Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman 3732901920, 9783732901920

224 84 2MB

German Pages 292 [291] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman
 3732901920, 9783732901920

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Verhältnis von Bildungsroman und Künstlerroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
3 Zur Bedeutung des Gesprächs im 18. Jahrhundert
4 Das Widerspiel von Kunst und Leben: Johann Wolfgang Goethe, 'Wilhelm Meisters Lehrjahre'
5 Gelebte Kunst: Wilhelm Heinse, 'Ardinghello und die glückseligen Inseln'
6 Die Vereinigung von Kunst und Leben in der Sprachlosigkeit: Ludwig Tieck, 'Franz Sternbalds Wanderungen'
7 Die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben: Karl Philipp Moritz, 'Anton Reiser'
8 Die Vermeidung des Konflikts von Kunst und Leben durch die Alleinherrschaft der Phantasie: Jean Paul, 'Flegeljahre'
9 Schluß: Der Übertritt der Kunst ins Leben: Der Künstler als sinnliche Erscheinung der Theorie
10 Literaturverzeichnis

Citation preview

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T

Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman Sabrina Krone

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

Sabrina Krone Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman

Literaturwissenschaft, Band 54

Sabrina Krone

Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman

Verlag für wissenschaftliche Literatur

Umschlagabbildung: oben von links nach rechts: Johann Wolfgang von Goethe (Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1828); Jean Paul (Gemälde von Heinrich Pfenninger, 1798); unten von links nach rechts: Johann Jakob Wilhelm Heinse (Gemälde von Johann Friedrich Eich, 1779); Ludwig Tieck (Gemälde von Robert Schneider, um 1833); Karl Philipp Moritz (Gemälde von Karl Franz Jacob Heinrich Schumann, 1791)

ISBN 978-3-7329-0192-0 ISSN 1860-1952 © Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur Berlin 2016. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung durch Frank & Timme GmbH, Wittelsbacherstraße 27a, 10707 Berlin. Printed in Germany. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Zugleich Dissertation Universität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaft 2013, D 93 www.frank-timme.de

Für Julia in Liebe

Dank Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Juli 2013 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart eingereichten Dissertation. An dieser Stelle möchte ich meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Heinz Schlaffer herzlich danken. Er hat meine literaturwissenschaftliche Laufbahn von Anfang an begleitet und mir immer wieder entscheidende Impulse gegeben. Die Entstehung meiner Dissertation hat er auch in schwierigen Phasen mit viel Geduld und Verständnis begleitet und mich mit seiner steten Bereitschaft zu Gesprächen, Lektüren, Anregungen und Kritik immer unterstützt. Dafür bin ich ihm ganz besonders dankbar. Für den hilfreichen Austausch in vielen Gesprächen und für Lektüren danke ich meiner Zweitgutachterin Barbara Potthast sowie Andreas Luckner, der sich zu einem Drittgutachten aus philosophischer Perspektive bereit erklärt hat. Besonderer Dank gebührt auch Uwe Durst, Josefine Engmann, Irene Musolino und Birgit Ulmer für die Mühen des Korrekturlesens und für hilfreiche Hinweise, aber auch für Anregungen in Gesprächen. Außerdem danke ich allen, die mir in zahlreichen Gesprächen Anregungen und Hinweise gegeben haben, insbesondere dem Zirkel Work in Progress mit seinen anregenden Diskussionen. Von ganzem Herzen danken möchte ich meiner Mutter, die mir diesen Weg trotz aller Schwierigkeiten ermöglicht und immer an mich geglaubt hat, und meinem Bruder. Besonderen Dank schulde ich Georg Maag, ohne dessen Unterstützung diese Arbeit heute sicher nicht vorliegen würde – ich danke ihm von Herzen.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

7

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung����������������������������������������������������������������������������������������������������11 2 Das Verhältnis von Bildungsroman und Künstlerroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts�����������������������������������������������19 3 Zur Bedeutung des Gesprächs im 18. Jahrhundert�����������������������������������39 4 Das Widerspiel von Kunst und Leben: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre����������������������������75 5 Gelebte Kunst: Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln����������������������������������������������������117 6 Die Vereinigung von Kunst und Leben in der Sprachlosigkeit: Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen���������������������������������������173 7 Die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben: Karl Philipp Moritz, Anton Reiser������������������������������������������������������������215 8 Die Vermeidung des Konflikts von Kunst und Leben durch die Alleinherrschaft der Phantasie: Jean Paul, Flegeljahre����������239 9 Schluß: Der Übertritt der Kunst ins Leben: Der Künstler als sinnliche Erscheinung der Theorie������������������������������261 10 Literaturverzeichnis����������������������������������������������������������������������������������275

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

9

1

Einleitung

Die Beobachtung, die der vorliegenden Studie als Ausgangspunkt gedient hat, ist die schnelle Ausbreitung der Problematiken und Begrifflichkeiten, die die Philosophie um 1750 in der neuen Disziplin der Ästhetik erstmals systematisch ordnet. Zunächst handelt es sich um Fragen der Erkenntnis: der Logik, einer der wichtigsten Disziplinen der Philosophie, wird eine neue Disziplin an die Seite gestellt, die ihr ebenbürtig sein soll, auch wenn sie auf entgegengesetzten Grundlagen basiert. Während die Logik auf der Vernunft aufbaut, um zu rationaler Erkenntnis zu gelangen, wird der Ästhetik die irrationale Basis der sinnlichen Wahrnehmung zugrundegelegt, die ihrerseits zu Erkenntnis führen soll, allerdings zu sinnlicher. Mit der Aufwertung der Sinne und des Gefühls leistet die Ästhetik einen Beitrag zur Befreiung des Subjekts, die eines der wichtigsten Anliegen der Aufklärung ist und vor allem durch die Emanzipation der Verstandesleistung des Einzelnen erreicht werden soll. Die sinnliche Erkenntnis, die sich anfangs auf die wahrnehmbare Welt im Allgemeinen bezieht, wird schnell vor allem auf die Kunst und den Künstler eingeengt. Die Ästhetik löst in der Folge die Poetik als Regelwerk für die Dichtung ab und stellt für die Literatur, aber auch die bildenden Künste eine Theorieinventar zur Verfügung. Erstmals erhält die Kunst eine Kunsttheorie, die sich nicht in präskriptiven Regeln erschöpft, sondern stattdessen den Eigenwert der Kunst jenseits des prodesse aut delectare und der imitatio-Lehre zu begreifen versucht. Diesen Eigenwert sehen die Theoretiker durch die neue Stellung der sinnlichen Wahrnehmung als analogon rationis, die Baumgarten ihr zuschreibt, nicht zuletzt in einer Erkenntnis, die sich von der Logik absetzt. Das aufklärerische Postulat, der einzelne solle sich seines Verstandes bedienen, um sich aus der geistigen Abhängigkeit zu lösen, wird auf den Bereich der Kunst übertragen und eine Ausbildung der Sinne gefordert, die eine eigenständige Rezeption von Kunst erlaubt. Dabei spielt vor allem das Urteil über Kunst eine Rolle, das als Geschmacksurteil schon vor 1750 ein stark diskutiertes Problem war. Um zu einem Geschmacksurteil zu gelangen, das über die bloße Frage des Gefallens oder Nicht-Gefallens hinausgeht, benötigt der Einzelne sowohl die Begrifflichkeiten, mit denen er sein Urteil reflektieren und auch anderen vermitteln kann, als auch Übung. Eine breite Massenwirkung der philosophischen Abhandlungen zur Ästhetik kann nicht vorausgesetzt werden, so daß zur Verbreitung der Kenntnisse ästhetischer Grundlagen ein populäreres Genre ge-

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

11

funden werden muß. Zwar stellen die philosophischen Dialoge, die vor allem im Bereich der Lebensphilosophie als Instrumentarium zur Bildung einer breiteren Öffentlichkeit dienen, ein solches Genre dar und werden auch vereinzelt genutzt. Die schnelle und weite Verbreitung ästhetischer Fragestellungen kann durch diese jedoch nicht erklärt werden. Sie ist vielmehr auf ein weitaus populäreres Genre zurückzuführen: den Roman. Mit ihm erfolgt das, was als die ‚Popularisierung der Ästhetik‘ hier genauer untersucht werden soll. Dabei ist der Begriff der ‚Popularisierung‘ zunächst zu trennen von dem der ‚Trivialisierung‘. Denn die Verbreitung der Ästhetik erfolgt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tatsächlich als eine Popularisierung, die zwar einen großen Wirkungsradius hat, diesen aber nicht durch eine Vereinfachung ihrer Inhalte erreicht. Die komplexen Zusammenhänge, die die zeitgenössischen Kunsttheorien diskutieren, werden in dieser Komplexität in den Roman, und zwar speziell den Künstlerroman, aufgenommen und dort veranschaulicht. Die Gattung des Künstlerromans eignet sich in besonderer Weise für eine Popularisierung der Ästhetik: Der Roman selbst ist auch in seinen nicht dem Trivialroman zuzurechnenden Formen eine populäre Gattung, was mit seinen formalen Eigenschaften zusammenhängt. Als Form der erzählenden Prosa ist er im Gegensatz zu lyrischen Formen leichter zu rezipieren, durch seine Bestimmung als Beschreibung der Geschichte eines Menschen verfügt er über eine Handlung, die spannend ausgestaltet sein und so das Interesse des Lesers wecken kann, als große Prosaform bietet er Raum für Ausschweifungen, theoretische Diskussionen und Betrachtungen durch den Erzähler oder die Figuren. Er eignet sich so in besonderer Weise zur Vermittlung von Wissen, was Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität ausdrücklich betont: Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philo­ sophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das menschliche Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessieret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.1 1

12

Johann Gottfried Herder, Werke. Band 7: Briefe zu Beförderung der Humanität, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/Main 1991; 99. Brief, S. 548.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Durch diese vielfältigen Möglichkeiten und dadurch, daß er von dem erzählen kann, was „unsern Verstand oder unser Herz“ interessiert, findet er, befördert durch eine zunehmende Alphabetisierung in Deutschland, großen Absatz. In ihrer Studie zum Trivialroman verweist Marion Beaujean auf diesen Umstand, den sie gerade nicht als Phänomen der Trivialliteratur sieht, sondern vielmehr als Voraussetzung, welche die Produktion und den Absatz des massenweise geschriebenen und gelesenen Trivialromans überhaupt erst ermöglicht: Dabei läßt sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine plötzlich einsetzende und dann stetig anschwellende Romanproduktion beobachten, die ihren vorläufigen Höhepunkt in den letzten Dezennien des Jahrhunderts erreicht. Dieser Vorgang ist um so erstaunlicher, als das Anwachsen der übrigen Neuerscheinungen dazu in gar keinem angemessenen Verhältnis steht, gleichgültig, ob es sich um andere schöngeistige, oder um wissenschaftliche Werke handelt. Der Roman erobert den Büchermarkt in solchem Umfang, daß er den anderen Gattungen gegenüber die beherrschende Stellung einzunehmen beginnt, die er bis in die Gegen­ wart hinein zu behaupten weiß.2 In das derart beliebte Genre des Romans werden in der speziellen Form des Künstlerromans die Diskussionen um die Kunst und ihre Theorie integriert. Dies geschieht in erster Linie dadurch, daß ein Künstler, meist ein Maler oder Dichter, Protagonist des Romans ist. Dieser hat äußerlich mit seiner schwierigen Stellung innerhalb der Gesellschaft zu kämpfen, die vor dem Hintergrund bürgerlicher Lebensvorstellungen die Kunst als unnütz oder als für die Sicherung der Existenz ungeeignet einstuft. Hier muß die Kunst als Beruf gegen eine kunstfeindliche Umwelt verteidigt werden. Deshalb ist nicht die Bildung des Bildungsromans, der eine Integration des Helden an einen erst noch zu definierenden Ort innerhalb der Gesellschaft zum Ziel hat, Gegenstand des Künstlerromans, sondern die Selbstbehauptung des sich seiner Stellung außerhalb der Gesellschaft bewußten Künstlers. Neben die Überlegungen zur Berechtigung von Kunst überhaupt treten ästhetische Fragen wie die nach den Kriterien für ein gelungenes Kunstwerk, nach der richtigen Auffassung von Kunst und nach der etwaigen Vorrangstellung einer der Künste. Diese Bereiche sind es vor allem, in denen die Themen der Äs2

Marion Beaujean, Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bonn 1964 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 22], S. 177. Zur Frage nach den konkret gelesenen Titeln vgl. ebd., S. 19–31: Das literarische Leben im 18. Jahrhundert.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

13

thetik veranschaulicht werden. Sie werden entweder in die Handlung integriert oder treten als Charakteristika und Überzeugungen der einzelnen Protagonisten auf, die in Kunstgesprächen verhandelt werden. Dies führt zu einem einfacheren Verständnis der theoretischen Probleme durch deren Verlebendigung in den Figuren des Romans und durch die Möglichkeit, diese Probleme innerhalb der fiktiven Gespräche durch Gegenpositionen, Nachfragen, Korrekturen und Erklärungen von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Ein letzter Vorteil liegt in der Sprache, die im Roman die einfachere Sprache der erzählenden Prosa ist und nicht die Fachsprache der Philosophie. Die für die Romananalysen ausgewählten Romane liegen zeitlich recht nah beieinander – sie sind alle in einem Zeitraum von ungefähr 20 Jahren erschienen, der sich deckt mit der Zeit, innerhalb derer die Kenntnisse der Ästhetik und ihrer Begrifflichkeiten vom gelehrten Zirkel der Philosophen und Kunsttheoretiker übergehen auf eine relativ große Menge von lediglich an der Kunst Interessierten. Die gemeinsame Basis, die einen Vergleich der Romane erlaubt, ist zuallererst die Figur der Künstlers. Die Figur des Künstlers als Protagonist erfordert es, daß die Ansprüche des Bildungsromans, die „innere Geschichte eines Menschen“3 zu erzählen, und die Diskussion um Kunst und Kunsttheorie miteinander verwoben werden. Die Amalgamierung dieser beiden Bereiche gelingt jedoch nicht ganz widerstandslos, sondern läßt unweigerlich die Spannung zwischen dem Leben, das der Bildungsroman schildern soll, und der Kunst zurück, welche als Struktur allen Künstlerromanen inhärent ist und dem Künstler im Roman als Problem der Vermittlung von Kunst und Leben begegnet. Dabei spielt die Kunst meist die Rolle des Ideals, das es zu erreichen gilt, oder der Berufung, welcher der Protagonist folgen möchte, während das Leben in Form der Gesellschaft, oder noch einfacher: der Realität, ihm und seinen Wünschen entgegentritt. Da die Kunst und das Schaffen von Kunstwerken vor allem eine besondere Wahrnehmungsform erfordern, das Leben aber im Handlungsvollzug besteht, ist diese Vermittlung meist schwierig. Ob und wie sie erfolgt, haben die behandelten Romane auf unterschiedliche Art gelöst. An erster Stelle der Romaninterpretationen steht der zeitlich eigentlich genau in der Mitte des durch die Werke umfaßten Zeitraums erschienene Roman Goethes, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Der Roman nimmt in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung ein: innerhalb der vorgelegten Interpretationen deshalb, weil er im Grunde nicht in die Reihe der Künstlerromane gehört. Von 3

14

Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, Teil II, Kapitel 10, S. 391.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

der Forschung wird er zumeist dem Bildungsroman zugeordnet, ein Prädikat, das ihm im Grunde nicht angemessen ist, was bereits Karl Schlechta in seiner Studie gezeigt hat. Da der Protagonist Wilhelm allerdings die meiste Zeit der Romanhandlung innerhalb einer Schauspieltruppe verbringt, weil er sich die Schauspielerei anstelle der Ökonomie zu seinem Beruf machen möchte, ist eine Aufnahme unter die Künstlerromane weniger abwegig, als es auf den ersten Blick erscheint. Wilhelm wendet sich am Ende des Romans aber von der Schauspielerei ab, so daß man hier von einer mißglückten Künstlerexistenz sprechen könnte, deren Scheitern allerdings schon von Anfang an im Roman angelegt ist: Die Vermittlung von Kunst und Leben, das im Fall Wilhelms das eines Kaufmanns ist, gelingt nicht. Innerhalb der zeitgenössischen Romanproduktion nimmt Wilhelm Meister deshalb eine Sonderstellung ein, weil er einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf spätere Romane hatte: Als Ideal eines Bildungsromans gelobt, müssen sich alle folgenden Romanschriftsteller unweigerlich mit Wilhelm Meister auseinandersetzen, sei es als Vorlage, sei es als Gegenentwurf. Die beiden im Zentrum der Interpretationen stehenden Romane, Wilhelm Heinses Ardinghello (1787) und Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798), führen zwei Arten der Vermittlung von Kunst und Leben vor, die als paradigmatisch gelten können. Ardinghello lebt ein gelingendes Künstlerdasein, das auf einer erfolgreichen Vermittlung von Kunst und Leben basiert. Die Vermittlung muß hier nicht erst erarbeitet werden, sondern ist Ardinghellos Wesen von vornherein zu eigen, was sich im Roman an der Parallelität und teilweise sogar Ineinssetzung von Kunsttheorie und Lebenspraxis zeigt. Der elf Jahre später erschienene Roman Franz Sternbalds Wanderungen zeigt die Vermittlung der beiden Bereiche als Aufgabe, die an den Unterschieden zu scheitern scheint. Die Unterschiede werden nicht ausgeglichen, sondern vielmehr in einer Synthese aufgehoben, die jenseits der Kategorien von Verstand und Gefühl im bloßen Erleben stattfindet. Den Abschluß bilden zwei Romane, die chronologisch am Anfang und am Ende der Reihe stehen und als Extremformen in den Blick genommen werden: Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785–90) und Jean Pauls Flegeljahre (1804/05). Anton Reiser verkörpert eine Extremform des Künstlerdaseins insofern, als sein Wunsch, Künstler zu sein, im Imaginären verbleibt. Er scheitert an der Unvereinbarkeit von Kunst und Leben und damit auch an der Kunst. Gottwalt Harnisch hingegen stellt eine Extremform dar, da seine überstarke Einbildungskraft sich nicht mit der Realität vermitteln läßt, sondern diese überwindet. Er umgeht

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

15

den Konflikt von Kunst und Leben, indem er eine radikale Ästhetisierung der Welt lebt. Die Auswahl der Romane präsentiert nicht nur Analysen der wichtigsten Romane dieser Zeit, sondern zeigt auch die verschiedenen Möglichkeiten, den Grundkonflikt des Künstlers zwischen Realität und Idealität zu behandeln, exemplarisch auf. Das Verbindungsglied zwischen Kunst und Leben bildet das Kunsturteil, das durch den Geschmack als Grundlage mit dem theoretischen Problem des Zusammenspiels von Verstand und Sinnlichkeit im Urteil konfrontiert wird. Was der Roman als Problem der Lebensführung des Künstlers erzählerisch bewältigt, ist die Veranschaulichung dieses ästhetischen Grundkonflikts zwischen logos und Sinnlichkeit. Er wird in den in allen Romanen enthaltenen Kunsturteilen und Kunstgesprächen4 thematisiert. In diesen Gesprächen hat der Künstlerroman sein Zentrum. Die Analyse der Gesprächssituationen, des Umgangs mit dem Kunsturteil und des Verhältnisses von logos und Sinnlichkeit gibt Antwort auf die Frage nach dem gelingenden Künstlertum. Dieses hat, analog zum philosophischen Leben, sein Ziel im Vollzug einer künstlerischen Lebens­ praxis, nicht in der Ankunft an einem Ort innerhalb der Gesellschaft. Damit unterscheidet sich der Künstlerroman radikal vom Bildungsroman. Das Verhältnis von Bildungs- und Künstlerroman sowie die Bedeutung des Gesprächs für den Künstlerroman werden in zwei theoretischen Kapiteln, die den Romananalysen vorangestellt sind, beleuchtet. Im Zusammenhang mit dem Gespräch wird dem sokratischen Gespräch besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da es den Dialogen der Romane mehr oder weniger deutlich als Ideal zugrundeliegt. Hierdurch kommt eine Rückbindung der Ästhetik an die Philosophie zustande. Das sokratische Gespräch verkörpert die ideale Form einer Vermittlung von Wissen, welche zugleich unter den Figuren des Romans und zwischen Roman und Leser stattfinden soll. Durch den Fokus des Künstlerromans auf dem gelingenden Vollzug einer Künstlerexistenz gerät der Künstler als Person in den Mittelpunkt des Interesses. Das innerhalb der Kunstgeschichte des späten 18. Jahrhunderts wachsende Interesse an der Künstlerbiographie5 hat seine Entsprechung im zunehmenden Interesse der Romanliteratur am Künstler. Der Hinwendung zum Künstler im Roman entspricht eine Hinwendung zum realen Künstler durch die Leser der Romane. Hier spielen die weiblichen Leser 4

Dominik Müller, Vom Malen erzählen. Von Wilhelm Heinses „Ardinghello“ bis Carl Hauptmanns „Einhart der Lächler“, Göttingen 2009, S. 22ff.

5

Jutta Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft. ‚Franz Sternbalds Wanderungen‘ von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit, München 2010, S. 148.

16

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

eine besondere Rolle, die schon Blanckenburg als von der Lesewut befallen beschreibt.6 Für sie stellt der Roman meist den einzigen Zugang zur Bildung dar, deren Inhalte sie nur schlecht anderweitig überprüfen können. Der meist durch seine Sensibilität gekennzeichnete Künstler der Romane wird zum Bild, das nun auch auf die realen Künstler übertragen wird. Das solcherart poetisch aufgeladene Bild vom Künstler ruft nun den Wunsch der Frauen hervor, nicht nur in der Literatur, sondern auch im Leben Umgang mit jenen zu pflegen. Eine Folge hiervon sind die meist von Frauen geführten literarischen Salons, die um 1800 eine besondere Stellung im kulturellen Leben Deutschlands einnehmen. Ihnen ist als konkrete Auswirkung und letzte Stufe einer Popularisierung der Ästhetik ein kurzer Ausblick im letzten Kapitel gewidmet.

6

Vgl. hierzu Blanckenburg, Versuch über den Roman, Vorbericht, S. VIf.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

17

2

Das Verhältnis von Bildungsroman und Künstlerroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Am Beginn der Gattungsgeschichte von Bildungs- und Künstlerroman innerhalb der deutschsprachigen Romanproduktion steht Friedrich von Blanckenburgs Abhandlung Versuch über den Roman aus dem Jahr 1774, die jener kurz nach dem Erscheinen eines der bedeutendsten deutschsprachigen Romane des Jahrhunderts im Jahr 1766/67, Wielands Geschichte des Agathon, publiziert. Blanckenburg stellt sich damit gegen die allgemein angenommene Charakterisierung der Romanhandlung als Abenteuer- und Liebesgeschichte. Seine Abhandlung, die am Ende noch einmal ausdrücklich auf den Versuchscharakter des Werkes verweist: „Dies Wort [Versuch] selbst wird es erklären, was die ganze Schrift seyn soll. Ich habe nicht etwann den Gesetzgeber machen wollen; nur meine Meynung hab ich, frey sagen zu dürfen, geglaubt“7, greift sich die wenig geschätzte Gattung des Romans heraus, um in ihr eine der wichtigsten Gattungen der Moderne zu sehen.8 Dabei geht Blanckenburg zunächst von der allgemein geteilten Feststellung der minderen Qualität der zeitgenössischen deutschen Romanproduktion aus: Das Handlungsschema des Abenteuer- und Liebesromans heliodorischer Observanz zeichnet sich ab [in einer von Blanckenburg zitierten Skizze eines typischen Romanverlaufs], und der Autor charakterisiert die Gesinnung, die sich in einer solchen Handlung bekundet, mit den Worten: „Die Romanen aller Nationen scheinen dies mit einander gemein zu haben: – daß Männer ihre Zeit, ihre Ruhe, ihre höhere Bestimmung, zuweilen ihre Gesundheit, oder so gar das Leben dem andern Geschlechte aufopfern“ (VI). Liebe also als der Hebel und Angelpunkt aller Handlungen und Begebenheiten, als das einzige Lebensinteresse der Menschen, von denen 7 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 23, S. 528. 8

Bemerkenswerterweise wird diesem Versuch, die eigene Meinung zu sagen, eine moderne, für die Zeit der Entstehung typische Attitüde attestiert: Ein Rezensent der Allgemeinen Deutschen Bibliothek bemerkt, daß der Versuch „der ietzigen Mode zu Folge, mehr in einem fortlauffenden Raisonnement als in Vorschriften und Regeln“ bestehe. Zitiert nach Kurt Wölfel: „Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman“, in: Reinhold Grimm (Hrsg.), Deutsche Romantheorien, Band 1, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt/Main 1974, S. 29–60; S 29.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

19

der Roman erzählt; Blanckenburg knüpft daran die im 18. Jahrhundert aberhundertmal wiederholte Bemerkung über den „üblen Einfluß“ solcher Romane „auf die Sitten“, der „von unsern guten Müttern … beseufzt“ werde (VI). Wir treffen hier auf die Identität von Romanhandlung und Liebesintrige, die, vom Widerwillen der Kritiker begleitet, immer wieder im 18. Jahrhundert konstatiert wird.9 Um Abstand von jener negativen Bewertung des Romans zu gewinnen, legt Blanckenburg eine Unterscheidung zugrunde, die aus dem an Romanproduktionen sehr viel reicheren England stammt und die Prosawerke größeren Umfangs in „romance“ und „history“ kategorisiert.10 Indem Blanckenburg diese Klassifizierung übernimmt und den „History-Roman“ ausdrücklich als den „allein legitimen“11 Roman festlegt, hat er die Gattung ihrer „Fehltritte“ bereinigt und kann auf der Grundlage dieses neu gewonnenen Verständnisses seine Abhandlung fortsetzen. Obgleich Blanckenburg sich in der Schwierigkeit befindet, nur Wielands Agathon als musterhaften Roman gelten lassen zu können, entwirft er, mehr als Utopie und als zu erreichendes Ideal denn als Beschreibung der Realität zeitgenössischer literarischer Produktion, eine Theorie des Romans, die heute als „Ausgangspunkt für eine Forschungsgeschichte des Bildungsromans“12 angesehen wird: Damit nun dieser Geschmack weniger verdorben werden, damit der üble Einfluß der Romane auf die Sitten, von unsern guten Müttern weniger beseufzt werden möge, hab’ ich diese Bemerkungen niedergeschrieben. Sie sollen, wenns möglich ist, den Roman zur Wahrheit und Natur zurücke führen.13 Diese Vorstellung von der ‚wahren‘ Natur des Romans, die Blanckenburg hier andeutet und die er im Folgenden skizziert, indem er vor allem Beispiele für 9 Wölfel, Blanckenburgs Versuch über den Roman, S. 39. 10 Vgl. ebenda, S. 40. Wölfel verweist an dieser Stelle auch explizit darauf, daß englische Roman­ autoren, die einen Anspruch auf „weitere[…], vielfältigere[…] Lebens- und Geistesinteressen“ (ebd.) erheben, ihre Werke ausdrücklich als „history“ bezeichnen und sich damit abheben wollen von den auf eine sentimentale Liebesgeschichte konzentrierten, populären „romance“-Romanen. 11 Ebd., S. 41. 12 Rolf Selbmann (Hrsg.), Zur Geschichte des Bildungsromans, Darmstadt 1988 [Wege der Forschung, Band 640], Einleitung, S. 3. 13 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Vorbericht, S. VIf.

20

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

mögliche angemessene Themen und Handlungsführungen gibt,14 hat ihre konstitutive Basis in der mehr geforderten denn konstatierten Konzentration des Romans auf das Thema der Bildung. Die Bildung, die Blanckenburg hierbei im Auge hat, ist zunächst einmal die Bildung des Helden. Blanckenburg sieht den Roman als die der Moderne adäquate Form des epischen Großwerks in Analogie zum antiken und vor allem auch mittelalterlichen Epos an. Beiden gemeinsam sei die Darstellung einer Totalität.15 Diese Auffassung vom Roman als moderner Variante des Epos zieht bereits einige Vorgaben für Aufbau und Struktur des Romans nach sich. Sie ist nicht neu, sondern findet sich so etwa bereits bei Gottsched.16 Ihre prägnanteste Formulierung erfährt sie freilich später durch Hegel, der den Roman kurzerhand als „moderne bürgerliche Epopöe“17 bezeichnet. Insoweit schließt sich Blanckenburg also an schon bestehende Theorien zur Prosadichtung im Allgemeinen und zur Romandichtung im Besonderen an. Während das mittelalterliche Epos, vor allem das Heldenepos, zumeist von einem adligen Helden handelt, der je nach Stofftradition in kriegerische oder amouröse Konflikte verstrickt wird, ist der Held des Romans im 18. Jahrhundert häufig bürgerlich und muß sich demzufolge auch in einer bürgerlichen Gesellschaft zurechtfinden. Hierbei spielen nun zwangsläufig nicht mehr die großen Konflikte des Mittelalters, die Kreuzzüge ins Heilige Land oder die Schlacht gegen die Heiden auf europäischem Boden eine Rolle. Vielmehr sieht der Held sich in seiner persönlichen Laufbahn einer seinen Vorstellungen und Wünschen oftmals feindlich gesonnenen Gesellschaft gegenüber, gegen die er seine Ideale verteidigen muß. Diese Phase der Etablierung einer eigenen Lebenswelt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft fällt in den Romanen meist mit dem Eintritt eines Jünglings ins Erwachsenenalter zusammen, wenn der Protagonist sich herauslöst aus den Zwängen des Elternhauses, dessen Regeln und Denkweisen zuvor verbindlich waren, um eine eigene Familie, einen eigenen 14 Vgl. hierzu ebd., S. XX, wo Blanckenburg ankündigt: „Übrigens zerfällt mein Werk von selbst in zwey Theile. In dem erstern finden sich Betrachtungen über das Anziehende einiger Gegenstände; im zweyten ist die Rede von der Kunst des Dichters, in Rücksicht auf die Anordnung und Ausbildung der Theile und das Ganze des Romans.“ 15 Vgl. Wölfel, Blanckenburgs ‚Versuch über den Roman‘, S. 42: „Er [der Roman] hat vielmehr auch darin die Nachfolge des Epos angetreten, daß er die Totalität des Lebens zur Darstellung bringen kann und soll.“ 16 Wölfel weist darauf hin, daß diese These, die lange Zeit als von Blanckenburg stammend galt, bereits vor ihm sowohl bei Gottsched in der Critischen Dichtkunst, als auch in einer Rezension des Teutschen Merkur vertreten wurde und demnach zum common sense der Zeit gehörte. Vgl. ebd., S. 41, FN 31. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band 14: Vorlesungen über die Ästhetik 2, Frankfurt/Main 4 1995, S. 392.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

21

Hausstand zu gründen; dies nun freilich nach seinen eigenen Vorstellungen, die zu entfalten er erstmals die Freiheit und auch den Drang verspürt. Die Zukunftswünsche des jungen Helden sind von Fall zu Fall mehr oder weniger kompatibel mit den Forderungen der Außenwelt, es kommt aber in allen Fällen zu einem Konflikt, den der Protagonist auszutragen hat. Daß dieser Konflikt nicht immer zugunsten des Helden entschieden werden kann, ist konventionell, wobei meist gerade die Niederlage einen Schritt im Reifungsprozeß des Jünglings darstellen soll. Dieses Reifen an den Niederlagen und Blessuren, die der Protagonist auf dem Weg zu seinem Platz in der Gesellschaft durchlebt, hat Hegel in seiner berühmten Passage zum Roman ironisch und zugleich äußerst treffend formuliert: Sie [die Romanhelden] stehn als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe […]. Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinen Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.18 Die Reifung, die oftmals mit einer Form von Ausbildung und somit Bildung im allgemeinen Sinn einhergeht, ist folglich schon seit Anbeginn der Theorie zum Roman ein integraler Bestandteil derselben. Dabei gilt festzuhalten, daß die Bildung als zentrales Thema des Romans schon 50 Jahre vor der Einführung des Terminus’ „Bildungsroman“ durch den Dorpater Ästhetikprofessor Karl 18 Hegel, Ästhetik, S. 219f.

