustand eine große Belastung für ihn ist. Sie spricht sehr schnell, isst sehr wenig, raucht zu viel, schimpft (mit seinem Sohn) sehr laut, kritisiert ihre Mutter auf eine sehr verletzende Art, alles ist zu viel. Und sie klagt an: »Warum ich? Was habe ich getan? Ist das nicht genug, dass ich keine Mutter für mich hatte, und nun habe ich auch kein Kind für meinen Partner …« Ihre Anzeichen von Anorexie erscheinen als unerbittlicher Versuch, angesichts ihrer Enttäuschung und ihrer nicht zu bewältigenden Trauer die Kontrolle zu behalten. Sie ist gerade vier Wochen in der Therapie, dann verkündet sie, dass sie am folgenden Montag zu ihrer Arbeit zurückkehren wird. Sie hat ihre Kollegin bereits gebeten, »kein Wort über dieses Ereignis zu verlieren.« Sie teilt mir mit, dass der Chefarzt gesagt hat, dass es keine Anzeichen für eine Störung der Schwangerschaft gegeben hat. Trotzdem schimpft sie auf die Gynäkologin und entwertet sie, sie sei unfähig. Ich sehe darin eine Wiederholung der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, als ob der Tod des Kindes von der Mutter als Strafe verordnet wurde. Die Patientin kommt dann darauf zu sprechen, wie ihr Vater sie in ihrer wilden Jugendzeit und Pubertät geschützt hat, sie abgeholt hat, wenn sie betrunken war oder mit Freunden über Nacht wegblieb. Er war streng, sagt sie dann, aber gerecht. »Meine Mutter war nur böse.« Die Analyse mit dieser Patientin hat sich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt. Aus dem analytischen Material wird insgesamt ihre Identifikation mit dem Vater deutlich, die so weit ging, dass sie sich in Abgrenzung zu ihrer älteren Schwester als Sohn der Familie gesehen hat. Die Haltung der kranken Mutter hat die enge Bindung der Patientin an den Vater bewirkt. Jetzt kommt sie zur Therapie und klagt. Sie will etwas, kann sich aber nicht mit dem Verlust auseinandersetzen. Sie geht ihrer Entscheidung nach, geht weiter arbeiten: Als Durchsetzung ihres hysterischen Zugs entwertet sie mich. Ihr Schimpfen über ihre Mutter habe ich gehört, und auch das Verbot an die Arbeitskollegen, ihr angesichts des erlittenen Verlusts durch Mitgefühl helfen zu wollen. Das hat ihr ermöglicht, weiterhin in die Therapie zu kommen. In ihre berufliche Karriere hat sie sofort so viel Energie investiert, dass sie in kürzerer Zeit zur Abteilungsleiterin befördert worden ist. Als sie das erreicht hatte, nach knapp 18 Monaten, ist sie wieder schwanger geworden. Diese Schwangerschaft ist durch den analytischen Prozess begleitet worden. Es ging dabei zunächst noch um die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter,

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und mehr und mehr rückte dann ihre eigene Mutterschaft in den Vordergrund. Immer wieder hat sie ironisierend von den Erfolgen an ihrem Arbeitsplatz gesprochen, wo sie ihren Chef »in der Hand hatte«. Die Schwangerschaft und auch die Geburt hat sie als befriedigend erlebt, wobei die Geburt in medizinischer Hinsicht in besonderer Weise abgesichert war. In den ersten Wochen post partum hat sie noch einmal eine anorektische Episode gehabt, mit Ängsten verbunden, es könnte dem Kind etwas passieren. Ich habe sie im Krankenhaus besucht und war überrascht, dass sie sehr gefasst und ruhig war. Entsprechend hat sich das Baby verhalten, ruhig, rund und glücklich. Das war zweifellos eine wichtige Stütze für die Mutter. Sie hat ein Jahr mit der Arbeit ausgesetzt und sich in dieser Zeit auf liebevolle Weise ihrer Tochter gewidmet. Möglicherweise war die Anorexie ein Sichentziehen gegenüber der Mutter; in der Tat würde die Patientin ihre Tochter ihrer eigenen Mutter niemals anvertrauen. Danach, nach der Elternzeit, ist sie noch einmal in eine höhere Verantwortungsposition in den Betrieb ihres Freundes eingestiegen. Heute ist die Patientin zur Karrierefrau geworden, dünn, sehr aktiv. Sie baut zusammen mit ihrem Freund ein Haus, streitet mit den Bauarbeitern und flucht auch wie diese, kümmert sich um alles und sagt dann, dass sie bis zum fünften Todestag ihrer ersten Tochter zu mir kommen will und wird. Diese Ankündigung beendet sie mit dem Satz, »mir fehlt nichts mehr.« Mein Kommentar: Wie ein Wirbelsturm in die Praxis wehend, Nein sagend, sehr laut klagend und gleichzeitig dirigierend, aber auch klein beigebend, immer wieder betonend »es wird, wird«, so kann ich Frau Stella am besten beschreiben. Die Anorexiephasen als »anorexie hystérique« nach Lasègue34 dienen neben der verfehlten Kontrolle des Verlusts auch dazu, die Familienkonstellation zu verurteilen, in der sie aufgewachsen ist. Jene wirkte als Ort antagonistischer und destruktiver Kräfte, die gegen ihr Werden als Frau und Mutter agierten. Sie kämpft noch darum, eine weibliche Position zu gewinnen und nicht mehr der kleine Junge des Vaters zu sein. Ihre Schwester, klein, hyperaktiv und eine starke Raucherin, die als Ersatzmutter für die Patientin fungiert hatte, profitierte ebenso von der Therapie, weil sie allen Erwartungen zum Trotz mit 35 Jahren ein kleines Mädchen bekommen hat, zwei Monate nach meiner Patientin. Frau Stella, die ich als anstrengend und liebevoll, rührend und drama queen zugleich erlebe, kämpft um ihr Ideal. Der Tod des Kindes und die Krankheit 34 | Vgl. Lasègue, Charles: »De l’anorexie hystérique« [1873], zitiert nach Kipp, Hilde: »Anorexia Nervosa. Das Versagen des Anspruchs im Symptom der Magersucht«, in: Kleber, Jutta Anna (Hg.): Die Äpfel der Erkenntnis: zur historischen Soziologie des Essens, Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges. 1995, S. 108-120.

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bzw. der Rückzug der Mutter werden als Verluste verarbeitet, um ihre eigenen Wünsche zu realisieren. Ihre Triebhaftigkeit, gepaart mit zwanghaften Zügen, ist Ausdruck eines Ideals der Perfektion und des Strebens nach Erfolg. Durch die in ihrer Partnerschaft erlebte passive Haltung ihres Freundes ist sie die Aktivere, die Patentere, die Frau, die ›ihren Mann‹ steht, auf nichts verzichtet.

1.3.2 Frau Astrid: Verlust und Depression Frau Astrid, 38 Jahre alt, hat 14 Tage nach der Geburt ihrer ersten Tochter eine heftige Wochenbettdepression erlitten mit anschließendem einwöchigem Aufenthalt in der Psychiatrie. Sie berichtet, wie die Psychose mit dem Stillen angefangen hat: Sie konnte den Blick ihrer Tochter, an sie gerichtet, nicht ertragen, und sah … etwas Schreckliches; sie weiß aber nicht mehr was. Ihr Mann war »die bessere Mutter«. Mir begegnet eine stämmige, stabile, etwas burschikose Frau mit kurzen Haaren und blassem Teint. Sie berichtet sofort von ihrem Leid und ihrem Unglück. Ihr Bruder (zwei Jahre älter) hat Selbstmord begangen, als sie mit ihrer Tochter in der 30. Woche schwanger war. Dieser Tod hat den Tod ihrer Mutter reaktiviert, die durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam, als die Patientin 19 Jahre alt war. In der Therapie taucht die Frage auf, ob es sich bei dem Unfall der Mutter nicht eher um einen Suizid gehandelt habe: Sie fuhr, ohne zu bremsen, vom Hof auf die Hauptstraße, gerade als ein Lastwagen vorbeifuhr. Als die Mutter starb, blieb der Vater die Hauptbezugsperson, und sie »seien sehr zusammengewachsen, wir halten fest zusammen«. Ihr Vater, Landwirt, hat die depressiven Phasen seiner Frau immer ertragen und sie ermuntert, sich in eine Therapie zu begeben. Frau Astrid erinnert sich gut, wie ihre Mutter tagelang in ihrem Bett blieb, in der Dunkelheit, und sie sich verpflichtet fühlte, als einzige ›Überlebende‹, wie sie sagt, den Haushalt des Vaters zu führen. Das hielt sie aufrecht, bis sie in ihre eigene Wohnung in die Stadt zog und ihr Vater sie gegen ihren Willen davon befreit hat. Sie bringt mir einen Brief36, den sie mit acht oder neun Jahren an ihre Mutter geschrieben hat: »Liebe Mami, pass gut auf, was ich Dir sage. Hab Geduld, bis Dir es wieder besser ist. Ich habe Dich sehr Lieb. Darum tue mir Bitte den Gefallen: Bleib durch liegen. Du hast ja gesehen, dass ich, Papi und meinen Bruder auch das schaffen. Ich habe gedacht, ich mache Dir eine Freude.« Der Vater lernte nach dem Tod der Mutter eine neue Frau kennen, zu der die Patientin ein sehr gutes Verhältnis hatte. Zehn Jahre später starb diese.

35 | Frau Astrid hat mir ihre ganze Korrespondenz, Briefe an ihre Mutter, Vater, Bruder, anvertraut und gesagt, ich sei als ihre Psychoanalytikerin bestens dafür geeignet, »ihre Schätze zu bewahren«.

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Die Patientin erzählte mir weinend, wie zwiespältig das Verhältnis zu ihrem Bruder war. Einerseits hat er sich um sie, die jüngere Schwester, gekümmert, er hat sie in der schwierigen Situation des Todes der Mutter unterstützt und sich ›erst‹ das Leben genommen, als er wusste, dass sie glücklich verheiratet und schwanger ist. Anderseits war er das Lieblingskind seiner Mutter und hat sich von ihrem Tod nie wirklich erholt. Er sei, sagt die Patientin, ein »Jammerer« gewesen, der sich aber nicht helfen ließ. Er sollte die Landwirtschaft übernehmen, alle Papiere und das Erbe waren bereits unterschrieben bzw. aufgeteilt, die Wohnung renoviert, sodass er mit seiner Freundin einziehen konnte. Heiraten war schon versprochen, als er schließlich einen wohl geplanten und unfehlbaren Suizid unternahm. Er schoss sich direkt ins Herz, trug ein rotes T-Shirt, sodass der Arzt nicht sofort nachvollziehen konnte, was geschehen war. Sie erzählt auch, dass keine Frau in der Verwandtschaft ihr ein positives Bild der Weiblichkeit vermitteln konnte. Mütterlicherseits sind alle Frauen, Großmutter sowie Tanten und Cousinen, depressiv, und väterlicherseits sind ihre Tanten neidisch und böse. Der Vater selbst war ein ›Waldmensch‹, einsam und zurückgezogen. Er starb ein Jahr nach der Geburt der zweiten Tochter als liebevoller Opa. Im Anschluss an die Erinnerungen an die Toten sagt sie, wie schwer es ihr fällt, an den verschiedenen Todestagen zum Friedhof zu gehen, und dass sie eine Wut spürt, wenn sie sieht, dass kein Platz mehr im Familiengrab für sie frei ist. Der Bruder liegt mit der Mutter, und der Vater hat eine Urnenbeisetzung gewählt. Sie deutet, dass die Mutter sogar im Tod den Sohn bevorzugt und lacht. Die Frage bezüglich der Weiblichkeit wird gestellt und bleibt ohne Antwort. Aber im Hinblick auf die Mütterlichkeit erwähnt sie diese, als sie von ihren Töchtern spricht. Sie sagt: »Die werden später schwanger […] und ich kann nicht sagen, wie schön das ist. Angst und Schmerzen, ich muss doch das Kind rauspressen … Es ist nicht zu schaffen, ich muss das Kind entbinden, es ist ausgeliefert, ohne Mutter, wie ich damals. Ich kann nicht ›Halt!‹ sagen; es war kein Halt [Familie, Schild!?] für meine Mutter, die losgefahren ist, ohne gebremst zu haben.«

»Halt«, sagt sie dann, bedeutet »Freeze!« Die Zeit geht nicht vorwärts, bleibt gefroren, geht nicht rückwärts in die Vergangenheit. Auch keine Gegenwart ist möglich. A point of no return ist erreicht, der die Unmöglichkeit der Zukunft bedeutet. Es drückt auch die Unmöglichkeit aus, sich als Mutter eines Kindes in die Zukunft zu projizieren: »Das Kind in mir zieht sich zurück, immer.«

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Und ohne Halt isst sie alles in sich hinein, was sie der Mutter nicht sagen kann oder will, sodass sie mit starkem Übergewicht zu kämpfen hat. Sie wendet alle aggressiven Impulse gegen sich und dabei identifiziert sie sich mit der leidenden Mutter, die keine glückliche Frau sein konnte und keine ›gesunde‹ Weiblichkeit zur Verfügung hatte. In der Tat haben die depressiven Episoden ihrer Mutter mit deren Verlobung angefangen, als klar wurde, dass sie im Haus der Schwiegereltern als »Magd« leben würde. Die Aufenthalte der Mutter in verschiedenen Kliniken können nachträglich als Flucht verstanden werden, als stummer Protest bis zu ihrem Tod. Mit der Problematik ihrer Mutter fühlte sich Frau Astrid als Frau allein gelassen, als Tochter ausgeliefert, und als Schwester kämpfte sie mit der Rolle als alleinige Erbin des Vaters. Schuldgefühle plagten sie zunehmend, bis sie in der Therapie eine Lösung gefunden hatte. Zuerst hat sie sich für die Hospizarbeit ausbilden lassen. Sie begleitet mit großem Herz und Engagement sterbende Patienten und deren Familienangehörige. Und dann, mit ihrem Erbe, hat sie ein Projekt gestartet: Mithilfe einer Baufirma hat sie bezahlbare Wohnungen für alleinerziehende Eltern gebaut, die auf Hilfe angewiesen sind. So gibt sie zurück, was sie von ihren Eltern bekommen hat, ihr soziales Engagement gilt als Ausgleich für das finanzielle Erbe und um ihre Schuld, den Platz des Bruders ausradiert, ausgelöscht zu haben, wieder gut zu machen. Als tägliche Belohnung für den »gelebten Tag« geht sie in eine Patisserie, trinkt ihren Kaffee und isst genüsslich einen Kuchen. Jedoch bleibt Frau Astrid nach einer langen Therapie von sechs Jahren nach wie vor in ihrer Weiblichkeit verletzt, obschon ihre Ehe sehr harmonisch erscheint. Man könnte fast sagen, dass sie ihre eigene mentale Verfassung auf der Waage misst. Vor dem Hintergrund der rezidivierenden traumatischen Belastungen und dank der Therapie ist Frau Astrid eine farbenfrohe, humorvolle, lebendige Frau geworden. Bei ihrer letzten Sitzung sagte sie mir dann: »Warum soll ich die Tabletten noch nehmen, wenn Angst auf Tablett serviert wird?« Tatsächlich ist das Einnehmen der Tabletten eine Art, die Angst mit zu essen, welche ihre Mutter ihr übergeben hatte. Die Depression, die ihren Ausdruck in der Essstörung hat, wird als verfehlter kompensatorischer Versuch verstanden, den Verlust zu ersetzen. Der Patientin bleibt keine andere Möglichkeit, einen Halt zu finden: Die Regression auf der Zeitachse geht bis zu dem haltgebenden Punkt zurück, nämlich der oralen Befriedigung durch die damals noch aktive Mutter der kleinen Patientin. Frau Astrid kämpft mit der oralen Komponente des Verlusts und bleibt in ihrer Entwicklung bei dem kindlichen Bild der essenden-schwangeren Mutter stecken. In meiner klinischen Arbeit halte ich es für wichtig, eine differenziale Diagnose des Störungsbildes in Zusammenhang mit der Geburtserfahrung zu

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erstellen, um zu erfassen, ob zusätzlich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliegt. Durch die mögliche Überschneidung der beiden Störungsbilder ist deswegen der Begriff ›peripartale psychische Anpassungsstörung bei Frauen‹ präziser als jener der PPD. Dieses Konzept trifft auch besser, was unsere Annahme einer radikalen Infragestellung der weiblichen Struktur der künftigen mütterlichen Welt impliziert. Das zwingt uns, sehr sorgfältig zu unterscheiden zwischen dem Traumatismus infolge der Geburt  – Geburtstrauma, mit Geburtserleben und Verarbeitung dieses Erlebens – und den Folgeerscheinungen der imaginären Vorstellung dieser Geburt für die Mutter, der Traumgeburt. Dabei geht es darum, inwieweit eine Geburt bei Betroffenen eine Re-Traumatisierung auslösen kann. Die Diagnose36 einer Depression muss differenziert sein, um die Verwechslung von PTBS und PPD auszuschalten, denn die zugrunde liegenden psychischen Prozesse gleichen sich in keiner Weise. Durch die Verdichtung der verschiedenen Traumata im Falle Frau Astrid hat bei der nächsten ungünstigen psychischen Lage eine traumatisierende Reaktivierung stattgefunden, welche die peripartale Dekompensation hervorgerufen hat. Verluste waren allemal durchgehend in ihrer Biographie vorhanden. Dabei hat der Neid in ihrer Geschichte eine große Rolle gespielt. Ihr Schicksal ist es, ihren Platz bei ihrer Mutter ihrem großen Bruder überlassen zu müssen, der seine Position als ›kleiner Prinz‹ gefordert hat. Es gab dann für sie kaum eine Rückkehr zu ihrer Mutter. In Ovids Metamorphosen ist die invidia sehr bildlich beschrieben: »Leichenblaß ist ihr Mund, ausgemergelt der ganze Leib, […] schwarz von Fäulnis sind ihre Zähne, ihre Brust gelbgrün von Galle, und von Gift trieft ihre Zunge. Lachen ist ihr fremd, es sei denn beim Anblick von Leiden ein Kichern […] düster, ganz erfüllt von starrendem Frost.«37 Wer von Neid erfasst wird, dem kommt jede Lebensfreude abhanden, und er friert. Wendet man diese Unterscheidung zwischen Auge und Blick, wie sie Lacan in dem Zitat: »Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe«38, ausdrückt, auf Frau Astrid an, so legt man den Finger auf die Ursache des Neids, d. h. auf die Geschwisterrivalität, die im schlimmsten Falle in Mordlust, Verzicht oder Suizid ausartet. Das lateinische Wort invidia (= Neid) kommt von videre (= sehen), wie Lacan es betont, und bezeichnet die Gefühle des Älteren.

36 | Vgl. Drexelius, Nina: »Traumgeburt oder Geburtstrauma. Postpartale posttraumatische Belastungsstörungen«, in: PiD. Psychotherapie im Dialog 14, Heft 1, 2013, S. 7. 37 | Ovid: Metamorphosen II, Düsseldorf: Patmos 2005, S. 761-782. 38 | Vgl. Lacan: Das Seminar, Buch 11, S. 109; Original: Le séminaire, livre 11, S. 95: »Jamais tu ne me regardes là d’où je te vois«.

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD »Invidia kommt von videre. Die beispielhafteste ›invidia‹, für uns Analytiker, ist die […] des kleinen Kindes […], das seinen an der Brust hängenden Bruder anblickt, ihn anblickt ›amare conspectu‹, mit bitterbösem Blick, der ihn dekomponiert und auf es selber wie Gift wirkt. Um zu verstehen, was die ›invidia‹ in ihrer Funktion als Blick ist, darf man sie nicht mit der Eifersucht verwechseln. Was das kleine Kind oder wer immer beneidet  /  e nvie, ist im eigentlichen Sinn durchaus nicht identisch mit dem, wonach es Neid verspüren könnte  /   a voir envie, wie man sich uneigentlich ausdrückt. Wer könnte sagen, dass das Kind, das sein Brüderchen betrachtet, noch das Verlangen hätte, an der Brust zu liegen. Jeder weiß, dass der Neid für gewöhnlich hervorgerufen wird durch den Besitz von Gütern, die dem, der neidet, von keinerlei Nutzen wären und deren wahre Natur dieser nicht einmal ahnt. So ist der wahre Neid beschaffen. Vor was lässt er das Subjekt erbleichen? Vor dem Bild einer in sich geschlossenen Erfüllung und davor, dass das kleine a, das abgetrennte a, an welches es sich hängt, für ein anderes einen Besitz darstellen kann, an dem dieses sich befriedigt, die Befriedigung.« 39

Der Neid in der Konzeption Lacans richtet sich nicht gegen die Brust oder einen Rivalen, sondern gegen das Bild vermeintlicher Erfüllung. Das Zerstörerische des Neids lässt sich also auf das gänzlich unerträgliche Bild eines Mitmenschen zurückführen, bei dem das, was dem Subjekt grundlegend fehlt, vorhanden zu sein scheint. Dieses Fehlende lässt sich nicht eindimensional erfassen, z. B. ausschließlich als Vorstellung von dem, was ein anderer, der ›Nebenmensch‹, zu besitzen scheint. Mit den drei Registern des Realen, Symbolischen und Imaginären hat Lacan die Möglichkeit geschaffen, das Abwesende und Verlorene jenseits des Imaginären zu benennen: als einen Mangel, der symbolisiert werden kann und der die Konstitution des Subjekts erst ermöglicht.

1.4 D ie M el ancholie In früheren Zeiten wurde das imaginäre Delirium der Melancholie, jetzt subsumiert unter dem Begriff der Depression, als lebendige und kreative Kraft betrachtet, die angeblich zur Weisheit führte. »Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?«40, fragt ein antiker Text, der lange Aristoteles zugeschrieben wurde. Von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb die Melancholie ein im Kern bemerkenswert konstantes Krankheitsbild, dem al39 | Ebd., S. 122 f.; Original: S. 105 (Herv. i. O.). 40 | Aristoteles, Problemata Physika, XXX1. Übersetzung Hellmut Flashar. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1962.

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lerdings auch Tollwut, Tobsucht und Raserei zugerechnet wurden. Achim Perner sieht im Begriff der Melancholie eine Alliteration der antiken Begriffe chole (Galle) und cholos (Ärger). Er schreibt: »Die Melancholie ist der Antike wohl als die Krankheit des schrecklichen Wütens in Gedanken oder Taten erschienen.«41 In der modernen Psychiatrie wird die Melancholie als intensivste Form der Depression bezeichnet, sie stellt nun eine pathologische Kategorie dar. Sie fällt daher nicht mehr in den Bereich des Begriffes Trübsinn, sondern wird im vollen medizinischen Sinn als Pathologie angesehen, was ihre Bedeutung als Ausdruck einer psychischen Konstellation schwächt oder gar aufgibt. Der Begriff wird also nicht mehr als grundlose und vage erscheinende Traurigkeit angewendet, wie das historisch lange Zeit durchaus der Fall war, sondern einer psychischen Störung zugeordnet, wie der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger es formuliert, die sich im »krankhaften Vorhandensein eines quälenden, depressiven Gefühls, das das Subjekt beherrscht«, niederschlägt. Die DSM-IV Klassifizierung42 der psychischen Störungen folgt dieser Unterscheidung zwischen Störungen des Affekts und anderen Störungen. Für die klassische Psychiatrie fiel die Melancholie in den Bereich der Ethik, womit das Subjekt in seiner Rede betrachtet wird. Laut dem Psychiater Tosquelles verschwindet der Mensch selbst, wenn die menschliche Bedeutung des Irrsinns außer Acht gelassen wird. Die Melancholie ist der historischen Position zugewiesen worden, nicht um das Bedrohliche zu verharmlosen, sondern sie ist an einen anderen Ort als den der klinischen Pathologisierung verlegt worden. Wenn die moderne Psychiatrie die Depression der Melancholie unterordnet, sie nicht mehr eigenständig existieren lässt und mit einer suppressiven Medikation behandelt, dann unternimmt sie den Versuch, die pathologische Herrschaft des Todestriebes nicht mehr auftauchen zu lassen, die Freud in der Melancholie beschrieben hatte. Er zählt drei Voraussetzungen der Melancholie auf: Verlust des Objekts, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich. In Freuds Konzepten der Manie und der Melancholie ist der Ausweg davon abhängig, dass es um eine bestimmte 43 wichtige Person geht und deshalb der Verlust eine starke Ambivalenz aus der Zeit mit den primären Objekten wiederbelebt. 41 | Perner, Achim: »Zur Unterscheidung von Depression und Melancholie«, in: Michels et al. (Hg.): Melancholie und Depression, 2003, S. 30-66, hier S. 30. 42 | Sass, Henning / W ittchen, Hans Ulrich / Z audig, Michael (Hg.): DSM 4: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 4. Version. Göttingen: Hogrefe 2000. 43 | Freud, Sigmund: »Trauer und Melancholie« [1917], in: ders.: Studienausgabe. Band 3, 2000, S. 193-212, hier S. 202: »Es hatte eine Objektwahl, eine Bindung der Libido an eine bestimmte Person bestanden; durch den Einfluß einer realen Kränkung oder Enttäuschung von seiten der geliebten Person trat eine Erschütterung dieser Objekt­ beziehung ein.« (Herv. i. O.)

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD

Freud schreibt: »Der Verlust des Liebesobjekts ist ein ausgezeichneter Anlass, um die Ambivalenz der Liebesbeziehungen zur Geltung und zum Vorschein zu bringen.«44 Liebe und Hass führen zum Ambivalenzkonflikt. Der Liebe geht es darum, die Bindung zu erhalten, während der Hass das Ziel verfolgt, die Bindung zu lösen. Wenn dem Subjekt unter diesen Bedingungen die Auflösung der Bindung durch Hass gelingt, fehlt eine Regulierungsinstanz für eine neue Bindung ohne Selbsthass Freud verweist auf ein ›Mehr‹ der Melancholie, indem er davon spricht, dass die Melancholie »etwas mehr zum Inhalt hat als die normale Trauer«. Dieses ›Mehr‹ bezieht sich auf die Ambivalenzkonflikte, »die in ihren Veranlassungen weit über die Trauer hinausgehen.«45 Bei der Melancholie kann dieses ›Mehr‹ eine symbolische Darstellung einer hochkultivierten produktiven Kraft sein, die Möglichkeit einer Symbolisierung dieser Liebe-Hass-Bindung, in ihrer Ambivalenz, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Prousts Werk46 ist ein Beispiel dafür, dass die Melancholie kulturell auf hohem Niveau behandelt wird. Die Melancholie als Zeugnis der kulturellen Möglichkeit sollte wie ein Wegweiser47 benötigt werden. Daraus ist ein Protest und nicht eine Idealisierung des Leidens wie im 19. Jahrhundert entstanden. Während die Melancholie ein Mehr zum Inhalt hat, enthält die Trauer in ihrer subjektiven Beziehung zum Verlust dementsprechend ein ›Weniger‹. Die Befürworter einer auf dem Geschlecht beruhenden Interpretation sehen darin ein Argument dafür, »dass ein symbolisches ›Mehr‹ vor allem männliche Melancholie begleitet. Während die weibliche Depression und Trauer ein ›Weniger‹, also Verlust und Verwundbarkeit markiert.«48 Wenn der Ausgang der Melancholie als kultivierte Form den Frauen nicht gelingt, ist zu fragen, was dagegen steht. Die Frauen bleiben mit Hassgefühlen im Verlust stecken, weil sie in der Identifizierung mit der Mutter deren Geschichte wiederholen müssen, während sich die Männer durch die ›geistige Größe‹ davon lösen könnten. Die Melancholie wird jetzt eine Bedrohung der gesellschaftlichen Forderung an die Menschen und in die Nähe des Unvernünftigen, des Wahnsinns gerückt, und alles, was die bürgerliche Ordnung bedroht, muss aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Die Hysterie galt bis ins 19. Jahrhundert als Krankheit der Frau.

44 | Ebd., S. 204. 45 | Vgl. ebd., S. 210. 46 | Vgl. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu, Paris: Gallimard 1913. 47 | Das wird das Buch-Opus unserer Patientin Frau Schwabski zeigen, siehe Unterkapitel in B.2.1. 48 | Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 246.

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Die Depression als Krankheit scheint die von Männern proklamierte ›Natur der Frau‹ zu bestätigen, während das Verständnis der Melancholie die ›geistige Grösse des Männlichen‹ unterstreicht. Diese Version ist in jahrhundertealten Auffassungen und in Mythen verankert, wonach die Frau als den Naturgesetzen unterworfen angesehen wird, wie in den vorausgehenden Kapiteln dargelegt. Jede verlorene Objektbeziehung, die auf Identifizierung beruht, wird laut Freud zunächst in der Melancholie mit einem Rückzug der Libido auf das Ich beantwortet: »Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt.« Und weiter: »Die narzisstische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung.«49 Mit der Identifizierung ist eine Regression in der Bindung verbunden. »Eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt«50 findet statt. Die Liebesbindung kann erhalten werden, das Objekt ist jetzt verinnerlicht. Die melancholische Identifizierung führt als Folge des Objektverlustes zur Wiederaufrichtung des verlorenen Objekts im Ich, aber nun kontrolliert ein verlorenes feindseliges Objekt das Ich, etwas Kritisierendes, eine ›kritische Instanz‹, lebt im Ich. Der Melancholiker, der sich als Feind in sich erlebt, klagt sich selbst an. Die Errichtung des Über-Ichs agiert maßlos und kann schließlich den Tod des Melancholikers verlangen, als wäre er ›ein Fremder im eigenen Haus‹. Verlust, Verzicht, Zerstörung und Destruktivität sind sowohl in der Liebesbeziehung als auch im Selbstmord mit der Sublimierung verbunden, auch wenn das Ich auf gänzlich verschiedenen Wegen vom Objekt überwältigt wird, so Freud. In der Melancholie liegt die Möglichkeit produktiv, kreativ zu sein, aber messerscharf an der Grenze. Die autoerotischen Triebregungen unterliegen nicht mehr dem Primat der Sexualität. Freud hat erwogen, ob eine melancholische Identifizierung nicht jedem Subjekt vorausgeht und ob eine unvordenkliche unbewusste Spur eingeschrieben worden ist »in das Unbewußte, in das Reich der sachlichen Erinnerungsspuren«51. »Das Kind drückt die Objektbeziehung gern durch die Identifizierung aus: ich bin das Objekt. Das Haben ist die spätere, fällt nach Objektverlust ins Sein zurück. Muster: Brust. Die Brust ist ein Stück von mir, ich bin die Brust. Später nur: ich habe sie, d. h. ich bin sie nicht.«52

49 | Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 203. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 210. 52 | Ders.: »Arbeiten aus dem Jahre 1938: Ergebnisse, Ideen, Probleme« [1938], in: ders.: Gesammelte Werke. Band 17: Schriften aus dem Nachlass Schriften aus dem Nachlass, 1892-1938, Frankfurt a. M.: Fischer 1941, S. 151.

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD

Die Spur der Erinnerungen (ver-)deckt, was gesagt wurde. Worte, die an die Mutter adressiert waren, sind vielleicht niemals angekommen, während sich in den Worten der Mutter der Abgrund einer sprachlosen Leere zu öffnen schien. Die Manie – auch bipolar – lässt das Subjekt auf die Ambivalenz zurückkommen, und es agiert gegen das quälende frühe Objekt, nämlich gegen die Mutter, indem es sich gegen die quälende Abhängigkeit wehrt. In meiner klinischen Arbeit möchte ich mich der Radikalität dieser realen Abhängigkeit zuwenden, mit der Wucht der Ambivalenz, die damit verbunden ist, wenn ein Konflikt in der Begehrensstruktur entsteht und wenn sich die halluzinatorischen, irreführenden Schleusen des Begehrens besonderes bei der Mutterschaft öffnen. Zwischen Wunsch der strahlenden Mutter und Wirklichkeit der Frau, die betrübt ist, zwischen lasterhafter Frau und tugendhaft-bescheidener Mutter beschreibt der Begriff ›Mütterlichkeit‹ die Sehnsucht nach ›Ursprünglichkeit‹ einer harmonischen Welt mit der Darstellung von Mutterschaft und naturnaher Einfachheit. Das Bild der Depression gilt als Ausdruck, dass die Frau die Mutterschaft unter dem Verlust der Weiblichkeit nicht annehmen kann, weil sie ihr Leben als Frau noch genießen will. Die Depression in alltäglicher Wahrnehmung wird als störend in Bezug auf die Mutterschaft empfunden. Der Ausdruck der Natur und der elementare Beweis der Mutterliebe reiben sich an der Offensichtlichkeit, dass es Mütter gibt, die sich bei einer depressiv dekompensierten Störung zu Akten physischer und psychischer Gewalt Kindern gegenüber hinreißen lassen, für die sie die Verantwortung tragen. Dies blieb lange ein Mysterium, von dem man nichts wissen wollte. Und dennoch ist das Leben einer Familie immer um die Person mit den größten Verletzungen strukturiert. Daher stellt sich die Frage, welche Person in einer Konstellation die größten psychischen Wunden erlitten hat und warum gerade sie. Zweifellos ist die Figur der Mutter aus der Sicht des Kindes mit dem Bild einer überwältigenden Präsenz verbunden. Die Mutter ist schon da, wenn das Leben ihres Kindes einsetzt. Die Mutter kommt zuerst. Sie bringt das Kind aus der Unendlichkeit ihrer Gegenwart hervor. Nichts scheint das Bewusstsein des Kindes heftiger zu besetzen als das Bild der immer gegenwärtigen Mutter, deren Präsenz unaufhörlich zu sein scheint. Nichts kann dieses Bewußtsein tiefer erschüttern als die Erfahrung der Grenzen dieser Unendlichkeit: das Verschwinden der Mutter in ihrem eigenen Bild. Als ob dieses Verschwinden die Apriorität der Mutter sicherstellte, indem es sie ihrer Körperlichkeit beraubt. Fragil ist das Kind. Es ist sehr viel über postpartale seelische Krisen gesagt und geschrieben worden. Und trotzdem haben  – im Vergleich zu Publikationen über andere Themen – nur wenige Psychoanalytiker über die PPD geschrieben, um die Erfahrung der Mutter zur Geltung zu bringen, auch wenn es in einigen Arbei-

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ten auftaucht. Wenige Forschungsarbeiten bestätigen eine ausschließlich psychische Ätiologie. Pedrina53 hat die wichtigsten Arbeiten über die psychische Entwicklung von Säuglingen vorgestellt, von Mauri Fries, René Spitz bis Donald W. Winnicott, Michel Soulé54. Ebenso haben sich Lacan-Anhänger in der Nachfolge Freuds in der Debatte über die Weiblichkeit mit der Mutterschaft, ihren Enttäuschungen oder den Kindbettkatastrophen befasst. Dabei lassen sich neben Bernard This, Michèle Montrelay55, Eugénie Lemoine-Luccioni56 und vor allem Françoise Dolto57 anführen. Im Hinblick auf die psychoanalytische Theoriebildung der Depression sind zwei Wege eingeschlagen worden: Zum einen wurde die Wichtigkeit der früher traumatisierenden Erfahrungen und Konflikte innerhalb der Familie aufgezeigt, um die Entstehung der Depression nachzuvollziehen, und zum anderen haben verschiedene Theorien die Auslösungsphasen und Verarbeitungswege des depressiven Empfindens dargestellt. Emotionen, Gefühle sowie unbewusste Phantasien und Träume während der Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt spielen eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der MutterKind-Interaktion und für das Mutterwerden. Die Positionierung der Depression gilt für die Mutter als Symptom der Mutter-Kind-Interaktion und nicht als Reaktion auf die Entwicklung des Kindes. Aufgrund der depressiven Anpassung der Mütter kann man rekonstruieren, wie tief die Hilflosigkeit des Neugeborenen geht, das die Reize der Außenund Innenwelt bewältigen muss, und auch, wie das Echo dieser prähistorischen Zeit bei der Mutter reaktiviert wird, die Zeit, in der sich unsere Psyche aufgebaut, strukturiert hat, zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, wie zwischen Haut und Fleisch. Hier soll die Entwicklung der Mutterschaft im Zentrum stehen. Die Mütter sind darauf angewiesen, mit ihrer Depression nicht aus der Generationenfolge herauszufallen, sondern sich auf das Auftreten der Depression in der Generationenreihe berufen zu können. Dieses »Ich bin depressiv« muss anerkannt

53 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys. 54 | Als Erste haben seit 1973 französische Psychoanalytiker am Institut de Puériculture, Centre de Guidance infantile de Paris, Mitglieder des Teams um L. Kreisler, M. Soulé und P.C. Racamier, unbewusste Phantasmen von Schwangeren und die Wirkungen auf die Geburt untersucht. 55 | Montrelay, Michèle: »Recherches sur la féminité«, in: Critique 278, 1970, S. 654674. 56 | Lemoine-Luccioni: Partage des femmes. 57 | Dolto, Françoise: »La libido génitale et son destin féminin«, in: La psychanalyse, Heft 7, 1964, S. 3-14.

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD

werden. Um die Position der Mutter anzunehmen, ist die Frau von Generation zu Generation gezwungen, das »Ich bin depressiv« einzuordnen. Es handelt sich also um eine Definition des leidenden Subjekts innerhalb der Familie, das durch diese ›Depression‹ geprägt und identifiziert wird, was ihm gleichzeitig erlaubt, zu existieren und akzeptiert zu werden. Als psychoanalytische Triade der Depression werden Leere, Verlust und Trauer beschrieben. Die Psychoanalyse versucht, einem depressiven Schmerz einen Sinn zu verleihen, den dieser allein nicht hat. Die Mutter, die leidet, zeugt von dem Sinn des Schmerzes. Für den Psychoanalytiker geht es also darum, den nicht assimilierbaren Schmerz seines Patienten anzunehmen und in einen symbolisierten Schmerz umzuwandeln, wie Nasio sagt: »Aber was bedeutet es, dem Schmerz einen Sinn zu verleihen und ihn zu symbolisieren? Das bedeutet keineswegs, eine erzwungene Interpretation seiner Ursache vorzuschlagen oder den Leidenden zu trösten, und noch viel weniger, ihn zu ermutigen, sein Leiden wie eine heilsame Erfahrung zu durchleben, die den Charakter stählt. Nein, dem Schmerz einen Sinn zu verleihen, bedeutet für den Psychoanalytiker, sich auf den Schmerz einzulassen, mit ihm zu vibrieren und im Stadium dieser Resonanz abzuwarten, dass die Zeit und die Worte ihn lindern. Dem unergründlichen Schmerz einen Sinn zu verleihen, heißt, ihm einen Platz innerhalb der Übertragung zu geben, wo er mit Tränen und Worten herausgeschrien, herausgeheult und verarbeitet werden kann.« 58

Die Darstellungen der Melancholie als Frauengestalt, die ihrem Schmerz einen Sinn zu verleihen versucht, sind laut Panofsky schon in der mittelalterlichen Dichtung zu finden, besonderes in Frankreich: Vielleicht wird »Dame Mérencolye eine große Alte, mit wirren Haaren, mager und mit einem zerfurchten Gesicht«59, als Bild der Mutter beschrieben.

1.4.1 Dürers Melencolia In dem Stich »Melencolia I« von Dürer (1514) sollen alle Attribute der Melancholie und die Melancholie selbst in der weiblichen geflügelten Figur mit dem verschatteten Antlitz zur Personifizierung der Pest dargestellt sein, wie eine monströse Hydra, der man nicht ins Gesicht zu schauen wagt. Die »Melencolia« Dürers stellt den Versuch dar, eine Lösung zu finden, eine produktive Lebensform, mit der sich das Subjekt erhellt und trotz der schwe-

58 | Nasio, Juan David: Le Livre de la Douleur et de l’Amour, Paris: Petite Bibliothèque Payot-Rivages 2003, S. 21 ff. 59 | Panofsky, Erwin: Saturn und Melancholie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 325: »une grant vielle eschevelee, maigre, et ridée«; eigene Übersetzung.

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ren Ambivalenz nicht in seinem Leiden stumm bleibt. Wenn es dem Subjekt gelingt, seine Ausdrucksform zu finden, wird es von der Melancholie befreit. Abbildung 6  Albrecht Dürer: »Melencolia I« (1514)

Nach Büch strahlt die Hauptfigur, die durch ihre Haltung und ihre Blätterkrone identifiziert werden kann, nicht für sich selbst, sondern allein durch die Fremdheit ihres Blicks, der – verloren in einem nicht fassbaren Jenseits – eine bevorstehende Katastrophe zu erahnen scheint. Panofsky60 geht über die Interpretation des sozialen Raums – die Pest – hinaus und gibt eine ideengeschichtliche philosophische Interpretation. Die Figur ist nicht mehr Vorwand für die Darstellung eines äußeren Themas wie die Pest, sondern der Melancholie selbst, ein inneres Thema, die Allegorie einer introjektiven Depression, ein Ausdruck

60 | Vgl. Panofsky: Saturn und Melancholie, S. 406-480.

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für die »Melancholia artificialis«61, eine Künstlermelancholie, die nicht depressiv und unfruchtbar, sondern Zeichen des Genies ist. Eine weitere Interpretation dieses Stichs wäre die Verarbeitung des Todes seiner Mutter. 1514 verstarb Dürers Mutter im Alter von 63 Jahren. Dürer fügt nachträglich einen entsprechenden Vermerk auf der Kohlezeichnung seiner Mutter hinzu. Ihr Sterben und Tod waren für Dürer »nicht auszuhalten«, wie er, laut Moore62, selbst schrieb. Die Körperhaltung der Figur, die eine verzweifelte Passivität ausstrahlt, untermauert ebenfalls die These, dass es sich bei dieser Zeichnung um einen Ausdruck der melancholischen Trauer Dürers handelt. Lambotte schreibt: »Ist der Grund dafür nicht der seltsame Blick, der keineswegs das Gesicht mit einer besonderen Absicht beseelt, sondern ihm im Gegenteil jede Spannung entzieht, sodass es eine totale Trägheit ausstrahlt?«63 Und Panofsky: Dürers »Melancholia ist weder ein verächtlicher Mensch noch ein Fall von Geisteskrankheit, sondern ein denkendes Wesen, das in Schwierigkeiten ist. Sie beharrt nicht auf einem Gegenstand, den es nicht gibt, sondern auf einem Problem, das nicht zu lösen ist.«64 Dürer zeichnet eine Figur der Melancholie, die die mittelalterliche acedia 65 und die Kunst der Geometrie miteinander vereint, die mit den Instrumenten zur Messung von Zeit und Raum das Universum ermessen kann. Aber, schreibt J. Clair: »das Fortbestehen unvorhersehbarer kosmischer Erscheinungen, der Komet, das Meer, das Überschwemmungen verursacht […] das alles zeigt die Grenzen dieser Macht […]. Die Figur erfasst das Unendliche einer grenzenlosen und unverständlichen Welt. Daher ihre Verstörung.«66 Es geht nicht darum, in der künstlerischen Ausdrucksform der Melancholie die Lösung für die Mutter zu sehen, sondern eine Arbeit an der Lösung über die Krankheit hinaus zu ermöglichen. Das zentrale Symptom der Melancholie scheint daher die Antriebshemmung zu sein; der Blick ist der Vektor, durch den die Melancholie oder nach heutiger Formulierung die Depression in eine Zweierbeziehung eindringt, die paradoxerweise nicht stattfinden kann: ein Blick, 61 | Ebd., S. 480. 62 | Moore, Sturge Thomas: Albert Durer, Whitefish: Kessinger 2004. 63 | Lambotte, Marie Claude: Esthétique de la mélancolie, Paris: Aubier 1984, S. 16 f.; eigene Übersetzung. 64 | Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, Berlin: Rogner & Bernhard 1977, S. 217. 65 | Acedia, abgeleitet vom griechischen akèdia, bezeichnet den Überdruss gegenüber anderen und sich selbst, ein Übel, an dem die Wüstenväter, die Anachoreten des 1. frühchristlichen Jahrhunderts, litten. 66 | Clair, Jean: »La mélancolie à l’œuvre«, in: ders. (Hg.): Mélancolie. Génie et Folie en Occident. Connaissance des Arts Heft Hors-série, 2005, S. 14-21, hier S. 18; eigene Übersetzung.

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der leer bleibt, ein Blick, der mit dem Tod konfrontiert ist. Wenn meine Existenz dem Anderen Schaden bringt, dann verliert sich mein Blick in einer unlösbaren Aporie, in einer unerträglichen Erwartung. Es gibt keinen Bezugspunkt, keine Orientierung für das Begehren, weder auf sich selbst noch auf den Anderen hin: Die Melancholie stellt die Unmöglichkeit des Selbst, zu leben, dar. Aber sie findet einen Ausdruck in der Kunst, die uns erlaubt, an Wunschregungen teilzunehmen, die uns nicht mehr zugänglich sind. Die Psychoanalyse bringt zu Gehör, dass »das Ich nicht Herr im eigenen Haus«67 sei, eine narzisstische »empfindlichste Kränkung«68, laut Freud, ›ein neurotisches Elend‹. Die Depression als zeitgenössische Form der Melancholie, als verzweifeltes, angstvolles Leiden, betont unsere Unvollkommenheiten, unsere Trostlosigkeit, die durch die Schranken von Schuld oder Scham nicht mehr zugänglich für die Verarbeitung sind. Der Selbstmord ist der offenkundigste und schmerzhafteste Ausdruck der Ausweglosigkeit von Melancholie, denn es besteht laut Freud die Gefahr, dass die Liebesbeziehung entweder in die Regression oder unter dem Einfluss des Ambivalenzkonflikts in Sadismus mündet. »Erst dieser Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmordneigung, durch welche die Melancholie so interessant und so gefährlich wird.«69 Nach Lacan ist der Selbstmord der einzige Akt, der ohne Scheitern gelingen kann, da er nicht im Nachhinein erläutert werden kann: Er löscht die Möglichkeit einer Sinnfindung aus und lässt das Subjekt in der Meinung, nichts zu wissen. Die hier erwähnte analytische Arbeit mit der Patientin Schwabski (vgl. das Kapitel unter B.2.2) zeugt davon, wie ihre Suche nach einem Sinn in ihrem Leben in die suizidale Melancholie mündet. Das ist etwas, das im Nachhinein einen Sinn ergeben kann, nämlich die tiefste Bedeutung einer misslungenen Mutter-Kind-Beziehung, welche von Trauer gekennzeichnet ist, wie die Tragödie van Goghs zeigt.

1.4.2 Vincent van Gogh Am 27. Juli 1890 geht Vincent van Gogh in die Felder, einen Revolver in der Hand, und schießt sich eine Kugel in die Brust. Aber er bleibt dort nicht im Todeskampf liegen, er wankt zur Herberge, wo er Hilfe finden könnte. Er tötet sich, um endlich leben zu können, um der Ambivalenz der Selbst-Entwertung zu entkommen. Blanchot schreibt: »Man will sich irgendwie selbst töten, damit die Zukunft keine Geheimnisse mehr hat, damit sie hell und einsehbar 67 | Vgl. Freud: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte, S. 273-284, hier S. 284. 68 | Ebd. 69 | Vgl. Freud: Trauer und Melancholie, S. 205.

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ist und nicht länger der düstere Hort des unverständlichen Todes. Der Selbstmord ist so gesehen nicht die Hinnahme des Todes, sondern eher seine Ausschaltung als Zukunft.« 70 Der Melancholiker tötet sich nicht, weil das Leben zu schwer zu ertragen ist, sondern mit der Absicht, der inneren Verurteilung zu entgehen. Er tötet sich nicht, indem er ein melancholisches Schicksal erleidet, sondern um der Bedeutung zu entfliehen, die er dem Signifikanten gibt, die er von dem Anderen erhalten hat und die er erfahren hat: Nichts, Nullheit, Unrat, Abfall oder Ersatz etc. Mit dem Selbstmord versucht der Melancholiker einen Ausweg aus dem inneren Sein, das ihn bedroht, er versucht, eine Existenz zu erringen. Die Wurzel der Melancholie van Goghs ist nach Gugnon der Tod als einzige Zukunft. Er wurde genau ein Jahr nach dem Tod seines älteren Bruders Vincent geboren, der im Alter von sechs Wochen am 30. März 1852 starb. Der Geburtstag des Malers ist der 30. März 1853, und an seinem Geburtstag geht er Jahr für Jahr mit seinen Eltern zum Friedhof, um vor einem Grabstein zu verharren, auf den der Name seines Bruders eingraviert ist, der auch sein eigener ist. Dazu meint Gugnon: »Wie soll man neben einer Mutter aufwachsen, die nicht um ein Kind trauern kann, sodass für sie der vorzeitige Tod des nachgeborenen Kindes als dessen einzig mögliches Schicksal vorgegeben ist?« 71 Am 31. Januar 1890 wird ein weiterer kleiner Vincent van Gogh geboren. Theo, der Bruder des Malers, hat seinem eigenen Sohn den Namen seines Bruders, aber auch seines älteren verstorbenen Bruders und seines Onkels gegeben. In seinen Briefen an Theo nennt Vincent van Gogh den künftigen Vincent niemals bei seinem Namen, sondern nennt ihn den ›Kleinen‹, und wenige Monate nach der Geburt dieses ›Kleinen‹ verübt Vincent Selbstmord, als gäbe es keinen eigenen Platz für einen neuen Menschen und als wäre seine Aufgabe als ›Ersatzkind‹ erfüllt. Depression ist ein immenses Thema. Depression ist Nein denken, Nein fühlen, Nein sagen, Nein agieren. Die Depression beruht auf dem Empfinden, völlig unfähig für die Leistung der Trauerarbeit 72 zu sein, für die Arbeit, dar70 | Blanchot, Maurice: L’espace littéraire, Paris: Gallimard 1955, S. 127: »[O]n veut en quelque sorte se tuer pour que l’avenir soit sans secret, pour le rendre clair et lisible, pour qu’il cesse d’être l’obscure réserve de la mort indéchiffrable. Le suicide en cela n’est pas ce qui accueille la mort, il est plutôt ce qui voudrait la supprimer comme future, lui ôter cette part d’avenir qui est comme son essence.« Eigene Übersetzung. 71 | Gugnon, Annabelle. »Guérir la mélancolie«, in: Clair, Jean (Hg.): Mélancolie. Génie et Folie en Occident. Connaissance des Arts Heft hors-série, Paris: Société Française de Promotion Artistique 2005, S. 40-44, hier S. 40; eigene Übersetzung. 72 | Vgl. Knörer, Ekkehard: »Vampirismus-Vorlesungen. Untote, wohin man blickt«, in: die tageszeitung vom 15.04.2008: »Freud sagt: Um zu trauern, müssen wir von dem, was gestorben ist, radikal Abschied nehmen, sonst bleiben wir ihm unglücklich verhaf-

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über nachzudenken, worin mein psychischer Schmerz besteht. Die weibliche Depression und Trauer verweisen Verlust und Verwundbarkeit in die nächste Generation. Abbildung 7  Vincent van Gogh: »L’homme est en mer« (1889)

Dieses melancholische Drama zeigt, dass eine Mutter nicht trauern kann und einen Propfen, ein Notkind erzeugt, wobei Vincent eine katastrophale Lösung für seine Mutter wird. Es zeigt auch, wie ein schwerer Verlust für die Mutter sich bei ihrem Kind in eine schwere Depression mit Selbstmordversuchen verwandelt. Der Begriff eines bedrohten Gleichgewichts oder einer chronischen Fragilität ist abhängig von der Struktur. Die depressive Dekompensation beim Kind ist eine unheilvolle Mobilisierung der Bestandteile eines bedrohten psychischen Gleichgewichts bei der Mutter. Eine Neurose dekompensiert im Laufe ihrer Geschichte in Form einer Krise, wobei die ungelösten intrapsychischen Konflikte wieder aktiviert werden. Die Dekompensationen paranoider Persönlichkeiten oder von Borderlinepersönlichkeiten geschehen auf psychotische Weise. Die Frage lautet dann für uns, welche Konsequenzen für die jüngste Generation eine als depressiv anerkannte Mutter auf die Entwicklung der Kinder tet. Der Name für dieses Verhaftetbleiben ist eben ›Melancholie‹. Um trauern zu können, muss man das töten, was tot ist.«

1.  Grundlage der Reflexion über die PPD

hat, für deren Erziehung sie verantwortlich ist. Man übersieht oft, dass primär die Mutter die leidende Person ist und nicht das Kind, das als Konsequenz in die depressive Position rutscht. Lacan schreibt: »Insofern die Mutter, Ort des Liebesanspruchs, zunächst symbolisiert wird im doppelten Register der Gegenwart und der Abwesenheit, insofern es sich fügt, dass sie in der Lage ist, den Aufbruch der Dialektik auszulösen, lässt sie dasjenige zum Symbol ihrer Liebe werden, wovon das Subjekt real beraubt [privé; Anm. d. Übers.] wird, die Brust zum Beispiel.« 73

In Hinblick auf die Problematik depressiver Mütter verweist der psychoanalytische Ansatz auf die Ursache von Depression.

73 | Lacan, Jacques: »Hamlet. VII. Phallophanie«, Vorlesung vom 29.04.1959, übers. von Michael Turnheim, in: Wo es war 2, Heft 3-4, 1987, S. 32-45, hier S. 40; Original: »Phallophanies«, in: ders.: Le séminaire, livre 6. Le désir et son interprétation. 19581959, redigiert von Jacques-Alain Miller, Paris: La Martinière 2013, S. 401-419.

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2. Transgenerationale Weitergabe: eine Transmission von Generation zu Generation »Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblößtes Geheimnis.« F riedrich N ietzsche 1

Wenn man die ›Depressiven‹ betrachtet als Kinder und Enkel depressiver Mütter, d. h. als Kinder einer Mutter, die nach einem Bild des Vaters sucht, der in der Vergangenheit nicht anwesend war, und gleichzeitig auch als Kind eines Vaters, der seine Frau mit dem Einverständnis seiner Mutter aussucht, mit der Konsequenz der infantilisierenden Bindung an diese Mutter, dann versteht man den Weg dieser Kinder. Mit der Weitergabe von Werten, Glaubensinhalten, Normen und Äußerungen an die nächste Generation wird ein familiärer Mythos geschaffen, der schicksalhafte Erfahrungen bündelt, der über eine Weitergabe auf all das verweist, was bewusst oder unbewusst von einer Generation auf die andere übergehen kann. Über das hinaus, was jeder an die Nachkommen weitervererben möchte, gibt es einen nicht kontrollierten und nicht kontrollierbaren Anteil bei dieser Weitergabe. Man ist sich nicht immer bewusst, was man aus der Vergangenheit und dem Erlebten weitergibt, und kann dies auch nicht immer steuern, da das Erlebte von den nachfolgenden Generationen neu und von jedem unterschiedlich interpretiert werden kann. Die Transmission bringt eine Veränderung der Weitergabe durch den Familienmythos mit sich. Die herausragende Arbeit von

1 | Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Band 2: Also sprach Zarathustra. Von den Taranteln [1883], hg. von Karl Schlechta, München: Hanser 1954, S. 356.

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Prud’homme2 über die Rolle der Weitergabe von Traumata innerhalb der Familie soll als Leitfaden dienen. Diese Weitergabe ist für die Zukunft eines jeden mitbestimmend. Die transgenerationalen Schwierigkeiten, die uns zur Psychoanalyse vorgelegt werden, beweisen dies. So kann über die Dekonstruktion der mit der Weitergabe verbundenen Begriffe nachverfolgt werden, wie die Frauen, deren Lebensweg und deren psychische Dynamik wir untersuchen, funktionieren, auch wenn die meisten Gebärenden nicht unter schwerwiegenden psychotischen Dekompensationen leiden. Im Hinblick auf das Transgenerationale ist das Auftreten der Depression mit einer konflikthaften Mutterschaft schon immer da. In ihrer Studie beschreibt Teuber die verschiedenen Risikofaktoren für die weibliche Depression, »sowie eine intergenerationale Depressionstradierung depressiver Verhaltensweisen von Müttern an Töchter als die zentralen Faktoren im Gender Gap der Depression.«3 Durch die Struktur ihres Wahns, der an alle Frauen weitergegeben werden kann, erfahren wir, welches einzigartige Begehren diese Frauen beseelt und beschäftigt. Jede Einzelne hat eine besondere Geschichte, die von dieser Spaltung zwischen Realität und Imaginärem zeugt, die für jede konstitutiv, d. h. schon immer da ist. Aus diesem Grund macht die Depression Angst: Sie zeigt das Objekt des Begehrens, das dem Mangel ähnelt, aber nur als blasse Kopie. Die Situation ist paradox: Ich begehre etwas, weil es mir selbst ähnlich ist; werde ich aber mit dieser Ähnlichkeit konfrontiert, bedroht sie mich; ich wechsle vom Subjekt zum Objekt und zurück. Die Weitergabe bedingt das Wechseln zwischen diesen verschiedenen Positionen des Objekts oder des Subjekts einer Mutter, das von dem mütterlichen Wahnsinn abhängt, den diese Frauen selbst erlitten haben und über den sie nicht sprechen können. Das Geheimnis und das Schweigen, in das sich die Frau während ihrer Schwangerschaft hüllt, zeugen von ihrer Angst, die Angst verbirgt das Begehren, die Angst verweist auf das Begehren. Wird eine Schwangerschaft verleugnet – wie in meinem folgenden Fall beschrieben –, so stellt sich die Frage nach der von der Mutter dieser Tochter nicht gewünschten Schwangerschaft, wenn Angst und Überforderung in eine Sackgasse führen.

2 | Vgl. Prud’homme, Virginie: Infanticide: Une actualisation conjugale de problématiques. Problématique de mort d’enfants. Analyse du parcours de vie des femmes. Dissertation der Université Rennes 2, Rennes Ed. 2012. 3 | Teuber: Das Geschlecht der Depression, S. 78.