22

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Morgenstern (1770–1852) in seiner Vorlesung Über das Wesen des Bildungsromans im Jahre 1820, festgelegt wurde. Morgenstern, der die viele Jahrzehnte zuvor erschienene Abhandlung von Blanckenburg kannte, führt lediglich eine Unterscheidung ein, die bis heute Bestand hat, zugleich aber eine nicht enden wollende Reihe an Auseinandersetzungen nach sich gezogen hat: Die Bestimmung des Bildungsromans als einer Untergattung des Romans: „Für heute will ich […] von der vorzüglichsten unter den vielen Arten des Romans reden, die mir mit einem, meines Wissens bisher nicht üblichen Worte, Bildungsroman zu nennen erlaubt sey.“19 Was Blanckenburg verbindlich für den Roman als Gattung im Ganzen festgelegt hat, wird jetzt vordergründig zum Signum eines Teils der Romanproduktion, welcher nun allerdings nur mit äußersten Schwierigkeiten von benachbarten Untergattungen wie dem Entwicklungsroman und dem Erziehungsroman abgegrenzt werden kann.20 Der Zusammenhang der Bildung des Subjekts, die im Roman des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund rückt, mit den zeitgenössischen Entwicklungen gesellschaftlicher und politischer Art ist hinreichend abgehandelt worden21 und läßt sich in zwei Punkten grob zusammenfassen: Zum einen rückt im Zeitalter der Aufklärung das Subjekt in den Vordergrund. Dies hängt in erster Linie mit 19 Karl Morgenstern „Über das Wesen des Bildungsromans“, Vortrag, gehalten den 12. December 1819, zitiert nach: Rolf Selbmann (Hrsg.), Zur Geschichte des Bildungsromans, a.a.O., S. 55–72; S. 55. 20 Vgl. hierzu die aktuelle Literatur zum Bildungsroman, die sich noch heute, nach über 200 Jahren, schwer tut mit einer substantiellen Abgrenzungen dieser Gattungen voneinander. Vgl. Ortrud Gutjahr, Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007 [Einführungen Germanistik], S. 13: „Der Bildungsroman hat mit dem Erziehungsroman zunächst einmal gemeinsam, dass eine Hauptfigur im Zentrum steht, die ihre Anlagen stufenweise entfaltet, und zeichnet sich wie der Entwicklungsroman durch die Darstellung eines Reifungsprozesses aus. Entscheidender Unterschied zu den beiden verwandten Romantypen ist jedoch, dass im Bildungsroman die Fähigkeit, das eigene Gewordensein und damit gerade Erziehung und Entwicklung kritisch zu hinterfragen, als grundlegende Bildungsvermögen zum Thema wird. Bildung umfaßt immer einen körperlichgeistigen Reifungsvorgang wie auch eine Auseinandersetzung mit geschlechterdifferenten Rollenvorgaben und kulturspezifischen Wertkontexten.“, um später schließlich zu folgern: „Somit wohnt dem Bildungsroman immer auch ein grenzüberschreitendes, innovatives Moment inne, das auf kulturelle Veränderung hindeutet.“ (S. 14) Ebensowenig kann die von Jacobs und Krause vorgenommene Gattungsbestimmung überzeugen, in: Jürgen Jacobs, Markus Krause, Der deutsche Bildungsroman. Gattungeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989 [Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte] S. 37: „Der Gattung sollen Werke zugerechnet werden, in deren Zentrum die Lebensgeschichte eines jungen Protagonisten steht, die durch eine Folge von Irrtümern und Enttäuschungen zu einem Ausgleich mit der Welt führt. […] Zu den Merkmalen des Bildungsromans gehört, daß sein Protagonist ein mehr oder weniger explizites Bewußtsein davon hat, nicht bloß eine beliebige Folge von Abenteuern, sondern einen Prozeß der Selbstfindung und der Orientierung in der Welt zu durchlaufen.“ 21 Vgl. z.B. Peter V. Zima, Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen/Basel 2008; Einleitung: Soziologische, ästhetische und poetologische Prolegomena, S. 1–31; Jacobs, Krause, Bildungsroman, Arbeitsbereich II: Aufklärung, S. 39–46; Gutjahr, Bildungsroman, Kapitel III: Entstehungsbedingungen der Gattung, S. 26–39.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

23

den Prinzipien des aufklärerischen Denkens zusammen, das den Einzelnen und dessen Fähigkeiten und Rechte in den Blick nimmt und aufwertet. Auch spielen frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte eine Rolle wie zum Beispiel die Gründung der Herrnhuter Brüdergemeinde oder die Ausbreitung des Pietismus, innerhalb derer eine Loslösung von den Zeremonien der Kirche als Institution zugunsten einer privateren Auffassung von Religiosität und Frömmigkeit stattfindet bis hin zum persönlichen Zwiegespräch mit dem Herrn, das keiner äußeren Rituale mehr bedarf.22 Mit der Aufwertung des Verstandes des einzelnen und seines kritischen Denkens geht unweigerlich ein Interesse für dessen Bildung einher, die ihn überhaupt erst befähigt, sich seines Verstandes zu bedienen. Zum anderen ist der endgültige Verlust eines verbindlichen Weltbildes, wie es im Mittelalter und auch noch in den folgenden Jahrhunderten die Religion zur Verfügung gestellt hatte, eine wesentliche Erfahrung des Menschen. Dies hängt eng zusammen mit dem Voranschreiten der Aufklärung, aber auch die Fortschritte der Naturwissenschaften tragen zu einer zunehmenden Verunsicherung bei. In dieser Zeit des Umbruchs, der Neuorientierung, aber auch des neuen Selbstbewußtseins fordert Blanckenburg für die Gattung Roman, daß sie die „innere Bildung“ eines Menschen darstelle: Hierinn liegt auch der eigentliche Unterschied zwischen Drama und Roman. So wie jenes die Personen braucht, damit eine Begebenheit ihr Daseyn erhalte, weil wenn wir Shakespears historische Schauspiele ausnehmen, nur eine Begebenheit der eigentliche Innhalt desselben ist, eben so hat der Roman mehrere und besondere Begebenheiten, die sich in einem größern Umfange von Zeit zutragen, mit einander zu verbinden; und diese Verbindung kann nun nichts anderes, als natürlich durch die Formung und Ausbildung, oder innre Geschichte eines Charakters er­ halten werden. […] Dem Romanendichter aber ist die Veränderung des innern Zustandes seiner Personen eigenthümlich. Die innre Geschichte

22 Der Beginn dieser neuen Auffassung von Religiosität liegt bereits im England des 17. Jahrhunderts mit der Entstehung neuer, calvinistischer Glaubensrichtungen. Besonders die Gruppierung der Quäker ist hierbei zu nennen. Sie gehören „mit zu den radikalsten. Radikalität äußert sich vor allem in der Konsequenz, mit der der Prozeß der Wahrheitsfindung entinstitutionalisiert [Hervorhebung S.K.], an innere Überzeugungen gebunden und auf Übersetzung in alltägliches Handeln gerichtet ist.“ (Jürgen Schlaeger: „Vom Selbstgespräch zum institutionalisierten Dialog. Zur Genese bürgerlicher Gesprächskultur in England“, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsgg.), Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 361–376; S. 365.

24

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

des Menschen, die er behandelt, besteht aus einer Folge abwechselnder und verschiedener Zustände.23 Hier mag nun in der Tat bei Blanckenburg ein Unterschied zum Erziehungsroman vorliegen, der die von außen oktroyierte Erziehung des Helden zu einem funktionierenden Glied der Gesellschaft zum Thema hat und vor allem die Entwicklung und die Früchte dieser oft auch gewalttätigen Anpassung des Einzelnen nachvollzieht:24 Diese innere Bildung ist nicht nur ein äußeres Einfügen in die Gesellschaft, sondern soll auch den inneren Prozeß der Subjektwerdung umfassen. Nicht zufällig entsteht in der zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Roman, der als erster psychologischer Roman in Deutschland gilt: Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, der den bezeichnenden Untertitel Ein psychologischer Roman trägt.25 Dabei ist für den Bildungsgedanken des 18. Jahrhunderts zunächst der Begriff der ‚Bildsamkeit‘ zentral: „Das Prinzip der Bildsamkeit legt seit dem 18. Jahrhundert die wesentlichste Voraussetzung für den Bildungsprozeß fest, nämlich die formbare, selbstreflexive Individualität.“26 Diese Individualität, die am Ende des Bildungsprozesses eine geformte, gebildete, vervollkommnete sein soll, ist als Ich-Identität das Ziel sowohl der Bildung selbst als auch des Bildungsromans, unabhängig von seinen konkreten Themen: „Die personale Ich-Identität ist als rein formale Zielbestimmung des Bildungsprozesses des jugendlichen Menschen zu begreifen, da sie mit zahlreichen geschichtlichen Inhalten verträglich ist.“27 Der Held des modernen Romans, den der Leser durch seine äußeren und inneren Nöte und Gefahren begleitet, stellt ein Identifikationsangebot für den Leser dar, der sich seinerseits mit einer undurchdringlichen und seinen Wünschen vielleicht nicht gemäßen Umwelt auseinandersetzen muß, zugleich ist er aber auch symbolische Personifikation der Gesellschaft selbst, die sich am Übergang aus dem Stand der kindlichen Unmündigkeit und Bevormundung durch Staat und vor allem Religion in einen Stand der Selbstbestimmung befindet, dem sie jedoch zunächst nicht immer gewachsen scheint. Am deutlichsten zeigt dies am Ende des Jahrhunderts die Französische Revolution, die denn auch zu empfindlichen Desillusionierungen unter den Aufklärern, allen voran Friedrich Schiller, geführt 23 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 10, S. 390f. 24 Vgl. hierzu bspw. Gutjahr, Bildungsroman, S. 13. 25 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, 4 Teile, Berlin 1790. 26 Gerhart Mayer, Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 12. 27 Ebd., S. 13.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

25

hat. Seine Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen geben hiervon ein eindrucksvolles Bild ab. In seinen Schriften finden wir deutlich formuliert, was im 18. Jahrhundert untrennbar mit dem Konzept der Bildung verknüpft ist: Es ist das Hinzutreten einer sittlichen Qualität, die neben dem Erwerb von Wissen das eigentliche Ziel der Bildung eines Individuums ist. „Seit dem 18. Jahrhundert bedeutete Bildung stets Entwicklung zur Humanität, deren Inhalte freilich in jeder Epoche neu definiert wurden.“28 Da diese gesellschaftliche Situation nicht nur den Einzelnen, sondern die Gesellschaft als Ganze und damit wiederum den Einzelnen als Glied dieser Gesellschaft fordert, ist die Bildung in jeder Hinsicht ein wichtiges Thema der Aufklärung. In diesem Zusammenhang wird eine weitere Komponente in Blanckenburgs Romantheorie relevant: Blanckenburg spricht zwar von der inneren Bildung des Helden im Roman, doch geht es ihm zugleich und nicht minder um die Bildung des Lesers. Dabei zielt die Erregung der Empfindungen auf eine Übung derselben ab: „Es ist das Geschäft des Dichters, durch die Erregung der Leidenschaften seiner Leser, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Empfindungen in dem gehörigen Maaß, und für solche Gegenstände auszubilden, die es werth sind, uns in Bewegung zu setzen.“29 So erreicht der Dichter sein eigentliches und höchstes Ziel: Der Dichter soll die Empfindungen des Menschen bilden; er soll es uns lehren, was werth sey, geschätzt und geachtet, so wie gehaßt und verabscheut zu werden. Er soll unsre Empfindungen nicht irre leiten; sondern uns Gelegenheit verschaffen, sie an würdigen Gegenständen zu üben, damit hernach, in der Wirklichkeit, wir sie nie verschwenden, oder unrecht ausspenden.30 Indem der Leser die Bildungsgeschichte des Protagonisten verfolgt und dabei Siege wie auch Niederlagen mitempfindet, durchlebt er gleichsam selbst eine Bildungsgeschichte, wenngleich nur in der Imagination, in der Phantasie. Selbmann betont diese Doppelbestimmung der Bildung im Bildungsroman bei Morgenstern, der an dieser Stelle über Blanckenburg hinausgeht:

28 Ebd., S. 14. 29 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 13, S. 424. 30 Ebd., Teil II, Kapitel 15, S. 435.

26

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

An Morgensterns Bildungsroman-Definition, bei der er übrigens den Begriff der ‚Bildungsgeschichte‘ wieder aufnimmt, sollte man die Zweiteilung in einen stofflich motivierten, stufig aufgebauten Bildungsweg des Helden und in einen Bildungsprozeß des Lesers nicht übersehen. Hier wäre – dies als Vorgriff – bei der Unterscheidung zwischen Bildungsroman und Entwicklungsroman vielleicht anzusetzen.31 Übereinstimmend mit Schillers Forderung, der Mensch müsse in der Kunst, im Raum des Ästhetischen, diejenigen Fähigkeiten einüben, die er später im ‚wahren Leben‘ benötigt, liegt auch bei Blanckenburg die Annahme zugrunde, daß der Leser Bildungsfortschritt und Erkenntnisgewinn durch die Lektüre eines (Bildungs-)Romans erzielen könne: „die literarische Funktion des auf diese Weise entstandenen Bildungsromans ist dann als ‚identitätsstiftende, politische Defizite ausfüllende literarisch-soziale Institution‘ begreifbar“32. Dabei wird eine Besonderheit in der Anlage des Erzählers im Bildungsroman deutlich, der dem Protagonisten des Romans intellektuell überlegen sein sollte. Selbmann weist darauf hin, daß Dilthey in seiner Abhandlung über das Leben Schleiermachers aus dem Jahr 1870 auf diese Besonderheit zu sprechen kommt, indem er schreibt: „Und über die dargestellten Gestalten erhebt das Auge sich zum Darstellenden.“33 Und schon vor ihm hatte Karl Rosenkranz in seiner Einleitung über den Roman ausgehend von Cervantes Don Quijote, Goe­ thes Wilhelm Meister und Jean Pauls Titan eine dem Protagonisten intellektuell überlegene Erzählerfigur konstatiert: „Ueber seinem gewöhnlichen Bewußtsein hat der Ritter [Don Quijote] ein zweites.“34 An einer Scharnierstelle zwischen 31 Rolf Selbmann (Hrsg.), Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, a.a.O.; Einleitung, S. 13. Vgl. auch ders.: „Bildungsroman“, in: ebd., S. 18–23. 32 Selbmann, Bildungsroman, S. 24. Blanckenburg führt dazu aus: „Wenn es also dem Dichter darum zu thun ist, seine Leser mit ihren Empfindungen, zu ihrer Glückseligkeit, haushalten zu lehren, oder, mit andern Worten, wenn der Dichter, durch die Erregung der Leidenschaften, zur Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts etwas beytragen soll (der Endzweck, der vorhin für den Dichter festgesetzt worden ist) – so ist nichts lächerlicher und seltsamer, als den Leser mit Geschöpfen zu unterhalten, und seine Empfindungen für Kreaturen rege zu machen, wie sie solche in der wirklichen Welt nie finden können.“ (Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 15, S. 439), und wenig später resümiert er: „Es ist gesagt worden, daß der Romanendichter seine Leser mit so genannten vollkommnen Charakteren unterhalten könne; und es ist nachher bemerkt worden, daß die Hauptperson eines Romans vor den Augen des Lesers, durch die ihr zugestoßenen Begebenheiten und Schicksale geführt, einen Grad der Vollkommenheit erlangen könne, der alle Unwahrscheinlichkeit, alle Bedenklichkeiten, alles Unmoralische und Unlehrreiche dabey heben könne.“ (Ebd., S. 443) 33 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, 1. Band, Berlin 1870, S. 282. 34 Karl Rosenkranz: „Einleitung über den Roman“, in: Rolf Selbmann, Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, a.a.O., S. 100–119; S. 112 (zuerst veröffentlicht in: Aesthetische und Poetische Mitteilungen, Magdeburg: Heinrichshofen 1827, S. 3–40).

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

27

der Fiktionsebene der Geschichte und der Realitätsebene des Lesers, der aus dem Gelesenen Schlüsse für sein eigenes Leben ziehen können soll, angesiedelt, kommt es der Figur des Erzählers zu, die Perspektive des Lesers entsprechend zu lenken und gegebenenfalls die Irrtümer und Niederlagen des Protagonisten in einem angemessenen Licht erscheinen zu lassen.35 Was textimmanent als das Spannungsverhältnis zwischen zu bildendem Protagonisten und gebildetem Erzähler erscheint, wird übertragen auf das Verhältnis von gebildetem Autor und zu bildendem Leser, dessen Entwicklung zur Humanität und zur Identität ein Hauptanliegen der Bildungsidee innerhalb der Theorie des Bildungsromans ist: Es hatte sich jetzt eine vom neuen bürgerlichen Lesepublikum getragene literarische Öffentlichkeit gebildet, in der sich der Dritte Stand über seine Normen und Wertvorstellungen verständigen konnte. Gerade vom Roman erwartete man, er könne den Leser dessen humaner „Bestimmung […] näher bringen“.36 Somit wird die Popularität der Gattung Roman im 18. Jahrhundert im Sinne eines aufklärerischen Bildungsideals genutzt, indem die Gattung mit einem Bildungsauftrag ausgestattet und somit aufgewertet wird. Was zuvor als Gefahr vor allem für junge Mädchen, für die die Romanlektüre oftmals der einzige Zugang zur Außenwelt und zu vermeintlicher Lebenserfahrung war, eingeschätzt und dementsprechend verteufelt wurde,37 wird nun als Möglichkeit erkannt, diejenigen Bevölkerungsschichten zu erreichen, die aus verschiedenen Gründen zunächst von der Bildung ausgeschlossen sind. Für diesen Gedanken der Bildung über den Umweg der Literatur spielt die Auffassung eine wichtige Rolle, daß der Verstand nicht nur über logische Argumente angesprochen werden könne, sondern ebenso über die Wahrnehmung, über die Empfindungen. Diesen Weg zum Kopf über das Herz hat auch Sulzer im Blick, wenn er bemerkt, daß es den schönen Künsten zukomme,

35 Monika Schrader geht in ihrer Studie von dieser strukturellen Anlage des Bildungsromans aus, die sie als typische Erzählstruktur identifiziert und zur Basis ihrer Analysen ausgewählter Bildungsromane macht. Monika Schrader, Mimesis und Poiesis. Poetologische Studien zum Bildungsroman, Berlin 1975. 36 Mayer, Bildungsroman, S. 29. 37 Vgl. die zahlreichen Diskussionen um den verderblichen Einfluß des Lesens auf die Frauen, die noch in der Einleitung von Blanckenburgs Abhandlung zitiert werden (Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. VI).

28

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

die Lehren der Philosophie dem Gemüthe mit einer Kraft einzudrücken, dergleichen die nackte Wahrheit niemals hat; sie müssen sich der Einbildungskraft und des Herzens der Menschen bemächtigen, um sie nach dem erhabenen Ziele zu lenken, welches uns die Philosophie vorgesetzt hat.38 Dies ist ein Privileg der Kunst, die im Gegensatz zu Philosophie und Wissenschaft die sinnlichen Erkenntnisvermögen anspricht.39 Wie auch Schiller in seinem Konzept der Erziehung des Menschen die Kunst und den ästhetischen Staat als einen Zustand des Übergangs ansieht, der zum ethischen Staat hinführen soll, so wird im 18. Jahrhundert der Kunst überhaupt eine entscheidende Funktion für die (sittliche) Bildung des Menschen und seine Reifung zum reflektierenden Individuum zugesprochen.40 Die Aufladung der Kunst mit einem Bildungsauftrag auf der einen Seite und die unermüdlich geführte Diskussion um die Ästhetik, die Kunst und das Schöne im philosophischen Sinn auf der anderen Seite sind der Kontext, in dem die Künstlerromane betrachtet werden müssen, die zeitgleich mit den ersten Bildungsromanen, ja teilweise sogar schon früher entstehen.41 Die Spannungen zwischen ungebildetem Protagonisten und gebildetem Erzähler begegnen uns insofern in potenzierter Form, als der sich in einem Lernprozeß befindliche Protagonist ein Künstler oder zumindest ein angehender Künstler ist. Indem der Bildungsweg eines Künstlers beschrieben wird, welcher zwangsläufig 38 Johann Georg Sulzer: „Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste“, in: Ders., Vermischte philosophische Schriften, 2 Bände, Leipzig 1773, Nachdruck Hildesheim/New York 1974, Band 1, S. 123. 39 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58), lat.-dt., übers. und hrsg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, §§ 1–4, S. 2/3. 40 Zum Zusammenhang von Kunst und Pädagogik bei den Autoren Hegel, Comte und Goethe vgl. Zima, Der europäische Künstlerroman, S. 12–22. Dieser Zusammenhang spielt jedoch auch schon zuvor und das ganze 18. Jahrhundert hindurch eine zentrale Rolle. Die Verbindung von Sittlichkeit, Ästhetik und Kunst stellt Bachmann-Medick ins Zentrum ihrer Untersuchung, in der sie schon zu Beginn ankündigt: „In dieser Arbeit soll gezeigt werden, wie die hier [in einem Zitat von J.A. Eberhard aus dessen Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (1776)] noch sehr allgemein angesprochene ‚glückliche Verbindung‘ von Moralphilosophie und Ästhetik neue Einsichten in die ästhetischen Strategien der Aufklärung im Feld der populären Moralphilosophie vermittelt. Die ästhetische ‚Belebung‘ und ‚Lenkung‘ moralischen Handelns ist für die Popularphilosophie lediglich der Ausgangspunkt für die weitergehende Frage, wie das (moralische) Handeln nicht nur von der Vernunfttätigkeit, sondern von den ästhetischen Aktivitäten selbst ‚geordnet‘ werden kann.“ Bachmann-Medick, Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 7. 41 Zu nennen sind hier neben den zur Analyse ausgewählten Romanen Wilhelm Heinse: Ardinghello (1787), Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (1798), Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785) und Jean Paul: Flegeljahre (1804) auch Novalis Heinrich von Ofterdingen (ca. 1800), aber auch Jean Pauls Roman Titan (1800–1803) und E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana (1810–1815) sowie seine Lebensansichten des Katers Murr (1820–1822). Ob und inwiefern Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) in diese Reihe der Künstlerromane einzuordnen ist, wird im folgenden Kapitel diskutiert.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

29

auch die Produktion von Kunstwerken einschließt, begibt sich der Roman auf eine metapoetische Ebene, auf der in einer autoreflexiven Bewegung die Entstehungsbedingungen des Romans selbst thematisiert werden. Die Vervielfachung des kunstschaffenden Subjekts, die durch eine Spiegelung des Autors in den Text hinein, welche mit einer Aufspaltung in den schon wissenden Erzähler und den noch lernenden Helden einhergeht, erzeugt wird, führt zu einer Autoreferentialität der Künstlerromane, die nicht mehr kompatibel erscheint mit dem ursprünglichen Gedanken an eine Bildung des Lesers, die mit der Bildung des Helden im Roman gleichzeitig einhergehen soll. Der Künstlerroman ist ein schwer einzuordnendes Genre, er findet auch zunächst keinen rechten Platz in den Gattungseinteilungen. Dilthey spricht vom Künstlerroman als einer Gattung, zu welcher der Bildungsroman als Untergattung gehört,42 während in der späteren Forschung der Künstlerroman zuweilen auch als Untergattung des Bildungsromans gesehen wird. Dies hängt hauptsächlich damit zusammen, daß Goethes vielgerühmter und viel besprochener Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre als Bildungsroman par excellence gilt43 und schon kurz nach seinem Erscheinen als Muster der Gattung angesehen wird. Fortan ist ein Sprechen über den Bildungsroman nur noch vor dem Hintergrund des Wilhelm Meister möglich, eine Gattungsgeschichte nur noch schreibbar als Geschichte des Wilhelm Meister und seiner Nachfolger.44 Trotz seiner Exemplarität für die Gattung des Bildungsromans enthält Wilhelm Meisters Lehrjahre allerdings auch Elemente, die ihn der Gattung des Künstlerromans nahebringen: Der Protagonist des Romans, Wilhelm, möchte aus der für ihn vom Elternhaus vorgesehenen Laufbahn ausbrechen und strebt statt einer kaufmännischen Karriere eher eine künstlerische an. So spielt auch die Kunst in verschiedener Hinsicht und Ausprägung eine zentrale Rolle im Romangeschehen, und mit dem Exkurs über Shakespeare und das Theater, der noch auf die Theatralische Sendung zurückgeht,45 42 Vgl. hierzu Selbmann, Bildungsroman, S. 16: „Als Dilthey nun seine Bildungsroman-Prägung einführt, meint er dreierlei: […] 3) den Bildungsroman als Unterart des ‚Künstlerromans‘!“ 43 Vgl. hierzu ebd, S. 58: „Die ersten verständnisvollen und für die Wirkungsgeschichte so folgenreichen Leser haben, zum Teil vor der Vollendung eingeweiht, Goethes 1796 erschienenen Roman [Wilhelm Meisters Lehrjahre] sogleich auf das Bildungsroman-Paradigma festgenagelt. Die Zitate und Kommentare Friedrich Schillers, Friedrich Christian Körners, Wilhelm Humboldts und Friedrich Schlegels sind bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.“ oder: Selbmann, Geschichte des Bildungsromans, S. 6–9: Exkurs: Die Auseinandersetzung mit Goethes ‚Wilhelm Meister‘. 44 Vgl. hierzu Jürgen Jacobs Antrittsvorlesung Wilhelm Meister und seine Nachfahren, die bereits im Titel auf diese Besonderheit der Gattungsgeschichte Bezug nimmt. 45 Zunächst plante Goethe einen Roman mit dem Titel „Die theatralische Sendung“, die Arbeiten an ihm lassen sich bis in das Jahr 1777 zurückverfolgen. Dieser sieht das Eintreten des Protagonisten in die Theaterkompanie vor, sein Abschluß sollte wahrscheinlich der Abschluß des Vertrags als

30

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

sind sogar die Theorie der Kunst und die Ästhetik als Diskussionsfeld präsent. Zwar führt Wilhelms Weg letztendlich weg von der Kunst, zu der er sich dann doch nicht berufen und genügend begabt fühlt, jedoch ist dies auch innerhalb des Künstlerromans keine Ausnahme: Anton Reisers Weg in die Kunst wird nicht vollzogen und auch Heinses Ardinghello, der ja als erster und einer der bedeutendsten Künstlerromane dieser Zeit gilt, endet scheinbar mit einem Rückzug Ardinghellos aus der Kunst. Da nun also Wilhelm Meister zugleich als Künstlerroman und als perfekter Bildungsroman gilt, wird eine Abgrenzung der Gattungen nahezu obsolet. Außerdem erscheinen die Zuschreibungen annähernd identisch. Das zentrale Thema ist gekoppelt an die Figur des Protagonisten, der in diesem Fall ein Künstler ist, im Bildungsroman bleibt dies offen. Der Akzent des Künstlerromans läßt sich näher bestimmen als gekennzeichnet durch die Spannung von eigenen Vorstellungen („Kunstwirken“) und gesellschaftlichen Normen („Lebenswirklichkeit“). Der Künstlerroman erscheint also als eine Art Bildungs- oder Entwicklungsroman, der sich von diesen nur durch die Berufswahl des Protagonisten unterscheidet. Angesichts dieser Schwierigkeiten der Gattungsdefinition vermeiden die meisten Untersuchungen zum Roman eine Definition und Abgrenzung des Künstlerromans, Untersuchungen speziell zum Künstlerroman setzen ein Verständnis dessen, was den Künstlerroman auszeichnet, stillschweigend voraus.46 Erich Meuthen resümiert diese Situation folgendermaßen: Seit dem Erscheinen von Heinses ‚Ardinghello‘ (1787) und Tiecks ‚Franz Sternbalds Wanderungen‘ (1798) ist der Begriff ‚Künstlerroman‘ gängig. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte ist er jedoch kaum mehr von Belang. […] Zwar wird der Begriff beiläufig noch verwendet, nicht jedoch in leitender, die Untersuchung ausrichtender Funktion. Im Gegenteil ist das Bemühen erkennbar, ihn zu vermeiden Schauspieler werden. Nach einer längeren Pause, in die auch der Aufenthalt in Italien fällt, setzt Goethe die Arbeiten am Roman fort und gestaltet ihn um zu dem Roman, der unter dem Titel „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vorliegt. 46 Vgl. Zima, Der europäische Künstlerroman, der dieser Frage ein schmales Kapitel („Künstlerroman und Bildungsroman: Novalis gegen Goethe“, S. 58–64) widmet, dort aber weniger auf strukturelle oder konstitutive Unterschiede der Romanarten eingeht, denn auf die schon im Titel angedeutete Distanzierung Novalis’ von Goethes Roman, den er zunächst hoch gelobt hatte, und Sabrina Hausdörfer, die mit ihrem Buch Rebellion im Kunstschein. Die Funktion des fiktiven Künstlers in Roman und Kunsttheorie der deutschen Romantik, Heidelberg 1987, dem Künstlerroman eine ganze Studie widmet, ohne jedoch genauer auf das Definitionsproblem der Gattung einzugehen. Sie beschränkt sich auf einen Forschungsüberblick zum romantische Künstlerroman (Forschungsbericht zur wissenschaftlichen Literatur über romantische Künstlerromane, -erzählungen, S. 37–55).

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

31

oder seine Bedeutung herunterzuspielen. Das gilt auch für die hier diskutierten Werke. Viele ihrer Interpreten betonen, daß es sich nicht oder nur auf einer zu vernachlässigenden Sinnebene um Künstlerromane handelt. Selbstverständlich wird die besondere Bedeutung der Künstlerthematik nicht geleugnet, vor allem nicht in Arbeiten zum romantischen Roman. Diskutiert wird sie meist jedoch im Lichte des (von Karl Morgenstern eingeführten und durch Dilthey verbreiteten) Bildungs- bzw. Entwicklungsromanbegriffs.47 Er betont, daß die Zuordnung eines Romans zur Gattung des Künstlerromans in der Regel anhand des dargestellten Subjekts getroffen wird, ein Vorgehen, dem Meuthen den Blick auf strukturelle Besonderheiten entgegenhält.48 Eine bedeutende Rolle herbei spielen Spannungen, deren Anlage bereits beim Bildungsroman deutlich wurde in der Spannung zwischen gebildetem Erzähler und noch zu bildendem Protagonisten. Die bereits angesprochene Potenzierung dieser Spannung im Künstlerroman, der mit dem Bildungsweg eines Künstlers den eigenen Entstehungsprozeß thematisiert, stellt auch Meuthen in den Mittelpunkt. Dabei kommt ein destruktives Potential der Romane zum Vorschein: Die Romane sind meist fragmentarisch, oft vollzieht der Künstler einen Abschied von der Kunst,49 die „metonymischen Verkehrungen“, die die Autoreflexivität der Gattung bewirken und die ihre eklatanteste Ausprägung „in der Vorstellung des Erzählers als Produkt der Erzählung, die er selbst hervorbringt“50 erfahren, scheinen sich gegen jede Rationalität zu stellen. Der offene Ausgang des Bildungsprozesses, der bereits als Merkmal der Bildungsromane erkannt wurde51 und der sich der angestrebten Vervollkommnung des Menschen durch Bildung entgegenzustellen scheint, wird in der tatsächlichen Fragmentarität der Künstlerromane auf die Spitze getrieben. Somit wird nicht nur die Ankunft in einem Zustand der abgeschlossenen Bildung dementiert und damit an den Grundfesten 47 Erich Meuthen, Eins und doppelt oder Vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans, Tübingen 2001 [Studien zur deutschen Literatur, Band 159], S. 2. 48 Vgl. ebd., S. 3ff. 49 Vgl. nicht nur Goethes Wilhelm Meister, sondern auch Heinses Ardinghello, Moritz’ Anton Reiser u.v.m. Dies nun als ein „Abstoßen der Hörner“ im Hegelschen Sinn zu deuten, wonach der Wunsch, ein Künstlerdasein zu führen, lediglich eine jugendliche Exaltation darstellt, die sich im Laufe des Bildungsgangs zugunsten vernünftigerer Projekte und Lebensweisen verliert, würde den Künstlerroman zwar dem Schema des Bildungsromans einverleiben, erscheint mir jedoch höchstens im Fall des Wilhelm Meister plausibel. 50 Meuthen, Eins und doppelt, S. 15. 51 Vgl. hierzu Selbmann, Bildungsroman, S. 23.

32

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

aufklärerischer Gedanken gerüttelt, sondern zugleich auch das Subjekt als mit sich selbst identisches Individuum in Frage gestellt. Es wird vielmehr gezeigt als ein Subjekt, das als ‚Ich‘ das Erzeugnis eines topischen Erfindungs- und Bildschöpfungsprozesses ist.52 Indem die Abgrenzung von darstellendem Künstler und dargestelltem Künstler verschwimmt, erscheint die Kunst nicht mehr als imitatio der Wirklichkeit, sondern als inventio derselben, das reale Sein, auf das die künstlerische Sprache ohnehin nicht verweisen kann, wird durch den im Kunstwerk erschaffenen Schein überwunden.53 Die „schizophrene Tendenz“54, die Meuthen den Künstlerromanen attestiert, da diese in ihrer ganzen Anlage den Sinn, der gesucht wird, dementieren und das Werk als geschlossene Einheit leugnen, manifestiert sich auch in der schon beschriebenen Potenzierung der Spannungsverhältnisse. Der schon für den Bildungsroman als konstitutiv angesehene Konflikt des Individuums mit der Außenwelt stellt sich im Künstlerroman verstärkt dar, da sich die Berufung zum Künstler als in besonderem Maße nicht kompatibel mit den gängigen Vorstellungen der Gesellschaft erweist. Der Künstler im Roman trägt den Konflikt aus, den die Ästhetik seit ihrem Entstehen als philosophische Disziplin im Jahr 1750 gegen ein Umfeld zu kämpfen hat, das ihr die Anerkennung verweigert. Dieser Zwang zur Selbstrechtfertigung, die bereits in Baumgartens Aesthetica die Geburt der neuen Disziplin begleitet, gewinnt im Künstler des Künstlerromans eine personale Identität. Hinzu kommt das Spannungsverhältnis von Theorie der Kunst und Kunstausübung, vom Sprechen über die Kunst und künstlerischem Schaffen auf der anderen Seite, das zumeist als Krise des Subjekts empfunden wird und auch nicht nachhaltig gelöst werden kann. Wo das offene Ende des Bildungsromans andeutet, daß der Bildungsprozeß des Individuums niemals abgeschlossen sein kann, zieht der Künstlerroman seine Konsequenzen, indem er Fragment bleibt. Eine (Auf-)Lösung der Konflikte scheint nicht möglich, oder aber nur möglich als Rückzug des Protagonisten in die Innerlichkeit55 oder als Flucht in eine Utopie, deren Status als Gegenentwurf zur Realität allerdings zweifelsfrei ist.56 Die Spannungsverhältnisse im Künstlerroman, die als zentrales Strukturelement erscheinen, sind allesamt verknüpft mit dem Element, das den Roman 52 Meuthen, Eins und doppelt, S. 7. 53 Ebd., S. 11. 54 Ebd., S. 17. 55 Diese Entgegensetzung von Innerlichkeit und feindlicher Außenwelt wird in Moritz’ Anton Reiser entworfen. 56 Eine solche Utopie entwirft Heinses Ardinghello mit der Besiedlung der „glückseligen Inseln“ oder Novalis’ Heinrich von Ofterdingen am Beginn des zweiten, nie vollendeten Teils des Romans.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

33

überhaupt erst möglich macht: mit der Sprache. Sie erscheint als Möglichkeit, das Subjekt zu entwerfen, und ist in ihrem realen Bestehen dem Fehlen der Referenz in der Wirklichkeit, den die Künstlerromane inszenieren, indem sie ihre Autoreflexivität geradezu herausstellen,57 gegenläufig. Die Sprache erscheint als einziges Medium der Selbstvergewisserung innerhalb einer Welt, die sich als Welt des Scheins entpuppt und deren Wahrheitsgehalt überhaupt erst thematisiert werden muß: Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und Wirklichkeitsstatus des ‚schönen Scheins‘ bzw. danach, welche Einsichten in das ‚Wesen‘, die Konstitutionsbedingungen, von Wahrheit und Wirklichkeit die Kunst vermittelt, ist denn auch das zentrale Thema des Künstlerromans.58 Eng mit dieser Frage nach den möglichen Einsichten der Kunst in das wirkliche Leben ist auch die Frage danach verbunden, inwiefern die Kunst, und genauer der Roman, ein Medium der Bildung des realen Lesers sein kann. Wird die „Kunst nicht nur als Mittel betrachtet, diesen Bildungsprozeß darzustellen“, sondern gilt sie „auch als Instrument, ihn zu befördern“59, so sind die Künstlerromane eine doppelt prädestinierte Gattung hierfür. Sie stellen Figuren in den Mittelpunkt, die sich direkt mit Fragen der Kunst auseinandersetzen, mit Fragen des Schönen und der Ästhetik also, die als Erprobungsfeld dessen fungieren, was nachher im ‚echten‘ Leben dem einzelnen an Fähigkeiten abverlangt wird. Daß nun freilich die Frage nach der richtigen Auffassung von Kunst dem Bürger, der durch die Romanlektüre gebildet werden soll, keine lebenspraktische Handlungsanweisung liefern kann, liegt auf der Hand. Vielmehr wird an dieser Stelle relevant, was schon zuvor als Ort der Herausbildung eines liberalen Denkens identifiziert wurde: der Dialog. Er bildet im Künstlerroman ein wichtiges Moment der Behauptung des Künstlers in seiner Umwelt. Die Dialoge reichen hierbei von Auseinandersetzungen mit Figuren, die der Kunst kritisch gegenüberstehen, über Diskussionen mit Verfechtern anderer Kunstauffassungen bis hin zu Gesprächen mit Gleichgesinnten. Dabei stellt der Kunst-Dialog eine Scharnierstelle dar zwischen der rein an den Verstand appellierenden Logik des philosophischen Gesprächs und dem ans Herz gehenden Gespräch, das 57 Meuthen verweist in diesem Zusammenhang auf die Motive des Spiegels, des Doppelgängers und des Wahnsinns in vielen Künstlerromanen. Vgl. Meuthen, Eins und doppelt, S. 4f. sowie S. 17. 58 Ebd., S. 12. 59 Ebd., S. 323.

34

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

auch schon Blanckenburg für den Roman vorsieht. Er hat hierbei vor allem eine sinnlichere Darstellung vor Augen, die die Stimme des Protagonisten erklingen läßt, anstatt dessen Gedanken nur über den Erzähler vermittelt zu präsentieren. Im Zusammenhang mit der Erregung der Leidenschaften, die er als zentrales Anliegen des Romans ansieht, und dem Ausdruck von Empfindungen, die dafür die Grundlage bilden, spricht er sich gegen eine strenge Trennung der Gattungen und für das Zulassen des Dialogs als Stilmittel im Roman aus: Die Erregung unsrer Leidenschaften hängt so sehr davon ab, daß wir die vorzustellenden Gegenstände so lebhaft, so anschauend sehen, als möglich, daß ich hier, mit recht, Gebrauch von einer Stelle aus dem Home machen zu können glaube. Er sagt der Dialog schicke sich vorzüglich zum Ausdruck der Empfindungen.60 Er sieht den Dialog als ein Mittel der Dramatisierung an und bleibt den Theorien seiner Zeit verhaftet, die zunächst das Drama als den am besten geeigneten Weg ansehen, ins Herz des Lesers oder Zuschauers zu gelangen.61 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen, zu denen Johann Jacob Engel mit seiner Abhandlung Über Handlung, Gespräch und Erzählung62 sowie Friedrich Schlegel mit seinem Gespräch über Poesie63 einen wichtigen Beitrag leisten, entsteht im 18. Jahrhundert die Gattung des Dialogromans64 wie auch der Briefroman. Die Vorteile des Dramas sollen für die Prosa fruchtbar gemacht 60 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 22, S. 515. 61 So z.B. bei Engel, der die Handlung als zentrales Element der Vervollkommnung der Seele ansieht. Er legt zunächst fest, daß „[d]er eigentliche Schauplatz aller Handlung […] die denkende und empfindende Seele [ist]; und die körperlichen Veränderungen gehören nur insoferne mit in die Reihe, als sie durch die Seele bewirkt werden, die Seele ausdrücken, in der Seele, als Zeichen von den Absichten und Bewegungen einer andern Seele, Begriffe und Entschlüsse hervorbringen, oder irgend einen andern zur Handlung gehörigen Eindruck auf sie machen.“ (Johann Jakob Engel: „Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung“, in: Ders., Schriften 1801–1806, Band IV, Frankfurt/Main 1971 [Athenäum Reprints], S. 201–266; S. 149) Später arbeitet er den Unterschied zwischen philosophischer und eigentlicher Handlung heraus und definiert für die eigentliche Handlung, die diejenige des Dramas ist: „Jene [die philosophische] Handlung geht vornehmlich den Verstand, jene vornehmlich das Herz an; jene, wenn sie in einem Werke vorgestellt wird, soll vornehmlich unsre obern, diese vornehmlich unsre untern Seelenkräfte vervollkommnen.“ (Ebd., S. 154.) Blanckenburg selbst unterstreicht diesen Zusammenhang dezidiert, indem er davon spricht, „den Roman dramatischer zu machen, und unsre Empfindungen lebhafter zu erregen.“ (Blanckenburg, Versuch, S. 516) 62 Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, S. 149. 63 Friedrich Schlegel: „Gespräch über Poesie“, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken I. 1796–1801, hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Erste Abteilung, Zweiter Band, München u.a. 1967, S. 284–362. 64 Vgl. Hans-Gerhard Winter, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J.J. Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

35

werden, wie ja auch der Dialog als Möglichkeit entdeckt wird, die philosophische Abhandlung verständlicher und lesbarer zu gestalten. Die Funktion, die Blanckenburg, Garve und Engel dem Gespräch zudenken, erfüllen die Gespräche im Künstlerroman nur selten. Sie sind zumeist weniger kurze Dialoge, die auf lebendige Weise die Gefühle und Gedanken eines Pro­ tagonisten wiedergeben, als vielmehr lange bis langatmige Ausführungen einer Figur, die stellenweise beinahe den Charakter von Monologen einnehmen und den Lektürefluß erheblich verlangsamen. Durch ihre Länge, aber auch durch ihre oftmals komplexen Inhalte sind sie nur schlecht geeignet, dem Leser direkt ans Herz zu gehen. Ihre Funktion muß demnach eine andere sein. Weniger an das Gefühl selbst appellierend, sprechen sie viel eher den Verstand an, indem sie für oder gegen eine Position innerhalb der Diskussion argumentieren. Damit erfüllen sie eine Funktion, die weniger die Phantasie anregt, als den Verstand schult im Sinne des sokratischen Gesprächs. Ausgehend von den Konflikten, die der Künstler mit anderen Künstlern oder mit der Gesellschaft auszutragen hat, sowie von den Gesprächen, die er mit Lehrmeistern und Vorbildern führt, wird dem Leser eine Figur präsentiert, die sich und ihren Standpunkt verteidigen muß. Der Prozeß der inneren Bildung, den sowohl der Bildungsroman, als auch der Künstlerroman veranschaulichen soll, erscheint hier in einem Moment, in dem der Künstler sich seines Verstandes bedienen muß, um sich zu behaupten. Dabei werden durch das Gespräch die zentralen Punkte, die Thema und Ziel der sich vervollkommnenden Bildung sind, inszeniert. Das Gespräch zwingt den Künstler dazu, sich seiner selbst bewußt zu werden und seinen eigenen Standpunkt zu gewinnen. Dieses Finden der eigenen Identität als Künstler ist zuweilen ein schwieriger Prozeß und kann auch, wie später am Beispiel des Franz Sternbald gezeigt wird, immer wieder Korrekturen ausgesetzt sein. Die Identität, die hier die des Künstlers ist, muß gegen eine kunstfeindliche Welt verteidigt werden, wobei der Künstler in einer Spiegelung gleichsam als Personifizierung der Theorie des Schönen den Prozeß durchläuft, den die Ästhetik innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion durchlaufen hat. Und auch hier gewinnen im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Fragen nach dem Wesen des Künstlers, der zunehmend mit dem Genie ineins gesetzt wird, immer mehr an Bedeutung. Was für den Bildungsroman oftmals als konstitutiv angesehen wird, nämlich, daß der Held ein Bewußtsein davon habe, daß er sich in einem Bildungsprozeß befindet,65 gilt für den Künstlerroman in doppelter Weise, da der 65 Vgl. Gutjahr, Bildungsroman, S. 13; Jacobs, Krause, Bildungsroman, S. 37; u.a.

36

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Held sich seiner Position als Künstler vor allem in den Gesprächen bewußt wird, die häufig Gelenkstellen für die Entwicklung des Protagonisten darstellen. Das Gespräch über die Kunst, das als sokratisches Gespräch inszeniert wird, zwingt den Künstler zur kritischen Reflexion über sein Selbst- sowie sein Kunstverständnis. Diese höhere Stufe der Reflexivität, die sich formal wiederholt in der Autoreflexivität des Künstlerromans, ermöglicht dem Künstler überhaupt erst eine wahrhaft ästhetische Lebensweise. Während die philosophische Lebensweise nur im Vollzug des Gesprächs und für die Dauer des Gesprächs existiert, mithin ständig aktualisiert werden muß, ist die Selbstreflexivität des Kunstwerks diesem grundsätzlich immanent. Der aktualisierende Sprachgebrauch, der die Sprache der Kunst überhaupt erst dem Prozeß des Verstehens zugänglich macht, spiegelt sich im Künstler, der sich seiner Existenz als Künstler im Gespräch versichern muß. In diesem ständigen Vollzug der Reflexion auf sich selbst wird das Leben, das durch das Schicksal des Künstlers dargestellt werden soll, dem Kunstwerk, dessen Strukturprinzip das permanente Verweisen auf sich selbst ist, gleich. Das Gespräch über Kunst wird zum eigentlichen Zentrum der Künstlerromane, die nicht länger auf ein Ende hin ausgerichtet sein können, auf den Abschluß eines Bildungsprozesses. Sie müssen die Prozeßhaftigkeit zur Anschauung bringen, müssen sich der Vervollkommnung entziehen, da diese nur ein Erstarren in einem Endzustand bedeuten kann. Das ideale Gespräch aber ist das nie endende Gespräch,66 da der Sinn des Gesprächs im Vollzug besteht. Der Künstlerroman trägt diesem Widerstand des Gesprächs gegen das Beenden Rechnung, indem er fragmentarisch bleibt. Die Bildung des Künstlers kann niemals zu einem Schluß kommen, da die wahrhaft künstlerische Lebensweise im Gesprächsvollzug besteht, das im Gespräch über die Kunst und Ästhetik zu einem Feld der existentiellen Fragen für die Identitätsstiftung und das Subjekt wird, zu einem „Geschehen der Bildung“ im Hegelschen Sinn.67 Indem der Vollzug eines ästhetischen Lebens im Vollzug des Gesprächs besteht, besteht er zugleich in einem permanenten Gebrauch des eigenen Verstandes. Diese Übung im „Räsonnieren“ ist als zentrale Forderung der Aufklärung zugleich eine Übung im Urteilen, das in den Gesprächen der Künstlerromane eine zentrale Rolle spielt. Es geht in den Gesprächen zumeist weniger um die Mitteilung von Gefühlen, als viel eher um das Abwägen von Argumenten. Somit 66 Vgl. hierzu Wolfgang Iser: „Zur Phänomenologie der Dialogregel“, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsgg.), Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 183–189; S. 183. 67 Günther Buck: „Das Lehrgespräch“, in: Stierle, Warning, Das Gespräch, a.a.O., S. 191–210; S. 205.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

37

ist die Forderung nach Bildung des Menschen, die an die Kunst gestellt wird, in einem doppelten Sinne erfüllt, da nicht nur der Bildungsweg eines Protagonisten verfolgt, sondern auch die Verstandesschulung mitvollzogen wird. Der Sprung von der Empfindung, die das Gespräch bei Blanckenburg und anderen schult, zum Verstand, der das eigentliche Ziel des Bildungsweges darstellt, ist hiermit gemacht. Im populären Medium des Romans wird so zum einen das ästhetische Spiel, das Schiller ins Zentrum seiner Auffassung von der Erziehung des Menschen setzt, inszeniert, zum anderen werden ästhetische Grundbegriffe wie Schönheit, Vollkommenheit und Phantasie diskutiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, zu deren ethischer Bildung sie beitragen sollen. Wie diese Spannung zwischen realem Abschluß und fiktiver Unabgeschlossenheit, zwischen Geschlossenheit und Fragmentarität in den Künstlerromanen des späten 18. Jahrhunderts in Erscheinung tritt, wird in den folgenden exemplarischen Analysen einiger der wichtigsten Romane des Genres verdeutlicht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei die Funktion des Gesprächs, dem das nächste Kapitel gewidmet ist und das dem Zusteuern auf einen Abschluß der erzählten Handlung strukturell Widerstand leistet. Dieses Moment des Subversiven soll als ein konstitutives Strukturelement des Künstlerromans gelesen werden, der damit dem Gedanken einer sich vervollkommnenden Bildung, die ihr Ziel erreichen kann, den Vollzug einer ästhetischen Lebensweise entgegensetzt, die sich fortwährend aktualisieren und ihrer selbst vergewissern muß, um Gültigkeit zu besitzen. Dies leitet über zu einem zweiten wichtigen Punkt des Interesses: Der Frage nach der Bildung des Lesers in ästhetischen Fragestellungen und damit einhergehend nach der Popularisierung ästhetischer Begrifflichkeiten. Diese sind verbunden mit der Rolle der Kunst für die Aufklärung und (politische) Bildung des Menschen, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts propagiert wurde. Fungiert der Roman als aufklärerisches Medium, das auch Bevölkerungsschichten erreicht, die normalerweise von der Bildung ausgeschlossen sind, so wird verständlich, warum bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Vokabular der Ästhetik derart weit verbreitet war, daß selbst Frauen davon Gebrauch machen konnten.

38

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

3

Zur Bedeutung des Gesprächs im 18. Jahrhundert

Die Präsenz des Gesprächs und der Diskussion darüber ist bei weitem keine Neuheit des 18. Jahrhunderts. Schon seit der Antike, spätestens seit Platon und Sokrates, spielt das Gespräch in verschiedenen Zusammenhängen eine große Rolle. Als erste und direkteste Form der Kommunikation überhaupt ist es abhängig zunächst von den konkreten Gesprächspartnern, von der Gesellschaft im Allgemeinen, vom ihm zugeschriebenen Zweck, von Fragen des Anstands und schließlich der Sprache an sich. Bei Sokrates in erster Linie Lehrgespräch, im christlichen Mittelalter eher Selbstgespräch, am Hof dann Klugheitstaktik und Konversation, hat es zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits viele verschiedene Stadien durchlaufen, bevor es zum Gegenstand der Diskussion unter Aufklärern und Bürgern wird.68 Analog zum Adel und seiner höfischen Konversationskunst verbindet sich für das aufkommende Bürgertum im 18. Jahrhundert die Herausbildung einer bürgerlichen Identität eng mit der Frage nach einer speziell bürgerlichen Form des Gesprächs. Hierbei ist eine zentrale Forderung, daß das Gespräch sich aus dem korrumpierten Zusammenhang der höfischen Kultur herauslöse, wo das Sprechen Ergebnis von taktischen Erwägungen ist und eher dazu dient, sich die Stellung am Hof und im besten Fall einen eigenen Vorteil zu sichern und geschickt durch die vielfachen Intrigen zu lotsen.69 In Abgrenzung also zu dieser Gesprächskultur bilden die Aufrichtigkeit und die Innerlichkeit den Kern des bürgerlichen Gesprächs, das sich vorwiegend in halb-öffentlichen Zirkeln abspielt. Es gilt nun zunächst, eine Definition des Begriffs ‚Gespräch‘ zu finden, das sich im Spannungsfeld von discours und conversation bewegt und mit dem ‚Di-

68 Einen Überblick über die verschiedenen Formen und Stationen des Gesprächs bietet Claudia Schmölders, Die Kunst des Gesprächs, München 1979. Sie beginnt in der Antike mit der ars sermonis, um über die Stationen des frühen Christentums, der Renaissance-Unterhaltung und der höfischen Konversation zur Salonkonversation und schließlich zur bürgerlichen Konversation im 18. Jahrhundert zu gelangen. 69 Vgl. hierzu die Klugheits- und Konversationslehren der Renaissance und des Barock. Stellvertretend seien hier genannt: Baldassare Castiglione, Il cortigiano, Erstdruck 1528, Baltasar Graciàn, Agudeza y arte de ingenio, Erstdruck 1648 und Georg Philipp Harsdörffers, Frauenzimmer Gesprächspiele, 1644–1657. Auf die komplexen Verzahnungen von Klugheit, Sprache und Tropen wird in der Folge näher eingegangen.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

39

alog‘ in einem nur schwer ausdifferenzierbaren Verhältnis steht. Markus Fauser resümiert in seiner detaillierten Studie zum Gespräch im 18. Jahrhundert: Aus der verwirrenden Geschichte der Begriffe ‚discorso, discours, conversation‘ resultiert ihr heute noch undifferenzierter Gebrauch, ihre Vermischung mit anderen Begriffen, wie ‚Dialog‘, wenn nicht philosophische Termini, wie Schleiermachers ‚eigentliches Gespräch‘, selbst Resultat des historischen Prozesses, auf das 18. Jahrhundert einfach übertragen werden.70 Fauser stellt nun heraus, daß im 18. Jahrhundert eine Gegenüberstellung von discours und conversation bestehe, die auf Montaigne zurückgehe und die discours mit einer eher monologischen Form der Argumentation identifiziere, die sich, ganz in der Tradition der Rhetorik, auszeichnet durch eine konsequente Beweisführung und Freiheit von Redundanzen, während conversation für das Gespräch um des Gesprächs willen stehe und eine zwanglose Unterhaltung in vertrauter Runde meine.71 Er zeigt, wie im 18. Jahrhundert die verschiedensten Ausprägungen des Gesprächs diskutiert und auch instrumentalisiert werden bis hin zur Sprachlosigkeit im Schweigen und in der Einsamkeit. In der Fülle der unterschiedlichen Gesprächsarten und -absichten sind allerdings zwei Koordinatenachsen gegeben: die Frage nach der Bildung und die Frage nach der Herstellung einer Gesellschaft und somit einer eigenen Identität. Diese beiden Größen, Bildung und Identität, bilden den Hintergrund, vor dem sich Aufklärung überhaupt erst vollziehen kann, und gleichzeitig das Ziel aller aufklärerischen Impulse. Je nachdem, welcher dieser Aspekte im Vordergrund steht, verändern sich die Ansprüche, die an die Unterhaltung gestellt werden, und damit ihre Form: Monatsschriften und popularphilosophische Abhandlungen, deren Ziel die Bildung des Lesers ist, bedienen sich gerne der Gesprächsfiktion oder des Dialogs,72 um einen wissenschaftlichen Gegenstand allgemeinverständlich zu 70 Markus Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 25. 71 Vgl. ebd. 72 Als Beispiel seien die Dialogfiktionen Bruno und Egon von Christian Garve genannt sowie Johann August Eberhards Handbuch der Ästhetik für gebildete Leser aus allen Ständen, (1807–1820), das einen Briefwechsel – eine Unterform des Dialogs – zwischen Vater und Tochter fingiert, außerdem die Gesprächsfiktionen verschiedener Monatsschriften. Interessant ist hierbei der Unterschied zwischen den als Schüler-Lehrer-Gespräch aufgebauten Fiktionen und denen, die Gesprächspartner unterschiedlicher Überzeugungen inszenieren und hierbei sogar bis zu Auseinandersetzung und Streit gehen.

40

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

verhandeln, wobei die fiktive Gesprächsführung allerdings dem Ideal des Montaigneschen discours verpflichtet ist. Gesellschaften, Sozietäten oder politische Klubs dagegen pflegen das Gespräch häufig um des Gesprächs willen, das, so lange es anhält, das Bestehen der Gruppe sichert, dem Einzelnen seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe garantiert und ihn somit mit einer Identität ausstattet, die sich aus ebendieser Zugehörigkeit speist.73 In einer ähnlichen Gegenüberstellung bei anderer Definition der Begriffe erscheint dieses Gegensatzpaar auch bei Moses Mendelssohn in seinem im Jahr 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen Artikel: „Über die Frage: was heißt aufklären?“74 Für Mendelssohn sind Aufklärung und Kultur die zwei Teile der Bildung, wobei er der Kultur eine eher praktische Ausrichtung, der Aufklärung hingegen eine eher theoretische Ausrichtung zuspricht, die sich selbst wiederum aufteilt in einen objektiven Teil, die „vernünftige Erkenntniß (objekt.)“ und die „Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken“75. Wenn Mendelssohn wenig später schreibt: „Eine Sprache erlangt Aufklärung durch die Wissenschaften, und erlanget Kultur durch gesellschaftlichen Umgang, Poesie und Beredsamkeit. Durch jene wird sie geschickter zu theoretischem, durch diese zu praktischem Gebrauche. Beides zusammen giebt einer Sprache die Bildung“76, so wird zum einen klar, daß Aufklärung und Bildung hauptsächlich als ein Geschehen sprachlicher Art verstanden werden, zum anderen zeigt sich eine Engführung von Geselligkeit, Beredsamkeit und Poesie, die gemeinsam am Projekt der Bildung beteiligt sein müssen. Das Individuum, das sich in seiner sprachlichen Äußerung erst als solches zu erkennen gibt, kann auch nur über die Sprache in seiner Herausbildung unterstützt, nur durch Sprache gebildet werden, wobei zunächst kein Unterschied zwischen der Sprache der Poesie und der des geselligen Alltagslebens gemacht wird. In den Verweisen auf Geselligkeit und Beredsamkeit klingt wiederum die schon erwähnte Unterscheidung zwischen conversation (Geselligkeit) und discours (Beredsamkeit) an, die jedoch ebenso wie die Poesie nicht zwei kontradiktorische Gegenpole bilden, sondern in einem Verhältnis der Komplementarität stehen und über die Poesie 73 Vgl hierzu z.B. das von Philipp Jakob Spener gegründete collegium pietatis, das die Antwort auf den Ruf nach einer Zusammenkunft gleichgesinnter Christen darstellt, die sich dort unter ihresgleichen aussprechen wollten. Der Zusammenhalt dieser Gruppe beruht folglich auf dem von Innerlichkeit geprägten Dialog oder Gespräch, das mit jedem Vollzug die Basis der Zusammengehörigkeit sichert und erneuert. Vgl. Fauser, Gespräch, S. 127f. 74 Moses Mendelssohn: „Über die Frage: was heißt aufklären?“, in: Norbert Hinske (Hrsg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit einem Vorwort versehen, unveränderter Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. ergänzte Auflage, Darmstadt 1981, S. 444–451. 75 Ebd., S. 445. 76 Ebd., S. 446.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

41

vermittelt werden können. Eine Vermittlung dieser beiden Ausprägungen von Sprache und Gespräch wird in den französischen Salons nachempfundenen Gesellschaften unternommen, die zwar zunächst als Orte der Konversation gegründet werden, im Gegensatz zum französischen Vorbild sich aber der Pflege von Diskurs, Diskussion und Debatte verschreiben. In dieser Zusammenführung von Geselligkeit, allerdings im geschlossenen Kreis eines Zirkels, und argumentativer Beredsamkeit kann nun das stattfinden, was Kant als Räsonnement im Sinne des ‚Privatgebrauchs der Vernunft‘ versteht. Dabei steht das ‚Räsonieren‘, das bei Kant das ‚Vernünfteln‘ meint, dem Vernunfturteil gegenüber: Ein vernünftelndes Urteil (iudicium ratiocinans) kann ein jedes heißen, das sich als allgemein ankündigt; denn sofern kann es zum Obersatze in einem Vernunftschlusse dienen. Ein Vernunfturteil (iudicium ratiocinatum) kann dagegen nur ein solches genannt werden, welches, als der Schlusssatz von einem Vernunftschlusse, folglich a priori gegründet, gedacht wird.77 Die Qualität des ‚Vernünftelnden‘ betrachtet Kant als Voraussetzung für ein dialektisches Urteil, genauer: als Voraussetzung für die Dialektik des ästhetischen Urteils.78 Der Zusammenhang von Räsonieren, Diskussion, Diskurs und ästhetischem Urteil wird an anderer Stelle relevant werden, doch läßt sich bereits festhalten, daß in den deutschsprachigen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts das Gespräch in enger Verbindung mit der Forderung der Aufklärer steht, jeden Bürger zum selbständigen vernünftigen Denken zu erziehen, und ihm zur gleichen Zeit auch einen Raum dafür zur Verfügung stellen soll und kann. Ganz im Gegensatz zur conversation der französischen Salons wird die logische Komponente des Gesprächs, das Argumentieren, stark gemacht. Gleichzeitig nimmt die theoretische Diskussion um das Gespräch zu, die anhand von Regelwerken und gar Topiken eine Institutionalisierung des Gesprächs versucht. So empfiehlt beispielsweise Etophilus in seinem sogenannten Complimentir- und Sittenbuch, eine Erzählung zum Gespräch beizusteuern, die Anlaß zum Räsonieren (!) darüber

77 Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden. Band 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, Anmerkung zu § 55: Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft, S. 442. 78 Vgl. ebd., § 55.

42

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

bietet, was wiederum auf „Neben-discurse“ leitet79, während Johann Hieronymus Lochner in seiner Topik des Gesprächs eine ganze Reihe an möglichen Themen zur Verfügung stellt, die wahlweise nacheinander aufgesucht werden können, um das Gespräch aufrecht zu erhalten.80 Diese sich scheinbar widerstreitenden Tendenzen – der individuelle Gebrauch der eigenen Vernunft im Gespräch und die Erstarrung des Gesprächs in topischen Mustern, die wiederum an das verachtete uneigentliche Gesprächsspiel am Hof erinnern – entspringen hierbei dem gleichen Grundgedanken: Das Gespräch soll in der bürgerlichen Geselligkeit hingeführt werden zu einer Ästhetik des Gesprächs, die eine zentrale Forderung der Aufklärung, nämlich die Gleichheit, inszeniert. Dabei werden sowohl Geselligkeit, und hier explizit als speziell bürgerliche verstanden, als auch Gespräch als eine Form der ‚gelebten‘ Gleichheit und als eine Möglichkeit zum demokratischen Gebrauch der eigenen Vernunft betrachtet. Somit wagen diese beiden für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts so wichtigen Formen des Umgangs den Versuch, etwas zu institutionalisieren, das en miniature praktiziert, was im Großen das Ziel der Aufklärung ist. Dabei wird in vielen der Zirkeln das Programm einer literarisch-ästhetischen Bildung, der diese sich verschrieben haben, zu einer utopischen Vorform im Schillerschen Sinn, die im ‚Spiel‘ der geselligen Runde übt, was im politischen Ernst einer sich umwälzenden Gesellschaft später zu den erforderten Fähigkeiten gehören wird.81 Schiller geht in diesem Zusammenhang in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen82 von den sich diametral entgegenstehenden Größen Natur und Moral, physischer Trieb und moralischer Trieb, Stoff und Form, Empfindung und Vernunft aus, was zunächst nicht weiter ungewöhnlich ist: die Entgegensetzung von Gefühl und Verstand ist in verschiedenen Ausprägungen in der Philosophie schon lange präsent, und spätestens seit Baumgartens Aesthetica, die erstmals im Jahr 1750 publiziert, als Vorlesung jedoch schon vorher bekannt war, wird in der ratio und dem ihr entgegengesetzten analogon rationis, dem „unteren Erkenntnisvermögen“83, eine Spaltung der menschlichen Vermögen 79 Etophilus, Complimentir- und Sitten-Buch, Nordhausen 1728, S. 17, zit. nach Fauser, Gespräch, S. 264. 80 Vgl. Johann Hieronymus Lochner, Kunst zu reden in gemeinem Umgang, Nürnberg 1730. 81 Vgl. hierzu auch Angelika Beck, Der Bund ist ewig, Erlangen 1982, S. 85ff. sowie Fauser, Gespräch, S. 58. 82 Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, München/Wien 2004, S. 570–669. 83 Vgl. Baumgarten, Aesthetica, § 2, S. 2/3.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

43

festgeschrieben, die vor allem hinsichtlich der Produktion und Rezeption von Kunstwerken relevant ist. Schiller führt jedoch die Schönheit bzw. die Ästhetik als ein Drittes neben Natur und Moral ein, welchem der zwischen Formtrieb (auf Natur, also Physis bezogen) und Stofftrieb (auf Moral und Ethik bezogen) angesiedelte Spieltrieb zugeordnet wird: Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken, (es sei mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, ver­gönnt, ihn Spieltrieb zu nennen) der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.84 Die Verbindung der beiden widerstreitenden Triebe im Spieltrieb legt Schiller als eine dialektische Bewegung an, wobei der Spieltrieb als Verschmelzung und Erhöhung der beiden anderen selbst einer höheren Stufe angehört: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“85 Diese Hierarchisierung des Spieltriebs als den anderen beiden überlegen steht in einem nicht auflösbaren Widerspruch zur Einordnung der Ästhetik zwischen der Natur, die auf der untersten Stufe steht, und der Moral, der selbstverständlich die höchste Stufe zukommt. In diesem Zusammenhang ist der Spieltrieb das einzig probate Mittel, den Sprung zwischen Physis und Ethos zu ermöglichen, den Menschen aus seiner von Bedürfnissen bestimmten Grundstufe auf die Vollendung des Geistes in einem von Vernunft und Moral geleiteten Leben zu heben. Dies gilt zunächst für den einzelnen Menschen, aber in der Folge in einer politischen Dimension auch für die gesamte Gesellschaft: im Reich der Ästhetik als einem Zwischenreich kann sich der aus dem dynamischen Staat kommende Mensch für den ethischen Staat vorbereiten. Wenn Schiller zu Beginn seiner Abhandlung, im vierten und fünften Brief, zeigt, daß der Mensch nicht reif ist und niemals sein kann, direkt vom „Staat der Not“ in den „Staat der Freiheit“86 einzutreten, da „[d]ie moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige

84 Vgl. Schiller, Ästhetische Erziehung, Vierzehnter Brief, S. 612f. 85 Ebd., Fünfzehnter Brief, S. 618. 86 Ebd., Vierter Brief, S. 579.