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2.1 E ine verdr ängte S chwangerschaf t : inzestuelle V ater -Tochter -B eziehung Die 25-jährige Patientin A. kommt mit folgender Indikation zur Therapie: »Aufgrund der präpartalen Konfliktsituation und der postpartalen Problematik mit psychischer Erkrankung und Klinikaufenthalt, wegen massiver psychosomatischer Beschwerdesymptomatik, ist eine Psychotherapie dringend erforderlich.« In der Praxis erscheint eine große, schlanke Frau, die sehr mitgenommen aussieht. Sie ist blass und provokant gekleidet, mit Minirock und flotter Frisur. Sie ist wenige Wochen zuvor Mutter eines Mädchens geworden und wisse derzeit noch nicht, wer der Vater sei. Dies werde aber momentan mithilfe des Jugendamtes ermittelt. Aber es ist spürbar, dass die Unwissenheit einhergeht mit Ängsten und der Sorge um die Zukunft. Sie befürchtet, enttäuscht zu werden und zu scheitern, ähnlich, wie es schon in vorherigen Beziehungsversuchen der Fall gewesen sei. A. hat die Schwangerschaft sechs Monate lang verdrängt, hatte sogar in der Zeit viele kurze und rein sexuelle Beziehungen zu Männern gehabt, und fühlt sich schuldig, weil ihre Tochter mit Alkoholentzugserscheinungen zur Welt kam. Wegen ihres Alkoholkonsums weiß sie gar nicht mehr, mit wem sie tatsächlich Geschlechtsverkehr hatte oder auch nicht. Scham ist aber nicht wirklich spürbar, was mich zu einem anderen Erklärungsversuch führt als dem, dass die Schwangerschaft Folge eines zufälligen Abenteuers sei. Die junge Frau erzählt dann, wie die Beziehung zu ihrem Vater sehr intensiv und innig ist, obwohl er als Soldat oft in Krisengebiete fliegen muss. Er ist derjenige, der – als sie Kind und Jugendliche war – öfter mal ein Auge zugedrückt und mehr erlaubt hat als die Mutter. Die Position des Vaters brachte es mit sich, dass die Familie oft umziehen musste in fremde Länder, wo seine Frau die Sprache nicht beherrschte und deshalb nicht arbeiten konnte. Dadurch wurde sie deprimiert und niedergeschlagen. Nach der Geburt des ersten Sohnes wollte sie keine Kinder mehr haben. Trotzdem ist sie zweieinhalb Jahre später mit der Patientin schwanger geworden. Die Patientin erzählt mit viel Gefühl und einer sehr sanften Stimme von der Familiengeschichte. Der einzige und zehn Jahre jüngere Bruder des Vaters ist vor sechs Jahren im Alter von 34 Jahren an Leukämie gestorben. Das war zu Weihnachten. Er war ihr Patenonkel. Sie selbst war gerade 18 Jahre alt. Weinend berichtet sie, wie unerträglich die Trauer des Vaters für sie war. Er ist für sie derjenige, der am meisten in der Familie leidet. Sie dachte nur daran, wie sie dem Vater wieder das Lebensglück zurückbringen konnte, aber sie hatte keine Lösung. Sie wusste nicht

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wie. Während ihres Studiums fing sie dann an zu trinken und zu spielen und hegte heftig ablehnende Gefühle gegen ihre Mutter. Die Patientin hat nach mehreren Abbrüchen einen Studienabschluss erreicht, auch eine Arbeit aufgenommen und wohnt jetzt 200 Kilometer entfernt von ihren Eltern. Den ausschweifenden Lebenswandel hat sie beibehalten. In der Zeit, als A. – von ihr selbst unbemerkt – schwanger geworden war, hat sich ihr Verhalten den Eltern gegenüber verändert. Sie hat sich zurückgezogen. Die sehr sensible Mutter hat trotzdem gespürt, dass es ihrer Tochter nicht gut ging, sie hat deren Rückzug respektiert, aber sie doch gebeten, kurz vor Weihnachten nach Hause zu kommen. Die Patientin erzählt, dass ihre Mutter sie mit Feingefühl darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie möglicherweise schwanger ist. In Tränen aufgelöst, habe sie dies bejaht. Ein Termin bei einem Gynäkologen wurde vereinbart, und mit viel Erfahrung bestätigte der weise alte Mann die Schwangerschaft und fand für diese junge Mutter die richtigen Worte, die sie nicht vergessen hat: »Wie herrlich, ein wunderbares Kind so kurze Zeit vor Weihnachten – Überraschung und Geschenk zugleich! Jetzt müssen wir seine Ankunft vorbereiten, und dem Baby gestatten, seinen Platz einzunehmen. Es hat sich in eine Ecke der Gebärmutter zurückgezogen, um nicht zu stören. Jetzt, nachdem wir es begrüßt haben, hat es das Recht zu leben.«

In den sechs folgenden Wochen wuchs das Baby zusehends. Das Kind wurde dann per Kaiserschnitt geboren. Sie erzählt, wie ihr Vater sich mit Engelsgeduld mit der Enkeltochter beschäftige, er spricht mit ihr, singt und hat, laut seiner Tochter, seine Lebensfreude zurückgefunden. Die frühe ödipale Irritation hat ihre unbewusste Wirkung gezeigt, indem die junge Frau mit Grenzüberschreitungen gegen ihre Mutter und mit höherem Alkoholkonsum reagiert hat, aber auch mit Angst vor einer wahrhaftigen Beziehung, gefangen in einem Loyalitätskonflikt ihrem Vater gegenüber. So blieb ihr nur, rein sexuelle Kontakte zu pflegen, um ihm die Treue zu bewahren und ihm ein Kind zu schenken. Die Patientin A. hat für die Restaurierung der väterlichen Lebensfreude ihre eigene Weiblichkeit geopfert und die mütterliche Funktion der Mutter – ein Kind geben zu wollen – übernommen. Ihr Vater ist in eine Vaterrolle gekommen, indem er sich auf seine depressive Tochter stützt und dabei das Generationschaos genießt: Sie ist Mutter einer Tochter geworden, die für seinen Bruder steht, und ist als imaginäre Partnerin ihres Vaters bestätigt. Die Patientin drückt eine immense und unmögliche Liebe für ihren Vater aus. Die

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verdrängte Schwangerschaft ist nachträglich der Schauplatz einer verbotenen, nicht triangulierten ödipalen Liebe. Sie ist in der transgenerationalen ödipalen Ablösung stecken geblieben. Sie ist Inbegriff einer missbrauchten Tochter, ohne mit ihrem Vater geschlafen zu haben. Das ist das Drama der ungelösten Vater-Tochter-Beziehung in Bezug auf die Mutterschaft. Die ödipale Entwicklung mit der Verdrängung der Liebeswunsches, vom Vater ein Kind zu haben, taucht als imaginäre Besetzung auf, und das inzestuelle Kind wird real und als erstes Kind dem Vater gewidmet. Aus dieser Konstellation heraus muss sie depressiv werden, wenn sie die unbewusste Angst vor der Rache der Mutter versteht und die Mutter gleichzeitig idealisiert: Meine Mutter hat mir doch geholfen. In der 18 Monate andauernden Analyse ist es der Patientin gelungen, die ödipale Verstrickung zu lösen, sodass sie sowohl ihre berufliche Arbeit als auch die Sorge für ihre Tochter ohne die früheren Exzesse schafft. A. hofft weiterhin, dass der Vater ihrer Tochter gefunden werden kann.

2.2 Tr ansmission oder W eitergabe ? »W ir müssen uns an die Z ukunf t erinnern .« 4 »Nach und nach [durch die Therapie; CM] war es mir möglich, mit meinen Eltern und meiner Großmutter Frieden zu schließen. Mir wurde bewusst, dass sie mich wahrscheinlich nicht anders erziehen konnten. Das, was diese Generation erlebt, erduldet und gesehen hat, konnten sie nicht verarbeiten. Der Krieg, die Geschehnisse in dieser Zeit, die Last und die Entbehrungen, die Ängste und Sorgen, die Erwartungen, alles hing wie ein Damoklesschwert über ihrem Leben.« 5

Wie funktioniert die transgenerationale Transmission6 negativer Kindheitserinnerungen, und was hat sie für Konsequenzen? Was ist die Bedeutung der Regression der Libido in der Depression? Ist es eine Trauerarbeit und welches 4 | Aragon, Louis: Strophes pour se souvenir. Le roman inachevé, Paris: Gallimard 1956: »Il faut se souvenir de l’avenir.« Eigene Übersetzung. 5 | Frau Schwabski, siehe Unterkapitel unter B.2.2. 6 | Leuzinger-Bohleber, Marianne: »Psychoanalytische Erkundungen zu Depression und Hyperaktivität«, in: Psychoanalyse Aktuell. Online-Zeitung der DPV, http://www. psychoanalyse-aktuell.de/artikel/detail/news/psychoanalytische-erkundungen-zudepression-und-hyperaktivitaet /  v om 01.01.2008: »Analytiker und Analysand versuchen gemeinsam, die Symptome zu entschlüsseln, die den Depressiven mit ungelösten Konflikten seiner Vergangenheit verbinden und unbewusst sein Denken, Fühlen und Handeln mitbestimmen.« Und weiter schreibt Leuzinger-Bohleber: »Diese Transmission der Traumatisierung zu durchbrechen, bedeutet, die Ursachen anamnestisch zu er-

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Gewicht hat die psychische transgenerationale Weitergabe auf das, was nicht gesagt und nicht getan werden kann? Das Leben unserer Patienten, unser Leben, vergeht, indem es flüchtige und dunkle Spuren hinterlässt. Die Transmission ist das, was die Beinahe-Toten den Lebenden vererben, die kleinen Dinge, zu denen sich die manchmal langen Leben reduzieren. Die Spuren, die Transmission, das Erbe werden den Hinterbliebenen von den Ahnen als schreckliche und schmerzhafte Enigmen auferlegt, die es zu lösen gilt. Die psychoanalytische Forschung folgt zunächst dem Modell der Traumdeutung und befasst sich daher vorrangig mit dem Unerwarteten und dem Ungewöhnlichen. Am signifikantesten ist immer eine Geste der Überraschung, die eine andere Szene wachruft, die ebenso das Leiden der Patientin in ihrer eigenen Geschichte beleuchtet wie die sie bestimmende Struktur. Dabei läuft man immer Gefahr, auf Unerwartetes zu stoßen. Jede Geburt erzählt eine generationenübergreifende Geschichte, deren Abschluss sie bildet, und jede damit zusammenhängende psychische Manifestation zeigt, als wie schwer dieses Erbe empfunden wird. Daher erscheint eine postpartale Dekompensation wie ein verzerrter Versuch zu verstehen, zu deformieren, um eine schwierige, unmögliche oder konfliktbeladene vererbte Identität neu zu bilden. Der Bericht, die Erzählung von einer Geburt, verweist auf eine familiäre Tradition, die von der Wieder-Geburt der jungen Mutter deformiert wurde, der zuzuhören unsere Aufgabe ist, wobei wir unsere ganze Aufmerksamkeit als Psychoanalytiker auf eine Reihe von auch banalen Ereignissen konzentrieren müssen, die in Zeit und Raum sehr weit vom Hier und Jetzt entfernt sind. Wer ist Vater oder Mutter oder das Kind von …? Neben dem, was wir als bewusste Weitergabe wahrnehmen, gibt es die unbewusste, von früheren Generationen nicht gewollte und nicht kontrollierte Weitergabe. Dieser Begriff ist noch neu, und es wurde oft angenommen, dass Verschweigen und Geheimhaltung die nachfolgenden Generationen vor dem bewahren könnte, was geschehen ist. Mit den verschiedenen Forschungsarbeiten über die tragischen und pathologisierenden Konsequenzen des Verschweigens und der Geheimhaltung wurde der verhängnisvolle Aspekt dieser Weitergaben von Tabus und Familiengeheimnissen auf die nachfolgenden Generationen erkannt. Reddemanns7 Forschung über eine transgenerationale Weitergabe im Kontext des Holocausts zeigt, dass das traumatische Unverarbeitete auf unerledigte Weise weitergegeben und tiefe Spuren im individuellen wie kollektiven Gedächtnis hinterlassen forschen, das Symptom und dessen Träger zu identifizieren, zu ›entschlüsseln‹«. Zugriff am 12.09.2015. 7 | Vgl. Reddemann, Luise: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie, Stuttgart: Klett-Cotta 2015.

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wird. Scham, Schuldgefühle, Ohnmacht genau wie Todesangst sind die Begleiterscheinungen dieses Traumas, sind aber auch die Triebfeder zu schweigen. Nur eine tiefgreifende Behandlung hat die Chance, die unbewussten Anteile zu eruieren, zu entziffern, um die transgenerationale Weitergabe der Störung zu durchbrechen. Sonst vertiefen sich die Spuren des Traumas weiter und kehren als Symptome wieder, wie Angst, Suizid oder Infantizid, Phantasmen, imaginäre Inhalte mit Halluzinationen. Das Schweigen ist pathogen, erinnert uns Eliacheff: »Die Erfahrung zeigt, dass das Schweigen […] wenn man, unter dem Vorwand, eine perverse Identifikation oder einen ›Traumatismus‹ zu vermeiden, nichts sagt, […] nicht nur unwirksam in der Realität ist, sondern pathogen für die Individuen über mehrere Generationen.« 8 In diesem Kontext befassen sich die Forscher mit unterschiedlichen Fragen. Es geht dabei zum einen um die psychischen Komponenten der Weitergabe. Es geht aber auch um die Frage, aufgrund welcher Prozesse es bei bestimmten Ereignissen nicht zu einer Eintragung bzw. einer psychischen Repräsentation von einer Generation zur anderen kommt. Dieser Begriff der psychischen Weitergabe erinnert zunächst an die freudsche Theorie des Über-Ich, die von der Introjektion des Über-Ich der Eltern durch das Kind ausgeht. Introjektion heißt, dass ein Individuum Objekte und ihre inhärenten Eigenschaften von außen nach innen aufnimmt, verinnerlicht. Die Introjektion steht in enger Beziehung zur Identifikation, die auf einen psychischen Prozess verweist, bei dem ein Individuum einen Aspekt, eine Eigenschaft, ein Attribut des Anderen assimiliert und sich ganz oder teilweise nach dem Modell des Anderen formt. Aus Sicht der Eltern soll die Introjektion dagegen die Sozialisierung des Kindes bewirken, die gleichzeitig das Streben danach umfassen soll, sich in der Vergangenheit zu verankern, den Wunsch, eine Familienerinnerung weiterzugeben, und – durch eine Strategie, mit der die soziale Zukunft des Kindes vorbereitet werden soll – den Ausdruck einer Projektion in die Zukunft. Dies bedeutet, dass es ohne eine solche Weitergabe zum Phantasma kommt, zum familiären Mythos ohne Absicht und ohne Worte. Gibt es in der Geschichte dieser Frauen, die ›sich in Schwierigkeiten‹ befinden, eine explizite Übermittlung oder vollzieht sich jede Weitergabe unbewusst, aus dem Ungesagten heraus? Und wenn Worte gesprochen werden, von wem werden sie vorgebracht? Wer gestattet die Transmission von Werten, von

8 | Eliacheff, Caroline: A corps et à cris. Etre psychanalyste avec les tout-petits, Paris: Odile Jacob 1993, S. 71; »L’expérience montre que lorsqu’on n’a rien dit, sous prétexte d’éviter une identification perverse ou un ›traumatisme‹, ce silence est non seulement inefficace dans la réalité mais pathogène pour les individus sur plusieurs générations.« Eigene Übersetzung.

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Geschichte? Wenn wir – wie Gaillard 9 – davon ausgehen, dass einer der Schlüssel zum Verständnis unserer Problematik in der Weitergabe zwischen den Generationen liegt, dann muss diese Frage nach der expliziten Weitergabe gestellt werden. Wir müssen die unbewussten Prozesse, die dieser Weitergabe zugrunde liegen, hinterfragen, um zu erkennen, was auf dem Spiel steht. Die unbewusste psychische Weitergabe überfordert und überrascht die Betroffenen und lässt sich nicht von ihnen kontrollieren. Sie hinterlässt eine Leere, die vom Subjekt nur schwer ausgelotet werden kann und mit der wir uns unbedingt befassen sollen, um unsere Problematik zu erhellen: Um diese Weitergabe geht es in der Krankheitslehre, und diese Frage kann nicht mit epidemiologischen oder experimentellen Untersuchungen angegangen werden. Weitergabe, Abstammungs- und Familienbeziehungen, Eltern-Kind-Bindungen, familiärer Mythos – das sind die Begriffe und Konzepte, die die Frage der Bindung innerhalb eines mehr oder weniger weitgespannten Familiensystems neu aufwerfen. Danach fragen, was die Individuen untereinander eint und trennt, und sich erkundigen nach der rechtlichen Anerkennung einer biologischen oder rein affektiven Beziehung, erlaubt zu verstehen, was gesagt wird, besonders wenn die Aussagen wort- und sprachlos sind. Die Sinnleere, die Leere des Bauches, die leeren Augen und der blinde Spiegel: Die psychoanalytische Arbeit setzt dort an, wo von Generation zu Generation die Geschichte einer Familie, die keine Worte findet, dem Phantasma und dem Wahnsinn Platz macht. Kein Individuum entsteht aus sich selbst, und der Mensch ist nie der Erste einer Reihe. »Setzen sich die psychischen Prozesse der einen Generation nicht auf die nächste fort, müßte jede ihre Einstellung zum Leben neu erwerben, so gäbe es auf diesem Gebiet keinen Fortschritt und so gut wie keine Entwicklung.«10 Nach dem von Freud erwähnten Mythos der Söhne ist der Mensch ein Wesen der Antwort, bevor er ein Wesen des Wortes wird. Das Individuum bildet sich als Antwort auf eine Sprachstruktur, die vor ihm besteht, die ihn aufruft, ihn benennt, ihn erkennt und ihm eine subjektive Identität verleiht. Es ist die Sprache, die dem Menschen seinen Platz in einer Rangfolge zuweist, denn jeder ist verantwortlich für das, was bereits da ist. Folglich bedeutet ›Sohn von …‹ oder ›Tochter von …‹ zu sein, einen Platz in einer Folge von Ge9 | Gaillard, Georges. »De la répétition traumatique à la mise en pensée: le travail psychique des professionnels dans les institutions de soin et de travail social«, in: Revue de psychothérapie psychanalytique de groupe 42, Heft 1, 2004, S. 151164. 10 | Freud, Sigmund: »Totem und Tabu« [1913], in: ders.: Studienausgabe. Band 9, 2000, S. 287-444, hier S. 440 f.

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nerationen einzunehmen, ohne sich selbst erschaffen zu haben. Um im Leben zu stehen und »um zur Wirksamkeit zu erwachen«11, ist dennoch jeder Mensch gefordert, etwas zu erreichen, um seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden. Freud zitiert Goethe: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen.«12 In diesem Sinne erscheint die Mutterschaft als Überlieferung, die die Weitergabe innerhalb der Generationenreihe sichert. Die Mutter hat von ihrer eigenen Mutter ein Erbe empfangen, das sie selbst an ihre eigenen Kinder weitergibt, besonders an ihre Töchter mit der Auflage, dass diese ihrerseits das empfangene Geschenk in sich selbst entwickeln lassen, auch wenn es manchmal ein vergiftetes Geschenk sein kann. Man erinnere sich an die Definitionen von Gift (Gift / Geschenk) nach dem Anthropologen Mauss13. Mutterwerden ist ein langer Weg, um einen seit der Kindheit erschaffenen und dann vernachlässigten giftigen Schatz wiederzufinden: Die Mutter ist ein Geheimnis der Kindheit.

Gerda Schwabski oder eine chronifizierte postpartale Depression Der Fall ist ein ungewöhnliches Zeugnis einer Frau, in relativ reifem Alter (60 Jahre), die in psychoanalytische Behandlung kam, weil die akuten depressiven Phasen der chronifizierten postpartalen Depression sehr schnell aufeinanderfolgten. Ihren Sohn hat sie mit 22 Jahren bekommen. Die Therapie hat mit einer zweijährigen Unterbrechung insgesamt sechs Jahre gedauert. Auf Anregung der Psychoanalytikerin hat die Frau ein Tagebuch über die Familiengeschichte und ihr eigenes Leben geschrieben. In der folgenden Falldarstellung sind viele Passagen daraus übernommen. Ich werde mich darauf konzentrieren, was ich für wesentlich in der Entstehung und im Fortschreiten der Depression halte. In der Anfangszeit der Therapie beginnen die Stunden mit der Beschreibung ihrer Kindheit, ihren Erlebnissen und ihrer emotionalen Verfassung. Ich werde ihre Darstellung wenig kommentieren, um die Authentizität ihres Berichts zu bewahren. Außerdem ist ihr Tagebuch eine Aussage über die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg und die psychische Verfassung der Flüchtigen. 40 Jahre lang litt die Patientin unter schmerzhaften und destruktiven Episoden eines vergifteten Lebens. Sie kam verzweifelt und suizidgefährdet zu mir, hoffnungslos und völlig resigniert.

11 | Ebd. 12 | Goethe, Johann Wolfgang: Faust, 1. Teil, 1. Szene, zitiert nach ebd. 13 | Marcel Mauss, 1872-1950. Vgl. ders.: Die Gabe.

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Der erste Eindruck von ihr war eine Frau, die jünger wirkt, als ihr Alter vermuten lässt, sehr gepflegt, altmodisch, doch sorgfältig gekleidet, dezent geschminkt und sehr bemüht, ihr Leid verständlich darzulegen.

Selbstanklage Heute ist der 6. Oktober 2012. Ich versuche meine Gefühle aufzuschreiben. Ausgebrannt – leer – innerlich tot. Hoffnungslos – hilflos – allein. Ich habe versagt, mein Leben hat keinen Sinn, ich habe Todeswünsche. In meinem Leben habe ich alles falsch gemacht. Für mich ist das Schlimmste, dass ich das Leben meines Mannes ebenfalls zerstört habe. So ein Leben mit mir hat er nicht verdient. Meine Schuldgefühle erdrücken mich, ich kann nicht mehr atmen. Ich will einfach nur noch einschlafen und nicht mehr aufwachen. Meine Psyche ist krank und ich sehe keinen Ausweg mehr. In meinem Leben bin ich immer vor Problemen ausgewichen, hab alles den Anderen überlassen. Ich wollte nie erwachsen sein. Jetzt bin ich 61 Jahre und zahle einen hohen Preis dafür. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich kann die Schuld in meinem Leben nicht auf Andere schieben. Ich selbst habe mein Leben zerstört, weil ich nie erwachsen werden wollte oder durfte!?

Lebenslauf, Geschichte, Erinnerung Ich, Gerda Schwabski, verheiratet, wurde 1951 als drittes Kind in Kroatien geboren. Meine Mutter brachte sechs Kinder zur Welt, wovon zwei Kinder vor meiner Geburt starben und zwei Kinder nach meiner Geburt nicht überlebten. Danach wurde mein Bruder Hartmut 1965 geboren. Beide – hier sinngemäß erfundene – Vornamen der Kinder Gerda und Hartmut deuten auf die Härte hin, die die Familie auf ihrem tränenreichen Lebensweg erleben musste, von der Vertreibung der Eltern und Großmutter, den Früh- und Totgeburten der Kinder, bis zur Geburt des Sohnes und dem Erwachsenwerden. Das erste Kind war eine Totgeburt, dann ein Frühgeborenes, das nicht überlebt hat, das vierte Kind ist bei der Geburt im Fruchtwasser erstickt, das fünfte Kind wurde durch die Nabelschnur erdrosselt. Die Patientin hat es gesehen, und es ist ihr noch sehr präsent in der Erinnerung, dass das fünfte Kind ganz blau aufgebahrt in einem weißen Sarg in der Segenshalle lag. Als Sechstes wurde der Bruder geboren.

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Meine Eltern waren »Donauschwaben«. Als ich drei Jahre alt war, mussten meine Eltern mit mir und meiner Oma ms. aus ihrer Heimat Serbien fliehen. Sie mussten alles zurücklassen, denn Deutsche, »Schwabski«, waren nicht mehr geduldet. So kamen wir ca. 1954 / 1955 nach Ulm in ein Durchgangs­ lager, das Sedanlager, ein Auffanglager für Flüchtlinge. Doch nach ca. einem Jahr bekamen meine Eltern eine Wohnung in V. Oma gehörte ganz selbstverständlich zur Familie, und ich teilte mit ihr eine Schlafstelle, ein Bett. 1958 wurde ich eingeschult. In der ersten Klasse tat ich mich mit der Rechtschreibung und dem Rechnen etwas schwer. Meine Eltern waren beide berufstätig. Hausaufgaben machte ich mit Oma. Wenn ich nicht gleich kapierte, wurde ich ausgeschimpft. In der Innenstadt in V. hatte ich wenige Freunde, und mit Jungen spielt ja ein Mädchen nicht, sagte Oma. Im Alter von sechs, sieben Jahren verspürte ich zeitweise einen Druck auf den Ohren und meistens ereignete sich danach etwas Unangenehmes. Es war wie eine Art Vorahnung. Es gab entweder Streit zwischen meinen Eltern, oder Vater kam spät nach Hause. Da hatte ich Angst, ihm wäre etwas passiert. Auch so einen Druck verspürte ich, als meine Mutter mit ihrem fünften Kind schwanger war und in die Klinik musste. Mein Vater und meine Oma wurden ins Krankenhaus gerufen. Es war das vierte Baby, das nicht überlebte. Ab und zu hörte ich auch eine Stimme etwas Negatives sagen, z. B.: »Du brauchst Deine Eltern nicht! Die sind sowieso nicht für Dich da!« Ich hielt mir darauf die Ohren zu. Als ich dies meiner Oma erzählte, war ihre einzige Erwiderung: »Ach – was!«. Sie schenkte mir keine weitere Beachtung. Eine Zeit lang habe ich immer wieder meine Nase gerümpft: »Warum tust du das?«, wurde ich gefragt. Doch ich wusste es nicht, eine Marotte? Im Kindergarten und auch später in der Schule ging ich jedem Streit aus dem Weg. Ich hatte Angst, von den Anderen Schläge zu erhalten. Einmal kaufte ich mir für zehn Pfennige Bonbons, ließ mir aber alle von einem anderen Kind wegnehmen, ohne etwas zu sagen oder mich zu wehren. Dann gab es Phasen, wo ich mich für alles Mögliche, was ich tat, entschuldigte. Ich dachte, ich hätte jemandem wehgetan, z. B. mit dem Fuß unter dem Tisch gestoßen. Oder meiner Freundin den Schuhriemen zu fest zugebunden. Das fiel irgendwann meinem Vater auf, und er fragte mich, was das soll und ob ich auffallen wolle. In dieser Kindheit muss irgendetwas in mir vorgegangen sein, ich kann es mir nicht erklären. Ich hatte nie etwas gefragt oder wenn, bekam ich keine Antwort. Oft drohte mir meine Großmutter: Wenn ich dies oder das anstellen würde, dann bekäme ich Schläge. Ich kann mich zwar nicht erinnern,

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Schläge bekommen zu haben, aber allein die Drohung, Schläge zu erhalten, machte mir Angst. Ich kann mich nur an eine Ohrfeige von meinem Vater erinnern. Ich wollte nicht sofort meine Spielsachen aufräumen, daraufhin schlug er mich ins Gesicht. So lauteten oft ihre Drohungen: »Gerda, ich schlag Dich ins Gesicht!« Meinem Vater tat die Ohrfeige leid, es ist ihm wohl die Hand ausgerutscht, trotzdem hatte ich Nasenbluten. Ich denke heute, es war für ihn schlimmer, mich bluten zu sehen, doch für mich war es gar nicht so schlimm. Vor allem, Liebesentzug zu erhalten, so meinte ich. Beim Spielen musste ich immer leise sein. Leise in der Wohnung, leise im Hof, da wir in einer Mietswohnung wohnten und diese sich über einem Elektro-Einzelhandel befand. Ich konnte weder in der Wohnung noch unten mit dem Ball spielen, es waren ja Geschäfts- und Büroräume im Haus, und mein Spiel könnte Lärm machen und stören. Auch hatte ich keinen Roller oder ein Fahrrad, es hätte mir ja was passieren können. Irgendwann wurde ich ins Ballett geschickt. Viermal pro Woche ging ich zur Ballettstunde, da war ich etwa sieben Jahre alt. Ich glaube, meine Eltern schickten mich nur, damit sie mit ihrer Tochter angeben konnten. Denn ab und zu musste ich vor Verwandten und Bekannten etwas vorführen und wurde dann fleißig geknipst. Bei einer Tanzveranstaltung in der Donauhalle wollte mein Vater mit mir vor vielen fremden Menschen tanzen. Doch ich traute mich nicht – bei der Heimfahrt wurde ich darauf mit Nichtachtung bestraft. Das habe ich bis heute nicht vergessen. 1962 zogen wir in unser neues Heim, ein Reiheneckhaus. Die Ballettschule durfte ich darauf hin nicht mehr besuchen, da ich im Winter erst bei Dunkelheit heimgekommen wäre. Ich war talentiert, und die Ballettlehrerin hatte sich angeboten, mich nach jeder Stunde zum Bus zu bringen, trotzdem wurde es nicht mehr erlaubt. Mein neues Zimmer im eigenen Haus war der Traum meiner Mutter. Und so wurde es eingerichtet. Total ungemütlich, unwohnlich, aber protzig. Ein Himmelbett, das zu schmal war, Schrank, Nachttisch, Spiegelvitrine und davor ein Bärenfell. Schaukelstuhl, Bettumrandungen, geraffte Vorhänge. Halt einfach ein Zimmer zum Vorzeigen, aber nicht zum Bewohnen. Denn kein Tisch, an dem ich meine Hausaufgaben hätte machen können, kein Stuhl und auch keine Heizung befanden sich in ›meinem‹ Zimmer. So hatte ich natürlich auch keinen eigenen Raum, in den ich mich hätte zurückziehen können, um ab und zu mit Freundinnen zusammen zu sein. Nur im Esszimmer, unter der Aufsicht meiner Großmutter oder meiner Eltern. Selbst das Wohnzimmer war tabu, dort hielt man sich nur an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern auf oder wenn Besuch kam, um ebenfalls wieder anzugeben. Hauptsache, meine Mutter hatte ein Mädchenzimmer,

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wahrscheinlich ein eigener nie erfüllter Mädchentraum, zum Vorzeigen, wie schön ihre Tochter doch wohne. Mit elf Jahren bekam ich meine erste Regelblutung. Eine Aufklärung, was in mir vorging, bekam ich aber nicht. Von der Schule erhielten wir einmal ein kleines Aufklärungsheftchen, das mir meine Mutter aushändigte. Das war meine Aufklärung mit dem Hinweis, mich nicht mit Männern einzulassen. 1965 wurde mein Bruder geboren. Er war das sechste Kind meiner Mutter. Der Altersunterschied zu mir betrug 14 Jahre. Ich hatte mir immer Geschwister gewünscht. Ich freute mich sehr und war nie eifersüchtig. Im Gegenteil, ich hatte ihn später für sein Naturell bewundert. Er hatte zwar die gleichen Eltern und auch die gleiche Oma, aber jetzt schon etwas älter. Im Gegensatz zu mir hatte er sehr oft Schläge erhalten, da er ein unruhiges Kind war und sich absolut nichts gefallen ließ. Heute steht er seinen Mann und hat folglich keine Probleme, so wie die, die mich schon so lange plagen. Die Schläge der Großmutter nahm er hin, da unsere Eltern immer noch berufstätig waren. Mit 18 Jahren zog er dann aus und wohnte mit seiner Freundin zusammen. Er hat tatsächlich das Abnabeln geschafft, und das war für seine Entwicklung nur gut. Mein schulischer Ablauf war normal. D. h., nach der vierten Klasse stand die Entscheidung Haupt- oder Realschule. Da ich aber vor jeder Klassenarbeit oder Prüfung eine Heidenangst hatte, ich also damals schon keinerlei Selbstvertrauen besaß, mich auch niemand irgendwie förderte, blieb ich auf der Hauptschule. Die anfänglichen Schwierigkeiten hatten sich wesentlich verbessert. Ich wurde mit jedem Schuljahr besser und schloss dann die neunte Klasse als Schulbeste ab. Nun stand die Frage im Raum, was für einen Beruf erlerne ich? Ich wäre gerne Fotolaborantin geworden. Beim Arbeitsamt, heute Bundesanstalt für Arbeit, rieten sie mir davon ab. Aber ich wollte einen Beruf, der sich mit Chemie befasste. Meine Mutter und die Beraterin des Amtes suchten für mich den Lehrberuf ›Drogistin‹ heraus. Nach drei Lehrjahren, von 1966 bis 1969, schloss ich dann meine Lehre zur Drogistin als Zweitbeste ab. Doch auch vor dieser Abschlussprüfung hatte ich panische Angst. Ich glaubte fest, die Prüfungen insgesamt nicht bestanden zu haben. Vor lauter Angst bekam ich einen Heulkrampf und wie heute, wenn ich vor einer Herausforderung stehe, glaubte ich fest daran: »Das schaffe ich nie, oder da bin ich bestimmt durchgefallen.« Nach einem Beschäftigungsjahr bei meiner Lehrfirma wechselte ich auf Anordnung meines Elternhauses 1970 den Arbeitgeber. Mein Vater leitete alles in die Wege. Meine Meinung war nicht maßgebend, denn die neue Arbeitsstelle war zu Fuß nur acht Minuten entfernt von zu Hause. Ich konnte also prima morgens, mittags und abends zu Hause sein, immer im Schoß der Familie

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Vorher jedoch, bei meiner Lehrfirma, musste ich öfters in der Filiale auswärts aushelfen bzw. die dortige Angestellte vertreten. Das stieg meinem Vater zu Kopf, denn plötzlich war ich vor Anderen die Filialleiterin. Er wollte einfach nur angeben. Einmal erzählte er das einem Bekannten, in meinem Beisein – wie peinlich! Bei meinem neuen Arbeitgeber hatte ich einen Geschäftsschlüssel, dort war ich dann die Abteilungsleiterin. Oft war ich alleine im Geschäft, wenn Chef und Chefin unterwegs waren, um neue Mode einzukaufen, oder auch im Urlaub. Dann hatte ich die Verantwortung für das Geschäft und alles, was damit verbunden war.Das hieß dann, von April bis Dezember 1980, besuchte ich die Kosmetikfachschule von P. in NV. Es war eine Fachschule für Berufstätige, die jeden Samstag von morgens bis abends stattfand. Es war aber in der Tat Pech, dass wir dort unsere Ausbildung erhielten. Die Ausbildung sagte mir von Anfang an nicht zu, da viel zu wenig ausgebildet wurde. Und so berichtete ich sehr wenig meiner Chefin oder so gut wie nichts über diese Schule, denn Chefin und die Tochter hatten eine (exzellente) Ausbildung an einer bekannten Kosmetikfachschule in Stuttgart erhalten, die sie sich natürlich leisten konnten. Ich, für meinen Teil, war da natürlich minderbemittelt und nur zweitklassig ausgebildet. Dann, nach bestandener Prüfung, spendierte ich eine Flasche Sekt im Geschäft. Dabei meinte meine Chefin sehr schnippisch: »So, erfährt man auch mal was von Ihnen!« Ebenfalls nachteilig waren meine immer wiederkehrenden Depressionen, die mich seit 1974 plagten (siehe unten). Diese machten mich natürlich nicht sehr gesprächig, und eine regelrechte Eiszeit brach zwischen der Chefin und mir an. Das belastete meine Psyche wahnsinnig stark, da ich doch gar keine Unstimmigkeiten brauchen konnte. Ich konnte mich nicht wehren, ich brauchte doch ein gutes Verhältnis und wollte geliebt werden. Das machte mir auch körperlich sehr zu schaffen. Ich nahm immer mehr ab, und bald brachte ich nur noch 45 Kilogramm auf die Waage. Meine Depressionen wurden häufiger, und so kam ich im Mai 1988 in eine Psychosomatische Kurklinik. Als ich im August wieder zu Hause war, begann auch der Druck wieder, und so war die nächste Depression nicht mehr fern. Ich dümpelte die nächsten Wochen so vor mich hin, bis dann im Oktober mein Vater plötzlich verstarb. Da verstärkte sich meine Depressionsneigung, und meine damalige psychiatrische Unterstützung sah keine andere Lösung, als mich ins psychiatrische Krankenhaus einweisen zu lassen. Dort wurde ich dann kurz vor Weihnachten entlassen. Bis zur Geschäftsaufgabe 1998, beide Chefs waren im Rentenalter angelangt, war ich 28 Jahre bei dieser Firma. Und obwohl mich meine Chefin in all den

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Jahren oft gedemütigt und bevormundet hatte, ich von ihr kommandiert wurde und sie so richtig gemein und herrschsüchtig war, blieb ich all die Jahre der Firma treu, warum – ich weiß es nicht.

Das war Schule und Beruf; jetzt folgt das richtige Leben Als ich 1966 meinen zukünftigen Mann kennenlernte, war ich gerade mal 14 ½ Jahre alt. Er war aber bereits 18 Jahre. Meine Freundinnen, ungefähr im selben Alter, hatten alle schon einen Freund. Zu dieser Zeit ging ich öfters mit aus, kam mir aber immer als fünftes Rad am Wagen vor. Jetzt aber war ich gleichgestellt. Ich traf mich immer heimlich mit ihm, mein Vater durfte davon nichts wissen. Als wir uns im gleichen Jahr, zu Fronleichnam, kennenlernten, war meine Mutter dabei. Es gab da eine kleine Tanzveranstaltung, bei der ich und eine Freundin bedienten. Mein Freund hatte mich gesehen und zum Tanzen aufgefordert. Nicht nur einmal, es waren mehrere Tänze, und meine Mutter, die mit einer Tante als Anstandswauwau dabei war, konnte das beobachten. Doch auch sie wusste nicht, dass wir uns trafen, weil ich nichts erzählte. Irgendwann aber sprach ich doch von meinem Vorhaben, mich mit ihm am Samstag treffen zu wollen. Mein Vater war auf einen Schlag sauer und eifersüchtig. Was er sonst nie tat, ich musste mit ihm am Samstagnachmittag ins Kino gehen, als sogenannter Ausgleich. Ich sprach die ganze Zeit kein Wort mit ihm. Also trafen wir uns wieder heimlich. Jeden Abend nach der Arbeit hatten wir einen Treffpunkt am damaligen Berliner Platz ausgemacht. Ich ließ immer zwei, drei Busse zwischen Straßenbahn und Omnibus wegfahren, ehe ich dann doch in den Bus einstieg und nach Hause fahren musste. Das fiel überhaupt nicht auf. Im September des gleichen Jahres besuchte ich mit meinen Eltern eine Tanzveranstaltung. Mein Freund wusste davon. Plötzlich war er da. Er stand an der Eingangstür. Ich riss mich von meinem Tanzpartner los und rannte zu ihm. So sah mein Vater das erste Mal meinen Freund. Wir tanzten natürlich miteinander. Vater, der an diesem Abend ziemlich locker war, lud ihn zu einem »Nikolaschka« ein. Am darauffolgenden Tag, am Sonntag, durfte er dann das erste Mal zu mir nach Hause kommen. Das war für ihn der Beginn einer schweren Zeit. Mein Vater war furchtbar eifersüchtig und ließ ihn spüren, dass er das Sagen über mich hatte. Frauen gegenüber hatte mein Vater oft ein Casanova-Getue. Er küsste jede Frau, die er kannte. Sein Machogehabe und seine Angebereien verachtete ich. Ich bezweifele auch, ob er meiner Mutter immer treu war, aber das nur nebenbei. Er war immer der große Held. Auch war er nur ein Bürokrat. Für

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häusliche oder handwerkliche Dinge war er nicht zu gebrauchen. Was hat sich weiterhin unvergesslich in meinem Herzen verankert? Ich habe es nie bemerkt, vielleicht wollte ich es auch nicht: Meine Eltern, meine Tante und sogar die Cousine meiner Mutter, zu der ich Tante sagte, alle vier ließen mich nie aus den Augen. Sie beeinflussten und kontrollierten mein Verhalten dermaßen, dass ich nie etwas tat, das ich eigentlich selbst wollte. Sie haben mich regelrecht, jeder für sich, vereinnahmt. Ich musste immer funktionieren und war die Vorzeigepuppe, wie eine echte Puppe, die angezogen, gekämmt und dann in eine Glasvitrine gesetzt wird. Bei Bedarf wird sie hervorgeholt, jeder darf sie mal auf den Arm nehmen und dann ist gut. Wehrte ich mich einmal oder wollte etwas, das gegen ihre Vorstellungen oder ihre Empfindungen ging, erpressten sie mich. Erpressen auf die Art, dass sie z. B. sagten: »Wenn du das oder das nicht tust, was wir sagen, dann darf dein Freund nicht mehr kommen.« Natürlich wollte ich ihn sehen und nicht verlieren und machte darum immer alles brav, um alle diese Personen friedlich zu stimmen. Ich kam gar nicht auf die Idee, mit ihm darüber zu sprechen, ihn um Verständnis zu bitten und gemeinsam mit ihm einen Kampf zu führen, der uns mehr Freiheit gegeben hätte. So befolgte ich brav alles, was mir gesagt und aufgetragen wurde. Ausgehen unter der Woche, vielleicht mal ins Kino oder mal im Sommer in einen Biergarten, eine Eisdiele oder sonst wo hin, kam überhaupt nicht in Frage. Unter der Woche geht man nicht aus, das war die Meinung meiner Oma, das galt für alle. Daher sahen wir uns weiterhin wie zuvor, jeden Tag zwar, aber immer nur wenige Minuten an der Bushaltestelle. Samstag und Sonntag durfte ich anfangs maximal bis 20:00 Uhr wegbleiben. Als ich dann etwas älter wurde, wurde die Frist auf 22:00 Uhr, maximal einmal im Monat und manchmal vielleicht, je nach Veranstaltung, auf 23:00 bis 24:00 Uhr verlängert. Aber jedes Mal musste ich mich wieder brav bei meiner Mutter zurückmelden, auch wenn sie selber schon zu Bett gegangen war. Ab und zu führten wir meinen kleinen Bruder im Kinderwagen aus, nur um beieinander zu sein. Wenn ich sonntags in der Küche mithelfen wollte, hieß es: »Geh raus, für drei Personen ist hier kein Platz«, oder: »Geh weg, das kannst du doch nicht«. Folglich hatte ich nie die Gelegenheit, das Kochen zu erlernen. Unter der Woche, von Montag bis Samstag, war ich ja in der Schule bzw. später dann bei der Arbeit. In der ersten Zeit, als mein Freund zu mir kommen durfte, waren meine Eltern öfters im ersten Stock, in einem als Wohnraum eingerichteten Zimmer. Wir hörten Musik, unterhielten uns, schmusten auch hin und wieder. Plötzlich stand aber die Mutter in der Tür, sie kam mit der fadenscheinigen Frage, ob wir vielleicht etwas bräuchten und ob es uns gut gehe. Zwei- bis dreimal

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war auch eine Freundin mit ihrem Freund anwesend. Dann tanzten wir die Einzel- und Gruppentänze der damaligen Zeit. Es waren nette Nachmittage, überhaupt nicht bedenklich. Doch dann hieß es irgendwann, wir bräuchten nicht mehr nach oben gehen, wir dürften uns jetzt im Kreis der Familie aufhalten, im Esszimmer mit dem Rest der Familie. Begründet mit der Behauptung, man kann nicht auch noch zusätzlich dieses Zimmer heizen. Das zettelte meine Großmutter an. Sie war der ›Boss‹, was sie als richtig oder falsch bezeichnete, das wurde gemacht. So saßen wir dann inmitten des Familienclans und hatten uns unterzuordnen, also nicht rühren und nicht mucksen. Die Abende liefen ab mit Fernsehen und ohne Gespräche. Schweigend verliefen die Abende, die Familie hatte alles unter Kontrolle. Wenn wir uns dann gegen halb zehn voneinander verabschiedeten, länger durfte er kaum bleiben, hatten wir wenigstens einige Minuten, die wir schmusen und uns gegenseitig fühlen konnten. An der Tür waren wir vielleicht zehn Minuten allein, dann kam schon die keifende Stimme meiner Großmutter: »Gerda rein, jetzt ist Schluss!!« (wortwörtlich), oh, wie hasste ich diese Stimme. Mein Freund konnte manchmal mitfahren zu »lieben Verwandten« oder »Bekanntschaften aus der alten Heimat«. Er hatte bereits den Führerschein, und da mein Vater dem Alkohol nicht abgeneigt war, stand bei Bedarf ein Ersatzfahrer zur Verfügung, dafür war er wieder gut. Doch bei allen anderen Begebenheiten ließ er ihn spüren, dass er sein größter Rivale war. Ein Beispiel: Eine Hochzeit in Rottweil. Nach einem Brauch beim Brauttanz, bei dem die Braut ihren Brautstrauß nach dem Tanz in die Runde der Brautführerpaare wirft, fing ich diesen, und der Brauch besagt, dass dieses Brautführerpaar als Nächstes heiraten wird. Wir tanzten also vergnügt, es war ja ein Spaß und hatte nichts mit Realität zu tun. Trotzdem kam wie ein Löwe mein Vater auf uns zu, riss mich von ihm und sagte zu ihm, er solle verschwinden – »Hau ab!« Dafür tanzte er mit mir weiter. Ich war betroffen und schämte mich zutiefst. Mein Freund ging nach draußen und weinte bitterlich. Eine solche Demütigung, vor allen Gästen. Er wollte mit dem Zug nach Hause fahren. Ein Bekannter tröstete ihn und darauf hin blieb er. Eine Situation, die wir beide nie mehr vergessen konnten. Ich war nicht in der Lage zu reagieren. Auch hier hatte ich Angst, wenn ich etwas tu, dann darf ich ihn nicht mehr sehen. Er tat mir unendlich leid. Etliche Demütigungen seitens meines stolzen Vaters musste er sich gefallen lassen. Weiterhin blieben uns nur die kurzen Wochenendnachmittage, ganz wenige Stunden für unser Zusammensein. Doch endlich war es möglich, auch mal allein zu sein.

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Die Familie ließ uns nie aus den Augen. Wir kannten uns bereits eineinhalb Jahre und hatten uns mittlerweile sehr lieb, trotz der Steine, die uns immer wieder in den Weg gelegt wurden. Ich war nun gerade 16 Jahre alt geworden, und mein Freund versuchte seit geraumer Zeit, bei mir nicht nur Händchen zu halten. Ich war unsicher, weil er schon über eine längere Zeit mit einer Freundin vor mir zusammen gewesen war. Ich glaubte nicht und gab seinem Drängen nach. Wir hatten darauf den ersten sexuellen Kontakt. Mir war sehr unwohl dabei. Aber vor lauter Angst, ich könnte ihn verlieren, ließ ich es zu. Ja – Hauptsache kein Kind – da vertraute ich meinem Freund. Ich nämlich hatte überhaupt keinerlei Kenntnisse von diesen Dingen, außer dem kleinen Aufklärungsbuch aus der Schule. Ich hatte es zwar gelesen, aber nicht viel davon verstanden. Vielmehr hatte ich Angst davor, dass man uns erwischt, dass es meine Leute erfahren und vor einer eventuellen Schwangerschaft. Wie dieses erste Mal, konnte ich auch die weiteren heimlichen Stunden nicht genießen. Ich hatte etwas getan, das mir verboten war. Tag und Nacht erinnerte mich mein Gewissen daran. Obwohl wir verhüteten, war ich nie sicher, ob nicht doch etwas passierte. So verging die Zeit und ich wurde endlich 18 Jahre alt, doch immer noch nicht volljährig. Das wurde man damals erst mit 21. L. und ich wussten, dass wir zusammen bleiben. Drei Jahre waren wir mittlerweile zusammen und ganz sicher, wir passen zueinander und werden eines Tages heiraten. So kam der Wunsch auf, sich zu verloben. Das war etwa gegen Ende 1969, Anfang 1970. Doch wieder mussten wir eine große Demütigung hinnehmen. Von allen drei Personen in meinem Elternhaus: Mein eifersüchtiger Vater, meine Mutter, die eigentlich auch nichts zu sagen hatte, und natürlich von Oma, dem großen Haustyrannen, alle lachten uns förmlich aus. »Was, ihr wollt euch verloben? Verloben tut man sich kurz vor einer Hochzeit, man geht nicht lange als ewige Braut und im Moment seid ihr noch viel zu jung. Ende und Basta!« L. war damals schon über 22 Jahre alt und kein Kind mehr. In ihm brodelte es, aber für mich nahm er auch diese Demütigung wieder hin. Dann verging wieder einige Zeit. Ich hatte meine Stelle gewechselt und arbeitete nun ganz in der Nähe meines Elternhauses. Früher durften wir uns offiziell unter der Woche nicht sehen, doch wir hatten ja die täglichen Minuten an der Bushaltestelle. Jetzt arbeitete ich keine fünf Gehminuten von zu Hause weg. Trotzdem gelang es, dass wir uns immer für kurze Zeit sehen konnten. Das war unter der Woche. Am Samstag, nach der Arbeit und dem Mittagessen, musste ich immer meiner Mutter helfen, das Haus von oben bis

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unten zu putzen. Das ging schon seit Jahren so, das war Tradition. Jedes Mal eine Tortur, mir brannte die Zeit unter den Nägeln, ich wollte unbedingt zu L. Wieder vergingen zwei Jahre. Ich war mittlerweile 20 Jahre alt, L. war 24. Im Frühjahr konnten wir uns endlich verloben, da wir noch im selben Jahr heiraten wollten, was wir dann auch am 28. Juli 1972 verwirklichten. Der große Familienrat hatte diesmal nichts dagegen. Wieder wurde ich aus allem ausgeschlossen. Schon einige Zeit vorher schloss mein Vater einen Bausparvertrag für mich ab, ohne dass ich in irgendwelcher Form darüber informiert wurde. Alle meine persönlichen Unterlagen waren ja in serbokroatischer Sprache erstellt, Geburtsurkunde, Stammurkunde, Taufurkunde, Unterlagen der Eltern usw. Auch hier war meine Mitwirkung nicht erwünscht. Mein Vater, eingebildet und auf seine Persönlichkeit fixiert, nahm alles in seine Hände, wie Übersetzungen, Zusammenstellungen, Aufgebotsbestellung, alles machte er alleine. Ich wusste nicht einmal, welche Papiere und Unterlagen überhaupt notwendig waren. Ich brauchte nichts wissen. Er war der ›Boss‹. Er hatte alles im Griff. Heiraten – das wollte ja nur ich. Er wollte verheiraten, glänzen. Typisch war auch die Wohnungssuche. Wenigstens das hatten sie eingesehen. Da mein kleiner Bruder ein Nachzügler und nicht geplant war, gab es natürlich jetzt Platzprobleme. So machten wir, L. und ich, uns auf die Suche. Ohne Eltern, doch mit deren Zustimmung. Es war natürlich nicht alles genehm. Es musste vor allem auch den drei Patriarchen gefallen. Endlich hatten wir etwas Passendes gefunden. Eine Vier-Zimmer-Wohnung im Haus eines für uns schon älteren Ehepaars, beide um die 50 Jahre. Sie selber waren uns sympathisch und hatten keine Kinder. So bekamen wir die Wohnung, die für meine Eltern nicht so weit entfernt war. Da unser Hochzeitstermin festgelegt war, mieteten wir ab April die Wohnung und fingen dann mit den Renovierungsarbeiten an. Selbstverständlich unter der fachlichen Anleitung meiner Mutter. Alles wollte sie beeinflussen. Bis zur Hochzeit waren wir praktisch nie allein. Wir waren ja nur die ›Kinder‹, und ich hatte ja sowieso keine Ahnung, deshalb war ihre Führung und Leitung notwendig. Selbst die Hochzeit war eine einzige Tortur. Einladungen waren praktisch Sache der drei Diktatoren. Hochzeitsgäste, Hochzeitsmahl, Hochzeitsablauf, Einladungskarten, Tischkarten waren Sache der Drei. Sie bestimmten alles, sie wollten alles dirigieren. Wir hatten das Gefühl, wir heiraten nicht selbst, eigentlich sind es meine Eltern, die uns verheiraten. Wir mussten einfach nur stillhalten. Endlich war die standesamtliche Trauung. Die Krokodilstränen meines Vaters rührten eher zum Mitleid, er verlor ja seine Tochter – das war traurig. Anschließend war er wieder der Macho.

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Am Abend löste sich die Feier langsam auf, der nächste Tag war ja der Haupttag. Die kirchliche Trauung und das Hochzeitsfest mussten ja gebührend gefeiert werden. Also gingen die meisten Gäste, und auch mein L. wurde um 22:00 Uhr regelrecht verabschiedet. Die vorletzte Gemeinheit meines Vaters. Es muss ihm unheimlich gut getan haben, dass er mich sozusagen noch mal von meinem L. trennen konnte. Der nächste Tag begann dann typisch. Dann noch mal ein kleiner Schock: Mein neues Kleid vom Vortag, der standesamtlichen Hochzeit, hatte plötzlich eine entfernte Verwandte aus Jugoslawien an. Ohne mich zu fragen oder nur zu verständigen, hatte meine Mutter dies entschieden, da die Arme ja kein eigenes passendes Kleid zur Hochzeit hatte. Die Hochzeitsfeier verlief ziemlich normal und es war eigentlich eine schöne Feier. Als dann die Rechnung zu zahlen war, gab es noch mal eine Gemeinheit meines Vaters. Ja, eine Kleinigkeit kommt noch hinzu, als die Feier zu Ende war und wir im Begriff waren, zur eigenen Wohnung zu fahren, sagte mein Vater zu uns, wir könnten unmöglich irgendwohin fahren. Also eine Reise sei unmöglich, da ja noch einige Gäste anwesend waren, die erst am Sonntag bzw. Montag abreisten. Leider waren wir so dumm, so grenzenlos naiv, dieser Aufforderung nachzukommen. Daher standen wir am nächsten Tag wieder auf Platte, rechtzeitig zum Mittagessen. Wir hatten uns schnell eingelebt und kamen mit dem älteren Ehepaar gut aus. Nach und nach mussten wir leider feststellen, wir waren ihnen so sympathisch, dass sie uns als ihre Ersatzkinder betrachteten. Zumindest Herr B., unser Vermieter, wurde immer mehr zu einer Nervensäge. Das, was wir mit den Eltern vermeiden wollten, dass wir zu jeder Tages- und Nachtzeit mit ihnen zusammen waren, wollte er einführen und uns bevormunden. So mussten wir auch hier aufpassen, dass wir nicht vereinnahmt wurden. L.s Eltern ließen uns einigermaßen in Ruhe, dass lag wahrscheinlich an seiner Stiefmutter, die ein nicht so gutes Verhältnis zuließ. Doch meine Eltern machten uns große Probleme. Wir wohnten viel zu nahe bei ihnen, dadurch waren sie ständig präsent. Laufend standen sie mit irgendwelchen Besuchern da, teils mit Menschen, die wir gar nicht kannten. Dann erfolgte jedes Mal und ungefragt ein obligatorischer Rundgang durch die Wohnung, als ob ein Museum besichtigt würde. Dazu die ständigen Aufforderungen, sonntags zum Essen zu ihnen zu kommen, natürlich mit Kaffee und Abendessen. Die ersten beiden Jahre unserer Ehe waren ziemlich turbulent. L. war damals als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Als wir heirateten, diente er in V. in der Kaserne. Doch im Januar 1973 wurde seine Einheit nach K. verlegt, und er musste leider mit. Er kam zwar fast jedes Wochenende nach Hause und auch fast jeden Mittwochabend, die übrige Zeit war ich, weil berufstätig und ohne Auto, sozusagen wieder bei meinen Eltern.

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Am Anfang wurden seine Heimfahrten durch die Bundeswehr übernommen, aber irgendwann wurde er aufgefordert, in K. eine Wohnung zu nehmen, da die Heimfahrten nicht mehr bezahlt würden. Er fand auch bald eine geeignete Wohnung, doch das mit dem Umzug wurde für mich zum Albtraum. Als ich meinen Eltern davon erzählte, war keine gute Stimmung mehr. »Was, ihr wollt nach K. umziehen? Ja, bist du denn noch gescheit? Was willst du dort? Da kennst du doch niemand, hier hast du deine Arbeit. Hier sind deine Eltern, dein Elternhaus. Das kannst du doch nicht machen!« Ich war nicht fähig, zu meinem Mann zu halten. Wie Raubkatzen hatten sie sich an mir festgekrallt. Wieder eine Enttäuschung mehr. L. brachte eine wahnsinnige Geduld auf, das hätte nicht jeder mitgemacht. Seit ich denken kann, gab ich immer meinen Eltern nach. L. machte viele Kompromisse, immer, um den Frieden zu bewahren, weil ich ihn darum bat. Ich habe vor lauter Naivität nicht gemerkt, wie ich von meiner Familie eingeengt und beherrscht wurde. Vielleicht wäre mir schon viel früher ein Licht aufgegangen, wie stark meine Bindung zu meinem Elternhaus war und wie klein dagegen die Bindung zu meinem Mann. Vielleicht wäre mir so manche Depression erspart geblieben, wenn ich zu meinem Mann gehalten hätte. Jeden Tag waren die Bindung zum Elternhaus und die Beeinflussung durch Oma, Mama und auch Papa spürbar. Wäsche waschen wurde von Oma übernommen. Bügeln wurde von Oma übernommen. Einkauf im Großhandel, der Arbeitsstelle von meinem Vater, wurde durch ihn erledigt. Alle Angelegenheiten, die eigentlich intern waren, waren oft Gesprächsthema und überall haben sie sich eingemischt. L. fuhr morgens früh zur Arbeit und setzte mich bei meinen Eltern ab. Da war es noch viel zu früh für meine Arbeit. Es waren dann Oma und mein Bruder zu Hause. Die beiden Eltern waren da schon bei der Arbeit. Auch mittags war ich zum Essen bei Oma. Also jeden Tag und manchmal auch am Abend, wenn L. später kam, war ich im Elternhaus. Ständig unter der Fuchtel, ständig wurde ich beeinflusst. Ich versuchte immer zu schlichten. Ich versuchte, es immer allen recht zu machen. Ich konnte mich nicht von meinen Eltern lösen und hatte immer noch nicht erkannt, wie abhängig ich mich von meinen Eltern gemacht hatte.

Kinder wunsch Nach einer gewissen Zeit kam in uns dann der Wunsch nach einem Kind auf. Besser gesagt, der Wunsch kam von meinem L., obgleich wir ausgemacht hatten, in den ersten fünf Jahren kein Kind ›anzuschaffen‹. Doch wieder gab ich nach. Es hat auch bald geklappt, ich wurde schwanger. Die Schwangerschaft selbst war total unkompliziert. Und auch ich habe mich dann auf unser Kind gefreut. Allerdings war mir zu diesem Zeitpunkt keinesfalls bewusst, was

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auf mich zukommt. Noch freute ich mich. Wieder, diesmal war es mein Vater, der einen Wermutstropfen einbrachte. Im Frühjahr 1974 musste er sich einer Herzoperation unterziehen. Nach der OP in Erlangen wurde er zur weiteren Behandlung nach V. verlegt, und dort besuchten wir ihn und eröffneten ihm diese, für uns freudige Nachricht meiner Schwangerschaft. Seine Erwiderung war: »Müsst ihr mich jetzt schon, mit 48 Jahren zum Großvater machen?« Aufgrund seiner Herzoperation kam mein Vater in Frührente und in Verbindung mit seinem Kriegseinsatz war er darauf 100 Prozent arbeitsunfähig. Er starb 1988, trinkend und rauchend.

Brief an Papa Papa, für Dich war ich immer das Gerdalein! Auch als ich verheiratet war. Warum habt Ihr mich immer als Kind behandelt? Auf einer anderen Seite hast Du aus mir immer mehr gemacht, als ich sein wollte. Deine Übertreibungen, Deine Angebereien konnte ich nicht mehr ausstehen. Und auch Du hast mir nichts beigebracht. Du hast für mich Bausparverträge abgeschlossen, ohne dass ich dabei war. Du hast dich um meine Heiratsunterlagen gekümmert, ohne mich. Ich wollte eigentlich jedem von Euch einzeln einen Brief schreiben und somit loswerden, was mich belastet, aber oft habt Ihr alle drei auf mich eingedrückt, und ich weiß nicht mehr, wem ich was zuschreiben, anrechnen soll. Ihr habt unsere Hochzeit ausgerichtet und eingeladen, wen Ihr wolltet. Nicht L. und ich waren es, die das Hochzeitsmenü aussuchten, Ihr wart immer bestimmend dabei. Auch unsere ersten Möbel haben wir nicht alleine ausgesucht, Ihr musstet dabei sein. Ihr habt uns praktisch keine Luft zum Atmen gelassen. Selbst unsere Wohnungssuche habt Ihr beeinflusst. Du Papa, hast mir eine andere Arbeitsstelle besorgt, nur damit ich noch näher bei Euch bin. Jeden Tag, morgens, mittags, abends. Später sollten wir jedes Wochenende zum Essen kommen. Wir mussten zulassen, dass Ihr unsere Wohnung den Verwandten und Bekannten vorgeführt habt, wann immer es Euch passte. Ihr habt auf uns gar keine Rücksicht genommen. Ihr habt nur an Euch selbst gedacht. Wir haben auf unsere Hochzeitsreise verzichtet, weil Ihr es so wolltet. Denn es waren ja noch Hochzeitsgäste da – unsere? Nein, es waren nicht unsere, es waren Eure Gäste. Ihr habt Euch in unsere Ehe eingemischt, in einfach alles, was Euch nichts anging. Und Ihr habt es geschafft, mich so an Euch zu binden und nicht mehr loszulassen. Ich war nie frei. Als dann unser Renato auf die Welt kam, hattet Ihr erreicht, was Ihr wolltet. Durch meine Unselbstständigkeit war ich so von Euch abhängig, dass ich nicht einmal wusste, was ich mit meinem Kind anfangen sollte. Anstatt, dass wir drei, L., Renato

2.  Transgenerationale Weitergabe und ich, eine kleine Familie bilden konnten, habt Ihr uns vereinnahmt. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt und mein Leben zerstört. Ihr könnt stolz sein. Ihr habt mich nicht zu einem selbstständigen Menschen erzogen, sondern zu einem armen, abhängigen, heute 60-jährigen Kind, das mit seinem Leben nicht zurechtkommt. Aber einen Triumph, lieber Papa, habe ich trotzdem über Euch. Trotz Deiner großen Eifersucht ist es mir doch gelungen, einmal in meinem Leben etwas zu tun, was mir streng verboten wurde. Mein erster Sex mit L., ich war gerade mal 16 Jahre alt. Ich hätte es Euch damals sagen sollen, aber ich war zu feige dazu. Ihr wärt wie die Hyänen über mich hergefallen, davor hatte ich Angst. Aber wart Ihr damals wirklich so naiv und habt geglaubt, ich sei als Jungfrau in die Ehe gegangen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Diese Angst, einmal Euch nicht die Wahrheit gesagt zu haben, etwas zu tun, was nicht erlaubt war, hat aber dann mein ganzes Liebesleben negativ beeinflusst. Nicht nur das, alles in meinem Leben habt Ihr zerstört mit Eurer Macht – und scheinbaren Affenliebe. Ich konnte meinem Mann und meinem Kind keine echte Liebe schenken, weil Ihr mich ausgesaugt habt – bis aufs Blut. Eure Tochter hat zwei Suizidversuche hinter sich, mit denen ich Euch hätte strafen sollen, nicht meinen Mann und mein Kind. Leider war es viel zu spät. Ihr hättet das erleben sollen, das Produkt Eurer Erziehung. So mussten alles Leid mein L. und Renato ertragen. Lasst mich los, ich habe eine Familie, ich brauch Euch nicht mehr. Ihr habt uns nur Schaden zugefügt.

Die Geburt Doch vorerst waren andere Dinge wichtig. * 1974 kam unser kleiner Renato zur Welt. Es war ein sehr heißer Augusttag, als ich im Sommer 1974 die letzte Kontrolluntersuchung vor der Entbindung in der Frauenklinik in V. hatte. Zu Hause war alles für das Baby vorbereitet. Vom Bettchen bis zur Badewanne, Windeln usw., alles, was man eben so braucht. Mein Einsatzkoffer für die Klinik mit den Erstlingsanziehkleidchen und dem Still-BH war auch griff bereit gepackt. Wir freuten uns sehr auf unser Wunschkind. Es war geplant, und obwohl wir damals noch nicht wussten, was es denn werden sollte, sprachen wir immer über ein Töchterchen. Wir waren uns einig, Nicole sollte es heißen. Nun war es ein Montagmorgen, als der untersuchende Arzt in der Klinik mir sagte, ich müsste hier bleiben, weil eine leichte Blutung sich eingestellt hatte. In kurzen Abständen wurde ich daraufhin immer wieder untersucht. Durch ein medizinisches Gerät konnte man die Wehentätigkeiten überwachen. Der ausgerechnete Geburtstermin lag noch eine Woche später. Nach den Aufzeichnungen des Geräts sollte das Kind aber jeden Moment kommen. Ich spürte weder Wehen noch sonst irgendeinen Schmerz. Der behandelnde Arzt meinte dann, man müsste etwas unternehmen. Mit einem angenehmen Vollbad

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wurde ich auf die Geburt vorbereitet. Nach dem Vollbad und nachdem sich weiter von alleine nichts tat, wurden die Wehen eingeleitet. Jetzt wurde auch mein Mann informiert, dass sich in der Klinik einiges tat. Obwohl ich die Geburt alleine und mithilfe der Hebamme und den Ärzten durchstehen wollte, ich wusste ja nicht, was alles auf mich zukommt und wie ich mich verhalten würde, stand plötzlich mein Mann neben mir. Ich war doch ganz froh, dass er da war. Irgendwann wurde es dann auch ziemlich heftig. Es war bereits später Nachmittag und die Fruchtblase wurde aufgestochen. Scheinbar war es höchste Zeit, denn das Fruchtwasser war schon grünlich verfärbt. Man erklärte uns, man müsse sich nun beeilen, um die Geburt zu beschleunigen. Dazu wurde mir eine Periduralanästhesie vorgeschlagen. Über die Risiken wurden wir fachmännisch aufgeklärt, und auch mein Mann musste seine Zustimmung für diese Geburtsmethode durch seine Unterschrift mit abgeben. Es bestand nämlich die Gefahr, wenn man nicht schnell genug handelt, dass das Baby durch das bereits verfärbte Fruchtwasser eine Vergiftung bekommen könnte. Nach einigen vergeblichen Pressversuchen, bei denen mir mein Mann versucht hat, bei den Press- und Atemtätigkeiten zu helfen, indem er mich von hinten stützte, mit mir atmete und immer gut zuredete, war auch diese Methode nicht erfolgreich. Nun sollte ein Dammschnitt erfolgen, und da das in Richtung OP ging, wurde mein Mann nach draußen geschickt. Mit der Saugglocke wurde mein Baby geholt. Der Kleine war nun endlich da, um 18:20 Uhr, im August 1974 wurde er geboren. Nachdem Mutter und Kind versorgt waren, durfte auch mein Mann seinen Sprössling sehen. Wir waren überglücklich, dass alles relativ gut ging. Doch nun hatte L. Fragen über Fragen, weil ein Arzt gesagt hatte, der Kopf sei zu groß für den Körper. Ob das normal sei, dass das Kind einen so länglichen Kopf hat und ob das so bliebe, ob es sich um eine Behinderung oder eine Missbildung handle. Die Ärzte und die Hebamme konnten ihn beruhigen, in dem sie ihm erklärten, dass die Kopfform sich wieder normalisiere, da der Schädel noch ganz weich und durch die Saugglocke etwas verformt worden sei. Dass es jetzt ein Junge und doch kein Mädchen war, das war uns völlig egal. Hauptsache gesund mit allen Gliedern und Funktionen. Wir waren sehr stolz auf unseren süßen kleinen Renato, der die gleiche Nase hatte wie sein Papa. Renato, der Wiedergeborene für alle totgeborenen oder verstorbenen Kinder der Mutter. Auch der Sohn, der für Gerda ein neues Leben ermöglichen sollte … L. fuhr nun zu meinen Eltern, um das freudige Ereignis zu feiern. Ich durfte mich nach einer schlaflosen Nacht von den Strapazen der Geburt und dem bedeutenden Ereignis erholen.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Eigentlich war es gar nicht so schlimm, wie manche andere Frauen ihre Geburtsschmerzen beschrieben. Natürlich war es unangenehm, als die Betäubung durch die PDA aufhörte, aber es war erträglich. Und am Morgen bekam ich zum ersten Mal mein Baby zum Stillen. Es war ein seltsames, ungewohntes Gefühl. Man zeigte mir, wie man das Kind anlegt, damit es auch genügend Luft beim Trinken bekommt. Es klappte ganz gut, mit Unterstützung der Schwestern, die alle sehr nett waren. Leider war es damalsnoch nicht üblich, dass die Mütter und ihre Säuglinge zusammen im gleichen Zimmer bleiben konnten. Trotzdem ging es mir soweit ganz gut. Ich dachte an meine wundervolle, fast neunmonatige völlig normale und schöne Schwangerschaft zurück, und dabei ging es mir immer besser. Darauf fragte ich vorsichtig beim Stationsarzt an, wann wir beide nach Hause dürften. Nach ca. acht bis zehn Tagen nach der Entbindung war es dann soweit. Es war nun Anfang September, als wir beide aus der Klinik entlassen wurden. Renato kam mit einem Körpergewicht von nur 2560 Gramm und einer Körperlänge von 48 Zentimetern zur Welt. Im Verhältnis zu anderen Babys war er ziemlich zart und klein, obwohl er bereits 200 Gramm zugenommen hatte. Mir wurde eine Liste für die Stillzeiten und das Baby-Untersuchungsheft mitgegeben, und man sagte mir, wann ich die erste Untersuchung beim Kinderarzt durchführen lassen müsse. Ganz zum Schluss wurde mir eröffnet, es muss uns nicht verwundern, wenn unser Baby am Anfang etwas mehr schreit. Es hätte bei der Geburt durch die Saugglocke einen Schlüsselbeinbruch erlitten. Doch das sei weiter nicht schlimm. Die kleinen zarten Knöchelchen würden schon bald von ganz alleine zusammenheilen. Es sei am Anfang besser, wenn ich ihn beim Schlafen auf den Bauch lege, dann würde das den Heilungsprozess beschleunigen. Aber obwohl es wirklich nichts Ernstes war, machte ich mir natürlich Sorgen. Doch nun ging es erst einmal nach Hause. Zu Hause angekommen bekam ich zuerst einmal einen Schock. Meine allwissende und allerliebste Schwägerin nebst Familie standen schon vor der Haustür. In die Wohnung zurückgekehrt, musste ich nun zum ersten Mal selber die Windeln von Renato wechseln. Ich konnte es nicht aufschieben, der Duft aus den Windeln ließ mir keinen Aufschub. Um mich herum nun acht Augen, die Mutter und Baby fokussierten. Ich wurde darauf nervös, kam langsam ins Schwitzen. Doch das erste Windeln ging ganz gut, und unser kleiner Sohn schlief selig ein. Dann ging der erste Besuch – doch der Zweite kam kurz darauf. Papa, Mama, Oma und Tante. Langsam kam die Zeit zum Stillen. Ich sah immer wieder auf die Uhr, denn ich wollte mich ja genau an die Stillzeiten auf meinem mitgebrachten Stillplan halten. Aber unser Renato schlief tief und fest. Seine Uroma sagte mir mit selbstverständlicher Sicherheit: »Lass ihn nur schlafen, wenn er Hunger hat, meldet er sich von ganz allein.«

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

Endlich wachte er auf. Ich legte ihn an die Brust, aber ich war mir einfach nicht sicher, ob er genügend Milch bekommt. So ging es immer weiter. Renato trink doch, Renato trink doch, waren immer wieder meine Worte. Total verunsichert liefen mir dann die Tränen übers Gesicht. Jetzt, auf einmal spürte ich die wirkliche Verantwortung, die ich zu tragen hatte. Mein L. versuchte mir zu helfen, mich zu beruhigen. Dennoch wurde meine Angst langsam panisch. Das übertrug sich auch aufs Schlafen. Obwohl wir ein kleines Kinderzimmer hatten, wollte ich unbedingt, dass der Stubenwagen bei uns im Schlafzimmer stand. Ich selber konnte kaum schlafen. Immer wieder musste ich horchen, ob der Kleine noch atmet oder sich meldet, um gefüttert zu werden. Zum großen Glück war mein Mann die ersten acht Tage zu Hause. Er hatte Urlaub genommen, um mich die ersten Tage zu unterstützen.

Postpartale Depression? Ich hatte davor keine Angst – es war Panik, die mich befiel. Mir war beim Stillen nicht klar, trinkt das Kind oder nuckelt es nur an der Brust. Trink, Renato, trink, mein Schatz. Das waren ständig meine Gedanken und mein Zureden. Dann läutete es. Meine Familie stand vor mir. Ich war in Tränen aufgelöst. Ich war mir so unsicher und habe dann so viel geheult und immer wieder geheult, dass man später von einer Wochenbettdepression ausging. Tag und Nacht lauschte ich am Bettchen, ob unser Kind nach atmet. Schon ein paar Tage später hatte ich keine Muttermilch mehr. Wir mussten auf Fläschchennahrung übergehen. Aber so konnte ich wenigstens kontrollieren, wie viel mein Kind getrunken hatte. Genau nach der Anweisung, dem Ernährungsplan der Klinik, gab ich ihm sein Fläschchen. Doch nach jedem Trinken erbrach er sich und spuckte die Hälfte der aufgenommenen Milch aus. Ich wusste mir keinen Rat und ging zur Kinderärztin. Die beruhigte mich und machte mir klar, dass ich nach diesem Klinikplan nicht füttern sollte. Renato war viel zu klein, um solche Mengen zu trinken. Dafür sollte ich ihm weniger geben, doch öfters am Tag. Das hat dann funktioniert. Die ersten acht Tage nach der Heimkehr hatte L. noch Urlaub. Dann musste er wieder zum Dienst in die Kaserne. Nun stand ich ganz alleine da, mit dem kleinen Würmchen. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich Verantwortung übernehmen, ich wusste nur nicht wie? Mir wurde niemals in meinem Leben irgendeine Aufgabe übertragen, geschweige denn eine Verantwortung. Zu meinem großen Glück kam die ersten vier Wochen nach der Geburt eine alte Hebamme zwei bis drei Mal wöchentlich zu meiner Unterstützung nach Hause. Sie war mir eine große Hilfe und zeigte mir mehrere praktische Dinge.

2.  Transgenerationale Weitergabe

In dem Moment, als sie Mutter wurde, trat eine postpartale Depression auf, die das transgenerationale Trauma reaktivierte: Die Verschleppung des Großvaters mütterlicherseits 1940 in Russland, das Vertriebensein als Banater Schwaben, die verschiedenen Tod- und Frühgeburten der Mutter bis zur Geburt ihres eigenen Sohnes, auf die sie ›nicht vorbereitet‹ war. Mir scheint auch, dass ihre Partnerwahl als Antwort auf eine ödipal ungelöste Konstellation erfolgte, da sie mit 14 Jahre voll in der Pubertät und gleichzeitig imaginäre Mutter ihres Bruders geworden war. Außerdem war die Beziehung zu ihrem Vater von Inzestuellem14 geprägt, und die Integrität ihrer weiblichen Identität durch tiefgehende Verletzungen in der Frauenlinie nicht gewährleistet. Trotz allem hatte ich weiterhin die Depression, die im September 1974 begann. Weiterhin wohnten wir insgesamt acht Jahre bei dem älteren Ehepaar. Unser Sohn mochte die beiden. Für ihn waren sie wie Oma und Opa. Auch ich fühlte eine gewisse Geborgenheit in ihrem Haus und in unserer Wohnung. So war ich wenigsten nicht ganz allein, wenn L. nicht anwesend war. Doch die Depressionen kamen immer wieder. Sie kamen und sie gingen. Mal in längeren, mal in kürzeren Abständen. Wie oft kann ich nicht mehr sagen. In den letzten Jahren, bis 1980, hat sich trotzdem ein ganz passabler Zustand eingestellt. So haben wir uns auch überlegt, eine größere Wohnung zu nehmen, eine Eigentumswohnung. L.s Dienstzeit bei der Bundeswehr ging dem Ende zu. Mit seiner Abfindung, meinem Bausparvertrag, den wir jetzt gemeinsam finanzierten, und einer eventuellen finanziellen Unterstützung meiner Eltern wäre es möglich gewesen. Wir fanden auch eine passende Wohnung. Doch wir hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Wohnung war ja viel zu weit von meinen Eltern weg … Ich wäre nicht mehr zur Arbeit gegangen und daher auch nicht mehr so oft bei ihnen. Sie hätten uns nicht mehr so oft besuchen können, und ich hätte mich vielleicht etwas ihrem Einfluss entzogen. Also, für dieses Vorhaben waren sie nicht bereit, uns zu unterstützen. Da wir zu viele Schulden hätten machen müssen, haben wir das Unternehmen Eigentumswohnung aufgegeben.

14 | Nach Racamier, Paul-Claude: L’inceste et l’incestuel, Paris: Dunod 2010: Das ›Inzestuelle‹ ist ein Klima, in dem »der Wind des Inzestes weht, ohne dass ein Inzest geschieht«, ein Klima, das die ödipale Phase verhindert, die das Entstehen des Individuums in seiner Komplexität ermöglicht. Für Racamier bezeichnet das Inzestuelle das, was die Prägung des nicht phantasierten Inzests trägt, ohne dass zwangsläufig die genitale Ausführung eintritt.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

So wurde L. aus der Bundeswehr entlassen. Dazwischen hatte er eine zusätzliche Berufsausbildung absolviert. Im letzten Jahr der Ausbildung wurde der Wunsch noch mal nach einer eigenen Wohnung oder einem Haus ziemlich stark in uns. Die finanziellen Umstände waren aber noch die gleichen. Doch jetzt fanden wir etwas Passendes: eine Doppelhaushälfte, näher … Nun stand der finanziellen Unterstützung durch meine Eltern nichts mehr im Weg. Großzügig, mit einem knallharten Schuldschein, den L. unterschreiben musste, gaben sie uns das Geld. Ein Schuldschein war notwendig, denn L. könnte ja Frau und Kind verlassen und das Haus deshalb veräußert werden müssen. So bekamen sie wenigstens ihr Geld wieder. … Nach acht Ehejahren und bei dem, was L. alles durchgemacht hat, war immer noch kein Vertrauen vorhanden. Für meinen Vater war L. wahrscheinlich immer noch der Eindringling! Für meine Depressionen war natürlich auch er verantwortlich. Denn bis zu unserer Ehe hatte ich ja keine Beschwerden … Ich war meinen drei Diktatoren untertan, und sie hatten keine Probleme mit mir! Dann kam der Tag des Einzugs in unser Haus im November 1980. Nachdem unsere Möbel einigermaßen untergebracht waren, es war ja nicht besonders viel, da wir viele Möbel neu gekauft hatten, die Helfer das Haus verließen und wir drei uns eigentlich glücklich in den Armen hätten liegen sollen, kam mein nächster großer Zusammenbruch. Eine neue Depression überfiel mich. Das Neue mit dem Haus, das plötzliche Fehlen der Geborgenheit bei der Familie B., die Erkenntnis, ich bin wieder ohne den Schutz von Eltern, Oma und Pseudoeltern, das verursachte wieder eine schlimme Depression. Nun ging es immer wieder so weiter. Immer wieder Depressionen. Durch den Außendienst von L. war ich öfters mal auch über Nacht allein. Das hat bestimmt nicht zur Besserung beigetragen. Heute weiß ich nicht, wie ich es immer wieder geschafft habe, aus dem tiefen Loch der Depression herauszukommen. Was vielleicht dazu beigetragen hat, war unser Sohn Renato, mittlerweile sechs Jahre alt, er bewirkte in mir wahrscheinlich ein gewisses Verantwortungsgefühl, das mich die Phasen der Depression schneller überwinden ließ. Er tat mir immer so leid, wie er mich in solch einem tieftraurigen Zustand sah. Er war immer ein sehr liebes und braves Kind. Ich habe heute noch Angst, dass er sich immer wieder an diese negative Zeit erinnert oder vielleicht selber einmal eine ähnliche Krankheit zu durchleiden hat. Schon die Gedanken daran, lösen bei mir Schuldgefühle aus. Gott sei Dank hatte ich wenigstens damals nicht immer gleich das Gefühl, dass nur der Tod für mich die einzige Rettung sei. Darum ging es immer weiter, nur nicht so, wie ich mir es eigentlich gewünscht hätte. Gewünscht habe ich mir

2.  Transgenerationale Weitergabe

immer wieder die eigene kleine Familie, nur uns drei. Doch leider gab es immer wieder Querelen zwischen uns und dem Elternhaus. Jeder Teil forderte seinen Anteil von mir. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich es allen nie recht machen konnte. Dieses Gefühl verunsicherte mich von Mal zu Mal mehr. L. wurde immer zorniger und wütender auf meine Verwandten. So gab es kein geordnetes Leben, sondern immer wieder Kompromisse. Meine Eltern verstanden es dann auch auf eine andere Art, uns gefügig zu halten: Mit Geschenken und Geldbeträgen sollten wir stumm gemacht werden. Selbst die Oma hat kurz vor ihrem Tod noch für Renatos neues Kinderzimmer Geld gegeben. Das war 1980, noch vor dem Einzug in unser neues Haus. Am Anfang ihrer Therapie stellt Frau Schwabski in einem initialen Traum die Brisanz der dialektischen Beziehung Kind-Frau dar, und die Gefahr die damit verbunden ist. Ich zitiere: »›Du darfst nicht vergessen!‹ Dieser Satz war in meinen Kopf wie festgenagelt. Ich war in einem Frauengefängnis. Ich war noch klein. Mein Zimmer hatte ein Fenster und davor einen Vogelkäfig mit einem gelben kleinen Vogel. Ich durfte rausgehen und traf einen Mann draußen. Ich bin schnell gelaufen, wollte nicht, dass er sieht, wie ich zurück ins Gefängnis gehen muss. Scham!«

Sie durfte nicht vergessen, dass Frausein bedeutet, mit der Gewalt der Sexualität konfrontiert zu sein und die Frauenlinie ihrer Familie mit Tod und Geburt – oder Trauer. Wiederum spendet das Kind gleichzeitig Trost und Refugium, bedeutet aber auch Flucht in einen nicht immer goldenen Käfig. Sie fügte hinzu: »Mir fehlte Eigeninitiative, um klare Verhältnisse zu schaffen. Die Depression ist eine Situation der Selbstanklage, der Eigenverurteilung und Flucht, um ja keine Entscheidung treffen zu müssen.« Frau Schwabski erkennt die Funktion des Protestes in der Depression, wiegt immer ab, welche Vorteile das ›Kleinbleiben‹ und ›Unterworfensein‹ haben. Ihre Depression unterstreicht die ausgebliebene Verwahrlosung und das Verfehlen der Subjektposition. Die Identifizierung mit der Mutterschaft und gleichzeitig die Versöhnung mit der Mutter während und innerhalb der Therapie, um Mutter sein zu können, ist gewährleistet, die Frage, was die Weiblichkeit angeht, bleibt dennoch offen. Ab 1980 ging Renato dann zur Schule. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete ich auch wieder ein paar Stunden in der Woche bei meiner alten Firma. Später dann auch wieder mehr und kam irgendwann auf 20 Stunden pro Woche. Ich war immer ein pünktlicher und loyaler Mitarbeiter in meiner Firma:

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

Erkältungen, starke Regelschmerzen oder Depressionen waren meist keine Entschuldigung, vom Arbeitsplatz fernzubleiben. Das Jahr 1988 veränderte dann einiges. Im Frühjahr bekam ich wieder eine starke Depression. Diesmal so heftig, dass ich immer dünner wurde. Irgendwann wog ich nur noch 45 Kilogramm. Der behandelte Arzt, Psychiater und Neurologe, überwies mich für elf Wochen in eine psychosomatische Kurklinik. Nach ca. zwei, drei Wochen das nächste Unwohlsein, der Beginn einer erneuten Depression. Erschwerend kam dazu, dass mein Vater im Oktober verstarb. So packte mich die Depression entsprechend stark, und im November wurde ich deshalb auch in die psychiatrische Klinik eingewiesen. 1990 heiratete mein Bruder und zog bei meiner Mutter ins Haus ein. 1990 war auch das Jahr, in dem wir uns entschlossen haben, aus der katholischen Kirche auszutreten. Was auch bedeutete, keine katholischen oder protestantischen Feiertage mehr zu feiern. Da mich in meinem Leben bisher vieles berührt hat, vieles traurig gestimmt hat, manches aber auch schön war, möchte ich unseren kleinen Hund, unseren Kicky, nicht unterschlagen. … Leider mussten wir ihn 2011 wegen einer schlimmen Krankheit einschläfern lassen. Er fehlt uns heute noch. Der Verlust von Kicky hat mich im Frühjahr 2011 auch wieder in eine tiefe Depression gestürzt. Einen Sprung zurück, ins Jahr 2001. Da stand die nächste große Veränderung an. Renato, schon eine Zeit verliebt und dann verlobt, heiratete im Juni mit 27 Jahren. War er wirklich schon erwachsen? Ich machte mir Sorgen, wie er durchs Leben kommt. So wie ich? Haben wir ihn denn fürs Leben vorbereitet? Ich erinnere mich zurück. Als er 18 Jahre alt war, machte er den Führerschein. Und immer dann, wenn er mit dem Auto unterwegs war, vor allem am Abend oder in der Nacht, dachte ich immer, hoffentlich kommt er gut nach Hause. Ich konnte nicht einschlafen, bevor ich den Haustürschlüssel hörte. Nachdem ich dann ein paar Mal mit ihm mitgefahren bin, hatte ich Vertrauen in ihn und seinen Fahrstil. Jetzt saßen wir nur noch zu zweit am Esstisch. Er fehlte uns sehr. Wir sprachen am Anfang nicht viel beim Essen und oft waren wir den Tränen nahe. Aber wir haben uns fest vorgenommen, bei ihm nicht den gleichen Fehler zu machen, den meine Eltern bei mir machten. Obwohl er mit seiner Frau Lily nur ein paar Straßen weiter weg wohnte, standen wir nicht andauernd vor ihrer Haustür. Unsere Schwiegertochter Lily ist ein ganz anderer Typ, als die, mit denen wir bisher umgingen, und wir mussten uns erst einmal an sie gewöhnen. Das sie zu einem Viertel Italienerin war, besaß sie eine entsprechende Mentalität und unterschied sich von uns ›Donauschwaben‹. Aber mittlerweile schätzen wir sie so, wie sie ist, und nun sind die beiden schon elf Jahre

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verheiratet, kommen jetzt gut miteinander zurecht, nachdem sich unser Sohn angeglichen hat. Einer musste es ja tun. Wir sind stolz auf die beiden und wünschen ihnen auf ihren weiteren Lebenswegen alles, alles Gute. Als ich also 1998 wegen der Geschäftsaufgabe ohne Arbeit war, suchte ich bei verschiedenen Firmen auf gleicher Stundenbasis, 20 Stunden pro Woche, eine neue Arbeit. Diese Möglichkeit ergab sich aber nicht. Mein Mann meinte, dann solle ich halt zu Hause bleiben. Renato wollte Wirtschaftsingenieur werden und studierte. Dadurch kam er immer mittags zum Essen nach Hause. Im Nachhinein denke ich, das war wahrscheinlich ein Fehler. In meinem Berufsleben, ca. 32 Jahre, das zum Teil aus Festanstellung und Teilzeitarbeit bestand, hatte ich gerade mal zwei Firmen kennengelernt. Eine Neuanstellung bei einer dritten Firma wäre für mich eine neue Herausforderung gewesen. Das war auch wieder eine Verunsicherung, was kommt auf mich zu? Und so wählte ich wieder einmal den leichteren Weg und blieb zu Hause. Natürlich war ich froh darüber, dass L. nicht darauf bestand, dass ich eine neue Arbeit aufnehmen sollte. Aber für mein eigenes Ego wäre es bestimmt besser gewesen, wieder zu arbeiten. Auch um meiner Selbstsicherheit und meines Selbstwertgefühls wegen. Außerdem fehlt mir diese Zeit auch für meine Rente. Heute sehe ich meine damalige Entscheidung als Fehler an, den ich auch meiner Erziehung zuzuschreiben habe. Selbst meine Mutter bedauerte diesen Schritt, nur aus einem anderen Grund. Ab sofort war ich keine drei Tage in der Woche mehr bei ihr zum Mittagessen. Ab sofort konnte ich nicht mehr kurz nach dem Essen mit ihr noch mal schnell auf den Friedhof fahren oder eine sonstige Besorgung machen. Aber sie fand dennoch genügend Möglichkeiten, mich jede Woche wegen irgendeiner Kleinigkeit zu sich zu rufen, auch wenn es nichts Wichtiges war. Ich habe es in dem Brief an Mama schon anklingen lassen.

Brief an die Mama Du, Mama, hattest immer die Oma bei Dir, für Dich war sie immer die ›Mami‹. Ich glaube, Oma hat auch dir keine große Liebe zum Ausdruck gebracht. Für mich warst Du eigentlich auch nie da. Du musstest ja arbeiten gehen. Auch Du hast mir nichts für meinen Lebensweg mitgegeben. Doch, eines, am Samstagnachmittag musste ich Dir immer beim Putzen helfen – ich hab es gehasst. Oma hat Dich manchmal noch wie ein großes Kind behandelt. Konntest Du deshalb auch nicht so richtig deine Muttergefühle mir gegenüber zeigen? Warst auch Du noch Kind? Ich glaube, Ihr habt mich alle drei, Oma, Papa, Mama, jeder auf seine Art und Weise geliebt oder ›gern‹ gehabt. Aber ich hatte das Gefühl, ich müsste alles tun, um Euch nicht zu enttäuschen.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« Vom Materiellen her habt Ihr mir gegeben, was Euch möglich war. Von daher hatte ich keine schlechte Kindheit. Im Gegenteil – was ich brauchte, war da. Aber irgendetwas fehlte trotzdem. Ihr habt mir nie richtige Aufgaben übertragen, keine Verantwortung. Du hast mein Zimmer so eingerichtet, wie Du es wolltest. Ich ging ins Ballett, weil Ihr es wolltet. Ich habe mich in der Schule angestrengt und alles getan, damit Ihr mit mir und meinen Leistungen zufrieden wart. Den Beruf, den Ihr für mich herausgesucht habt, habe ich erlernt und mit Auszeichnung bestanden. Ich war für Euch immer die Vorzeigetochter. Ich musste mich immer nach Euren Spielregeln ausrichten und durfte nie ausbrechen: Denn das tut man nicht, das macht man nicht, was werden die Leute denken! Als Papa dann gestorben war, dachte ich, jetzt muss ich mich auch um Dich kümmern, obwohl ich nicht mal mit mir selbst klarkam. Und Du hast fest geklammert. Mich immer versucht, an Dich zu binden. Bestellungen aus Katalogen, dies und jenes. Arztbesuche, Einkaufen, Friedhofbesuche, um das Grab zu richten. Jeden Tag ewige Telefonate und zudem noch Deine pessimistischen Äußerungen haben mich negativ geprägt, mich ängstlich und unentschlossen gemacht. Warum habt Ihr mich nie aufgeklärt, über natürliche Dinge gesprochen. Es wäre Eure Aufgabe als Eltern gewesen. Ihr habt mich im Stich gelassen. Als ich meine erste Regel bekam, wusste ich nicht, was in meinem Körper vorging. Deine einzige Bemerkung dazu: »Lass dich nicht mit einem Mann ein«, und dann glaube ich sagtest du noch: »Das kommt jetzt alle vier Wochen«. Ich wusste nicht einmal, als ich schwanger war, wie eine Geburt abläuft. Es ist so demütigend, erst jetzt alles zugeben zu können und zu begreifen. Ihr ahnt nicht, was Ihr mir angetan habt. Mir fallen die vielen Einzelheiten Eurer tollen Erziehung nicht mehr alle ein. Die Dinge, die mir einfallen, kamen nur Euch zugute. Ich blieb immer mehr auf der Strecke. Nein – bei Euch gefangen; unselbstständig, ohne Selbstwertgefühl. Das brave Kind, das zu allem ja sagt. Wehe, wenn nicht! Ich wurde von allen Seiten her eingeschüchtert. Selbst als Ihr Drei gestorben wart, habe ich Euch immer noch in Schutz genommen. Aber langsam geht mir erst richtig auf, was Ihr an mir verbrochen habt. Ich will Euch nicht mehr verteidigen. Ihr habt mich ruiniert und kaputt gemacht. Ihr habt mir Schuldgefühle anerzogen, mit denen ich heute kämpfe und nicht fertig werde. Meine Liebe zu Euch schlägt immer mehr in Hass und Enttäuschung um. Ich brauche Euch nicht mehr, lasst mich endlich in Ruhe und geht weg aus meinem Leben.

Sicher fühlte ich mich verpflichtet, meiner Mutter zu helfen. Beim Überziehen der Bettwäsche, und der Fußpflege, das habe ich ja gelernt. Zumal sie sich in Jahresabständen sozusagen drei aufeinanderfolgenden Operationen unterziehen musste. Beide Knie bekamen Knieprothesen. Dann brach sie sich durch einen Sturz zu Hause das rechte Schultergelenk, und dieses musste auch durch eine Prothese ersetzt werden, weil sie an Osteoporose litt. Trotzdem

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konnte sie noch bis kurz vor ihrem Tod, bis Februar 2008, ihren Haushalt im Großen und Ganzen selbst versorgen. Im Oktober, November 2007 wurde meinem L. eine sechswöchige Kur genehmigt. Im Laufe seiner Berufsjahre war er immer mehr Stress ausgesetzt, der ihm langsam unerträglich geworden war. Das äußerte sich durch eine ständige Nervosität, eine ständig belegte Stimme mit Heiserkeit und Stimmlosigkeit. Untersuchungen beim Stimmprofessor und zehn Sitzungen beim Logopäden haben keine Erleichterung gebracht. Beide waren der Ansicht, organisch sei alles in Ordnung. Der Logopäde riet ihm zu einer Therapie beim Verhaltenstherapeuten, die er dann auch sofort begann. Dieser konnte ihm zwar kurzzeitig helfen, aber der Stress wurde ja nicht weniger – eher mehr. Und so wurde aus einem latenten Tinnitus, den er schon jahrelang geringfügig gehört, der aber nie Probleme bereitet hatte, plötzlich ein wildes Tier. L. war dadurch nervlich völlig am Boden. Ich versuchte ihm zu helfen, was anfangs auch gut gelang, aber je mehr sich der Tinnitus festigte und in dieser Lautstärke chronisch wurde, umso weniger gelang mir dies noch. Er tat mir so unendlich leid, ich konnte einfach nichts mehr für ihn tun, nur beistehen und trösten. Er hoffte so sehr auf die Kur, doch durch die Kur wurde nichts besser, es stellte sich zum Tinnitus noch eine Hyperakusie, eine Geräuschüberempfindlichkeit, ein, die den Gesamtzustand noch mal verschlechterte. Da meine andauernde Depression und meine Alkoholausschweifungen ihn auch sehr stark belasteten, machte ich mir natürlich Vorwürfe und hatte Schuldgefühle. L. hat alles Mögliche in den Kampf gegen den Tinnitus hineingesteckt. Viele Ärzte und Therapeuten aufgesucht. Zeit und viel Geld investiert, es war alles umsonst. Mittlerweile hat er gelernt, mit dem Tinnitus umzugehen. Die Geräuschüberempfindlichkeit ist abgeklungen. Nun, seit 2009, sind es meine drei Suizidversuche, die ihn wieder sehr belasten. Jede Depression ist jetzt mit der Angst verbunden, es könne meinerseits wieder zu einem Suizidversuch kommen. Dadurch ist er nun wieder sehr stark angespannt. Beide sind wir oft mit unserer Kraft am Ende. Während L. auf Kur war, 2007, traf meinen Bruder ein großes Unglück, das auch mich wieder stark belastete. Bei seiner Frau wurde eine Gehirnblutung diagnostiziert. Sie wurde ins künstliche Koma versetzt, ärztlich versorgt, und noch auf der Intensivstation erlitt sie einen Gehirnschlag, weswegen sie heute immer noch körperlich behindert ist. Zwei Jahre lang war sie abwechselnd im Krankenhaus und in der Reha. Die neunjährige Tochter wurde von meiner Mutter mittags versorgt. Doch als die Oma dann 2008 verstarb, machte ich mir große Sorgen, wie es weitergehen sollte. Der Tod meiner Mutter, die ungewisse Situation meines Bruders und die Unsicherheiten aus diesen Ereignissen und Umständen lösten wieder eine Depression aus, die aber damals

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noch einigermaßen zu ertragen war. Doch im Frühjahr 2009 war ich nicht mehr in der Lage, die Kontrolle über mich zu behalten. Das war dann der Tag des ersten Suizidversuchs. An diesem Tag sollte meine Nichte zu uns kommen, um ein paar Tage bei uns zu wohnen, da mein Bruder sich in M. auf einer geschäftlichen Veranstaltung befand. Tage zuvor waren die Depressionen so heftig, dass ich total in Panik geriet. Ich wusste einfach keinen Rat mehr. Der einzige Zufluchtsort, meine Mutter, war nicht mehr da. An solchen Hundstagen war es immer leicht, sich auf die Couch meiner Mutter zu flüchten und mich von ihr ›bemuttern‹ zu lassen. Doch dieser Zufluchtsort war nun nicht mehr da. Das Nest war durch Tod und Umbau verschwunden. Als mir dieser Umstand richtig klar wurde, muss mich das Entsetzen zu diesem Suizidversuch getrieben haben. Jetzt war mir klar, das war zumindest meine Meinung, meinen Zustand konnte ich meinem L. und meinem Renato und auch mir in Zukunft nicht mehr zumuten. Es gibt daher nur noch einen Ausweg, das ist der Tod. An diesem Tag war mein L. schon in Altersteilzeit und zu Hause. Da er ziemlich intensiv am PC zu tun hatte, bekam ich die Gelegenheit. Die Idee war ja schon geboren. Dieser Tag bot sich an. Schönes Winterwetter. Die Sonne schien herrlich. Ich wollte im Auto, irgendwo warm verpackt, einschlafen und damit all meinen Sorgen und meiner Pein entweichen. Gewohnheitsmäßig versorgte ich nach dem Frühstück das Haus. Machte die Betten, aber die Zudecke und das Kissen meines Betts brachte ich in mein Auto, ohne dass es L. bemerkte. Dann packte ich noch zwei Kisten mit Altpapier und leeren Flaschen ins Auto und verabschiedete mich von ihm: Ich bringe die Abfälle weg, gehe dann zum Einkaufen und komme noch rechtzeitig vor Mittag zurück. Die Abfälle brachte ich dann auch weg, das Altpapier, die leeren Flaschen. Dann fuhr ich in die erste Apotheke. Dort kaufte ich die erste Packung Schlaftabletten. Dann, in der zweiten Apotheke, die zweite Packung. Dann besorgt ich mir was zum Trinken und fuhr weiter zu einem Fischersee. Im Auto, auf der Rückbank machte ich es mir gemütlich und warm. Kissen, Zudecke hatte ich ja dabei. Doch erst musste ich die Gruppentherapie am Abend absagen. So rief ich bei meiner Therapeutin an und teilte ihr mit, ich komm am Abend nicht und außerdem überhaupt nicht mehr, da ich nun diesen Suizid begehe. Die Therapeutin versuchte mir zwar mein Vorhaben auszureden, aber ich war fest entschlossen und brach das Gespräch einfach ab. Dann schluckte ich zwei Röhrchen Tabletten und machte es mir gemütlich. So wollte icheinschlafen und wenn Gott es auch wollte, sollte ich nach Harmagedon wieder in Frieden auferweckt werden.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Die angerufene Therapeutin hatte natürlich nach einer Androhung die Polizei eingeschaltet. Die wiederum setzten sich sofort mit L. in Verbindung und nachdem sie Handynummer und Autonummer wussten, machten sie sich auf die Suche. Da der Platz bei den Fischerseen ein Platz ist, in dessen Nähe schon mehrere Suizide und auch Morde passierten, schauten die Beamten zuerst dort nach und haben mich rechtzeitig entdeckt. So konnte ich durch den Notdienst und Notarzt gerettet werden und wurde ins Krankenhaus auf die Intensivstation gebracht und von dort aus noch am selben Tag in die psychiatrische Klinik. Dort war ich dann einige Wochen stationär. Ein weiterer Versuch mit Schlaftabletten blieb ein Versuch, denn L. hat mich noch auf dem Weg zum geplanten Ausführungsort rechtzeitig gefunden. Jetzt aber, am 16. Oktober, hätte ein dritter Versuch beinahe geklappt. Im letzten Moment hat mich L. gefunden und sofort Hilfe eingeleitet. Außer einer Nacht in Intensiv im BWK [Bundeswehr-Krankenhaus] kam weiter nichts dabei heraus. Eigentlich war es nie mein Wunsch, tatsächlich zu sterben. Bei allen drei Versuchen hoffte ich auf Hilfe, die dann auch immer rechtzeitig eintraf. Jedes Mal war es die pure Verzweiflung oder einfach nur Trotz, was mich zu solch einer Tat antrieb.

Brief an L. Du, mein L., warst mein erster richtiger Freund. Zuerst habe ich unserer Freundschaft keine lange Zukunft gegeben. Ich dachte, ein Junge wie Du interessiert sich bestimmt auch nur eine kurze Zeit für mich. Aber es kam anders. Am Anfang war es auch nicht die große Liebe. Ich hatte einen Freund, der mich mit dem Auto von der Schule abholte. Ich war mächtig stolz mit Dir vor den Anderen. Du bist bei mir geblieben – warum? Du suchtest eine Familie, ein intaktes Familienleben. Du meintest, Du hast es gefunden, aber Du wusstest damals noch nicht, was auf Dich zukommt. Welchen hohen Preis Du dafür bezahlen musst. Ich sitze jetzt da und komme nicht weiter. Ich frage mich, weiß ich eigentlich, was Liebe ist? Auch Du hast mich immer wieder bedrängt. Du wolltest Liebe und Sex. Liebe, weil Du Deine Mutter verloren hast, kurz darauf Deinen kleinen Bruder. Von Deinem Vater konntest Du keine erwarten. Sex mit mir. Für Sex aber fühlte ich mich noch viel zu jung, ich war noch nicht reif genug. Irgendwann habe ich nachgegeben, um Dich nicht zu verlieren. Dabei war ich noch nicht einmal richtig in der Pubertät. Ich verstand weder von Liebe noch von Sex etwas und außerdem wollte ich es auch nicht. Warum wollte ich andern immer alles recht machen? Jedes Wochenende in der kleinen Kellerbar. Immer diese Heimlichkeiten.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« Wir mussten still sein, andauernd kam jemand in den Keller. Die Tür war zwar verschlossen, aber dennoch. Einmal kam Dein Vater und klopfte an die Tür. Ich empfand Angst, Scham. Hatte ein schlechtes Gewissen und geriet in Panik. Später, nachdem Du die Wohnung alleine bewohntest, waren wir in der Wohnung in dem kleinen Zimmer. Aber auch in diesem Zimmer fühlte ich mich nicht wohl. Einmal kam hier Dein Vater wieder und wollte unbedingt Einlass. Er brüllte und drohte mit dem Aufbrechen der Tür. Dadurch war Sex für mich nichts Schönes. Ich ließ es über mich ergehen, von Januar 1968 bis Juli 1972, bis zu unserer Hochzeit. Unsere Hochzeitsnacht war nicht berauschend, ich hatte meine Tage und Sex war somit nicht möglich. Am nächsten Morgen, nach der Trauung und der ersten gemeinsamen Nacht? Jede andere Frau wäre froh gewesen, endlich mit ihrem Mann alleine zu sein. Ich war aber erst 20 und eine verheiratete Frau. Irgendwie war ich es auch – froh, aber mir kamen trotzdem kurz die Tränen in die Augen. Ich war nicht mehr zu Hause, nicht mehr im warmen Nest bei den drei Glucken. Unser Sexualleben ging also jetzt legal weiter. Ich hoffte, von Mal zu Mal Freude und Erfüllung zu finden. Ich wartete immer auf einen Orgasmus – aber er blieb aus. Ich spielte Dir etwas vor und konnte nicht begreifen, was die anderen am Sex so schön fanden. Du wolltest nach zwei Jahren ein Kind, obwohl wir eigentlich noch ein paar Jahre warten wollten. Wieder gab ich nach. Ich war noch keine 23, als Renato zur Welt kam, und damit wurde dies die Herausforderung in meinem Leben. Verantwortung für ein Kind haben. Dabei war ich doch selbst noch ein Kind. Ängstlich, unerfahren, hilflos, voller Angst, alles falsch zu machen, und dazu keine Muttergefühle. Nur Panik und Versagensängste. Unser Baby wuchs heran, und es ging mir etwas besser. Dann konnte ich mich ein bisschen als Mutter fühlen. Die Aufgaben meiner Eltern hast Du übernommen. Alle Entscheidungen hast Du getroffen. Autokauf, Urlaub, Hausbau, Behördengänge, Versicherungen, Notar und Ämter. Ich war zwar da, aber nicht aktiv beteiligt. Ich habe mich auf Dich verlassen und war auch gar nicht daran interessiert; denn von all dem hatte ich ja sowieso keine Ahnung. Alle Formalitäten, Büroarbeiten, Ablagen, Finanzamt, Bausparkassen, Kredite, Bankwesen blieben dein Ressort. Aber Überweisung und Bankeinzahlungen konnte ich machen. Geld abheben – das war’s. Unser Sexualleben ging weiter wie bisher. Du musstest immer die Initiative ergreifen. Von mir kam kaum mal ein Verlangen. Ab und zu kam auch ich zum Höhepunkt, aber leider zu selten. Du versuchtest manchmal andere Sexpraktiken. Ich fand sie alle abstoßend und schmutzig. Du hast es gemerkt und damit aufgehört. Unser Sexualleben wurde immer weniger. Du wolltest, dass auch ich mal Verlangen zeigen sollte. Aber ich hatte immer weniger Lust dazu. Es gab einmal eine kurze Aussprache zwischen uns, da Du gemerkt hast, dass ich eigentlich keinen Sex brauche. Deshalb meine ich, ich bin frigide. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich andere Paare in Filmen beim Sex sehe. Dann komme ich mir nicht als Frau vor, sondern als Versagerin. Mittlerweile

2.  Transgenerationale Weitergabe hast Du die Hoffnung diesbezüglich aufgegeben. Wir lieben uns nur noch platonisch. Sex im Leben ist vielleicht nicht alles. Aber ich frage mich immer und immer wieder, warum Du trotzdem bei mir geblieben bist? Trotz der seit 38 Jahren immer wiederkehrenden nervenaufreibenden Depressionen, der nicht zu zählenden Tage des sinnlosen Diskutierens, den Tränen, der vergeudeten schönen Stunden, die wir hätten haben können. Den vielen, unendlich vielen traurigen Wochenenden und Wochen der Depression. Ich verstehe es nicht! Ich soll alles aufschreiben, was unsere Zweisamkeit belastet. Es gibt wirklich nicht viel nach den 46 Jahren, in denen wir uns schon kennen. Du kennst die Punkte. Vielleicht bist Du manchmal zu explosiv. Oft liegt es aber auch an mir, wenn Du so reagierst. Deine überaus pingelige Genauigkeit für Dinge, die es in meinen Augen nicht wert sind. Doch Erledigungen am Haus, die Du immer wieder hinausschiebst, wie Haus streichen, Geräteschuppen aufräumen, Rasen regelmäßig mähen und sonstige diverse Kleinigkeiten, wie das Anbringen einer Schutzschiene an der Haustür, die Reparatur der Rollladenkästen, alles Kleinigkeiten und Dinge, die Du eigentlich zum Teil schnell erledigt hättest, aber keine Lust dazu hast. Aber endlose tagefüllende Computersitzungen, die müssen scheinbar sein. Ich weiß, du hast Aufgaben und Verantwortung. Ich sehe das alles ein, mir fehlt manchmal nur einfach Deine Nähe, das Gespräch mit Dir, ich fühle mich oft allein, obwohl Du im Haus bist. Aber, das Bisschen, das mich an Dir stört, wiegt Deine Liebe, Zärtlichkeit und Dein Verständnis zu mir 1000fach auf. Ich habe Dich einfach ganz furchtbar lieb, auch wenn ich es nicht so zeigen kann, wie ich es gerne möchte.

Seit 1. Oktober 2012 bin ich wieder in einer Phase der Depression. Nach meiner Tat am 16. Oktober war kurzzeitig eine Besserung eingetreten, doch mittlerweile ist die Depression wieder in voller Stärke zurückgekehrt. Für ihren momentan schlechten Zustand fand Frau Schwabski folgende Begründungen bzw. ergeben sich folgende Gesichtspunkte: Das Kind in ihr, das im Widerstreit mit der erwachsenen Frau liegt, will nicht mehr wachsen. Sie bringt das Beispiel des Films Die Blechtrommel: Der Darsteller stürzt sich in eine Kellerluke, um nicht mehr zu wachsen, weil er mit der Erwachsenenwelt nicht einverstanden ist. Die Rolle des Kindes war in den Augen der Mutter nicht definiert; die Oma ersetzte die eigene Mutter des Kindes. Die kleine Gerda lebte in einem Loyalitätskonflikt zwischen der erzwungenen zwanghaften Zuwendung zur Oma und der Liebe zu der traumatisierten Mutter. Auch in ihrer Partnerschaft wiederholt sie ungewollt das zu tief sitzende Gefühl des Nichtverstandenwerdens und des Abgelehntseins. Der Ehemann tritt unbewusst an die Stelle der (Groß-)Mutter, deren Ansprüche unbedingt bedient werden müssen. Diese dominante mütterliche Figur konnte offensichtlich

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nicht ertragen, dass die Patientin nicht ihrem Bild entsprach, bei einem eher schwachen und unberechenbaren Vater. Also blieb Frau Schwabski in einer kindlichen Position stecken, wo Abhängigkeit mit depressiver Krankheit einhergeht und Mutterwerden für immer den Verzicht auf Weiblichkeit bedeutet.

Brief an Oma, Papa, Mama, 05.10.2012 Ich will endlich mit meinem Leben ins ›Reine‹ kommen. Ihr könnt mich nicht mehr hören, vielleicht schreibe ich das für mich. In mir ist Wut, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Daran seid Ihr nicht unschuldig. Ich will Euch nicht verurteilen und auch nicht hassen. In Euren Augen habt Ihr für mich bestimmt das ›Beste‹ gewollt. Aber Ihr wart immer zwischen mir und meinem L. gestanden. Ich tat immer das, was ›Ihr‹ wolltet. Ich denke, meine Kindheit hat mich geprägt. Eure Vergangenheit, Eure Erlebnisse. Omas schwere Kindheit. Papa, der von seiner Mutter nicht geliebt wurde und ganz jung sein Zuhause verlassen hat, dann Krieg und Gefangenschaft. … Mein Leidensweg hatte begonnen. Ich will mich nicht selbst bedauern, aber ich gebe Euch Mitschuld, dass ich heute psychisch krank bin. Ich konnte meine junge Liebe nie genießen. Nicht einmal dann, als wir 1972 heirateten. Ihr habt Euch immer in unser Leben gedrängt. … Wie es nun in meinem Leben weitergeht, weiß ich nicht. Mittlerweile bin ich 60 Jahre alt. Es gab Höhen und Tiefen in meinem Leben. Leider haben mich die Tiefpunkte in meinem Leben so geprägt, dass es die schönen Dinge, die ich erhalten habe, oft zunichte gemacht hat. 38 Jahre Depressionen zu ertragen, ist eine Qual, die ich nicht beschreiben kann. Ich weiß jetzt auch, dass in meiner Erziehung einiges falsch gemacht wurde und dass es in meinem Leben eine Phase gibt, die ich nicht durchlebt habe: die Pubertät. Es fehlt mir so viel in meinem Leben, das ich nicht mehr nachholen kann. Das macht mich unendlich traurig und hoffnungslos. Mir ist bewusst, dass Geschehenes nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, und ich weiß nicht wie es weitergeht. Ich habe bestimmt viele Fehler in meinem Leben gemacht und Schuld auf mich geladen, deshalb bitte ich Gott um Verzeihung.

Meine Therapeutin, Frau Moser, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin, betreut und behandelt mich seit dem 2. Mai dieses Jahres. Bei ihr habe ich zwei- bis drei- oder sogar viermal die Woche einen Termin und sie ist eigentlich zuversichtlich, dass es besser wird und irgendwann aufwärts geht. Ich bin zwar skeptisch, da die Depressionen ja seit 1974 immer wieder auftreten und ich bereits über 20 verschiedene Antidepressiva verkonsumiert habe. Doch die Depressionen waren nie in den Griff zu bekommen. Eine Steigerung der Medikamentendosierung hatte meist zwar eine Besserung herbeigerufen,

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doch eine echte Hilfe waren sie nie. Ebenso war ich zur Kur (1988) und war auch schon mehrmals in einer Klinik. Dort wurde zwar eine Besserung bewirkt, aber genau wie durch die unzähligen Arztbesuche konnte bisher keine stabile Gesundheitslage erreicht werden. Meine einzige Hoffnung bleibt die Tiefenanalytik und die darauffolgende Therapie von Frau Moser, die mich immer mehr erkennen lässt, wo das Leiden herkommt. Doch wie ich aus dem Teufelskreis der Depression herauskommen soll, diese Antwort und der Weg dahin ist sie mir noch schuldig. Auf diesen Therapieansatz warte ich und was ich selber tun muss, um aus diesem qualvollen Leiden einen Weg ins Leben zu finden. Wenn ich gewusst hätte, dass mich Depressionen den größten Teil meines Lebens begleiten (mittlerweile 38 Jahre, im November werde ich 61 Jahre alt), hätte ich genau Buch geführt. Leider kann ich nicht mehr alles so genau nachvollziehen. Es waren auf jeden Fall sehr schwere und aufreibende Phasen unseres Lebens, die wir drei, Renato, L. und ich, durchlebt und durchlitten haben. Ich versuche aus meinem Gedächtnis bzw. aus meinen Notizen eine Tabelle meiner Leidenszeit zu erstellen. Die fehlenden Jahreszahlen heißen nicht, ohne Depression, sondern, ich weiß keine genauen Zeitpunkte und Zeiträume mehr.

Postpartale Depression: Der Anfang war die Heimkehr mit unserem Sohn, nach dem 28. August 1974 1974 - 1980 - 1988

- 1990 - 1993 1995 - 1999 -

Depression im August und September dazwischen waren auch einige Depressionen Depression im November, vorher Tod Oma Depressionen, Datum nicht notiert Depression von März bis Mai, danach Kuraufenthalt in Ge. ohne Depression bis Ende August, danach leichte Depressionen durch Mobbing der Chefin – danach Depression von Oktober bis November wegen Tod meines Vaters – danach Klinikaufenthalt, ohne Depression bis Ende Dezember Depressionen, Datum nicht notiert Depression im September Depressionen, Datum nicht notiert Depression im September Depression im Mai Depressionen, Datum nicht notiert Depression im September Depressionen, Datum nicht notiert

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2003 Depression im August, danach stationärer Klinikaufenthalt Psycho, Uniklinik, dann bis November mit Tagesklinik mehrere Wochen 2004 Depression Februar und März 2005 Depression Juni und Juli 2006 Depression Januar bis März, danach zehn Termine Frau Dr. S. 2007 Depression Januar bis März, Beginn Gruppentherapie Herr Dr. R., von Juni 07 bis Januar 09 2008 Depression von Februar bis April, wegen Tod Mutter, Depression im August, Depression im Dezember 2009 Depression Januar und Februar, 13. Januar 1. Suizidversuch, stationärer Klinikaufenthalt Uniklinik, Depression Mai und Juni, Beginn 1 der Therapie Frau Moser, Juni 09 bis März 10 (Kurzzeittherapie), Depression November und Dezember 2010 Depression im August 2011 Depression Mai und Juni, wegen Tod unseres Hundes, stationärer Klinikaufenthalt Uniklinik, Depression im November 2012 Depression März bis Mai, Beginn 2 der Therapie bei Frau Moser seit 2. Mai, dazwischen im April 2. Suizidversuch, Depression seit Oktober, 3. Suizidversuch 16. Oktober

Ab wann ging es besser? Februar 2013 Etwa ab dem 07.12.2012 und besonders in der Zeit unseres gemeinsamen Wellnessurlaubs in Bad F., vom 16.12. bis 23.12.2012. Doch wie kam es? Es war der 6. Dezember 2012, als ich nach einem erneuten Tag voller Hoffnungslosigkeit und sehr verheult am Abend von einer Therapiestunde nach Hause kam. Meine starke Niedergeschlagenheit ging bereits in die elfte Woche, also fast ein Vierteljahr an einem Stück. Nach Suizidversuch und Bereuen, nach Hoffen und Hoffnungslosigkeit war ich bereit, eine Depressionsbehandlung durchzuführen. Ich erzählte natürlich Frau Moser an diesem Abend von meinem Entschluss, mit meinem Mann in Urlaub zu gehen. Doch sie riet mir eindringlich davon ab. Sie war der Meinung, es sei nicht gut für mich, die bereits zum zweiten Mal bei ihr begonnene Therapie für Wochen oder sogar für Monate zu unterbrechen. Wir seien jetzt schon ein ganz großes Stück innerhalb der Analyse weitergekommen. Sie würde mir auf alle Fälle in meiner momentanen ›aussichtslosen‹ Situation helfen und für mich da sein. In der Klinik müsste ich wieder ganz von vorne anfangen. Ich könne sie immer anrufen, wenn ich sie brauche … Mit einigem Vertrauen, aber immer noch nicht wissend, wie es weitergehen sollte, fuhr ich heim. Zu Hause dann holte ich mir drei uralte Fotoalben aus dem Schrank, ich wusste eigentlich gar nicht warum. Es waren Bilder darin

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aus den Tagen vor meiner Geburt, als meine Eltern selbst noch jung waren. Ein weiteres Album zeigte mich noch als Baby und Kind, und im dritten waren Bilder meiner eigenen Jugendzeit. Ich schaute mir die Gesichter meiner Eltern ganz genau an und vertiefte mich in die Vergangenheit. Mir gingen einige Gespräche mit Frau Moser durch den Kopf, und ich versetzte mich intensiv in die Zeit meiner Eltern vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus Erzählungen meiner Eltern und meiner Großmutter wusste ich einiges und wusste auch, dass die Jahre um den Krieg, vorher, während und danach, alles andere als leicht für sie waren. Bisher konnte ich mich nicht wirklich in die damalige Lage hineinversetzen. So nach und nach aber, nachdem ich bis weit nach Mitternacht diese alten Fotos genau anschaute, verstand ich erst den Schmerz, den diese Generation tatsächlich durchgemacht hat. Die ernsten Gesichter, voller Verzweiflung, Enttäuschung und den Tod vieler Angehöriger hinnehmen müssend. Das erzwungene Verlassen von Haus, Besitz und Heimat. Die Trennung von Verwandten und Freunden. Sie mussten alles zurücklassen, hatten alles verloren, was ihre Vorfahren in mühevoller Arbeit über Jahrhunderte in allergrößter Not und mit viel Schweiß aufgebaut hatten. Es war ein Nichtwissen, wie es weitergehen soll und was sie erwartet. Ich erinnerte mich an Gespräche mit Frau Moser, als sie mir zu verstehen gab, dass diese leidgeprüften Menschen gar nicht die Gelegenheit hatten, die Vergangenheit zu bewältigen, zu realisieren. Sie hatten keine Zeit zu trauern, um Schmerz und Leid zu überwinden. Sie mussten sich jetzt auf den Neubeginn konzentrieren, mussten sich um ihre Familie kümmern und wie es in Zukunft weitergeht. Es war schon sehr spät, als mein Mann dazu kam. Er erzählte mir, wie er die Zeit, Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre in Erinnerung hatte. Da er vier Jahre älter ist als ich, konnte er mir einiges erzählen, wie er die Zeit in großer Armut im Lager erlebte. Erfahrungen, die ich bisher aus seinem Leben noch nicht kannte. Ich merkte, wie ich in dieser Nacht immer ruhiger wurde und die Schuld für meine Krankheit nicht mehr nur bei meinen Eltern und bei mir suchte. Sondern, dass es die Umstände, die Zeit, die Verhältnisse waren, die diese Menschen und damit auch mich beeinflusst und auch geprägt hatten. Wieder erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Frau Moser. Sie versuchte mir zu erklären, dass unsere Eltern und Großeltern nicht die Zeit hatten, dies alles selbst zu verarbeiten und zu vergessen. Somit gaben sie das Erlebte, die Vergangenheit mit allen Schrecken und Unvergesslichkeiten unbewusst und bestimmt nicht gewollt an uns Kinder weiter.

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Wir lebten in unserer Kindheit die Schrecken der Vergangenheit mit durch, wenn sie mit Verwandten und Freunden, mit Landsleuten und Leidensgefährten die Vergangenheit immer und immer wieder neu aufrollten. Da ich ein ›Einzelkind‹ und ständig bei den Erwachsenen dabei war, wurde ich wahrscheinlich unbewusst davon beeinflusst und nahm am Gefühlsleben meiner Angehörigen teil. Mein Bruder hatte schon weniger Anteil, da er vierzehn Jahre nach mir geboren wurde. Nun ist mir auch klar, warum meine Erinnerungen mich so geprägt haben und dass man niemanden direkt dafür verantwortlich machen darf und kann. Es liegt nun an mir, das Geschehene zu verstehen und für mich entsprechend erfolgreich zu verarbeiten. Seit Februar 2013 hat nun auch mein Mann eine Therapie begonnen. Ich bin sehr froh darüber, dass er sich dazu entschließen konnte. Wir wollen nun beide fest und gemeinsam, mithilfe unserer Therapeuten, versuchen, die letzten Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens zu durchforschen, um die Störpunkte unserer beiden Leben zu finden und auszuschalten. Dann können wir auch die Vergangenheit ruhen lassen und zu uns selbst finden. PS: Seit Dezember 2013 bin ich befreit von jeglicher depressiver Manifestation … und genieße das Leben! Frau Schwabski brachte dann als Dankeschön eine ›Frauenschuh‹-Orchidee mit, was ich, nach einem langen steinigen Weg zusammen, als Zeichen für das Angekommensein nahm, für sich die Weiblichkeit zu ent-decken, mit beiden Füßen und dazu passenden Schuhen fest auf dem Boden zu stehen. Die analytische Arbeit hat aufgedeckt, in welchem Maße ihre Depression den Platz des nicht erfolgten Protestes gegen ihre Unterwerfung unter die Forderungen und Wünsche ihrer Familie und ihres Mannes annehmen musste. Sie hatte, durch die Anpassung an die konventionellen Erwartungen ihrer Familie, auf ein ›Neinsagen‹ verzichtet, und dabei ihr eigenes Begehren, d. h. ihr Begehren in ihrem Namen als Subjekt, mit dem Verlust ihrer Eltern identifiziert. Schon die Hochzeit und die Wohnung in der Nähe der Eltern waren Verzicht auf ihr Neinsagen. Mit der Geburt ihres Sohnes ist die Angst aufgetreten, Objekt des Wunsches der Eltern und nicht selbst Mutter in ihrem eigenen Namen zu sein. Die Depression fungiert als Protest, als aggressive Attacke gegen ihre Welt, wenn sie sich nicht anders wehren kann. Neben der transgenerationalen Dimension dieses Falles gilt auch eine Interpretation als melancholisch-depressive Reaktion mit entsprechender Sinnfindung. Die Patientin hat viele ihrer Wendungen aus ihrer Therapie unmittelbar aufgeschrieben.

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Uns bleibt die Aufgabe, der Provokation in der Hysterie einen Platz zu geben, aber auch die Schwerfälligkeit der Depression so zu verstehen, dass in beiden Strukturen des Begehrens der Protest im Vordergrund steht. Die Hysterie ist wie die Depression Effekt einer Struktur, die sich in unserer Kultur manifestiert. Beide entziehen sich dem Sog der Mutterschaft und kämpfen, um eine Hysterisierung der depressiven Frau zu erlauben.

2.3 D ie M üt terlichkeit »Was kostet die Welt im Angesicht des Lebens, und was das Leben, als dass man es gibt?« Paul C laudel 15

In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie der Zusammenhang zwischen Hysterie, Depression und Weiblichkeit als in der Natur verankert dargestellt wird und welche Bedingungen auf die Mütterlichkeit Einfluss haben. Aus diesem Überblick über die Geschichte der in dieser Arbeit geschilderten Konzepte lässt sich ableiten, dass jede Schwangerschaft eine schonungslose Synthese einer persönlichen Geschichte reproduziert. Racamier16 hat mit dem Begriff maternalité (= Mütterlichkeit), den er von dem englischen Wort motherhood ableitet17, alle Entwicklungsprozesse bezeichnet, alle psychoaffektiven Prozesse, die das Mutterwerden ausmachen. Die Genesis der Mutterschaft, die sich in der Frau mit der Mutterschaft entwickelt, ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses, der im Kleinkindalter in den Beziehungen der neugeborenen Tochter mit der eigenen Mutter einsetzt und sich in der ödipalen Erfahrung und der Wertschätzung fortsetzt, die der Vater seiner Tochter, der künftigen Mutter, erweist. Maternalité kann also als notwendige und heilende Identitätskrise angesehen werden, weil die damit verbundenen Veränderungen von größter Bedeutung sind. Daher stellen sich zu diesem Mutterwerden die folgenden Fragen: Was bedeutet es für die Psyche der Frau? Was wird von ihr auf sozialer Ebene erwartet

15 | Claudel, Paul: L’Annonce faite à Marie, Paris: Gallimard 1947, S. 180: »De quel prix est le monde auprès de la vie? Et de quel prix la vie, sinon pour la donner?« Eigene Übersetzung. 16 | Vgl. Racamier, Paul Claude: »A propos des psychoses de la maternalité«, in: Mère mortifère, mère meurtrière, mère mortifiée. Sous la direction de Soulé, M., Nogent: ESF Éditeur 1978, S. 41-50, hier S. 41. 17 | Vgl. ders.: La mère et l’enfant, S. 43.