44

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Augenblick […] ein unempfängliches Geschlecht“87 findet, so liefert er selbst die Lösung, die er im 27. und letzten Brief folgendermaßen beschreibt: Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte [dem Naturstaat] und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze [dem ethischen Staat] baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. […] Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.88 Der Gedanke einer „Transformation der Geselligkeit in Ästhetik und Wiedergewinnung des geselligen Zustands in der Kunst“89 ist es, der dem bürgerlichen Gespräch im 18. Jahrhundert eine existentielle Komponente verleiht und gleichzeitig die Ästhetik und damit die Kunst ganz allgemein unwiderruflich mit dem Gespräch im Zeichen der Aufklärung verknüpft, jenseits aller der Rhetorik angehörenden Regeln der Gesprächsführung. An dieser Stelle wird deutlich, welch große und bedeutende Rolle der Ästhetik schon kurz nach ihrem Entstehen zugeschrieben wurde. Die neue philosophische Disziplin erfreut sich schnell einer außerordentlichen Aufmerksamkeit. 1750 mit Alexander Gottlieb Baumgartens bereits erwähnter Aesthetica dem Namen nach geboren, wird sie, was für eine philosophische Disziplin recht ungewöhnlich ist, schon bald Gegenstand eines regen Interesses auch außerhalb von Universitäten und Wissenschaftsbetrieb. Dabei ist sich der Verfasser selbst eines gewissen Konfliktpotentials deutlich bewußt, weshalb er seiner soeben gezeugten Disziplin sozusagen a priori bereits apologetische Passagen mit auf den Weg gibt, in denen er mögliche, ja wahrscheinliche Einwände und deren Entkräftung oder Widerlegung imaginiert. Das sind beispielsweise: § 5 Gegen unsere Wissenschaft könnten folgende Einwendungen gemacht werden: 1) sie sei zu weit gefaßt, als daß sie in einer einzigen Schrift und in einer einzigen Vorlesung erschöpfend dargestellt werden könnte. Meine Antwort: Das gebe ich zu, aber etwas ist besser als nichts. 2) sie sei mit der Rhetorik und der Poetik identisch. […] 87 Ebd., Fünfter Brief, S. 580. 88 Ebd., Siebenundzwanzigster Brief, S. 667. 89 Fauser, Gespräch, S. 72.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

45

§ 6 4) sinnliche Empfindungen, Einbildungen, Erdichtungen alle die Wirrnisse der Gefühle und Leidenschaften seien eines Philosophen unwürdig und lägen unter seinem Horizont. […] § 8 6) Die deutliche Erkenntnis verdient den Vorzug. […] § 10 8) Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. […] § 12 10) Die unteren Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit, sind eher zu bekämpfen als zu wecken und zu stärken.90 Doch sind es nicht nur die Philosophen, die sich mit dem Problem einer objektiven Kategorie für etwas per se Subjektives, die sinnliche Wahrnehmung, befassen. Für sie steht hier das Problem der Unvereinbarkeit von sinnlicher Wahrnehmung mit den Prinzipien der ratio und der Logik als Leitdisziplin der abendländischen Philosophie an erster Stelle. Die Ästhetik findet aber auch schnell Resonanz in anderen Kreisen, was ebenfalls bereits mit ihrer Entstehung angelegt ist: so publiziert Georg Friedrich Meier, ein Schüler Baumgartens, eine allgemeinverständlichere und dadurch populärere Variante der Vorlesungen Baumgartens zur Ästhetik, die dieser zwei Jahre nach seiner Berufung zum Professor für Philosophie und schöne Wissenschaften an die Universität Frankfurt a.d. Oder im Jahr 1742 gehalten hat, bereits im Jahr 1748, noch zwei Jahre vor dem Erscheinen der Baumgartenschen Ästhetik. Es handelt sich um die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften91, eine popularphilosophische Abhandlung, die den Beginn einer langen Reihe von populären Schriften zur Ästhetik bildet und in den Poetiken des 19. Jahrhunderts ihre Ausläufer findet. Horst Enders stellt die These auf, nach 1830 sei die Poetik per se eine Popular-Poetik, und zeigt dies eindrücklich am Beispiel der Poetik Rudolph Gottschalls. Enders geht aus von einer Aufspaltung in Ästhetik und Poetik, wobei die Ästhetik ihrer Bestimmung als philosophischer Disziplin gemäß innerhalb „einer sich autonomisierenden Intellektuellenschicht betrieben“92 werde, wohingegen die Poetik sich mit den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts popularisierten und später trivialisierten Begrifflichkeiten der Ästhetik, die mittlerweile einem breiteren Publikum bekannt sind, an eben dieses breite Publikum wende. Während, so Enders, die präskriptive Regelpoetik für 90 Baumgarten, Aesthetica, §§ 5–13; S. 2/3ff. 91 Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle 1754–1769. 92 Horst Enders: „Zur Popular-Poetik im 19. Jahrhundert: ‚Sinnlichkeit‘ und ‚inneres Bild‘ in der Poetik Rudolph Gottschalls“, in: Helmut Koopmann u.a. (Hrsg.), Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Band 1, Frankfurt/Main 1971; S. 66–84; S. 67. Auch bei Enders wird jedoch die Frage, weshalb innerhalb so kurzer Zeit das Vokabular der Ästhetiken dermaßen ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen und nun präsent ist, nicht befriedigend beantwortet.

46

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

den Kunstschaffenden seit der Etablierung des Geniegedankens obsolet geworden sei, habe sie für den Kunstgenießenden den Zweck, „Geschmack, Einsicht und kritisches Vermögen beim Publikum zu befördern.“93 Den Gedanken der Aufklärung entspricht die Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung, die recht schnell zu einer Wissenschaft von der Kunst und dem Künstler wurde, insofern, als die sinnliche Wahrnehmung schon bei Baumgarten als eine allen Menschen gleichermaßen gegebene Fähigkeit eingeordnet wird. Sie hängt zunächst nicht von Bildungsgrad oder gar sozialem Status ab, sondern ist eine Naturgabe, die man freilich üben oder verkümmern lassen kann. Die Frage nach der Ausbildung dieser Fähigkeit durch Übung diskutiert Baumgarten hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Künstler, der wiederum nur deshalb als Produzent von Kunst auftreten könne, weil er von der Natur mit überdurchschnittlichen ästhetischen Fähigkeiten ausgestattet sei: § 34 e) die dichterische Anlage, welche in dem Grade nötig ist, daß sie einer besonders ausgezeichneten Gruppe unter den ästhetisch Tätigen den Titel eines Dichters verschafft hat. […] § 35 f) die Veranlagung zum guten Geschmack, nicht dem allgemein ver­ breiteten, sondern dem verfeinerten, der zusammen mit dem Vermögen durchdringender Einsicht der untere Richter über das sinnlich Wahrgenommene, die Einbildungen und die Erdichtungen sein soll.94 Trotz dieser Bevorzugung einiger durch die Natur verbleibt jedoch eine allen Menschen gegebene grundsätzliche Anlage sowohl zum guten Geschmack als auch zur Ästhetik und damit zur sinnlichen Wahrnehmung ganz allgemein („die angeborene natürliche Ästhetik […], das heißt die natürliche Veranlagung der menschlichen Seele, schön zu denken mit der sie geboren wird.“95). Ist die demokratische Struktur des analogon rationis bei Baumgarten nicht restlos gegeben, so ist sie deutlich ausgeprägter in der von Schiller im Gegensatz zur objektiv-rationalen Ästhetik Baumgartens als sinnlich-subjektiv96 eingestuf93 Ebd. 94 Baumgarten, Aesthetica, §§ 34 und 35; S. 20/21. 95 Ebd. 96 Vgl. hierzu Schillers schematische Einteilung der verschiedenen möglichen Beschäftigungen mit der Schönheit: „Entweder man erklärt es objektiv oder subjektiv; und zwar entweder sinnlich-subjektiv (wie Burke u.a.), oder subjektiv-rational (wie Kant), oder rational-objektiv (wie Baumgarten, Mendelssohn und die ganze Schar der Vollkommenheitsmänner), oder endlich sinnlich-objektiv“, eine Aufgabe, die Schiller im Folgenden selbst lösen will, womit er über Kant hinauszugehen gedenkt, in: Friedrich Schiller: „Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

47

ten Abhandlung Burkes Über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen aus dem Jahr 175797 enthalten. Dieser klassische Text der empiristisch angelegten, sensualistischen Ästhetik ist weniger eine Anleitung für das richtige Beurteilen und Herstellen von schönen Kunstwerken, als vielmehr eine Untersuchung der Meinungen über Schönheit und stellt so der präskriptiven Vorgehensweise Baumgartens eine deskriptive gegenüber.98 Sie ist im Zusammenhang mit der schon seit dem 17. Jahrhundert vor allem im dem Sensualismus zugeneigten England diskutierten Frage nach dem Geschmack und dem Geschmacksurteil zu sehen. Sie führt überhaupt erst zu einer Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Urteilens in Bezug auf durch die Sinne Aufgenommenes und damit mit den sinnlichen Wahrnehmungsvermögen selbst. Das Geschmacksurteil nimmt nun hinsichtlich anderer Formen des Urteilens eine Sonderstellung ein: Ist das moralische Urteil streng gebunden an die Gesetze der Religion, die dogmatisch vorgegeben sind und keine Hinterfragung dulden, so ist das Vernunfturteil ebenso streng gebunden an die Vorgaben von Verstand und Vernunft, deren Grundlage die Axiome der Logik sind, die per se als gültig angesehen werden. Mit dem Geschmacksurteil gesellt sich zu der Entscheidung nach ‚gut‘ und ‚schlecht‘ in einem ethischen Sinn und der nach ‚wahr‘ und ‚falsch‘ in einem logischen die Entscheidung über ‚angenehm‘ und ‚unangenehm‘, über ‚schön‘ und ‚häßlich‘. Beide Kategorien sind nicht mehr bezogen auf ein Drittes – auf das höchste Gut im einen und auf die Widerspruchsfreiheit im anderen Fall –, sondern entweder auf den Urteilenden selbst oder auf das zu Beurteilende. Die Frage, ob diese beiden Qualitäten unabhängig vom Urteilenden dem Beurteilten zugeschrieben werden können, also objektiv vorhanden sind, oder ob sie lediglich in der Wahrnehmung des Rezipierenden und somit Beurteilenden liegen, versucht die Diskussion um Ästhetik und Schönheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolglos zu klären. Eindeutig scheint jedoch zu sein, daß hier keine von außen oktroyierten Regeln beachtet werden müssen. Selbst diejenigen Theoretiker, die Kategorien wie „Ordnung“, „Symmetrie“ und „Wohlgestaltetheit“, also formale Vollkommenheit, zur Basis der Beurteilung machen wollen und dementsprechend von Schiller als „Vollkommenheitsmänner“99 bezeichnet werden, setzen Gottfried Körner“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., München/Wien 2004, S. 394–433; S. 394. 97 Edmund Burke, Philosophische Abhandlung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, überS. von Friedrich Bassenge, neu eingel. und hrsg. von Werner Strube, Hamburg 1980. 98 Vgl. hierzu ebd., Einleitung, S. 9ff. 99 Schiller, Kallias, S. 394.

48

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

voraus, daß diese Kriterien von Natur aus als angenehm empfunden werden, es sich hierbei also um eine dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen a priori inhärente Regel handelt. Auf der Grundlage dieser Annahmen wird klar, warum der Geschmack für das aufkommende Bürgertum eine zentrale Größe darstellt: Er ist zumindest in der Anlage allen Menschen gleichermaßen gegeben, und damit hat auch jeder Mensch unabhängig von Abkunft und Status das gleiche Recht, sich seines Geschmacks zu bedienen und ein Geschmacksurteil zu fällen, das selbst nun wiederum gleichberechtigt mit dem Geschmacksurteil aller anderen anzusehen ist. Zu Beginn seiner, der zweiten Auflage seiner Abhandlung über das Erhabene und Schöne gleichsam als Antwort auf Einwände100 vorangestellten Schrift Über den Geschmack stellt Burke zunächst heraus: Beim ersten flüchtigen Blick sieht es so aus, als unterschieden wir Menschen uns sowohl in unserem Räsonnement als auch darin, was uns Vergnügen bereitet, sehr weitgehend voneinander. Aber trotz dieser Verschiedenheit, die ich mehr für scheinbar als für wirklich halte, ist wahrscheinlich der Maßstab der Vernunft und des Geschmacks für alle menschlichen Wesen derselbe. Denn gäbe es für die Urteilskraft und das Gefühl nicht irgendwelche allen Menschen gemeinschaftliche Prinzipien, so könnte man wohl weder auf ihre Vernunft, noch auf ihre Leidenschaften den Einfluß ausüben, der erforderlich ist, um den Verkehr des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten.101 Im Laufe dieser Abhandlung kommt Burke auch auf die Einbildungskraft und den Kunstgeschmack zu sprechen. Auch hier stellt er, analog zum Geschmacksurteil im Allgemeinen, das er dessen etymologischer Herkunft entsprechend zunächst auf den Geschmackssinn bezieht, heraus, daß das Urteil der Einbildungskraft, die neben „dem Schmerz und dem Vergnügen, die aus den Eigenschaften eines Naturobjekts entspringen“, vor allem das „Vergnügen über Ähnlichkeiten

100 Burke, Vom Erhabenen und Schönen, S. 35 (Vorrede des Verfassers): „Ich habe mich bemüht, diese Ausgabe etwas vollständiger und befriedigender zu gestalten als die erste. Ich habe alle Einwände, die gegen meine Auffassungen erhoben worden sind, mit äußerster Sorgfalt zusammengesucht und mit der größten Aufmerksamkeit gelesen.“ 101 Burke: „Über den Geschmack“, in: Ders., Philosophische Abhandlung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, a.a.O., S. 41.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

49

zwischen Nachahmung und Original“102 empfindet und zur Grundlage ihres Urteils macht, ebenfalls allen Menschen in der Anlage gleichermaßen gegeben ist: Da nun das Vergnügen an einer Ähnlichkeit dasjenige ist, dem die Einbildungskraft zuneigt: so sind alle Menschen einander in diesem Punkte ziemlich gleich, sofern ihre Kenntnis der dargestellten oder verglichnen Dinge gleich weit reicht.103 Eine Hierarchisierung der Geschmacksurteile, einen Unterschied hinsichtlich ihrer Qualität räumt freilich auch Burke selbst ein. Er erklärt dies jedoch mit der Übung darin, die allein für solche Unterschiede verantwortlich sei und die selbst wiederum eine demokratische, da für jeden frei zugängliche Kategorie darstelle: Das Prinzip dieser Kenntnis ist sehr zufällig, da es auf Erfahrung und Beobachtung und nicht auf der Stärke oder Schwäche irgendeiner natürlichen Fähigkeit beruht. Und von dieser Verschiedenheit der Kenntnis kommt das her, was wir gewöhnlich – obgleich nicht sehr exakt – eine Verschiedenheit des Geschmacks nennen. […] Soweit der Geschmack natürlich ist, ist er fast allen Menschen gemeinsam.104 Daß der Grund für einen Unterschied in der Sicherheit des richtigen Urteilens nicht in der Natur oder gar dem sozialen Status einer Person liege, sondern einzig in der Erfahrung mit dem zu beurteilenden Gegenstand oder der eigenen Sensibilität, die er aus dem Lebenswandel herleitet, betont er wiederholt: Solange wir den Geschmack bloß nach seiner Natur und Gattung betrachten, solange werden wir seine Prinzipien immer vollkommen gleichartig finden. Aber ebenso groß wie die Ähnlichkeit der Prinzipien ist die Verschiedenheit des Grades, in dem diese Prinzipien in den einzelnen menschlichen Individuen herrschen. […] Die Richtigkeit des Urteils in Kunstdingen, die man einen guten Ge­ schmack nennen kann, hängt in großem Maße von der Sensibilität ab, weil sich das Gemüt, wenn es nicht schon einen Hang zu den Vergnügungen 102 Ebd., S. 49. 103 Ebd., S. 51. 104 Ebd., S. 51–53.

50

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

der Einbildungskraft hat, niemals genug mit Werken dieser Art beschäftigen wird, um die nötige Vertrautheit mit ihnen zu erlangen.105 Das Geschmacksurteil ist folglich ein im Sinne der Aufklärung ideales Feld zur Erprobung von Eigenschaften, die dem Bürger zugesprochen und auch abverlangt werden: jeder bringt die dazu erforderlichen Fähigkeiten von Natur aus mit, jeder kann sie jederzeit üben – und hierzu dienen zum Beispiel die Gesprächszirkel des 18. Jahrhunderts –, es ist egalitär und erzieht den Urteilenden zu einem eigenverantwortlichen Gebrauch seines Verstandes, ganz im Sinne des berühmt gewordenen Kantischen Postulats: „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“106 Gleichzeitig ist das Geschmacksurteil ein zentrales Anliegen der Ästhetik, die im wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Bereich vollzieht, was die Debattierklubs im nicht-wissenschaftlichen tun: das Diskutieren darüber, hier in Form von Abhandlungen, Essays oder ganzen philosophischen Bänden, dort in Form des immer wiederkehrenden Gesprächs. Das darf nicht weiter verwundern, denn das Gespräch oder die Diskussion sind schon in ihrer Anlage die einzig geeignete Form der Urteilsfindung für Fragen der Ästhetik. Beide, conversation und discours, haben eine gemeinsame Basis in der Rhetorik, die ihnen mehr oder weniger explizit Regeln vorgibt. Eine wichtige Rolle spielt hierbei eine bereits bei Cicero vollzogene Herleitung der Kultur aus der Beredsamkeit. Bei Christian Thomasius wird diese Verbindung von Kultur und Gespräch in seinen in der Nachfolge von Samuel Pufendorf Ende des 17. Jahrhunderts entstandenen Schriften sogar noch gefestigt und radikalisiert, indem er die Geselligkeit als Ausdruck der Vernunft selbst betrachtet:107 Ein Mensch wäre kein vernünftiger Mensch ohne andere menschliche Gesellschaft. Was wären ihm die Gedancken nütze, wenn keine andere 105 Ebd., S. 57f. 106 Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: ‚Was ist Aufklärung?‘“, in: Norbert Hinske, Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit einem Vorwort versehen, unveränderter Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. ergänzte Auflage, Darmstadt 1981, S. 452–465; S. 452. 107 Samuel Pufendorf, der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht, versucht, die Theorie vom sogenannten „Mängelwesen Mensch“, der aus eigener Unzulänglichkeit und Unfähigkeit, alleine zu überleben, der Gesellschaft in einer Art negativen Bestimmung bedarf, zu erweitern, indem er den Begriff der „socialitas“ einführt, eine Bestimmung zur Gesellschaft, die positiv als den Menschen vom Tier unterscheidende vom Verstand gefordert wird. Diesen Gedanken führt Thomasius in seiner Verbindung von Geselligkeit und Vernunft weiter. Vgl. hierzu: Fauser, Gespräch, S. 41–49.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

51

Menschen wären? […] Die Gedancken sind eine innerliche Rede: Worzu brauchte er diese innerliche Rede, wenn niemand wäre, mit dem er seine Gedancken comuniciren sollte?108 Dieses Moment der Mitteilbarkeit eines Gedankens, der seinen Wert überhaupt erst erhält, indem er den Prüfstein der Kommunizierbarkeit überwunden hat, findet sich fast ein Jahrhundert später bei Kant wieder, der das Geschmacksurteil als zwar nicht letztgültig begründbar oder gar in seiner Richtigkeit beweisbar ansieht, ihm aber dennoch oder gerade deswegen einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zuerkennt. In seiner die Kritik der Urteilskraft eröffnenden Analytik des Schönen legt Kant diesen Anspruch dar, wobei er den Geschmack, der die Grundlage für das Geschmacksurteil, also das ästhetische Urteil im Gegensatz zum Erkenntnisurteil, bildet, als „das Vermögen der Beurteilung des Schönen“109 definiert. Das Schöne bezeichnet Kant nun in einem der folgenden Paragraphen als „das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinem Wohlgefallens vorgestellt wird.“110 Da er das Schöne, das er zuvor vom Guten und vom Angenehmen als mit Interesse verbundenen Qualitäten unterschieden hat, als etwas definiert, das eben nicht mit Interesse verbunden ist, leitet er aus diesem „interesselosen Wohlgefallen“ den Anspruch auf Allgemeingültigkeit ab: Denn das, wovon jemand sich bewußt ist, daß das Wohlgefallen an demselben bei ihm selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, daß es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse. Denn da es sich nicht auf irgend eine Neigung des Subjekts (noch auf irgend ein anderes überlegtes Interesse) gründet, sondern da der Urteilende sich in Ansehung des Wohlgefallens, welches er dem Gegenstande widmet, völlig frei fühlt: so kann er keine Privatbedin­ gungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hinge, und muß es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem anderen voraussetzen kann; folglich muß er glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.111 108 Christian Thomasius, Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhaft zu lieben oder: Einleitung der Sitten-Lehre, Halle 81726, S. 89f., zitiert nach Fauser, Gespräch, S. 46. 109 Kant, Kritik der Urteilskraft, Anmerkung zur Überschrift „Erstes Moment des Geschmacksurteils, der Qualität nach“, § 1 vorangestellt, S. 279. 110 Ebd., § 6, S. 288. 111 Ebd.

52

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Kant unterscheidet das ästhetische Urteil streng vom logischen: Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermanns Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet.112 Hier wird deutlich, daß das ästhetische Urteil im Gegensatz zum logischen des Gesprächs und der Kommunizierbarkeit bedarf, will es Gültigkeit haben. Während das logische Urteil ein richtiges ist, selbst wenn es niemals ausgesprochen wird, da es einen zwingenden logischen Beweis oder einen Begriff zur Basis hat, wird das ästhetische Urteil erst durch die Beistimmung anderer zu einem richtigen. Ein monologisch gefälltes Geschmacksurteil kann sich seiner Sache insofern nicht sicher sein, als das Schöne, über das es zu urteilen hat, definiert wird als „das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“113 Dieses allgemeine Gefallen muß nun bestätigt und im Zweifelsfall errungen werden, indem in einem Gespräch, das auch ein Streitgespräch sein kann, darüber diskutiert und möglicherweise im Vollzug dieser Diskussion ein Konsens überhaupt erst hergestellt wird. Die Rhetorik liefert das Instrumentarium für diesen Anspruch, etwas allgemein gültig machen zu wollen, ohne auf die zwingenden Beweise einer dichotomischen Logik des ‚wahr‘ und ‚falsch‘ zurückgreifen zu können. Sie bedient sich bei der Argumentation Topoi, die zum Allgemeinwissen oder zu akzeptierten Gemeinplätzen gehören, um einen Konsens oder Zustimmung zu erzielen, wo sie keine handfesten Beweise liefern könnte, um „Evidenzen zu schaffen, wo Gewißheiten fehlen“114. Dabei ist ihre Vorgehensweise eine abgewandelte Form des Syllogismus, das Enthymem, das mit der Dialektik verwandt ist. Der Syllogismus bezeichnet zunächst den logischen Schluß aus zwei vollständigen und nach bestimmten Regeln formulierten Prämissen.115 Fehlt eine der Prämissen, so wird der nun unvollständige Syllogismus als Enthymem bezeichnet.116 Aristoteles be112 Ebd., § 8, S. 294. 113 Ebd., § 9, S. 298. 114 Fauser, Gespräch, S. 12. 115 Vgl. Theodor G. Bucher, Einführung in die angewandte Logik, zweite, erweiterte Auflage, Berlin/ New York 1998, S. 177: Der klassische Syllogismus. 116 Bucher vertritt hierzu die fragwürdige Meinung, „Eine Prämisse, die nur ‚im Geist‘ vorhanden ist und nicht ausgesprochen wird, nennt man seit den Griechen Enthymem.“ (Ebd., S. 198) Ihm widersprechen sowohl gängige aktuelle Definitionen wie auch die bei Aristoteles.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

53

schreibt diese logisch eigentlich ungültige Schlußfolgerung als der Beredsamkeit, also der Rhetorik zugehörig: Die nun, die bisher Theorien der Beredsamkeit aufgestellt haben, haben nur einen kleinen Teil dieser Disziplin ausfindig gemacht; denn einzig die Überzeugungsmittel gehören zur Theorie, alles andere sind Zugaben. Sie sprechen nämlich nicht von den Enthymemen (den rhetorischen Schlußverfahren), worin doch gerade die Grundlage der Überzeugung besteht.117 Er bezeichnet das Enthymem an anderer Stelle als „rhetorische[s] Schlußverfahren“118 oder rhetorischen Beweis im Gegensatz zum logischen Schlußverfahren und Beweis, eine Entgegensetzung, die Baumgarten später in seiner Gegenüberstellung von Logik und Ästhetik, die der Rhetorik eng verwandt ist, in anderer Form wieder aufgreifen wird. Für Aristoteles ist die Rhetorik in erster Linie ein Verfahren zum Auffinden von Argumenten zum Zweck der Überzeugung. 8. […] Ich nenne aber das Enthymem einen rhetorischen Syllogismus und das Beispiel (Paradeigma) eine rhetorische Induktion. Jeder gewinnt aber die Überzeugungsmittel durch Beweisen, indem er entweder Beispiele vorbringt oder rhetorische Schlüsse (Enthymeme) formuliert, und außerdem durch sonst nichts.119 Dieses Schlußverfahren, das gewissermaßen aus Mangel an Beweisen auf Topoi zurückgreift, ist prädestiniert dafür, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit geltend zu machen, wo es zwar keine logisch zwingenden Beweise gibt, der common sense dem Sprecher jedoch Recht zu geben scheint. 9. Was aber der Unterschied zwischen Beispiel und rhetorischem Schlußverfahren (Enthymem) ist, geht aus der Topik hervor – denn dort ist bereits früher schon über Syllogismus und Induktion gehandelt –, daß nämlich der Beweis, es verhalte sich etwas an Hand von Vielem oder Ähnlichem so, dort die Induktion, hier aber das Beispiel ist, und daß ferner der Nachweis, unter bestimmten Voraussetzungen ereigne sich […] etwas

117 Aristoteles, Rhetorik, übersetzt von Franz G. Sieveke, München 31989; 1354a, S. 7. 118 Ebd., 1354b, S. 9. 119 Ebd., 1356a–b, S. 13f.

54

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

anderes als dieses dadurch, daß diese Voraussetzungen existieren, dort Syllogismus, hier aber Enthymem heißt.120 Topoi gelten als die Elemente oder auch Prämissen des Enthymems, da es sich um aus dem Allgemeinwissen gewonnene Argumente handelt, die bereits anerkannt sind und somit am ehesten überzeugen. Denn das Hauptziel der Rhetorik, die für die Beratungs-, die gerichtliche und die Prunkrede121 systematisiert und theoretisch erfaßt wurde, ist es, zu überzeugen. 10. Da folglich alle beim Argumentieren so zu verfahren scheinen […] und da es durch die Rede klar ist, daß man unmöglich auf andere Weise argumentieren kann, so ist es einleuchtend, daß man wie in der Topik notwendigerweise zuerst für jeden einzelnen Gegenstand eine Samm­ lung von schon fertigen Beweisen für die möglichen und die am meisten zutreffenden Fälle hat. […] Es gibt also nur eine Art der Auswahl und die wichtigste davon ist die topische.122 Die Rhetorik stützt sich also auf dasselbe Verfahren der Argumentation wie die Dialektik, lediglich mit der Einschränkung, daß das Schlußverfahren ein unvollständiges ist und die Prämissen schon bewiesene oder zumindest schon allgemein anerkannte, topische sind. Dieser Unterschied zwischen logischem Schluß (Syllogismus) und rhetorischem (Enthymem) bezeichnet genau den Unterschied, den Kant macht zwischen dem vernünftelnden Urteil, das sich als allgemein bloß ankündigt und damit die Bedingungen des Enthymems erfüllt, und dem Vernunfturteil, das als Schlußsatz in einem Vernunftschluß, also einem Syllogismus, definiert wird.123 Wie in der Gerichtsrede, die am Ursprung der Rhetorik steht, Überzeugungsarbeit geleistet werden soll ohne handfeste Beweise, so will und muß der ästhetisch Urteilende überzeugen, ohne sich auf andere Argumente als die seiner logisch nicht festlegbaren sinnlichen Eindrücke und Wahrnehmungen beziehen zu können. Dies setzt wiederum voraus, daß der Urteilende nicht nur im Moment des Urteils „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen“124 bedient, sondern im Moment des Gesprächs darüber, welches das Urteil über120 Ebd., 1356b, S. 14f. 121 Ebd., 1358b, S. 21. 122 Ebd., 1396b, S. 142f. 123 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 442. 124 Kant, Was ist Aufklärung?, S. 452.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

55

haupt erst gültig und relevant macht, ein weiteres Mal eine Verstandesarbeit leistet, die sogar noch weit anspruchsvoller ist als die erste, da er nun das Unmögliche versuchen muß: Das Geschmacksurteil zu verteidigen, von dem Kant konstatiert: „über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputieren).“125 Den Unterschied zwischen Streiten und Disputieren sieht Kant hierbei in der Frage, ob zur Beweisführung Begriffe angeführt werden können oder nicht: Denn Streiten und Disputieren sind zwar darin einerlei, daß sie durch wechselseitigen Widerstand der Urteile Einhelligkeit derselben hervorzubringen suchen, darin aber verschieden, daß das letztere dieses nach bestimmten Begriffen als Beweisgründen zu bewirken hofft, mithin objektive Begriffe als Gründe des Urteils annimmt. Wo dieses aber als untunlich betrachtet wird, da wird das Disputieren eben sowohl als untunlich beurteilt.126 Diese Emanzipation sowohl von den Dogmatismen der Religion als auch von den Axiomen der Logik stellt das ästhetische Urteil in eine Freiheit, die des aufgeklärten Menschen einzig würdig ist, sie führt ihn jedoch gleichzeitig auf ein noch unbetretenes und damit einsames Feld, auf dem er sich zurechtzufinden und sogar zu verteidigen hat. Vor dem Hintergrund dieser Freiheit, die ein Vertrauen in die eigenen Sinneseindrücke wie auch in den Gebrauch der eigenen Vernunft nicht nur gestattet, sondern fordert und nötig macht, ist die Argumentation, die das Gespräch der deutschen Zirkel praktiziert, weit weniger eine konsequente Beweisführung, als es zunächst erscheinen mag. Stringente Beweisführung kann ohne allgemeingültige Begriffe schlecht auskommen, sie bedarf um zu überzeugen zumeist der Kategorien von ‚Objektivität‘ und ‚Evidenz‘, die beide zunächst nur in den Begriffen, die die Logik zur Verfügung stellt und damit bereits bewiesen hat, und den Regeln, die die Religion vorschreibt und die nicht hinterfragt werden müssen, gegeben sind. Dieses zunächst orientierungslose Herumirren im Begriffslosen, das sich höchstens an ein anderes Regelwerk, nämlich das der Rhetorik, anschließen kann, um Argumente für das eigene ästhetische Urteil zu finden, führt nun zu125 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 56, S. 442. 126 Ebd. Daß Kant im nächsten Paragraphen die Antinomie des ästhetischen Urteils dadurch aufhebt, daß er dem Vernunfturteil bestimmte, dem Geschmacksurteil unbestimmte Begriffe zuordnet, ist an dieser Stelle nicht relevant, da auch die unbestimmten Begriffe den Urteilenden zunächst außerstande setzen, sein Urteil mit logischen Mitteln im Sinne von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu beweisen. Vgl. ebd., § 57, S. 444–452.

56

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

rück auf den Ursprung der Wortgeschichte des Wortes ‚Diskurs‘. Es entstammt dem Italienischen, wo es in der Renaissance zunächst durch Ludovico Ariosto geprägt wurde. Sein romanzo cavalleresco Orlando Furioso (1516/1532), eine schwierig zu definierende Zwischenform zwischen Epos und Roman, hat das Umherirren zum zentralen Thema. Sowohl auf der Ebene der Handlung, als auch auf formaler, sowie überdies auf einer metapoetischen oder poetologischen Ebene führt Ariost den Leser in ein schwer zu durchdringendes Labyrinth. Er vermischt hierfür die Sagenkreise von Artus- und Karlsepik, um in drei nur durch zufällige Begegnungen und verstreute Episoden verbundenen Handlungssträngen gleichzeitig die Geschichte des Hauses D’Este in der Liebe und schließlich Vermählung einer Christin, Bradamante, und eines Heiden, Ruggiero, genealogisch zu begründen, das Abirren des tapfersten Ritters aus dem Heer Karls, Orlando, auf die Irrwege der Liebe und schließlich des Wahnsinns zu erzählen und nebenbei zahllose Anspielungen auf die aktuellen Zeitgeschehnisse mit Episoden aus den Sagenkreisen zu verbinden. Dieses als arazzo, als Teppich oder Gewebe, bezeichnete Werk thematisiert sowohl auf textueller als auch auf poetologischer Ebene durchgehend die Ambivalenz von Sein und Schein sowie das Herumirren zwischen beiden, sei es im eigentlichen, sei es im uneigentlichen Sinn. Hierbei spielt der Wald als Kreuzungspunkt verschiedener Handlungsstränge, als Ort des Findens und Verlierens, eine zentrale Rolle. Und genau im Zusammenhang mit dem Wald verwendet Ariosto den Ausdruck des discorso: „Escon del bosco dopo un gran discorso“127. Die Geburt des Wortes discorso erfolgt also im metaphorischen Umfeld von Dunkelheit (im Gegensatz zur Klarheit einer stringenten Argumentation), von Irren und auch ziellosem Herumirren, von Verstandesverlust (Orlando wird, als er von der Hochzeit der geliebten Angelica mit einem anderen Mann erfährt, wahnsinnig, wobei sein Wahnsinn sowohl im Wald ausgelöst als auch größtenteils dort ausgelebt wird) und Zufall (die teilweise zentralen, die Handlung vorantreibenden Begegnungen finden oftmals als Zufallsbegegnungen im Wald nach ziellosem Herumirren statt). Dies sind nun allesamt Attributionen, die dem später gebrauchten Begriff des Diskurses diametral entgegenstehen. Dieser an sich irreführende Umstand wird verständlicher, blickt man auf die Entwicklung der Geschichte jenes in der italienischen Renaissance entstandenen Wortes. Karlheinz Stierle erhellt dessen Ety-

127 Ludovico Ariosto, Orlando Furioso, a cura di Lanfranco Caretti, presentazione di Italo Calvino, due volumi, Torino 1966/1992; volume primo, Canto ventesimosecondo, XII, S. 635.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

57

mologie in seinem 1984 veröffentlichten Aufsatz „Gespräch und Diskurs“128. Er stellt hierbei (im Gegensatz zu Fauser) die Begriffe ‚Konversation‘ und ‚Gespräch‘ einander gegenüber, wobei er der Konversation vorerst eher einen Selbstzweck, dem Gespräch einen Zweck außerhalb des Sprechens selbst zuspricht: Was das Gespräch aber in seiner Besonderheit bestimmt, und insbesondere von der Konversation abhebt, die der gesellschaftliche horror vacui erzwingt, liegt über die Kontinuität wechselseitiger Zuwendung hinaus in der gemeinsamen Hinwendung auf eine Sache, ein Verhältnis, ein Problem.129 Den Ursprung des Gesprächs als eigener Form sieht Stierle nicht in der Philosophie oder der Scholastik, sondern in der Literatur an der Schwelle zur Epoche der Renaissance, welche er eine „dialogische Epoche“ nennt, wobei ihm vor allem Petrarca und Boccaccio als Begründer dieser neuen Form gelten. In Boccaccios Decamerone wird das Erzählen so strukturiert, daß es die unauflösbare Komplexität von Fällen zur Darstellung bringt, an denen sich die Urteilskraft der Zuhörenden bewähren muß.130 Der Decamerone mit seiner Rahmenhandlung einer Gesellschaft, die auf der Flucht vor der Pest in einem Landhaus nahe Florenz zusammenkommt und mangels anderer Aufgaben sich die Zeit durch Erzählen vertreibt, inszeniert hier bereits am Ursprung der Gattung ‚Novelle‘ eine Gesprächssituation, wie sie für die Gesprächstheorien der Aufklärung wichtig wird: Die Gruppe besteht aus gleichgestellten Personen (Florentiner Adel), das Gespräch findet in einem speziellen Zirkel statt, der von der Arbeitswelt unangetastet bleibt, es gibt ein Oberthema, das für alle Erzählungen gelten soll und das sich am prodesse aut delectare der Horazischen Tradition orientiert: Nelle quali novelle piacevoli e aspri casi d’amore e altri fortunati avvenimenti si vederanno così ne’ moderni tempi avvenuti come negli antichi; delle quali le già dette donne, che queste leggeranno, parimente diletto 128 Karlheinz Stierle: „Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal“, in: Stierle, Warning, Das Gespräch, a.a.O., S. 297–334. 129 Ebd., S. 301. 130 Ebd., S. 307.