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und was schlägt sich in der Psyche jeder einzelnen Mutter nieder? Welche Repräsentationen beeinflussen diese Frauen in ihrem Mutterwerden? Eine Theorie der Sexualisierung erhellt die zugrunde liegende Dynamik der Mutterschaft. Sie basiert auf den drei logischen Momenten, die sie definieren: zunächst die Anatomie, als physiologisch auferlegtes Schicksal, dann der Ort des Kindes in der Sprache, die ihm vorausging, bevor es auf die Welt kam, wozu auch die Angabe des Geschlechts bei der Registrierung der Geburt gehört (Gegenstand der Gendertheorien), und schließlich die logische Zeit der unbewussten Wahl des Subjekts, das in seine Formen des Genießens verwurzelt und an Symptome gebunden ist. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Mythos von der Natürlichkeit der Mutterliebe wurde von Badinter18 abgehandelt. Die französische Philosophin zeigt, dass Mutterliebe ambivalent ist und sich auf baut. Die unterschiedlichen Formen, in denen sie sich manifestiert, z. B. bei von der gesellschaftlichen Norm abweichendem Verhalten, werden notwendigerweise als pathologische Ausnahmen analysiert. Die analytische Praxis beklagt, dass der Mangel des Gefühls der Mutterliebe als nicht normal angesehen wird. Sieht man aber diese Mutterliebe als ein menschliches Gefühl neben anderen an, dann kann man sie wie alle anderen Gefühle als verletzlich und unvollkommen betrachten. Der gleichen Logik folgend weist Badinter darauf hin, dass die Mutterliebe oft als Instinkt dargestellt wurde, d. h. als in der ›Natur‹ der Frau verankert. Wenn die Zeugung als ›natürlich‹ angesehen wird, so präzisiert sie, dann ziehen die biologischen und physiologischen Phänomene der Schwangerschaft zwangsläufig eine vorherbestimmte mütterliche Einstellung nach sich. Es ist indes eine Utopie zu meinen, dass jede Mutter sich von Anbeginn der Schwangerschaft an uneingeschränkt ihrem Kind zuwendet. Das Muttergefühl entwickelt sich nach ihrer Auffassung während der gesamten Dauer der Schwangerschaft, kann aber zuweilen auch noch längere Zeit erfordern. Die Frage des angeborenen Instinkts und der mütterlichen Liebe verweist jeden zurück auf die Liebe, die er von seiner Mutter erfahren hat. Man muss sich also nach seinen eigenen Wurzeln fragen, nach der empfangenen oder verweigerten Liebe, was in jedem von uns ein Gefühl der Angst und Beklemmung hervorruft, weil man nicht weiß, was man entdecken wird. Die Mütterlichkeit entsteht in einem aus Körper und Gedanken gebildeten Raum, in dem sich das mütterliche Gefühl in der Vergangenheit ausgebildet hat und der die Menschen hervorruft, denen man früher begegnet ist. Daher kann die Mutterschaft nicht instinktiv sein, sondern sie ist biographisch, sie fügt sich in eine Familiengeschichte ein. Die Mutterliebe ist ein komplexes, ambivalentes und widersprüchliches Gefühl, in dem Liebe und Aggressivität, 18 | Vgl. Badinter, Elisabeth: L’amour en plus, Paris: Flammarion 1980, S. 16 f.

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Anerkennung des Anderen und Verwechslung mit ihm eng miteinander verflochten sind. Also ist die instinktive Mutterliebe eine Illusion. Das Neugeborene wird logischerweise von seiner Mutter gleichzeitig als verschieden und konsubstanziell erlebt, als ein Anderes und als Teil ihrer selbst, als eigenständige Realität und gleichzeitig als materialisiertes Phantasma. Die Mütterlichkeit bringt für jede Frau, der bewusst ist, dass sie Mutter wird, Erwartungen und Ängste mit sich. Die sich ihrer Schwangerschaft bewusste Frau ist im Wartezustand: Sie projiziert, zweifelt, wartet, träumt, stellt sich das Kind vor, akzeptiert es, lehnt es ab, stellt es in Frage. Das Kind macht sie zur Mutter, zur Erwachsenen. Als Frau repräsentiert sie ihre Selbstverwirklichung, eine Verstärkung der Weiblichkeit, die Erfüllung eines Grundbedürfnisses. Jede Frau stellt sich der Schwangerschaft mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Gefühlserleben, ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit. Die Frau verschwindet nicht vor der Mutter, sie ist immer da, mehr oder weniger exponiert, mehr oder weniger präsent, aber sie bleibt und ist immer schon da. Kann man Mutter und Frau sein? Muss man Mutter und Frau sein? Welchen Platz nimmt der Mann, der Ehemann, der Partner, der auch der Vater ist, ein? All diese in dieser Arbeit angesprochenen Fragen stellen sich erneut. Mit der Schwangerschaft gerät die Frau in den Kontext einer psychischen Krise. Diese bereits von Racamier19, Winnicott 20 u. a. in der Nachfolge von Erikson beschriebene Krise äußert sich in einem besonderen Zustand der »psychischen Transparenz«, wie Bydlowski es nennt. »Die Schwangerschaft ist dieser privilegierte Moment der psychischen Transparenz, währenddessen es reicht, das Kind, das sie gewesen ist, wieder hervorzuholen, um das Kind, das sie in sich trägt, und nicht nur die Idee, zu rehabilitieren.«21 Die Vorstellung der Transparenz entsteht dadurch, dass sich der Bewusstseinszustand während der Schwangerschaft ändert: Regressive Phantasmen, wiederauflebende Erinnerungen, Fetzen des Unbewussten tauchen im Bewusstsein auf. Ich verstehe diese Transparenz als eine neue Fähigkeit der Mutter, durch ihr Kind zu sehen, was sie selbst als Kind gewesen ist.

19 | Vgl. Racamier: »La mère et l’enfant dans les psychoses du post-partum.« L’évolution psychiatrique, Band 26, Heft 4, 1961, S. 523-570. 20 | Vgl. Winnicott: »La préoccupation maternelle primaire«, in: ders.: De la pédiatrie à la psychanalyse, Paris: Payot 1969, S. 168-174. 21 | Bydlowski, Monique: »La transparence psychique de la grossesse«, in: Etudes Freudiennes 32, 1991, S. 135-142, hier S. 142: »La grossesse est ce moment privilégié de transparence psychique au cours duquel pour réhabiliter l’enfant qu’elle porte et non plus seulement l’idée, il suffira de restaurer l’enfant qu’elle a été.« Eigene Übersetzung.

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Meiner Meinung nach handelt es sich dabei eher um einige wenige Lichtstrahlen im Schatten, um einige Funken, die das ferne Dunkel erhellen. Schwangerschaft und Mutterschaft bewirken in der Frau tiefgreifende Veränderungen, die sie durch eine Krise und einen Reifungsprozess zu einer neuen Rolle führen, die ihre Psyche verändert. Die Identifizierung mit der Mutter vollzieht sich von der Generalprobe bis zur Darstellung in der Realität. Schließlich muss das Stück in seiner Gänze durchgespielt werden. Das ist die Zeit des Bruches, der Loslösung, der real vollzogenen Trennung, der Zeitpunkt der Anpassung an die neue Rolle, der neuen Mutter, der Hauptdarstellerin. Dann vollzieht sich die Geburt des Kindes, aber gleichzeitig die Geburt einer neuen Mutter und einer neuen Frau.

2.3.1 Die Wahrnehmung der werdenden Mutter Vor der Schwangerschaft trägt das imaginierte Kind die Geschichte der Mutter, existiert das Kind als Begehren, als Phantasma, das jedoch bereits stark besetzt sein kann. Es ist zu Beginn der Schwangerschaft vorhanden als Idee, als phantasmatisches Erzeugnis, das sich im Laufe der Schwangerschaft durch sensorische Empfindungen verstärkt. Die Mutter wird vor die Aufgabe gestellt, das imaginäre bzw. phantasierte Kind in Übereinstimmung zu bringen: Das phantasierte Kind muss als positives Bild und nicht als Träger der ungelösten, versagten Geschichte der Mutter gesehen werden. Die psychische Bindung entsteht bereits in utero, und am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats haben die meisten Frauen eine Repräsentation in Form eines Bildes des Kindes. Die neue Herausforderung für die Mutter wirft die Frage auf, ob der Einfluss der vorgeburtlichen Bildgebung richtig eingeschätzt ist: Die Diagnostik als Vermeidung von Schäden oder Missbildungen beeinflusst das Werden der Mutter. Die modernen bildgebenden Techniken wie die pränatale Sonographie geben diesem Bild eine Form und verstärken die Bindung. Der Blick der Mutter auf das Bild ist dennoch gelenkt und angelockt durch die für sie neue visuelle Wahrnehmung des Babys. Zwischen Schwangerschaft und Geburt hat die technische Bildgebung den in der Zukunft liegenden Beginn des Lebens eines Kindes in Richtung einer gegenwärtigen Vergangenheit verschoben. Die schwangere Frau ist mit der Wiederholung ihrer Vergangenheit konfrontiert, und in der Gegenwart behaftet, weil sie sich noch nicht als Mutter definieren kann, sondern als zukünftige, werdende Mutter. Was passiert mit der Besetzung des Körpers der Mutter durch die Schwangerschaft? Die Befürchtung, dass das Baby als Produkt des Eros allmählich ihren Bauch und ihre Psyche einnimmt: Sie ist vollständig schwanger. Sie ist schwanger in ihrem Bauch, ihren Brüsten, ihrem Herzen, in jeder Zelle, sie ist

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schwanger in ihrer Seele. Und sie ist dann vollkommen in einer Situation des Übergangs, die vielleicht eine Enttäuschung mit sich bringt, wenn das Profil des Gesichts des Ungeborenen überraschend wirkt. Aber sie hat Zeit, sich an dieses Kind zu gewöhnen: Bild für Bild, Abbildung für Abbildung, in verschiedenen Dimensionen. Abbildungen 8 bis 10  Zweidimensionale (li.) bzw. dreidimensionale Abbildung eines Fötus

Mütter, denen zum ersten Mal das zweidimensionale Bild ihres Kindes gezeigt wird, sprechen gleichzeitig von Überraschung und Überforderung. Dagegen scheinen die Mütter, die das dreidimensionale Bild als Verlängerung des Blicks auf das Kind in ihrem Körper sehen, entzückt zu sein. Die Inhalte, die in das zweidimensionale Bild projiziert werden, scheinen von den Erwartungen und auch nicht erfüllbaren Wünschen bestimmt zu sein und haben dadurch eine, wenn auch zum Teil mit Angst erfüllte Offenheit. Demgegenüber scheint die Konfrontation mit dem dreidimensionalen Bild, auf dem das Gesicht des Kindes plastisch erscheint, sowohl eine bekannte narzisstisch bestimmende Projektion als auch eine dadurch ausgelöste Identifikation mit dem Baby hervorzurufen. Dabei vollzieht sich ein Wiedererkennen des Selbst in seinem Anderssein, eine Identifizierung. Die imaginäre Konstruktion des Blicks funktioniert nicht mehr als eine noch zu bildende: Das Kind ist schon da. Das Unvorstellbare erscheint im Bild. Von dieser Erfahrung her ist zu erwarten, dass das dreidimensionale Bild die Phantasie beeinträchtigt. Die darauffolgende Frage lautet dann: Wenn das 3D-Bild die Phantasie in der Spiegelung ausschaltet, wäre im Fall eines Abbruchs der Schwangerschaft oder bei der Entdeckung einer Behinderung der Verlust zu groß und die Depression dadurch verstärkt? Bisher gibt es kaum dokumentierte klinische Erfahrung, die diese Überlegungen verifizieren oder sie entkräften. Stern und Bruschweiler-Stern führen dazu aus:

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« »Die Erfahrungen, die eine Schwangere im vierten Monat mit ihrem wirklichen Fötus macht, beflügeln ihre Phantasie. Das hat zwei Ursachen. Zum einen werden heutzutage nahezu routinemäßig Ultraschalluntersuchungen durchgeführt. Und der Blick auf den wirklichen Fötus – die Kurve seiner Wirbelsäule, die wie ein Perlhalsband aussieht, das Geräusch seines Herzschlags, der Anblick seiner Bewegungen – ist atemberaubend. Aber auch […] spürt die zukünftige Mutter, wie ihr Baby anfängt, gegen ihren Leib zu treten. Zwischen dem vierten und dem siebten Monat können Mütter zulassen, dass phantasierte Vorstellungen des Körperbildes des Fötus stattfinden. Aber ab dem achten Monat wird das Bild des Babys in der Vorstellung der Mutter aufgelöst, als ob das innere Bild Platz schaffen müsste für das wirkliche Baby.« 22

Es ist wichtig, den Erfahrungen der Mütter Ausdruck zu verleihen, denn nach Einführung der Ultraschalluntersuchungen wurden Stimmen laut, die den angeblichen ›Kurzschlusseffekt‹ durch die Visualisierung und damit die Konfrontation des erblickten Kindes mit dem imaginierten Kind anprangerten. Der Kurzschlusseffekt meint, dass die Sonographie jede gedankliche Kreativität blockiert, weil damit alle potenziellen Repräsentationen auf ein einziges Bild des Fötus auf dem Bildschirm reduziert würden. Seit 1980 haben zwei Forscher23 Studien zu dieser Problematik veröffentlicht, die zum Ergebnis kommen, dass die Interpretationen des Arztes, der die Ultraschalluntersuchung durchführt, große Bedeutungen haben: Die Worte des Arztes haben umso mehr Gewicht, als das dargebotene Bild so vage ist, dass es von jeder Frau anders interpretiert werden kann. Stern und Bruschweiler-Stern machen hier leider keinen Unterschied zwischen den zwei Modi der Ultraschallmöglichkeiten, was meines Erachtens ihre Erkenntnis mindert. Und sie schreiben, genau wie seine Kollegen in den 1980er Jahren: »Bei der Geburt treffen das wirkliche und das imaginierte Baby zum ersten Mal aufeinander, und die Mutter kann es sich nicht leisten, einen allzu großen Unterschied zwischen den beiden fortbestehen zu lassen. Sie muss das wirkliche Baby und sich selbst vor einer allzu großen Diskrepanz zwischen den in ihrer Vorstellung erzeugten Erwartungen und dem wirklichen Baby schützen.« 24

Der Blick, den die Mutter auf ihr ungeborenes Baby wirft, wird weit weniger als vielfach angenommen durch die Konfrontation des imaginären mit dem realen Baby definiert, sondern neben den drei räumlichen Dimensionen ist die 22 | Stern /  B ruschweiler-Stern: Geburt einer Mutter, S. 42. 23 | Vgl. Garel, Mathieu /  F ranc, M.: »Réactions des femmes à l’échographie obstétricale«, in: J. Gyn. Biol. Repr., Heft 9, 1980, S. 347-354. 24 | Stern /  B ruschweiler-Stern: Geburt einer Mutter, S. 44.

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vierte entscheidend, nämlich die der Zeit, der Erinnerungen, das Gedächtnis ihrer eigenen Geschichte. In der Konfrontation von Mutter und Baby wäre die Differenz zwischen realem und imaginärem Baby eine Chance für die Mutter, einen Zugang zu ihrer Vergangenheit zu finden. Das dreidimensionale Bild ist ›visueller‹, als was wir bis jetzt kennen, und die Konsequenzen auf die Psyche lassen sich nicht abschätzen. Leben zu geben bündelt alle Kräfte und konzentriert, verdichtet das Leiden in der postpartalen Krise. Warten und sehen25: Die Ultraschalluntersuchung ist die erstaunliche Kreuzung von Bild und Wort ausgehend von einem Rätsel, dem eine Form gegeben wird. Rätsel oder Dilemma? Es eröffnet sich ein Moment der Begegnung, ein »Now-Moment«26, innerhalb der Dyade Mutter-Fötus, der auch ein Moment der Identifizierung ist, der plötzliche Augenblick, den der Mensch festhalten muss, weil sich in dieser Zeit sein weiteres Schicksal entscheidet. In diesen Momenten verdichtet sich der Augenblick der Wahrheit für beide. Die Wahrheit ist das, was sich öffnet.

2.3.2 Das Mutter werden als Krise Vor seiner Geburt ist das Kind sehr intensiv narzisstisch besetzt. Es gehört so eng und intim zu seiner Mutter, dass es Teil ihres Selbst ist. Gleichzeitig zu dieser narzisstischen Besetzung erfolgt der Abzug der Besetzung von zahlreichen vorher besetzten Objekten, die die Schwangerschaft nicht betreffen. Alles Denken der Frau kreist nur noch um die Schwangerschaft – sie ist erotisiert. Die Besetzung der Frau wird zur Bedrohung für sie selbst, wenn sie sich narzisstisch aus ihrer Umwelt ausklinkt. Die melancholische maligne Regression hat sich an ein früheres Körperbild angeheftet, entlang der Zeitachse. Es kann vorkommen, dass die Schwangerschaft  – wie Bydlowski es beschreibt – kaum besetzt erscheint, weil sie von spontanen Äußerungen überlagert wird, die sich nicht auf dieses Kind beziehen, sondern auf nostalgische Repräsentationen des Kindes, das die Frau früher war: Nostalgisches Schweigen, Begehren des Kindes, Begehren der Kindheit. Aber dieses relative Schweigen, diese stumme Geheimhaltung ist ein Zeichen ihrer Erotisierung. Die Erotisierung der Schwangerschaft bringt neuen Schwung, starke Energien und eine unbezwingbare Strömung mit sich, die sie in den Mittelpunkt der Welt stellt, 25 | Vgl. Boyer, Jean Pierre /  P orret, Philippe: Attendre et voir. L’échographie obstétricale, Paris: Ramsay 1987. 26 | Vgl. Stern, D. et al.: »Nicht deutende Mechanismen in der psychoanalytischen Therapie. Das ›etwas mehr als Deutung‹«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 56, Heft 9-10, 2002, S. 974-1006. Auch: Stern, Daniel N.: ›Der Gegenwartsmoment‹ – Veränderungsprozesse in Psychoanalyse. Psychotherapie und Alltag. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl, Frankfurt a. M: Brandes & Apsel 2005.

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und die anderen früher erotisierten Objekte verlöschen dagegen, farblos und sinnentleert. Nach der Geburt vollzieht sich nach und nach der umgekehrte Prozess, nämlich die allmähliche Enterotisierung des Kindes und die Neubesetzung anderer Objekte. Wenn die Enterotisierung des Kindes sich nur teilweise oder gar nicht vollzieht, verläuft die Wiederaufnahme des Sexuallebens der Eltern nicht harmonisch, was zu sexuellen Störungen, zu Störungen des Liebeslebens, zu Trennungen führt. Die Implosion durch fehlende Entropie des Mutter-KindSystems kann zur Aufspaltung des Paares führen. Im Idealfall fängt die junge Mutter allmählich wieder an, den Partner, das Paar und sich selbst erneut zu erotisieren und dabei ein neues Gleichgewicht zwischen ihrer Rolle als Mutter und als Frau herzustellen. Sie findet zu ihrer früheren Rolle zurück, in der sie durch die der Mutter bereichert wird. Dann erblüht ihre Weiblichkeit in vielen Farben – sie ist im Frühling der Weiblichkeit als Mutter, Geliebte, Freundin, ganz Frau. Sich in die Welt als Mutter auf ihre eigene Weise einzubringen, bedeutet, in sich die beiden Familienlinien der Eltern zu integrieren und die des Partners mit aufzunehmen. Es bedeutet auch, ihre eigene Geschichte wie ein Bauwerk zu restaurieren und zu akzeptieren, das Alte zu erneuern, um besser in der Gegenwart zu leben und die Zukunft zuzulassen: Die Mutter (-) schaf(f)t! Die Mütterlichkeit ist ein Moment einer Reifungskrise: Dieser Prozess führt dazu, dass einerseits die Verdrängung durch die Regression teilweise aufgehoben wird und andererseits frühere psychische Konflikte reaktiviert werden, insbesondere im Zusammenhang mit der Internalisierung der Elternbilder. Bydlowski27 hat das ausgeführt, wenn sie die starke Permeabilität der Frau für unbewusste Repräsentationen mit Beginn der ersten Schwangerschaftswochen betont. Es geht also um den Status der Mutter und der Frau gegenüber ihrer eigenen Mutter. Um diese Krise zu überwinden und den Mutterstatus zu erreichen, muss die Tochter ohne Schmerzen den Platz der Mutter einnehmen, und diese muss erlauben und akzeptieren, dass ihre Tochter Mutter wird. »Diese doppelte Problematik der Ambivalenz und der Trennung, die sich auf das Baby richtet, wird von der Beziehung der Mutter zu ihrer eigenen Mutter geprägt«28, betont Racamier. Wenn also eine Tochter meint, sie könne mit der Mutter um die Gunst des Vaters konkurrieren, dann bedeutet das, dass sie den Unterschied der Generationen innerhalb ihrer Familie verleugnet und dass der Ödipuskonflikt mit der Angst vor dem Inzest reaktiviert wird: »Das imaginäre Kind ist aus dem ödipalen Konflikt und aus der, der Mutter nicht eingestandenen Liebe

27 | Vgl. Bydlowski, Monique: »Les enfants du désir. Le désir d’enfant dans sa relation avec l’inconscient«, in: Psychanalyse à l’Université 4, Heft 13, 1978, S. 59-92. 28 | Racamier: Mère mortifère, S. 45.

2.  Transgenerationale Weitergabe

für den Vater hervorgegangen, aus der Liebeslust, die es mit seinem Vater gehabt hätte.«29 Die verdrängte Schwangerschaft unserer Patientin hat diese Situation illustriert (vgl. Kapitel 2.1). So kann sich je nach ihren Abwehrmechanismen eine Tür zur Psychose durch die Verwerfung des Namens des Vaters öffnen. Es geht dabei um die Frage der Identität, der Integrität des Ich mit allen Risiken einer depressiven Dekompensation oder einer paranoiden Krise. Racamier30 sagt über die davon betroffenen Frauen, dass der Zugang zur Mütterlichkeit mit einer psychotischen Episode endet, weil sich diese Frauen als mörderisch und todbringend, aber ebenso als gemordet und getötet empfinden. Der Tod ist nie weit entfernt von der Geburt, zwischen Mord- und Todestrieb. In diesem Zusammenhang sind auch unsere Fälle mit Frau Stella und Frau Astrid von großer Hilfe, um die dabei wirkende unbewusste Dynamik zu erkennen.

2.3.3 Eine Geburt zwischen Traum und Trauma »Mit der mütterlichen Liebe gibt das Leben im Morgengrauen ein Versprechen, das es nie hält.« R omain G ary 31

Im Morgengrauen des Lebens verspricht die Welt dem gerade aus dem mütterlichen Bauch gekommenen Neugeborenen eine Urenttäuschung und nicht eine Garantie fürs Leben, denn Mutter ist kein Synonym für Glück. Das Leben einer Familie ist immer um die Person mit den größten psychischen Wunden und Verletzungen strukturiert, zwischen Traum und Trauma, Ambivalenz und Ambiguität. Eine Mutter kann sich dem nicht entziehen, ebenso wenig wie im Übrigen der Vater. »Die Mutter ist die, die sie ist. Man kann ihr beistehen, ohne von vornherein zu versuchen, sie zu perfektionieren oder auch ihr das Kind wegzunehmen. Aber es genügt nicht, einer Mutter, die gerade entbunden hat, zuzuhören; das Gesagte hat nur geringe Beziehung zum Gelebten, zur Bewegung, zu den notwendigen Abläufen. Für die Person, die sich um

29 | Vgl. Soulé: La dynamique du nourrisson, S. 138: »L’enfant imaginaire est issu du conflit œdipien et de l’amour pour le père non avoué à la mère, issu du plaisir qu’elle aurait eu avec son père.« Eigene Übersetzung. 30 | Vgl. Racamier, Paul-Claude: »La mère et l’enfant dans les psychoses du post-partum«, in: L’évolution psychiatrique Band 26, Heft 4, 1961, S. 523-570. 31 | Gary, Romain: La promesse de l’aube, Paris: Gallimard 1960, S. 38: »Avec l’amour maternel, la vie vous fait à l’aube une promesse qu’elle ne tient jamais.« Eigene Übersetzung.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« diese Mutter und um ihren Säugling kümmert, kommt es auf ein Damitleben und vor allem auf ein Damitumgehen an.« 32

Was bedeutet eine Geburt für eine Frau, ein Paar, eine Familie? Wie äußern sich die Frauen grundlegend über diese Erfahrung? Viele Frauen sehen darin das wichtigste Erlebnis im Leben einer Frau, von dem sie »gern«33 anderen Frauen gegenüber erzählen, es bei jedem Mal mehr ausschmücken oder dramatisieren, wie es die Männer mit Berichten über ihren Militärdienst oder früher mit Kriegserlebnissen taten. Die Vergangenheit kommt immer wieder hinein. In dieser unaufhaltsamen Wiederholung sehen die Psychoanalytiker, dass Frauen von Geburt an die immer noch aktiven traumatischen Inhalte in sich bewahren, die sie mit anderen Frauen austauschen und kommentieren. Die Geburt ist also eine grundlegende Erfahrung der Weiblichkeit, weil nur Frauen gebären. Nach der Psychoanalytikerin und Kinder- und Jugendpsychiaterin Myriam Szejer ist die Geburt ein wesentlicher Moment der Gründung, der Entstehung, der für die Abstammung und Familienorganisation entscheidend ist. Wie sie ausführt, wurde bereits sehr früh angenommen, dass die initiale Trennung der Mutter vom Kind Spuren in der Psyche des Neugeborenen hinterlässt. Das betrifft den ursprünglichen Narzissmus, der sich in der folgenden Entwicklung selber verwandelt und das Selbstvertrauen formt. Dank des technologischen Fortschritts weiß man heute, dass bereits vor der Geburt zahlreiche entscheidende Züge vorhanden sind. »Man hat die Idealvision der vielberufenen Mutter-Kind-Fusion während der Schwangerschaftsmonate neu überdacht. Heute beobachtet man vielmehr eine sehr raffinierte Zusammenarbeit zweier voneinander unabhängiger Organismen.«34 Und die Geburt definiert Szejer folgendermaßen: »Lange Zeit hindurch wurde die Geburt als zerstörerischer Traumatismus betrachtet, aber in Wirklichkeit besteht keine besondere Pathologie; das Baby wird von den Wehen, die es 32 | Dolto, Françoise: »Actes des rencontres de l’hôpital Saint-Vincent -de-Paul, 1718 juin et 15 oct. 1977«, in: dies.: Naître… et ensuite?, https://les-cahiers-du-nn. weebly.com/uploads/3/5/3/5/3535814/naitre_et_ensuite_-_ensemble_du_livre. pdf, S. 166: »La mère est ce qu’elle est. Sans chercher d’emblée à la perfectionner, pas plus qu’à lui retirer son enfant, on peut l’assister […] mais ça ne suffit pas du tout, pour une mère qui vient d’accoucher, de l’écouter; le dire n’a pas tellement de rapport avec le vécu, la motricité, le fonctionnel en jeu […] il s’agit d’un ›vivre avec‹ et surtout d’un ›faire avec‹ pour la personne qui s’occupe de cette mère et de ce nourrisson.« (Herv. i. O.) Eigene Übersetzung. 33 | Soulé: La dynamique du nourrisson, S. 152. 34 | Frydman, René / S zejer, Myriam: La Naissance, Paris: Albin Michel 2010. Szejer ist Schülerin Doltos gewesen.

2.  Transgenerationale Weitergabe nach unten schieben, massiert. Es verfällt in eine Art Halbschlaf, eine Form von Hypnose, die ihm hilft, den gesamten Vorgang durchzumachen, ohne zu leiden, bis hin zu den allerletzten Wehen, einem Moment, in dem das Kind aufwacht. Selbst der berüchtigte ›Schrei‹, der als Ausdruck des Schmerzes interpretiert wurde, wenn Luft in die Lungen dringt, muss nicht zwangsläufig auftreten. Dagegen muss das Kind im Freien – außerhalb des Mutterleibs – bestimmte vorgeburtliche Elemente wiederfinden: den Herzschlag der Mutter, den Geruch des Fruchtwassers auf der mütterlichen Brustwarze, die vertrauten Stimmen der Eltern. Diese sich dem Kind eingeprägten Wahrnehmungen sind von grundlegender Bedeutung und wirken wie echte Orientierungspunkte für die Identität. Aus diesem Grund sorgen die Hebammen dafür, dass das Baby unmittelbar nach der Geburt der Mutter auf den Bauch gelegt wird, wie ein frühzeitiges An-die-Brust-Legen.« 35

Aus Sicht des Kindes hat die Geburt nichts mit der Entbindung zu tun, wie sie die Mutter erlebt. Jede Beschreibung, wie auch die oben zitierte, lässt das Erleben der Mutter, insbesondere die Verlusterfahrung, die offensichtlich damit einhergeht, außer Acht. Szejer fügt hinzu: »Eine Geburt ist noch lange nicht zu einer harmlosen Angelegenheit geworden, nicht in rein medizinischer und schon gar nicht in affektiver Hinsicht.«36 Denn die Entbindung fällt nicht zusammen mit dem Erleben von Geburt und Trennung. Die Zeit der Entbindung ist nicht das Zeiterleben der Geburt. Berücksichtigt man die Erzählungen, Berichte und Darstellungen, so gehört die Entbindung den Hebammen, dem medizinischen Personal; während der Dauer der physiologischen Arbeit fühlt sich die Frau jeglicher von ihr selbst gesteuerter Kontrolle ihres Bauches, ihres Uterus, ihres Schmerzes enthoben. Die messbare Zeit zählt nicht, nur die ›Dauer‹. Denn die Dauer ist der gelebte Ausdruck der Zeit. Bis zu dem Augenblick der Geburt, auf den sich alles konzentriert, an dem Zeit und Raum zusammenfallen: Eine Wehe, die das Neugeborene in eine laute lärmende Welt befördert, ist eine Eintragung eines Körpers in die Zeit oder, wie ich sagen möchte, von Spuren der ahistorischen Zeit im Körper. »Unablässig, während seines Vorrückens in der Zeit, schwillt mein Seelenzustand um die Dauer an, die er aufrafft; aus sich selbst sozusagen, rollt er einen Schneeball«37, schreibt Bergson, und kein anderes Bild als das Aufraffen der Dauer könnte die Schwangerschaft besser beschreiben. Dauern heißt, seine Natur zu verändern, metaphorisch ausgedrückt: von Zeit zu Materie werden. 35 | Szejer: Platz für Anne, S. 23. 36 | Ebd. 37 | Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Jena: Diederisch 1912, S. 9; Original: Evolution créatrice, Paris: PUF 2009, S. 2: »Mon état d’âme, en avançant sur la route du temps, s’enfle continuellement de la durée qu’il ramasse; il fait, pour ainsi dire, boule de neige avec lui-même.«

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Nach Bergson kann eine Sache ihre Natur (oder ihre Position oder ihre Quantität) aber nur ändern, weil sie sich selber nachfolgt, d. h., weil sie eine bestimmende Vergangenheit hat. Um seine Natur zu ändern, muss man dauerhaft sein, d. h. sich selbst im Bewusstsein der eigenen Vergangenheit nachfolgen. Wenn die Dauer ausgehend von der Vergangenheit abläuft, dann öffnet das Leben die Gegenwart für die Zukunft, weil sie ihrem Wesen nach unvollendet ist. Leben ist schöpferisch. Ich halte es für die Erfassung der schöpferischen Entwicklung der FrauMutter für wesentlich, hier eine weitere Zeitdimension einzuführen, die des Unterschieds, der différance (= Differenz). Derrida hat das Konzept der ›différance‹ – mit ›a‹ – erfunden, um die Verschiebung durch die Schrift oder jedes andere menschliche Werk, wie der Malerei oder Bildhauerei, zwischen dem Subjekt und seinem Werk hervorzuheben. Diese Verschiebung weist auf eine Trasse hin, die verborgen bleibt. Gebären ist ein menschliches Werk, das intimste, geheimste und dennoch zuweilen das sichtbarste! Die Schwangerschaft in ihrer Dauer fordert mit der damit einhergehenden Veränderung des Körpers dazu auf, Zeit und Raum in der sehr präzisen Bedeutung von différer zu betrachten: Und das bedeutet sowohl ›nicht identisch sein‹ wie ›aufschieben‹. Mit Differenz wird eine Unterscheidung in dem, was sich darstellt, geschaffen. Diese Unterscheidung gibt dieser Differenz eine imaginäre Bedeutung, die widersprüchlich ist. Daher ist man gezwungen, einen Sinn, eine Richtung, einen Faden der freien Assoziation zu suchen. Der Sinn ist symbolisch. Derrida weist darauf hin, dass im Französischen die Endung -ance unentschieden zwischen dem Aktiv und Passiv verharrt. »Und wir werden sehen warum, was sich durch ›différance‹ bezeichnen lässt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündig.«38 Greifen wir diese Bemerkung auf, um sie auf die mütterliche Funktion anzuwenden, denn die schwangere Frau erlebt ihren Fötus als Spur eines Schöpfungsgeheimnisses, an der sie weder einen aktiven noch einen passiven Anteil hat, als Absenz der Präsenz, was die psychotische Krise auslöst, oder als Präsenz der Absenz, was zur Depression in der Einsamkeit führt. Wir müssen darauf bestehen, dass für jede Frau diese Lebensspur zunächst ein imaginiertes Kind ist, das noch nicht imaginär (weil nicht reflektiert) ist, es ist inzestuös, allmächtig und ideal. Es ist bereits im Kopf entstanden, wenn es auf die psychische Realität des Anderen des Subjekts – die der prähistorischen Mutter – trifft. Es wird zur Spur des Begehrens in einer Struktur der Verwandtschaft, einer Spur, die »in sich das Zeichen der Vergangenheit trägt«39. 38 | Derrida, Jacques: Marges de la philosophie, Paris: de Minuit 1972, S. 9. 39 | Ich verweise von Neuem auf den Fall der verdrängten Schwangerschaft in Kapitel B.2.1.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Aktiv, passiv, in der Unterscheidung ist das Schuldgefühl verschwunden. Das Rätsel dieses Verlangens nach dem Kind wird nicht ohne Angstgefühle gelöst, wie es Didier-Weill ausführt: »Wenn die Angst möglich ist, dann deshalb, weil die Erfahrung der Freiheit, die gegeben ist, wenn es kein Schuldbewusstsein mehr gibt, eine radikale Furcht begründet. Wovor? Vor der dem Subjekt sich bietenden Möglichkeit, eine neue Existenz zu erzeugen […] und das Mysterium der wahrhaftigsten Erfahrung des Menschen zu erleben. Das Rätsel einer solchen Erfahrung liegt darin, dass das menschliche Subjekt möglicherweise eher vor dem Appell zurückschreckt, das Recht auf Leben zu bejahen, als vor der todbringenden Aufforderung, es zu verneinen.« 40

Kann eine Frau gleichzeitig Frau und Mutter sein, gleichzeitig und nicht zeitversetzt? »Früher war ich Ehefrau, bevor ich Mutter wurde. Jetzt bin ich zunächst und in erster Linie Mutter«. Diese Aussage ist eine Bestätigung der Theorie. Als Frau hat sie ein Begehren, und als Mutter ist sie in die Position zwischen aktiv und passiv versetzt. Aus der strukturellen Analyse von Mütterlichkeit und Frausein folgt, dass sie nicht gleichzeitig Frau und Mutter sein kann. Es ist zeitversetzt, aber nicht ohne konflikthafte Risiken und strukturelle Fragilität. Nach dem Ansatz lautet die Frage, ob Frau- und Muttersein als zeitversetzt stattfinden kann, denn der strukturelle Konflikt ist in einem einzigen Moment zu lösen. Die Frau versucht, durch die Aussage in der Verschiebung von der Frau zur Mutter eine Sicherheit zu finden. Trotz der Gewissheit, dass Frauen seit Jahrtausenden Mütter werden – was bedeutet das Erleben der Geburt, das als außerhalb der Zeit befindlich empfunden wird, weil die Kontinuität der unbewussten Identifikationen unterbrochen wird? Dadurch entsteht ein Aufschub, der es erlaubt, dass die Identifizierung zu Vorstellungen führt, die es der Frau ermöglichen, eine imaginäre Bindung zu schaffen, um das Mütterliche zu bilden und sich selbst als Mutter anzunehmen. Von einem anderen Aspekt gesehen, spielt sich Folgendes ab: Das mütterliche Gewebe wird durch den Einbruch der Realität bei der Entbindung zerrissen, und die Zeit bricht in das Imaginäre ein, in die unbewussten 40 | Didier-Weill, Alain: »Psychanalyse et droits de l’homme«, in: Insistance. Art, psychanalyse, politique 4, Heft 1, 2010, S. 27-34, auch online unter https://www.cairn. info/revue-insistance-2010-1-page-27.htm#pa17, Zugriff am 01.12.2017: »Si l’angoisse est possible, c’est que l’expérience de liberté qui s’ouvre quand il n’y a plus de culpabilité est l’occasion d’une crainte radicale. Devant quoi? Devant la possibilité dans laquelle est dès lors le sujet de procréer une existence nouvelle […] [E]st le mystère de ce qu’il y a de plus réel dans l’humain. L’énigme devant laquelle nous laisse cette expérience est celle-ci: le sujet humain peut être plus effrayé par l’appel à dire ›oui‹ au droit d’exister que par l’injonction mortifère à dire ›non‹ à ce droit.« Eigene Übersetzung.

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und bewussten Identifizierungen der Frau mit ihrer Mutter und einer mütterlichen Funktion, die aus den vorangegangenen Generationen tradiert wurde, im Fall des Gelingens. Die Mutter braucht das Geburtserlebnis als Zäsur und Kontinuität zugleich, die Geburt ist Einbruch des Realen, im Sinne Lacans, weil etwas nicht symbolisiert werden kann. Wenn der Faden reißt, ist der Sinn (frz. sens) blockiert  – ab-sens  –, der Schnitt, bei dem stets das Reale in Form von Sex-Sectio evoziert wird. Die junge Mutter verliert ihre Rolle als Propfen für das mangelnde Begehren ihrer eigenen Mutter: Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Mutter zu einer erfüllten Frau gemacht. Aber mit der Geburt ihres eigenen Kindes wiederholt sie das, womit ihr Kind Propfen ihres Begehrens wird, ein Propfen, der bei der Geburt herausspringt. Bei jeder Geburt wird physiologisch ein Propfen sekretiert, der SchleimPropfen! In der Leere des Blicks auf dieses fremde neue Wesen, das Neugeborene, drückt sich die Leere des Uterus aus. Für diese Frauen ist jedes Anpassen dem Verlieren gleichgesetzt, und jedes Verlieren bedeutet Entzug von Ersatzbefriedigung. Die Geburt ist die erste Erfahrung einer nicht übertragbaren Trennung von der eigenen Mutter, die selbst häufig im Wunsch eines fusionellen, verschmelzenden Zustands mit ihrem Kind-Phallus verblieben ist. Der Wunsch nach Fusion ist stärker als die Trennung, und die Konfrontation mit diesem Dilemma reaktiviert den Todestrieb im Sinne Doltos. Das Kind ist dann narzisstisch besetzt als partielles Objekt der Mutter und nicht als Subjekt des Begehrens der Eltern, was bedeutet, dass sich die Schwangerschaft über die Geburt hinaus fortsetzt. Die im Netz der eigenen Geschichte gefangene Mutter ist gegensätzlichen Bestrebungen ausgesetzt. Sie ist diejenige, die nach Winnicott41 in der Ambivalenz zwischen der Tendenz nach primärer Verschmelzung mit dem Kind und der Anerkennung der Abtrennung des Kindes von ihrem Körper stecken bleibt. Und sie ist diejenige, die sich paradoxerweise als ›Umwelt-Mutter‹ von dem Kind lösen muss. Dieser Zeitabschnitt zwischen dem Empfangen des Babys (der Geburt) und der Realität seiner Gegenwart erweist sich aus der klinischen Perspektive als entscheidend. Die Chinesen haben ein ausdrucksvolles Bild für diesen Zeitabschnitt, denn sie bezeichnen den Neu-Geborenen als den Ehemalig-Alten, der wissend ist und dadurch entsprechend dem Glauben an die Wiedergeburt die Zeit der Entdeckung für die Mutter verkürzt: Sie muss etwas entdecken, was sie schon von ihrem Leben kennt. Wenn die Zeitspanne zwischen der Geburt und der Anerkennung der Realität des Kindes nicht gesichert erscheint, ist die Existenz eines von der Sprache nicht verarbeiteten zeitlichen Abstands als Auslöser ei41 | Vgl. Winnicott: De la pédiatrie à la psychanalyse.

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ner depressiven Krise imminent. Damit ist der Zwischenraum zwischen Mutter und Kind verloren, es gibt keine Worte, die eine Beziehung zulassen, keinen Blick – und keine Zeit mehr zu verstehen. Der Psychoanalytiker, der diesen Prozess begleitet, braucht Zeit, damit sich das Wort und der Lebenstrieb in der Beziehung der Mutter zum Kind auf bauen. »Die Praxis auf der Geburtsstation findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem für Mutter, Vater und Kind die Frage der Generationen ganz aktuell in Erinnerung gerufen wird.«42 Der Analytiker setzt sich insofern an die Stelle der künftigen Generation, als er der Mutter die Möglichkeit einer Zukunft garantiert. Er erträgt die gegen ihn gerichteten Gewaltakte und verringert dadurch die Risiken der gegen das Neugeborene gerichteten Gewalt. Jede Frau muss die Möglichkeit haben, in dieser Zeit zu sprechen und ihre widersprüchlichen Empfindungen zur Sprache zu bringen. Ansonsten wird sie apathisch bis hin zum Mutismus. Im Gespräch erkennt die Mutter nach und nach ihre eigene Gewalt und willigt ein, sich mit dem Hass auseinanderzusetzen, zu dessen Objekt sie selbst geworden ist, zum Preis der Depression. »Die Funktion der Sprache besteht nicht darin zu informieren, sondern zu evozieren. Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage.«43 Zwischen dem Zeitpunkt der Empfängnis und dem der Entbindung umfasst die Schwangerschaft gleichzeitig libidinöse wie destruktive Prozesse. Dabei stellt sich die Aufgabe, das Schicksal der Triebe durch Überwindung der Vergangenheit neuzugestalten. Die Depression ist das, was das Subjekt in seiner unbeantworteten Frage an den Anderen ausmacht. Sie ist Ergebnis des »Verfehlens der Begegnung« mit dem Anderen, wie Lacan es nennt, oder für Kristeva ein Zeichen dafür, dass »der Selbstvorwurf Hass auf den Anderen«44 ist. Diese Empfindung, so radikal wehrlos zu sein, dass man einen psychischen Schmerz sucht, ist die Depression in ihrer Negativität, in der »Arbeit des Negativen«, nach A. Green45. Geburt und Tod stoßen in einer banalen Dialektik der Generationen- / Erbfolge aufeinander, ausgelöst durch ein prächtiges Baby, das sein Unbehagen innerhalb der Generationenfolge herausschreit. Häufig kommen Eltern mit 42 | Szejer, Myriam: »Die Worte des Baby-Blues – Worte, um geboren zu werden«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 39: Die frühe Entwicklung und ihre Störungen, Heft 2, 2007, S. 33-43, hier S. 34. 43 | Lacan: Schriften 1, S. 143; Original: Écrits, S. 181: »Car la fonction du langage n’y est pas d’informer, mais d’évoquer. Ce que je cherche dans la parole, c’est la réponse de l’autre. Ce qui me constitue comme sujet, c’est ma question.« 44 | Kristeva: Schwarze Sonne, S. 19; Original: Soleil noir, Dépression et mélancolie, Paris: Gallimard 1987, S. 21: »La plainte de soi est une haine de l’autre«. 45 | Green, André: Le Travail du Négatif, Paris: de Minuit 1993.

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unruhigen Kindern, als Symptomkind für eine nicht entdeckte mütterliche Problematik, in die Praxis. Diese Kinder zeigen schnell, dass sie kein Interesse an einer Therapie haben, dulden aber, dass die Problematik der Mutter auf diese Art präsentiert wird. Das Kind wird als Symptom der Depression seiner Mutter vorgestellt, als Metapher. Die Metapher ist etymologisch betrachtet das, was man mithilfe einer Stilfigur überträgt oder nachträgt. So wirkt das Symptom als ein sprachliches Bild, das sich auf den Körper bezieht. Lacan fasst das so zusammen: »Das Symptom ist eine Sprache, deren Sprechen befreit werden muss.«46 Warum schreien die sogenannten Schreibabys? Warum spucken unruhige Säuglinge? Man weiß, dass Neugeborene zu Beginn ihres Lebens extrem permeabel für die positiven und negativen Gefühle ihrer Mutter sind. Wenn es einem Baby schlecht geht, weil es das Leiden der Mutter spürt, dann drückt es sein Unbehagen mit Weinen und Klagen aus, aber auch mit der Desorganisation seiner vitalen Funktionen: Störungen des Schlafes, der Nahrungsaufnahme, der Verdauung. Ein Baby äußert sich hauptsächlich durch seinen Körper. Wenn eine Mutter von dem Trauerfall oder Ereignis erzählt, das die Ursache für ihr Leiden ist, dann beginnt ihr Baby, das in seiner Wiege am anderen Ende des Zimmers liegt, zu schreien. Die Neugeborenen sind emotional noch eng mit ihrer Mutter verbunden. Dazu schreibt Bettina Salis, eine Hebamme: »Schreikinder können sowohl Ursache als auch Folge mütterlicher Depressionen sein. Die betroffenen Mütter sind erschöpft, weil sie kaum ausreichend Schlaf bekommen, und auch die Anspannung ist enorm. Dazu kommt die permanente psychische Überforderung. So entsteht ein Teufelskreis: Das Kind schreit, die Mutter ist verunsichert und kann nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren. Das wiederum veranlasst das Kind, noch mehr zu schreien.« 47

Interpretiert man die psychosomatischen ›Störungen‹ der Neugeborenen ausgehend von dem, was sie ausdrücken wollen, d. h., will man verstehen, was ein Baby mit den Störungen sagen will, die es über seinen Körper signalisiert, so hilft sein Hilferuf in erster Linie der Mutter.

46 | Lacan, Jacques: »Symbol und Sprache als Struktur und Grenzbestimmung des psychoanalytischen Feldes« [1953], in: ders.: Schriften 1, 1973, S. 71-169, hier S. 109; Original: »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse«, in: ders.: Écrits, 1966, S. 237-322, hier S. 269: »Tout symptôme est un langage dont la parole doit être délivrée.« 47 | Salis, Bettina: Psychische Störungen im Wochenbett, München: Urban & Fischer 2007, S. 30.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Diese ›Krise am Lebensanfang‹ zeigt laut Knott mit verschiedensten Symptomen eine Regulationsstörung: »Dem Kinderarzt werden [die Säuglinge; CM] als Schreibabys mit Ein- und Durchschlafstörungen vorgestellt, mit Fütterstörungen, aber auch mit rezidivierenden Infekten oder unklaren Entwicklungsverzögerungen […]. Frauenärzte lernen die Schwierigkeiten aufseiten der Mütter kennen, deren postpartale Depression sich oft nur sehr diskret als ängstlicher Rückzug zeigt, aber die gesunde Entwicklung ihrer Kinder nachhaltig hemmen kann.« 48

Ein Kind, das von der Mutter oft als böse, aggressiv, immer fordernd und nie von ihr zufriedengestellt angesehen wird, versucht nichts anderes, als mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, also seinem Körper, die Mutter aus der Falle der Depression, in der sie gefangen ist, zu befreien. Es versucht, sie zu verwandeln. Es versucht, sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Aber der Akt des Erinnerns entsteht in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit. In seiner »Conférence à Genève« bestätigt Lacan diese Auffassung: »Was das Kind betrifft, so wird die Art und Weise, mit der ihm das Sprechen beigebracht wird, davon beeinflusst, in welchem Maße es die Eltern akzeptiert haben. Ich weiß, dass es dabei alle möglichen Varianten und Abenteuer gibt. Selbst ein unerwünschtes Kind kann […] später besser aufgenommen werden. Trotzdem wird etwas davon zu spüren sein, dass das Begehren nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden war. […] Das müssen wir sehen, das müssen wir verstehen, wenn der Patient nach einem Sinn sucht, nach einem Warum, nach einer Orientierung für sein Leben.« 49

Die radikale depressive Option einer Mutter, nicht Mutter sein zu dürfen oder zu können, ist ihre Möglichkeit, die Mutterschaft zu negieren, gar zu annullieren, sich ihr zu entziehen, indem sie stirbt.

48 | Knott, Maria: »Krise am Lebensanfang«, in: Deutsches Ärzteblatt PP 12, Heft 6, 2013, S. 268. Knott arbeitet in der psychotherapeutischen Babyambulanz in Stuttgart. 49 | Lacan, Jacques: »Conférence à Genève«, in: Bloc note de la Psychanalyse, Heft 5, 1975, S. 5-23, hier S. 10: »Quant à l’enfant, la façon dont lui a été instillé un mode de parler ne peut que porter la marque du mode sous lequel les parents l’ont accepté. Je sais bien qu’il y a à cela toutes sortes de variations et d’aventures. Même un enfant non désiré peut […] être mieux accueilli plus tard. N’empêche que quelque chose gardera la marque de ce que le désir n’existait pas avant une certaine date. […] C’est ce qu’il nous est donné à voir, à comprendre lorsque le patient erre à la recherche d’un sens, d’un pourquoi, d’une orientation à donner à sa vie.« Eigene Übersetzung.

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Ein Trauma ist nach Hirsch »eine Kurzformel; man muss unterscheiden zwischen dem traumatisierenden Ereignis (Reiz, Einwirkung der Situation) als Prozess der Traumatisierung, dem traumatischen Zustand und schließlich den bleibenden pathologischen Veränderungen.«50 Bohleber zitiert Cooper: »Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeiten des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass diese droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation.« 51

Das geschieht bei der PPD, wobei sich eine Geburt, die sich als Verlust, als EntBindung entpuppt, zur narzisstischen, ja sogar psychotischen Störung entwickelt. Rolf Lappert zeigt in seinen Roman Nach Hause schwimmen, was er the first deadly sin, die erste tödliche Sünde, nennt: »Als er geboren wurde, starb seine Mutter. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, ihn sieben Monate und elf Tage in ihrem Bauch zu tragen. Ihn aus sich herauszupressen, brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete. Wie zur Strafe dafür, dass er seine Mutter getötet hatte, schlug ihn der Arzt auf den Hintern. Er schrie und machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat […]. Er war allein. Er spürte, dass etwas fehlte, das er nicht in diesem Glasbehälter sein sollte. Deshalb schrie er.« 52

Ein Schreikind ist nicht per se aggressiv. Die Aggression ist keine Gewalt, sondern Überlebensstrategie. Aggression leitet sich von dem lateinischen Verb aggredi ab, was ›herangehen‹ und ›zuwenden‹ bedeutet. Der ursprüngliche Begriff bezeichnet somit ein prosoziales Verhalten, während der Begriff heute eine negative Konnotation beinhaltet. Aggression könnte man auch eine Regression auf den Anspruch nennen. Sie verbleibt in einer dyadischen Situation, ohne etwas Drittes anzuerkennen, vielleicht weil kein Drittes vorhanden ist. 50 | Hirsch, Mathias: Psychoanalytische Traumatologie. Das Trauma in der Familie. Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen, Stuttgart: Schattauer 2004, S. 3. 51 | Cooper, Arnold M.: »Toward a limited definition of psychic Trauma« [1986], zitiert nach Bohleber, Werner: »Die Entwicklung der Traumatherapie in der Psychoanalyse«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54, Heft 9-10, 2000, S. 797-839, hier S. 829 ff. Cooper war bis 2011 Professor im New York Weill Cornell Medical Center. 52 | Lappert, Rolf: Nach Hause schwimmen, München: dtv 2009, S. 11.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Aggression, Depression und Leere liegen deshalb nicht weit voneinander entfernt. Die Leere der Gebär-Mutter gilt als Kastration und erklärt die Depression. Genauso ist es für das Baby, das aggressiv herausschreit, was gehört werden soll: Den Verlust des mütterlichen Objekts.

2.4 D er B lick und die L eere In der klinischen Arbeit mit depressiven Müttern hat sich die Dimension des Blicks im Spiegel des Anderen, die Spiegelung des Blicks in den Augen des Babys als Reaktivierung des verlorenen Objekts der Mutter, als bedeutsam erwiesen. Daraus entspringt die Spiegelung des Blicks als Erinnerung eines Verlustes zwischen Mutter und Kind mit manchmal verheerenden Folgen. Die Ästhetik der mütterlichen Depression verweist auf die Bedeutung der Spiegelung des Blicks zwischen Madonna und Kind.

2.4.1 Frau Ritter oder der teuflische Blick Frau Ritter, die Kämpferin, eine hübsche, jung wirkende 40-jährige Hebamme, wird mir vom Hausarzt überwiesen mit der Diagnose einer depressiven Erschöpfung und Somatisierungsstörung. Sie berichtet, wie sie in ihrer Kindheit unter der Krankheit ihrer mittleren Schwester gelitten hat. Die Patientin ist die dritte und jüngste Tochter. Die älteste Schwester ist zehn, die zweite fünf Jahre älter als sie. Sie erzählt zwei markante Kindheitserinnerungen: Beiden ist gemeinsam, dass ihre Mutter die Kontrolle verliert. In der Ersten sieht sie ihren Vater im Anzug, kurz bevor er zur Arbeit auf brechen will, übergossen von einer Tasse Tee durch die schreiende Mutter. Bei der zweiten Erinnerung wirft die Mutter, die eine starke Raucherin ist, einen Aschenbecher gegen die Wand. Die Ehe der Eltern war, soweit sie sich erinnern kann, unglücklich; sie lebten nebeneinander her und kämpften auch gegeneinander. Beispielsweise pflegte die Mutter gegen vier Uhr nachts zu Bett zu gehen, wenn der Vater bereits wieder aufstehen musste. Die Mutter, die ein Diplom als Chemikerin hatte, hat sich für die Kinder »aufgeopfert«. Sie hat nie gearbeitet, was sie ihren Töchtern ständig zum Vorwurf macht. Sie ist künstlerisch begabt und beschäftigt sich nachts mit Tonskulpturen sowie Malerei. Als die Patientin 24 Jahre alt war, ist ihre Mutter zum ersten Mal für vier Monate in die Psychiatrie eingeliefert worden. Danach ist sie jedes Jahr zu Weihnachten in eine Kurklinik für Berühmtheiten gegangen, die sie als »Ferienlager« bezeichnete. Heute lebt ihre Mutter »nach ihrem eigenen Rhythmus«. Sie ist ebenso wie der Vater hypochondrisch und magersüchtig, raucht und trinkt zu viel.

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Der Vater von Frau Ritter, der ältere Bruder einer behinderten Schwester, verlor seinen eigenen Vater mit elf Jahren. Er war auf seine Mutter fixiert und fühlte sich verantwortlich für sie. Sie starb an Leukämie, nachdem sie ein Jahr im Haus der Familie Ritter gewohnt hatte. Damals war die Patientin 27 Jahre alt, das war im gleichen Jahr, in dem sie heiratete. Ihr Vater hat kein akademisches Studium abgeschlossen. Er hat sich aber bis zum Geschäftsführer hochgearbeitet und war beruflich viel unterwegs. Er hatte einen Herzinfarkt, als die Patientin zehn Jahre alt war, was sein Leben sehr geprägt hat, besonders seine Art zu essen. Der Vater wiegt sich morgens und abends. Die Patientin erzählt, wie er überpräzise sein kann, penibel. Er legt Wert auf eine gewählte Ausdrucksweise, spricht mehrere Sprachen perfekt und korrigiert die Patientin heute noch in ihrer Redeweise unablässig. Mir scheint, dass in der Biographie der Patientin ein besonderes gleichzeitiges Auftreten verschiedener Situationen stattgefunden hat. Im zehnten Lebensjahr der Patientin kam es zu einer krisenhaften Entwicklung, als aufeinanderfolgend der Vater einen Herzinfarkt erlitt, (was besonders bedrohlich angesichts seines eigenen frühen Vaterverlusts gewesen sein muss), die Schwester eine lange dauernde Anorexie entwickelte und sich alles um diese drehte, während sie selbst mit Panikattacken, Todesängsten und, besonders bemerkenswert, einer Messerphobie reagierte, aber kaum Beachtung fand. Wegen ihrer Panikattacken, übrigens heute Grund für die erneute Psychotherapie, schaffte sie erst im dritten Anlauf die Aufnahmeprüfung zur Hebammenschule. Den Beruf hat sie gewählt, weil sie Verantwortung für Frauen und Kinder übernehmen wollte. »Frauen und Kinder zuerst!«, kommentiert sie, wie im Fall von in Seenot Geratenen. Noch bevor die Patientin im Therapieverlauf erstmals schwanger wird, träumt sie, wie sie sich mehrmals ein Messer in den schwangeren Bauch rammt. »Ich hatte Panik, nicht Stopp sagen zu können zu dem Kind in mir, wenn es sich die ganze Zeit bewegt. Aber nicht kontrollieren zu können, was in mir ist, heißt, zu respektieren, dass es von mir verschieden ist. Nicht immer im Einklang zu sein, heißt, das Kind trotzdem zu lieben.« In der gleichen Nacht träumt sie einen weiteren Traum: »Da war eine Wiege, in der ich ein totes Baby liegen sah.« An die Therapeutin gewandt, fragt sie: »Bin ich das Baby? Ich habe eine Mordswut auf meine Eltern! Sie haben mich vergessen, vernachlässigt, verlassen!« In diesem Moment gewinnt sie Einsicht in den Sinn ihrer Panikattacken. »Mit zehn war ich völlig verzweifelt. Niemand war da, um mir zu helfen, während sich alles um meine Schwester drehte. Abwesenheit!

2.  Transgenerationale Weitergabe Abends setzte ich mich ans Fenster und erzählte mir selbst Geschichten. Ich träumte von Brüdern und in einer geschiedenen Familie zu leben. Ich erfand eine neue Familie für mich. Ich hatte Angst, im Spiegel des Fensters Menschen hinter mir zu sehen, die Toten meiner Familie.«

Die Fähigkeit der Patientin, sich im Spiegel des Fensters eine neue Familie zu erfinden, zeugt von der Lebhaftigkeit ihrer Phantasie und ihrer Energie, leben zu wollen. Das Bild ist das Produkt ihrer Einbildung. Das Bild funktioniert als Öffnung und löst die Angst gleichzeitig von der Vergangenheit wie von der Realität, denn es öffnet sich hin zur Zukunft, vorausgesetzt, ein Lebensraum übernimmt diese Rolle zwischen dem Subjekt und der Reflexion im Spiegel53. Aber allein und verlassen verliert die Patientin sich in diesen Bildern und kann der Angst, die diese auslösen, nicht entfliehen. Es gibt keinen Dritten, der Grenzen setzt und die Reflexion andeuten kann. Es gibt ebenso wenig erlangte Sicherheit, weil sich in dem Spiegel nur das reflektiert, was vor ihm platziert ist. Wie schon bei Lacan beschrieben, verlangt, sich im Spiegel zu erkennen, eine Arbeit der Konstruktion. Diese besteht darin, vom Anblick eines Fremden, der mich ansieht, zu meinem eigenen Bild zu gelangen, das ich betrachte und in dem ich mich von nun an als mich selbst erkenne. Sich Brüder zu wünschen, stellt einen Versuch der Befreiung im Hinblick auf die weibliche Identität in dieser Familie dar, in Form eines Familienromans. Die Mutter der Patientin konnte nur eine Tochter, die mittlere, als weibliches Wesen erziehen, mit langem Haar, das sie stundenlang kämmte, und diese Tochter reagierte mit dem Symptom einer Anorexie, mit dem sie die Weiblichkeitsvorstellung ihrer Mutter bekämpfte und paradoxerweise gleichzeitig sich mit ihr identifizierte. Das mütterliche Signifikante übt seine Kontrolle über das abhängige Subjekt aus, und Serge Leclaire erinnert uns daran: »Die Magersüchtige war meistens in Bezug auf das Nahrungsbedürfnis so stark von der aufmerksamen Mutter vollgestopft worden, dass aller Anspruch auf Liebe verkannt geblieben ist. So hat das Subjekt, um seinen Anspruch erneut vorzubringen, keinen anderen Weg, als die Nahrung zu verweigern, durch die sein Bedürfnis so voll befriedigt und sein Anspruch so vollständig erstickt wurde.« 54

Die Anorexie wirkt als Erstickungsangst, als Versagung des Anspruchs, der erstickt worden ist, wenn das Neugeborene einatmen muss. Gerade an dieser Stelle findet für meine Patientin das Symptom seinen Ausdruck, nämlich die Messerphobie. Eine Zerstückelung des unbewussten Körperbildes wird real, 53 | Zur Erinnerung: Das Spiegelstadium gilt nach Lacan als Bildner der Ichfunktion. 54 | Leclaire, Serge: »L’obsessionnel et son désir«, in: Evolution Psychiatrique, Heft 3, 1959, S. 383-411, hier S. 387; eigene Übersetzung.

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während die imaginäre Identitätsstörung in Bezug auf die weiblich-mütterlichen Anteile zu diesem Zeitpunkt prädominiert. Es handelt sich um die Negation der Sexualisierung als werdende Frau, Negation der Sexualität als weibliche Identifikation zur Mutter, eine Negation der Integration der sexuellen Triebe, gepaart mit der von der Mutter vermittelten Kastration. Auch die berufliche Orientierung der Patientin als Hebamme liegt hier begründet; so hat sie stellvertretend an der Mutterschaft anderer Frauen Anteil, nimmt aber auch die Abnabelung mit dem Messer vor. Anorexie versus Messerphobie: Das psychoanalytische Verständnis hat im Oraltrieb den Ursprung aller Unfälle, Anomalien und Risse gesucht, die im Bereich der Strukturierung des Begehrens aufkommen können. Der Ursprung der Weiblichkeitskonstitution ist gleichzeitig chronologisch und strukturell zu verstehen. Es ist also nicht erstaunlich, dass Lacan55 eine »Orographie« modelliert, die ich als Umsetzung der bukkalen-oralen Reliefs in Schrift verstehe, mit ihren Verwerfungen, Rissen, Flüssen und Quellen. Der Ursprung ist die Geschichte eines Schnittes, der sich anhand verloren gegangener Objekte seit der Geburt einschreibt, Plazenta, Brust, Milch, Stimme, Blick. Der Ursprung ist der Körper der Mutter, ein Phantasma, dank dessen sich unser psychisches Leben strukturiert. Ich zitiere Kläui: »Mit ihm strukturieren sich die Trennungsschritte, die die notwendigen Etappen unserer Entwicklung sind. Geburt, Entwöhnung von der Brust, Sphinkter-Kontrolle, Trennung von den Eltern. Es ist unsere Reiseroute um die Welt. Und letztlich ist es eine Barriere gegen die Rückkehr in einen sprachlosen Naturzustand.« 56

Diese Orographie wirkt wie eine Geographie des Begehrens, oder besser gesagt wie eine Orthographie, in der das Schreiben den Gesetzen entspricht. Als die Patientin im Verlauf der Therapie von ihrer Weiblichkeit sprach, zitierte sie Freuds Aphorismus »Die Anatomie ist dein Schicksal« und lachte laut, erleichtert über die Entdeckung, dass alle Frauen, ebenso wie die Mütter, verstrickt sind und ohne Angst vor kastrierenden Messern damit fertig werden müssen. Lacan kommentiert das Zitat Freuds wie folgt: »Sie [die Formulierung; CM] wird wahr, wenn wir dem Term Anatomie seinen tatsächlichen, wenn ich so sagen darf, den etymologischen Sinn geben, Ana-tomie, die Funktion des Schnittes. […] Das Schicksal sozusagen [ist; CM] das Verhältnis des Menschen zum […] Begehren.«57

55 | Vgl. Lacan: Le séminaire, livre 10, S. 15; dt.: Das Seminar, Buch 10, S. 16. 56 | Kläui: Psychoanalytisches Arbeiten, S. 109. 57 | Lacan: Le seminaire, livre 10, S. 272; eigene Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Die Funktion des Schnittes deckt die Biographie des Menschen auf und erlaubt, die Fusion-Konfusion zwischen Mutter und Kind zu enttarnen und ihr zu entfliehen. In ihrer Kindheit beschreibt sich die Patientin als »dazwischen gewesen« und malt eine Skizze, in der sie in der Mitte steht und alle anderen Mitglieder der Familie in den vier Ecken des Blattes. Sie hatte das Gefühl, schon als Kind für die Balance der Familie sorgen zu müssen, und gleichzeitig war sie sehr bedürftig, was die mütterliche Aufmerksamkeit angeht. Bedürftig und enttäuscht in Bezug auf die weibliche Entwicklung. »Meine Mutter war nur Mutter und zu wenig Frau. Zuviel für ihre Kinder, zu wenig für ihren Mann, ihren Job … Sie selbst war die ersten zehn Jahre ihres Lebens bei ihrer Großmutter, weil ihre Mutter gearbeitet hat, und sie sah sie nur am Wochenende. Jetzt verstehe ich, warum meine Mutter nicht berufstätig war, seit wir auf der Welt waren, warum sie trinkt und warum sie nicht isst. … Ich habe das Gefühl, dass ich von ihrer Geschichte eingeholt worden bin. … Meine Großmutter mütterlicherseits sagte: ›Das Leben ist eine verdammte Scheiße, aber erst einmal muss man doch essen.‹«

Das möchte die Patientin in Bezug auf die Beziehung zwischen ihrer Mutter und der an Anorexie erkrankten Schwester erzählen: Das Kind hängt von einem Objekt ab, der Nahrung, einer Situation oder Personen seines engeren Umfeldes, in einer radikalen Faszination im Zusammenhang mit dem Tod. Dieser Tod ist nicht das Aufhören des Lebens, sondern die Ewigkeit einer aufrechtzuerhaltenden Distanz, um sich besser treffen und finden zu können. Der Tod siegt über das Leben. Durch die Vibrationen der Zeit – Kronos verschlingt seine Kinder – geht die Magersüchtige auf den Tod zu, den sie nie erreicht, sie trägt ihn schon in sich, verurteilt, wie die Personen, die auf Godot warten und ohne Unterlass in der Nacht der tiefen Täler umherirren. Meine Patientin will nicht warten, will nicht sterben, ist lebenshungrig, hungrig nach Beziehungen, und macht sich bemerkbar. Sie wird laut: Als alle, Eltern, älteste Schwester, Arzt und Krankenschwester mit der anorektischen Schwester beschäftigt sind, geht sie in den Keller, holt die Skischuhe, zieht sie an und geht laut stampfend die Holztreppe wieder hoch. Alle kommen auf sie zu gerannt, weil sie den Lärm nicht identifizieren konnten … Um die Tragweite dieser Einsamkeit wahrzunehmen, hören wir auf die Fabel von René Char: »Es war einmal ein Mensch, der keinen Hunger mehr hatte, nie wieder Hunger hatte, so vollgestopft hatte er sich mit Nahrungsmitteln, so sehr hatte er seinen Nächsten verarmt, seinen Tisch und sein Bett leergefunden, […] und die schlechte Erde auf dem Feld seines Herzens. Weil er kein Grab hatte und am Leben bleiben wollte, weil er nichts zu geben und noch weniger zu empfangen hatte, flohen die Objekte, und die Tiere logen ihn

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« an, ›er raubte den Hunger und machte sich davon einen Teller, der sein Spiegel wurde und seine eigene Niederlage.‹« 58

Diese Fokussierung auf den Mangel, den Hunger, kommt wie eine Antwort in der Fabel Chars auf das Zuviel, Zuvoll, vorher alles verschlungen zu haben, und zwar, in gleicher Art, Frau – das Bett ist leer, weil er seine Frau ausgenutzt hat –, Menschen – sie sind verarmt, von ihm beraubt –, Vegetation als Metapher der Gefühle im Herzen – die Felder sind leer. Und die Frage bleibt: Wer bin ich, wer ist da im Spiegel, um welches Spiegelbild handelt es sich? Und vielleicht auch, was ist zwischen dem Spiegel und mir? Bin ich voll oder leer? Und wenn Sexualität, ein soziales Netz nicht mehr zum Leben gehören, was bleibt außer einem leeren Spiegelbild, das mit Angst behaftet ist? Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Unheimlichkeit, Angst als Affekt, ebenso wie Hoffnung, Trauer, Hass oder Liebe. Was bleibt, schreibt Peter Widmer, »ist ein Unwissen, das sich mit diesem inneren Ungrund, Abgrund meiner Existenz, paart.« Und weiter: »[W]as will der andere mir? Che vuoi? Wie sieht er mich, was bedeute ich ihm? Noch viel beunruhigender ist die Frage, ob er weiß, was er mir bedeutet, denn er selber ist ja auch dem Realen unterworfen, das ihn auf die Bahn der Repräsentationen führt.«59 1894 legt Freud im »Manuskript G« den Akzent auf den depressiven Aspekt der Anorexie, Anorexia nervosa, wörtlich: der Verlust des Begehrens: »Die der Melancholie parallele Eßneurose ist die Anorexie. Die berühmte Anorexia nervosa der jungen Mädchen scheint mir (nach guter Beobachtung) eine Melancholie bei unentwickelter Sexualität zu sein. Die Kranke gab an, einfach darum nicht gegessen zu haben, weil sie keinen Appetit hatte, nichts anderes. Appetitverlust – im Sexualen Verlust von Libido.« 60

Doch scheint es, als ob das auf die Nahrung bezogene Verhalten einer Magersüchtigen dem einer Depressiven diametral entgegensteht, ebenso wie die mentale Struktur. Die Depressiven zeigen eine physische und psychische Asthenie, eine Verlangsamung, und Konzentrationsschwierigkeiten, ein sichtbares Leiden, und vermitteln einen Eindruck des Schuldgefühls. Die Anorektikerin hingegen behält ihre intellektuellen Fähigkeiten und zeigt eine physische und 58 | Char, René: »Le Masque Funèbre«, in: ders.: Les matinaux, Paris: La Pléiade 1983, S. 316. 59 | Widmer, Peter: »Angst und Scham«, in: Vortragstext vom 24.10.2008. Eigene Notiz. 60 | Freud, Sigmund: »Manuskript G. Melancholie« [1894], in: ders.: Briefe an Wilhelm Fließ. Aus den Anfängen, 1962, S. 92.

2.  Transgenerationale Weitergabe

ebenso eine psychische Hyperaktivität. Alle Untersuchungen bezüglich der Anorexie schwanken zwischen mehreren Diagnosen, von der Hysterie zur Schizophrenie, über Perversionen, Abhängigkeiten und psychosomatische Krankheiten. Lacan behandelt die mentale Anorexie selten, aber seine Konzepte haben das Verständnis, das man bis dahin hatte, durcheinandergebracht. Besonders die Unterscheidung zwischen Bedürfnis, Anspruch und Begehren ist wertvoll. Er schreibt, dass »die mentale Anorexie nicht ein nicht essen, sondern ein nichts essen ist. […] Nichts ist genau etwas, das auf der symbolischen Ebene existiert. Dies ist nicht ein nicht essen […].«61. Dieses »Nichts« bezeugt die Leere, die die Magersüchtige durch eine Verweigerung ausdrückt, einen Appell als negativ zu hören, den Lacan so zuspitzt. Diese Leere ist verdammt dazu, unausgefüllt zu bleiben, ohne symbolischen Ausgang, denn sie ist ununterbrochen auf dem Niveau des Bedürfnisses durch die mütterliche Antwort in das Reale eingeschrieben. Heinemann und Hopf bestätigen diese Meinung und schreiben: »Aus dem Gefühl, sich gegen überwältigende Affektstürme selbst schützen zu müssen, kommt es zu einer Art primitiver Abwehr emotionaler Erregbarkeit und eine frühe Selbstständigkeit (beim Laufenlernen, Spracherwerb, Sauberwerden) […] Es fehlt ein inneres Bild der Mutter, die tröstet und pflegt.«62 Die Mutter meiner Patientin konnte niemanden trösten und pflegen, da sie selbst traumatisiert war und untröstlich blieb. Nach einer langen Pause erzählt die Patientin Folgendes: »Meine Mutter wurde von ihrem Paten vergewaltigt, als sie elf war. Sie erzählte von Exhibitionisten und traktierte uns ständig mit solchen Geschichten, sodass ich immer in Angst vor Männern war. Jetzt verstehe ich meine Angst vor dem Messer.« Die Patientin äußerte ihre Angst vor dem Impuls, selbst zum Messer zu greifen und wie ihre Mutter die Kontrolle zu verlieren. In der Kindheit habe sie befürchtet, ihre Mutter könnte in der Küche, wo sich die elterlichen Streitereien abspielten, den Vater mit dem Messer attackieren. Die Patientin heiratete 2007. Sie kannte ihren Mann seit ihrer Kindheit, weil die Familien befreundet waren. Die Familie ihres Mannes war die bessere Familie, erfolgreicher, wohlhabender.

61 | Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch 4. Die Objektbeziehung [1956-1957], Wien: Turia + Kant 2003, S. 218, Original: Le Séminaire, livre 4. La relation d’objet, Paris: Seuil 1996, S. 184: »L’anorexie mentale n’est pas un ne pas manger, mais un ne rien manger. J’insiste – cela veut dire manger rien. Rien, c’est justement quelque chose qui existe sur le plan symbolique. Ce n’est pas un nicht essen« (Herv. i. O.). 62 | Vgl. Heinemann / H opf: Psychische Störungen, S. 195.

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Gleich nach der Eheschließung fand ein Umzug ins Ausland statt, weil ihr Mann dort eine Stelle gefunden hatte. Für sie war es eine schreckliche Zeit, da sie eine attraktive Stelle aufgegeben hatte und dort die Sprache nicht verstand und niemanden kannte. Sie sei in dieser Zeit sehr unglücklich in ihrer Ehe gewesen. Allerdings habe sie die Sexualität mit ihrem Mann immer genießen können. Nach einem Vierteljahr ging sie allein zurück in ihre Heimat in die Klinik, in der sie zuvor gearbeitet hatte, mit der Angst, dass ihr Mann seinen Halt verlieren könnte. »Mir gelang es nicht, seine Frau zu sein. Ich konnte mich aber auch nicht von meiner Familie und ihren Erwartungen lösen, weil das Schuldgefühle gemacht hätte. Meine Familie ist kompliziert. Es darf einem nicht gut gehen. Zuwendung gab es immer nur, wenn jemand schwerwiegende Probleme hatte. Ging man weg, so beraubte man die Eltern ihrer Aufgabe. Seit ich zehn Jahre alt war, kam ich mir immer wie ein Spielball in der Familie vor, und heute, durch die Therapie, stabilisiere ich mich allmählich.«

Durch viele Gespräche der Eheleute gelang es ihnen, einander wieder näherzukommen und eine Lösung zu finden, die es ihr ermöglichte, in einer anderen Stadt weiter zu arbeiten und ihm eine neue berufliche Perspektive zu eröffnen. Frau Ritter äußerte dann Probleme mit ihrer Weiblichkeit angesichts ihrer anorektischen Mutter und Schwester. Diese hatte einmal gesagt: »Das nützt überhaupt nichts, schön zu sein. Frau sein heißt, abends zu fressen und morgens zu kotzen.« Und die Patientin fährt fort: »Anorektisch sein heißt, aufhören zu existieren und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber eben nicht als Frau. Das wollte ich nicht. In meiner Jugend gab es immer einen Jungen, den ich im Blick hatte, um für jemanden wichtig zu sein, wo ich schon nicht wichtig für meinen Vater war. Eigentlich bin ich eine Kind-Frau, die möchte, dass man sich um sie kümmert. Habe ich dann meinen Mann geheiratet, um meinem Vater zu gefallen? Lange Zeit habe ich mich dagegen gesträubt, als Frau zu erblühen, und ich hatte den Körper eines Teenagers, weil ich kein Vorbild einer glücklichen Frau hatte. Jetzt kann ich mich an meiner Schwiegermutter orientieren, die sehr feminin ist und weibliche Kurven hat. Mit ihr lerne ich, das Frausein zu genießen. Neulich wollte mich sogar ein Sechzehnjähriger küssen! Aber jetzt bin ich eine Frau.«

Kurz nach dieser Sitzung wurde Frau Ritter schwanger. Während des Besuchs der Eltern, bei dem sie ihnen mitteilte, dass sie Großeltern werden würden, flammten die Ängste vor Messern wieder auf, die nach ihrer Kindheit ihre Bedrohlichkeit verloren hatten. Sie erlitt eine Panikattacke

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beim Brotschneiden mit der Phantasie, sie könnte verrückt werden und mit dem Messer auf ihre Eltern und ihren Ehemann losgehen. Als ihr Mann sah, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und sie darauf ansprach, kam ihr die Erinnerung, wie ihre anorektische Schwester zum Messer gegriffen habe und die ganze Familie »aus Spaß« bedroht habe. Ihre Mutter habe damals der Schwester gesagt, sie solle aufhören, sie selbst habe vor Panik geschrien, und ihr Vater habe seine Käsescheiben gezählt. Dann sagt sie: »Ein Messer ist ein zivilisiertes Objekt, weil man nicht mehr mit den Händen essen muss, aber gleichzeitig ist es ein destruktives Objekt.« Ihr fällt zum Schneiden auch ein, dass ihre Mutter den Mädchen bis zum Alter von sechzehn Jahren die Haare streichholzlang geschnitten habe, mit Ausnahme der mittleren Tochter, die magersüchtig wird. Die Ambivalenz gut-böse oder weiblich-männlich wird grundsätzlich reaktiviert, Blut fließt sowohl bei einer Verletzung als auch während der Bluttransfusion der Schwester damals. Das Blut erlaubt zu leben; Regelblutung der Frau in Bezug auf die Mutterschaft. Sie sagt dann: »Vampire saugen das Blut bis zum Tode … wie ein Baby. Wie weiß ich, was sicher ist? Die Doppeldeutigkeit der dunklen Seite des menschlichen Wesens bereitet mir Angst.« Bei der Geburt verlässt das Baby einen Zustand, den man als ›aquatisch‹ bezeichnen könnte, bildlich an seine Mutter angeschlossen, deren Blut es durch die Nabelschnur trinkt. Vampirbaby also, von dem es sich die Mythologie nicht nehmen lässt, uns die Fakten und Untaten zu beschreiben. Die Geschichte dieser Mythologie reicht zurück bis zum Beginn des Alten Testaments: Die erste ›Untote‹ der Geschichte, die in der Schrift der Kabbala auftaucht (der Schrift zur gleichnamigen jüdischen Geheimlehre), ist Lilith, Adams erste Frau. Nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies – sie war Adam ungehorsam gewesen – suchte sie als ›Nachtgeist‹ die junge Menschengemeinde heim und stahl kleine Kinder. Die Angehörigen zu verschlingen, um sein eigenes Überleben zu sichern, ist die Problematik des Vampirs: Er ist eine blutsaugende Nachtgestalt. Allerdings, und hier arbeitet die imaginäre Repräsentation, ernährt sich das Baby vom Blut der Plazenta, Mutterkuchen, und nicht dem der Mutter. Weil diese Gestalt laut Mythologie, ein wiederbelebter menschlicher Leichnam ist, ist der Übergang zu der toten Großmutter der Patientin evident. Sie habe das Gefühl gehabt, »rechteckig« zu sein. Dazu fällt ihr der Sarg ihrer Großmutter väterlicherseits ein, von der sie nicht Abschied nehmen durfte. ›Rechteckig‹ bedeutet auch für sie, ohne weibliche Formen zu sein, verwirrt darüber, ob weiblich zu sein gefährlich oder gesund sei. Die Anorexie der Eltern sowie der Schwester sind von diesem signifikanten Symptom ›rechteckig‹ nicht weit entfernt, indem man keine runden Formen haben darf und vom Genießen ganz zu schweigen ist.

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Ein Nichtblick der Mutter, der einwickelt und der verschwinden lässt, hat eine tödliche Kälte als Konsequenz, eiskalt, von radikaler Annullierung, von definitiver Unterdrückung des weiblichen Körpers. Der Vampir füllt den Spalt zwischen Realem und Imaginärem, zwischen warmem Leben und kaltem Tod, zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Der Vampir ist dann ein Übersetzer zwischen beiden Welten. Das Vampirbaby, als Stellvertreter für die Patientin, hegt einen Wunsch, einen einzigen, der festgeklammert und verbunden ist mit seinem Körper: das Blut der vorher schwangeren Mutter zu saugen; sich ihr zu nähern, wenn sie schläft, und dort, wo ihr Leben und ihre Wärme pulsieren, zu beißen und ihr Blut und ihren Geruch aufnehmen, am Hals, dort, wo sie sich parfümiert. Lacan bestätigt dieses Bild: »Das Bild des Vampirs legt uns durch die Aura der Angst, die es umgibt, die Wahrheit der oralen Beziehung zur Mutter dar.«63 Freud spricht von einer Rückkehr in den Mutterleib, als der »alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat.« Der Vampir ist die perfekte Metapher einer unmöglichen ewigen Rückkehr, gepaart mit dem ewigen Versuch: »Liebe ist Heimweh.«64 Der Vampir als Verkörperung einer Liebe manifestiert sich niemals so authentisch wie in seiner kannibalischen Form: Ich werde dich fressen! Der Vampir ist also gemeint, ein unbewusstes Körperbild, als erstarrter Schmerz, kalt wie der Felsen, Spiegelung einer narzisstischen Verletzung der Mutter, Projektion einer Absenz, Figur des Umrisses eines Schmerzes, der schließlich der Geschichte einen Sinn gibt. Die Geschichte der Patientin verdichtet sich nun insofern, als sie sich zu Hause nicht mädchenhaft kleiden durfte; als sie einen Minirock trug, hatte ihr Vater gesagt: »Wie eine Hure!« Tod und Sexualität gehören in der Familie zusammen. Als sie elf Jahre alt war, sei er einmal, als sie unter der Dusche stand, ins Bad gekommen und habe gesagt: »Lass mich nicht glauben, dass Du den Finger in die Scheide gesteckt hast.« Ihr Vater habe zu Beginn ihrer Schwangerschaft von pädophilen Priestern geredet und gemeint, dass sie pädophil seien, weil sie nicht mehr ejakulieren könnten. Immer wieder berichtet die Patientin von Szenen mit dem Vater, die jegliche Schamgrenzen vermissen lassen. Es ist offensichtlich, dass es sich bei seinen Äußerungen um nur mühsam projektiv abgewehrte sexuelle Phantasien gegenüber seiner Tochter handelt, was die Patientin innerhalb ihrer weiblichen Entwicklung registriert und hemmt. Als in einer frühen Ultraschalluntersuchung vermutet wird, dass sie eine Tochter erwartet,

63 | Lacan: Le séminaire, livre 10, S. 272. 64 | Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, S. 259.

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ist sie entsetzt: »Ich will nicht wiederholen, was ich erlebt habe, und meine Probleme weitergeben.« Später zeigt sich, dass sie mit einem Jungen schwanger ist. »In der Schwangerschaft geht man von der Zwei zur Drei über; aber Drei bedeutet immer Zwei gegen Einen.« Im dritten Schwangerschaftsmonat hat sie einen Initialtraum, der, retrospektiv gesehen, durch das Thema des Blicks die postpartale Depression ankündigt: »Ein Kater meiner Schwester wollte in unserem Bett schlafen. Er schaute mich sehr bösartig mit seinen phosphoreszierenden Augen an; ich sagte ihm, er soll woanders schlafen, und er hat seine Krallen in meine Hand gebohrt. Ich war Opfer seiner Attacke, wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.« Dieser Traum erinnert an Polanskis Film Rosemary’s Baby, in dem das Neugeborene die junge Mutter mit katzenartigen senkrechten Pupillen anschaut, ein Zeichen der Empfängnis durch den Teufel. Das Kind hat die Augen seines Vaters. Der Teufel, als Präsenz und Personifizierung ihres Vaters, bringt antinomisch und metaphorisch gesehen alle Schwierigkeiten auf einen Punkt, und alles Schlechte verbindet sich mit der Figur eines realen Vaters, zu real in dem, was sie Enttäuschendes und Erniedrigendes in sich hat. Frau Ritter musste per Kaiserschnitt entbinden, weil sich ihr Baby nicht gedreht hatte. Dies ließ das Messerthema wieder aufflackern. Als sie aus der Narkose erwacht, blickt sie in das Gesicht ihres Kindes und kann diesen Blick überhaupt nicht ertragen. Drei Jahre später, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger wird, kann sie sich plötzlich erinnern: »Als ich zum ersten Mal meinen Sohn gesehen habe, habe ich den Teufel gesehen. Ich konnte es Niemanden sagen. Es war schrecklich. Heute bin ich wieder schwanger, und jetzt kann ich es verstehen. Ich habe gerade meiner Großmutter mütterlicherseits meine zweite Schwangerschaft anvertraut, und sie sagte dann zu mir: ›Wolltest Du es?‹ Und sie hat ihre Hand auf meinen schwangeren Bauch gelegt, mit ihren gekrümmten Fingern, und mich dabei bohrend angeschaut. Desgleichen hatte sie auch bei meinem Sohn getan. Der Teufel, nicht wahr?«

Die junge Frau hatte den Blick der Großmutter gesehen und als bedrohlich für das Ungeborene erlebt, den Blick des Teufels. Beim Erwachen aus der Narkose nach der Geburt sieht sie ihren Sohn, der sie anschaut mit diesem Blick, vor dem die sich gefürchtet hatte, und erkennt in ihm den teuflischen Blick der Großmutter wieder, sodass sie in Tränen ausbricht und zwei Tage lang nicht in der Lage ist, ihren Sohn anzuschauen. Eine Verschiebung der Personen findet statt, von Vater zu Großmutter, vielleicht um dem Vater die

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Schuld zu nehmen. Dennoch bleibt der Blick mörderisch in seiner Absicht. Und der Blick des Babys wird genauso interpretiert. Das Baby wird in den ersten Tagen vom Vater versorgt. Trotzdem gelingt es ihr, ihren Sohn zu stillen. Fünf Jahre später, während einer angespannten Situation mit ihr sagte dieser plötzlich: »Ich bin traurig geboren«. Seine Mutter reagierte zuerst sehr verletzt und traurig über diese Äußerung, nahm ihren Sohn dann aber in die Arme und erzählte ihm den Geburtsvorgang und die Depression, die für sie dadurch ausgelöst wurde. Was diese Frau im Blick ihres Kindes lesen wird, ist, was sie selbst erlebt hat, als ihre eigene Mutter sie so angesehen hat. Wenn also die symbiotische Beziehung in einer verstörten Phase problematisch war, wird sie diesen Blick als eine Substitution interpretieren: Dies sind nicht die Augen meines Babys, sondern die meiner Mutter, meines Vaters, meiner Großmutter. Die Patientin kämpft mit sich, mit ihrer Rolle als Ehefrau, die sie erfinden muss, keine Erfahrung von zu Hause, bemerkt sie, mit ihrer Rolle als »Mutter, die das Leben trägt und nicht den Tod. In meiner Familie, wird Mist geredet, ich habe nur negative Empfehlungen, ich weiß, was ich nicht machen muss, weiß aber nicht, was ich machen soll. Dennoch weiß ich, dass ein Kind geboren werden muss, ansonsten, über den Termin hinaus, stirbt das Baby in utero. Vielleicht wollte mein Sohn nur das ausdrücken: Mama, hier bin ich, und da bist Du! Alleine mit ihm zu sein ist für mich schwierig, dennoch kann ich mir mein Leben ohne ihn nicht vorstellen.«

»Finden Sie es nicht bemerkenswert, wie Kinder die Fähigkeit besitzen, zu uns mit ihren Augen zu sprechen?«, fragt Dolto in ihrem Seminar.65 Wer hat nicht schon mit Erstaunen, gar mit einer gewissen Angst, beobachtet, dass Babys buchstäblich mit ihrem Blick in den unsrigen eintauchen? Die Antwort, die wir auf den Appell des Kindes geben, legt für immer seine Zukunft fest. Die junge Mutter sagt dann, an ihr Kind adressiert: »Du musst mich stören, Du sollst ich sagen können, aber bitte, nicht zu viel und nicht zu laut, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Aber gerade dagegen, gegen meine Unsicherheit möchte ich kämpfen, weil ich als Mutter gefragt bin, und ich muss mich Dir anpassen, nicht Du Dich mir! Meine Mutter hat mir immer gesagt, ich hätte ihr bei der Geburt wehgetan, und dann wollte ich als Baby nicht schlafen … Es reicht jetzt! Ich sehe Dich mit meinen neuen Augen!«

65 | Dolto, Françoise: »Vous ne trouvez pas ça extraordinaire, la façon qu’ont les enfants de nous parler avec les yeux?« Eigene Notiz und Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Der Blick ist das Paradigma der Beziehung des kleinen Menschen zur Welt. Nach Lacan ist »der Blick das Instrument, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert.«66 Nach fünf Jahren intensiver Arbeit sowohl mit meiner Patientin als auch phasenweise mit ihrem Mann, und manchmal auch mit dem Kleinen – er wollte einmal unbedingt zu mir kommen, malte dann ein Bild, und kommentierte es so: »Ich habe ein schwarzes Herz im Kopf« –, wurde für sie jegliche Spur ihrer Vergangenheit wiedergefunden, angesprochen und mit Wut, Tränen oder Lachen behandelt. Die Messerphobie ist verschwunden, als Symptom einer Spur, etwas, das verwischt war. Das Symptom ist Spur, aber Spur dessen, was ausgelöscht worden ist. Das ist seine Charakteristik. Das Zurückweisen ist aus dieser Sicht das Auslöschen einer Erinnerung; das Symptom zeugt vom Scheitern dieses Auslöschens, an dem wir leiden, einem Scheitern des Vergessens. Ihre Tochter ist nach einer harmonischen Schwangerschaft, ohne Kaiserschnitt, einen Tag nach dem Geburtstag ihrer Mutter auf die Welt gekommen, und die junge Familie konnte die Freude in vollen Zügen genießen, ohne peripartale Manifestation. Als dankbare Rückmeldung habe ich ein Jahr nach Beendigung der Therapie eine E-Mail bekommen mit diesen Worten: »Zwölf glückliche Monate mit meinen Liebsten. Jetzt ist das working midwife zurück!« Diese im Grunde banale Geschichte eines kleinen Mädchens neurotischer Eltern, das seinerseits Mutter geworden ist und dadurch eine pathologische Art und Weise des Daseins seiner Familie reaktiviert und reproduziert hat, hat mich dazu geführt, das zu betrachten, was sich in dynamischer Art intrapsychisch abspielt. Die Depression, die sie entwickelt hat, eine Lähmung in Bezug auf ihr Sein oder ein »Loch im Psychischen« laut Freud67 hat sich mit aller Kraft der Triebe, Ich-Triebe und Sexualtriebe ausgedrückt. Die Entwicklung der Mütterlichkeit hat die der Weiblichkeit zusammengefasst und mit Wucht entfacht. Der Blick als Objekt und Funktion des Narzissmus – »sich selbst lieben«68 – fungiert in der Reflexion. Der Blick, der vom Auge ausgeht, entdeckt sich betrachtend im Spiegel der Augen des Anderen und findet in dieser Liebe für sich seine eigene Zerstörung. Nach Lacans Auffassung des Spiegelbildes konstituiert sich das Ich in der Reflexion, die das Kind im Spiegel erfährt. Dennoch ist die Einheit des Bildes im Spiegel keine reale Ein66 | Lacan: Le séminaire, livre 11, S. 98: »Le regard est l’instrument par où la lumière s’incarne.« Dt.: Das Seminar, Buch 11, S. 113. 67 | Vgl. Freud, Sigmund: »Manuskript G. Melancholie« [1894], in: ders.: Briefe an Wilhelm Fließ, S. 92-97, S. 97. 68 | Freud, Sigmund: »Triebe und Triebschicksale« [1915], in: ders.: Studienausgabe. Band 3, 2000, S. 75-102, hier S. 96.

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heit. Was das Kind sieht, ist eben nur sein Spiegelbild. Dadurch entsteht ein Gefühl der Entfremdung, der Verkennung des Ich-je als Ich-moi, durch eine Ich-Spaltung. Zwischen Betrachter und Spiegelbild entsteht das Fremde, »Ich ist ein Anderer«. Das Subjekt bildet sich, indem es eine Beziehung zum Selbst auf baut, die über eine Beziehung zum (großen) Anderen entsteht. Im Spiegel des Fensters erfährt das Mädchen ein Bild des Bösen als Partialobjekt der Mutter oder der Großmutter. Der Blick wird bedrohlich, wenn die Patientin keine Kontrolle mehr über seine Macht haben kann, verfängt sich in seinem Bann und erstarrt in die reine Faszination gegenüber dem Bild. Gott und / oder der Teufel sind die beiden projektiven Facetten der Menschheit.

2.4.2 E xkurs: der Narzissmus »Das Verhältnis des Subjekts zur Welt ist eine Spiegelbeziehung.« Jacques L acan 69

Der Narzissmus, als zentraler psychoanalytischer Begriff, ist im klinischen und allgemeinen Sprachgebrauch vieldeutig. Definiert von Freud als »libidinöse Besetzung des Ich« 70, wird er laut Tamulionyte71 als ein Stadium der psychischen Entwicklung an die Identifizierung gebunden, als eine Art der Objektwahl, als ein Fixierungsort im Fall einer neurotischen Störung betrachtet. Die Wurzeln dieses Begriffs reichen bis in die griechische Mythologie. Die älteste Fassung einer unmöglichen Verschmelzung in der mythischen Erzählung des Halbgottes Nárkissos (lat. Narcissus) ist von Ovid in seinen zwischen dem ersten und dem achten Jahr n. Chr. verfassten »Metamorphosen« überliefert. Eine weniger bekannte Version ist in Plutarchs (45-125 n. Chr.) Schriften erhalten, wonach Narziss einen bösen Blick besessen haben soll, dessen verderblicher Wirkung er an sich selbst gewahr wurde, als er sich im Wasser erblickte, worauf er Selbstmord beging.

69 | Lacan: Le séminaire, livre 3. Les psychoses [1955-1956], Paris: Seuil 1981, S. 101: »Le rapport du sujet au monde est une relation en miroir.« Dt.: Das Seminar, Buch 3. Die Psychosen, übers. von Michael Turnheim, Weinheim / B erlin: Quadriga 1997, S. 118. 70 | Freud, Sigmund: »Das Ich und das Es« [1923], in: ders.: Studienausgabe. Band 3, 2000, S. 273-330, hier S. 312 f. 71 | Tamulionyte, Liudvika: Diagnostik des Narzissmus in der Erstuntersuchung in einer psychotherapeutisch-psychosomatischen Universitätsambulanz. Dissertation der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm, Ulm 2014, doi: http://dx.doi.org/10.18725/ OPARU-3364

2.  Transgenerationale Weitergabe

Narziss fällt der Geschichte zum Opfer, indem er versucht, mit seinem Bild eins zu sein, in dem Moment, in dem er sich nicht als derjenige erkennt, der zugleich bei sich und nicht bei sich ist, in dem Moment, in dem er sich verdoppelt und doppelt weiß. Plutarch befasst sich mit der Konstitution des Ich, in der der Blick als Macht der Anderen verstanden wird, während für Ovid die Selbstliebe zwischen dem Betrachter und seinem Spiegelbild nicht gelingen kann. Schon die Entstehung des Nárkissos ist traumatisch: Seine Empfängnis ist das Ergebnis einer Vergewaltigung seiner Mutter, der Wassernymphe Leiriope, was uns hier besonders interessiert. Die Geschichte von der Bergnymphe Echo, selber bestraft mit dem Verlust der Sprache, weil sie zu viel spricht, umrahmt die Geschichte von Narziss. »Ist jemand hier?«, ruft er. »Hier«, ist die bestätigende Antwort als Echo. Bevor Narziss sich im Wasser sieht und sein Spiegelbild begehrt, ist er schon auf eine doppelte Weise angesprochen in seiner Frage: Sie ruft ihn, wie er sie ruft. Der Mythos von Narziss72 entsteht in der Kreuzung zweier Verdoppelungen: einer Verdoppelung im Sinne eines Doubles des Narziss, nämlich der Bergnymphe Echo, die spricht, indem sie nicht spricht, die nur wiederholt, was schon gesagt worden ist, und einer Verdoppelung des Spiegelbildes, das nicht nur das spiegelt, was begehrenswert ist, ein Körperbild, sondern das, was schon geschehen ist, nämlich die Abweisung, den Entzug dieses Körpers. Narziss’ Spiegelbild ist ein einziges Bild, das aber zwei Etwas spiegelt, das begehrenswerte Körperbild und den Entzug des Körpers. Ovid beschreibt den Mythos nicht nur als Liebesbeziehung zwischen Narziss und seinem eigenen Bild im Spiegel des Wassers, sondern er besteht auf dem Unterschied zwischen Sprechen und dem bloßen Widerhall des Echos. Die Folgen sind verhängnisvoll, wenn die vergewaltigte Mutter nicht mehr in der Lage ist, zu handeln und ihr Kind zu erziehen. Mütterliche bedeutende Worte trennen und können die Macht des Spiegels brechen, Macht als Ideal, von dem ich mich nicht mehr lösen kann. Die nicht sprechende Mutter konnte als verlorenes Objekt wie ein Schatten auf das Ich fallen und drohte es mit ihrem Schatten ganz zu verschlingen. Die Reflexion im Spiegel bleibt ein Trugbild, eine Illusion, indem Ich-Ideal und Ideal-Ich vertauscht werden, solange sie nicht von Worten der Mutter, also von ihrem Blick, begleitet wird, sie bleibt eine leere Reflexion, ohne Sinn. Die Mutter interpretiert für das Kind die Reflexion im Spiegel. Der Blick des Anderen erschafft nicht. Im Selbstbild erscheint der erste Feind. Narziss hat es mit einem BildSprung zu tun, weil es immer etwas zu kritisieren, zu verbessern gibt. Der Nar-

72 | Vgl. Scholz, Leander: »Narziss, Luhmann und das Spiegelstadium«, in: Nohr, Rolf F. (Hg.): Evidenz … das sieht man doch! Münster: LIT 2004, S. 260-274, hier S. 267.

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zissmus leitet sich vom exhibitionistischen Trieb ab, der den Wunsch, gesehen zu werden, generiert. Wenn man von den zwei Positionen des Ich ausgeht, zum einen das sprechende Ich und zum anderen das Ich als körperlicher Gegenstand des Zuschauens und des Sprechens, evoziert Narziss’ Position diejenige eines Kindes, das es nicht vermag, Subjekt eines Begehrens zu sein. Die Idealität, angeschaute fertige Gestalt, bedeutet eine Entfremdung vom Körper. Der Fremde wird zum Feind, weil er die phantasierte Herrschaft behält. Das Spiegelbild spiegelt nicht etwas, sondern den Entzug eines Etwas. Die Position des Subjekts definiert sich in Bezug auf sein eigenes Bild, weil die Konstitution des Ichs an die Entfremdung gebunden ist. Sie ist auf die Liebe des Anderen (der Mutter) angewiesen. Narziss hat sich nicht auf eine Liebe eingelassen, sondern er bleibt bei der Liebe seines eigenen Bildes. Von Tiresias wurde Narziss ein langes Leben prophezeit, aber nur, »wenn er sich fremd bleibt« 73. Er weist als Jüngling die Liebe von Frauen und Männern, auch von Echo zurück (lehnt also Beziehungsangebote ab) und wird von den Göttern verdammt: »[M]öge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen.« 74 Ihn erreicht Echo nicht. Die Antwort von Echo hat keinen Ort, ihre Stimme kein Gesicht. Sie hungert, bis sich ihr Körper auflöst und nur die Stimme bleibt. Als Narziss sich im spiegelnden Wasser erkennt, verneint er den Leib, weil das leidenschaftliche Begehren ihm zu große Qualen bereitet. Narziss wird dadurch gezwungen, autark, selbstständig und selbstbezogen zu sein, auf sich allein zu zählen, ohne Worte, die eine Echolalie hervorrufen, sich in Schweigen hüllend und blind in Beziehungen. Er verhungert. Narziss kann kein anderes Begehren für sich haben als die Identifizierung mit dem Begehren der traumatisierten stummen Mutter. Wenn jedes Kind sich im Glanz der Augen der Mutter erfasst, ist Narziss’ Mutter nicht in der Lage, den Ort zu schaffen, an dem er sich sicher weiß. Die Metamorphose als Verwandlung des Leibes in eine Blume illustriert diese Verschiebung. Die menschliche Eigenschaft verliert sich und wird vegetal, eine Narzisse. Laplanche und Pontalis weisen darauf hin, dass der Begriff ›Narzissmus‹ zum ersten Mal im Jahr 1910 im Zusammenhang mit der Objektwahl bei Homosexuellen erscheint, die »sich selbst zum Sexualobjekt nehmen; die ausgehend vom Narzissmus jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat.« 75

73 | Ovid: Metamorphosen. München: Ernst Heimeran 1964, S. 105-113, hier S. 102. 74 | Ebd., S. 104. 75 | Laplanche / P ontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse; Original: Vocabulaire de la Psychanalyse, S. 261 ff., hier S. 261: »Ils se prennent eux-mêmes comme objet sexuel;

2.  Transgenerationale Weitergabe

Der Narzissmus wäre die liebende Ergreifung des Subjektes durch sein Bild, was Lacan, wie wir beschrieben haben, als Spiegelstadium bezeichnet, Bildner der Ich-Funktion, ein in der Entwicklung notwendiges Stadium, das von dem autoerotischen Funktionieren der Teiltriebe zur Objektwahl führt. Geglückter »Narzissmus wäre dadurch gekennzeichnet, dass sich das Subjekt durch dieses Bild liebend ergreifen lässt.« 76 Im Rahmen der hier bereits behandelten intergenerationalen Übertragungen ist der Mythos von Narziss in seinem tragischen Ende die erwartete Auswirkung eines mütterlichen Traumas. Seine Mutter, eine Meeresnymphe, wird von einem Fluss-Vater vergewaltigt, der sie in seinen Wassern gefangen hält. Wasserfrauen symbolisieren nicht nur das Fremde, Unbekannte, sondern auch das Ursprüngliche durch ihre sprachlose Schönheit. Wenn dieser Mythos als »zentrale motivische Konstante unsere[r] abendländische[n] Kultur« 77 gestaltet ist, so ist die Figur der Stamm-Mutter stumm, verstummt und schön zugleich. Gerade deswegen ist die Rolle der Mutter verwirrend. Die Rolle der Mutter liegt darin, zu bestätigen, dass das, was das Kind im Spiegel sieht, sein Bild ist, darin versichert durch die Kontinuität des Bildes seiner Mutter, in der Bewegung des Blicks hin und her zwischen der Mutter und ihrem Bild. Das Wasser hinterlässt keine Spur. Sich mit dem Wasser zu vereinigen ist ein spurloses Verschwinden. Die glatte Oberfläche des Wassers wird zur Falle, die den Sohn einschließt. Der Spiegel des Wassers ist nicht wirklich einer, sondern eine Falle, in die Narziss tappt, denn er kann seine Reflexion nicht erkennen und hat dabei die imaginäre Dimension erfasst. Als sich körperlich erkennende Einheit gelangt das junge Kind zum Subjekt seiner eigenen Person, es ist nicht mehr nur Objekt des Anderen. Es eignet sich das Bild an und erlangt eine gewisse Machtposition. »Da fand einmal ein Bursche, weit von hier, einen Spiegel, kannte so etwas noch gar nicht. Er hob das Glas auf, sah es an und gab es seinem Freund: ›ich wusste gar nicht, dass das Dir gehört‹. Dem anderen gehörte das Gesicht auch nicht, obwohl es ganz hübsch war.« 78 Der böse Blick drückt die Abhängigkeit des Bildes von Anderen aufgrund seiner Herkunft aus und illustriert, wie das Verhältnis zwischen dem Subjekt und Anderen auf der Ebene des Spiegels prekär bleibt: Wo die Macht des Anderen auftaucht, wird sie zum bösen Blick als Zerstörung der Selbstgewissheit. Ils partent du narcissisme et recherchent des jeunes gens qui leur ressemblent qu’ils puissent aimer comme leur mère les a aimés eux-mêmes.« (Freud) 76 | Ebd. 77 | Stuby, Anna Maria: Liebe, Tod und Wasserfrau: Mythen des Weiblichen in der Literatur, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1992, S. 9. 78 | Bloch, Ernst: Spuren, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1969.

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Das Subjekt ist für den Anderen ein Spiegel, der Andere ist für das Subjekt ein Spiegel.

2.4.3 René Magritte Auch der Maler Magritte 79 hat mit 14 Jahren erfahren müssen, wie der Suizid seiner Mutter für die Zukunft prägend wirkt. Das Geheimnis Magrittes80 liegt in seiner Kindheit, es ist das Geheimnis jener Nacht, als seine Mutter das Haus verlässt und sich in der Sambre ertränkt. Ihr Nachthemd verhüllt ihr Gesicht, vielleicht, um dem Tod nicht ins Auge sehen zu müssen, vielleicht, um nicht gesehen zu werden, als sie den Tod vor Augen hatte. Magrittes Blick in seinem Werk vermeidet die Realität, sieht das Anderswo des Realen, seine Kehrseite oder sogar das darüber hinaus Betrachtete. Sein Werk »Les Amants« (»Die Liebenden«) zeugt von der Unmöglichkeit, dem Verbot, den Anderen mit den Augen zu sehen. Man findet in »Les Amants« den Gefallen Magrittes und der Surrealisten an der Verfremdung. Der Künstler kreiert durch die Verhüllung der Gesichter der Verliebten mit einem Tuch eine mysteriöse, dämpfende und erstickende Stimmung, die von der tiefgreifenden Unsicherheit seiner Kindheit zeugt. Magritte zeigt zwei Personen, Alter Ego, die in derselben Ebene dargestellt werden, zwei Individuen, die ihre Liebe zu entdecken und zu teilen suchen. Sie gehen einer zum anderen, aber es scheint, dass sie dazu verurteilt sind, sich niemals treffen zu können. Das Verbot zu sehen bedeutet keine Mimik, keine Verfügung, keine Verführung des Anderen. Magritte schlägt uns eine enigmatische Vision eines Paares vor. Das Tuch über ihren Gesichtern macht die Personen anonym, unfassbar und dadurch unheimlich, jedoch universeller. Wenn Magritte diese Irritationen in seinen Bildern ausdrückt, bedeutet das nicht, dass er sich selbst und die Betrachter seiner Bilder als Personen mit einheitlicher, ganzheitlicher Integrität, mit einiger Selbstgewissheit anerkennt, sondern er fordert diese Selbstgewissheit geradezu heraus. Magritte spielt mit Worten, mit Bildern, mit Gefühlen, die realitätsnah sind, ohne sie an sich heranzulassen. Er provoziert uns in seinem Werk, weil er sich in einem irrationalen Universum der Träume, der Verrücktheit und der Triebe bewegt. Der surrealistische Dichter Paul Eluard 81, Dichter von Bildern, hat 79 | Magritte, René, 1898-1967. 80 | Moser, Catherine: »Von der Konzeption zur Konzeptualisierung: Symbole und Symptome«, in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse 35: Symbol, Symbolisierung und die symbolische Ordnung, Heft 2, 2005, S. 123-144, hier S. 128. 81 | Eluard, Paul: Eluard et ses amis peintres 1895-1952, Austellungskatalog, Centre Georges Pompidou, Paris, 04.11.1982-17.01.1983, Paris: Centre Georges Pompidou 1982, S.  143: »à René Magritte, qui défend les mots par des images«; eigene Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Magritte zwei Gedichte gewidmet mit der Einleitung: »René Magritte, der die Worte mit Bildern verteidigt.« Das Schicksal des Menschen, hier ausgedrückt durch das Werk von Magritte, erscheint wie eine unendliche Spiegelung zwischen Bild und Leinwand, wo das Subjekt sich wie etwas darstellt, was es nicht ist, und wo das, was man uns zu sehen gibt, nicht das ist, was wir sehen möchten. Magritte provoziert und löst Irritation aus. Abbildungen 11 und 12  René Magritte: »Les Amants I« (1928; links) und »Les Amants II« (1928)

Abbildung 13  René Magritte: »La reproduction interdite« (1937)

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»La reproduction interdite« (»Die verbotene Reproduktion«) von 1937, erkennt die Omnipotenz der Erscheinung nicht an, namentlich die des Spiegels und des Bildes: Ein Mann, mit dem Rücken zum Publikum, stellt sich vor einen Spiegel, in dem er nicht sein Gesicht – also seine Verletzung, sein Geheimnis –, sondern vielmehr seinen Rücken sieht. So verlangt das Subjekt das Recht, den Rücken der vielfältigen Reflexion zuzukehren, einer inquisitorischen, alles sehenden Gesellschaft, die die Identitäten registriert und fixiert. Es geht darum, das Recht zu haben, sein Gesicht und sein Geheimnis zu wahren. Entgegen der erwarteten Funktion des Spiegels, der entschleiert, widerspiegelt, behalte ich souverän mein Geheimnis. Ich verschiebe mir selbst und den Anderen gegenüber die Sicherheit meines Unterschiedes: Ich gebe meine Eigenheit, mein Anderssein nicht preis, und genau dies trifft mein Publikum. Das Symptom erwächst aus diesem Schnitt, diesem Bruch, und zwingt mich, zu irren bis zur Erblindung (ein Spiegel wird blind, wenn ich mich verirre). Je mehr Bilder und Reflexionen existieren, desto tiefer liegt das Geheimnis. Vielleicht ist es auch der Grund, warum der große Drehspiegel Psyché heißt, sodass ich mich als Ganzes betrachten kann, zwischen ich und mein Spiegelbild, zwischen Selbstportrait und Beichte. Melchior-Bonnet zeigt, wie der Spiegel durch das, was sich nicht darin befindet, beherrscht wird.82 Die Entwicklung des Spiegelbildbewusstseins integriert sich im Fortschreiten der symbolischen Aktivität; die Splitter des zerbrochenen Spiegels enthüllen dem Kind, welches seine Ganzheit mittels dieses Spiegels erfasst, ein Ich mit seinen unendlichen Virtualitäten. Die unheimliche Welt hinter dem Spiegel wird zum Prisma der Phantasien und der Träume. Wenn die Reflexion der Augen der Mutter im Spiegel nicht oder nicht mehr möglich ist, wenn also diese Mutter stirbt oder nicht zur Verfügung steht, erscheint die Katastrophe in der Reflexion des Anderen im Spiegel. Das also ist die hinterlassene Spur, die das Subjekt, sei es nun der Künstler oder das Kind, dieser Zerbrechlichkeit aussetzt, die es ihm unmöglich macht, sich zu konstruieren oder zu strukturieren. Das Werk ist in gewisser Weise die Spur, die von der Leere der Mutter hinterlassen wird, und es insistiert auf der Tragödie, die daraus entsteht. In der lacanschen Theorie der Subjektskonstitution geht etwas verloren in diesem Prozess, etwas, was nicht darstellbar ist. Wenn wir das Werk Magrittes »La condition humaine« (»Die Beschaffenheit des Menschen«), 1935, anschauen, könnte man das Gemälde mit dem Fenster, der Landschaft und Leinwand auf dem Stativ als ein pervertiertes Spiel der Landschaftsmalerei bezeichnen, doch wenn man es aufmerksam betrachtet, erscheint die Oberfläche eines zweidimensionalen Bildes. Dieses Werk mit seinem Rahmen, das die Perspektive verzerrt, zwingt uns, eine Projektionsleinwand zu betrachten. Wir 82 | Vgl. Melchior-Bonnet, Sabine: Histoire du miroir, Paris: Imago 1994, S. 189-220.

2.  Transgenerationale Weitergabe

werden zum Komplizen der doppelten Dimension. Umgekehrt wird die Oberfläche des Bildes durch die Tiefe, die wir bei der Betrachtung erfahren, kontaminiert. So sagt uns die Tiefe des Gemäldes: »Sieh her, ich bin tief und ich bin flach. Während du die Bildoberfläche betrachtest, packe ich dich durch die Tiefe.« Die Perspektive ist ein abstraktes System, dass die Oberfläche zerlegt und auflöst. Und doch wird diese alsbald wiederhergestellt. Abbildung 14  René Magritte: »La condition humaine« (1933)

Für Didi-Hubermann ist ›das Ausfachen das Symptom des Malerischen ins Gemälde‹83 denn »wenn die Geschichte der Bilder eine ›Geistergeschichte für Erwachsene‹ ist, muss man zugestehen, dass die Bilder nicht nur in ihre historische Gegenwart gehören. Das Gedächtnis selbst ist anachronisch, die ganze Psychoanalyse ist da, um uns dies in Erinnerung zu rufen.« Es geht darum, den 83 | Didi-Hubermann, Georges: Devant l’image. Questions posées aux fins d’une Histoire de l’Art, Paris: de Minuit 1990, S. 195 f.; ders.: »Regarder n’est pas une compétence, c’est une expérience«, Interview am 12.02.2014, http://www.lesinrocks.com/ 2014/02/12/arts/tout-est-la-rien-nest-cache-11472282/, Zugriff am 30.11.2017. »Si l’histoire des images est une ›histoire de fantômes pour grandes personnes‹, il faut admettre que les images n’appartiennent pas seulement à leur présent historique. C’est la mémoire elle-même qui est anachronique, toute la psychanalyse est là pour nous le rappeler.« Eigene Übersetzung.

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Hintergrund vorzubereiten, um nicht nur eine Fläche aufzutragen, sondern auch ein Volumen, einen täuschend echten Trompe-l’oeil-Effekt, d. h. ein Fragment und ein Ganzes, ein Hintergrund, der objektiviert, und eine Oberfläche, die sich entzieht. Anders gesagt, die Fluktuation des Ausfachens (wie das Öffnen eines Fächers) zwischen Nähe und Distanz entspricht genau der des Begehrens. Die Konzeption des Spiegelstadiums von Lacan wurde 1936 beim Internationalen Kongress der Psychoanalyse in Marienbad vorgestellt. Magritte scheint darauf mit seinen Bildern zu antworten. »Ebenso zeigt das Bild Ceci n’est pas une pipe nicht, dass es ein Bild ist, und eben nicht der Gegenstand – auch wenn es dies aussagt«, schreibt Melanie Obraz.84

2.4.4 Die Leere In der Ich-Spaltung des Subjekts, die in der primären Zeit von dem mütterlichen Anderen herrührt, fällt etwas als Ursache des Begehrens heraus. Die Leere, die aus der Verbindung mit dem Mütterlichen herkommt, ist verloren gegangen. Diese Leere des Verlustes bewirkt einen Sog. Was nicht sichtbar ist, betrifft das Objekt, das für immer verloren ist und das dem Anderen fehlt. In Bezug auf die drei Register gehört das Objekt dem Realen an. Daher kann Lacan schreiben: »Wir trauern nur um jemanden, den wir sagen können: Ich war sein Mangel.« 85 Das französische Wort vide (= leer) kommt vom lateinischen vocare und bedeutet ›leer sein‹, ›frei sein‹. Vocare ist gleichlautend mit dem lateinischen vocare für, was wiederum von vox kommt, frz. voix (= die Stimme), d. h. der Klang der Stimme, auch das Wort 86. Aber diese Wortfamilie hat noch weitere Ahnen: vacuus, frz. vide (= leer), von vacare, frz. être vide, être libre, avoir du temps pour (= leer sein, frei sein, Zeit haben für). Woher stammt ›la voix‹, die Stimme? Ist die Stimme leer, das Vakuum? Sie kommt von nirgendwoher. Sie geht immer über sich hinaus, sie ist frei. Sie ist der Träger des Sprechens, das aus dem Vakuum kommt und uns la voie, den Weg zeigt. Im chinesischen Taoismus ist das Mütterliche als Bewegung per se bestimmt als der Weg, bei dem im Voraus alles vorgegeben ist und der die Zukunft in sich trägt. Die mütterliche Leere im Taoismus wird dadurch zyklisch, dass die Zeit der Großmutter in der Mutter der nächsten Generation wiederkehrt und so den Weg der Mütterlichkeit entlang mit der Stimme des Neuge84 | Obraz, Melanie: Das schweigende Bild und die Aussagekraft des Rezipienten in Bezug auf ästhetische und ethische Werturteile, Berlin: LIT 2006, S. 206. 85 | Vgl. Lacan: Le séminaire l’Angoisse, livre 10, S. 166: »Nous ne sommes en deuil que de quelqu’un dont nous pouvons nous dire J’étais son manque.« (Herv. i. O.) 86 | Vgl. O. A.: »Vide«, in: Le Robert: Dictionnaire historique de la langue française. Micro, Paris: Dictionnaires Le Robert 1998, S. 1406.

2.  Transgenerationale Weitergabe

borenen im Ohr weitergegeben wird. Diese Leere bringt Lacan mit dem Wesen der Sprache in Zusammenhang. »Die Leere ist die einzige Art, etwas mit der Sprache zu erfassen, etwas, das uns erlaubt, in ihre Natur, zur Sprache vorzudringen.« 87 »Die Sprache ist ein Akt« 88, denn sie wirkt in der Beziehung. Sie unterscheidet kontinuierlich zwischen dem Ich und dem Anderen, vielleicht auch zwischen dem Ich und mir, wenn ich eine Sprache spreche, die nicht sagt, was ich ausdrücke. Das bestätigt Derrida: »Ja, ich habe nur eine Sprache, aber das ist nicht meine. […] Man kann einsprachig sein und eine Sprache sprechen, die nicht die eigene ist.«89 Das Unbewusste ist die Leere, und die Leere ist die Sprache. Das Unbewusste ist das, was sich zwischen den Worten (frz. mots) bewegt, was sich in den Symptomen, den Übeln (frz. maux), artikuliert. Das Unbewusste ist Sprache, die daher als Symbol der Abwesenheit-Anwesenheit auftaucht. Das Unbewusste ist rau wie Sandpapier, das poliert, aber ebenfalls kratzt. Wir müssen mit einem Sagen experimentieren, mit einer Aussage, die nicht nur mit Sinn auflädt, sondern zugleich in ihrer Bedeutung nicht ausschöpf bar ist, d. h. mit der Unmöglichkeit konfrontiert ist, alles das zu sagen, was uns als »parlêtre«, wie Lacan90 das sprechende Wesen nennt, geschieht. Diese Bestimmung der Sprache geht auf Heidegger91. zurück, »[d]ie Sprache ist der Abgrund. Vom Abgrund sprechen wir dort, wo es vom Grund weggeht und uns ein Grund fehlt, insofern wir nach dem Grunde suchen und darauf ausgehen, auf einen Grund zu kommen.« Die Sprache spricht, die Sprache spricht zu sich selbst. Die Sprache ist die Leere, sagt Heidegger. Aber nach ihm »stürzen wir nicht ins Leere weg. Wir fallen in die Höhe. Deren Hoheit öffnet eine Tiefe«. Entspricht dieses 87 | Lacan, Jacques: … ou pire, séminaire inédit, leçon du 8 décembre 1971: »Le vide est la seule façon d’attraper quelque chose avec le langage, c’est justement ce qui nous permet de pénétrer dans sa nature, au langage«; eigene Übersetzung. 88 | Ders.: »Variantes de la cure-type« [1955], in: ders.: Écrits, 1966, S. 323-362, hier S. 351: »La parole est un acte«; eigene Übersetzung. 89 | Derrida, Jacques: Le monolinguisme de l’autre, Paris: Galilée 1996, S. 19: »Oui je n’ai qu’une langue, or ce n’est pas la mienne… Il est possible d’être monolingue et de parler une langue qui n’est pas la sienne.« Eigene Übersetzung. 90 | Vgl. Lacan: Le séminaire 15 [1967-68]: »Es hängt nur an dem, was ich in meiner Sprache durch das parlêtre stütze, das Sprechwesen, durch etwas, was nur Sprechwesen ist, denn wenn es nicht spräche, gäbe es nicht das Wort être, sein oder …«. 91 | Heidegger, Martin: »Die Sprache«, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen: Neske 1959, S. 9-33, auch online unter und hier zitiert nach http://www.mystiek.net/ over-deze-site/wozu-lyrik-heute/martin-heidegger-die-sprache, Zugriff am 01.11.2017; frz.: Acheminement vers la parole, Paris: Gallimard 1981.