58

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

delle sollazzevoli cose in quelle mostrate e utile consiglio potranno pigliare, in quanto potranno cognoscere quello che sia da fuggire e che sia similmente da seguitare: le quali cose senza passamento di noia non credo che possano intervenire. [Hervorhebungen S.K.]131 Dabei wird für jeden der zehn Erzähltage ein spezielles Thema gefunden – das von Stierle beschriebene Hinwenden auf einen bestimmten Sachverhalt. Anstatt jedoch, wie es für eine solche Situation, wie sie die Rahmenhandlung entwirft, nachvollziehbarer wäre, vor allem im delectare zu verbleiben, dominiert, so Stierle, der Aspekt des prodesse für die Boccacciosche Gesprächssituation, vor allem durch den Anspruch, die Urteilskraft der Zuhörenden auf eine Probe zu stellen und so spielerisch zu üben. Der Stellenwert, der hierbei dem Erlangen und vor allem Üben von Fähigkeiten zukommt, die für den Vollzug des praktischen Lebens notwendig sind, wird in einer die Rahmenhandlung des Decamerone umgebenden Herausgeberfiktion begründet und gerechtfertigt: Das Büchlein soll zeigen, was zu vermeiden und was zu befolgen ist.132 Die im Decamerone ebenso wie in Dantes Divina Commedia verewigte Geschichte von Paolo und Francesca, dem Paar, das sich aufgrund der gemeinsamen Lektüre der Geschichte der verbotenen Liebe von Lancelot und Guinevere, der Gemahlin des Königs Artus,133 auf die Irrpfade der Liebe und des Ehebruchs begibt, wird dabei zum Symbol der Macht von Literatur über das Leben. Diese kann nun auch unter umgekehrten Vorzeichen wirken und zu einem angemessenen Lebenswandel hinführen, ein Gedanke, der den didaktischen Impetus der Literatur der Aufklärung durchzieht. Was auf der inhaltlichen Ebene der Texte eine Anleitung zum richtigen Handeln sein soll, kann auf der strukturellen Ebene eine Hinführung zum richtigen Denken sein, das sich abgesehen von konkreten Inhalten üben kann und soll. Wird in den Geschichten des Decamerone ganz allgemein das Urteilsvermögen der Zuhörer erprobt, so dienen die Gespräche des 18. Jahrhunderts zunehmend der Perfektionierung des ästhetischen Urteilsvermögens, das ganz besonders der Übung bedarf, da es, wie schon zuvor deutlich wurde, auf den eigenen unteren Erkenntnisvermögen basiert. Was Stierle für die Entwicklung des Begriffs discorso skizziert, führt zunächst zur Bezeichnung für ein Gespräch, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es methodisch unangeleitet ist und als lang 131 Giovanni Boccaccio, Decameron, Band I, hrsg. von A.E. Quaglio, Milano 82007, S. 3f. 132 Ebd., S. 3. 133 Bei der Lektüre dieser aus dem Kreis der Artussage stammenden Geschichte handelt es sich u einen Prosaroman, der jenen Teil der Sage besonders populär machte.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

59

und ausschweifend beschrieben wird.134 Zwar wird der discorso schon kurze Zeit später im Zusammenhang mit dem discorso della ragione verwendet, der bereits weg vom ungeordneten, labyrinthischen Umherschweifen und hin zu geordneter Gedankenführung, wie sie der Vernunft angemessen ist, leitet. Wird der discorso auf diesem Weg zum „Prinzip der ordnenden, sich in Sprache artikulierenden Vernunft“135, so bleibt jedoch gerade in der Zuschreibung des Ordnenden das Moment des ziellos zwischen den Argumenten Umherirrenden erhalten: Das wüste Material, das später das Material sein wird, das die sinnliche Erkenntnis in ihrer Wahllosigkeit von der Außenwelt aufnimmt und in eine Form bringen muß, die ein Urteil, in unserem Fall ein ästhetisches Urteil, möglich macht, muß erst in eine Struktur überführen werden. Der Erfahrungsgrund, der in der Renaissance dem Gespräch eine neue, paradigmatische Bedeutung gibt, und der auch in den neuen Diskursen sich zur Geltung bringt, die dem Gespräch entspringen, ist der einer hierarchisch nicht mehr zu ordnenden Vielfalt der Weltzuwendung. Die in sich geschlossene, im Diskurs der scholastischen Philosophie kulminierende christliche Weltsicht tritt nun in Kontrast zur neuen Erfahrung antiker Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit, zugleich aber zur Erfahrung der neuen Welt, deren Entdeckung den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick über alle Vergangenheit hinaustreibt, die selbst aber auch die Erfahrung einer ganz anderen Art von Kultur und kultureller Tradition auferlegt.136 Stierle skizziert damit das Szenario, das sich mit der Herausbildung der Ästhetik im 18. Jahrhundert in abgewandelter Form ein weiteres Mal vollzieht. Verliert in der Renaissance das Weltbild durch den Machtverlust der Scholastik an Konturen, so wird das Wissen im 18. Jahrhundert mit der Befreiung aus dem Korsett der Religion und der Logik als allein gültigem Maßstab für Urteile über die Welt und mit der Aufwertung von Kategorien wie Erfahrung, Geschmack und sinnliche Wahrnehmung grundlegend in Frage gestellt – eine Erschütterung, die im Aufruf zum selbständigen Gebrauch des jedem mitgegebenen Verstandes seinen deutlichsten Ausdruck findet. Der Weg des ‚Diskurses‘ vom unangeleiteten, umherschweifenden Gespräch zu einer Argumentation mit linearer Gedankenfüh134 Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 310. 135 Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 311. 136 Ebd., S. 312.

60

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

rung antizipiert das Problem der sinnlichen Wahrnehmung, die zunächst ungeordnet die Sinneseindrücke sammelt, in dieser wahllosen Sammelfunktion aber nicht zu einem Urteil fähig und der Logik folglich nicht ebenbürtig erscheint. Deshalb wird dieser Wahllosigkeit der Wahrnehmung mit einem Regelwerk für das richtige ästhetische Urteil und das gut gemachte Kunstwerk begegnet, das ja selbst wiederum zunächst nur unsere Sinne anspricht. So lehnt bereits Montaigne den Diskurs als „lineare Bewegung einer monologischen Argumentation mit autoritärem Geltungsanspruch“ ab, um dem Gespräch als „Form der gelehrten Unwissenheit“137 den Vorzug zu geben. Interessant ist hierbei Montaignes Definition des Gesprächs als écriture, als einer Form des schreibenden Redens. Das schreibenden Reden im Gespräch taucht in anderer Form wieder auf in den literarischen Gesprächen des 18. Jahrhunderts, die als Gespräche im Roman im Zentrum der vorliegenden Studie stehen. Das Spielerische und Experimentelle des Gesprächs oder des discorso in seiner ursprünglichen Bedeutung macht jenes zum probaten Medium des Sprechens über Ästhetik und der ästhetischen Urteile im 18. Jahrhundert, da es der Unsicherheit, die dem ästhetischen Urteil immer anhaftet, gerecht wird. Dabei wird das Umherirren, welches das Signum des Orlando Furioso ist, zum Signum des Gesprächs überhaupt und bleibt dies selbst im thematisch vollkommen unbestimmten Gespräch im Rahmen der sich herausbildenden bürgerlichen Konversation. Hier entstehen im Laufe des 18. Jahrhunderts vermehrt die sogenannten „topischen Modelle“, Gesprächstheorien, die das Fortbestehen des Gesprächs zum eigentlichen Ziel erklären. Hierbei geht es nicht mehr um die Hinwendung zu einem bestimmten Thema, über das gesprochen oder gar diskutiert wird, es geht vielmehr darum, überhaupt ein Gespräch zu führen, um das Erzeugen einer geselligen Atmosphäre. Daß diese Gesprächsauffassung in Kompendien und Handreichungen mündet, die bestimmte Themen vorschlagen, führt wieder zurück zum ziellosen Umherirren im Wald des Ariostschen Epos: es werden Topoi, Orte des Gesprächs, aufgelistet, die nacheinander ‚abgegangen‘ werden können, um dort, wo sich kein kohärenter Gesprächsfaden entwickelt, der mit einer inneren Logik und einer gewissen Stringenz von einem Thema zum nächsten führt, eine Gesprächsführung durch scheinbar zielloses Übergehen von einem Thema zum nächsten zu ermöglichen. Dabei kommt es nicht darauf an, daß die einzelnen Topoi in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind, sondern

137 Ebd., S. 315.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

61

darauf, daß sie überhaupt zur Verfügung stehen, da als ideales Gespräch das nicht endende gilt. Zwar kann und darf das Gespräch im Zusammenhang mit der Kommunizierbarkeit eines ästhetischen Urteils nicht in dieser Weise ziellos sein, da es sich schließlich zur Aufgabe gemacht hat, ein bestimmtes Geschmacksurteil einem Gegenüber so überzeugend darzustellen, daß dieses übernommen werden muß, und somit einem sehr präzisen Ziel und Gegenstand verpflichtet ist. Da es jedoch keine Begriffe und logischen Beweise anführen kann, die zur Zustimmung regelrecht zwingen, wird es sich, wie es die Rhetorik als Überzeugungskunst vorgibt, in deren Zentrum das Enthymem steht, an Topoi abarbeiten. An Topoi, die, wie es auch Aristoteles definiert, bereits als bewiesen gelten oder zumindest allgemeine Zustimmung finden,138 und mit deren Hilfe die für den Allgemeinanspruch des ästhetischen Urteils notwendige Überzeugungsarbeit geleistet werden kann, ohne daß eine Beweisführung vonnöten wäre. Dieser Rückgriff auf topische Orte kann genau das leisten, was Kant als zentral für das vernünftelnde Urteil, also das ästhetische Urteil, definiert: es kündigt sich als allgemein an, ohne jedoch ein auf Begriffen basierendes Vernunfturteil zu sein. Nicht zuletzt der Sensualismus mit seinen empiristischen Studien legt eine Sammlung an topisch verwendbaren Geschmacksurteilen vor, die – aus verschiedensten Gründen – allgemeine Zustimmung finden; so beispielsweise der Vorzug, der dem Runden vor dem Eckigen oder dem Süßen vor dem Bitteren gegeben wird, wie Burke es in seiner Abhandlung darlegt. Die Verzahnung der verschiedenen Gesprächsdefinitionen, die sich in einem komplizierten Verhältnis zum Diskurs und zur Konversation befinden, taucht bei Kant noch einmal an anderer Stelle auf, wobei auch hier wieder ein Rückbezug auf den Ursprung des discorso sichtbar wird. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht139 schreibt Kant im Zusammenhang mit dem Begehrungsvermögen über Geselligkeit im Allgemeinen und die Tischgesellschaft im Besonderen. Dabei kommt der Geselligkeit eine ähnliche Zwischenstellung wie der Urteilskraft zu: Sie soll das physische Gute mit dem moralischen Guten verbinden, eine Verschmelzung, die Kant selbst zunächst als unmöglich bezeichnet.140 Sie kann jedoch in gewisser Weise doch erfolgen, und zwar in einer „Vereinigung des 138 Vgl. hierzu: Aristoteles, Rhetorik, Kapitel I und II, 1354a–1358a, S. 7–20. 139 Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden. Band 10: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Zweiter Teil: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968. 140 Vgl. ebd., § 59; S. 615.

62

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Wohllebens mit der Tugend im Umgange“141, der Humanität. Die Möglichkeiten des geselligen Umgangs werden nun mit den Beispielen Musik, Tanz und Spiel näher beschrieben, wobei allerdings eine Form des geselligen Umgangs allen anderen vorzuziehen ist, die Tischgesellschaft: Das Wohlleben, was zu der letzteren [der wahren Humanität] noch am besten zusammen zu stimmen scheint, ist eine gute Mahlzeit in guter (und wenn es sein kann auch abwechselnder) Gesellschaft.142 Besonders für den Philosophen, so Kant, ist das Essen ohne Gesellschaft, das „solipsismus convictorii“ ungesund. Die Möglichkeit, seine Gedanken mit anderen „Männern von Geschmack (ästhetisch vereinigt)“143 zu teilen, hat der philosophierende Gelehrte im Tischgespräch, wobei hier der ästhetische und somit metaphorische Geschmack mit dem eigentlichen, sinnlichen Geschmack wieder vereinigt wird. Das Tischgespräch ist dem Wechsel der Gänge und der dazwischen entstehenden Pausen angepaßt und besteht selbst auch aus verschiedenen „Gängen“ oder Teilen: „1) Erzählen, 2) Räsonieren und 3) Scherzen.“144 Auch Kant listet für den Bereich des Erzählens Topoi auf, die aufgesucht werden sollen, nämlich aktuelle Nachrichten oder Neuigkeiten sowohl einheimischer als auch auswärtiger Provenienz. Sind diese Orte des Gesprächs aufgesucht, folgt der Teil des Räsonierens, wobei für Kant ‚räsonieren‘ synonym für ‚vernünfteln‘ steht und damit das Geschmacksurteil meint. Für diesen Teil des Gesprächs veranschlagt Kant nun das größte Zeit- und auch Energiekontingent: denn weil beim Vernünfteln Verschiedenheit der Beurteilung über ein und dasselbe auf die Bahn gebrachte Objekt schwerlich zu vermeiden ist, und jeder doch von der seinigen eben nicht die geringste Meinung hat, so erhebt sich ein Streit, der den Appetit für Schüssel und Bouteille rege, und nach dem Maße der Lebhaftigkeit dieses Streits und der Teilnahme an demselben, auch gedeihlich macht.145

141 Ebd., § 59; S. 616. 142 Ebd., § 59; S. 617. 143 Ebd. 144 Ebd., § 59; S. 620. 145 Ebd.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

63

Das vernünftelnde Gespräch wird hier als ein lebhafter Redeteil gesehen, der in seiner Ungeordnetheit dem discorso als ausschweifendem Gesprächsteil gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung gleicht. Eingebettet ist es in Teile banalerer Unterhaltung – das Austauschen über Neuigkeiten, die im Übrigen auch unter den Topoi der Gesprächshandreichungen eine wichtige Rolle spielen, und das Scherzen – namentlich das mit „dem anwesenden Frauenzimmer“146, das sich vermutlich am ernsteren Räsonieren nicht beteiligen konnte –, welches schließlich in Gelächter mündet und somit eine Ventilfunktion für die im Streit über die verschiedenen Urteile angestaute Energie besitzt. Das ästhetische Urteil wird hier in Zusammenhang gebracht mit der Geselligkeit der Tischrunde, die eine Gemeinschaft willkürlich festsetzt und innerhalb dieser nun spielerisch Tugenden übt, die für jede Form der menschlichen Gesellschaft notwendig sind, beispielsweise die Humanität im Umgang, die allgemein der Fähigkeit zur „gesitteten Glückseligkeit“ entspricht, also der Verbindung der Bedürfnisse der sinnlichen Natur des Menschen mit den Erfordernissen seiner moralischen Anlage.147 Wie auch bei Schiller, der den ästhetischen Zustand in einem unauflöslichen Widerspruch sowohl als idealen Zustand des Menschen definiert, als auch ihn als spielerische Vorstufe zum ethischen Staat begreift, können bei Kant durch das ästhetische Urteil und die Diskussion darüber in einer von den Zwängen der Realität befreiten Situation die Tugenden des Menschen geübt werden. Das Geschmacksurteil dient dem in seiner Identität noch nicht gefestigten Bürger der Aufklärung als Ort der Selbst-Erprobung. Es wird im Gespräch vorgebracht und verteidigt, in einer Form des discorso, der – sei es nun geordnet oder ungeordnet, als Gespräch oder als Diskurs – das Wissen einer Gesellschaft in all seinen Facetten nicht nur ordnet, sondern überhaupt erst schafft. Besonders anschaulich erscheint das Schaffen von Wissen im Gespräch über das ästhetische Urteil, da die Argumentation sich nicht auf schon vorhandene Allgemeinplätze und Begriffe beziehen kann, die nicht mehr hinterfragt werden, sondern einen derartigen Konsens erst herstellen muß. Spielt diese Art des Gesprächs für das 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle, so ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß eine deutliche Hinwendung zum sokratischen Dialog spürbar wird. Hier wie dort geht es darum, Wissen herzustellen, dies aber nicht vor dem Hintergrund von feststehenden, nicht hinterfragbaren Axiomen und Begriffen, die akzeptiert werden müssen, sondern indem der eige146 Ebd. 147 Vgl. ebd.

64

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

ne Verstand gebraucht wird, um die richtigen Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden. Wenn Fauser allgemein für die Aufklärung konstatiert, daß Sokrates zwar ein Vorbild für das wissenschaftliche Argumentieren, nicht aber für das Gespräch gewesen sei,148 so stimmt dies für das Gespräch über ästhetische Themen keineswegs so pauschal. Das Gespräch über das Geschmacksurteil mit seinem Anspruch, Argumente für ein zunächst subjektives, sinnliches Wahrnehmen zu finden und sich damit von den klassischen Feldern der Argumentation und Diskussion zu entfernen, könnte kein passenderes Vorbild als Sokrates und den sokratischen Dialog finden, geht es hier doch eben nicht ‚nur‘ um ein Gespräch im Sinne der Konversation französischer Salons, sondern um das Etablieren neuer Wissensformen, wie sie die sinnliche Erkenntnis zur Verfügung stellt. Dabei kann das sogenannte ‚magistrale‘ Gespräch keine große Rolle spielen, weil es kein axiomatisches Wissen gibt, das dem Schüler in einem solchen Gespräch nahegebracht werden soll, sondern ein Wissen erst hergestellt werden muß. Die Grundlagen des sokratischen Dialogs, die Jürgen Mittelstraß in seinem Aufsatz „Versuch über den sokratischen Dialog“149 herausstellt, erfüllen die Anforderungen an ein solches, Wissen sicherndes Gespräch in besonderem Maße: In seiner Eigenschaft als Sokratischer Dialog gilt für ihn [den philosophischen Dialog] zudem die Unterstellung, daß neben bzw. ineins mit der Wissensbildung auch die Bildung einer philosophischen Orientierung und die Bildung eines philosophischen Subjekts Zweck seiner Veranstaltung ist.150 Es geht also weniger um die Vermittlung von Wissen, wie sie beispielsweise in der von der anamnesis-Annahme geprägten Dialogtheorie des Aristoteles eine Rolle spielt, als vielmehr um die Selbständigkeit des autonomen Subjekts, die nur und erst im Dialog ‚errungen‘ werden kann. Zu dieser Autonomie gelangt das Subjekt bei Sokrates, indem es durch eine Phase geht, die durch die Erschütterung vermeintlich sicheren Wissens oder von Sicherheiten im weitesten Sinn geprägt ist und die dadurch überhaupt erst zu einer Bewegung führt. Hierbei steht nicht das Zustandekommen von Bedeutungen auf einer semantischen Ebene im Mittelpunkt, sondern das Zustandekommen des Dialogs und in dessen Folge von 148 Vgl. Fauser, Gespräch, S. 94f. 149 Jürgen Mittelstraß: „Versuch über den sokratischen Dialog“, in: Stierle, Warning, Das Gespräch, a.a.O., S. 11–27. 150 Ebd., S. 11.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

65

Forschung. Anhand des Dialogs wird so deutlich, daß philosophisches Wissen nicht in Lehrbuchwissen transformierbar ist, sondern „argumentatives Handeln unter einer Vernunftperspektive oder, wie es zuvor unter dem Stichwort ‚Dialektik‘ hieß, eine Lebensform“151 darstellt. Der Dialog ist der angemessenste Ort eines Wissens, dem eine dialektische Struktur einbeschrieben ist, da es zugleich das Nicht-Wissen umfaßt. Das Nicht-Wissen ist keine Negation des Wissens, kein Endpunkt, sondern positiver Teil unseres Wissens, da es zumindest in der Lage ist anzuzeigen, was es zu suchen gilt. Somit ist der Dialog der Darstellung von Wissen nicht äußerlich in dem Sinn, daß er uns – wie im magistralen Gespräch vorgesehen – Wissen vermittelt, er gibt vielmehr die innere Struktur wissenschaftlicher Entwicklungen wieder, da in ihm Vernunft im eigentlichen Sinn manifest wird. Der Dialog wird so zu einem Ort, der Einstellungen vermittelt, die die Vernunft befördern sollen, und damit zu einem Ort des philosophischen Lebens: Vernunft ist nichts, das sich in irgendeiner Weise demonstrieren ließe, sondern etwas, das sich im philosophischen Dialog zeigt. Sie zeigt sich in rechtverstandener Agonalität: die Subjekte arbeiten ihre Subjektivität aneinander ab. Transsubjektivität als ‚Inhalt‘ der philosophischen Orientierung ist daher auch stets eine Leistung konkreter Subjekte; andernfalls wäre sie auch von ‚Objektivität‘ als einer Eigenschaft instrumentalen Wissens nicht unterscheidbar. […] Der philosophische Dialog […] ist somit das Medium dessen, was Platon als ‚in der Philosophie leben‘ bezeichnet hat. Philosophie insofern, noch einmal, nicht als ein gegenüber den ‚Wissenschaften‘ konkurrierendes Modell der Wissensbildung, sondern als Lebensform.152 Diese Auffassung des Dialogs, bei der nicht nur die Vermittlung von festgelegtem Wissen, sondern vor allem die Vermittlung einer Geisteshaltung, die Erkenntnis überhaupt ermöglicht, im Vordergrund steht, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend wichtig. Die immer größer werdende Beliebtheit des Dialogischen nicht nur als philosophische Form, sondern auch als ästhetische, macht dessen Definition komplexer und schwieriger. Während sich Johann Jakob Engels Abhandlung Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung auf 151 Ebd., S. 21. 152 Ebd., S. 26.

66

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

den dramatischen Dialog konzentriert, gewinnt der Dialog auch als Element des Romans mehr und mehr an Wichtigkeit: Neben dem die erzählende Instanz ausblendenden reinen Dialogroman steht eine Reihe von Romanen, in denen dem dialogischen Element eine besondere Bedeutung zukommt. Die auffallende Hinwendung der Literatur zum Dialog hängt mit dem Ringen nach Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Wahrheit zusammen, allesamt Begriffe, die seit der Antike ein zentrales Problem der Dichtungstheorie darstellen, welches sich mit der Theoretisierung der sinnlichen Erkenntnis als analogon rationis durch Baumgarten weiter zuspitzt, da von jenen Kategorien nun auch die Erkenntnismöglichkeiten ästhetischer Werke abhängen. Die Authentizität, die der Dialog im Gegensatz zur Stimme des Erzählers garantiert, indem er seine Protagonisten direkt und ungefiltert sprechen läßt, zeigt Anja Oesterhelts Aufsatz zur Poetik des Dialogs als Projekt der Aufklärung vor allem an Engel und Wieland auf: „In Engels Poetik ist nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ der Bewertungsmaßstab der dialogischen Darstellung.“153 Indem der Text authentische Gespräche fingiert, entledigt er sich des Problems der Wahrheitstreue in der Darstellung – er stellt das Gespräch nicht dar, er ist es; somit bildet er keine Wahrheit mimetisch ab, er ist selbst Wahrheit. Diese Wahrheit, die der Dialog zu verkörpern vermag, erschöpft sich aber nicht in einer wahrheitsgetreuen Wiedergabe von Gesprochenem, sondern meint zugleich eine ganz andere Wahrheit: es ist die Wahrheit eines Denkens, das selbst gelehrt werden soll und das wichtiger ist, als alle vordergründig transportierten Inhalte. Dabei geht es um ein Denken, auf das sich der Bürger der Aufklärung per definitionem verpflichtet, da es interpretiert wird als Medium des Ausdrucks und zugleich der Heranbildung der ‚policierten‘ und ‚civilisierten‘ bürgerlichen Gesellschaft – und damit gleichermaßen der ‚Policierung‘ des sich emanzipierenden Individuums durch seine Verpflichtung auf die Teilnahme am vernünftigen Diskurs.154 Zum einen spielt hier die Überzeugung eine Rolle, daß Wahrheit und Erkenntnis relativ sind und erst im Dialog hergestellt werden müssen, was als direkte Konsequenz die strukturelle Mehrstimmigkeit, die erst zu einer Totalität führen kann, 153 Anja Oesterhelt: „Poetik des Dialogs als Projekt der Aufklärung“, in: Marion Gymnich, Ansgar Nünning (Hrsg.), Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005 [ELK Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 16], S. 157–167; S. 161. 154 Ebd., S. 162f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

67

mit sich bringt, ein Problemfeld, das für die Ästhetik von Anbeginn zentral war. Zum anderen lenkt die Hinwendung zum Dialog als angemessener Form den Blick auf die Prozeßhaftigkeit des Denkens und damit der Erkenntnis.155 Indem der Dialog die Bewegung des Denkens veranschaulicht, ist sein Hauptanliegen nicht mehr die Vermittlung von feststehendem Wissen, sondern eine Anleitung zum Denken, wie sie dem sokratischen Dialog immanent ist. Somit kann für den Dialog gelten: „[E]r transportiert keine Botschaft – er ist die Botschaft.“156 Diese Authentizität, die dem Dialog zugesprochen wird, spielt gemeinsam mit seiner Prozeßhaftigkeit und der damit verbundenen Relativität für die Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts noch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle, und zwar im Hinblick auf die Handlung. Einschlägig hierfür sind Engels Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung, wo ein Handlungsbegriff herausgearbeitet wird, um ihn dann mit dem Dialog auf der einen Seite und der Erzählung auf der anderen Seite in Relation zu setzen. Sie ist im zeitgenössischen Kontext einer Auffassung von Handlung zu sehen, die diese als „nicht nur von der Vernunfttätigkeit, sondern von den ästhetischen Aktivitäten selbst geordnet“157 betrachtet. Diese doppelte Verbindung des Handelns sowohl mit der für die Vernunft zuständigen Philosophie als auch mit der sich dem Bereich der Kunst widmenden Ästhetik macht dieses besonders wichtig für die Popularphilosophen, die in ihrer Philosophie des Lebens die Verknüpfung von Ethik, Ästhetik, Anthropologie und Psychologie versuchen mit dem Ziel, ein ‚Weltwissen‘ zur Verfügung zu stellen, das nicht nur diese disparaten Disziplinen umfaßt, sondern zugleich eine handlungsleitende Funktion haben kann.158 Dabei steht dem funktionalen Handlungsbegriff, wie er auch bei Kant zu finden ist und im kategorischen Imperativ einen prägnanten Ausdruck findet, ein historisch-­ dialogisches Handlungsverständnis gegenüber, in dem das Handeln seine Legiti-

155 Vgl. hierzu Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, S. 154–165, sowie Oesterhelt, Poetik des Dialogs, S. 165. 156 Oesterhelt, Poetik des Dialogs, S. 167. 157 Doris Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik n der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989; S. 7. Bachmann-Medick gibt einen détaillierten Überblick über das Handlungsverständnis der Popularphilosophen im 18. Jahrhundert, um dann an der Abhandlung Engels die Begriffe von „Darstellung“ und „Vorstellung“ sowie an Christian Garves Schriften den Begriff des „Interesses“, in diesem Zusammenhang zu untersuchen. 158 Für die Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts sind vor allem zu nennen: Christian Garve (1742–1798), Johann Jakob Engel (1741–1802), Johann Georg Sulzer (1720–1779), Moses Mendelssohn (1729–1786), Johann August Eberhard (1739–1809) sowie Carl Friedrich Nicolai (1733–1811).

68

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

mation hauptsächlich aus seiner Nachvollziehbarkeit bezieht.159 Es soll nicht die Brauchbarkeit in nützlichen Geschäften, sondern vielmehr der schöne Anstand im Handeln für die Bürger im Mittelpunkt stehen.160 Wie auch im Gespräch so ist für die Handlung das wichtigste Kriterium der Beurteilung die Form, ohne Ansehung der Inhalte: Um nachvollziehbar zu sein, muß eine Ordnung der Abfolge gewährleistet sein, die dabei einem aus der Ästhetik stammenden Ideal verpflichtet ist – der formalen Vollkommenheit. Unter dieser verstehen Baumgarten wie auch Wolff und Leibniz das Bezogensein der Teile auf einen einzigen Grund und gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit in der Einheit. Diese Postulate werden überführt in eine Ordnung im „Sinne einer Angemessenheit der Darstellung an die Empfindungs- und Denkvermögen der Subjekte“161. In der Kunst wie im realen Leben wird somit die Kategorie ästhetischer Schönheit zu einem Leitbild für die Handlung. Diese ästhetische Schönheit, die sich in der Ordnung der Handlungen ausdrückt, wird für die Popularphilosophen zum Prüfstein ihrer Tugendhaftigkeit, ein Gedanke, den auch Schiller in seiner Beschreibung der schönen Seele aufnimmt: Wo das moralische Gefühl Befriedigung findet, da will das ästhetische nicht verkürzt sein, und die Übereinstimmung mit einer Idee darf in der Erscheinung kein Opfer kosten.162 Wenige Seiten später resümiert er: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.“163 Die Grazie, die sich in den Handlungen der schönen Seele zeigt, ist das äußere Anzeichen einer inneren Schönheit, also Tugendhaftigkeit. Wie für den sokratischen Dialog, der für die Popularphilosophen von großem Interesse war, so steht auch für die ästhetisch geordnete Handlung nicht das Ziel, sondern der Verlauf im Zentrum des Interesses, wobei Garve sich für

159 Vgl. Bachmann-Medick, Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 39f. 160 Der schöne Anstand steht hierbei in Analogie zum Anstand für den Adel, demgegenüber das Bürgertum ein eigenes und von diesem unterschiedenes Wertesystem etablieren möchte. 161 Bachmann-Medick, Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 47. 162 Friedrich Schiller: „Über Anmut und Würde“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., München/Wien 2004, S. 433–488; S. 458. 163 Ebd., S. 468f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

69

ein Verständnis der Handlung als Selbstzweck auf Aristoteles164 beruft. Analog zur Erkenntnis und zum philosophischen Wissen, das im sokratischen Dialog nicht schon von vornherein feststeht, sondern im Gespräch gewonnen werden muß, stellt der Handelnde eine Ordnung seines Handelns erst im Vollzug her. Dieses Herstellen der Ordnung und der Erkenntnis im für alle sichtbaren Prozeß wiederum macht das möglich, was in beiden Fällen das wichtigste Ziel ist: die Nachvollziehbarkeit des Gedankens oder der Handlung. Darüber hinaus ist die mit „Anstand“ eingerichtete Handlung – ähnlich wie es von der Sympathie-Ethik betont wird – auf den „Beyfall“ der Mitmenschen bedacht und dient somit zur Aufrechterhaltung und Harmo­ nisierung der Kommunikation im Feld des sozialen „Umgangs“.165 Die Aufrechterhaltung der Kommunikation und vor allem die Beistimmung anderer sind grundsätzliche Probleme, mit denen sich das über ästhetische Gegenstände räsonierende Gespräch auseinandersetzen muß, da die Grundlagen seiner Sicht auf die Welt, der Ästhetik, nicht zu den gesellschaftlichen Gemeinplätzen gehören und ihre Prinzipien nicht Teil eines kanonisierten Wissens sind. Diese Engführung von Dialog und Handlung ist das zentrale Moment der Abhandlung von Engel, dessen Hauptinteresse in der dramatischen Handlung liegt. Er diskutiert die Vor- und Nachteile des Dialogs für das Drama und unterscheidet zunächst drei verschiedene Arten des Dialogs: Überhaupt möge man in dieser Absicht dreierlei philosophische Gespräche unterscheiden können. Einige derselben sind durchaus und rein philosophisch: es ist darin den Personen um nichts, als um die Erkenntniss einer Wahrheit zu thun […]. In andern, hängt der philosophische Charakter der Personen mit ihrem allgemeinen sittlichen zusammen: […] Diese zweite Art, wenn alles Übrige gleich ist, hat schon weit mehr Interesse. Indess sind beide, nach dem Begriffe den ich oben bei Eintheilung der Handlung 164 Aristoteles unterscheidet in seiner Ethik zwei Arten von Handlung: Die Handlungen mit einem Zweck außer sich selbst und diejenigen mit einem Zweck in sich selbst, also Selbstzweck. Für diese Handlungen liegen Zweck und Ziel im Vollzug ihrer selbst, sie geschehen um ihrer selbst willen. Vgl. hierzu Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Günther Bien, Hamburg 1985, z.B.: Erstes Buch, 5. Kapitel: „Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber dem eines anderen wegen Erstrebte und das was niemals wegen eines anderen gewollt wird, gegenüber dem, was ebensowohl deswegen wie wegen seiner selbst gewollt wird, mithin als Endziel schlechthin und als schlechthin vollendet, was allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt wird.“ (1097a, S. 10) 165 Bachmann-Medick, Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 54f.

70

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

gegeben habe, noch unvermischt philosophisch. Endlich ist in noch andern das dramatische Interesse mit dem philosophischen auf ’s genaueste verknüpft: es ist an dem Ausgange des Räsonnements dem Ehrgeize, dem Eigennutze der Personen gelegen.166 Er räumt dem Dialog eine wichtige Stellung ein, obgleich er eben nicht als Handlung erscheint, da er ihm eine besondere Eignung zur Darstellung von Empfindungen und inneren Zuständen zuspricht.167 Diese von ihm als „Seelenhandlungen“ bezeichneten inneren Vorgänge ordnet er den echten Handlungen zu, sofern sie nicht nur eine Veränderung des Charakters der Person beschreiben, sondern zugleich in Handlungen münden. Um diese inneren Handlungen darzustellen, erscheint Engel nun der Dialog im Vergleich zur Erzählung das angemessenere Mittel, da hier die vermittelnde und damit auch distanzierende Instanz des Erzählers wegfällt und die Schritte auf dem Weg der einen Empfindung zur anderen deutlicher zur Darstellung gebracht werden können. Während die Erzählung die Einbildungskraft des Rezipienten leite und erdrücke, rege sie der Dialog an und wirke sich auf die Handlungen des Rezipienten aus.168 Ähnlich wie beim sokratischen Dialog, der den Dialogpartner zu einem eigenständigen philosophischen Denken hinführen will, hat auch die in der Literatur dargestellte Handlung für die Popularphilosophen eine Verbindung mit der Realität des Rezipienten: Sie soll ‚Weltweisheit‘ vermitteln und, indem sie nicht nur Anleitungen zum Handeln postuliert, sondern diese in schöner und nachvollziehbarer Weise präsentiert, in ein eigenständiges Handeln einführen, das dann auch unabhängig vom konkreten Fall in der Praxis umgesetzt werden kann. Indem eine solche Handlung auf ästhetische Prinzipien zurückgeführt wird, erscheint auch hier sowohl im Ort des Geschehens (Engel spricht hauptsächlich über das Drama und den dramatischen Dialog) als auch in den Regeln für seine Präsentation die Ästhetik als Grundlage, die über die Kunst vermittelt Anweisungen für das praktische Leben zu geben imstande ist. Auch hier geschieht dies über das Gespräch, das als Bindeglied zwischen Ästhetik und Lebenspraxis fungiert 166 Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, S. 184ff. 167 Vgl. ebd., S. 149: „Man sieht also, um auf das Vorige zurückzukommen, wie Unrecht diejenigen haben, die immer nur da Handlungen sehen, wo sie Bewegungen finden. Der eigentliche Schauplatz aller Handlung ist die denkende und empfindende Seele; und die körperlichen Veränderungen gehören nur insoferne mit in die Reihe, als sie durch die Seele bewirkt werden, die Seele ausdrücken, in der Seele, als Zeichen von den Absichten und Bewegungen einer andern Seele, Begriffe und Entschlüsse hervorbringen, oder irgend einen andern zur Handlung gehörigen Eindruck auf sie machen.“ 168 Vgl. ebd., S. 232ff. sowie Bachmann-Medick, Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 157.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

71

und die Prinzipien der einen in einem für die andere relevanten Zusammenhang erscheinen läßt, wie auch schon das Gespräch über die Kunst in seinem abgeschlossenen Raum des Gesprächszirkels oder des Salons auf die Erfordernisse in einer aufgeklärten Gesellschaft vorbereitet hat. Die Kunst wird somit ganz im Schillerschen Sinn zum Ort des Spiels, das als Vorstadium zur Realität, gleichzeitig aber auch als Ort der Idealität fungiert. Dies ist, und das zeigen die vielen Schriften der Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts, allerdings nur möglich durch eine Popularisierung der zugrundeliegenden ästhetischen Begriffe wie Schönheit, Ordnung, Einheit, Vollkommenheit. Diese Popularisierung tritt in einer doppelten Rolle auf, zum einen als Voraussetzung einer pragmatischen Dimension von Kunst, zum anderen als deren Resultat. Der Dialog muß dabei die zentrale Rolle spielen, da er, wie auch Engel betont, die Möglichkeit der Inszenierung von Nicht-Wissen bietet: Diese giebt eine neue, sowohl von philosophischer Geschichte, als philosophischem Dialog, unterschiedene Art von Werken, die gleichwohl einigermaßen die Natur des letztern annimmt: indem nehmlich der Philosoph sich gleichsam selbst in mehrere Personen theilt, bald seine eigene, bald die Rolle eines andern spielt, und sich, so zu reden, aus der Seele des Andern Einwürfe macht, die er dann aus seiner eigenen beantwortet. Um desto eher will ich diese ganze Art von Werken mit dem Namen philosophischer Selbstgespräche belegen. […] Diese Art des Vortrags hat ihre ausnehmenden Vortheile, wenn sie geschickt behandelt, und bei Materien von Wichtigkeit gebraucht wird. Sie unterrichtet für’s erste besser und gründlicher von dem Gegenstande der Untersuchung selbst: sie verpflanzt, um mich mit dem Canzler Baco auszudrücken, die Wahrheit so in die Seele des Lesers, wie sie in des Schriftstellers eigener Seele gewachsen ist. […] so daß nun der Leser selbst, wenn er sie wartet und pflegt, die schönsten Früchte der Erkenntniß davon zu hoffen hat.169 Indem das Gespräch sich vom strengen sokratischen Dialog zu einem in die Kunst eingebetteten Dialog verwandelt, erhält es eine zweifache Funktion: Es ist 169 Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, S. 156ff. Zwar ist dies für Engel nicht die dem Drama angemessene Form des Dialogs, doch wird seine Beobachtung hinsichtlich der Eignung dieser Form des Dialogs für die Vermittlung von Wahrheit und Erkenntnis für den späteren Verlauf der Argumentation von Bedeutung sein, da der mit der dramatischen Spannung verknüpfte Dialog für den Roman kein probates Mittel darstellt.

72

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

fiktionsintern ein sokratisches Gespräch mit all seinen Vorgaben von der Herrschaftsfreiheit des Dialogs,170 der Inszenierung von Erkenntnis, dem Praktizieren von philosophischer Lebensweise. Fiktionsextern jedoch erscheint es für den Beobachter als Lehrgespräch. Er kann die Suche nach der Wahrheit durch den Nicht-Wissenden beobachten und im Idealfall auch nachvollziehen, ohne jedoch deren Gehalt beeinflussen zu können. Im geschützten Raum der Kunst wird der noch unerfahrene Beobachter zwar ausgestattet mit den notwendigen Kompetenzen für ein selbstständiges Denken und Handeln, ihm wird aber gleichzeitig der Ablauf eines erfolgreichen Denkens und Handelns mitsamt dem Ergebnis vorgeführt, ohne daß er das Risiko tragen müßte.

170 Vgl. Buck, Lehrgespräch, sowie Thomas Luckmann: „Das Gespräch“, in: Stierle, Warning, Das Gespräch, a.a.O., S. 49–63, der die Frage aufwirft, ob die Gleichheit nicht für alle Ausprägungen des Gesprächs kennzeichnend ist, und sei es nur in Form einer gespielten, vorübergehenden Gleichheit (vgl. ebd., S. 57).

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

73

4

Das Widerspiel von Kunst und Leben: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre „Du bist ein Tor, du wirst nicht klug werden.“ Philine zu Wilhelm (WM, S. 597)

Goethes 1795 veröffentlichter Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre171, der eine Überarbeitung der Theatralischen Sendung darstellt, galt lange Zeit als idealer Bildungsroman. Der Grundstein zu dieser fast 200 Jahre lang nahezu einhellig vorherrschenden Einschätzung des Goetheschen Romans wurde bereits von Goethes Zeitgenossen Friedrich Schlegel gelegt. Seine fast schon euphorisch zu nennende Kritik des Wilhelm Meister, die 1798 als sogenannte Charakteristik unter dem Titel Über Goethes Meister im Athenäum erschien,172 führte dazu, daß der Roman bereits kurz nach seinem Entstehen als kanonischer Roman in das ebenfalls noch recht junge Genre des Bildungsromans aufgenommen wurde. Weder die Zeitgenossen noch die nachfolgenden Generationen von Kritikern haben den ironischen Ton von Schlegels Rezension beachtet. Daß dieser Ton doppelbödig ist, belegen Schlegels private Notizen: Sie sind durchweg eher kritisch und attestieren Goethes Helden und seinem gleichnamigen Roman wenig Nachahmungswürdiges.173 Hierin ist Schlegel mit einigen maßgeblichen Stimmen der Zeit einig. So sieht Friedrich Nicolai die vordringliche Prägung des Protagonisten Wilhelm darin, daß „der arme Meister […] in seinen Lehrjahren nichts gelernt hat, als sich von jedem Geschöpfe regieren zu lassen, das er antraf “174, während Novalis noch härter zu Gericht geht. Zunächst äußert er sich noch durchaus 171 Johann Wolfgang Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abteilung I, Band 9: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten, hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt/Main 1992, S. 355–992. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe Im Folgenden wird der Roman mit dem Kürzel WM bezeichnet, die daraus entnommenen Zitate mit Seitenzahl bezeichnet. 172 Vgl. hierzu Hendrik Birus: „‚Größte Tendenz des Zeitalters‘ oder ‚ein Candide, gegen die Poesie gerichtet‘? Friedrich Schlegels und Novalis’ Kritik des Wilhelm Meister“, in: Karl Eibl, Bernd Scheffer (Hrsg.), Goethes Kritiker, Paderborn 2001, S. 27–43; S. 28. 173 Vgl. Birus, Kritik des Wilhelm Meister, S. 34. 174 Zitiert nach: ebd.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

75

positiv über den Roman, indem er ihn als philosophisch und als reinen Roman preist, der ganz Kunstprodukt, da durch und durch Verstandesprodukt sei: Der Sitz der eigentlichen Kunst ist lediglich im Verstande. Dieser konstruirt nach einem eigenthümlichen Begriff. Fantasie, Witz und Urtheilskraft werden nur von ihm requirirt. So ist Wilhelm Meister ganz ein Kunstproduct – ein Werck des Verstandes.175 Allerdings geht er recht schnell dazu über, nur noch die rhetorische Form zu loben.176 Nach immer neuen Revisionen gelangt Novalis schließlich zu dem Schluß, in Goethes Roman lösche sich die Poesie selbst aus, indem sie einen Triumph der Ökonomie feiere: Ich wollte noch viel darüber sagen, denn es ist mir alles so klar und ich sehe so deutlich die große Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Meister vernichtet wird – und während sie im Hintergrunde scheitert, die Oeconomie sicher auf festen Grund und Boden mit ihren Freunden sich gütlich thut, und Achselzuckend nach dem Meere sieht.177 Deshalb, so Novalis Schlußfolgerung, sei „[k]ünstlerischer Atheismus […] der Geist des Buchs“.178 Abgesehen von Karl Schlechta, der die Bildungsgeschichte des Wilhelm Meister eher als Geschichte des Niedergangs, denn als eine des Aufstiegs zu höheren Daseinsformen, liest,179 werden diese kritischen Stimmen von den Interpreten des Romans bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entweder nicht beachtet oder aber die Abkehr von der Kunst und dem Künstlerdasein, das der Roman in aller Deutlichkeit vorführt, als gelungener Bildungsaufstieg gewertet. So zum Beispiel die Studie von Jürgen Jacobs, der in einer fast schon naiv zu nennenden Lesart dem erfolgten Bildungsgang des Wilhelm ein positives Ende zuspricht und konstatiert:

175 Zitiert nach: ebd., S. 40. 176 Vgl. ebd., S. 41. 177 Zitiert nach: ebd., S. 38. 178 Zitiert nach: ebd., S. 41. 179 Vgl. Karl Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt/ Main 1985.

76

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Diese Offenheit des Endes, der Umstand, daß der Held nicht im Glanz der gewonnenen Bildung gezeigt ist und daß seine fruchtbare, sozial integrierte Tätigkeit nicht vorgeführt wird, hat den Zweifel möglich gemacht, ob die Lehrjahre überhaupt ein Bildungsroman seien. Es ist jedoch im Ernst nicht zu bestreiten, daß der Held am Ende bis an die Schwelle eines erhöhten Zustandes gelangt. Auch wenn man dessen Verwirklichung Schillers Ausdruck zufolge ‚auf eine ferne kreditieren‘ muß, so bezeugt doch die Verlobung mit Natalie, der wahrhaft schönen Seele, daß Wilhelm einen neuen Lebensabschnitt erreicht hat, der sich von der Verfehltheit und Vorläufigkeit alles Früheren deutlich abhebt.180 Dabei vertritt Jacobs die Ansicht, daß Wilhelm am Ende einen höheren Zustand erreicht181, wobei er das Ziel der Selbstbeschränkung182 durch seinen Willen zur Ausbildung183 erreiche. Jacobs scheint hier wie viele andere Interpreten des Wilhelm Meister zu übersehen, daß Bildsamkeit zwar die Voraussetzung für einen gelungenen Bildungsweg darstellt, dieser Bildungsweg aber zumindest idealerweise nicht sein Ziel darin erreicht, daß der Held unter Aufgabe seiner Wünsche und Hoffnungen ein nützliches Glied der Gesellschaft wird, sondern seinen Abschluß in der Herausbildung eines selbstverantwortlichen Individuums findet.184 Vielmehr scheint Wilhelm das Ideal des Bildungsromans zu verkörpern, über das Hegel spottet, da es nach allerlei Anstrengungen auf fast alle hohen Ideale und Ziele verzichten muß, um das kleinbürgerliche, häusliche „Glück“ zu genießen und sich als gefügiges Rädchen in die Maschinerie der Gesellschaft einzufügen.185 Was Nicolai noch als Kritik formuliert, nämlich die Steuerbarkeit Wilhelms nach dem Willen und den Zielen der Turmgesellschaft, erscheint vielen Interpreten ungeachtet der Hegelschen Ironie als Bildungsideal. 180 Jürgen Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchung zum deutschen Bildungsroman, München 1972, S. 82. Der Seitenhieb gegen diejenigen, die allen Ernstes den Bildungsroman-­ Status des WM bestreiten wollen, richtet sich, wie die Fußnote zur zitierten Passage zeigt, vor allem gegen Schlechta, der eine „eigenwillige Meinung“ vertrete. Ebd., FN 41, S. 295. Jacobs Studie, die zunächst seine Habilitationsschrift darstellt, mündet einige Jahre später in einen Band der Reihe „Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte“, der sich dem Bildungsroman von den Anfängen bis zur Gegenwart widmet. Die Beurteilung des WM bleibt jedoch nahezu unverändert, wenn auch hier von einem großen Glück am Ende gesprochen wird, dessen sich Wilhelm würdig zeigt, und durch das „sich für Wilhelm der Ausblick auf eine zielbewußte und beständige Lebenspraxis“ öffnet. Jacobs, Krause, Bildungsroman, S. 99f. 181 Jacobs, Wilhelm Meister, S. 82. 182 Ebd., S. 84. 183 Ebd., S. 83. 184 Vgl. hierzu z.B. Mayer, Bildungsroman, S. 12ff. 185 Vgl. Hegel, Ästhetik, S. 219f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

77

Diese fast schon resignative Einsicht des Helden in die Notwendigkeiten der bürgerlichen Existenz wird vielfach mit Goethes poetologischen und vor allem politischen Überzeugungen verknüpft. So weist Victor Lange darauf hin, daß sich Goethe von Schillers Ästhetik distanziert habe und den destruktiven Drang der Einbildungskraft in den Vordergrund stelle,186 deren zerstörerische Kraft nun nicht mehr gesellschaftsfähig sei. Die Utopie von der gesellschaftserneuernden Kraft der Kunst, die Schiller vor allem in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen darlegt, ist bei Goethe obsolet geworden. Der Ausflug des Protagonisten in die Welt des Theaters wird vor diesem Hintergrund zu einer Verirrung an den Rand der Gesellschaft, seine Abkehr vom Theater der einzige Rettungsweg für die gesellschaftlich-bürgerliche Existenz des Helden. Auch Friedrich Sengle verweist darauf, daß Goethe durch die Umarbeitung des Romans von der Theatralischen Sendung zu Wilhelm Meisters Lehrjahren aus einem Theaterroman einen Bildungsroman gemacht habe, und sieht den Grund dafür in Goethes eigener Resignation: Man sollte zunächst einmal nicht immer von einer höheren Stufe sprechen, die Goethe jetzt erreicht hat. Es kommt ganz darauf an, was man für höher hält, den einzelnen Menschen oder die Gesellschaft, den kleinen abseitigen Kreis oder die ganze Gesellschaft. In gesellschaftlicher Hinsicht liegt den Lehrjahren die Resignation zugrunde, die wir schon kennen. Goethe hat seit Italien seinen großen Plänen entsagt, den Plänen, die auf eine Erneuerung der ganzen Gesellschaft hinausliefen. Bei diesen Plänen rechnete er vor allem mit dem Theater.187 Das Theater spiele, so Sengle, für Goethe zwar weiterhin eine Rolle, jedoch lediglich als Etappe seiner eigenen Bildung. Diese Rolle einer vorübergehenden Verirrung spricht er dem Theater auch im Wilhelm Meister zu: Goethe begreift den jugendlichen Irrtum als notwendig, als ein Mittel der Bildung. Er mißt diesen Irrtum nicht an einem festen Ideal, er relativiert

186 Victor Lange, Goethe-Studien. Bilder, Ideen, Begriffe, Würzburg 1991, S. 75–77. 187 Friedrich Sengle, Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk, hrsg. von Marianne Tilch, mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr, Heidelberg 1999 [Reihe Siegen – Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft Band 138], S. 200.

78

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

ihn nur durch den Hinweis auf seine Vorläufigkeit, seine Vergänglichkeit.188 Das Theater, das stellvertretend für die künstlerische Existenz steht, kann folglich nur noch eine Etappe auf dem Weg der Bildung sein, die ungeachtet jugendlicher Irrwege in den Hafen einer bürgerlichen Existenz einläuft. Daß das Theater die jenseits der Gesellschaft liegende Kunst verkörpere, leuchtete den Zeitgenossen Goethes mehr ein, als einem heutigen Leser. Michael Neumann verweist auf den enormen Anstoß, den zeitgenössische Leser daran genommen haben, daß Goethe „[u]m seinen Bürgersohn Wilhelm Meister auszubilden, […] ihn durch eine Sphäre, von der jeder ordentliche Erzieher ihn wohl eher fernhielte“189, schickt, indem er ihn lange Zeit bei einer Schauspieltruppe verkehren läßt. Die Figur der Philine, die Wilhelm von allen Schauspielern nach Mariane am meisten beeinflußt und reizt, erscheint hierbei als Verkörperung dessen, was das Bürgertum in Schauspielern sah und ablehnte: „die Erotik und die Unbeständigkeit“190. Der Gegensatz von erotischem Theater und prüdem Bürgertum, der auf einer höheren Ebene in der durch Goethe vollzogenen Ausgrenzung der Einbildungskraft und damit der Kunst aus der (bürgerlichen) Gesellschaft wieder auftaucht, zieht sich durch den gesamten Roman. Schon zu Beginn des zweiten Kapitels des ersten Buches wird die negative Haltung des Bürgers dem Theater gegenüber thematisiert, als die Mutter Wilhelm, der zuvor, um seiner Theaterleidenschaft zu frönen und um seine Angebetete Mariane zu sehen, jeden Abend auf dem Theater zugebracht hatte, eröffnet, der Vater, der im Roman das Bürgertum und, als Kaufmann, die Ökonomie selbst, verkörpert, werde ihm, Wilhelm, die Theaterbesuche künftig verbieten. Die Mutter, die selbst eine gewisse Neigung zum Theater nicht leugnet, bemerkt dennoch, Wilhelms Theaterleidenschaft störe ihre „häusliche Ruhe“ (WM, S. 362), der Vater hingegen frage immerzu „wozu es nur nütze sei?“ (ebd.). Ein Grundzug des Konfliktes zwischen Kunst und Ökonomie ist damit schon umrissen: die Frage der Nützlichkeit, die für einen Kaufmann nur im materiellen Gewinn gegeben ist, im Sinne der Bildung eines Individuums jedoch auch und vor allem im Immateriellen liegt. Die Abneigung des Vaters 188 Ebd., S. 201. 189 Michael Neumann, Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Frankfurt/Main 1992 [Das Abendland, N.F. 22], S. 5. Neumann zitiert unter anderem Charlotte von Stein, die diesen Umstand beklagt, sowie Jacobi und Schiller. Ebd., FN 1. 190 Ebd., S. 15.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

79

gegen das Theater reicht allerdings noch weiter zurück in Wilhelms Biographie, wie aus den ausschweifenden Erzählungen von den ersten Begegnungen mit dem Theater in Form des Marionettentheaters in seiner Kindheit deutlich wird. Denn auch dieser kindlichen Beschäftigung steht der Vater mißgünstig gegenüber; sie sei für Wilhelms spätere Abwege verantwortlich: „Wie oft mußte ich mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch vor zwölf Jahren zum heiligen Christ gab, und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele beibrachte!“ klagt die Mutter (ebd.). Der der Kunst durchweg kritisch gegenüberstehende Vater hatte auch die Kunstsammlung des Großvaters verkauft, die es Wilhelm angetan hatte – „Es waren die ersten traurigen Zeiten meines Lebens.“ (WM, S. 421) –, und sich statt dessen mit einigem Prunk umgeben, der auf die Repräsentation bürgerlichen Wohlstandes zielt. Der alte Meister hatte gleich nach dem Tod seines Vaters eine kostbare Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten ins Geld gesetzt, sein Haus nach dem neuesten Geschmacke von Grund aus aufgebaut und möbliert, und sein übriges Vermögen auf alle mögliche Weise gelten gemacht. […] So war er ein besonderer Freund vom Prächtigen, von dem was in die Augen fällt, was aber auch zugleich einen innern Wert und eine Dauer hat. (WM, S. 392) Wenn Wilhelm sich also für die Kunst und vor allem für das Theater begeistert, so bedeutet dies auch zugleich ein Abwenden vom Bürgertum, der Ökonomie und auch der eigenen Herkunft. Unter diesen Voraussetzungen kann Wilhelm Meister in der Tat gelesen werden als der Roman eines jungen Helden, der zum Zwecke der Ausbildung seines Charakters nicht nur sich vom Elternhaus geographisch entfernt, wie dies in den Bildungsreise der Adeligen ein Muster findet, das vom Bürgertum imitiert wurde – hierzu regt Wilhelms Vater selbst an, der den angehenden Kaufmann auf eine längere Reise schicken will –, sondern sich auch in den Vorstellungen seiner Zukunft möglichst weit von denjenigen seines Elternhauses entfernt, indem er eine Karriere als Schauspieler anstrebt. Das Schauspielerdasein verknüpft Wilhelm mit einer Zukunft mit seiner Geliebten Mariane, einer jungen Schauspielerin. An die Geschichte seiner Liebe zu ihr und seines Liebeskummers knüpfen sich Wilhelms Beschlüsse bezüglich der Theaterkarriere an: Plant er zu Anfang, sich mit ihr zu verbinden, sobald er eine Anstellung auf einem Theater habe, so läßt er alle Theaterpläne fallen, als er von ihrer vermeintlichen Untreue erfährt. Seine Reise, die zunächst im Zeichen der

80

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Ökonomie steht („Man beschloß Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde, den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung, dem Gebirge sich nähern, wo er einige Aufträge ausrichten sollte.“ WM, S. 439), führt ihn wieder in die Nähe des Schauspiels, dessen Reizen er allerdings dann wieder vollkommen erliegt, als er erneut an Mariane erinnert wird und zugleich eine geheime Zuneigung zu Philine sich seiner bemächtigt: Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen hatte, war er dem Gelübde treu geblieben, sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er dies Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine geheime Nahrung, und wenn sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung nun zum Bedürfnisse. Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen [Philine] werden mußte, läßt sich leider nur zu gut einsehen. (WM, S. 478) Wilhelm läßt sich, beschwingt von der Neigung zu Philine, auf die Lesung eines Theaterstücks ein. Ein bacchantisches Gelage stellt den Höhepunkt dieses Kunstgenusses dar, das Wilhelm nur desto enger mit den ihn umgebenden Schauspielern verbindet. Der endgültige Abschied vom Theater erfolgt später unmittelbar nach der Nachricht vom Tod Marianes, der somit auch ein Tod seiner Liebe zum Theater ist. Als Gegenspieler zu Mariane tritt schon in den ersten Kapiteln sein Freund, der Nachbarssohn Werner, auf. Er verkörpert die Ökonomie, und schon bei den jugendlichen Theaterunternehmungen, die Wilhelm anregt, erscheint Werner ganz als Kaufmann, der aus dem Spiel seinen ökonomischen Nutzen zu ziehen wußte und als „ausdrückliche, aktiv-bürgerliche Gegenposition zu Wilhelms Bildungs- und Theaterauffassungen“191 gilt. Weniger eine Gegenfigur zu Wilhelm, mit dem er trotz aller Unterschiede „nach Einem Ziel“ (WM, S. 413) geht, ist er ein aktiver Gegenspieler zu Mariane, die er bereits verleumdet, bevor Wil191 Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Stuttgart/ Weimar 1994, S. 61.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

81

helm irrtümlich von Marianes Untreue überzeugt ist (vgl. WM, S. 413f.), nach Wilhelms Entdeckung von Norbergs Botschaft aber mit allen Mitteln bekämpft. Nicht nur malt er Wilhelm Marianes Untreue und schlechten Charakter in den schwärzesten Farben, auch enthält er dem Freund, wie später aus dem Bericht der alten Barbara hervorgeht, Marianes Briefe vor. Sobald er seinen Verdacht [daß Wilhelm in Verbindung mit der Schauspielerin Mariane steht] so viel als möglich zur Gewißheit erhoben, beschloß er einen Angriff auf Wilhelmen, und zwar mit allen Anstalten völlig in Bereitschaft, als dieser eben verdrießlich und verstimmt von seiner Reise zurückkam. Werner trug ihm noch denselbigen Abend alles, was er wußte, erst gelassen, dann mit dem dringenden Ernste einer wohldenkenden Freundschaft vor, ließ keinen Zug unbestimmt und gab seinem Freunde alle die Bitterkeiten zu kosten, die ruhige Menschen an Liebende mit tugendhafter Schadenfreude so freigebig auszuspenden pflegen. (WM, S. 414) Als er von Marianes Tod erfährt, händigt ihm die alte Barbara die an ihn adressierten Briefe Marianes aus: „Allein nicht ohne die lebhaftesten Schmerzen durchlas er eine kleine Sammlung von Billeten, die an ihn geschrieben waren, und die, wie er aus dem Inhalt sah, von Wernern waren zurückgewiesen worden.“ (WM, S. 860) Wilhelm scheint sich innerhalb dieser Koordinaten von Kunst und Ökonomie zunächst eindeutig zu positionieren: Seine Leidenschaft zur Kunst und zum Theater beherrschen ihn seit seiner Kindheit, seine erste, große Liebe ist eine Schauspielerin, seine Lebensentwürfe sind denen, die der Vater für ihn vorsieht, diametral entgegengesetzt. Seine Auffassungen von der Kunst sind anspruchsvoll und in nichts denen seines Freundes Werner zu vergleichen, der auch mittelmäßige Kunst schätzt, da sie für ihn nur als Zeitvertreib ihre Berechtigung hat. Wilhelm kann die Kunst nur großartig oder gar nicht akzeptieren, der Künstler muß eine Berufung, eine Bestimmung zur Kunst haben (vgl. WM, S. 434). Sein Weg führt Wilhelm zur Bekanntschaft mit der Realität auf den deutschen Theatern und bei Schauspieltruppen, dies läßt ihn zunehmend an seiner eigenen Bestimmung zweifeln, so daß die Gestalten seines Jugendgedichtes, die Allegorien von Kunst und Ökonomie, in ihrer Polarität längst nicht mehr so eindeutig gezeichnet erscheinen wie damals:

82

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Da steh ich nun, sagte er zu sich selbst, abermals am Scheideweg zwischen den beiden Frauen, die mir in meiner Jugend erschienen. Die eine sieht nicht mehr so kümmerlich aus, wie damals, und die andere nicht so prächtig. Der einen wie der andern zu folgen fühlst du eine Art von innern Beruf, und von beiden Seiten sind die äußern Anlässe stark genug; es scheint dir unmöglich dich zu entscheiden, du wünschest, daß irgend ein Übergewicht von Außen deine Wahl bestimmen möge. (WM, S. 641) Nach einer zunächst erfolgreichen Aufführung des Hamlet, in der Wilhelm selbst die Hauptrolle verkörpert, erfolgt ein gradueller Zerfall der idealen Gemeinschaft der Schauspieltruppe, die sich nun so normal, wie man es von allen durchschnittlichen Schauspieltruppen der Welt erwartet, gebärdet. Der utopische Staat, den die Gruppe ganz im Schillerschen Sinn spielerisch verkörpern möchte, leidet schon schnell an innerer Zerrüttung und den jeweiligen persönlichen Interessen der einzelnen Mitglieder. Überhaupt ist es leider der Fall, daß alles was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umstände hervorgebracht werden soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich gewöhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit, ihrer Übereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und Tätigkeit standen; oft aber verändert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die Personen passen nicht mehr zu den Umständen, die Umstände nicht mehr zu den Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander. (WM, S. 712f.) Damit widerspricht Goethe en passant nicht nur Schillers Utopie vom idealen Staat mit seinen Freiheiten des Individuums, sondern auch und vor allem dessen ästhetischer Vorform im Spiel, die Schiller als fiktionale Vorbereitung auf den Ernstfall vorsieht. Die ideale Gemeinschaft erscheint am Ende des Romans in der Turmgesellschaft, die jedoch zum einen durch die Herrschaft einiger weniger gekennzeichnet ist, zum anderen aber auch selbst bereits Spuren des Verfalls zeigt. Die ursprüngliche Idee der Mitglieder ist überlebt, es scheint der vortreffliche Nachwuchs zu fehlen, und so soll „aus unserm alten Turm […] eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

83

der Welt eintreten kann.“ (WM, S. 944f.). Nach dem Höhepunkt der Hamlet-Aufführung besiegeln der Tod Aurelies, die Nachricht vom Tod Marianes und der Besuch bei Lothario Wilhelms Abschied vom Theater, der ihn wieder zurück zur Ökonomie, freilich in der intellektuell und pädagogisch aufgewerteten Form der Turmgesellschaft, führt. Diesen Weg von den eigenen Idealen, sei es von Bildung, sei es von Kunst und ihren – auch gesellschaftlichen – Aufgaben hin zur Eingliederung in die Turmgesellschaft liest Schlechta nicht als Bildungsweg eines jungen Menschen hin zu einer reifen Persönlichkeit, sondern eher in entgegengesetzter Richtung: „Er entwickelt sich – gewiß; aber auf eine geheimnisvolle Weise wird er auch immer weniger“.192 Seine Entwicklung, in der Schlechta „keinen Gewinn zu erblicken“193 vermag, erscheint als Anti-Bildungsweg: Hat Wilhelm zu Beginn nicht nur klare Vorstellungen von seiner Zukunft und davon, welche seiner Naturanlagen er weiter ausbilden möchte, auf welche Weise er auf dem Theater wirken möchte, und trifft Entscheidungen und Vorkehrungen, diesen Weg zu verfolgen, so wird er im Laufe des Romans zunehmend von äußeren Geschehnissen, Zufällen, anderen Personen gelenkt, bis er schließlich im Zirkel der Turmgesellschaft soweit ist, sein Schicksal vollkommen in fremde Hände zu legen: Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und Ihrer Führung, sagte Wilhelm; es ist vergebens, in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben. Was ich fest zu halten wünschte, muß ich fahren lassen, und eine unverdiente Wohltat drängt sich mir auf. […] Ich überlasse Ihnen ganz, sagte er [Wilhelm] zu dem Abbé, was Sie über mich beschließen, wenn ich meinen Felix nicht von mir zu lassen brauche, so bin ich zufrieden überall hinzugehn, und alles, was man für recht hält, zu unternehmen. (WM, S. 976f.) Dem Ideal der Bildung zu einer reifen Persönlichkeit, die zu wohlüberlegten Entscheidungen fähig ist, wird ein Held entgegengestellt, der im Hegelschen Sinn gebrochen ist und einsieht, daß er nicht mehr ist als eine Marionette.194 192 Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 186. Vgl. hierzu auch die Einleitung von Heinz Schlaffer, der bemerkt, Schlechta verwende „ironischerweise die Lieblingswörter des Bildungskonzepts, um mit ihnen den Abstieg des Helden zu illustrieren.“ (Ebd., S. 11) 193 Ebd. 194 Diese Entwicklung steht dem Bildungsziel im Bildungsroman diametral gegenüber: während Wilhelm Meister in der Turmgesellschaft auf eine Gesellschaft trifft, die nur auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist und dabei den Einzelnen, ganz im Sinne des von Schiller abgelehnten Staates, als Rädchen in einer großen Maschinerie sieht, ist das Ziel einer umfassenden Bildung im Sinne des