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Bild nicht genau dem, womit die Geburt oder eher noch ihr Ablauf uns konfrontiert, eine Entfaltung, die sich wie ein zusammengefalteter Fallschirm von innen öffnen kann und damit einen anderen Blick von oben auf eine verborgene Intimität ermöglicht, die nun zugänglich wird? Nach Lacan enthält die Leere eine Energie, die antreibt und das Subjekt mithilfe der Sprache aus der Sackgasse des Begehrens des Anderen herausholt. Diese Leere ist ein Rest, von Lacan bezeichnet als »Seinsverfehlen«92, der die fundamentale Leere in der Struktur des Subjekts bezeichnet. Wir haben darauf bereits hingewiesen. Diese Leere ist fundamental, weil das Begehren aus der primordialen Symbolisierung und der Kastration entsteht. Das Begehren wird dann versuchen, den Mangel, diese konstituierende Leere, durch die Suche nach dem verlorenen Objekt zu beheben. Das Begehren ist in der Pathologie der Leere begründet, die wie eine Kluft in die Ich-Organisation dringt. Schon vor dem Jahrhundert der Aufklärung stellt Pascal in seinen Pensées die Frage: »Was predigt uns denn dies heiße Verlangen und dieses Unvermögen, was anderes als, dass es einstmals im Menschen ein wahres Glück gab, von welchem ihm jetzt nichts übrig ist als die Erinnerung und die ganz leere Spur, die er vergebens mit allem, was ihn umgibt, auszufüllen unternimmt, indem er in den Dingen, die nicht da sind, die Hilfe sucht, welche er von den Gegenwärtigen nicht erhält und welche weder die einen noch die andern im Stande sind ihm zu geben, weil dieser unendliche Abgrund nur ausgefüllt werden kann durch einen unendlichen und unveränderlichen Gegenstand.« 93

Die Häufigkeit der Depression konfrontiert uns mit der ›glücklichen‹ Wichtigkeit des präpartalen Bildes der Mutter, ihrer Stimme, ihres Geruchs, ihres Herzschlags. Die Qualität der Bindung erweist sich als entscheidend, weil in der Depression die Tochter in ihrer tödlichen Sehnsucht nach dem frühen mütterlichen Liebesobjekt stecken bleibt. 92 | Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch 2. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse [1954-1955], Olten: Walter 1980; Original: »Le désir, la vie et la mort«, in: Le séminaire livre 2. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, Paris: Seuil 1966. »Le désir est un rapport d’être à manque. Ce manque est manque d’être à proprement parler.« S. 259-274, hier S. 261. 93 | Pascal, Blaise: »Pensée 146«, in: ders.: Les Pensées [1670], Paris: Gallimard 2004: S. 140 »Qu’est-ce donc que nous crient cette avidité et cette impuissance, sinon qu’il y a eu autrefois dans l’homme un véritable bonheur, dont il ne lui reste maintenant que la marque et la trace toute vide, et qu’il essaye inutilement de remplir de tout ce qui l’environne, recherchant des choses absentes le secours qu’il n’obtient pas des présentes, mais qui en sont toutes incapables parce que ce gouffre infini ne peut être rempli que par un objet infini et immuable?« Eigene Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe

Die Tochter bleibt Tochter angesichts einer phallischen Über-Groß-Mutter, die Mutter bleibt und bleiben wird. Die Tochter als Mutter entwickelt schlimmstenfalls einen Wahn und tötet ihr Baby, her enemy the Baby, um vielleicht ihre Eltern vor dem Los der Zeit zu schützen. Zeitlos bedeutet dann, dass die Generationenkette unterbrochen ist, eingefroren. In der PPD findet eine Negierung der Zeit und des generationalen Unterschieds statt. Kristeva notiert: »Mein Körper und … es. Kein Verhältnis. Nichts damit zu tun. Und zwar von Anfang an, die ersten Bewegungen, Schreie, Schritte, lang, bevor seine Persönlichkeit zu meinem Gegner wird: das Kind, er oder sie, ein Anderes.«94 Mit dem Kampf zur Selbsterhaltung erhalte ich meine Diskontinuität gegenüber der Kontinuität des allgemeinen Lebensvorgangs. Bataille bestätigt es sinngemäß: Am Ende nehmen wir jede Erscheinung gleichzeitig von innen wie von außen wahr, als Kontinuität im Verhältnis zu uns selbst ebenso wie als Objekt.95 Diese beiden Empfindungen werden in den beiden Registern des Imaginären und des Realen ausgedrückt, und so führen sie zur Depression. Das bestätigt Lemoine-Luccioni96, die die Schwangerschaft als narzisstische Krise betrachtet, in der die Frau ausgefüllt ist, voll bis zum Platzen, und sich dann in der Konfrontation mit der von der Trennung verursachten Abspaltung leert. Das Kind wird zu demjenigen, das weder drinnen noch draußen ist und das aus der Mutter eine Außenstehende macht, sie wird für sich selbst ein Objekt. Voll, leer: Das ist die Dialektik der Schwangerschaft, wobei die Leere durch das Symptom, das sie auslöst, gleichzeitig Genießen und Leiden umfasst, in der Dimension der annullierten Zeit. Die Schwangerschaft als Krise scheint dann in eine zeitlose, paradoxale innere Leere zu rutschen, wenn die Abwehrmechanismen des Ich kollabieren. Die primäre Leere ist produktiv, ist an die Konstitution des wünschenden Subjekts gebunden. Wir gehen auf die Theorie von Donald W. Winnicott ein, in einem nicht datierten Text aus den 60er Jahren und erstmals 1974 veröffentlicht, in dem er zum ersten Mal von der primären Leere spricht, »Fear of Breakdown«. Er empfiehlt, »nicht so sehr daran zu denken, was in der Vergangenheit an Traumata geschehen ist [dem Kind zugefügt sein konnte; CM], als vielmehr daran, was nicht geschah, wo eigentlich etwas hätte geschehen sollen.«97

94 | Kristeva: Pulsions du temps, S. 25; eigene Übersetzung. 95 | Bataille, Georges: Théorie de la religion, Paris: Gallimard 1973; eigene Übersetzung. 96 | Lemoine-Luccioni: Partage des femmes, S. 34: »A la fin, nous apercevons chaque apparition en même temps du dedans et du dehors, à la fois comme continuité par rapport à nous-mêmes et comme objet.« Eigene Übersetzung. 97 | Winnicott, Donald W.: »Fear of Breakdown«, in: International Review of PsychoAnalysis 1, 1974, S. 103-107, hier S. 105: »To understand this it is necessary to think not of trauma but of nothing happening when something might profitably have happened.«

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Winnicott fährt in Übereinstimmung mit Lacan fort und beschreibt die Leere als »bevor sich etwas füllt«: »Nun ist Leere eine Vorbedingung für das Bestreben, etwas in sich aufzunehmen. Primäre Leere bedeutet einfach: bevor etwas gefüllt wird.«98 Die Klinik der Leere hat mit Phänomenen des Zusammenbruchs zu tun, entsteht dort, wo die Leere nicht vor etwas eingetreten ist, sondern vielmehr als Zusammenbruch im Bereich des Vertrauens, der sich auf die Organisation des Ich auswirkt. Nachdem es dem Kind nicht gelungen ist, eine ›ausreichend gute Mutter‹ zu erschaffen, misslingt ihm auch die Schaffung einer ausreichend guten Realität. Damit verliert das Umwelt-Objekt seine sicherheitsspendende Qualität, und die so entstandene Leere wird ein nicht zu bearbeitender Rest, der ›nicht aufhört‹. Diese Leere wird zum katastrophalen Augenblick, der weder Grenzen kennt noch reflektierende Flächen. Das Subjekt ist durch seine Trieberregungen bedroht und bildet Abwehrmechanismen. Im Kern ist es die Spiegelbeziehung zwischen Mutter und Kind, die ausgefallen ist. Die Konstruktion des Subjekts geschieht aus einer Aushöhlung von etwas, an der Stelle eines NichtSeienden, das, wenn es reaktiviert wird, das Subjekt in primitive Vernichtungsängste treibt. Nach Winnicott gehören dazu u. a. die Angst, ins Endlose zu fallen (vor der man sich durch self holding schützen kann) und der Verlust des Realitätssinns. Pontalis beschreibt in seinem Vorwort zu Jeu et Réalité die Angst als eine Art Agonie: »Agonie, die über die Kastration hinaus eine unüberwindliche Kluft oder einen bodenlosen Abgrund evoziert, wobei dieses doppelte Bild der Kluft und des Sturzes in dem Begriff Zusammenbruch enthalten ist.«99 Es wird also ein Abwehrsystem errichtet, um die Bedrohung durch undenkbare Dinge, die der Abwehrorganisation zugrunde liegen, aus der Angst vor dem Zusammenbruch, der eher psychotischer Natur ist, heraus zu bekämpfen. »Das Ich organisiert Abwehrmechanismen gegen den Zusammenbruch seiner eigenen Organisation, denn die Organisation des Ich ist bedroht. Aber das Ich kann sich nicht gegen das Versagen der Umwelt behaupten, weil seine Existenz durch Abhängigkeit gekennzeichnet ist.«100 98 | Ders.: »Die Angst vor den Zusammenbruch«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 45, Heft 12, 1990, S. 1116-1126, hier S. 1124 f.: »Now, emptiness is a prerequisite for eagerness to gather in. Primary emptiness simply means: before starting to fill up.« Eigene Übersetzung. Zuerst: ders.: »Fear of Breakdown«, S. 106. 99 | Pontalis, Jean-Bertrand: »Préface«, in: Winnicott, Donald W.: Jeu et Réalité. L’espace potentiel, Paris: Gallimard 1975, S. 12: »agonie qui évoque, en deçà de la castration, une brèche incolmatable ou un abîme sans fin, cette double image de cassure et de chute étant contenue dans le terme de breakdown«; eigene Übersetzung. 100 | Ebd.: »C’est d’un effondrement de l’édification du Self unitaire dont il est question. Le moi organise des défenses contre l’effondrement de sa propre organisation

2.  Transgenerationale Weitergabe

Darin zeigt sich die Bedeutung des Konzepts der Leere, weil Winnicott die psychotische Bedrohung nicht mehr als Zusammenbruch begreift, sondern als Organisation zu seiner Bekämpfung. In der Klinik geht es darum, die primitiven Ängste zu erfassen, die seiner Ansicht nach die Angst vor einem Zusammenbruch ausdrücken, der bereits stattgefunden hat, aber ohne das Subjekt. Ohne das Subjekt, weil es zuerst konstituiert werden muss, um einen Zusammenbruch zu erleben. Dieses Bereits-stattgefunden-Haben ist gleichbedeutend mit einem Noch-nicht-erlebt-Haben, dass der Patient vergeblich in der Zukunft sucht. »In diesem Fall besteht die einzige Möglichkeit, sich zu erinnern, darin, dass der Patient dieses Erlebnis aus der Vergangenheit in der Gegenwart, d. h. in der Übertragung, erstmals erlebt.«101 Die »Grenzprozesse der Leere«, die bei der geforderten »Übertragung der Leere« einsetzen, entstehen aus diesem »noch nicht erlebt«, das paradoxerweise kontinuierlich erlebt wird. In einer zusätzlichen Aufzeichnung von 1964 nimmt Winnicott seinen Gedanken wieder auf und präzisiert ihn: »Die befürchtete Depression hat schon stattgefunden. Das, was von der Krankheit des Patienten bekannt ist, ist ein System organisierter Abwehrmechanismen, in Bezug auf die vergangene Depression. Die Depression bedeutet das Versagen der Abwehrmechanismen. Die primäre Depression ist nach der Organisation neuer Abwehrmechanismen zu Ende gegangen, Abwehrmechanismen, die die Struktur der Krankheit des Patienten konstituieren.«102

Nicht die Depression ist Krankheit des Patienten, sondern die Abwehrmechanismen gegen die Depression, die das noch nicht konstituierte Subjekt selbst nicht erlebt hat. In dieser Aufzeichnung deutet er mehrere Vorschläge an, die in späteren Texten entwickelt werden. Einerseits hat sich die »primäre Depression« in car c’est bien l’organisation du moi qui est menacée. Mais le Moi ne peut se structurer contre la faillite de l’environnement dans la mesure où la dépendance est un fait de l’existence.« Eigene Übersetzung. 101 | Vgl. Winnicott: »Fear of Breakdown«, S. 104: »The only way to ›remember‹ in this case is for the patient to experience this past thing for the first time in the present, that is to say, in the transference.« 102 | Winnicott, Donald W.: »Nosographie: y a-t-il une contribution de la psychanalyse à la classification psychiatrique?« [1959-1964], in: ders.: Processus de maturation chez l’enfant, Paris: Payot 1970, S. 93-114, hier S. 112: »La dépression qui est redoutée a déjà eu lieu. Ce qui est connu de la maladie du patient est un système de défenses organisées, relatif à cette dépression passée. La dépression signifie la faillite des défenses. La dépression primitive a pris fin après l’organisation de défenses nouvelles, des défenses qui constituent la structure de la maladie du patient.« Eigene Übersetzung.

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einem Stadium vor der Bildung einer »Fähigkeit, eine Person zu sein, die unter einer Krankheit leiden kann«, gebildet, dieser primären Depression, die nicht notwendigerweise an ein einziges massives Trauma gebunden ist, sondern an ein »Bündel deformierender Einflüsse«, die mit den Beziehungen des primären Umfelds verknüpft sind. Andererseits kann die »Erinnerung nur durch das Wiedererleben hervorkommen«. Die Furcht vor der Depression entspricht schon in sich selbst dem, was Winnicott das »Bedürfnis, sich der primären Depression zu erinnern«, nennt. Die von Winnicott dafür vorgeschlagene Technik besteht darin, geduldig darauf zu warten, dass es dem Patienten möglich wird, das Risiko einzugehen, sein Abwehrsystem gegen »das Unvorhersehbare und seine schreckliche Folge, nämlich die Erfahrung des Schreckens« aufzugeben.103 In der Übertragung ging es darum, den Schrecken angesichts der Abstammung als unerträgliches Wissen über das eigene Ich und die Leere angesichts der unmöglichen Identifikation mit dem Spiegelbild zu zähmen  – Metapher oder Übertragung? Nach Winnicott fügt der erste Blick, die allererste Begegnung zwischen Mutter und Kind, unsere Identität eng mit unserer körperlichen Erfahrung und unserem Körperbild zusammen, und zwar durch die narzisstische Struktur der spiegelbildlichen Liebe. Damit der Mutter diese erste Begegnung mit dem Kind auf eine humanisierende Weise gelingt, ist es nötig, dass sie selbst im Symbolischen gehalten ist. Das Kind ist immer die Frucht des Baumes der Erkenntnis, der verbotene Apfel. Denn der Platz des Kindes erweckt bei den Eltern diese Übertragung, im Sinne übertragener Liebe, da ihre eigenen elterlichen Beziehungen im Rahmen dieser Trilogie, Vater, Mutter, Kind, aufflackern. Die Übertragung ist eine Inszenierung einer unbewussten Realität, eine Liebesmetapher, die die ödipale Auffassung der Eltern wiedergibt. Andernfalls wird sie zu einer Inszenierung eines Horrors, eines Entsetzens. Wenn sich das Subjekt, die Mutter, ohne den Schutz des Symbolischen oder Imaginären, an den es gebunden ist, dem Realen der Geburt ihres Kindes gegenüber befindet, so verfällt es dem Wahn. Das Reale ist dann also beim Körper. Diese Ungleichheit zwischen dem Chaos des Realen und der Ordnung des Imaginären oder Symbolischen, das eine Sinngebung verleiht, ist konstitutiv für die menschliche Problematik. Die Psychose stellt eine Unterbrechung der signifikanten Kette dar. Alles, was dann zufällig oder spontan geschieht, wird im Gegensatz zu dem, was zielgerichtet ist, zu Symptomen, als Sprache.

103 | Ders.: »The Psychology of Madness, A Contribution from Psycho-Analysis« [1965], in: Psycho-analytic Explorations, Cambridge: Harvard University Press 1989, S. 119-129.

2.  Transgenerationale Weitergabe

2.4.5 Die Leere und der Spiegel Über die Problematik der »Klinik der Leere« schreibt Winnicott Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung (1967), einen Schlüsseltext. Winnicott kritisiert darin das lacansche Konzept des Spiegelstadiums, das seiner Meinung nach wesentlich früher einsetzt als bei Lacan. Dieser beschreibt das Spiegelstadium als eine Konstituierungsphase des menschlichen Subjekts, die zwischen den ersten sechs bis achtzehn Monaten liegt während Winnicott diese Phase in die ersten Tage verlegt. Für ihn ist der Austausch der Blicke zwischen dem Kind und der Mutter die erste sinngebende Ausdrucksmöglichkeit. Winnicott104 stellt die Frage: »Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? […] Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt. Im Idealfalle wird es sich selbst erblicken; d. h. ein Lächeln wird mit einem Lächeln beantwortet, ein schmerzvoll verzerrtes Gesicht mit einem schmerzvoll, mitleidigen Gesichtsausdruck der Mutter. […] Was ist aber mit dem Kind, wenn das Antlitz einer Mutter […] ihre eigene Stimmung oder – noch schlimmer – die Starrheit ihrer eigenen Abwehr widerspiegelt. Sie schauen – und sehen sich selbst nicht wieder […]. Dann ist das mütterliche Gesicht […] kein Spiegel mehr.«

Lebovici meint dazu, dass ein Säugling, der seine Mutter ansieht, die Augen der Mutter erblickt, aber auch die Mutter, die das Kind anblickt. Die Mutter, die ihr Kind anschaut, sieht also das Kind, das sie anschaut. Aber was geschieht, wenn die Umwelt versagt? Was passiert, wenn laut Bhabha »die Identität nur als Reflex der gläsernen Metaphorik des Spiegels«105 gilt? Darauf scheint Winnicott zu antworten: Wenn sich niemand findet, der die Funktion der Mutter übernimmt, gestaltet sich die Entwicklung des Kindes überaus kompliziert. Wenn solch ein Säugling das mütterliche Gewitter herannahen fühlt, kann er sich nur zurückziehen, um den Zusammenbruch abzuwehren. Laut Winnicott ist ein solches Kind vom Chaos bedroht und wird sich zurückziehen oder der Umwelt gegenüber sich passiv wahrnehmend verhalten, und diese Wahr104 | Ders.: »Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung« [1967], in: ders.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta, 1973, S. 128135, hier S. 128 f. 105 | Bhabha, Homi K.: »Die Frage der Identität«, in: Bronfen, Elisabeth / B enjamin, Marius /  S teffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 97122, hier S. 99. Auch online unter: http://www.kulturanalyse.uzh.ch/downloads/Homi_ Bhabha_Frage_Identitaet.pdf, Zugriff am 01.11.2017.

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nehmung wird eine Abwehr. Die Behauptung begründet Winnicott da-mit, daß der Gesichtsausdruck der Mutter beim Anblick des Kindes einen unmittelbaren Zusammenhang hat mit dem, was sie sieht. Welches sind die Affekte beim Spiegelungsvorgang, die es dem Kind erlauben, das spiegelnde Gesicht als Reflexion seiner eigenen Verfassung zu interpretieren? fragen sich Peter Fonagy und Mary Target.106 Im Zusammenhang mit einer Patientin, die sich scheinbar nicht im Spiegel sieht, zitiert Winnicott Francis Bacon, der seine Bilder unter Glas gerahmt haben wollte, denn dann können die Betrachter nicht nur das Bild, sondern auch sich selbst sehen.107 Bacon scheint tatsächlich die Wahrnehmung zu malen, die er durch die Augen seiner Mutter von sich selber hatte. Seine Bilder mit den deformierten Gesichtern bestätigen dies. Die Glaskugel kann zweierlei symbolisieren: zunächst, wie Bacon anmerkt, einen Spiegel, der das Gesicht reflektieren kann, aber auch einen Container-Beschützer, der diesen Rückzug aus der Umwelt zulässt. Die Glaskugel wäre damit die Hülle gegen eine viel zu riskante Wahrnehmung, nämlich die Wahrnehmung des reflektierenden Bilds. Die Glaskugel schafft damit eine Form im Formlosen. In der Therapie erinnert sich eine junge Frau, die gerade Mutter geworden ist: »Die Geburt war für mich der Höhepunkt. Mein Baby und ich haben wirklich gut zusammen gearbeitet. Ich war unter einer Glasglocke, so wie in Trance, abgeschottet von allem, die Augen zu gehabt, nur bei mir. Obwohl es lange dauerte, war es für mich ein wundervolles Ereignis, immer mit geschlossenen Augen. Er lag nach der Geburt unter mir, und ich spürte als Erstes seine Wärme. Das war für mich etwas Beruhigendes – Wärme, die ich so noch nicht gespürt hatte. Er war mir verbunden. Ich konnte meine Augen nicht aufmachen, obwohl der Arzt, die Hebamme und mein Mann mir gesagt haben, wie wunderbar und gesund er ist. Er hat geschrien, ich habe es aber nur beiläufig wahrgenommen. Dann sprach die Hebamme zu mir, ich weiß nicht mehr genau, was, etwas wie … mein Sohn wäre das Resultat aus Liebe, Vertrauen, Freude und Zusammenhalt. Und sie nahm ihn und legte ihn auf meine Brust, nachdem sie mich umgedreht hatte. Ich habe die Augen aufgemacht, als ich seine Körperwärme auf meiner Brust gespürt habe. 106 | Fonagy, Peter /  Target, Mary: »Neubewertung der Entwicklung der Affektregulation vor dem Hintergrund von Winnicotts Konzept des ›falschen Selbst‹«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 56, Heft 9-10, 2002, S. 839–862, hier S. 851. 107 | Vgl. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, S. 134: »Francis Bacon sagt, daß er seine Bilder gern unter Glas hat, denn wenn die Leute ein Bild betrachten, ist es dann nie ganz das Bild, das sie sehen; sie sehen sich auch immer ein bißchen selbst«.

2.  Transgenerationale Weitergabe Nachdem mein Mann aufgrund seiner Emotionen, die ihn überkamen, die Nabelschnur nicht durchtrennen konnte, habe ich es gemacht. Im Nachhinein ein eigenartiges Gefühl, sein Kind selber abzunabeln. Ein Gefühl von Stolz und Erleichterung, aber auch des Schreckens: Das Kind ist plötzlich auf sich allein gestellt und muss selber atmen, seine Nahrung suchen und ist ohne Mutter vollkommen hilflos. Ich war im Zustand einer Schockstarre.«

Auf meine Frage, warum sie so lange nicht hinsehen konnte, antwortete sie: »Meine ganze Kindheit spielte sich vor meinen Augen ab … Ich bin sechs Jahre lang von meinem Trainer missbraucht worden. Meinen Eltern habe ich schon gesagt, dass ich nicht mehr hin wollte, aber sie haben geantwortet, ich sollte hingehen, besonders meine Mutter. … Sie hat nicht sehen wollen, sie hat die Augen zu gehabt.«

Auf die Vergewaltigung blieb der Patientin nur die Antwort des Überwältigtseins, ohne Chance, Abstand von ihrer traumatischen Geschichte zu gewinnen. Sie reproduzierte während der Geburt das Verhalten ihrer Mutter, ›Augen zu und durch‹, und ließ sich unter der phantasierten Glasglocke einsperren, als ob diese Glasglocke eine Sicherheitshülle wäre. Sie wurde durch die Geburt zu ihrem eigenen Baby, das sie selber von sich trennte, gleichzeitig schwangere Mutter und Neugeborenes. Das Bild der Glaskugel versinnbildlicht, dass die werdende Mutter davon nichts wissen will, weder von ihrer Leere vor und nach der Schwangerschaft noch von der Fülle während des Schwangerseins. Und sie will auch nichts von der verletzenden, traumatischen Kindheit wissen: Unter der Glaskugel zählt nur die ersehnte Vollständigkeit des Selbst, ein phallischer Narzissmus als Ergebnis der Zeugung, ein Bild eines Bauches, der weder wachsen noch sich entleeren kann. Dass auf das Ende der Schwangerschaft eine depressive Leere folgt, kann daher nicht erstaunen. Es geht hier um die Leere der Repräsentation des Ich. Wenn der erste Spiegel – der Blick der Mutter – versagt, kann das Bild des Selbst nur unscharf sein, weil es auf der Leere eines Austauschs auf baut; mit Winnicott: dort, »wo eigentlich etwas hätte geschehen sollen«, geschah nichts. Wenn das Gesicht der Mutter nicht antwortet, wird der Spiegel ein Ding, das man betrachten, in dem man sich aber nicht erblicken kann. Pontalis fasst das Konzept der Leere bei Winnicott zusammen: »Das Undenkbare schafft den Gedanken. Was nicht erlebt, nicht erfahren wurde, was sich jeder Möglichkeit der Erinnerung entzieht, kommt aus einem Loch des Seins. Diese weiße Leere ist nicht einfach das Weiße der Rede, das Radierte, das von der Zensur Ge-

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« strichene, das Latente des Offensichtlichen. Es ist in seiner Anwesenheit-Abwesenheit Zeuge eines Nicht-Gelebten.«108

Die Halluzination behebt den Mangel für eine gewisse Zeit, aber dieser Mechanismus versagt schließlich, und das kleine Kind verliert den Kontakt zu seinen eigenen Bedürfnissen, weil die Mutter diese durch ihre eigenen ersetzt hat. Im Fall der Mutter unserer Patientin war es ihr ein Bedürfnis, zu leugnen und ungeschehen zu machen, was passiert war. Dieses Phänomen bezeichnen Green et Donnet als »psychose blanche«109, ›blande Psychose‹. Bland bedeutet hier die Nichtexistenz, ein primäres Niveau des Selbstbildes, ein leeres Feld. Das entspricht dem »als ob« von Helene Deutsch, die von einem weißen Bild des Subjekts spricht, das auf den Analytiker projiziert wird. Green beschäftigt sich mehr mit dem klinischen Bild des Subjekts als mit der Analyse der Übertragungsbeziehung; wenn er eine ›Lähmung des Denkens‹ beschreibt, so tritt dieses Verhalten des Patienten auch beim Analytiker auf. Nach Green und Donnet ist für diese blande Psychose die Bi-Triangulierung typisch, wobei das Subjekt eine ödipale Pseudotriangulierung errichtet hat, bei der aber der Unterschied der Geschlechter weggefallen ist: »[e]ine Dreiecksbeziehung, die das Subjekt in Relation zu zwei entgegengesetzten Objekten stellt, die nur eines ausdrücken.«110 Der Patient ist in seiner Denkfähigkeit beeinträchtigt, wenn er gegen die Vorstellungen der Leere anzukämpfen versucht. Es gibt eine Art Grauzone zwischen dem Weißen und dem Schwarzen als Schnittstelle der Trennung, die Abwesenheit repräsentiert, die nicht mentalisierbar ist. Dazu schreiben Green und Donnet: »Dieser Bereich erschien mir bei bestimmten Patienten wie eine ›Nebelzone‹, die die Leere überdeckt, wie eine dünne Schutzfolie des Nichts. Das Gleichgewicht hing nur an einem Faden und konnte jederzeit kippen. So als ob ein Luftloch den Raum des Subjekts einnimmt, das dadurch von der Leere angesogen wurde. In dem leeren Raum stoßen sich dann die rohen oder kaum entwickelten Triebregungen […]. 108 | Vgl. Pontalis: »Préface«, S. 13 f.: »L’impensable fait le penser. Ce qui n’a pas été vécu, éprouvé, ce qui échappe à toute possibilité de mémorisation est au cœur de l’être. Ce blanc n’est pas seulement une lacune de la parole, ce qui est gommé, effacé par la censure, ce latent de l’évidence. Il est dans sa présence-absence témoin d’un non-vécu.« Eigene Übersetzung. 109 | Green, André / D onnet, Jean-Luc: La psychose blanche, le temps mort et la mère morte, Paris: de Minuit 1973. 110 | Ebd., S. 78: »Une triangulation fondée sur une relation entre le sujet et deux objets symétriquement opposés qui ne font qu’un.« Eigene Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe Diese Konstellation führt weder zu einer Psychose noch zu einer ›ausgeprägten Depression‹, in der Trauerarbeit geleistet werden könnte.«111

Der Patient hat inzwischen die Abwesenheit besetzt, als Abwesenheit der Hoffnung, die durch Löschen der Objektrepräsentation eine Leere hinterlässt. ›So bleibt nicht nur ein Raum unbewohnt, sondern eine Zeit ist ausgelöscht‹. Zur gleichen Zeit definiert Pierre Fédida die Leere wie folgt: »Ist die Leere die Abwesenheit? Oder vielmehr das, was einer Abwesenheit zufällt, deren Objekt sich zurückgezogen hat. Eine Abwesenheit ohne Abwesende? Aber ist sie noch eine Abwesenheit, diese Erwartung, die einer leeren Hülle gleicht. Kann eine Abwesenheit außerhalb der Zeit sein?«112 Diese Abwesenheit ist die der ›toten Mutter‹, ein Begriff, den Green113 im Jahr 1993 schuf. Die Depression infolge eines realen, aber auch ideellen Verlustes bezieht sich auf einen »dem Bewusstsein entzogen Objektverlust«114 .

2.4.6 Die »tote Mutter« »Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe.« Jacques L acan115

»Der wesentliche Zug dieser Depression ist, dass sie in Anwesenheit des Objektes stattfindet, das seinerseits durch die Trauer völlig in Anspruch genom-

111 | Ebd., S. 262: »Cette zone m’est apparue, avec certains patients, comme ›zone brouillard‹ recouvrant le vide, zone comme un mince film protecteur du néant. L’équilibre n’y tenant qu’à un fil, et pouvant être brisé à tout instant. Comme si un trou d’air envahissait l’espace du sujet et qu’il était aspiré par le vide. C’est dans l’espace vide que se ruent dans un deuxième temps des motions pulsionnelles brutes ou à peine élaborées. […] Nous ne nous situons alors ni dans la psychose ni dans ›une dépression franche‹ où le travail de deuil pourrait s’accomplir.« Eigene Übersetzung. 112 | Fédida, Pierre: L’absence, Paris: Gallimard 1978, S. 198: »Le vide serait-il l’absence? Ou plutôt ce qui échoit à une absence dont l’objet se serait retiré. Une absence sans absent? Mais est-elle encore absence cette attente de rien, semblable à une enveloppe vide. L’absence peut-elle être hors le temps?« Eigene Übersetzung. 113 | Vgl. Green, André: Die tote Mutter, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 47, Heft 3, 1993, S. 205-240; ders.: Narcissisme de vie, narcissisme de mort, Paris: Minuit 2007, S. 247. 114 | Leuzinger-Bohleber, Marianne /  B ahrke, Ulrich /  N egele, Alexa: Chronische Depression. Verstehen, Behandeln, Erforschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 175. 115 | Vgl. Lacan: Das Seminar, Buch 11, S. 109.

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men ist.«116 Durch diesen Satz beschreibt Green die psychische Katastrophe, die der brutale Besetzungsentzug der Mutter für die Gegenwart und die Zukunft des ganz kleinen Kindes darstellt. »Die tote Mutter ist also, anders als man zunächst glauben könnte, eine Mutter, die am Leben bleibt, die aber sozusagen psychisch tot ist, tot in den Augen des kleinen Kindes, für das sie zu sorgen hat.« Aufgrund der Weitergabe der affektiven Verfassung und projektiven Identifizierung des Kindes mit der pathologischen Verlusterfahrung der Mutter ist der Begriff der ›toten Mutter‹ als eine Struktur innerhalb der Mutterschaft zu verstehen. Das Kind, das unfähig ist, diese tote Mutter zu wecken, und voller Hass ist auf das rivalisierende Objekt (den Vater), das seine Mutter absorbiert, stellt schließlich fest, dass dieses Objekt ein Dritter ist, »der sich gegen jede Erwartung als in der Lage erweist, ihr das Leben (zurück) zu geben, ihr Lust und Genuss zu verschaffen.« Green schreibt: »Der Vater ist da, zumal bei Mutter und Kind, von Anfang an«. Oder genauer zwischen Mutter und Kind. Auf Seiten des Kindes ist alles das, was der Existenz eines Dritten vorgreift, und immer dann, wenn die Mutter nicht ganz und gar anwesend und ihre Besetzung des Kindes nicht total ist, nachträglich auf den Vater beziehbar. Aber warum hält es sie dann für tot? Darauf antwortet Green: »Es kommt [bei der Mutter; CM] zur Einkapselung des Objekts und Auslöschung seiner Spur durch den Besetzungsentzug [auf Seiten des Kindes; CM], zu einer Primäridentifikation mit der toten Mutter und einer Umwandlung der positiven Identifikation in eine negative Identifikation, d. h. Identifikation mit dem Loch infolge des Besetzungsentzugs und nicht mit dem Objekt.«117

Das Kind erscheint wie bewohnt von einem ›kalten Kern‹, der ›psychische Löcher‹, eine ›weiße Angst‹ hervorruft und den erlittenen Verlust auf die Ebene des Narzissmus überträgt. Die triebhafte Selbstauslöschung infolge der von Selbstzerstörung erfüllten Zuwendung führt zu einer künstlichen Zuwendung, die aber der Indifferenz der Mutter vorzuziehen ist, die wiederum zu einer identifikatorischen Leere führt und ein Loch im Sein hervorruft. »Die Reaktionen eines kleinen Säuglings auf die Defizite seiner kranken Mutter zeigen sich unterschiedlich. So fallen Kinder der verhaltenen, depressiven Mutter in den ersten Lebenswochen eher durch (exzessives) Schreien auf. Nach einigen Wochen geben 116 | Vgl. Green: Die tote Mutter, S. 213. 117 | Vgl. ders.: Narcissisme de vie, S. 262: »Il a y eu enkystement de l’objet et effacement de sa trace par désinvestissement, il y a eu identification primaire à la mère morte et transformation de l’identification positive en identification négative, c’est à dire identification au trou laissé par le désinvestissement et non à l’objet.« Eigene Übersetzung.

2.  Transgenerationale Weitergabe diese Kinder auf und wirken passiv, apathisch und desinteressiert. […] Sie vermitteln ein eher deprimiertes Gefühl«,

bestätigt Salis118. Green schreibt weiter: »Der Komplex der toten Mutter enthüllt sich in der Übertragung […]. Die Symptome spiegeln ein Scheitern im affektiven Bereich des Liebeslebens.«119 Die Mutter überlässt das Kind nach dem brutalen Besetzungsentzug der Katastrophe, die man im Sinne von Winnicott als Zusammenbruch verstehen kann. Diese Depression innerhalb der Übertragung ist die Wiederholung einer kindlichen Depression auf Seiten der Mutter. Wie oben schon angesprochen, ist es in der klinischen Arbeit von Bedeutung, darauf zu achten, in welcher Weise die Position des Vaters davon betroffen ist. Er wird aus der Sicht des Kindes die Ursache des Besetzungsentzugs durch die Mutter, wodurch ein frühzeitiger Ödipus entsteht und ein sekundärer Hass ausgelöst wird, mit Rückkehr zu von Sadismus geprägten analen Positionen. Es kommt in der Beziehung zum Vater zu einer frühzeitigen Dissoziation von Körper und Seele im Sinne von Sinnlichkeit und Zärtlichkeit und Liebeshemmung120. Schließlich »strukturiert die Suche nach einem verlorenen Sinn die frühzeitige Entwicklung von phantasmatischen und intellektuellen Fähigkeiten des Ich. Die identitäre und die identifikatorische Leere äußern sich in zahlreichen Formen, finden aber stets ihre Quelle dort, wo ›etwas‹ nicht stattgefunden hat.«121 Kreisler hat die »leere Säuglingsdepression« bei Kindern depressiver Mütter beschrieben, die physisch anwesend sind, sich seelisch aber in einer emotional abwesenden und geistig alexithymischen Verfassung befinden. Ein klinisches Beispiel soll dies verdeutlichen. Die Patientin, Mutter von vier Kindern, kam, weil sie kein Interesse mehr an ihrem Mann hatte und ohne greif baren Grund traurig war. Nach zwei Jahren Analyse erzählt sie: »Ein Traum: meine Mutter ist mit meinem toten Bruder bei mir. Ich sehe ihn, ich spüre seine Existenz, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe, er starb mit neun Monaten an Keuchhusten, vor meiner Geburt. Ich weiß, er ist es, und es ist schön, ihn kennen zu lernen. Ich denke, endlich habe ich meinen Bruder. Und ich bleibe mit ihm, spüre seine 118 | Salis: Psychische Störungen im Wochenbett, S. 80. 119 | Green: Narcissisme de vie, S. 252. 120 | Ebd., S. 259. 121 | Ebd.: »[L]a quête d’un sens perdu structure le développement précoce des capacités fantasmatiques et intellectuelles du Moi. Le vide identitaire et identificatoire, se manifeste selon de multiples configurations mais trouve toujours sa source là où ›quelque chose‹ n’a pas eu (de) lieu.« Eigene Übersetzung.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« Konsistenz, bin ganz dabei. Aber dann geht meine Mutter weg, ohne ein Wort, ohne was zu sagen, ohne einen Blick zu mir. Ich weiß jetzt, dass sie mich nie gesehen hat, nie angeguckt, oder sie hat nur meinen Bruder in mir gesehen. Sie hat nie auf mich mit Liebe aufgepasst oder was Warmes gesagt; ich weiß, dass sie nach meiner Geburt depressiv wurde und ihr Leben lang Antidepressiva genommen hat. Sie hat mit mir nie über den Tod meines Bruders gesprochen, ich habe es jetzt durch meine große Schwester erfahren, dank meiner Therapie.«

Dann spricht sie über ihre depressive Phase nach der Geburt ihrer ältesten Tochter, und auf meine Frage, was sie damals gespürt habe, antwortet sie: »Ich musste doch meine Tochter hergeben, ich wollte es nicht.« – »Hergeben«, sage ich, »wie die Mutter den Bruder, Herr geben!« Bei dieser Deutung bricht sie in Tränen aus und weint lange. Ihre Mutter ist vor kurzem gestorben, Trauer um die Dyade Mutter-Bruder, Trauer um die damalige unmögliche Symbiose mit ihrer Mutter, Trauer um die verpasste Versöhnung. Es ist zu spät, die narzisstische Verletzung der Mutter zu heilen. Aber die Patientin hat erkannt, dass ihre Mutter nicht eine grausame Mutter war, sondern eine durch den erlittenen Verlust psychisch verletzte Mutter. Wie in vielen anderen klinischen Fällen waren sich ihre Eltern fremd geworden, und ihr Vater war aus ihrem Leben verschwunden. Die Analyse hat eine progressive Wiederbesetzung dieser Mutter gestattet und war zugleich Anstoß, über ihre Kinder den Kontakt zu ihrem Vater herzustellen. Geburt und Tod sind unzertrennlich geworden. Die Geburt eines Kindes verursacht den Tod eines anderen, was die Patientin zu Beginn ihrer Analyse so aufgefasst hatte: »Sobald eines kommt, habe ich Angst, dass ein anderer stirbt.« Dieses Gefühl ist sehr verbreitet, man spürt es oft, wenn man mit diesen Frauen arbeitet. In der klinischen Arbeit ist es hier entscheidend zu hören, was die Patientin sagt. Durch meine Deutung kann ich ihr ihre symbolische Struktur in der Wahrheit der Beziehung restituieren, woran sie leidet, ihre eigene Geschichte. Ich denke dabei an einen C.G. Jung zugeschriebenen Satz: »Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat.« Schreiben, malen, erzählen, versuchen, das weiterzugeben, was sich in den Körper eingeschrieben hat und daran hindert, weiterzugehen: Dies sind die Taten, so sind die Kunstwerke, wodurch etwas Lebendiges weitergegeben wird, weil der Andere als Blick, Ohr, Leser, Zuschauer oder einfacher Adressat gefragt ist.

3. Eine Ästhetik der Depression als Kompromissbildung zwischen Begehren und Abwehr »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«. Paul K lee 1

In der abendländischen Kulturgeschichte von der Renaissance bis in die Gegenwart nimmt die Darstellung von mütterlichen Depressionen einen wichtigen Platz ein. Neben der psychoanalytischen Arbeit, die über das Kunstwerk und seine Darstellung hinaus einen Zugang zur unbewussten Wahrheit erlaubt, verspricht eine Dekonstruktion der Interpretation der Werke, unser Wissen zu erweitern. Darstellung und Entstehungsarbeit 2 sind vor allem bei den Künstlern während ihrer Arbeit wesentlich. In der ars poetica erkennt Freud, wie »der Dichter den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen mildert und uns besticht durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet.«3 Die Funktion der Kunst im weitesten Sinne besteht darin, eine ›Wirklichkeit‹ zu schaffen, deren phantasmatische Komponente  – Wahrheit des Subjekts – durch die Verschleierung der Gestaltungsarbeit unkenntlich gemacht wurde. »Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.«4

1 | Klee, Paul: »Schöpferische Konfession«, in: Edschmid, Kasimir (Hg.): Tribüne der Kunst und der Zeit. Eine Schriftensammlung, Band 13, Berlin: Reiß 1920, S. 28-40, hier S. 28. 2 | Vgl. Moser: »Von der Konzeption«, S. 126. 3 | Freud, Sigmund: »Der Dichter und das Phantasieren« [1908], in: ders.: Studienausgabe. Band 10, 2000, S. 169-179, hier S. 179. 4 | Ebd., S. 173.

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Freud betont, dass »das Phantasieren der Menschen weniger leicht zu beobachten [ist] als das Spielen der Kinder.«5 Nun müssen mit einer psychomentalen Interpretation im Rahmen eines psychoanalytischen Vorgehens, das dazu dient, die Elemente eines nicht erfüllten Begehrens der Vergangenheit zu erkennen, ihre Auswirkungen identifiziert und gehört werden. Sarah Kofman schreibt: »Das bedeutet, dass die Psychoanalyse, wenn sie ein Phantasma dekonstruiert, es durch ein anderes ersetzt, indem sie – wie schon Platon – zeigt, dass das Wunderbare in uns ist. Die Lust am Wissen, die an die Lust des Sehens getreten ist, bleibt trotzdem eine Lust.«6 Man könnte hinzufügen, dass die Lust darin läge, die Unmöglichkeit einer Symptomdeutung zu verschieben, um das geänderte Reale zu verstehen. In Hesses Erzählung Demian heißt es: »Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so schwer?« 7 Den Fall des Malers van Gogh habe ich in diese Arbeit aufgenommen, um das Wesen der Melancholie in ihrem extremen Ausgang des Suizids aufzuzeigen. Desgleichen habe ich Magritte im Zusammenhang der Konstitution der Subjektivität durch das Spiegelbild herangezogen, das Menschen anfällig für die Melancholie und die Psychose macht. Der Andere, der Fremde könnte die Herrschaft über mein Spiegelbild gewinnen. Magrittes Bilder sind Darstellungen, die sich der Möglichkeit dieses Zugriffs des Anderen entziehen. Er gibt nichts von sich preis, kein Gesicht, keinen Faszinationssog durch den Blick der Anderen. Die psychische Wahrheit bleibt verhüllt. Der Künstler sagt, laut Freud, durch die Illusion und in der Illusion die Wahrheit, die psychische Wahrheit aus. Das Mittel der Verschleierung der Kunst ist die Ästhetisierung. Die Poetisierung der Sprache macht eine Wahrheit aus, und durch die Verkleidung der Sprache verwandelt die Ästhetisierung den Grund der Depression in eine metaphorische Wahrheit: Die Ästhetisierung des Triebs kommt zum Vorschein. Die griechische Etymologie des Wortes ›Ästhetik‹ bedeutet ›sinnlich wahrnehmbar‹, ›gebildet‹ und beschreibt zunächst die Lehre von der Sinneserkenntnis. Ästhetik, als Begriff von Baumgarten 8 (1750) kreiert, ist die Wissenschaft von den Gefühlen, welche durch das Schöne und das ihm Verwandte oder Ent5 | Ebd. 6 | Kofman, Sarah: »Délire et fiction«, in: Freud, Europe 52, Heft 539, 1974, S. 165184, hier S. 183. 7 | Hesse, Hermann: Demian, Frankfurt a. M.: Fischer 1919, S. 7. Vgl. auch Decker, Gunnar: Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie, München: Hanser 2012, S. 454: »Die Funktion der Kunst, soweit sie die Person des Künstlers selbst angeht, wäre dann genau dasselbe wie die Funktion der Beichte, der Psychoanalyse.« 8 | Baumgarten, Alexander Gottlieb ist der Begründer der Ästhetik als eigener philosophischer Disziplin. Er veröffentlicht sein Buch die Aesthetica zwischen 1750 und 1758.

3.  Eine Ästhetik der Depression

gegengesetzte hervorgerufen werden, um ein Urteil zu bilden. Die klassische Ästhetik ruft eine Welt des Gefühls hervor. Anästhesie, wiederum, bedeutet Unempfindlichkeit. Freud hat, laut Warsitz, »in seinen frühen Analysen der Melancholie den Aspekt der Trauer über den Verlust der Libido hervorgehoben und auf den Zusammenhang zwischen Melancholie und Anästhesie hingewiesen.«9 Freud schreibt: »Es bestehen auffällige Beziehungen zwischen Melancholie und Anästhesie. Das wird bezeugt 1. Durch den Befund, dass bei so viel Melancholischen lange vorher Anästhesie bestanden hat, 2. Durch die Erfahrung, dass alles, was Anästhesie hervorruft, die Entstehung von Melancholie fördert, 3. Durch einen Typus von psychisch sehr bedürftigen Frauen, bei denen Sehnsucht leicht in Melancholie umschlägt und die anästhetisch sind.«10

In der Dialektik zwischen Ästhetik und An-ästhesie verbinden sich alle Variationen der Gefühle oder der Wahrnehmungen, von der Unterdrückung der Sensibilität bis zu ihrer Überhöhung, von den Schmerzen in der Medizin, Dolor, Calor, Horror und Terror, vom Schrecklichen bis zum Gefühl des Schönen. Zwischen Begehren und Abwehr ist in der Kunst eine Überhöhung möglich, die die entsprechenden Inhalte wie Tod, Suizid, Mord, kriminelle Wunscherregungen, die in der Klinik nicht erscheinen dürfen, enthält. Das Begehren ist in der Depression eingeschlossen. Dann stellt sich die Frage der Psychoanalyse bezüglich des Verhältnisses der Ästhetisierung zur Sublimierung, als Verlagerung des Genießens auf eine kulturell anerkannte Form der Befriedigung. Freud schlägt vor, dass die Sublimierung11 den Rückzug des Sexualtriebes vom Ich und seine Umwandlung oder Ableitung zu einem neuen, nicht sexualen Ziel zur Voraussetzung hat. Die Sublimierung, definiert als Verlagerung des Genießens vom Körper und den sexualen Organen auf die ästhetische Abbildung, stellt ein Genießen dar. Sie ist das Gegengewicht des Ver-

9 | Warsitz: »Die Anästhesie des Begehrens«, S. 250. 10 | Freud: Briefe an Wilhelm Fliess. 1887-1902, S. 96 ff. 11 | Ders.: »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« [1908], in: ders.: Studienausgabe. Band 9, 2000, S. 9-32, hier S. 18: »Der Sexualtrieb […] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung. ›In‹ dieser Verschiebbarkeit des Sexualtriebes bestehe ›sein kultureller Wert.‹« (Herv. CM)

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lusts, an den sich die Libido – oder die Fähigkeit zu lieben12 – in enigmatischer Weise anhängt. Die leiblichen Leiden werden Quelle des Schönen, des Sublimen oder genauer: Die Ästhetik als Lust des Sehens wird eine Inszenierung der »Exszenierung«13. Die Ästhetik ist in diesem Sinne eine Sublimierung und eine Überwältigung der Furcht. In Kunstwerken finden sich das Sublime und die Furcht gleichermaßen dargestellt. Ausgehend von der Neurose und aus dem Traum schöpfend geht das künstlerische Schaffen von einer unterdrückten Äußerung über in eine ästhetische Ausdrucksform. Wie alle psychischen Manifestationen beschränkt sich die Depression nicht auf das Symptom, sondern ist in eine Kulturgeschichte eingebettet, in der sie ihren Ausdruck findet, sei es in der Malerei, der Architektur, der Musik oder in Werken der Literatur. Die Kunst in der Gesellschaft erschließt die Bedeutung, die diese ihrer eigenen Existenz beimisst, in den verschiedenen Darstellungen der Seinsformen. Von der Antike an findet eine Formulierung des Kunstwerks statt. Die Kunst besetzt mit der Sublimierung einen Platz, der in der transgenerationalen Weitergabe der Weiblichkeitsproblematik gerade nicht besetzt ist. Der Moment ästhetischer Kunst ist nicht kreativ, sondern es handelt sich nur um eine Reproduktion: Die Mutterschaft, das Kindergebären ist keine Kreation, sondern eine Reproduktion, solange es nicht durch imaginäre und symbolische Vorstellung und Sprache ästhetisiert wird. Die Kunst stellt eine Grundlage der Depression dar. Kristeva14 erkennt die Dimension des Schöpferischen in der Melancholie und betont, wie die Ästhetik für die Frau die Lösung der weiblichen Depression, eine Erotisierung des Muttermordes darstellt, in der Form der Kunst wie in der psychoanalytischen Kur. Der Tod ist stets gegenwärtig. Kristeva schreibt 12 | Vgl. ders.: »Vergänglichkeit« [1916], in: ders.: Studienausgabe. Band 10, 2000, S. 223-227, hier S. 226. 13 | Lyotard, Jean-François: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin: Merve 1982, S. 42. 14 | Kristeva: Soleil noir, S. 38: »Le matricide est notre nécessité vitale, condition sine qua non de notre individuation, pourvu qu’il se passe de manière optimale et puisse être érotisé. […] sublimé.« Dt.: Schwarze Sonne, S. 36: »Der Muttermord ist unsere Lebensnotwendigkeit, conditio sine qua non unserer Individuierung, vorausgesetzt, er erfolgt auf optimale Weise und kann erotisiert werden: sei es, dass das verlorene Objekt als erotisches Objekt wiedergefunden werden kann (der Fall der männlichen Heterosexualität, der weiblichen Homosexualität), sei es, dass das verlorene Objekt kraft unerhörter und nur zu bewundernder symbolischer Anstrengung eine Transposition erfährt, in der der / d as Andere (das andere Geschlecht im Falle der heterosexuellen Frau) erotisiert wird oder in der die kulturellen Konstruktionen in ein ›sublimiertes‹ erotisches Objekt verwandelt werden (man denke nur an die Besetzungen der sozialen Beziehungen oder der intellektuellen und ästhetischen Schöpfungen usw., und zwar bei Mann und Frau).«

3.  Eine Ästhetik der Depression

dazu: »Da das mütterliche Objekt introjiziert ist, folgt statt des Muttermords der depressive oder melancholische Mord am Ich. Um Mama zu schützen, töte ich mich und weiß zugleich doch, […] dass es von ihr selbst kommt«15. Das Wissen über die Depression löst eine ästhetische Wirkung aus, die durch die Sublimierung die psychische Wahrheit aufdeckt und verarbeitet.

3.1 D ie müt terliche D epression in der D arstellung des sozialen E lends Wir wollen diesen komplexen Problemkreis über eine Ästhetik der Depression als Spiegelbild der Kultur der Zeit, die sie reproduziert und interpretiert, untersuchen, um die für ihr Verständnis erforderliche Reflexion besser einzugrenzen. Dazu soll im erläuternden konzeptualen Rahmen der Psychoanalyse eine Dialektik aufgebaut werden, die nicht auf dem Determinismus fußt, sondern auf der Unmöglichkeit, sich dem zu nähern, Beziehungen, Fakten und ihre Bezüge untereinander zu erfassen, was sich aber entzieht. Unsere Absicht ist, diese Unmöglichkeit zu verlagern und in ein anderes Verständnis umzuformen, um besser zu erkennen, was Depression bedeutet. Der Blick der Depressiven, nach innen gerichtet, auf den nicht sichtbaren Säugling, oder darüber hinaus, auf die Leinwand des Künstlers projiziert, erzielt eine Wirkung. Die künstlerische Aktivität steht dem Gefühl des Vergänglichen entgegen, wobei die Melancholie das Vergängliche darstellt. In seinem Text »Vergänglichkeit«16 verbindet Freud die Trauer, das Vergängliche und das Schöne und zitiert Goethes Faust: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.« Allein die Vergänglichkeit des Schönen, die Sublimierung, kann dem Tod widerstehen. »Wer für den Einfluss der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebens­ tröstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genug, um reales Elend vergessen zu machen.«17

Die Affekte, die durch ein Kunstwerk erzeugt werden, sowie auch die Eigenschaften seines Stils haben nach Freud den Zweck, ein Publikum zu treffen, weil der Künstler das Publikum braucht. Diese Affekte entstehen durch hin15 | Dies.: Schwarze Sonne, S. 37; Original: Soleil noir, S. 39: »L’objet maternel étant introjecté, la mise à mort dépressive ou mélancolique du moi s’ensuit à la place du matricide. Pour protéger maman, je me tue tout en sachant […] que c’est d’elle que ça vient.« 16 | Vgl. Freud: »Vergänglichkeit«, S. 225. 17 | Ders.: »Das Unbehagen in der Kultur« [1930], in: ders.: Studienausgabe. Band 9, 2000, S. 191-270, hier S. 212.

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terlassene psychische Sedimente aus vergessenen Traumata; so kann das Konzept des psychischen Dramas wiedergefunden werden, aus dem unsere Existenz und unser Ich hervorgehen. Der Versuch, dem Drama des Ursprungs, das nicht darstellbar ist, eine ästhetische Illustration zu verleihen, eine entsprechende Form zu suchen, um sich zu äußern, zeugt von unserer Anfänglichkeit. Laut Kristeva sind dies zwei Stufen (temps) des sexuellen Aktes, der sexuelle Akt selbst und die Geburt. Eigentlich sind es drei Stufen. Das Mutterwerden definiert sich, wie im ästhetischen Rahmen der Schöpfung, durch ein Dazwischen, nämlich die Schwangerschaft als dritte umgekehrte Stufe des sublimen Kunstwerks, in dem sublim, chemisch gesehen, als der direkte Übergang eines Stoffes vom festen in den gasförmigen Aggregatzustand verstanden werden könnte. Die Kehrseite der Sublimierung als Umwandlung vom Gasförmigen oder Ideellen in das verkörperte Ungeborene wäre die Einschreibung des mütterlichen Begehrens in ihren Körper. Wir stehen nie am Anfang von uns selbst. Und doch laut Dolto ist jeder Mensch von Anfang an eine unabhängige Quelle des Begehrens.18 Der noch nicht darstellbare Fötus sucht eine Form, um sich zu äußern. So kann die Essenz der künstlerischen Schöpfung darin gesehen werden, dem Drama des Ursprungs durch die Wahrnehmung der Umgebung, dessen Abbau und Auf bau sie verwendet, eine Ausdrucksform zu geben. Lacan schreibt, dass das Gemälde dem Auge etwas wie Balsam gibt, aber es lädt den, dem das Gemälde gezeigt wird, ein, seinen Blick niederzulegen, wie man Waffen niederlegt. Dieses ist die befriedende, apollinische Wirkung der Malerei. Realität oder Vernunft, Anerkennung des Primats der Genitalität und Begrenzung der Ich-Konstitution: Der Künstler befreit sich davon. Das Realitätsprinzip, von mir als Lastprinzip benannt, wird zum Lustprinzip. Etwas wird nicht dem Blick, sondern dem Auge gegeben, etwas, das Verlassenes beinhaltet, eine Ablagerung des Blicks. Lacan schreibt: »Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas […], das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt, ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert. Dies eben macht die pazifierende, apollinische Wirkung der Malerei aus. Etwas ist nicht so sehr dem Blick, sondern dem Auge gegeben, etwas, bei dem der Blick drangegeben, niederlegt wird.«19

18 | Dolto: Le cas Dominique; eigene Übersetzung. 19 | Lacan: Das Seminar, Buch 11, S. 107 f.; Original: Le séminaire, livre 11, S. 93: »Le peintre, à celui qui doit être devant son tableau, donne quelque chose […] en pâture à l’œil, mais il invite celui auquel le tableau est présenté à déposer là son regard, comme on dépose les armes. C’est là l’effet pacifiant, apollinaire de la peinture. Quelque chose

3.  Eine Ästhetik der Depression

Davor schon hatte Egon Schiele20 seine Funktion folgendermaßen definiert: »Der Maler weiß zu schauen, jedoch sehen ist etwas mehr«. Was bedeutet dieses Etwas, auf das Lacan aufmerksam gemacht hat, das sofort ›wieder Aufgenommene‹ die Vision, dieses Mehr oder dieses Andere, etwas Wirkliches oder Unheimliches, was dann seinen Stil ausmacht? Barthes schreibt: »Der Stil eines Künstlers ist das Individuellste, was er besitzt, das jedoch nicht das pure Ergebnis seiner Freiheit darstellt, sondern das Ergebnis einer Notwendigkeit, mit der er nicht aufhört zu handeln«. Und: »Der Stil ist Sache des Schriftstellers, seine Pracht und sein Gefängnis. Es ist seine Einsamkeit.«21 Für Proust ist »der Stil für der Schriftsteller, sowie die Farbe für der Maler ist nicht eine Frage der Technik, er ist eine Sichtweise.«22 Der Philosoph Merleau-Ponty vertritt die Auffassung, dass man mit dem Körper wahrnimmt. »Die Vision (des Künstlers) ist das Denken des Sehens.« Das Auge ist die Metapher des Geistes. Und für Eluard ist »Sehen gleich Verstehen, Beurteilen, Verändern, Vorstellen, Vergessen oder Sich-Vergessen, Sein oder Verschwinden.«23 Wenn die ersten Worte der Aufzählung auf eine Fügung der Schöpfung oder der Konzeptualisierung hindeuten, so beziehen sich die Letzteren auf ein Existenzkonzept. Der Alltag der Mutterschaft ist die Überhöhung. Wenn wir uns mit der Darstellung der Mutterschaft beschäftigen, geht es um hässliche Notwendigkeit, tragisches Schicksal, Provokation, etymologisch abzuleiten von pro vocare: ›das, was ruft‹. Diese Darstellung wird durch die Kultur transportiert, um die Erinnerungen an diese Tragik zu bewahren. Flaubert schreibt: »ein Stil, der die Gedanken durchdringt wie ein Stilett«24, der es uns ermöglicht, etwas wiederzufinden, oder zu sehen, was wir ohne den Künstler nicht mehr wiedererlangt hätten. In est donné non point tant au regard qu’à l’œil, quelque chose qui comporte abandon, dépôt du regard.« (Herv. i. O.) 20 | Schiele, Egon, 1890-1918. 21 | Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture, Paris: Seuil 1953, S. 13: »le style est une Nécessité qui noue l’humeur de l’écrivain à son langage. Il est la chose de l’écrivain, sa splendeur et sa prison, il est sa solitude.« Eigene Übersetzung (Herv. i. O.). 22 | Proust: Le Temps retrouvé, Paris: La Pléiade 1927, S. 895: »[C]ar le style pour l’écrivain, aussi bien que la couleur pour le peintre, est une question non de technique mais de vision.« Eigene Übersetzung. 23 | Eluard, Paul: »Donner à voir« [1939], in: ders.: Œuvres complètes I, Paris: La Pléiade 1968, S. 918: »Voir, c’est comprendre, juger, transformer,imaginer, oublier ou s’oublier, être ou disparaître.« Eigene Übersetzung. 24 | Flaubert, Gustave: Correspondance du 24 Avril 1852, Lettre à Louise Colet: »un style qui vous entrerait dans l’idée comme un coup de stylet.« http://flaubert.univrouen.fr/correspondance/conard/outils/1852.htm, Zugriff am 01.12.2017.

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seinem Text »Nach der Vollendung« verwendet Walter Benjamin25 das Bild der Geburt, um den Prozess der künstlerischen Schöpfung zu beschreiben. Er setzt diesen Prozess der Schöpfung mit dem Prozess der Geburt gleich. Der Verlust ist, was den Maler zwingt zu malen. Eine »männliche Schöpfungsphantasie, deren Rückführung auf männlichen Gebärneid setzt«, wird laut Rohde-Dachser in dem Bild illustriert. »Oft hat man sich die Entstehung der großen Werke im Bild der Geburt gedacht. Dieses Bild ist ein dialektisches; es umfaßt den Vorgang nach zwei Seiten. Die eine hat es mit der schöpferischen Empfängnis zu tun und betrifft im Genius das Weibliche. Dieses Weibliche erschöpft sich mit der Vollendung. Es setzt das Werk ins Leben, dann stirbt es ab. Was im Meister mit der vollendeten Schöpfung stirbt, ist dasjenige Teil an ihm, in dem sie empfangen wurde. […] Die Schöpfung nämlich gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. Nicht seiner Weiblichkeit nach, in der sie empfangen wurde, sondern an seinem männlichen Element. Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschoßes empfing, wird er nun einem helleren Reiche zu danken haben. Nicht wo er geboren wurde, ist seine Heimat, sondern er kommt zur Welt, wo seine Heimat ist. Er ist der männliche Erstgeborene des Werkes, das er einstmal empfangen hatte.« 26

Als ob Freud eine Antwort darauf geschrieben hätte: »Der Künstler sucht zunächst Selbstbefreiung und führt dieselbe durch Mitteilung seines Werkes den anderen zu, die an den gleichen verhaltenen Wünschen leiden. Er stellt zwar seine persönlichsten Wunschphantasien als erfüllt dar, aber diese werden zum Kunstwerk erst durch eine Umformung, welche das Anstößige dieser Wünsche mildert, den persönlichen Ursprung derselben verhüllt, und durch die Einhaltung von Schönheitsregeln der anderen bestechende Lustprämien bietet.« 27

Rhode-Dachser folgend entstehen die Imaginationen des Weiblichen in all ihrer Vielfalt, von madonnenhaft-keuschen Bildern bis zu Bildern weiblicher Lüsternheit, von der Femme fatale zu Bildern des Schmerzes, der Trauer und des Todes, Mondmädchen und »Malweiber«28. 25 | Vgl. Benjamin, Walter: »Nach der Vollendung« [1931 /  1933], in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 101995, S. 305-438. 26 | Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent, S. 101. 27 | Freud, Sigmund: »Das Interesse an der Psychoanalyse« [1913], in: ders.: Gesammelte Werke. Band 4, IPA Verlag 1924, S. 340. 28 | Vgl. Umbach, Kathrin /  G utbrod, Helga (Hg.): Die Malweiber von Paris. Deutsche Künstlerinnen im Aufbruch, Ausstellungskatalog, Edwin-Scharff-Museum, Neu-Ulm, 12.09.2015-24.01.2016, Berlin: Gebr. Mann 2015.