84

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Die Liebe des Knaben zum Marionettentheater erscheint vom Ende des Romans her gesehen als eine Vorausdeutung und Metapher für die Unmündigkeit, in die die Gesellschaft den einzelnen zwingt. Wilhelms Erkenntnisgewinn im Verlauf seines Bildungsweges scheint zuvörderst der zu sein, daß er, wo er frei zu entscheiden glaubte, doch nur gelenkt war, und daß die Ereignisse auf seinem Lebensweg, zumeist weder dem Zufall, den die Turmgesellschaft propagiert,195 noch dem Schicksal, an das Wilhelm zunächst glaubt, geschuldet sind, sondern durch Intrigen der Turm-Mitglieder eingefädelt wurden. Sie ist weniger eine Einsicht in das eigene Wesen, die eigenen Bestimmung, sondern vielmehr die Einsicht in den Scheincharakter der Wirklichkeit, in die nicht durchschaubare Verstrickung des Seins und seiner fiktionalen Spiegelungen. Derart resigniert fügt sich Wilhelm nun in das ihm zugedachte Los, und wenn er am Ende des Romans scheinbar glücklich bekennt: „ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.“ (WM, S. 992), dann erscheint die Freude eher die über einen gelungenen Schachzug zu sein denn über ein wahrhaftes Liebesglück. Auch hat er in Natalie, deren Hand er nun erhalten hat und die ihm schon lange zuvor im Wald erschienen war, das Gegenteil der Frau, die er in Mariane und auch Philine geliebt hatte. War Mariane natürlich, ungestüm und leidenschaftlich, so ist Natalie immer gefaßt und kühl, und während Mariane ihm ihr Herz und all ihre Liebe schenkte, bekennt Natalie, noch niemals geliebt zu haben: Ja, mein Freund! sagte sie lächelnd, mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit, es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, daß alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei. Sie haben nicht geliebt? rief Wilhelm aus. Nie oder immer! versetzte Natalie. (WM, S. 919) Natalie prägt sich Wilhelm ein als eine mysteriöse Amazone, die mehr einer mythischen Erzählung als der Realität entsprungen scheint und die in ihm das Bildungsromans die zu einem in sich gereiften und mit sich einigen Charakters. Dem Individuum des Bildungsromans steht die Entindividualisierung als Voraussetzung für den Eintritt in die Turmgesellschaft gegenüber. Vgl. Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 52. 195 Vgl. z.B. Das Gespräch Wilhelms mit dem Fremden im Wirtshaus, WM, S. 70f. Schlechta hält die Sphären von ursprünglichem Leben, wie er es nennt, und Turm gegeneinander und resümiert: „Die Aufgabe des Sängers und Dichters hat in einem anderen ‚sinnlich-sittlichen‘ Raum der Arzt übernommen, der ‚medicus‘. Was dort dämonisch war, erscheint hier pathologisch. Aus Schicksal wird Zufall.“ Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 25.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

85

Bild vom kranken Königssohn heraufbeschwört, das ihn seit seiner Kindheit fasziniert. Diese durch Bilder der Malerei und der Literatur aufgeladene Figur, die Wilhelm in seiner Phantasie entstehen läßt und deren Erinnerung und Bild ihm immer wieder vor dem inneren Auge steht, hat jedoch nichts gemein mit der realen Natalie, wie sie uns später vorgestellt wird. Doch wird Wilhelm sich dieser falschen Projektion innerer Bilder auf die Realität nicht bewußt, vielmehr glaubt er in ihrem sanften, lieblichen, ruhigen Wesen die Frau des Gemäldes gefunden zu haben. Dabei verkennt er, daß sie zu dem Wilhelm, der seine Phantasie durch Gemälde und Theaterstücke hatte leiten lassen, das kontradiktorische Gegenteil darstellt, wenn sie bekennt: „Die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beinah noch weniger die Reize der Kunst“ (WM, S. 906). Der Weg des Protagonisten, der sich zeigt als Weg eines Kaufmannssohnes, der der eigenen Bestimmung, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, zu entrinnen versucht, indem er sich in eine Gegenwelt, die des Theaters, integrieren möchte, nach seinem Scheitern dort, das als „Verwirrung“ oder „Irrung“ gedeutet wird, jedoch wieder den Weg in ein bürgerliches Leben findet, das sich nun allerdings im Kreis der Turmgesellschaft bewegt, ist zunächst auf zweierlei Art zu lesen: zum einen als Bildungsweg eines Bürgers, der über einen Irrweg, der ihn reifen läßt, auf den richtigen Weg zurückfindet. Zum anderen aber auch als der Weg eines Individuums, das sich ein Leben in Selbstbestimmtheit erhofft hatte und sich am Ende resigniert in die Fremdbestimmung durch die Gesellschaft, hier die Turmgesellschaft, fügt. Das grundlegende Problem Wilhelms ist die Zugehörigkeit zu zwei vollkommen verschiedenen Sphären, an denen er gleichermaßen Anteil hat: die der bürgerlichen Gesellschaft und die der Kunst. Seine Person ist zunächst mit sich im Reinen, seine Wünsche und Pläne sind ihm klar vor Augen und er zögert nicht, diese zu realisieren. Daß er hierbei einen gefährlichen Spagat zwischen zwei unvereinbaren Sphären, der der Ökonomie und der der Kunst, versucht, ist ihm selbst nicht klar. Dennoch gehört seine Person nicht einer Sphäre rein an, was bereits der Name verrät: Wilhelm, als dessen Namenspatron später Shakespeare eingeführt wird, verweist auf die Sphäre des Theaters und der Kunst, Meister hingegen zunächst auf die Abstammung, den Kaufmannsvater; später wird dieser Name auch lesbar als Vorausdeutung auf seinen Eintritt in die Turmgesellschaft, deren Mitglieder in die Stufen des Lehrlings, des Gehilfen und des Meisters (vgl. WM, S. 930) eingeteilt werden. Nicht umsonst legt Wilhelm seinen Nachnamen ab, als er in Serlos Theatertruppe eintritt: das Ablegen des Namens soll das end-

86

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

gültige Ablegen der bürgerlichen Identität symbolisieren. In seinem Brief an Werner, der eine Replik auf dessen Darlegung seiner Pläne nach der Heirat mit Wilhelms Schwester ist und Wilhelms Ärger entfacht, erklärt Wilhelm: „Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen verändern, weil ich mich ohnehin schäme als Meister aufzutreten.“ (WM, S. 660) Von Werners ökonomischen Darlegungen eher abgeschreckt als überzeugt, läßt er sich von dessen Erklärungen erst recht dazu drängen, eine radikale Gegenposition einzunehmen, die seiner Haltung zu Beginn des Romans entspricht und die er aber im Verlauf seiner Reise mehrfach revidiert hatte. Sie erscheint mehr als eine unreife Trotzreaktion, denn als innerste Überzeugung:196 vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegen gesetzte Seite getrieben. Er überzeugte sich, daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden könne, und schien in seinem Entschlusse nur destomehr bestärkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. (WM, S. 656) In seine bürgerliche Identität fügt Wilhelm sich erst nach dem Tod Marianes und Aurelies wieder ein, indem er dem Theater abschwört. Dieser Schritt wird bereits vorweggenommen durch den sonst nicht weiter erklärbaren Umstand, daß Mignon ihn plötzlich mit „Meister“ anredet: Meister, sagte sie (noch niemals, als diesen Abend, hatte sie ihm diesen Namen gegeben, denn Anfangs pflegte sie ihn Herr, und nachher Vater zu nennen.) Meister! wir sind einer großen Gefahr entronnen, dein Felix war am Tode. (WM, S. 700) Zwar hat Wilhelm die Liebe zu Mariane in jeder Hinsicht tief geprägt:

196 Selbmann unterstreicht diesen Umstand, wenn er darauf hinweist, daß hier entgegen anderer Interpretationen keine Bildungs-Programmatik zu sehen ist: „Dieser Bildungsbrief ist nämlich als Antwort auf einen Brief Werners konzipiert und nimmt auf dort vorgeprägte Formulierungen präzise und zum Teil wörtlich Bezug. Der Brief Wilhelms darf also keinesfalls als existenzielle Aussage des Helden oder gar Goethes aufgefaßt werden!“, Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 62f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

87

In der Begegnung mit Mariane hatte Wilhelm, begnadet wie er war, das Äußerste des Möglichen erreicht; er hatte – begnadet wie er war – das Menschenmögliche erfahren. Von hier ab gibt es nur noch Abstieg. Daß dieser Abstieg für unseren Freund zu einem furchtbaren Absturz wurde, dies zeichnet ihn mehr aus, denn irgend etwas andres.197 doch bleibt bei aller Verschmelzung der Liebenden in Vorlieben und Gesinnungen Wilhelm der Sphäre von Mariane immer fremd. Dieses Sich-Außerhalb-­ Befinden drückt sich aus in der Gegenüberstellung der Unordnung in Marianes Zimmer und der Ordnung, die Wilhelm in Fleisch und Blut übergegangen ist: Solch einer Würze bedurft es freilich, um jenen Zustand leidlich, ja in der Folge angenehm zu machen, in welchem er gewöhnlich ihre Stube, ja gelegentlich sie selbst antraf. In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er atmete, und indem er von seines Vaters Prunkliebe einen Teil geerbt hatte, wußte er, in den Knabenjahren, sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah, stattlich auszustaffieren. […] Wie sehr stutzte er daher Anfangs, wenn er sich bei seiner Geliebten befand, und durch den glücklichen Nebel, der ihn umgab, neben aus auf Tische, Stühle und Boden sah. Die Trümmer eines augenblicklichen, leichten und falschen Putzes lagen wie das glänzende Kleid eines abgeschuppten Fisches zerstreut in wilder Unordnung durch einander. Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher und Pomade waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt. (WM, S. 410f.) Dabei repräsentiert Wilhelms Ordnung nicht nur die Ordnung seines kaufmännischen Vaters, sondern zugleich die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, in die das Chaotische der Kunst, das durch Marianes Unordnung symbolisiert wird, nicht integrierbar ist. Die Weigerung, sich den bürgerlichen Regeln unterzuordnen, ja, sich irgendwelchen Regeln unterzuordnen, ist das Signum der Einbildungskraft, die die Grundlage der Kunst und vor allem des Genies ist. Diese durch Regellosigkeit geprägte Kunst des Genies, die Goethe in seinen

197 Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 104.

88

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

späten Jahren ablehnt,198 steht per se außerhalb der Gesellschaft, wie auch die Schauspieler.199 Wilhelms begreift den Künstler als einen Inspirierten, der sich nicht um Publikum und Gesellschaft bekümmert, sondern seiner Berufung folgt. Nach seinem ersten Gespräch mit Melina sieht Wilhelm überdeutlich die Kluft zwischen dessen Überzeugungen, der eine eher handwerkliche und auf Beifall ausgerichtete Vorstellung vom Schauspielberuf hat, und seinen eigenen: Unglücklicher Melina, nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das armselige, über das du nicht Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, eine Kunst oder irgend eine Lebensart ergriffe, müßte nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit, nur der innre Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse überwinden, Wege bahnen, und uns aus dem engen Kreise, worin sich andere kümmerlich abängstigen, emporheben. (WM, S. 406f.) Daß Wilhelm am Ende des Romans ohne jeglichen inneren Trieb den von außen auf ihn eindringenden Bestimmungen folgt, erscheint als Ironie des Romans, ist aber zugleich auch die folgerichtige Konsequenz aus seinem gebrochenen Herzen, das nach Marianes Tod niemand mehr zu heilen vermag und das ihn deswegen auch keine Hindernisse mehr zu überwinden befähigt. Jedoch auch in der Kunst selbst wird er seinen Idealen untreu. Nachdem er durch den Bruch mit Mariane sich zuerst ganz vom Theater abwendet, ergibt sich auf seiner Reise, die eigentlich kaufmännischen Zwecken gewidmet sein soll, unvermutet wieder ein Kontakt mit dem Theater: Im Gebirge, das er durchqueren muß, läßt ein Unternehmer ein Theaterstück aufführen, das die rohen Sitten seiner Arbeiter verfeinern soll. Der Unternehmer, der so zu sagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschäftigen, 198 Vgl. z.B. Lange, Goethe-Studien, S. 75ff., wo Lange beschreibt, wie Goethe sich von Schillers Ästhetik distanziert und der Einbildungskraft, die als spezifisches Kennzeichen des Genies gilt, vor allem ein destruktives Potential zuschreibt: „Die Einbildungskraft ist ihrer Natur nach nicht etwa auf die Herstellung von Schönheit ausgerichtet, sondern muß destruktiv wirken.“ (ebd., S. 77). 199 Vgl. hierzu Neumann, Roman und Ritus, S. 5–13. Neumann identifiziert ebenfalls den Begriff der Ordnung als zentrales Moment, das dem Unordentlichen und damit Unbürgerlichen und Unanständigen des Theaters entgegengesetzt ist.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

89

als daß er sie veranlaßt hat, Komödie zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen, und wünscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. (WM, S. 440) Hierbei wird die Kunst in zwei Zusammenhängen präsentiert, die zunehmend auch in Wilhelms Umgang mit dem Theater eine Rolle spielen werden: Zum einen wird dem Theater ein direkter pädagogischer Nutzen untergeschoben, der zwar ganz im Sinne der aufklärerischen Ideen der Volksbildung ist, jedoch mit der ursprünglichen Bestimmung der Kunst nichts mehr zu tun hat, zum anderen findet im Unternehmer-Mäzen eine Verschränkung von Kunst und Ökonomie statt, die noch öfter im Roman auftauchen wird. Die Nutzbarmachung der Kunst durch den Ökonomen steht im Zeichen des pädagogischen Impetus der Aufklärung und trägt gleichzeitig den Keim einer Auffassung von Kunst in sich, die diese nur noch als dienend ansieht. Eine radikalisierte Form jener Sichtweise vertritt die Turmgesellschaft, die eine solche gezähmte Kunst in ihrem Saal der Vergangenheit vorführt: Der ganze Saal atmet eben nicht die lebendige Männlichkeit der Antike – deren Bilder er doch immer wieder heraufruft – sondern schon eher die durch Bildung temperierte Grazie einer sehr weiblichen, überall auf reinliche Verhältnisse bedachten Seele.200 Der fruchtbaren, zeugenden, lebenspendenden Kunst zu Beginn des Romans, die durch Mariane und ihren Sohn Felix repräsentiert wird, steht am Ende eine sterile, unfruchtbare, zahme Kunst gegenüber, deren Vertreter bereits Aurelie, die Felix als Ersatz für eine eigene Liebe und einen eigenen Sohn annimmt, und mehr noch Therese und Natalie sind, die nicht nur eines fremden Kindes – wiederum Felix – zur Gründung einer Familie bedürfen, sondern Wilhelm auch keine Liebe spenden: Therese nicht, weil ihr Herz Lothario gehört, Natalie nicht, weil sie die Liebe nicht kennt. Die in der Aufklärung an die Kunst herangetragene Aufgabe, zu bilden und zu bessern, die die Kunst zu diesem Zweck ihres subversiven Potentials, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer mythischen Kraft berauben muß, birgt die Gefahr eines Kunstverständnisses in sich, das diese nur noch als harmlose Begleitung

200 Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 75.

90

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

geselliger Runden ansieht und „für Kunst nur ein antiquarisches Interesse aufbringt“201, wie es die Turmgesellschaft tut. Das Vergehen an der Kunst, sie in einen ökonomischen Zusammenhang zu bringen, begeht Wilhelm selbst mehrere Male. Gemeinhin wird angenommen, Wilhelms Sündenfall ereigne sich auf dem Schloß des Grafen, wo er Kunst gegen Geld verkauft, und gehe einher mit der Erkenntnis, daß seine hohen Vorstellungen von der Bildung der Adligen Selbsttäuschung waren: Am Hof wird die Kunst wie nirgends sonst zur reinen Unterhaltung herabgewürdigt, seine Versuche, sich über Kunstauffassungen zu unterhalten, scheitern kläglich. Der für das Künstlerdasein essentielle Dialog, das im Gespräch zu erarbeitende Geschmacksurteil, werden gar nicht erst möglich. So interpretiert auch Hannelore Schlaffer die Episode auf dem Schloß des Grafen in dieser Weise: Ähnlich wie der Harfner bei den Schauspielern, muß am Hofe des Grafen Wilhelm selbst – ganz entgegen seinem romantischen Traum vom wohlverstandenen Dichter „an der Könige Höfen“ – erfahren, daß die Kunst in ein Tauschverhältnis getreten ist. Nun trifft es ihn, daß er statt mit Achtung und Liebe von der Gräfin mit einem Beutel Gold entlohnt wird. […] Endlich besänftigt der gesunde Menschenverstand auch in Wilhelm den Aufstand des poetischen Zartgefühls, sobald er die Barschaft – die in zählbarer Münze auseinandergebrochene goldene Kette der Sängerballade – mit Augen sieht.202 Es ist diese Begebenheit, die gerne als Wendepunkt in Wilhelms geistiger Entwicklung gesehen wird. Wilhelms persönlicher Sündenfall ereignet sich jedoch – zwar von ihm selbst unbemerkt – schon einige Zeit vorher, nämlich in dem Moment, als er Mignon kauft. Sie, die die reine und ursprüngliche Kunst verkörpert, die „die sinnliche Erscheinung der Poesie, […] ihre Inkarnation“203 ist, entzieht sich systematisch allen ökonomischen Interessen – das ist ein Teil ihres als unbändig und unberechenbar beschriebenen Wesens. Der Kauf Mignons folgt auf eine Auseinandersetzung derselben mit ihrem Adoptiv-Vater, der sie dazu zwingen will, den Eiertanz vorzuführen, sie aber weigert sich hartnäckig (vgl. WM, S. 456). Haben sie und die von ihr verkörperte Kunst sich also von der einen 201 Meuthen, Eins und doppelt, S. 87. 202 Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 43f. 203 Ebd., S. 40.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

91

Fessel befreit, indem sie ihre Freiheit verteidigt, wird sie ausgerechnet von dem, der sich als ihr Beschützer präsentiert, erst recht in ein dienendes Verhältnis gebracht. Diese Schlüsselszene faßt das in ein Bild, was in groben Zügen der Kunst im 18. Jahrhundert widerfahren ist, als zugleich mit der Entstehung der Ästhetik als eigenständiger Theorie der Kunst, der Genieästhetik und des l’artpour-l’art-Gedankens die Theoretiker der Aufklärung die Kunst in ihren Dienst nehmen wollen, indem sie der Kunst und ganz speziell dem Theater, dem sich Wilhelm bezeichnenderweise verschrieben hat, die Aufgabe zuteilen, die breite Masse des Volkes zu erziehen und zu bessern. Das Dienen wird auch fast bis an ihr Lebensende ein grundlegender Wesenszug des Verhältnisses von Wilhelm und Mignon darstellen. Hat sich Mignon Wilhelm bereitwillig unterworfen, weil sie in ihm alles zu erkennen glaubt, was sie im Leben jemals gesucht hat – Beschützer, Vater und Geliebten in einer Person –, so kann sie es aber nicht dulden, daß Wilhelm sich und die Kunst verkauft. Mehrfach wiederholen sich Szenen, in denen Mignon Wilhelm warnen oder abhalten möchte. So weigert sich Mignon, für das Schauspiel, das auf dem Schloß des Grafen gegeben werden soll, den Eiertanz vorzuführen, und fügt „bitterlich weinen[d]“ hinzu: „Lieber Vater! bleib auch du von den Brettern!“ (WM, S. 532) und versucht in dem Moment, in dem Wilhelm den Vertrag mit Serlo unterschreibt, ebenfalls einzugreifen: „So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu wissen was er tat, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, daß Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte.“ (WM, S. 660f.) Mignon steht damit konträr zur Kunst, wie sie das Theater verkörpert, mit dem Wilhelm sich in verschiedenen Formen wieder und wieder einläßt: Ist das Theater einerseits mit ökonomischen Interessen, und sei es denen der eigenen Existenz und der der Schauspielgruppe, verbunden, die in Serlo und Melina ihre entschiedensten Streiter finden, als diese in der Folge der Hamlet-Aufführungen das Theater zu einem rein auf den Publikumsgeschmack ausgerichteten Kommerzunternehmen machen wollen, so ist es andererseits auch dem pädagogischen Gedanken der Aufklärung, den Wilhelm selbst so entschieden vertritt, verpflichtet. Auch dies aber ist eine Form der Unterwerfung der Kunst unter andere Interessen, und seien sie noch so lobenswert. Dieser zweifachen Nutzbarmachung entzieht sich Mignon kategorisch. Ihre Kunst ist rein, ursprünglich, mythisch.204 204 Vgl. zu dieser Deutung z.B. Meuthen, der Mignon als „utopischen Stand der Unschuld“ liest (Meuthen, Eins und doppelt, S. 76), Schlechta, der Mignon und ihre Lieder zur ursprünglichen Welt zählt (Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 25 sowie S. 102–136.) sowie Schlaffer, die im

92

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Der offensichtliche Handlungsverlauf des Wilhelm Meister, der seinen Helden von einem Zustand jugendlicher Begeisterung für das Theater über Stationen der Desillusionierung, nicht nur über das Theater selbst, sondern auch über seine eigenen Fähigkeiten als Schauspieler, bis hin zur Abwendung von demselben und der Kunst im Allgemeinen und zur Hinwendung zu einer bürgerlich-ökonomischen Existenz führt, erscheint als eine durch seine Vorfahren festgelegte Bestimmung und ein dadurch für ihn vorgezeichneter Weg und Bildungsziel, so z.B. Hellmut Ammerlahn: Zu Anfang seiner Bildungsgeschichte ahnt und fühlt Wilhelm das „zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden, begriffen und ausgeführt wird“ (55). Am Ende im Saal der Vergangenheit erfährt er „durch die zusammentreffende Kunst […], was der Mensch sei und was er sein könne“ (540). […] Welche notwendige Erkenntniswanderung seiner Lehrjahre zeichnet sich allein in der begrifflichen Gegensätzlichkeit von Anfang und Ende ab!205 Daß er ebenso als Geschichte eines Abstiegs des Helden gelesen werden kann, hat Karl Schlechta eindrucksvoll gezeigt und auch Hannelore Schlaffer folgt ihm hierin. Die Geschichte des Abstiegs, die hier zum einen, wie schon gezeigt, die Geschichte des Verlusts an – vermeintlicher? – Selbstbestimmung ist, ist zum anderen aber auch die Geschichte des Abschieds von der Poesie. Dem Bildungsroman des Wilhelm Meister ist zugleich auch der Roman einer untergehenden Kunst eingeschrieben, der parallel zur Geschichte des Wilhelm und in Abhängigkeit zu ihr verläuft. Zunächst hat es den Anschein, als mache Goethe dieses Romankonzept [Aufgabe, die prosaische Welt, die Wirklichkeit darzustellen] zum inhaltlichen Zentrum beider Romane [Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre]. […] Setzte man die ausdrücklich vom ‚Herausgeber‘ der ‚Blätter‘ eingefügten Novelleneinlagen [der Wanderjahre] beiseite, so demonstrierte dieser Roman in der Tat den Sieg der Prosa der Verhältnisse über die Poesie des Herzens. […] Schicksal der Mignon Untergang und zugleich Triumph des Mythischen sieht (Schlaffer, Wilhelm Meister, Einleitung, S. 1–13.) 205 Hellmut Ammerlahn, Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003, S. 20.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

93

Die beobachtete Transparenz von Figuren und Szenen fordert aber zu einem weiteren Schritt der Interpretation heraus, der den offenen Wortsinn und den nur erschließbaren mythisch-poetischen Hintergrund miteinander verbindet. In den versteckten mythischen Bildern siegt endlich doch die Poesie über die Prosa.206 Wilhelm Meister ist somit nicht zugleich Künstler- und Bildungsroman, wie es neben vielen anderen auch Ammerlahn schon im Titel seiner Studie suggeriert, sondern er enthält einen Bildungsroman und einen Künstlerroman. Der Künstlerroman im Roman ist die Geschichte von Mignon und Harfner, welche allerdings weniger den Künstler, als die Kunst selbst repräsentieren.207 Diese Abspaltung der Kunst vom Künstler ist programmatisch. Gilt Wilhelm selbst als Künstler, so ist er ein scheiternder Künstler. Doch hebt sich Wilhelm damit nicht vom gelingenden Künstlertum ab, denn solches hat der Roman nicht zu bieten. Er präsentiert nur den erfolgreichen Künstler, der sich an den Publikumsgeschmack anzupassen vermag wie Serlo und Melina, oder den erfolglosen Künstler wie Wilhelm, der seine Ideale nicht aufgeben will und damit weniger an der Kunst als an der Gesellschaft scheitert. Bereits nach dem Bruch mit Mariane zweifelt er an seinen Talenten, und auch später schwankt er zwischen Euphorie und Selbstzweifeln, bis ihn schließlich das vernichtende Urteil Jarnos trifft: „Überhaupt dächte ich, versetzte Jarno, Sie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben.“ (WM, S. 847), das er auf eine Nachfrage Wilhelms hin wiederholt und präzisiert, indem er erklärt: „Und bei mir, sagte Jarno, ist es doch so rein entschieden: daß wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist.“ (WM, S. 931) Wichtig ist hierbei, daß Wilhelm an keiner Stelle aus eigener Kraft oder Klugheit erkennt, daß er nicht zum Künstler geboren ist – auch die Erkenntnis, daß er kein eigentlicher Hamlet-Typus ist, kommt nicht aus ihm selbst, sondern reift vielmehr in ihm nach einer Diagnose des Hamlet, die in einem Gespräch mit Serlo, dem Leiter der Theatertruppe, und Aurelie, dessen Schwester, gestellt wird. Daß Wilhelm hierbei lediglich mit Äußerlichkeiten argumentiert, ist in anderer Hinsicht bedeutsam: Wir wollen es ja nicht so genau nehmen, sagte Wilhelm: denn eigentlich hat mein Wunsch den Hamlet zu spielen, mich bei allem Studium des 206 Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 5 207 Vgl. ebd.

94

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Stücks, aufs Äußerste irre geführt. Je mehr ich mich in die Rolle studiere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt. Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zusammen hängt, so getraue ich mir kaum eine leidliche Wirkung hervor zu bringen. (WM, S. 674) Betrachtet man die Erfolge, die Wilhelm beim Publikum als Hamlet hat, so gibt es keinen Anlaß zu Zweifeln an seinem Talent, und auch sonst liefert der Roman keinen Anhaltspunkt dafür, daß Wilhelm nicht zum Künstler geboren sei. Er befindet sich in der für alle Künstler der Künstlerromane paradigmatischen Situation, daß er sich und seine Neigung oder, um mit Wilhelms Worten zu sprechen, Berufung, gegen eine feindlich gesinnte Umwelt verteidigen muß. Die Diskussion um Sinn oder Unsinn des Künstlerberufs gehört als ein Strukturelement zum Künstlerroman, indem sich in ihr die Diskussion um den Wert der Kunst innerhalb der Gesellschaft und der Ästhetik innerhalb der philosophischen Disziplinen in poetischer Form spiegelt. Die Spannungen zwischen Künstlern und Gesellschaft sind jedoch bei Wilhelm Meister anders verteilt: Sie treten auf als widerstreitende Gestalten, die Wilhelm umgeben und ihn bewußt oder unbewußt in ihre Richtung lenken wollen. Auf der Seite der Kunst sind dies Mariane, Mignon, Philine und der Harfner, auf der Seite der Gesellschaft, die im Fall von Wilhelm Meister als Ökonomie in einer spezifischen Ausprägung erscheint, das Elternhaus und die Turmgesellschaft. Zugleich jedoch repräsentieren diese Figuren widerstreitende Anlagen, die in Wilhelm Meister selbst vorhanden sind – die Analyse seines Namens hat diese Doppelveranlagung bereits augenfällig gemacht. Die Figuren um Wilhelm Meister sind in der Tat ein Spiegel seiner inneren Anlagen, entweder personifizierte Projektionen einzelner Seelenschichten Wilhelms – dessen Metamorphose sich nach dem Urbild, dem Typus, voll­ zieht, das Natalie symbolisiert –, oder sie sind Verkörperungen universaler Mächte und Weisheiten – weit umfassender als Wilhelm selbst – an denen Wilhelm aber teilhat.208 Wilhelm macht auf seinem Weg die schmerzliche Erfahrung, daß die Utopie des ganzen, mit sich einigen Menschen, den der Bildungsroman als Produkt der 208 Ammerlahn, Imagination und Wahrheit, S. 99.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

95

Aufklärung zu seinem Ideal und Bildungsziel macht209, in der ihn umgebenden Gesellschaft nicht möglich ist. War er selbst zu Beginn noch ganz mit sich im Reinen und wußte, was er sich vom Leben wünschte, was er zu erreichen trachtete und mit welchen Mitteln er dies zu tun gedachte, so wird ihm bereits kurze Zeit später scheinbar gewaltsam das entrissen, was er als Mittelpunkt seines Lebens sieht: seine Geliebte Mariane. Daß sein Nebenbuhler Norberg aus der Sphäre der Ökonomie kommt und dessen einziger Vorteil im Geld besteht, das Wilhelm noch fehlt, ist bedeutsam. Der glücklichen Sphäre des Theaters, das Mariane verkörpert, entrissen, stürzt er sich in die Arme der anderen Sphäre, der Ökonomie, die sich in seinem Jugendgedicht so schäbig ausnahm. Dieses Gedicht, das hellsichtig und zutreffend den Streit der beiden Allegorien der Kunst und der Ökonomie um die Seele des jungen Wilhelm beschreibt, ist ein Signum, das Wilhelms Biographie in der Tat von Anbeginn an eingeschrieben ist. Dabei läßt sich Wilhelm tatsächlich wechselweise von den Reizen der einen, meist der Dichtkunst, die einen größeren Charme hat, anziehen, um in den Armen der anderen sich von den erhaltenen Wunden zu erholen: Nach dem Bruch mit Mariane wird er zur besten Kraft im Geschäft des Vaters („Auf diese Weise hatte sich unser Freund völlig resigniert, und sich zugleich mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe tätiger, als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit größten Fleiß und Eifer.“ WM, S. 431f.). Auf kleinere Enttäuschungen durch die Theaterwelt folgt immer wieder der halbherzige Versuch, sich doch der ihm für die Reise zugedachten Aufgabe zu widmen, die dann aber wieder von der Versuchungen der Kunst hintertrieben werden. Marianes Tod schließlich drängt ihn in die Gesellschaft von Lothario, wo er endgültig von der Welt der Kunst abgesondert wird. So beschließt Wilhelm beispielsweise nach dem Überfall auf die Reisegruppe, der ihm den Zorn und Undank der meisten Mitglieder der Schauspieltruppe eingetragen hat, „nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fort[zu]setzen, sondern zweckmäßige Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen.“ (WM, S. 601) Zu diesen zweckmäßigen Schritten gehört es auch, „die Handelsfreunde, an die er mit Adressen versehen war, [zu] besuchen, und die ihm aufgetragenen Geschäfte [zu] verrichten.“ (ebd.)