3.  Eine Ästhetik der Depression

Diese Bilder dienen einem Identitätsentwurf, als ob die Imagination der Männer eine Beschreibung ihrer Wirklichkeit liefert. Lesen wir, was der Kunsthistoriker Pachinger schreibt: »Wenn wir eine junge Mutter beobachten, die ihrem Kinde die Brust reicht und dieses dabei innig und liebevoll an sich drückt, da empfinden wir ganz und voll, dass Mutter und Kind für alle Zeiten untrennbar miteinander verbunden sind.«29 In einem Brief an ihren späteren Ehemann Modersohn schreibt die Worpsweder Künstlerin Modersohn-Becker: »Das ist ein Mysterium, das für mich so tief und undurchdringlich und zart und allumfassend ist. Ich beuge mich ihm, wo ich ihm begegne. Ich kniee davor in Demut. Das und der Tod, das ist meine Religion, weil ich sie nicht fassen kann.«30 Besteht die Funktion der Kunst darin, das Gebet durch die Malerei zu ersetzen? Angesichts der Mysterien der Geburt und des Todes rückt die Kunst die großen existenziellen Fragen ins Bewusstsein, indem sie sie verbildlicht, indem sie die imaginären Dramen, die zu unserem Menschsein gehören, wiederholt und den Dualismus der Triebe (Sexualtrieb und Selbsterhaltungstrieb) herausstellt, den Kastrationskomplex, der eine schwer zu ertragende Wahrheit verbirgt. Darin liegt die Sublimierung. Die Mutterschaft ist eines der am weitesten verbreiteten Kunstmotive der Menschheit und in allen Kulturen bis heute präsent. Einer vorbildlichen Frau und Mutter, zusammengefasst unter dem Begriff ›Mütterlichkeit‹, werden als natürliche Bestimmung festgelegte Eigenschaften zugeschrieben: von der aufopferungsvollen Hingabe an die Kinder und den Ehemann bis zur Verleugnung des eigenen Lebenszieles. In der Kunst wird die Einbettung der Mutterschaft in einen ewig-natürlichen und kosmischen Zusammenhang gestellt, und die Geburt wird als Bedingung für die Existenz verstanden, wie z. B. bei Maetzel-Johannsens »Stillender Mutter unter der Sonne«. Die archaischen Bilder der Mutterschaft nehmen Bezug auf die mystische Muttergestalt und unterstreichen deren Bedrohlichkeit. Diese gefährliche, bedrohliche Frau, die die Macht über Leben und Tod besitzt, bewegt sich jenseits der humanisierenden Begrenzung, in dem die Mutterschaft nicht alles ist. Die Urfiguren zeugen davon, dass – wenn die Mutterschaft angenommen wird – damit eine Gefahr verbunden ist. Diese herabsetzende Betrachtung der Frau als ein Gebärgefäß ist eine mythische Reduzierung der Frau auf die Mutter. Otto Dix schuf in seiner Darstel-

29 | Pachinger, Anton Maximilian: Die Mutterschaft in der Malerei und Graphik, München / L eipzig: Georg Müller 1906, S. 155. 30 | Modersohn-Becker, Paula: »Brief an Otto Modersohn vom 25.12.1900«, in: Buschhoff, Anne / H erzogenrath, Wulf (Hg.): Paula Modersohn-Becker und die Kunst in Paris um 1900 – von Cezanne bis Picasso, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bremen, 13.10.200724.02.2008, München: Hirmer 2007, S. 150.

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lung einer archaischen Mütterlichkeit als totale Mutter im Rahmen seiner kosmischen Bilder den Holzschnitt »Die Geburt I, Geburtsstunde«: Abbildung 15  Dorothea MaetzelJohannsen: »Stillende Mutter unter der Sonne« (1920)

»Die Gebärende ist hier auf den Torso mit den herausgehobenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen, Brüste, Vulva und gewölbter Bauch reduziert. Anstelle ihres eigenen Kopfes erscheint die Sonne gegenüber dem Mondgesicht. Die Geburt des Menschen wird stilisiert zu einem kosmischen Ereignis, bei dem Mond, Sonne und Mutter Erde zusammenwirken. Die Frau ist nicht menschliche Mutter, sondern auf ihre Fruchtbarkeit reduziert und wird zum Gebärgefäß für die kosmisch-göttliche Hervorbringung des neuen Menschen mystifiziert.« 31

Welche Fragen werden in diesen Darstellungen der Mutterschaft aufgeworfen? Kann man in diesen Bildern das Wort, das Gebet oder den Schrei, zumindest eine Stimme hören?

31 | Vgl. Bartholomeyczik: »Bilder von der Mutterschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: ebd., S. 54.

3.  Eine Ästhetik der Depression

Abbildung 16  Otto Dix: »Die Geburt I, Geburtsstunde« (1919)

Während die Mutter in diesen kosmischen Illustrationen der Mutterschaft ihre menschliche Bedeutung verliert, erzählen die jungen Gebärenden, wie sehr sie sich nicht als Göttinnen, sondern als Tiere empfinden. Damit verbunden ist ein Gefühl der Scham, weil sie – wie sie berichten – nicht in der Lage sind, das Gleiche zu leisten wie ihre Mutter, die gebären konnte, ohne sich zu erniedrigen, ohne sich gehen zu lassen, die eine derart intensive Erfahrung überlebt hat. In seinem Fallbericht geht Silvano Arieti auf dieses Thema ein: »Der wichtigste Grundsatz im Zusammenhang mit der natürlichen Geburt lautet, dass die in den Wehen liegende Frau sich dem Schmerz nicht einfach überlässt, sondern versucht, die Herrschaft über sich selbst zu behalten. Sie soll nicht schreien; Schreien ist unsinnige Verzweiflung und bedeutet, dass man nicht länger Herr seiner selbst ist. Was aber war geschehen? Obwohl sie sich auf die Entbindung vorbereitet hatte, konnte Lisette, als es soweit war, den Schmerz nicht ertragen: sie schrie. Es war ein langer, sich wiederholender, tierähnlicher Schrei. Während sie ihn ausstieß, hätte sie sich am liebsten selbst umgebracht, denn Schreien bedeutete den Verzicht auf das Menschsein, es bedeutete Desintegration. Aber sie schrie, schrie, schrie! Wie grauenvoll, sich selbst so schreien zu hören, wie absolut menschenunwürdig!« 32 32 | Arieti, Silvano /  B emporad, Jules: Depression: Krankheitsbild, Entstehung, Dynamik und psychotherapeutische Behandlung, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S. 345. Zur Thematik des Schreiens vgl. auch Badinter, Elisabeth: La ressemblance des sexes. Le conflit, Paris: Poche 2012, S. 993; siehe Pontoreau, Pascale: Des enfants, en avoir ou

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Die Frauen geben nicht freiwillig zu, Tiere zu sein, und sie versuchen aus Scham, diesen Mangel an Menschlichkeit oder Zivilisiertheit zu maskieren. Aber im Moment der Entbindung kann kein Make-up und kein Kleidungsstück eine blutige Nacktheit unter Urin und Exkrementen verhüllen. Inter faeces et urinam nascimur. Vielleicht um sich von dieser so tierischen Determiniertheit der fundamentalen Ereignisse der Schwangerschaft und Entbindung zu emanzipieren, konnten die Künstler, die Dichter, am sensibelsten die damit verbundenen Dramen beschreiben. Die Geburt als hässliche Notwendigkeit, hieß es … Denn »Schwangerschaft und Geburt sind in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und lange darüber hinaus tabu für die bildliche Darstellung.«33 Das Tabu gilt erst recht für die Anschauung des Geburtsvorgangs, den Malerinnen wie Hannah Höch, Käthe Kollwitz, Jeanne Mammen und Paula Modersohn-Becker gemalt haben, oder George Grosz, was dazu geführt hat, dass sie als entartete Künstler gebrandmarkt wurden. Das Kunstwerk, als Auftrag des Sozialen, soll das Leiden verdecken. Dennoch haben die Künstler die deprivierten sowie deprimierten sozialen Ereignisse, das Mutterelend prinzipiell getroffen und das begleitende psychische Elend dargestellt. Besonders wichtig und vielfältig scheinen die Abbildungen der Mutterschaft zu sein. Abbildung 17  Paula Modersohn-Becker: »Liegende Mutter mit Kind II« (1906)

Diese Maler wollten die Mutterschaft im Zusammenhang mit der miserablen sozialen Wirklichkeit der Arbeiterfrauen im politischen Kontext ihrer Zeit  – dem Ersten Weltkrieg – und den daraus folgenden moralischen Desillusionen darstellen. pas, Québec: L’Homme 2003: »Für die Frauen, die daran gewöhnt sind, sich selbst unter Kontrolle zu haben, ist das Schreien bei der Geburt häufig der erste Schrei, den sie ausstoßen, seit sie ›groß‹ sind. Diesen Schrei, der es erlaubt, so viele Jahre und verdrängte Erfahrungen herauszulassen.« Eigene Übersetzung. 33 | Arieti / B emporad: Depression, S. 55.

3.  Eine Ästhetik der Depression

Abbildung 18  George Grosz: »Niederkunft« (1917)

Die Bewegung des Feminismus fördert seit dem 19. Jahrhundert die Emanzipation der unter die Autorität ihrer Ehemänner gestellten Frauen, die von ihren eigenen Töchtern weitergetragen wird, sich aber an der strengen paternalistischen Erziehung stößt.34 Welche Bitterkeit diesen Bildern innewohnt, in denen die Blicke düster und starr sind, die Laken blutig und die Mütter, oft dunkel gekleidet, in die Ferne blicken oder je nach Darstellung der verschiedenen Geburten als ungerührte Hebammen fungieren, wie in Hannah Höchs »Die Geburt«, 1925, oder wie bei Elfriede Lohse-Wächtler (»Mutter und Tochter – Die Künstlerin mit ihrer Mutter Sidonie«, 1918), wo sie Zeuge ohne jeden Lebensfunken sind: »Die 48-jährige Mutter erscheint schmal und gebeugt im züchtigen hochgeschlossenen Kleid mit tieftraurigen Augenhöhlen und einer resignierenden Geste der Hände. Ihre dagegen sich schick und dynamisch gebende Tochter wendet sich ihr liebevoll, tröstend und stützend zu. Die Zeichnung ist ein beredtes Bild von dem ohnmächtigen Zwiespalt der Mutter in der patriarchalischen Familienordnung, in der ihre eigene Persönlichkeit 34 | Ein Beispiel ist Elfriede Lohse-Wächtler, die revoltierte und schließlich interniert, entmündigt, zwangssterilisiert und 1940 nach Pirna deportiert wurde, wo sie als Opfer der NS-Euthanasiemaßnahmen T4 vergast wurde.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« zwischen der Liebe zur Tochter und der Treue und dem Gehorsam gegenüber den Forderungen (und Züchtigungen) des Familienvaters zerrieben wird.« 35

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Hannah Höch: »Die Geburt« (1925)

Die von Frauen dargestellten Frauen können so von Objekten der Kunst zu Subjekten der Bilder werden und zu Projektionsflächen für die Wünsche, Erwartungen und Enttäuschungen, die mit und zwischen Mutter und Tochter immer auftauchen. Den Bildern über den Vorgang der Schöpfung, die der Vorstellung der Männer entspringen, die dem Begehren nach Schwangerschaft unterworfen sind, steht die soziale Wirklichkeit gegenüber. Die Überlegungen über das patriarchalische Familiengefüge gehen einher mit Interpretationen einer dominierten und unterdrückten Weiblichkeit, wobei die Mutterschaft in ihren düsteren Darstellungen gleichermaßen Konformität mit dem Lebensprinzip und dem Kampf gegen die Unterdrückung der mütterlichen Rollen bedeutet. Lohse-Wächtler malt 1930 ihr düsteres Bild »Das Familienelend«. Auch innerhalb des Kreises der Psychoanalytiker scheidet die Frage des Zugangs zur Weiblichkeit und schließlich zur Mutterschaft die Geister, traditionell je nach dem Vorrang, der dem Ziel  – dem Kind in Bezug auf die sexuelle Lust  –, dem Organ  – Klitoris / Vagina  –, der zeitlichen Abfolge der 35 | Bartholomeyczik, Gesa: »Zwischen Madonna und Mutter Courage – Bilder von der Mutterschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: dies. / August Macke Haus (Hg.): Zwischen Madonna und Mutter Courage, 2011, S. 9-99, hier S. 96.

3.  Eine Ästhetik der Depression

Entwicklung – dem primären oder reaktionellen Phallizismus –, der Ansprechstelle – Mutter oder Vater –, dem Verhalten – aktiv oder passiv – und auch der Rolle des Masochismus eingeräumt wird. Abbildung 20  Elfriede Lohse-Wächtler: »Mutter und Tochter« (1918)

Von der psychischen Realität der Mutterschaft bis zu ihrer Darstellung in der Malerei oder  – in ästhetischen Begriffen  – in der Beziehung zwischen dem Subjekt in seiner eigenen Rede und dem Objekt der gesellschaftlichen Erwartungen liegt die Energie der Psyche in der Dichte der Materie des Bildes. Diese schöpferische Funktion der Maler ist mit der Quelle des Lebens verbunden und nährt den Lebenstrieb, Eros, d. h. »diesen dynamischen Prozess, der in ei-

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nem Drang besteht, der den Organismus einem Ziel zustreben lässt.«36 So stoßen sich die Töchter an dem, was von einer impliziten Erwartung an die Rolle der Mutter übertragen wird, sie üben Widerstand aus, indem sie im besten Fall mit sarkastischer Ironie und im schlimmsten Fall mit dem Verlust ihres psychomentalen Gleichgewichts reagieren. Das bestätigt Arieti: »Ganz unerwartet entwickelt sich hier gewissermaßen ein spannendes Drama. In der Regel sind vier Mitspieler beteiligt: Die Mutter, das Baby, der Ehemann und die Mutter der Patientin. […] In den meisten Fällen von postpartaler Depression bei jungen Müttern, die mir bekannt geworden sind, war die Mutter der Patientin nicht nur die dominante Bezugsperson, die die Patientin versöhnlich stimmen musste und auf deren ununterbrochenes Wohlwollen sie angewiesen war, sondern zugleich der Mensch, mit dem die Patientin sich, wenn auch widerstrebend, identifizierte.« 37

Die Annahme, Mutterliebe sei Ausdruck der Natur und elementar, wird dadurch widerlegt, dass es offensichtlich Frauen gibt, die sich zu Akten der physischen und psychischen Gewalt den Kindern gegenüber hinreißen lassen, für die sie die Verantwortung tragen. Das blieb lange ein Mysterium, von dem man nichts wissen wollte. Die harmonische Welt existiert nicht; die Harmonie ist trügerisch und übt Pression, Druck, aus, und lässt so Raum für die depressive Dekompensation, eine De-Pression, also buchstäblich Druck entziehende Dekompensation, die die Ventile für die Angst öffnet. Ich verstehe die Depression als Versuch, die psychischen narzisstischen Kräfte anders einzuorden, nicht als positiv, sondern als misslungen, eine narzisstische Pathologie.

36 | Vgl. Laplanche /  P ontalis: »Eros«, in: Vocabulaire de la Psychanalyse, S. 359; eigene Übersetzung. 37 | Arieti /  B emporad: Depression, S. 334 f.

3.  Eine Ästhetik der Depression

3.2 D er bl aue M ond der D epression »Nein, nein, du hast keinen Namen, nein, du hast keine Existenz, du bist nur ein Gedanke, nein, nein, du hast keinen Namen.« A nne S ylvestre 38 »Blue moon You saw me standing alone Without a dream in my heart Without a love on my own.« L orenz H art39

Die Geburt eines Kindes ist ein Versprechen, das ungeborene Kind ist bereits eine Ankündigung darauf, dass die Welt bald nie mehr so sein wird wie vorher. Die Erkenntnis, die eine Frau durch die Geburt ihres Kindes gewinnt, ist an ihre eigene tödliche Teilung gebunden. Sie ist gleichzeitig Kreatur und Kreation, und durch das Geheimnis des in ihr entstehenden Lebens wird sie zu einer Anderen, als sie vorher war. Die Schwangerschaft ist für jede Frau die Bestätigung einer geoffenbarten Sexualität, die im Familienkreis und vor allem der Mutter verkündet wird. In diesem Moment der Beichte 40 fühlt sich die jun38 | Sylvestre, Anne: »Non Tu n As Pas De Nom« aus dem Album »Anna Sylvestre«, A Sylvestre 1973: »Non, non, tu n’as pas de nom, non tu n’as pas d’existence, tu n’es que ce qu’on en pense, non, non, tu n’as pas de nom.« Eigene Übersetzung. 39 | Hart, Lorenz / R odgers, Richard: »Blue Moon«, o. Album, 1934: »Blue Moon, you saw me standing alone, without a dream in my heart, without a love on my own. Blue Moon […] And there suddenly appeared before me, the only one my arms will ever hold, I heard somebody whisper, ›please adore me‹, and when I looked the moon had turned to gold.« 40 | Hélias, Pierre-Jakez: Le cheval d’orgueil, Mémoires d’un breton du pays bigouden, Paris: Plon 1975, S. 51: »Die Kindbettzeremonie findet nach der Taufe statt. So ist der Ablauf: Diejenige, die etwas Neues erhalten hatte, kleidete sich zwischen Sonntag und Alltag, d. h. anständig, aber unauffällig. Über den Schultern trug sie den Trauermantel, eine schwere Tuchpelerine mit Silberschnallen, deren Kapuze sie über den Kopf legte, um ihr Gesicht zu verhüllen. Sie ging aus ihrem Haus heraus, blieb einen Moment auf der Schwelle stehen, damit die Leute Zeit hatten sich umzudrehen […]. Und nun geht sie zur Kirche, hart an den Häusern entlang. Die Frau tritt in den Kirchhof ein, nimmt aber den Seiteneingang, sie geht nicht durch das Tor. Sie geht um die Kirche herum und bleibt vor dem Tor zur Taufkapelle stehen. Der Pfarrer, im Voraus benachrichtigt, erwartet sie mit Chorhemd und weißer Stola. Er reicht ihr eine bereits angezündete Kerze, bevor er sie mit dem Weihwasserwedel segnet. Adjutorium nostrum in nomine Domini. Nach einer kurzen lateinischen Litanei legt er das

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ge Frau in einer Zwickmühle zwischen ihrem Glück der Mutterschaft und ihrem Schmerz angesichts des unausweichlichen Gesetzes der Zeit und der Generationen. Christian Maier zitiert frauenfeindliche Texte einiger Kirchenväter und zeigt, »dass der gefährliche Zustand der Wöchnerin mit deren Bedürfnissen und bedrohlichen frustrationsbedingten Aggressionen zusammenhängt. Diese Zusammenhänge müssen auch die Kirchenväter geahnt haben, denen der Satz ›post partum putantur esse paganae‹ – oder wie der Volksmund meint: Die Wöchnerin ist keine rechte Christin mehr – galt.« 41

Denn sie rückt ihre Eltern in die Nähe des Todes. Das greift Antigone auf, wenn sie sagt, dass die Frau dem Todeskult geweiht ist. Verlust und Trauer gehen demnach mit der Schwangerschaft einher. Pedrina schreibt: »Die werdende und die junge Mutter ist stets dabei, etwas zu verlieren – zunächst ihr Leben als kinderlose Frau. In den schnellen Veränderungen während der Schwangerschaft verliert sie bald das erhöhte Selbstgefühl, das sich in der Phase der Verschmelzung mit dem ungeborenen Kind einstellte. Mit der Geburt verliert sie das Selbsterleben der Schwangerschaft. Mit jedem Entwicklungsschritt des Babys verliert sie das Baby und die Art der Beziehung zu ihm, wie diese zuvor war.« 42

Ende seiner Stola in die Hand der Mutter und lässt sie in die Kirche eintreten. Wie eine zweite Taufe. […] Jetzt erhebt sich die Frau, nimmt die Kapuze ab, öffnet die Silberschnalle und verlässt die Kirche mit erhobenem Kopf. Sie legt den Mantel ab, faltet ihn und legt ihn sich über den Arm. […] Dem Brauch folgend verweilt sie vor dem Grab ihrer Eltern, nun, da sie wieder im Einklang mit den Toten und den Lebenden ist. Sie verlässt den Friedhof durch das große Gittertor. Wie zufällig begegnen ihr all diejenigen, die sie vorher nicht sehen wollten, und sprechen mit ihr über alles Mögliche, nicht aber über den Grund, der sie zur Kirche geführt hat, an einem Wochentag, allein, bekleidet mit dem Begräbnismantel, obwohl keine Totenglocke läutete. Erst beim Abschied fragt jeder sie mit abgewendeten Augen: ›Wie gehts in der Familie?‹ […] Und sie antwortet: ›Sehr gut. Es könnte nicht besser gehen.‹« Eigene Übersetzung. 41 | Maier, Christian: »Schizophrene Wochenbett-Psychosen«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43, Heft 5, 1989, S. 429-444, hier S. 440. 42 | Vgl. Pedrina: Mütter und Babys.

3.  Eine Ästhetik der Depression

Während der Schwangerschaft, in dieser Spannung zwischen Leben und Tod, die als Moment psychischer Transparenz bezeichnet wird, und dann wieder bei der Geburt findet eine narzisstische Krise statt, mit allen Risiken der Regression und des Ungleichgewichts, die zu einer Depression führen kann. Julia Kristeva fragt: »Woher kommt diese schwarze Sonne?Von welcher sinnlosen Galaxie aus nageln mich ihre unsichtbaren und bleiernen Strahlen an den Boden, das Bett, die Stummheit, die Entsagung?«43 Anstelle der »Schwarzen Sonne der Melancholie«, von der Gérard de Nerval in seinem Gedicht »El Desdichado« über einen Mann, seine Verbannung und die daraus resultierende düstere Stimmung sowie eine Verweigerung einer immateriellen Erbschaft spricht, ziehe ich es vor, zur Beschreibung der Depression bei der Frau vom ›blauen Mond der Depression‹ zu sprechen, denn darin sehe ich die lunare astrale Manifestation eines Des-asters im Leben einer Frau. In seinem Gedicht »Saturn, Stern der Melancholie« verbindet Verlaine die emotionale Lage mit Astern und lässt astres (= Stern) auf désastres (= Desaster) reimen. »Les sages d’autrefois, qui valaient bien ceux-ci, Crurent- et c’est un point encor mal éclairciLire au ciel les bonheurs ainsi que les désastres, Et que chaque âme était liée à l’un des astres.« 44

Um welches Desaster45 geht es? Ist es nicht eng mit dem Weiblichsein als solchem verbunden? Prämenstruelles Syndrom, Wiederkehr der Regel, PPD oder Menopause – der auf die Veränderungen der Mondphasen zurückgeführte Zyklus von 28 Tagen wird herangezogen, um zu verstehen, was die leidende Frau und die sich daraus ergebende Katastrophe etymologisch bedeuten. Der Mond hat in der Geschichte der Mythologie eine besondere Rolle und wurde mit der Frau, mit dem Weiblichen, in Zusammenhang gebracht, wie früher die Hysterie, und dies ist immer noch gültig. Wir haben es mit einem Weltuntergangsszenario zu tun, der »Weltuntergang ist die Projektion dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seitdem er ihr seine Liebe entzogen hat.«46 Des-aster, Kat-

43 | Vgl. Kristeva: Soleil noir, S. 13. 44 | Verlaine, Paul: Poèmes saturniens, Paris: Alphonse Lemerre 1866. 45 | Kinder, die mit dem Gesicht mit Blickrichtung zum Bauch der Mutter liegen, d. h. in hinterer Hinterhauptlage, bezeichnet man als ›Sterngucker‹. Kinder, die gegen Ende der Schwangerschaft sterben, werden ›Sternkinder‹ genannt. 46 | Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)« [1911], in: ders.: Studienausgabe. Band 7, 2000, S. 193.

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astr-ophe, sidération 47, der Signifikant ›astre‹ wirkt unbewusst in der Sprache. So bedeutet im Französischen être dans la lune ›in seiner eigenen imaginären Welt zu sein‹, ›allein mit Gedanken beschäftigt zu sein‹. Und die Reise dahin dauert viele Monde! Ein bretonisches Wiegenlied beschreibt das Land der Träume, Kerhun, d. h. den Schlaf, als ein Land ohne Mond. Der Grund dafür wird bei Helias genannt: »Ihr wisst es genau. Wenn man mit offenem Mund schaut und der Mond einem in die Kehle scheint, bleibt man sein ganzes Leben blöde. In Kerhun besteht keine Gefahr.«48 Die Eigenschaften des Mondes werden immer wieder genannt, denn im Französischen ist der Mond weiblich mit den symbolischen Werten der Weiblichkeit. Obwohl im Deutschen der ›Mond‹ maskulin ist, gilt diese These auch hier. Mond und Monat stammen vom Griechischen mene ab und beinhalten beide das Element der Periodizität. Analog gilt dies für moon und month im Englischen. Im Deutschen findet sich auch die lateinische Wurzel luna wieder. ›Launisch‹ ist mit luna verwandt, was eine etymologische Erklärung dafür bietet, dass lunacy Wahnsinn bedeutet oder eine Irrenanstalt lunatic asylum heißt, also buchstäblich ›Asyl der Mondsüchtigen‹. Und mondsüchtig waren doch die Hexen! Da der Mond immer mit der Weiblichkeit assoziiert wurde und besonders mit der Mutterschaft, nenne ich die PPD, die mitsamt ihren Symptomen auch die Männer erfasst – aber immer im Zusammenhang mit der Mutterschaft –, Depression unter Mondeinfluss.

3.3 D as M arienbl au Seit Ende des Mittelalters wird erst in der romanischen, dann gotischen Ikonographie und Theologie die Marienfigur der Unbefleckten Empfängnis mit dem Mond als göttlichem Attribut in Verbindung gebracht. Im zwölften Kapitel der Offenbarung des Johannes, mit dem Untertitel »Das Weib und der Drache«, heißt es: »Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual bei der Geburt.«49

47 | Sidération stammt aus dem Lateinischen sidus, sideris (= Aster / G estirn). Vgl. Didier-Weill: Les trois temps de la loi, S. 120. 48 | Vgl. Hélias: Le cheval d’orgueil, S. 56; »Vous le savez bien. Si l’on garde la bouche ouverte et si la lune brille dans la gorge, on reste niais toute la vie. A Kerhun, il n’y a pas de risque.« Eigene Übersetzung. 49 | Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel, S. 327.

3.  Eine Ästhetik der Depression

In zahlreichen Kirchen – wie in der St.-Vincent-Kathedrale in Chalon-surSaône in Burgund (siehe unten Abbildung 20) – wird auf Bildern der Himmelfahrt Mariä die Heilige Jungfrau auf einer Mondsichel oder auf dem runden Mond stehend dargestellt. Auf den Bildern dieser Epoche ist ihr Mantel oder ihr Gewand von blauer Farbe. Die Farbe Blau als Nachtblau, oder als Illustration der versteckten Seite des Mondes, dient der Repräsentation der Frauen in den Mythen als Basis, in denen der Mond als Metapher auf die Weiblichkeit anspielt. Abbildung 21  O. A.: »Himmelfahrt Mariä« (o. D.)

Diesem Muster folgt auch Botticelli in seinen Bildern »Die Verkündigung von S. Martino alla Scala«50 oder »Die Anbetung der Könige«51 oder in allen Darstellungen der Madonna: »Madonna mit dem Buch«, »Madonna mit dem Granat­

50 | Botticelli, Sandro: 1481, Fresko, Uffizien, Florenz, Italien. 51 | Ders.: 1475-78, Galleria degli Uffizi, Florenz, Italien.

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apfel« und »Madonna des Magnifikat«. Lochner52 und Memling53 oder auch der flämische Künstler Gérard David54 malen die Madonna in ihren Bildern in blauen Gewändern. Wir zeigen hier die »Madonna mit dem Buch« (1479) von Botticelli. Liest sie es? Abbildung 22  Sandro Botticelli: »Madonna mit dem Buch« (1481)

In Botticellis Gemälde wird Jesus nach Zöllner55 während seines Leseunterrichts mit seiner eigenen Geschichte, mit der Prophezeiung aus der Vergangenheit und deren Erfüllung als Erlöser der Menschheit in der Zukunft, konfrontiert. Die Madonna drückt mit der typischen Kopfneigung die Demut, humilitas, vor ihrem Kind, aber auch die Resignation aus. Für diese Frau, wie für alle Frauen, wird die Mutterschaft mit der Farbe der Trauer, des Schmer52 | Lochner, Stephan: »Madonna im Rosenhag«, 1451, Wallraf-Richartz-Museum, Köln. 53 | Memling, Hans: »Verkündigung«, 1482, Sammlung Lehman, New York, USA. 54 | David, Gérard: »Ruhe auf der Flucht nach Ägypten«, 1505, Metropolitan Museum, New York, USA. 55 | Vgl. Zöllner, Frank: Botticelli, München: Beck 2009.

3.  Eine Ästhetik der Depression

zes wiedergegeben. »Das Blau erfüllt ganz allein die Rolle des Marienattributs der Trauer«56, denn die Farbe ist zu einem sozialen Faktor geworden. Und auch wenn sich die Farbe in den Fenstern der Kirchen und Kathedralen durchgesetzt hat, ist sie doch Symbol eines Kampfes zwischen den Fürsprechern der Farbe und denen der Materie. So verbinden die Äbte von Cluny oder die Erbauer der Sainte-Chapelle in Paris Farbe und Licht und träumen, wie Suger in St. Denis (Ile de France), davon, eine lichtdurchflutete Kirche aus Edelsteinen wie Saphir, dem schönsten und blauesten aller Steine, zu errichten, was bei den Zisterziensern unter Bernard de Clairvaux schärfsten Widerspruch erregt. Sie stützen sich dabei auf eine – heute anerkannte – lateinische Etymologie des Wortes color, wobei dieses Wort der Familie des Verbs celare, ›verbergen‹, zugeordnet wird. Die Farbe verbirgt, versteckt, betrügt. Sie ist Materie, bevor sie Licht, Hülle, Schminke, vanitas wird, von der man sich befreien muss. Ein anderer etymologischer Ansatz führt color auf calor, ›Wärme‹, zurück: Das würde bedeuten, dass Farbe aus der Materie entsteht, aus dem Feuer, der Sonne, und dass die Dunkelheit vertrieben werden muss, um dem Göttlichen weiten Raum zu geben. Beim Bau der großen Kathedralen wurde versucht, die Formen leichter und klarer zu gestalten, Pfeile aus ziseliertem Gestein zu errichten, und die Glasbläser und Buchillustratoren führen die Entdeckung des Marienblaus auf das neue Konzept des Lichts zurück, das die Erbauer und Architekten von den Vertretern der Kirche übernehmen. Die blaue Farbe entwickelt sich zusammen mit dem damit verbundenen Marienkult rasch zu einer aristokratischen Farbe, die von einer neuen Hierarchie der Farben in der Gesellschaft, den gedanklichen Systemen und den Wahrnehmungen zeugt. Blau bleibt jedoch weiterhin die Farbe der Nüchternheit, Religion, Moral und des Schmerzes. Davon zeugt das Bild »La Vierge de Douleur« von Philippe de Champaigne. Wesentlich später reiht sich Picasso mit dem Bild »Mutter und Kind am Strand« in die malerische Tradition der Madonnenbilder ein und bleibt dabei, als er in der ›blauen Periode‹ (1901-1905) blau als Boden des Abgrunds definiert. Nur zwei weiße Flecken und das Rot der Blume erleuchten die blaue Stimmung. Moravia schrieb: »Das Blau […] bezeugt den leidenschaftlichen Drang Picassos nach vorn, seinen Willen zur Entfaltung seiner eigenen angeborenen Vitalität, ohne ein Urteil zu fällen, ohne zu moralisieren, mittels einer totalen und weltschöpferischen Farbe.«57

56 | Pastoureau, Michel: Bleu, histoire d’une couleur, Paris: Seuil 2000, S. 51: »Le bleu remplit à lui tout seul ce rôle d’attribut marial du deuil.« Eigene Übersetzung. 57 | Alberto Moravia, zitiert nach Bernadac, Marie-Laure: Picasso Museum Paris – die Meisterwerke, München: Prestel 1991.

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In der Zeitschrift Arte Joven unter dem Director artístico Picasso, findet man einen Artikel von Rusiñol über die inhaltliche Dimension des Blau.58 Durch das Blau der Madonnen zeigt sich ein ästhetisches Mittel, das das Mütterliche in eine leidende Position bringt. Diese Farbe drückt das Leiden aus. Das Blau wird zu einer psychischen Farbe. Es überrascht daher nicht, dass das Abbildung 23  Philippe de Champaigne: »La Vierge de douleur au pied de la croix« (1657)

Blau des Himmels in unserer Kultur zur Marienfarbe wird und damit die unendliche Trauer ausdrückt, die Maria, die universelle Mutter der Christenheit, empfindet, weil sie nur Mutter wird. Kandinsky hat dies wie folgt festgehalten:

58 | Rusiñol, Santiago: »El Patio azul«, Bild 1913, in: Arte Joven [1901]: »Ich entdeckte diesen Innenhof, als ich die Gassen entlangging: ein Leuchten weit hinten, ein trauriges Licht voller Melancholie: die blaue Wand, ein gnadenloses Blau, ein violettes Ultramarin ohne Zwischentöne, ein ebenso blauer Brunnen, eine blaue Treppe.« Eigene Übersetzung. Arte Joven wurde von Azorin, P. Picasso, P. Baroja und M. de Unamuno gegründet.

3.  Eine Ästhetik der Depression »Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird […]. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen beim Klange des Wortes Himmel. […] [S]ehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer. […] Kreis: Gleichmaß, unendlich, ruhig, immer Blau.« 59

Picasso übernimmt den verlängernden Stil der romanischen Skulpturen, den man in vielen Werken dieser Epoche findet. Abbildung 24  Pablo Picasso: »Mutter und Kind am Strand« (1902)

59 | Kandinsky, Wassily: »Untersuchungen der bildnerischen Mittel« [1908], in: Gesammelte Schriften 1889-1916. Farbensprache, Kompositionslehre und andere unveröffentlichte Texte, hg. von Helmut Friedel, München u. a.: Prestel 2007.

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Das Bild ist geprägt von tiefer Traurigkeit. Picasso drückt in diesem Gemälde die mütterliche Depression aus, das Kind ist wie das Gesicht und die Hand seiner Mutter fast selbstständig leuchtend und scheint nackt oder tot. Das Boot ist leer, alles ist blau, abgründig. Als auslösendes Ereignis für diesen Stil gilt der Suizid seines Freundes Casagemas. Schwermütigkeit, Armut und Isolation sowie Einsamkeit drücken die finanzielle Not und das Gefühl aus, fremd im Ausland zu sein, soziales Elend der Frauen, die er im Gefängnis in Paris besuchte. Das Thema der Passion Christi, Thema des Kind-Königs, INRI, des Königs der Juden, besteht ästhetisch gesehen in der verzweifelten Haltung einer ›menschlichen, allzu menschlichen‹ Mutter, die einer nicht umkehrbaren Trennung von ihrem Kind entgegensieht, von der sie weiß, dass sie für ihren Sohn tödlich sein wird. In der Mariendarstellung ist eine zweite Ebene der Aussage enthalten, die eine Umkehrung des Verhältnisses von Mutter und Sohn in das von Vater (Vertreter der Gottesposition) und Mutter bezeugt und ebenso eine Rolle, in der Christus seine Mutter wie ein Baby hält. Kristeva schreibt »Das Mütterliche ist von nun an in der abendländischen Malerei das Mütterliche des künstlerischen Menschen«60, und sie fügt hinzu, so wie »die freudsche Theorie in beidem (Melancholie und Depression) auf die unmögliche Trauer um das mütterliche Objekt schließen lässt.«61 Entsprechend verstehen diese Künstler, dass eine Mutter immer bereits gleichzeitig Jungfrau, Mutter und Tochter ihres Kindes ist. Sie ist gleichzeitig die Mutter Christi und Gottes Tochter. Dante schreibt in einem seiner Verse: »Jungfrau Mutter Tochter deines Sohnes«, »Vergine Madre Figlia del tuo Figlio.«62 Botticelli greift den Vers auf und setzt ihn erstmals in der Geschichte der Malerei – auf Italienisch – auf den Sockel des Thrones der »Madonna di S. Barnaba«.

60 | Kristeva: Pulsions du temps, S. 28: »Le maternel est désormais, dans la peinture occidentale, le maternel de l’homme artiste.« Eigene Übersetzung. 61 | Vgl. Kristeva: Soleil noir, S. 19: »la théorie freudienne décèle partout le même deuil impossible de l’objet maternel.« Dt.: Schwarze Sonne, S. 17 (beide Herv. i. O.). 62 | Dante, Alighieri: Die Göttliche Komödie, München: Knaur Droemersche Verlagsanstalt, 1952, Paradies, Gesang 33,1, S. 384: »O Jungfrau Mutter, Tochter deines Sohnes, / Mehr, denn sonst ein Geschöpf, hehr und voll Demut / Vorausbestimmtes Ziel des ew’gen Rates, / Du bist es, durch die die menschliche Natur so / Geadelt ward, daß es verschmäht ihr Schöpfer / Nicht hat, sein eigenes Geschöpf zu werden.«

3.  Eine Ästhetik der Depression

Abbildung 25  Sandro Botticelli: »Madonna di S. Barnaba« (1486)

Die Zeile aus Dantes Vers enthält den Beweis, dass die Bewältigung der mütterlichen Trauer unmöglich ist, weil eine Frau nicht nur um die Mutter, sondern um sich selbst als Kondensation gleichzeitiger Identitäten trauert. Die Verwerfung in der Genealogie, das Empfinden, gleichzeitig Mutter und Tochter zu sein, birgt nach Lacan die Gefahr einer Psychose. Ein weiteres Zeugnis der Verschleierung der unmöglichen Position der Mutter in der Generationenfolge sehe ich in Leonardo da Vincis »Mona Lisa«. Was uns gewisslich fasziniert und fesselt, wenn wir vor dem durchscheinenden asketischen Antlitz der Gioconda mit ihrer von innen erleuchteten jugendlichen Schönheit innehalten, ist ihr rätselhaftes Lächeln, das seine Geheimnisse wahrt. Davon scheint da Vincis Darstellung seiner jungen Mutter etwas zu enthalten. Ja, auch da Vinci ist melancholisch, denn das Objekt seiner ersten Sohnesliebe, seine ›Mona Lisa‹, hat ihn bei seinem Vater gelassen, der eine andere Frau heiratet. »Mona Lisa« ist die Darstellung dieser jungen Mutter, die im Stich gelassen wurde. Ihr Lächeln ist ein Moment der Trauer. Die Ästhetik als Verschleierung des Schmer-

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zes hat die Gioconda als »Inkarnation des ewig Weiblichen«63 unsterblich repräsentiert. Hier ist auch die Umkehrung des Verhältnisses der Mutter zum Sohn in das des Vaters zur Mutter für die Genealogie bedeutsam. Abbildung 26  Leonardo da Vinci: »Mona Lisa« (1503-1506)

Tatsächlich scheint der ›göttliche‹ Blick die beseelte Übersetzung der Seele – anima – zu sein, des Spiegels des innersten weiblichen Wesens, des ewig Weiblichen. Das macht die Kunst der Malerei und der Architektur aus religiöser Sicht so bemerkenswert, weil sie den inneren Bruch jedes Subjekts, das mit seiner psychischen Spaltung, der Pluralität seines Seins konfrontiert ist, erfasst. »Am Anfang war die Mutter«, hätte vielleicht Françoise Dolto gesagt:

63 | Todd, Olivier /  M alraux, André: Une vie, Paris: Gallimard 2001, S. 460: »Leonardo gab dem griechischen Ideal der Frau eine Seele. Mit ihrem göttlichen Blick konnte die sterbliche Mona Lisa über die gesichtslosen Göttinnen des Altertums triumphieren und eine Inkarnation des ewig Weiblichen werden, wie Goethe es genannt hat.« Eigene Übersetzung.

3.  Eine Ästhetik der Depression »So scheint für jedes menschliche Wesen seine Beziehung zur Mutter, der Quelle seiner eigenen Existenz, in dem zu wurzeln, was man in Ermangelung eines anderen Wortes das ›Sakrale‹ nennt. […] Dieses Sakrale versieht der Mensch im Licht des Gesichts, das sich in den ersten Stunden seines Lebens, in den ersten Tagen seiner Prüfungen, über ihn beugt, mit einem Heiligenschein.« 64

Wie Guillerault65 erinnert, verwendet Winnicott den Begriff der ›Hingabe‹ (devotion), um einen wesentlichen Aspekt zu bezeichnen, ohne den die Mutter ihre Rolle nicht erfüllen und sich nicht aktiv und sensibel den Bedürfnissen ihres Säuglings anpassen kann. Die Haltung der Madonna erlaubt eine bestimmte Interpretation der Hingabe. Durch das Blau ihres Mantels zeigt sich als ästhetisches Mittel das Mütterliche, dargestellt in einer leidenden Position, und zwar aus der Genealogie heraus. Bleiben wir im Folgenden bei dieser ›Hingabe‹ und diesem ›Sakralen‹, die das Mütterliche definieren und ihre Umsetzung bei den Malern des Religiösen, des Göttlichen zu finden scheinen. Um den Körper des Kindes spannt sich ein Gewebe aus aufmerksamen Blicken, die wissen, was es braucht. Das Kind darf nicht von anderen als der Mutter oder den identifizierten Eltern berührt, betrachtet oder gehalten werden. Es darf nicht von einem Fremden betrachtet werden, denn diese Bedrohung könnte das dyadische System in Unordnung bringen, in dem die Mutter den Übergang zwischen dem Kind und sich selbst, zwischen dem Kind und der Gesellschaft bildet. Was zeigen uns nun die Maler des 15. Jahrhunderts in diesen Nativitäten? Es ist eine Momentaufnahme, die sich im Stillstand der Zeit ausdrückt und darlegt, wie sehr die narzisstische Homöostase Veränderung und Zeitablauf ausschalten muss. Man könnte sagen, dass der Blick zwischen Mutter und Kind Aufschluss über die Art der Interaktion und der frühen Beziehung gibt und dass diese Spiegelfunktion des Blicks der Mutter für das Kind die gegenseitige narzisstische Unterstützung wiedergibt, die sie beide brauchen. Die mittelalterlichen Madonnen richten den Blick nicht auf ihren Sohn, die Mutter in der Depression nicht auf ihr Kind. Der Blick verharrt in einer vergangenen Zeit, einer Zeit der Erinnerungen, einer Zeit der Tränen, die vor der Zukunft geschützt ist und sich wieder auf sich selbst bezieht, um eine Identität zu bewahren, die in Scherben zu zerbersten droht. Wir wollen festhalten, dass der Blick der Madonna nicht auf ihren Sohn und nicht auf das Buch gerichtet ist, son64 | Dolto: L’image inconsciente du corps, S. 222: »C’est ainsi que, pour chaque être humain, sa relation à sa mère, source de sa propre existence, semble plonger ses racines dans ce qu’à défaut d’autre mot on appelle le ›sacré‹. […] Ce sacré, il le nimbe de la lumière du visage penché sur le sien aux premières de sa vie, aux premiers jours de ses épreuves.« Eigene Übersetzung. 65 | Vgl. Guillerault, Gérard: Dolto / W innicott. Le bébé dans la psychanalyse, Paris: Gallimard 2007, S. 33.

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dern in eine andere Richtung geht, am Gesicht des Kindes vorbei, das seinerseits den Hals verrenkt, um sie anzusehen und ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Abbildungen 27 bis 29  Giovanni Bellini: »Madonna mit Kind« (1510). Sandro Botticelli: »Madonna mit dem Buch« (1479, Ausschnitt) und »Madonna im Rosengarten« (1469-1470, v.l.n.r.)

Lacan erläutert diese Bewegung des Kindes, das den Kopf wendet, im Zusammenhang mit der Funktion des oralen Objekts. Das Erstaunen oder die Irritation des Kindes sind hier wahrnehmbar. Laut Lacan ist die Funktion des oralen Objekts, der allererste Ausdruck der Trennungsangst »nur zu verstehen, wenn das Objekt, das sich vom Subjekt ablöst, sich in eben jenem Moment in den Anspruch an den Anderen, in den Ruf nach der Mutter einführt und dieses Jenseits entwirft, in dem, unter einem Schleier, das Begehren der Mutter ist. Dieser Akt, in welchem das irgendwie erstaunte Kleine den Kopf umwendet, während es sich von der Brust löst, zeigt, dass nur scheinbar diese Brust der Mutter gehört. Sie gehört fundamental ihm. […] Die Brust ist in Wirklichkeit Teil des Fütterungskomplexes.« 66

66 | Lacan, Jacques: Einführung in die Namen-des-Vaters [1963], aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Wien: Turia + Kant 2006, S. 76; Original: »Introduction aux Noms-du-Père«, in: Des Noms-du-Père, Paris: Seuil 2005, S. 65-103, hier S. 78: La fonction de l’objet oral »ne se comprend que si l’objet qui se détache du sujet s’introduit à ce moment-là dans la demande à l’Autre, dans l’appel vers la mère, et dessine cet au-delà où, sous un voile, est le désir de la mère. Cet acte où le petit, en quelque sorte étonné, renverse la tête en se détachant du sein, montre que ce n’est qu’en apparence que ce sein appartient à la mère. Il est fondamentalement de son appartenance à lui […]. Le sein est en effet partie du complexe nourricier.«

3.  Eine Ästhetik der Depression

Der Blick des Kindes scheint immer schon da zu sein, in Erwartung einer Beziehung. Der Blick der Mutter wendet sich auf ihr Innerstes, auf ihr inneres Frühere oder ihr früheres Innere. Als ob sie verzichten müsste auf die Hinwendung zu ihrem inneren Objekt, auf ihre innere Sorge, um sich für das neue äußere Objekt zu interessieren, das das Neugeborene geworden ist. Dieser wortlose Konflikt zwischen ihr und ihm drückt sich in ihrem Blick aus, den man paradoxerweise als leer bezeichnen könnte. Aber wenn er leer, d. h. ohne Beziehung zu ihrem Kind ist, so ist er doch voller Bedeutung für die Problematik der mütterlichen Identität. Garcia Márquez lässt die Mutter seines Helden sagen: »Aureliano, das erste Menschenwesen, das in Macondo geboren wurde, sollte im März das sechste Lebensjahr vollenden. Er war still und in sich gekehrt. Er hatte im Leib seiner Mutter geweint und wurde mit geöffneten Augen geboren. Während man ihm die Nabelschnur abschnitt, bewegte er den Kopf hin und her, erkannte die Dinge des Zimmers und musterte die Gesichter der Menschen mit einer Neugier ohne Staunen.« 67

Das neugierige Kind kommt von innen nach außen. Die Mutter wird entleert. Und das Kind, laut Marquez, mustert, urteilt. Ist es die Wahrheit ihres Seins, über das das Kind urteilt, und vermeidet die Mutter, ihre eigene Verurteilung zu lesen, indem sie ihren Blick abwendet? Aus dieser Frage des Kindes kommt der Hinweis, dass in dem Blick der Mutter nicht alles zu sehen ist. Dies verweist auf ihr Begehren. Jede Frage zur Schöpfung, über den Beginn oder die Geburt berührt die Frage nach dem Wahren, aber auch die Ur-Phantasmen mit der Erfindung des Familienromans beim Kind: Wer ist mein wahrer Vater? Wer meine wahre Mutter? Aber wie kommt man an die Wahrheit? Wie können das Vorher, das Während und das Nach der Geburt in einer äußeren psychischen Realität geschildert und eingeordnet werden in Übereinstimmung mit den inneren Gefühlen? Woher kommst du? Wer bist du?68 Diese Fragen werfen das Problem des im mütterlichen Körper verankerten Sexuellen auf. Die Mutter schiebt mit allen Mitteln die Antwort auf die Frage auf, die sie sich stellt, eine Antwort, die das Neugeborene von ihr erwartet im visuellen Austausch mit ihm und per se verstanden als Reflexion im Spiegel seiner Augen.

67 | Garcia Márquez, Gabriel: Hundert Jahre Einsamkeit [1967], München: dtv 131993, S. 22. 68 | Vgl. Bouchart, Anne /  R apoport, Danielle (Hg.): »Origines, D’où viens-tu? Qui estu?«, Paris: Stock 1985.

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3.4 E ine F r au ohne S chat ten ? Mit der Annahme des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis durch Pius IX. im Jahr 1854 tritt nach den vergoldeten Madonnen des Barock endgültig Weiß an die Stelle von Blau als ikonographischer Farbe der Jungfräulichkeit und der Reinheit. Neben den Marienbildern mit dem Jesuskind wird ein anderer Aspekt des Verfehlens eines menschlichen Begehrens in die Darstellungen der Jungfrau Maria, ohne Jesus, zum Ausdruck gebracht. Zentral geht es um das Drama der sündenfreien Empfängnis. Für die Mönche des Mittelalters, die der Traurigkeit und der Untätigkeit, acedia, anhingen, um leichter zur göttlichen Wahrheit vorzudringen, bedeutet die melancholische Darstellung einer bereits seit der Verkündung traurigen Maria zweierlei: • einerseits eine Mutter, die einem Kind das Leben geschenkt hat und eine tiefe Zärtlichkeit empfindet; • andererseits eine Mutter, die gerade den Tod erlebt hat, ein Drama, das in allen hier genannten Bildern evoziert wird, in denen die Dornenkrone am Arm von Jesus auf die Passion hinweist. Darüber empfindet sie tiefe Trauer. Welche Antwort kann sie ihrem Sohn geben? Ihr Drama besteht in dem der sündenfreien Empfängnis – Sine Macula – innewohnenden Konflikt zwischen dem Verbot des sexuellen Genusses und ihrer Bestimmung, ihren Körper und ihre Seele ihrer Sendung zu widmen: Sie wird Mutter, weil sie von einem Schatten bedeckt wurde, oder wie Lukas sagt: weil sie von der »Kraft des Höchsten überschattet«69 wird. Und wofür fühlen sich die Mütter, die ›menschlich‹ empfangen haben, schuldig, wenn nicht dafür, wie ihre Mütter vor ihnen Frauen zu sein und zu begehren? Ist es nicht genau dieses Thema, mit dem sich der Forscher Freud befasst, wenn er schreibt: »Alles auf dem Gebiet dieser ersten Mutterbindung erschien mir so schwer analytisch zu erfassen, so altersgrau, schattenhaft, kaum wiederbelebbar, als ob es einer besonders unerbittlichen Verdrängung erlegen wäre.« 70 Dazu erfindet Hofmannsthal71 1919 einen Mythos, der möglicherweise dazu verhelfen soll, den freudschen Schatten und sein analytisches Verständnis des narzisstischen Abenteuers der Schwangerschaft in Bezug auf die Figur der Mutter zu erhellen. In dem Mythos, den wir hier zitieren, ist eine Frau ohne 69 | Württembergische Bibelanstalt Stuttgart (Hg.): Die Bibel, Lukas 1, 26-38, S. 76: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.« 70 | Freud: »Über die weibliche Sexualität«, S. 276. 71 | Vgl. dazu Hofmannsthal, Hugo von: Die Frau ohne Schatten [1919], Berlin: S. Fischer 2002.

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Schatten eine Frau, die keine Kinder haben kann, wie Lemoine-Luccioni erläutert 72 . Sie ist die Frau eines schönen Kaisers, der ständig auf die Jagd geht und auf der Jagd seine schönste Beute macht: die Tochter des Geisterkönigs Keikobad, die unsichtbar und unsterblich ist. Aber dieser Geisterkönig hat eine einfache Sterbliche geliebt, die ihn zum Vater gemacht hat: Sie erscheint nicht in der Geschichte und lässt eine Lücke, in der sich das Drama vollzieht. Die Kaiserin, die Tochter des Geisterkönigs, ist also ebenfalls Tochter einer menschlichen Mutter, von der sie den unerfüllbaren Wunsch nach einem Kind übernommen hat. Um ein Kind zu bekommen, muss sie den Schatten einer irdischen Frau stehlen, den Schatten ihrer unbekannten Mutter, und zwar fern von der Geisterwelt ihres Vaters, mit dem Risiko, ihn zu bekämpfen und symbolisch zu töten. Damit erkennt sie die menschliche Männlichkeit ihres Mannes. Was bedeutet dieser Schatten? Es ist der Schatten des Körpers, denn der Schatten existiert nicht losgelöst vom Körper, der zu ihm gehört und der die Strahlen einer Lichtquelle aufnimmt. Der Schatten ist untrennbar vom Körper, und wer seinen Schatten verliert, verliert zwangsläufig auch seinen Körper. Der Schatten – meiner, der meiner Mutter, der wiederum mir erlaubt, Mutter zu werden, der des Liebenden, der sich der Schönen nähert, des Eindringlings in trübe Gedanken, des Gottes über Maria, des Malers vor seiner Leinwand? – verwischt die Grenze zwischen Identität und Andersartigkeit. Wer bin ich, die ich meinen Bauch betrachte, mein Kind oder das Bild? Bin ich schon ein Teil von ihm geworden? Hat sich mein Ich in der Malerei aufgelöst, und was sieht mein Blick? Was sieht Maria, die überschattet schwanger wird und dabei unbefleckt bleibt? Dazu ist die Arbeit von Gottlob über Fra Angelico aufschlussreich: »Ein Schatten fällt auf die Verkündigung. Es ist ein unsichtbarer Schatten. Er ist da im Bild über den Blick Marias und verletzt das in die Verkündigungsgeschichte eingeschlossene Phantasma der Reinheit, welches die Grenze von ich und du, von Leben und Tod zu überwinden sucht. Fra Angelico hat in dem Fresko der Madonna der Schatten mit dem Einfall des Lichtes und dem Entwurf seines Schattens gearbeitet. Dies stützt die Überlegungen der Verschränkungen der ›Jesus am Kreuz‹- und der ›Verkündigung‹-Fresken. Der Schatten73 pflegt zu kommen von dem Licht und von einem Körper, der wider das Licht steht; die Jungfrau aber mochte als ein Mensch, die Fülle der Gottheit nicht ertra-

72 | Vgl. Lemoine-Luccioni: Partage des femmes, S. 36. 73 | Legenda Aurea, zitiert nach Gottlob, Susanne: Stimme und Blick. Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe: Hölderlin – Carpaccio – Heiner Müller – Frau Angelico. Das Mysterium des Anfangs. Eine Verkündigung von Fra Angelico, Bielefeld: transcript 2002, S. 218.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität« gen; also überschattete sie die Kraft des Höchsten, indem das unkörperliche Licht der Gottheit in ihr menschlichen Leib annahm, damit sie Gott möge ertragen.« 74

Dabei drängt sich der Satz von Freud auf: »Der Schatten des Objekts fiel auf das Ich« 75, wobei der Depressive einen Verlust am Objekt, Verlust an seinem Ich erlitten hat. Die Psychoanalyse fragt nach dem Ich, seinem Schatten und dem verborgenen Konflikt. Lässt sich damit ein depressiver Zug in Maria erkennen, der jungen Frau, die auf eine ausgeglichene Sexualität mit Joseph verzichtet und sich dem vom Engel verkündeten Befehl beugt? Doltos nachfolgender Text bezeugt ihr grundsätzlich religiöses Verständnis der Liebe, des Paares und der Zeugung. Sie wendet die theoretischen Erkenntnisse Lacans auf eine Lektüre der Bibel an und betont dabei den Respekt zwischen den Menschen. Ihrer Auffassung nach berühren die Evangelien die dynamischen Wahrheiten des Unbewussten, wobei der Schatten nur eine Metapher ist, um der Mutterschaft zu offenbaren, was es mit der ungewissen Vaterschaft auf sich hat, wobei es auf das Vertrauen ankomme, etymologisch cum fidentia, mit geteiltem Glauben: »Der Erzengel Gabriel verkündet Maria: ›Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.‹ Wo ist Josef? Aber ist nicht jeder Mann Gottes Schatten für eine Frau, die ihren Mann liebt? Die Kraft und der Schatten Gottes, die Maria überschatten, können die Fleischlichkeit eines Mannes sein, den sie als ihren Mann erkennt. Aber anscheinend erkennt sich Josef nicht als Marias Mann oder zumindest als Erzeuger von Jesus. Er will Maria zurückweisen, als er erfährt, dass sie schwanger ist. Und Maria sagt: ›Ich erkenne keinen Mann‹. Wir müssen versuchen zu erkennen, was diese Texte sagen wollen. Marie erhält die Ankündigung der Empfängnis, als sie wacht, und Josef, als er im Schlaf träumt. Das bedeutet, dass die phallischen, weiblichen Zeugungskräfte von Marias Begehren geweckt werden und bereit sind, während die passiven Kräfte des Begehrens von Josef sehr stark sind. Mit anderen Worten, Maria begehrt. Sie weiß durch die Intervention des Engels (das kann man als eine mythische Ausdrucksweise bezeichnen), dass sie schwanger werden wird. Bloß wie? Das weiß sie nicht. Aber wie jede Frau hofft sie, begehrt sie, mit einem außergewöhnlichen Wesen schwanger zu sein. Josef dagegen weiß durch die im Traum erhaltene Initiation, dass der Mann kaum eine Rolle spielt, wenn ein Sohn Gottes auf die Welt kommen soll. Wir sind weit von jeder Geschichte um Entbindung und Koitus entfernt. Es geht hier um eine Art der Beziehung zum symbolischen Phallus, d. h. zum fundamentalen Mangel jedes Wesens. Die Evangelisten beschreiben, dass in einem Paar der An74 | Ebd. 75 | Vgl. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 203.

3.  Eine Ästhetik der Depression dere seinen Partner nie befriedigt, dass es immer einen Riss gibt, einen Mangel, ein unmögliches Zusammentreffen, und nicht eine Beziehung der Besitznahme, der Phallokratie, der Abhängigkeit. In Josef gibt es keine Besitzergreifung gegenüber seiner Frau. Und genauso gibt es in Maria a priori nichts Besitzergreifendes gegenüber ihrem Kind. Sie sind verlobt, sie vertrauen auf das Leben, und auf einmal entsteht daraus das Schicksal ihrer Verbindung. Sie nehmen es an.« 76

Hört man den Patientinnen zu, die angesichts ihrer Symptome über die Auswirkungen der Schwangerschaft und der Entbindung über ihr Leben danach klagen, drängt sich der Gedanke auf, dass sie auch einem familiären Schicksal oder einem nicht ausgesprochenen unbewussten Befehl gehorchen, der einen Verzicht, eine Trauer über den Verlust des Früher, eines in gewissem Sinne ver76 | Dolto, Françoise: L’Evangile au risque de la Psychanalyse, Paris: Jean-Pierre Delarge 1977: »L’Ange Gabriel annonce à Marie ›et la puissance du Très-Haut te couvrira de son ombre.‹ Où est Joseph? Mais l’ombre de Dieu, tout homme ne l’est-il pas pour une femme qui aime son homme? La puissance et l’ombre de Dieu qui couvrent Marie peuvent être la charnalité d’un homme qu’elle reconnait comme époux. Pourtant, il semble que Joseph ne se reconnaît pas l’époux de Marie ou du moins comme le géniteur de Jésus. Il veut répudier Marie quand il apprend qu’elle est enceinte. Et Marie dit par ailleurs ›Je ne connais pas d’homme.‹ Il faut chercher à découvrir ce que veulent dire ces textes. Cette révélation de la conception de Jésus est faite à Marie dans sa veille et à Joseph dans son sommeil, dans un rêve. C’est dire que les puissances phalliques, créatrices féminines du désir de Marie sont éveillées, disposes, tandis que les puissances passives du désir de Joseph sont au maximum. Autrement dit, Marie désire. Elle sait par l’intervention de l’Ange (là c’est une manière de parler mythique) qu’elle deviendra enceinte. Mais comment? Elle n’en sait rien. Mais, comme chaque femme, elle espère, elle désire être enceinte d’un être exceptionnel. Quand à Joseph, il sait par l’initiation reçue dans son sommeil, que pour mettre au monde un fils de Dieu, il fallait que l’homme se croit y être pour très peu. Nous sommes loin de toutes les histoires de parturition et de coït. Ici est décrit un mode de relation au phallus symbolique c’est-à-dire au manque fondamental de chaque être. Ces évangiles décrivent que l’autre, dans un couple, ne comble jamais son conjoint, que toujours il y a une déchirure, un manque, une impossible rencontre, et non pas une relation de possession, de phallocratie, de dépendance. En Joseph, rien n’est possessif de sa femme. De même que rien, en Marie, n’est a priori possessif de son enfant. Fiancés, ils font confiance à la vie, et voilà que le destin de leur couple en surgit. Ils l’acceptent.« Eigene Übersetzung.

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lorenen Paradieses in sich trägt. Die Rolle des Vaters oder des Vaters ihres Kindes bleibt oft unbeachtet. Die depressive Dimension der Mutterschaft ist also bestimmend für die Position der Frau, wenn diese sich mit dem imaginären Verlust infolge der Kastration und deren Erkenntnis nach der Entbindung abfindet. Ebenso macht die Erkenntnis des Verlusts einer erfüllenden und vollen körperlichen Ganzheit, des Säuglings, die Frau depressiv. Die Depression wohnt dem Körper der Frau inne und überschattet die Mutterschaft, wenn der befruchtende Schatten die Dimension des Mangels einnimmt. Der Konflikt äußert sich als misslungener narzisstischer Kompromiss, als Modus einer der vier narzisstischen Liebesarten nach Freud: Man liebt, was man selbst ist, was man selbst war, was man selbst sein möchte, die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war. Mithilfe der definierten Begriffe erschließt sich, dass die PPD einen Konflikt zwischen der psychischen Struktur des phallischen Begehrens und dem narzisstischen Begehren darstellt. Die Frauen, die nach einer Entbindung Probleme haben, empfinden eine Verdoppelung der primären Kastrationsangst, eine Reaktivierung oder Wiederholung eines wesentlichen, weil strukturellen Mangels, der aber als Bedrohung des Gleichgewichts der Person empfunden wird. Das Tochtersein oder Frauwerden überlagert und wiederholt sich in einer unbewussten Dynamik mit der bevorstehenden Mutterschaft. So wie sich der Schatten zu Beginn der Schwangerschaft über die Urszene legt und wie ein Schleier oder ein Tuch das Geschlecht verdeckt, um die Befruchtung zu ermöglichen, so öffnet sich bei der Geburt das Geschlecht wie ein ›schwarzer Kontinent‹, der den, der ihn betrachtet, vor Entsetzen zu Stein erstarren lässt wie beim Anblick der grauenhaften Medusa. Allein die Hebamme, die Doula, der Hexe gleichgestellt, kann helfen in einer mütterlichen Übertragung, die sie schützt, diesem Ungeheuer zu begegnen, und damit der jungen Mutter zu ermöglichen, sich einem neuen Tag zu öffnen und ihren Mangel und den sexuellen Unterschied, in dem das Begehren verwurzelt ist, anzunehmen. Freud schreibt: »So hat man denn den Schlüssel des Krankheitsbildes in der Hand, indem man die Selbstvorwürfe als Vorwürfe gegen ein Liebesobjekt erkennt, die von diesem weg auf das eigene Ich gewälzt sind.« 77 Der Schatten stellt einen Vorhang dar, der auf das Subjekt fällt, ihm immer folgend, ihm vorauseilend oder ihn umgebend, nur nicht bei Peter Pan, dessen Schatten ihm nicht gehorcht und versucht zu entkommen. Ausgehend vom Blick und seiner Funktion der Verbundenheit zwischen Mutter und Kind erscheint uns der Schatten als das vom Mythos oder von der Religion benutzte Mittel, den Körper der Frau zu finden, zu befruchten und zur Mutter werden zu lassen. Das gilt auch für Maria, die mit gesenktem Kopf und abgewende77 | Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 202.

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tem Blick melancholisch ihr Menschsein auf der Erde annimmt und das göttliche Wunder akzeptiert. Im Schatten manifestiert sich der Mangel. Er ist das Negativ des Körpers. Ausgehend von diesem Verständnis des Mutterwerdens und des vermeintlichen Mutterglücks wird die psychische Entwicklung jeder Frau strukturell dadurch geprägt, was mit Beginn der Geschlechtwerdung des neugeborenen Mädchens problematisch wird. Für jede Mutter konkretisiert sich bei der Geburt einer Tochter auf unbewusste Weise eine enttäuschte Erwartung, die die Enttäuschung, selbst kein Junge zu sein, wiederaufleben lässt. Und es erscheint mir von großer Bedeutung, dass trotz der sündenfreien Geburt ihres Sohnes Marias Leben von Anfang an unter dem Zeichen der Trauer steht. D. h., es ist unmöglich, das vermeintlich erwartete Glück zu erfahren. Im Mittelalter sind Kindheit und Gebären sehr eng mit dem Marienkult verbunden. Maria war durch ihre mütterliche Liebe, Aufmerksamkeit und Hingabe ein Beispiel für die Menschen, besonderes für Frauen, die sehr oft ihre kleinen Kinder begraben mussten. Die geistliche Musik der Zeit greift vornehmlich in den Themen, die sich auf die Heilige Jungfrau und die Mutterschaft beziehen, diese Zeit der Trauer auf. Die Maria geweihten Motetten für die Feiern der Geburt Christi und der Unbefleckten Empfängnis, die Feiern der Marienkrönung, der Verkündigung und Himmelfahrt bzw. die Marienvespern sind wesentlich zahlreicher als die Christusmessen. Für die katholische Kirche der Zeit vertritt Maria das Konzept der Mutter, der ›Erzeugerin‹, denn sie ist das Symbol für die Spende des Lebens und der Nahrung. Dieses spirituelle Mitgefühl bezieht sich auf die Mutterfigur der Jungfrau Maria, die zur Schmerzensmutter, zur Mater Dolorosa wird. Dieser Ausdruck erscheint im ersten Vers des »Stabat Mater« aus dem 14. Jahrhundert, das dem italienischen Franziskanermönch Jacopone da Todi zugeschrieben ist: »Stabat Mater dolorosa Iuxta crucem lacrimosa Dum pendebat Filius.« 78

Frauen und Männer erkennen sich in ihr wieder; die Mater Omnium, die Jungfrau des Mitleidens, der Barmherzigkeit, die Jungfrau mit dem Schutzmantel der Menschlichkeit, die Jungfrau, die überwältigt von ihren Leiden ist im Sta-

78 | Bone, Heinrich: Cantate! Katholisches Gesangbuch nebst Gebeten und Andachten für alle Zeiten und Feste des Kirchenjahres, Mainz: Kirchheim, Schott und Thielmann 1847: »Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing.«

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bat Mater dolorosa von Josquin des Près (1480). Stabat Mater: Sie steht. Sie begleitet den Lebendigen durch den Tod, sie sublimiert den Verlust. Abbildungen 30 und 31  Tizian: »Mater Dolorosa mit gefalteten Händen« (um 1550, links) und »Mater Dolorosa mit geöffneten Händen« (1553-1554)

»Blau glüht das Licht in den Tabernakeln«, notiert Sieburg 79 und zeigt damit, dass bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Tränen fließen. Der Poet Eustache Deschamps dichtet: »Zeit des Schmerzes und der Versuchung, Zeit der Tränen, der Missgunst und der Qual, Zeit der Langweile und der Verdammnis, Zeit voller Schrecken, die alles falsch macht, Zeit der Lügen, des Stolzes und der Gelüste, Zeit ohne Ehre und ohne echtes Urteil, Zeit der Trauer, die das Leben verkürzt.« 80

El Greco malt im Jahr 1590 eine modernere Mater Dolorosa und versucht, einen neuen Ausdruck für spirituelle Darstellungen zu finden, wobei er die katholische Bilderwelt um neue Themen und um eine Neuinterpretation bekannter Ikonographien bereichert. Die Reformation kündigt sich an. Das Zeitalter der Gotik geht zu Ende.

79 | Sieburg, Friedrich: Gott in Frankreich? Frankfurt a. M.: Frankfurter Societäts-Druckerei 1929. 80 | Deschamps, Eustache: Œuvres complètes [1400-1500], Paris: Bibliothèque Nationale de France – Firmin Didot 1889.

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Abbildung 32  El Greco: »Mater Dolorosa« (1590)

Die Farbe Blau gewinnt erneut Bedeutung in der Romantik mit einem stark psychologischen Akzent, der sich letztlich bis heute erhalten hat. Goethes Farbenlehre basierte vor allem auf den Farbkontrasten. Ausgehend von der herrschenden Polarität zwischen Licht und Dunkelheit definierte er Blau und Gelb als diejenigen Hauptfarben, die den in der Natur vorkommenden Polen am nächsten seien. In seinem Traktat zur Farbenlehre, erschienen 1810 in Tübingen, befasst er sich im Kapitel über die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe mit dem subjektiven und kulturellen Wesen der Wahrnehmung: »Blau: So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, dass Blau immer etwas Dunkles mit sich führe. […] Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick. […] Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. […] Das Blaue gibt uns ein Gefühl von Kälte, so wie es uns auch an Schatten erinnert.« 81 81 | Goethe, Johann Wolfgang von: »Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil«, in: ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 16: Naturwissenschaftliche Schriften, Teil 1, Zürich: Artemis 1949, S. 7-244, hier S. 210, auch online unter: http:// www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Naturwissenschaftliche+Schrif

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In der Romantik kommt ein Kult um die blaue Farbe auf, von Werther und seinem blauen Rock bis zur blauen Blume von Novalis82 . Das romantische und melancholische Blau scheint im Deutschen noch in der Redewendung ›blau sein‹ (die Färber) durch, ähnlich wie im Englischen der Ausdruck blue hour die Zeit nach Büroschluss bezeichnet, wenn die Arbeiter nicht direkt nach Hause gehen, sondern noch eine Stunde in einer Bar ein Gläschen trinken, um ihre Sorgen zu vergessen; in der Dämmerung, in der alle Katzen grau sind, entre chien et loup, wenn sich grau auf blau reimt, wenn die Schatten der Dinge länger werden. Blau, verziert mit allen poetischen Tugenden, wird wieder die Farbe der Liebe, der Mutterschaft, der Depression und des Traums.

3.5 F rida K ahlo »Was ich besonders deutlich und klar herausstellen wollte, ist, dass die pure Angst die Menschen dazu treibt, sich Helden und Götter zu erfinden oder vorzustellen. Angst vor dem Leben und vor dem Tod.« F rida K ahlo 83

Das Leben und Werk der Malerin aus Mexiko84 erscheint bestimmt durch ihren schweren Unfall. Dieser Unfall ist insofern das akzidentell Erlebte im freudschen85 Sinne, als es ein konstitutionelles Moment, das dahinter steht, zur Geltung bringt. Frida Kahlo hat in vielen Bildern die körperlichen Unfallfolten/Zur+Farbenlehre/Zur+Farbenlehre.+Didaktischer+Teil/6.+Abteilung.+Sinnlichsittliche+Wirkung+der+Farbe/Blau, Zugriff am 01.11.2017. 82 | Novalis, Friedrich: Heinrich von Ofterdingen [1802], Stuttgart: Reclam 2013, S. 9: »Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, von den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling las unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. ›Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben‹ […] aber die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken.« 83 | O. A.: »Katalog«, mit Textbeiträgen von Helga Prignitz-Poda, Florian Steininger und Heike Eipeldauer, in: Martin-Gropius-Bau /  B ank-Austria-Kunstforum (Hg.): Frida Kahlo. Retrospektive, Ausstellungskatalog, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 30.04.-09.08.2010, Bank-Austria-Kunstforum, Wien, 01.09.-05.12.2010, München: Prestel 2010, S. 74177, hier S. 156. 84 | Kahlo, Frida, 1907-1954. 85 | Vgl. Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« [1905], in: ders.: Studienausgabe. Band 5, 1997, S. 37-145, hier S. 142: »Das konstitutionelle Moment muss

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gen dargestellt. Diese Darstellungen erweisen sich als ein Spiel der Malerin mit Repräsentationen, die nah am Realen des Körpers sind, ohne diese an sich heranzulassen. Die dadurch verschleierten geheimen Verletzungen sind das Thema dieses Kapitels. Das akzidentelle Los des Menschen, ausgedrückt durch das Werk von Kahlo, erscheint wie eine endlose Reflexion zwischen Spiegel und Leinwand, wo das, was Frida uns zu sehen gibt, zugleich die Geheimnisse ihres Leidens verbirgt. Eine Schlüsselstellung nimmt ihr Bild von 1932 »Meine Geburt« ein. Abbildung 33  Frida Kahlo: »Meine Geburt« (1932)

In der Illustration ihrer eigenen Geburt verknüpfte Kahlo den Augenblick, in dem sie selbst das Licht der Welt erblickte, mit dem Tod der depressiven Mutter (im Sinne Greens), gezeigt durch das Leintuch über ihrem Gesicht: Diese Darstellung versteckt oder versucht einen Nichtblick zu verschleiern. Das Tuch über den Augen der Mutter bei Kahlo bedeutet deshalb zugleich Schutz. Der Kopf des Neugeborenen, von dem sich kaum erkennen lässt, ob es nun lebt oder nicht, ragt aus dem Körper der tot erscheinenden Frau. Der Raum ist leer, oberhalb des Kopfes von Matilde, ihrer Mutter, hängt ein Bild der schmerzensund tränenreichen Mutter Gottes, von Dolchen durchstoßen, Blut läuft aus ihren Wunden, sie scheint die Szene zu beobachten.

auf Erlebnisse warten, die es zur Geltung bringen, das akzidentelle bedarf einer Anlehnung an die Konstitution, um zur Wirkung zu kommen.«

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Salomon Grimberg geht noch einen Schritt weiter und sieht in der Gebärenden auf diesem Bild Frida Kahlo selbst, der es nicht gelang, Mutter zu werden. Auf dieser Ebene ist Frida die abtreibende und gebärunfähige Frau und zugleich der Säugling: »Kahlo malte sich als abtreibende und gebärunfähige Frau und als Säugling; in ihrem Werk setzte sie sich mit ihrem versehrten Körper, ihrer sadomasochistischen Beziehung zu Diego Rivera und der schrecklichen Einsamkeit auseinander, die jeden Aspekt ihres Lebens erfüllte.«86 Frida ist als Kind einer schwer depressiven Mutter geboren. Sie ist kurz nach dem Tod des einzigen Sohnes ihrer Eltern gezeugt worden und so mit einer ungetrösteten Traurigkeit und einer Enttäuschung konfrontiert. Sie sah sich unvollständig in den Augen ihrer Mutter, ungenügend, denn sie war nicht der Junge, den man erwartete, und noch weniger der kleine tote Bruder. Frau Calderon-Kahlo hatte, wie oben bereits erwähnt, bei Fridas Geburt eine PPD erlitten. Ihre trauende Mutter wird nicht in der Lage gewesen sein, ihrer Tochter ein positives Bild der Weiblichkeit zu vermitteln. Prignitz-Poda beschreibt die Szene wie folgt: »In Bildern vom Marientod, in denen die Seele Marias wie ein kleines Kind in den Himmel aufsteigt, sind rechts und links davon Sonne und Mond zu sehen. Kahlo ersetzt [in einem anderen Bild, ›Henry Ford Hospital‹, 1932; CM] diese klassischen Motive formal mit dem Torso einer medizinischen Puppe anstelle der Sonne und einer Schnecke anstelle des Mondes. Die Schnecke deutet auch inhaltlich auf die Mondphasen, also das weibliche Prinzip.« 87

Aufgrund neuer Publikationen medizinischer Berichte weiß man heute, dass sie mit einer körperlichen Behinderung geboren wurde. Die frühe Unbeweglichkeit Kahlos geht auf eine Spina-bifida-occulta-Erkrankung zurück, und nicht, wie man bis dato annahm, auf eine Poliomyelitis, Kinderlähmung, an der sie mit sechs Jahren erkrankte: wieder einmal Unfall und körperliche Schmerzen, die sich aber auf eine Struktur eines versehrten Körperschemas aufsatteln. Sie wird ihr ganzes Leben leiden und vermittelt doch ihrem Arzt und auch ihren Freundinnen den Eindruck, als suche sie das Leiden. Meine Hypothese ist, dass der Mangel an Strukturierung ihres Körperbildes der Tatsache geschuldet ist, dass die vormundschaftliche Instanz, Kahlos schwer depressive Mutter, nicht mit ihr kommunizieren konnte. Als elf Monate später ihre Schwester Christina geboren wurde, hat die Mutter Frida zur Betreuung ihres Körpers ohne Worte einer Amme übergeben. Die86 | Grimberg, Salomon: »Fridas Freunde sind auch meine Freunde. Oder: Wer sammelt Kunst von Frida Kahlo«, in: Martin-Gropius-Bau /  B ank-Austria-Kunstforum (Hg.): Frida Kahlo, 2010, S. 28-35, hier S. 29. 87 | Helga Prignitz-Poda zitiert nach o. A.: »Katalog«, S. 102.

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ses Weggeben, diese ›Abtreibung‹ ist dargestellt in ihrem Bild »Meine Amme und ich« (1937), einer Amme, die menschliche Wärme und die Welt der Symbole nicht vermitteln kann. Kahlo drückt so die Situation eines trotzigen Kindes aus, das niemand haben möchte. Sie ist damit auf die Identifizierung mit dem indianischen Erbe angewiesen, was sich in diesem Gemälde zeigt.

Abbildung 34  Frida Kahlo: »Meine Amme und ich« (1937)

Es wirkt geradezu wie ein mystisches Doppelporträt. Steininger beschreibt dieses Bild: »Das maskierte Gesicht der Amme intensiviert die Starre und abweisende Expression der massiv wirkenden Frau, die Frida in ihren Armen hält. Sie strahlt keine liebevolle, fürsorgliche Innigkeit aus, wie wir sie ab dem Hochmittelalter bei Madonnenbildnissen mit dem Jesuskind kennen, sondern erinnert mehr an Opferrituale aus dem aztekischen Kulturkreis.« 88

Grimberg beschreibt im Zusammenhang mit dieser Darstellung, wie Kahlo abgeschnitten von der liebenden, von der nährenden Mutter ist: »Frida interessiert sich nicht für die linke Brust der Amme, die in Transparenz die gefüllten 88 | Florian Steininger zu »Meine Amme und Ich«, zitiert nach o. A.: »Katalog«, S. 116.

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Milchkanäle zeigt. Ihre Lippen berühren die Brustwarzen, aus denen Milchtropfen in ihren Mund rinnen, nicht.« »Und aus dem Himmel tropft die Milch der Jungfrau«, erklärte die Malerin in einem Brief.89 Durch ihren verwehrten Kinderwunsch identifiziert sich Kahlo mit ihrer stummen Amme, die nicht mit Hingabe Milch geben kann, obwohl diese fließt. In ihrer Arbeit betont Kroiss: »Sie thematisiert die Mutter-Kind-Bindung, wo deutlich wird, dass sie wohl eine engere Bindung zu einer Amme gehabt haben muss als zu ihrer eigenen Mutter; und auch die Bindung zu dieser Amme scheint nicht besonders zärtlich gewesen zu sein, wenn man der Darstellung auf dem Bild Glauben schenken darf. ›Meine Amme und ich‹ hat noch einen weiteren interessanten Aspekt: Da Frida Kahlo sich zwar in Gestalt eines Kleinkindes abbildet, jedoch das Gesicht einer Erwachsenen hat, werden Kindheit und Erinnerungen der erwachsenen Frida Kahlo hier eins.« 90

Kahlos Werk erlaubt viele Interpretationen in Bezug auf die Position der Weiblichkeit, mit der Rolle als Tochter und Frau und ihrer sexuellen Identifizierung, bisexuelle Position des Mutterwerdens zwischen Begehren und Schmerzen, Körper und Denken. Ihre Bilder verdecken und geben zugleich Sinn. Kahlo fordert den Zuschauer, ihre Bilder zu entziffern, um sie zu verstehen. Zwingenberger kommentiert: »Das Konzept der Verankerung des visuellen Denkens im Körper ist eine Evidenz.«91 Das nächste Bild, das mir wichtig erscheint, um ihren Bezug zum Körper zu verstehen, ist »Die zerbrochene Säule«. Das Bild ist von 1944, als sie bereits zahlreiche Operationen an der Wirbelsäule hinter sich hatte und oft das Bett hüten musste. Ein Stahlkorsett stützt ihre Wirbel-Säule, die als Säule hinter dem Stützkorsett sichtbar wird und offenliegt. Ihr Körper ist mit Nägeln übersät, Frida Dolorosa als weiblicher Ecce Homo dargestellt.

89 | Brief von Kahlo an Emmy Lou Packard vom 15.12.1941, zitiert nach Grimberg, Salomon / K ahlo, Frida: Confidences, Singapur: Chêne 2008, S. 30. 90 | Kroiß, Karoline: Das ICH in meinen Bildern. Künstlersubjekt als zentrale Thematik. Arbeitsbericht zur künstlerischen Abschlussarbeit zur Ersten (künstlerisch-wissenschaftlichen) Staatsprüfung für das Amt des Studienrats mit dem Großfach Bildende Kunst, 30.05.2002, http://www.karolinekroiss.de/geschriebenes/kuenstlerische.pdf, Zugriff am 01.11.2017. 91 | Zwingenberger, Jeannette: »Frida Kahlos Körperräume«, in: Martin-Gropius-Bau / Bank-Austria-Kunstforum (Hg.): Frida Kahlo, 2010, S. 66-73, hier S. 73.

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Abbildung 35  Frida Kahlo: »Die zerbrochene Säule« (1944)

Prignitz-Poda92 deutet die Säule, Wirbel-Säule, als symbolischen Bezug auf Frida Kahlos Kindheit vor dem Unfall. Dabei beschreibt sie die ionische Säulenordnung in der Kulturgeschichte als kindlich, was Kahlo in ihrem Bild repräsentiert. Trotz dieser Schmerzen schreit Frida nicht, sie ist stumm, nur der Blick schreit und die Augen tränen. Die Reaktion des Schmerzes kommt von der Tatsache, dass die motorische Reaktion, die Reaktion der Flucht unmöglich ist. Die Anregung kommt von innen, erinnert uns Lacan.93 Steininger stellt fest: »Reale Außen- sowie surreale Innenschau sind miteinander vereint.«94 Das lebendige Rückenmark ist durch eine bröckelnde Ruine ersetzt, ein symbolischer Bezug auf die Beschädigung ihres Körpers von Geburt an. Lacan zitiert den Mythos von Daphne, die sich unter dem Druck unerträglicher Schmerzen in einen Lorbeerbaum verwandelt. Wir können sagen, dass Kahlo sich aufgrund ihrer Schmerzen in eine Schmerzstarre verwandelt, von der das Rückgrat die Metapher ist. Ich zitiere Lacan: »Ist nicht in dem, was wir 92 | Florian Steininger zitiert Prignitz-Poda, die sich zum Gemälde »Die zerbrochene Säule« geäußert hat, vgl. o. A.: »Katalog«, S. 146: »während die massive dorische für das starke, kräftig maskuline und die floral korinthische für das feine Feminine stehen«. 93 | Vgl. Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 7, S. 76. 94 | Florian Steininger zitiert nach o. A.: »Katalog«, S. 146.

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selbst aus der Herrschaft des Steins machen, indem wir ihn nicht mehr rollen lassen und ihn aufrichten, indem wir aus ihm etwas Angehaltenes machen, ist nicht in der Architektur selbst so etwas wie die Vergegenwärtigung des Schmerzes?«95 Fernand Pouillon96 hat uns dies in seinem Werk über die Abteien Le Thoronet und Senanques in der Provence gezeigt. Die 60 Selbstporträts der Malerin, alle mit Verletzungen an ihrem Körper, sind für sie eine Form des lautlosen Klagens. Indem sie den Schmerz nach außen auf die Leinwand projiziert, scheidet sie ihn symbolisch aus ihrem lebenden Körper aus. »Die Selbstbildnisse sind ja dauerhaft gemachte Spiegelbilder, und weder der Spiegel noch die Leinwand können Schmerz empfinden«97, betont Hayden Herrera, ihre Biographin. Die Rekonstruktion im Spiegel des Körperschemas löscht den Schmerz, nicht aber die Verzweiflung über das Handicap. »Der Spiegel wird immer durch das, was sich nicht darin befindet, beherrscht«, schreibt Melchior-Bonnet.98 Es reicht nicht aus, einen wirklichen ebenen Spiegel zu haben. Es nützt nichts, wenn das Subjekt sein Spiegelbild nicht vom Anderen empfangen kann. Das Abbild bringt nur die Härte und die Kälte des Spiegelbildes herüber oder die Oberfläche des tiefen Wassers, in dem man, wie Narziss, außer einem Bild niemandem begegnet. Das Bild vom Anderen dient dem Aufschreiben jeder Geschichte innerhalb einer Dynamik, welche die Biographie eines Kindes schreibt, zwischen Erwartung und Enttäuschung. Die Verflechtung von Körper und Geschichte bildet die Identität und gibt einen Sinn. Anders gesagt, die Sinnhaftigkeit findet mit der Aneignung einer Geschichte statt. Es ist eine Suche nach dem Ursprung mit Fragen, die in der Fallgeschichte Tarzan gestellt hat (vgl. Kapitel A.3.8) und die Frida mit der Änderung ihres Vornamens zu beantworten versucht hat. Während des Zweiten Weltkrieges hat sie ihre Namen abgeändert und die deutsche Schreibweise Frieda statt Frida gewählt. Sie hat damit ihre deutsche Herkunft als jüdische ausgegeben. Ihr Vater, ein deutscher Einwanderer, war aber nicht Jude – eine erfundene Abstammung, in der eine Leidensgeschichte im Dienste der Identitätsfindung aufgehoben ist. In ihren Songs of herself, die sie selbst als »Vertraulichkeiten« (Confidences) bezeichnet, teilt sie ihre umgeschriebene Biographie mit. Am 9. September 1950 lautet der Eintrag in den Confidences:

95 | Lacan: Das Werk. Das Seminar, Buch 7, S. 76. 96 | Vgl. Pouillon, Fernand: Les Pierres Sauvages, Paris: Seuil 1964. 97 | Herrera, Hayden: Frida Kahlo. Ein leidenschaftliches Leben, Frankfurt a. M.: Fischer 2008, S. 311. 98 | Vgl. Melchior-Bonnet: Histoire du miroir: »Le miroir est toujours dominé par ce qui ne s’y trouve pas«; eigene Übersetzung.

3.  Eine Ästhetik der Depression »Ich wurde am 7. Juli 1910 geboren. Bin bis zur letzten Klasse in die Schule gegangen, ich habe keine Religion, und ich gehöre der mexikanischen Rasse an, besser noch, ich bin eine Mischung. […] Mein Vater hieß Guillermo Kahlo. Er war deutscher Einwanderer, 1870 in Baden-Baden geboren. Er litt unter Epilepsie, und starb 1941 an einem Herzinfarkt. Vater war Atheist (und hatte jüdische Wurzel), Mutter katholisch. Vater war germanophil, Mutter eher Partisanin des Porfirismus. Zu Hause las mein Vater nur Bücher über Naturwissenschaften, Geographie, Geschichte … Ich stimme völlig mit dem, was mein Vater mich gelehrt hat, überein; ich lehne hingegen völlig ab, was meine Mutter mir beigebracht hat.« 99

Und weiter über ihre Eltern: »Meine Eltern: Ich liebte meinen Vater, weil er gut mit mir war, weil er mir half; meine Mutter liebte ich, weil ich sie sehr leiden sah.«100 Leiden, Schmerzen, das Leben von Kahlo oszilliert zwischen den Blutstropfen, die aus den Wunden der Schmerzensmadonna entweichen, und den Milchtropfen, die sie verachtet; zwischen Blut bei der Geburt und Muttermilch, Blut der erlittenen Verletzungen und versiegter Milch der abgetriebenen Schwangerschaften; zwischen ›mich‹ und ›Milch‹. Die zahlreichen Selbstporträts, die sie mithilfe einer besonderen Spiegelapparatur herstellen konnte, wenn sie lag, erlaubten ihr, ihr Bild im Spiegel zu studieren, um sich darzustellen. Einerseits verpflichtet sie den Zuschauer, sie so wahrzunehmen, wie sie es möchte; andererseits interpretiert sie die Reflexion, die sie im Bild entdeckt, dessen sie sich bedient: ein Leben im eigenen Spiegel und im Spiegel der Anderen. Der Schmerz garantiert Kahlo die psychische Integrität auf Kosten der physischen Gesundheit. Dieses maskiert das archaische psychische Leiden. »Man muss damit leben; ich fange an, mich an das Leiden zu gewöhnen«, notiert sie.101 »Kahlo stellt in ihren Bildern unerschrocken und unverbrämt das Innerste ihres körperlichen und psychischen Leids zur Schau«, bestätigt Grimberg.102 Das Symptom, der Schmerz, wird damit eine Struktur, ein Knoten, indem sich das Reale artikuliert, das Enigma bleibt jedoch intakt. Die Ursache des Symptoms gehört nicht der Vergangenheit an, sondern bleibt Gegenwart, ist aktualisierte Erinnerung, um sie in die Zukunft zu projizieren. Frida Kahlo erläutert: »Ein Vergessen der Wörter wird die richtige Sprache bilden, um die Blicke unserer geschlossenen Augen zu verstehen.«103 99 | Kahlo /  G rimberg: Confidences, S. 57 ff. 100 | Ebd., S. 85. 101 | Vgl. Herrera: Frida Kahlo, S. 50. 102 | Grimberg: »Fridas Freunde sind auch meine Freunde«, S. 28. 103 | Kroll, Renate: Blicke die ich sage. Frida Kahlo, das Mal- und Tagebuch, Berlin: Reimer 2007.

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Diese Ungleichheit zwischen dem Chaos des Realen und der angenommenen, produzierten Ordnung des Imaginären (ihre Bilder) oder der vorausgehenden Ordnung des Symbolischen ist der Kern der menschlichen Problematik, des menschlichen Daseins. Es ist diese Ungleichheit, die das Phantasma als Unaufhebbarkeit definiert, nämlich das Bedürfnis, durch den Spiegel zu gehen und das Bild zu durchschreiten. Wenn man in seinem Leben nur ein einziges Mal dem Tod nahegekommen ist, ist man schon ein Überlebender, ein Hinterlassener. Frida Kahlo weiß das. Aufgrund ihrer Position in der Familie zwischen dem gestorbenen Bruder, den sie nicht ersetzen kann, und der nachgeborenen Schwester, durch die sie vertrieben wurde, müssen wir vermuten, dass sie, zusätzlich zu den verdeckt gebliebenen Leiden, als die enttäuschende Tochter ihrer Mutter geboren wurde. Augenbinde und Waage entsprechen in der Ikonographie der Darstellung von Justitia, aber auch von Aequitas. Justitia wird so repräsentiert, damit sie besser die Argumente hören und die Balance finden kann. Und Aequitas verweist auf die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann. Die Frage, die peu à peu auftaucht, könnte sowohl die der Gerechtigkeit zwischen Junge und Mädchen sein als auch die Frage nach der Mutterliebe, die ungleich zwischen Sohn und Tochter empfunden wird. Diese Ungerechtigkeit wird gerade dann verspürt, wenn eine enttäuschende neugeborene Tochter ihr totes Geschwister ersetzen soll, wie es Dolto schon erwähnte. Die Ungleichheit zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ findet bei Kahlo in der dargestellten Verzweiflung ihren greif baren Ausdruck. Was dies für ein Kind bedeutet kann – nicht nur bei Malern –, hat die Schriftstellerin de Cespedes dargestellt. Eine Passage aus ihrem Buch illustriert dieses: »Ich konnte mich als Einzelkind empfinden; aber ich wusste, dass es vor meiner Geburt eine Zeit gab, in der ein Bruder geboren wurde, der sich zu einem Wunderkind entwickelte und mit drei Jahren starb, ertrank. […] Er hieß Alexander. Als ich einige Monate nach seinem Tod auf die Welt kam, gab man mir den Namen Alexandra, um die Erinnerung an ihn wachzuhalten, und auch in der Hoffnung, dass ich einige der Tugenden zeigen würde, die die Erinnerung an ihn unvergänglich machten. Das Band, das mich an diesen kleinen Bruder kettete, wog schwer in den ersten Jahren meiner Kindheit. Ich konnte mich nicht davon befreien. Diese Vernichtung meiner Persönlichkeit machte mich wild und schweigsam.«104 104 | De Céspedes, Alba: Elles, Paris: Seuil 1956, S. 7: »Je pouvais me considérer comme une fille unique; pourtant, avant ma naissance, je savais qu’un frère avait eu le temps de venir au monde, de se révéler comme un enfant prodige et de mourir à trois ans, noyé. […] Il s’appelait Alexandre. Quand je naquis, quelques mois après sa mort, on me donna le nom d’Alexandra pour entretenir son souvenir et aussi dans l’espoir de voir se manifester en moi quelques-uns des mérites en raison desquels sa mémoire était impé-

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Dann verübt die Mutter Selbstmord, indem sie von einer Brücke springt: »Meine Mutter hat sich genau an der Stelle, an der Alexander ertrunken war, in den Tiber gestürzt.«105 Der Tod oder Suizid einer Mutter ist für die Kinder ein irreparabler Verlust mit dramatischen Folgen, wenn darüber nicht gesprochen werden kann. Die Kinder dieser Frauen erzählen alle, wie sie sich plötzlich einsam fühlen. Die Einsamkeit erscheint von ihrem Wesen her als eine Verletzung. Sie betrifft das Sein. Das malerische oder literarische Kunstwerk, das für die Künstler daraus resultiert, wird ein solches nach Blanchot nur, »wenn damit das Wort ›Sein‹ mit der Gewalt eines Beginns, der ihm innewohnt, ausgedrückt wird.«106 Für jedes Wesen, dem wir zuhören, drängt ›die Gewalt eines Beginns‹ nicht nur bei der Geburt, sondern schon vor der Konzeption zutage. Das Leben hatte für die kleine Frida diesen hohen Preis. »Die blauen Stunden der Niedergekommenen«107, so Kristevas Formulierung, erzählen und zeugen von diesem Verlust, von jeglichem Verlust, der für immer in die Psyche und in die Erinnerung eingraviert ist, der wie ein Gewaltakt agiert und sich von Generation zu Generation fortschreibt.

3.6 D er B abyblues »Je vois ta mère, enfant de ce siècle appauvri, Qui vers son miroir penche un lourd amas d’années, Et plâtre artistement le sein qui t’a nourri!« C harles B audelaire 108

Die Nacht mit der blauen Schönheit des Mondes bildet den Hintergrund für ein Anderswo, ein Jenseits – être dans la lune – in der Nähe zum Wahnsinn, gleichzeitig fruchtbar, nährend, kalt und steril; aber immer in Erwartung der Mutterrissable. Le lien m’unissant à ce petit frère pesa beaucoup sur les premières années de mon enfance. Je ne parvenais pas à m’en dégager.« Eigene Übersetzung. 105 | Ebd., S. 148. 106 | Blanchot: L’espace littéraire, S. 10: »l’œuvre n’est œuvre que lorsque se prononce par elle, dans la violence d’un commencement qui lui est propre, le mot être.« Eigene Übersetzung. 107 | Vgl. Kristeva: Soleil noir, S. 101: »les heures bleues des accouchées«; eigene Übersetzung. 108 | Baudelaire, Charles: Poèmes ajoutés aux Fleurs du mal, 1857, S. 242: »Ich sehe Deine Mutter, Kind des verarmten Jahrhunderts / die einen Haufen schwere Jahre zu ihrem Spiegel neigt, / und künstlerisch ihre Brust die dich ernährt hat eingipst.« Eigene Übersetzung.

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liebe – »Je vois ta mère« – oder als Aufschrei in der Beziehung – »please adore me«109 –, anstelle eines verlorenen Objekts. Die Dichter wissen das, denn sie haben immer schon mit Worten Texte gewoben, die in den Netzen der Erinnerung festhängen. Das »tiefe Blau« der Gefühle beschreibt Gasdanow wie folgend: »Das tiefe Blau, wie ich es vor meinen ausgeschlossenen Augen sah, war mir stets als Ausdruck eines entschlüsselten Geheimnisses erschienen und diese Entschlüsseln war düster und unvermittelt gewesen und gleichsam erstarrt, bevor alles restlos preisgegeben war; wie wenn jemandes geistiges Bemühen plötzlich gestockt hätte und erstorben wäre; und stattdessen wäre der tiefblaue Hintergrund aufgetaucht. Jetzt hatte er sich in einen helleren verwandelt; als ob das Bemühen noch nicht geendet und das tiefe Blau, heller geworden, eine überraschende, gedämpft melancholische Nuance in sich entdeckt hätte, die auf seltsame Weise meinem Gefühl entsprach.«110

Das Gefühl, dass die Musik der Seele entspricht, ist blue wie der Babyblues. Ich verstehe ›Babyblues‹ als innere Musik, die sich mit Babys befasst, traurige Musik, ich bin traurig, I feel blue. Von dem englischen Ausdruck blue devils kommend, beschreiben die ›blauen Teufel‹ die schwarzen Ideen. Im Altfranzösischen ist eine bluette eine persönliche, intime Geschichte, die man vor dem Kamin schreibt. »Oh, wie ist es süß, wenn der Regen mit sanftem Geräusch vom Himmel fällt, am Feuer zu sitzen, die Feuerzange zu halten, Geschichten zu erzählen! So habe ich mir vorhin die Zeit vertrieben; ich liebe es: Die Geschichten sind so hübsch! Sie sind die Blumen des Kamins: Ein kleiner Funke, ein blaues Feuerfünkchen, ein Diamant, der Geschichten sprüht.«111

Ein Einfall (bluette) ist in übertragener Bedeutung und im Bereich des Geistes und der Gefühle ein feuriger, lebhafter und unbeschwerter Gedanke, der aber kurzlebig und oberflächlich ist – eine Caprice, die nicht immer gut endet. Depression, Wehmut, Blues. »The blues ain’t nothing but a good man feeling bad«, sagt uns das Lied von Kenny Neal, übertragen: Bluestexte sind in der IchForm verfasst: ich erzähle von realen Erlebnissen, ich spreche von Themen wie 109 | Hart, Lorenz /  R odgers, Richard: »Blue Moon«, o. Album, 1934. 110 | Gasdanow, Gaito: Ein Abend bei Claire, München: Hanser Verlag 2014, S. 16. 111 | Guérin, Eugénie de: »Journal« [1834], in: Les positivismes: Revue Romantisme 2122, 1978, S. 255 f.: »Oh! Qu’il est doux, lorsque la pluie à petit bruit tombe des cieux, d’être au coin de son feu, à tenir des pincettes, à faire des bluettes! C’était mon passetemps tout à l’heure; je l’aime fort: les bluettes sont si jolies! Ce sont les fleurs de cheminée: une petite étincelle, une bluette de feu, un diamant qui lance des bluettes.« Eigene Übersetzung.

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Verrat, Verbrechen, Resignation, unerwiderter Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, Einsamkeit, Monoparentalität, Not. Die Not der Seele wird zum musikalischen Thema der Depression, sie tritt als Dissonanz auf. Dissonanz kommt von dis-sonare, ›nicht zusammenklingen‹, d. h. keine Harmonie. Diese Musik, der Blues, kombiniert drei Elemente dieser Kunstrichtung: Poesie, Melodie und Rhythmus. Die ›blaue Note‹, die dissonante Note in dieser Harmonie ergibt die besondere und charakteristische Klangfarbe des Blues. Die Note kann auf die pentatonische Tonleiter afrikanischer Herkunft zurückgeführt werden, die sich nicht in unser Tonsystem einfügen lässt. Sie stört sozusagen, wird allerdings nicht schriftlich gefunden, nur hörbar gespielt. Deswegen sind die Bluesstücke von unregelmäßiger Rhythmik, weil sie dem Sprachrhythmus folgen, langsamer Rhythmus im Vierertakt. The blue note, die blaue Note, das ist die Not der Mutter, ihre Stimmungslabilität, Traurigkeit, häufiges Weinen, allgemeine Irritierbarkeit, übermäßige Sorgen (meist um das Kind), Erschöpfung, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Appetitstörungen, Schlaf- und Ruhelosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Mutter hat viele Stimmen angehört, und plötzlich erklingt in der großen Symphonie der Geburt eine Melodie, als wäre inmitten der Variationen über ein bekanntes Thema ein Motiv, das sie bereits in ihrer fernen Kindheit gehört hat, misstönend geworden: Disharmonie, Dissonanz. Hoffmann schreibt: »Der Ton ist in der Musik ganz und gar dasselbe, was in der Malerei die Farbe. Beide, Farbe und Ton, sind in nicht zu berechnender Varietät an und für sich selbst der höchsten herrlichsten Schönheit fähig, bleiben aber nur der rohe Stoff, der sich erst gestalten muss, um tief und dauernd auf das menschliche Gemüt zu wirken.«112

Ist dieser ›rohe Stoff‹ den man zuerst gestalten muss, der des infans, das nicht sprechen kann, nicht entwickelt ist, dieses fundamental unvollendeten Wesens? Die für den Menschen spezifische Unreife bei der Geburt erfährt ihren Sinn und ihre Tragweite durch diesen konstitutiven Mangel des menschlichen Wesens. Die Mutter weiß um diese wunderbare offensichtliche Abhängigkeit, die indes mit einem Verlust beginnt, mit dem Verlust des Bildes, das keine Imitation des Selbst ist, sondern eine Identifizierung mit einem Ich, das den Verlust durch eine Flucht nach vorn über die Sprache ausgleichen will. Meine These dazu ist: Die Art, mit der eine Mutter in der ersten Minute des Lebens ihres Kindes reagiert, enthält sehr viel von dem, was sich im Tiefsten ihrer psychischen Dynamik und ihres mentalen Gleichgewichts abspielt. Es muss erst zur Sprache gebracht werden. 112 | Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: »Der Dichter und der Komponist: Brief des Kapellmeisters Johannes Kreisler« [1819], in: ders.: Schriften zur Musik. Nachlese, hg. von Friederich Schnapp, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1971, S. 327-332.

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Dabei ist interessant, dass die Gebärenden berichten, sie seien nicht überrascht, wenn sie ihr Kind das erste Mal erblickten, da sie den Eindruck hatten, es dank der Ultraschallbilder schon zu kennen, dass sie aber in ihrer Wahrnehmung von der Stimme ihres Babys überrascht worden seien, von seinen ersten Schreien und Seufzern. Diese Wahrnehmung der Stimme berühre und verstöre sie zuweilen. Zu beobachten und anzuhören, was sie zu dem zu sagen hat, was das Wichtigste für sie ist, ihr Baby weinen zu sehen und / oder zu hören, dieser Unterschied in der Reaktion von einer Mutter zur anderen zwischen Ton und Anblick ist wesentlich und entscheidend, um zu erkennen und zu verstehen, was sich in der Unmittelbarkeit eines entstehenden Kontaktes abspielt. Die Intensität des Blicks der Mutter auf das Kind und das, was sie in seinem auf sie gerichteten Blick liest, sowie die Tatsache, ob sie die tiefen oder spitzen Töne wahrnimmt, die beim Luftholen aus der Kehle des Kindes dringen, geben einen Eindruck davon, wie diese Frau in ihrem Körper in diesem ganz besonderen Augenblick der Trennung, der Teilung nach der Geburt geprägt wird. Fühlt sie sich ertappt durch einen Blick, den sie nicht erkennt, der sie aber erkennt, dann ist depressiven und psychotischen Manifestationen Tür und Tor geöffnet. Dieser Säugling, entstanden aus der Illusion ihrer alleinigen Schöpfermacht, kann von ihr nicht als getrenntes Wesen betrachtet werden, sondern wird in seiner Existenz geleugnet. Wenn sie aber das Kind hört, wird ihr Versuch, sich gegen die oft bei der Entbindung empfundene Zerstückelung oder Zersplitterung zu schützen, gelingen, da die Stimme des Kindes wie eine lautschallende Bestätigung seines Wunsches wirkt, gehört zu werden, und damit wie ein Verband für die Wunde der phallischen Kastration, die stets und immer noch am Werk ist. Die Geburt erschiene dann wie ein Geschehen, eine tiefe Welle, aus Tönen und Blut, die verbunden werden muss. Eine Patientin erzählte ausführlich, wie sie während der Geburt und durch ihr Schweigen dachte, dass sie explodiert und in tausend Stücke zerspringt, wie von einem Tsunami mitgerissen. In dem Moment, als sie das Kind hörte, spürte sie, wie sie wieder eins wurde. Die Depression tritt nicht erst am dritten Tag auf, sie ist immer schon da, aber manifestiert sich nur dann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, wenn die vom Säugling ausgestoßenen Töne und die aus der mütterlichen Illusion resultierende Niedergeschlagenheit sich in einem blinden Spiegel treffen, der ein Bildschirm für ihre Beziehung ist, in dem sie aber nicht zusammentreffen. Könnte man sagen, dass das Baby mit seiner Stimme die Musik vorgibt, das Stück schon im Mutterleib komponiert, aber noch nicht gespielt wurde? Es wird nach der Geburt aufgeführt, laut oder leise, je nach Qualität der Bindung zur Mutter, weil es auf die Abwehrmechanismen der Mutter ankommt. Der Babyblues ist die vom Baby mit mütterlichen, vergessenen, biographischen Noten komponierte Musik. Im Blues setzt sich also das offensichtlich Vergessene in Musik um, die durch ihre Dissonanzen deutlicher als die Har-

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monie wird. Es entsteht ein Sprachrhythmus, der die Poesie ausdrückt. Und Stern schreibt sehr feinfühlig: »Eine Mutter ist wie ein Orchesterdirigent – Oder ist das Baby der wahre Dirigent? Oder sind es beide abwechselnd? – Sie bringt verschiedene Instrumente ins Spiel (Schaukeln, Wiegen, Sprechen) […] sodass das Füttern in einem sinnvollen Tempo vorangeht. Wird das Grundthema weniger interessant, variiert sie es wie ein Komponist mit anderen Instrumenten oder in einer anderen Lautstärke […]. Die Worte sind für das Baby eher so etwas wie musikalische Phrasen; in seinem Alter kommt die Melodie noch vor dem Text. Die Worte seiner Mutter sind Klangobjekte [mit denen sie erreicht, CM] die Aufmerksamkeit des Babys zu fesseln und gleichzeitig seinen emotionalen Zustand zu regulieren.«113

Für die Mutter, die die Dissonanz im Vordergrund hört und davon überwältigt wird, ist die Nacht oft mit dem Gefühl verbunden, dass sie ihre Vergangenheit loswerden muss, und dadurch enstehen Traurigkeit, Schwermut und Verwirrung. Gleichzeitig wird die Zukunft als bedrohlich, unsicher, unbekannt, aber auch unbegleitet erlebt. Ich habe das tränenüberströmte Gesicht einer jungen Frau vor Augen, Mutter eines Sohnes, die erzählt, wie ihre eigene Mutter sie fragt, ob sie kuscheln möge. Sie überlegt – »ich bin 28 Jahre alt« – und antwortet »Ja«, in Richtung ihrer Mutter gehend. Diese weicht zurück und sagt: »Nicht mit mir, sondern mit deiner Decke!« – ein fatales Missverständnis. In einem anderen Fall spreche ich mit einer jungen Frau, die gerade Mutter geworden ist. Es ist Anfang Januar. Sie hat kurz vor Weihnachten ihren eigenen Geburtstag gefeiert und erinnert sich weinend, vor einem Jahr erfahren zu haben, dass sie schwanger ist. Die Mutter der Patientin ist am Weihnachtstag, als die Patientin selbst gerade ein Jahr alt war, gestorben. Weinen – Nacht, psychische Nacht. Ihr fehlt die Mutter, aber eine Psychoanalytikerin ist zur Stelle. Eine Patientin fragte mich, ob ich wisse, woher der Begriff ›mutterseelenallein‹ komme. Angesichts meiner Unwissenheit erklärte sie mir, dieser Ausdruck stamme aus dem Französischen. Moi tout seul, ›Mu-tter-seele‹: Es sind Worte, die die französischen Hugenotten, die im 17. Jahrhundert aus Frankreich vertrieben wurden, bei der Ankunft in Berlin äußerten. Dass eine Redewendung in eine andere Sprache phonetisch übersetzt wird und genau die damit erzeugten Emotionen wiedergeben kann, ohne die ursprüngliche Sprache zu kennen, hat mich tief beeindruckt. Diese Übersetzung der Gefühle der Einsamkeit scheint auf die universelle Qualität der Beziehung zur Mutter als primäres Beziehungsobjekt zu verweisen. Die Mutter verkörpert im Postpartum auch dieses toute seule, ganz allein, wenn sie mit dem Neugeborenen einen neuen Ort, eine neue Position und, in übertragenem Sinne, eine neue Heimat 113 | Stern / B ruschweiler-Stern: Geburt einer Mutter, S. 123 ff.

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sucht. ›Mutterseelenallein‹ ist sie dann. Eine junge Frau hat folgende Worte für ihre Erfahrung gefunden: »Wenn XX eine Frau genetisch gesehen beschreibt, ist eine Mutter eine liegende Acht, ∞, unendlich. Gib Acht! Dort ist die Kreuzung zweier Linien vorhanden, auch die religiöse Geschichte mit der Kreuzigung ist enthalten, genauso wie der gerundete Bauch der Schwangeren.« Ich erfuhr, dass uns die hebräischen Konsonanten einen Hinweis geben und als solche ›Mütter der Lektüre‹ oder ›Lesermütter‹ genannt werden, während die Vokale dazu dienen, das Wort zu interpretieren, sie sind ›Seele‹ der Buchstaben: Mutter und Seele, Leib und Lebensatem zugleich. Die Psychoanalyse, die ich praktiziere, ist eine Praxis der Buchstaben, die die klinische Erfahrung mit der Struktur der Sprache als Grundlage in einen Text übersetzt.

Literatur

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Abbildungen

1 Wolinski. »Femme est l’un des nombreux noms de Dieu« (2015). http: /  /  3.bp.blogspot.com / -BxuKSTCXqpQ / VLuklV0_YtI / A AAAAAAAEac / Xo8c 6JUtXdk / s1600 / 3549-DESSIN-WOLINSKI.jpg vom 12.09.2015, Zugriff am 01.11.2017. 2 Tarzan. »Insel der Ruhe« (2010). Bild des Patienten »Tarzan«. 3 Tarzan. »Bartimäus« (2010). Bild des Patienten »Tarzan«. 4 Tarzan. »Bluttränen« (2010). Bild des Patienten »Tarzan«. 5 Tarzan. »Sommergrillen« (2010). Bild des Patienten »Tarzan«. 6 Albrecht Dürer. »Melencolia I« (1514). Kupferstich, Städel Museum, Frankfurt a. M., Graphische Sammlung, Inv. Nr. 33377. Aus: Städel Museum / Sander, Jochen (Hg.). Dürer. Kunst  – Künstler  – Kontext. München: Prestel 2013, S. 262. 7 Vincent van Gogh. »L’homme est en mer« (1889). Aus: Walther, Ingo F. / Metzger, Rainer. Vincent van Gogh. Sämtliche Gemälde. Band 2. Arles, Februar 1888 – Auvers-sur-Oise, Juli 1890. Köln: Taschen 1989, S. 552. 8 Zweidimensionale Abbildung. 2015. Private Aufnahme. 9 und 10 Dreidimensionale Abbildung eines Fötus. 2015. Private Aufnahme. 11 René Magritte. »Les Amants 1« (1928). Privatsammlung Berlin. Aus: Barron, Stephanie / Draguet, Michel (Hg.). Magritte and the Contemporary Art: The Treachery of Images, Ausstellungskatalog Los Angeles County Museum of Art, 19.11.2006-04.03.2007. Antwerpen / Los Angeles: Ludion / Los Angeles County Museum of Art 2006. 12 René Magritte. »Les Amants 2« (1928). Privatsammlung Berlin. Aus: Abadie, Daniel (Hg.). René Magritte, Ausstellungskatalog, Galerie Nationale du Jeu de Paume, Paris, 11.02.-09.06.2003. Stuttgart: Belser 2003, S. 97. 13 René Magritte. »La reproduction interdite« (1937). Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, Niederlande. Aus: Stiftung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Hg.). René Magritte. Die Kunst der Konversation, Ausstellungskatalog, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 23.11.1996-02.03.1997. München: Prestel Verlag 1996.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

14 René Magritte. »La condition humaine« (1933). National Gallery of Art, Washington, USA. Aus: Ebd., S. 20. 15 Dorothea Maetzel-Johannsen. »Stillende Mutter unter der Sonne« (1920). Radierung, Galerie Hans, Hamburg. Aus: Bartholomeyczik / August Macke Haus (Hg.). Zwischen Madonna und Mutter Courage, 2011, S. 54. 16 Otto Dix. »Die Geburt I, Geburtsstunde« (1919). Holzschnitt, Kunstmuseum Stuttgart. Aus: Ebd., S. 56. 17 Paula Modersohn-Becker. »Liegende Mutter mit Kind II« (1906). Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen. Aus: Ebd., S. 46. 18 George Grosz. »Niederkunft« (1917). Privatsammlung. Watercolor VI der Sammelmappe: Ecce Homo. 84 Lithographien und 16 Aquarelle, Berlin: Malik-Verlag 1923. Aus: Ebd., S. 67. 19 Hannah Höch. »Die Geburt« (1925). Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf. Aus: Ebd., S. 59. 20 Elfriede Lohse-Wächtler. »Mutter und Tochter« (1918). Nachlassverwaltung Elfriede Lohse- Wächtler, Hamburg. Aus: Ebd., S. 96 21 O. A. »Himmelfahrt Mariä« (o. D.). Kirchenfenster in der St. Vincent-Kathedrale, Chalon-sur-Saône, Frankreich. Https://www.patrimoine-histoire. fr/Patrimoine/ChalonSaone/Chalon-sur-Saone-StVincent_v6.htm, Zugriff am 01.11.2017. Foto: Philippe Tannseeler. 22 Sandro Botticelli. »Madonna mit dem Buch« (1481). Museo Poldi-Pezzoli, Mailand, Italien. Aus: Santi, Bruno: Botticelli. Florenz / Königstein: Langewiesche 1976, S. 46. 23 Philippe de Champaigne. »La Vierge de Douleur au pied de la croix« (1660). Musée des Beaux-Arts, Dijon, Frankreich. Aus: Tapié, Alain / Sainte Fare Garnot, Nicolas (Hg.). Philippe de Champaigne (1602-1674). Entre politique et dévotion, Ausstellungskatalog, Palais des Beaux-Arts, Lille, 27.04.15.08.2007, Musée Rath, Genf, 20.09.2007-13.01.2008. Paris: Réunion des musées nationaux 2007, S. 199. 24 Pablo Picasso. »Mutter und Kind am Strand« (1902). Private Sammlung. Aus: Palau i Fabre, Josep (Hg.). Picasso. The Early Years 1881-1907. New York: Rizzoli International Publications 1981, S. 297. 25 und 28 (Ausschnitt) Sandro Botticelli. »Madonna di S. Barnaba« auch »Madonna auf dem Thron mit den Heiligen Katharina von Alexandrien, Augustinus, Barnabas, Johannes dem Täufer, Ignatius und Michael« (1486). Galleria degli Uffizi, Florenz, Italien. Aus: Santi, Bruno: Botticelli. Florenz / Königstein: Langewiesche 1976, S. 48. 26 Leonardo da Vinci. »Mona Lisa« genannt »La Gioconda« (1503-1505). Musée du Louvre, Paris, Frankreich. Aus: Arasse, Daniel. Léonard de Vinci: le rythme du monde. Paris: Hazan, 1997.

Abbildungen

27 Giovanni Bellini. »Madonna mit Kind« (1510). Museu de Arte de São Paulo, Brasilien. Aus: Archiv des Museu de arte de São Paulo, https://masp.org.br/ acervo/obra/a-virgem-com-o-menino-de-pe-abracando-a-mae-madona-willys, Zugriff am 01.11.2017, Foto: João Musa. 29 Sandro Botticelli. »Madonna im Rosengarten« (1469-1470). Galleria degli Uffizi, Florenz, Italien. Aus: Santi, Bruno: Botticelli. Florenz / Königstein: Langewiesche 1976, S. 7. 30 Tizian (Tiziano Vecellio). »Stabat Mater« auch »Mater Dolorosa mit gefalteten Händen« (um 1555). Museo del Prado, Madrid, Spanien. Aus: Kaminski, Marion. Tiziano Vecellio, genannt Tizian. 1488 / 1490-1576. Köln: Könemann 1998, S. 104. 31 Tizian (Tiziano Vecellio). »Stabat Mater« auch »Mater Dolorosa mit geöffneten Händen« (1553-1554). Museo del Prado, Madrid, Spanien. Aus: Ebd., S. 103. 32 El Greco. »Mater Dolorosa« (1590). Musée des Beaux Arts, Straßburg, Frankreich. Aus: The National Gallery / Davies, David / Elliot, John H. (Hg.). El Greco, Ausstellungskatalog, The Metropolitan Museum of Art, New York, 07.10.2003-11.01.2004, The National Gallery, London. New York / London: Yale University Press / T he National Gallery 2003, S. 159. 33 Frida Kahlo. »Meine Geburt« (1932). Private Sammlung. Aus: Billeter, Erika (Hg.). Das blaue Haus. Die Welt der Frida Kahlo, Ausstellungskatalog, Schirn-Kunsthalle, Frankfurt a. M., 11.03.-23.05.1993. Frankfurt a. M.: Schirn-Kunsthalle 1993. 34 Frida Kahlo. »Meine Amme und ich« (1937). Museo Dolores Olmedo, Xochimilco, Mexiko-Stadt, Mexiko. Aus: Belán, Kyra. Madonnenportraits. Vom Mittelalter zur Moderne. New York: Parkstone 2001, S. 230. 35 Frida Kahlo. »Die zerbrochene Säule« (1944). Museo Dolores Olmedo, Xochimilco, Mexiko-Stadt, Mexiko. Aus: Martin-Gropius-Bau / Bank-Austria-Kunstforum (Hg.). Frida Kahlo Retrospektive, 2010, S. 147. Die Autorin hat sich um die Nutzungsrechte der Abbildugen bemüht, es konnten jedoch nicht alle Urheber bis zur Drucklegung ermittelt werden. Sollten Rechtsansprüche bestehen, werden die Rechteinhaber gebeten, Kontakt mit der Autorin aufzunehmen.

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Abkürzungen

AKJP APA Deutsches Ärzteblatt PP

DPV ICD

PTBS PiD PPD WHO

Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie American Psychiatric Association Deutsches Ärzteblatt für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Deutsche Psychoanalytische Vereinigung internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme / International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems posttraumatische Belastungsstörung Psychotherapie im Dialog postpartale Depression Weltgesundheitsorganisation / World Health Organization

Danksagung

Ein langer Weg über verschiedene Kontinente, Bereicherungen durch multikulturelle Einflüsse und immer neue Begegnungen, die mein Leben begleitet haben: So kann ich diesen Parcours bis zur Promotion beschreiben. Ohne die tatkräftige Unterstützung anderer wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Insbesondere seien hervorgehoben: Für die Betreuung der Promotion möchte ich meinem Professor Rolf-Peter Warsitz sehr herzlich danken. Seine Offenheit für meine besondere Fragestellung gepaart mit seinen Interessen für die französische Philosophie und Psychoanalyse hat diese wissenschaftliche Forschung erlaubt. Herzlicher Dank gilt meiner ›Tutorin‹ Professorin Hilde Kipp, welche mich über fast drei Jahre mit ›Stringenz‹ und kritischer Haltung begleitet und ermutigt hat und mir zu jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Auf die freundliche Entschiedenheit, es bis zum Ende zu bringen, war stets Verlass. Annette Brüser, meiner Vertrauten, verdanke ich motivierende, geduldige und kontinuierliche Kommentare, von Ulm bis Brüssel, durch viele telefonische Diskussionen und ausführliche Übersetzungen und Korrekturen meiner Arbeit, vom ersten Exposé bis zum reifen Text. Dr. Peter Widmer, als wohlwollende und vertrauenswürdige Vaterfigur, ist mir durch sein unendliches psychoanalytisch-lacansches Wissen und seine wertvollen Anmerkungen eine wichtige Stütze gewesen. Auch Jutta Sillmann und Peter Vorbach reagierten trotz großer beruflicher Belastung immer freundlich und hilfsbereit: Mein Text bekam dadurch einen flüssigen deutschen ›Touch‹! Dr. Claude Conté verdanke ich meine eigene psychoanalytische Ausbildung, mein Engagement für andere, meine Art, das Gewohnte zu stören, indem ich es in Frage stelle. Seine Begleitung während meines Mutterwerdens war eine unvergessliche Lehre. Dr. Françoise Dolto, Dr. Sarah Kofman haben meinen Werdegang von kleinauf begleitet, als Psychoanalytikerin und als Philosophin. Sie sind Inbegriff dieser französichen intellektuellen Generation, die das Denken anDers. formuliert und dekonstruiert haben. Danke.

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Postpar tale Depression und »weibliche Identität«

Besonderer Dank gilt den Patientinnen und Patienten, die mir meinen Beruf beigebracht haben. Über ihre Geschichte, ihre Biographie, ihre oft langwierigen und schwierigen Erlebnisse waren sie bereit, zu sprechen und das Unsagbare in manchen Augenblicken durchsickern zu lassen. Meinen Kolleginnen und Kollegen danke ich sehr für Motivation und Unterstützung sowie zahlreiche Anregungen. Und last, but not least möchte ich an dieser Stelle meiner Familie für die beispiellose Unterstützung, ihre unbegrenzte Liebe und Geduld und ihr tiefes Verständnis in all diesen Jahren danken. Nur durch diesen unglaublichen Rückhalt war es mir möglich, mich diese Zeit mit anderen und anderem zu befassen. Von weit entfernt einen Kuss für meine Mutter, Edwige Fride, die die Psychoanalyse in mein Leben eingeführt hat. Meinem Vater danke ich für die kompromisslose Auseinandersetzung mit dem Ziel des kritischen Hinterfragens. Eberhard, meinem Mann, danke für die geteilte Zeit mit unseren Kindern Damien, Marion, Alma, Clarissa und Timothée … und die Promotion. Ohne Dich wüsste ich nicht, was Frausein bedeutet. Ohne Euch wüsste ich nicht, was Muttersein beinhaltet. Mein Leben wäre leer. Schließlich widme ich diese Arbeit meinen Schwiegereltern Dorothea und Albert Moser.

Psychologie Lisa Landsteiner

Platz nehmen Zur Psychologie des Sitzens am Ort der Psychiatrie Januar 2017, 194 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3383-2 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3383-6

Michael Friedman, Samo Toms˘ić (eds.)

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