209 Vgl. hierzu z.B. Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 10, S. 390f.

96

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Zu Beginn der Lehrjahre noch fest entschlossen, wird Wilhelm zunehmend zum Spielball der Mächte um und in ihm. Dieser Zwiespalt in ihm selbst ist nicht nur der zwischen Kunst und Ökonomie, sondern auch der zwischen Herz und Kopf: Durch die Liebe zu Mariane ganz dem Theater verbunden (oder durch die Liebe zum Theater ganz Mariane verbunden? – Schließlich erscheint ihm Mariane beim ersten Rendezvous mit einer Militärsuniform, die ein Zitat darstellt der Uniform des Leutnants, der in seiner Kindheit den Bau des Marionettentheaters vorangetrieben hat!210 Wilhelm selbst bekennt sich: „War es denn bloß Liebe zu Marianen, die mich ans Theater fesselte? oder war es Liebe zur Kunst, die mich an das Mädchen festknüpfte?“ WM, S. 642), sucht er sich, um sein gebrochenes Herz zu heilen, ganz von der Kunst zu lösen, indem er sich zum einen alle Talente als Dichter abspricht, zum anderen sich voll und ganz auf die Laufbahn einläßt, die sein Vater für ihn vorgesehen hat. Doch nicht nur für Wilhelm selbst ist diese Opposition von Herz und Verstand grundlegend. Sie strukturiert den gesamten Roman und verweist auf die Einteilung der menschlichen Vermögen in die oberen Erkenntnisvermögen, Verstand und Vernunft, und die unteren Erkenntnisvermögen, Herz und Gefühl. Die Kunst und ihre Wirkungen werden hierbei bekanntermaßen den unteren Erkenntnisvermögen zugerechnet, die Logik und alle mathematischen Disziplinen den oberen. Rechnet man die Ökonomie mit ihren mathematischen Grundlagen der Buchhaltung und des Rechnungswesens zu den logischen Disziplinen, so spiegelt sich die Kluft zwischen Herz und Verstand in Wilhelms Zerrissenheit zwischen Kunst und Ökonomie wider.211 Von dieser Zuordnung der Kunst zum Herzen ist auch Mignons Wesen gekennzeichnet, die vollkommen der Sphäre des Herzens und der Innerlichkeit angehört und damit die dem Verstand entgegengesetzten, irrationalen Kräfte von Liebe und Leiden212 sowie von Liebe und Tod213 symbolisiert. Dieses Leiden, das im Roman meist das Leiden an der Liebe ist, wird von Mignon in einer absoluten Weise durchlebt, sie ist „geradezu das Leiden selbst. […] Man könnte sie als die Allegorie des bürgerlichen Romans bezeichnen, insofern dieser gegen den vorbürgerlichen Helden den Leidenden als Hauptfigur entdeckt. Das Leiden der 210 Vgl. hierzu auch Meuthen, Eins und doppelt, S. 83: „Mehr als die Geliebte selbst interessiert ihn [Wilhelm] die Schauspielkunst, die sie ausübt und verkörpert.“ 211 Vgl. hierzu Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 44: „Die Dualität von Kunst und Ökonomie durchzieht die Lehrjahre.“ 212 Vgl. Ammerlahn, Imagination und Wahrheit, S. 95. 213 Vgl. Julia Brettschneider: „Herzsprung. Die Geschichte des Herzens und dessen Dekonstruktion am Beispiel Mignon“, in: Heike Brandstädter, Katharina Jeorgakopulos u.a. (Hrsgg.), Margarete – Ottilie – Mignon. Goethe-Lektüren, Hamburg/Berlin 1999, S. 77–90; S. 77.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

97

bürgerlichen Romanfigur entsteht aus dem Gegensatz von Kopf und Herz, Prosa und Poesie.“214 Dieses Konzept des leidenden Subjekts, das im 18. Jahrhundert entsteht, setzt Hannelore Schlaffer in Bezug zur Entstehung der Ästhetik und damit des ästhetischen Subjekts.215 Mignon taucht in einem Moment der Herzensverwirrung Wilhelms auf, als er nach seinem Liebeskummer um Mariane bei Philine das erste Mal wieder leise Regungen seines Herzens bemerkt. Mignon hat es ihm auch sogleich in einer durch den Verstand nicht erklärbaren Weise, einer Mischung aus Interesse, Mitleid und Anziehung – allesamt Kategorien, die zur Wirkung und Rezeption von Kunstwerken gehören – angetan: „Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen.“ (WM, S. 451) Dementsprechend reagiert er auf die Verfolgung Mignons durch ihren Peiniger nicht auf eine Vernunftüberlegung hin, sondern aus bloßem Gefühl heraus: „Diese Rede, welche Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefühl, oder wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte, brachte den wütenden Menschen auf einmal zur Ruhe.“ (WM, S.  456) Nachdem Wilhelm sich Mignon durch Kauf angeeignet hat, entsteht ein seltsames Verhältnis der beiden, das von einer starken Zuneigung geprägt ist. Und so ist es auch im Moment, als Wilhelm von der Mutterschaft und den schwierigen Verhältnissen Marianes erfährt und sich in einem Zustand äußerster Unruhe befindet, einzig Mignon, die sein wundes Herz trösten kann: „Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen, er vergaß seiner Sorgen, folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur, und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte.“ (WM, S. 469) Umgekehrt ist es Wilhelms Achtlosigkeit den Gefühlen Mignons gegenüber, durch die bei ihr ein Herzleiden entsteht, das sie am Ende des Romans das Leben kosten wird. Es tritt zum ersten Mal auf, als Wilhelm ihr verkündet, er müsse fort von ihr: „Sie richtete ihr Köpfchen auf, und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, die Schmerzen verbeißt.“ (WM, S. 498) Zum einen zeigt das Herzleiden Mignons Schmerz darüber, daß der geliebte Beschützer sie verlassen wird, zum anderen ist es aber auch der Schmerz darüber, daß Wilhelm sich aus der Sphäre der Kunst entfernen und den Aufgaben der Ökonomie zuwenden will. Als Wilhelm daraufhin Mignon als seinem Kind verspricht, sie nicht alleine zu lassen, wird dieses neue Verhältnis durch den Harfner begleitet, mit dem die 214 Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 46. 215 Vgl. ebd.

98

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

beiden sich zu einer symbolischen Familie vereinigen, die sich im Zeichen der Kunst versammelt hat.216 (vgl. WM, S. 498f.) Diese symbolische Vereinigung zu einer der heiligen Familie nachempfundenen Familie wird Wilhelm an späterer Stelle wiederholen, wenn er gemeinsam mit Natalie den scheinbar vergifteten Felix im Arm hält – dieses Mal jedoch in der der Kunst abgewandten Sphäre des Turms, in die er zu jenem Zeitpunkt schon längst eingetreten ist. Wenn Wilhelm, kurz bevor er Therese seine Hand nach reiflichen kaufmännischen Überlegungen – an ihre Entscheidung denkt Wilhelm in dem Sinn, daß „Gewinn und Verlust […] sich bald“ (WM, S.  886) entscheiden müssen – anbietet, bekennt, er habe sich aus Egoismus an Mignon vergangen: „Ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei habe ich es aufs grausamste vernachlässigt.“ (WM, S. 883), dann charakterisiert er dabei nicht nur sein Verhalten Mignon gegenüber. Das Zitat aus Das befreite Jerusalem, das Wilhelm in seiner Kindheit so beeindruckt hatte und von dem er Mariane erzählt, nämlich, daß Tankred „vom Schicksal bestimmt sei, das was er liebt überall unwissend zu verletzen“ (WM, S. 378), scheint auch Wilhelms Bestimmung zu sein. Durch einen falschen Schluß zu der Überzeugung gekommen, daß Mariane ihn betrüge, ist er für ihr trauriges Schicksal verantwortlich; Mignons Gefühle für ihn verkennt er, bis sie schließlich im Moment, als Therese, die dem Turm angehört, Wilhelm als ihren Gatten bezeichnet, an gebrochenem Herzen stirbt (vgl. WM, S. 924); den Harfner gibt er in die Obhut eines Geistlichen und eines Arztes, die ihn in die Gesellschaft eingliedern wollen, ihn dadurch aber seines Wesens berauben. Mignon gehört der Reihe der „Opfer“ Wilhelms nicht an als personifizierte Liebe zu Mariane, sie ist nicht die „durch die Liebe zu Mariane ‚belebte‘ Marionette“217, sie gehört ihr an als Gestalt der Sphäre des Herzens, der Wilhelm bis zu seiner eigenen Resignation entgleitet. Ist Mignon gekennzeichnet durch ihre Zugehörigkeit zur Sphäre des Herzens, so bedeutet dies zugleich auch ihr Ausgeschlossensein von der Sphäre des Verstandes und damit dem Bereich des logos und der Schrift. Diese a-logische Existenz Mignons ist ihrem Wesen immanent und wird an zahlreichen Stellen unterstrichen: Sie spricht gebrochenes Deutsch und scheint überhaupt Schwierigkeiten zu haben, sich zu artikulieren; sie erlernt zwar die Schrift, ihre Zeilen bleiben aber immer schief und krumm; sie hat Probleme zu begreifen, was ihre 216 Vgl hierzu Neumann, der von einer „Dreieinigkeit mit Felix und Natalie“ spricht und in einer Fußnote auf Hans-Jürgen Schings verweist, der darin eine Wiederholung des Familientableaus von Wilhelm mit Mignon und dem Harfner erkennt. Neuman, Roman und Ritus, S. 67. 217 Hellmut Ammerlahn: „Wilhelm Meisters Mignon – ein offenbares Rätsel. Name, Gestalt, Symbol, Wesen und Werden“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 42 (1968), S. 89–116; S. 102.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

99

Distanz zu Begriffen und abstrakten Denkmustern zeigt; während ihre Worte oft unverständlich sind, ist ihr Gesang immer klar, fließend, rein – und erinnert damit an seine Herkunft aus mythischer Zeit, in der es die Sprache des Verstandes noch nicht gab, sondern nur die Sprache des Herzens. Wenn sie liest, so geschieht dies immer stockend; sie interessiert sich zwar für Bildung, aber nur innerhalb ihrer eigenen Interessenwelt: so erbittet sie sich einen Atlas, interessiert sich jedoch lediglich für das Verhältnis von Nord und Süd, wobei der Norden den kalten Verstand symbolisiert, der Süden für die Wärme des Herzens steht. Mignon ist sich der feindlichen Macht des Verstandes auch selbst bewußt, wenn sie sich weiterer Bildung nicht bedürftig erklärt: „Ich bin gebildet genug, versetzte sie, um zu lieben und zu trauern.“ (WM, S. 866) und kurz darauf zu dem Schluß kommt: „Die Vernunft ist grausam, versetzte sie, das Herz ist besser.“ (WM, S. 867). Ihre Feststellung, sie friere hier und müsse deshalb nach Italien, spricht von einer metaphorischen Kälte des verstandesgeleiteten Norden und von Italien als dem Land der Poesie und der Künstler (vgl. WM, S. 504), ihr Hunger auf dem Schloß des Grafen ist ein metaphysischer Hunger nach einer Wärme des Herzens und nach lebendiger Kunst, der beim Adel trotz aller Bemühungen um die Kunst keine Nahrung findet (vgl. WM, S. 518). Obgleich Wilhelm eine enge emotionale Verbindung zu Mignon hat, verkennt er dennoch ihr Wesen kategorisch, wenn er wiederholt versucht, sie auf dem Wege der Schrift und des logos zu verstehen. So bürgert sich zwischen den beiden ein, daß Wilhelm Mignons Schreibübungen korrigiert, mit denen sie sich auf seinen Stand der Bildung begeben will, dabei aber das verliert, wofür sie steht: den „utopischen Stand der Unschuld, als deren Versprechen die Kunst erscheint“218. Auch Mignons herzergreifenden Liedern nähert sich Wilhelm von der falschen, da verstandesgeleiteten Seite: Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend, und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden. (WM, S. 504)

218 Meuthen, Eins und doppelt, S. 76.

100

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Das, was lediglich die unteren Erkenntnisvermögen dunkel zu erfassen imstande sind, sucht Wilhelm mit einer analytischen Vorgehensweise rational zu erklären. Die Erfahrung, daß den Erkenntnissen der Gefühle auf diese Weise keine adäquaten Begriffe beigegeben werden können, bleibt bis zum Ende bestehen. Mignon, deren Äußeres nicht als Erscheinung ihres Inneren gesehen werden kann, negiert in ihrer Figur die Utopie des klassizistischen Kunstwerks, in dem Form und Inhalt in einer sterilen Harmonie übereinstimmen. Ihrer Gefühlswelt ist lediglich der Gesang angemessen, in ihm aber vermag sie das Unaussprechliche zu artikulieren. Diese Kraft der ursprünglichen Dichtung, dem Unsagbaren Gestalt zu verleihen,219 scheint noch einmal auf bei Mignons Exequien: als Mignon erscheint, ist Wilhelm paralysiert und in einer chiastischen Verschränkung treten Verstand und Gefühl in ein Beziehungsgeflecht der kontradiktorischen Positionen:220 Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er empfand durfte er nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstören zu wollen. (WM, S. 958) Wilhelms Haltung, der Kunst mit Begriffen und Analysen begegnen zu wollen, ist jedoch nicht auf den Umgang mit Mignon beschränkt. Auch die Lieder des Harfners, der lieber singt als spricht (Wilhelm „hatte zu Mittage bemerkt, daß der Mann ungern sprach“, WM, S. 492), möchte Wilhelm auf diese Weise begreifen, ja mehr noch, dessen ganzes Wesen „zu entziffern [fühlt] er eine unbeschreibliche Begierde“ (WM, S. 497). Daß sich Mignon und Harfner als Verkörperungen der Poesie hartnäckig und offensichtlich einer Entzifferung durch Wilhelm entziehen, ist bedeutsam für Wilhelms Umgang mit der Kunst allgemein. Seine Haltung der Kunst gegenüber ist an keiner Stelle die eines genie-begabten Künstlers, sondern immer die eines analysierenden Kritikers, er nähert sich der Kunst nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand. Die Analyse von Kunst und Kunstwerken ist nicht nur bedeutsam in Bezug auf Mignon und den Harfner, sie ist auch Gegenstand der zahlreichen Gespräche über Kunst, die sich über den gesamten Roman verteilt finden. Das ers219 Vgl. Ammerlahn, Imagination und Wahrheit, S. 98ff., der den Figuren um Wilhelm herum jedoch allen eigenständigen Charakter abspricht und sie in einer verkürzten Lesart lediglich als Projektionen von Wilhelms inneren Zuständen interpretiert. 220 Vgl. hierzu Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 65: „Wenn Wilhelm bei Mignons Tod in Schweigen versinkt, so ist dies noch einmal die Trauer über den Untergang einer Kunst, die das Unaussprechliche auszusprechen wußte.“

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

101

te Gespräch, das sich mit dem Thema Kunst im weitesten Sinn gefaßt, ist das Gespräch zwischen Wilhelm und Mariane, in dem Wilhelm seiner Geliebten von seiner Kindheit und Jugend, der Geburt seiner Liebe zum Theater durch das Marionettentheater und seinen dichterischen Ambitionen erzählt. Dieses Gespräch ist insofern nur eingeschränkt ein Gespräch zu nennen, da es sich eher um eine monologische Erzählung handelt. Doch nicht nur das Monologisch-Erklärende ist symptomatisch für viele der folgenden Gespräche, auch die Tatsache, daß Wilhelms Adressat, Mariane, dem Gespräch aus Müdigkeit oder Langeweile kaum zu folgen vermag: „Mariane, vom Schlaf überwältigt, lehnte sich an ihren Geliebten, der sie fest an sich drückte und in seiner Erzählung fortfuhr“ (WM, S. 381) und schließlich: „Durch den Druck seines Armes, durch die Lebhaftigkeit seiner erhöhten Stimme, war Mariane erwacht, und verbarg durch Liebkosungen ihre Verlegenheit: denn sie hatte auch nicht ein Wort von dem letzten Teile seiner Erzählung vernommen“ (WM, S. 384). Wilhelm jedoch bemerkt dies nicht, da er gar nicht auf eine Teilnahme Marianes am Gespräch wartet. Die Zwischenbemerkungen, die dazu dienen sollen, das Gespräch weiter in Gang zu halten, kommen aus dem Mund der Dienerin Barbara, die die Gelegenheit nutzt, um sich an Essen und vor allem an Getränken gütlich zu tun. Das erste dialogisch geprägte Gespräch über Kunst findet kurze Zeit später zwischen Wilhelm und einem Fremden im Wirtshaus statt. Der Verkauf der Kunstsammlung von Wilhelms Großvater, bei dem der Fremde eine Rolle gespielt hat, wird zum Ausgangspunkt einer Unterhaltung der beiden über die Kunst. Dabei vertritt Wilhelm die Auffassung, es sei der Inhalt, auf den es beim Kunstwerk ausschließlich ankomme: „Das verstand ich nicht, und versteh es noch nicht; der Gegenstand ist es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.“ (WM, S. 422), während der Fremde die Form in den Mittelpunkt stellt. Der Fremde vertritt hierbei, das erfährt man am Ende des Romans, als jener im Schloß des verstorbenen Oheims im Kreis der Turmgesellschaft wieder auftaucht, eine Auffassung, die den Ideen des Turms geschuldet ist, wodurch sich seine Ansichten besser verstehen lassen. Im Gespräch im Wirtshaus tritt er auf, als käme er aus der Schule der Baumgartenschen Ästhetik, indem er auf die Zusammensetzung, die Farbe und die Ausführung des Gemäldes zu sprechen kommt, die verbesserungswürdig seien, also eine eher handwerklich geprägte Vorstellung von Kunst hat, die dem Ideal der vollkommenen Ausführung nahezukommen habe. Wilhelms Auffassung hingegen ist geprägt von seinen Gefühlen und dem Grad, in dem er sich mit dem Gegenstand eines Kunstwerks identifizieren kann. Dies wiederum ist grundlegend für Wilhelms Umgang mit Kunst, in der er doch

102

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

immer nur sich selbst wiederzufinden vermag. Das Gespräch, das durchaus zwei ernst zu nehmende Positionen innerhalb der Kunsttheorie gegeneinander hält, ist allerdings von Anfang an ein Gespräch unter ungleichen Partnern. Die einleitende Frage des Fremden, ob Wilhelm denn nicht „ein Enkel des alten Meisters, der die schöne Kunstsammlung besaß“, (WM, S. 420) sei, legt bereits zu Beginn ein hierarchisches Verhältnis fest, das im Verlauf des Gesprächs sich nicht verändern wird. Wilhelm ist das groß gewordene Kind, dessen Auffassungen noch nicht ganz reif zu sein scheinen. Wie schon damals beim Kauf der Kunstsammlung Wilhelm als Knabe dem Fremden die Gegenstände der Bilder zu erklären wußte, so beharrt er auch noch jetzt auf der Wichtigkeit der Gegenstände in der Kunst; beinahe scheint es, als habe Wilhelm in den dazwischenliegenden zehn Jahren nichts hinzugelernt. Dies jedenfalls legt der Fremde nahe, wenn er väterlich sagt: Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen entfernt, unter denen ein Kunstliebhaber die Werke großer Meister anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber, wenn das Cabinet ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn für die Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken gesehen hätten. (WM, S. 423) Was Wilhelm angeht, so trifft der Fremde damit den Kern der Sache: Wilhelm erkennt immer nur sich selbst in den Kunstwerken. Der Fremde setzt seine eigene Position allerdings ebenfalls in ein zweifelhaftes Licht, da es für den Liebhaber und Sammler zum einen darum geht, den materiellen Wert eines Kunstwerkes abzuschätzen – nur aus diesem Grund war er auch beim Erwerb der Kunstsammlung zu Rate gezogen worden (vgl. WM, S. 422) –, zum anderen hat er ein lediglich antiquarisches Interesse an der Kunst, die für ihn nur musealen Wert hat. Diese Auffassung von Kunst ist typisch für die Turmgesellschaft, trifft aber auch allgemein auf den Kunst sammelnden Adel zu. Neben der Ungleichheit der Gesprächspartner im gesellschaftlichen Sinn – der ehemalige Knabe und der reife Mann – ergibt sich aus diesen Positionen zugleich eine tiefere Ungleichheit, die daher rührt, daß Wilhelm sich in diesem Moment zur Gruppe der Kunstschaffenden zählt, der Fremde aber als Sammler und bestenfalls Betrachter von Kunst auftritt. Beide haben zwingend ein einander entgegengesetztes Interesse an der Kunst und sprechen in diesem Sinn nicht miteinander. Der Fremde belehrt Wilhelm als einen unreifen Knaben, dieser zeigt sich als uneinsichtiger Junge. Besonders augenfällig wird dies, sobald das Gespräch sich der Frage zuwendet,

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

103

ob das Leben durch den Zufall oder das Schicksal gelenkt werde. Wenn Wilhelm an das Schicksal glaubt, hält der Fremde dies für eine jugendliche Grille: Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen unterzuschieben pflegt. So glauben Sie kein Schicksal? Keine Macht, die über uns waltet, und alles zu unserm Besten lenkt? […] Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet, die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide, und weiß sie zu beherrschen (WM, S. 423) Das Schicksal ist jedoch nicht nur eine Lieblingsidee junger Menschen, sondern gehört einer der beiden Sphären des Romans an: der Sphäre ursprünglicher Kunst, wie sie von Mignon, Harfner und Philine verkörpert wird.221 Es ist Teil der mythischen Welt, die mit dem Tod Mignons symbolisch überwunden wird, während der Zufall zur Sphäre der Ökonomie und mehr noch der aufgeklärten Turmgesellschaft gehört. Wilhelm selbst wird im Verlauf des Romans seine Einstellung zur Kunst ändern, um am Ende der Priorität der Form beizustimmen,222 und den Glauben an das Schicksal verlieren, da er erkennt, daß die meisten seiner Erlebnisse von der Turmgesellschaft inszeniert sind. Das Verhältnis von Belehrendem und Belehrtem ist auch die Grundstruktur der folgenden Gespräche, ebenso wie die Zugehörigkeit der Gesprächspartner zu unterschiedlichen Sphären häufig eine Rolle spielt. Dies ist bereits im nächsten Gespräch über Kunst der Fall, in dem sich Wilhelm und Werner unterhalten: für den Kaufmann Werner hat Kunst allenfalls als Unterhaltung einen Wert, während Wilhelm in der Kunst eine Lebensweise erblickt – die ihm allerdings zu diesem Zeitpunkt, da er die Trennung von Mariane vollzogen und seine Abkehr vom Theater beschlossen hat, als eine ihm nicht mögliche Lebensform erscheint. 221 Vgl. Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 25. 222 Vgl. hierzu Ammerlahn, Imagination und Wahrheit, S. 20. Ammerlahn macht an dieser Veränderung in Wilhelms Kunstbetrachtung, die er als einen Aufstieg von der zunächst inhaltsorientierten Betrachtung zur formorientierten hin charakterisiert, Wilhelms Reifungsprozeß und damit geglückten Bildungsweg fest. Dabei übersieht er allerdings, daß sich Wilhelm von einem Pol zum anderen bewegt, zu einer wirklich umfassenden Kunstbetrachtung, die zugleich die Form und den Inhalt zum Gegenstand macht, jedoch nie gelangt. Der Einseitigkeit des Zuviel an Gefühl, die zu Beginn des Romans Wilhelm prägt, wird die Einseitigkeit des Zuwenig an Gefühl der Turmgesellschaft, in die Wilhelm sich einfindet, am Ende des Romans entgegengesetzt.

104

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Die folgenden Kunstgespräche sind geprägt von Belehrung. Hierbei ist zunächst das Gespräch Wilhelms mit dem Landgeistlichen zu nennen. Auch dieser ist ein Mitglied der Turmgesellschaft, er steht der Genieästhetik kritisch gegenüber und vertritt stattdessen die Auffassung, das Genie möchte das erste und letzte, Anfang und Ende […] wohl sein und bleiben; aber in der Mitte dürfte dem Künstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar frühe Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, übler dran als der, der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestoßen werden, als dieser. (WM, S. 474) Seine handwerkliche Auffassung vom Künstlertum, das erlernt, nicht angeboren sei, gleicht der des Fremden, seine Meinungen stehen fest und werden mit dem Ton der Überlegenheit vorgetragen. Das Gespräch wird dadurch in seinem Verlauf immer einseitiger, die Antworten oder Einwürfe Wilhelms verkürzen sich zu einzelnen Fragen oder Ausrufen: „Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen!“, „Sie wollen scherzen“ und schließlich „Wie kommen Sie auf ’s Puppenspiel?“ (WM, S. 475). Die anderen haben sich im Verlauf des Gesprächs entfernt und vor allem Philine, die zu den Gestalten gehört, die die lebendige Kunst verkörpern, hat sich abgewandt: „Besonders war Philine gleich vom Anfang auf die Seite getreten.“ (WM, S. 476 ). Die folgenden beiden Gespräche über Kunst finden auf dem Schloß des Grafen statt. Vom Adel hatte sich Wilhelm besonders viel erhofft, da er nur in dieser freien Atmosphäre die Möglichkeit zu einer umfassenden Bildung zu erkennen glaubt. Seine Erwartungen werden bitter enttäuscht, als er feststellen muß, daß die Kunst hier zu einer Ware degradiert wird, die der adeligen Repräsentation und Unterhaltung dient.223 Nicht wenig tragen hierzu die Gespräche bei, dessen erstes eine kurze Auseinandersetzung über die Frage nach der Freiheit des Künstlers mit dem Baron darstellt, der deutlich zu verstehen gibt, daß der Auftraggeber auch über das Stück bestimme, ohne dabei Rücksicht auf den Künstler und seine Ideen oder ästhetischen Anlagen zu nehmen: „Mitnichten, versetzte der Baron, der Herr Graf verläßt sich darauf, daß das Stück so und nicht anders, wie er es angegeben, aufgeführt werde.“ (WM, S. 526) Wilhelms nächster Versuch, ein Gespräch über Kunst anzuknüpfen, ist mehr seiner Eitelkeit als seinem Kunstsinn 223 Vgl. hierzu Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 43f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

105

geschuldet. Darüber unterrichtet, daß es zum eigenen Vorteil gereiche, in Gegenwart des Prinzen dessen Lieblingsdichter Racine zu loben, sieht er seine Stunde gekommen, als der Prinz ihn ausdrücklich darauf anspricht. Jedoch scheitert die Unterhaltung sogleich an Wilhelms Unkenntnis der höfischen Etikette: Durch die Anrede des Prinzen geschmeichelt, beginnt Wilhelm sofort eine ausschweifende Rede, jedoch „bemerkte [er] nicht, daß der Fürst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriff war sich weg und zu jemand anders zu wenden, er faßte ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinah in den Weg, indem er fortfuhr“ (WM, S. 538). Direkt im Anschluß an diesen Gesprächsversuch taucht nun Jarno auf, der Wilhelm mit Shakespeare bekannt machen will – hier kommt kein Gespräch zustande, da Wilhelm Shakespeare nicht kennt, Jarno diesen aber als Beitrag zu Wilhelms Entwicklung betrachtet und ihm deshalb nachdrücklich empfiehlt. Dabei kommt zum Tragen, was Jarno am Ende des Romans gesteht: Während es die Maxime des Abbé und des Turmes im allgemeinen ist, die Schützlinge von ferne zu beobachten und ihre Fehler und Irrtümer ausführlich begehen zu lassen, sagt Jarno von sich: „Ich bin ein sehr schlechter Lehrmeister, es ist mir unerträglich zu sehen, wenn jemand ungeschickte Versuche macht, einem Irrenden muß ich gleich zurufen, und wenn es ein Nachtwandler wäre, den ich in Gefahr sähe auf dem rechten Wege den Hals zu brechen.“ (WM, S. 931) Damit bekennt Jarno sich zu einer Pädagogik des Führens, die nicht nur der des Turms widerspricht, sondern auch innerhalb der Gesprächsführung nicht das offene, gleichberechtigte sokratische Gespräch sucht, sondern das belehrende, magistrale Gespräch. Es geht nicht darum, unter gleichberechtigten Partnern über eine Angelegenheit zu diskutieren und so zumindest fiktiv sich über Hierarchien, und seien es die der Erfahrung, hinwegzusetzen, sondern den Schüler zu lenken und anzuleiten, damit er zu den vorgegebenen Resultaten gelangt. Die Führung eines Schülers durch einen Meister ist die Methode der Turmgesellschaft, die damit einen erlesenen Zirkel der Erleuchteten zu begründen sucht. Selbst die Auffassung des Abbé, jeder müsse seine Fehler selbst begehen, mündet nicht in eine freiheitliche Bildung des Individuums, sondern gleicht eher dem Beobachten eines Experiments, das zwar von alleine abläuft, dem aber gewisse Rahmenbedingungen gegeben werden. In Anbetracht der Führung durch den Turm, dessen Mitgliedern Wilhelm bereits vor dem Bruch mit Mariane in Gestalt des Fremden im Wirtshaus begegnet, kann keines der genannten Gespräche ein sokratisches sein. Niemals kommt es auf den Vollzug des Gesprächs als solches an, niemals kann eine philosophische oder künstlerische Lebenspraxis im Gespräch erreicht werden, da es unter ungleichen Partnern stattfindet. Un-

106

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

gleich, weil Wilhelm, wenn auch unwissend, in der Schülerrolle auftritt, während sich seine Gesprächspartner in der Meister- oder Lehrerrolle befinden, ungleich aber auch, weil das, was von Wilhelm als Darlegung der eigensten Ansichten empfunden wird, für seine Gesprächspartner immer nur eine Inszenierung innerhalb eines Experiments darstellt, des Experiments der Erziehung Wilhelms zum Turmmitglied. Die dabei angestellten Reflexionen sind stets darauf angelegt, Wilhelm in eine bestimmte Richtung zu lenken, sind also eher theoretischpädagogisches Kalkül denn gelebte Praxis, wie sie das echte sokratische Gespräch herstellen möchte. Daß aus dem Gespräch keine Lebenspraxis hervorgehen kann, folgt aus der Überlegenheit der Turmmitglieder, ist aber auch die logische Konsequenz aus der Struktur des Roman. Das gelebte Gespräch nämlich verbindet die künstlerische Praxis und das Dasein im Zeichen der Kunst mit dem Gespräch als einem Akt der Reflexion, der Argumentation und des Urteilens. Dies sind nun allesamt Operationen der Vernunft, die dadurch eine Verbindung zwischen logischem Verstand und a-logischen Gefühlen herzustellen vermag. Grundlage für eine solche Verbalisierung des künstlerischen Daseins ist die Überzeugung, daß sich für die Erkenntnisse der gnoseologia inferior, wie sie bei Baumgarten heißt, ein adäquater Ausdruck finden lasse, daß das Innere zur äußeren Erscheinung kommen, es für den Inhalt eine angemessene Form geben könne. Daß dies nicht unproblematisch ist, zeigt die Diskussion um das Geschmacksurteil, das zwar logischen Gesetzen gehorchen muß, diese aber auf nicht logisch faßbare Gegenstände anwenden muß. Das ästhetische Urteil oder Geschmacksurteil ist nur denkbar vor dem Hintergrund des Ideals einer möglichen Verbindung beider Vermögen, wie sie nicht nur Schiller und Kant theoretisch fixiert haben. Sie ist ein Anspruch, den auch Goethe selbst in seiner theoretischen Schrift „Kunst und Handwerk“ 1797 formuliert: alle Künste haben auch von diesem Einfluß mehr oder weniger gelitten, und leiden noch darunter, da unser Jahrhundert zwar in dem Intellektuellen manches aufgeklärt hat, vielleicht aber am wenigsten geschickt ist reine Sinnlichkeit mit Intellektualität zu verbinden, wodurch allein das wahre Kunstwerk hervorgebracht wird.224

224 Johann Wolfgang Goethe: „Kunst und Handwerk“, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abteilung I, Band 18: Ästhetische Schriften 1771–1805, hrsg. von Friedmar Apel, Frankfurt/Main 1998, S. 437–440; S. 437.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

107

Ziel der Kunst und des Künstlers ist es, Sinnlichkeit und Intellekt zu vereinen, was aber für Goethe utopisch geworden ist. Die Überzeugung, daß eine Verbindung von Gefühl und Verstand unmöglich sei, ist dem Roman auf allen Ebenen einbeschrieben: in der Trennung der Sphären von Kunst und Ökonomie, dem Ausschluß der Poesie aus dem Gebiet des logos und nicht zuletzt dem Scheitern des Gesprächs als vollzogenem Künstlerdasein. Während die gelebte Kunst für den Künstler des Künstlerromans das eigentliche Ziel ist, wird genau dieses für Wilhelm Meister zum Problem. Er kann nicht unterscheiden zwischen der ursprünglichen und damit eigentlichen Welt der Poesie und der uneigentlichen Welt des logos, welcher durch seinen Charakter, die Repräsentation eines Dinges durch ein Zeichen zu sein, eine unhintergehbare Trennung von Zeichen und Bezeichnetem zur Grundlage hat und im Roman daher usurpatorisch auftritt. Die Kunst kann sich nur in der Kunst selbst ausdrücken, wie die Gestalt der stammelnden, aber singenden Mignon zeigt, die zugleich eine sonderbare Diskrepanz von Innen und Außen aufweist: Bei Gelegenheit ihrer Schreibübungen stellt der Erzähler fest: „auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen.“ (WM, S. 490) Die Welt der Gefühle könnte demnach nicht zur Anschauung gebracht werden.225 Doch wäre dies nur eine oberflächliche Sichtweise der Gestalt Mignons. Ihr Äußeres steht eben nicht im Widerspruch zu ihrem Inneren, vielmehr wird das Rätselhafte ihrer Lieder gespiegelt im Unverständlichen ihres Auftretens. Zunächst ist unentscheidbar, ob sie Mädchen oder Knabe ist, ihre Kleidung wirkt fremdländisch, ihre Sprache unverständlich, ihre Bewegungen ungelenk. Damit wird unbestreitbar ihr Ausgeschlossensein aus der Welt des logos symbolisiert. Dieses Ausgeschlossensein aus der Welt des logos ist aber nicht nur ein Mangel – an Form, an Bestimmtheit und Bestimmbarkeit –, es ist zugleich auch ein Widerstand gegen die Kategorisierung unter Begriffe, der sich Mignon bis zuletzt erfolgreich entzieht. In einer Welt der Zuordnungen und Deutungen vermögen alleine sie und mit ihr die wahre Kunst es, sich nicht festlegen zu lassen, sondern ihre Vielseitigkeit und Kraft, die im Potential der Einbildungskraft begründet liegen, zu bewahren, da jede Festlegung unter einen Begriff eine Negation aller anderen Zuordnungen bedeutet. In diesem Sinn deutet auch Hannelore Schlaffer

225 Ammerlahn folgert aus dieser Feststellung: „Mignons Erscheinung ist nicht wie bei anderen Goetheschen Gestalten der organische Ausdruck ihres Wesens.“ Ammerlahn, Imagination und Wahrheit, S. 77; und auch Schlaffer deutet Mignons Erscheinung in diesem Sinn, wenn sie schreibt: „Ihr [Mignons] Unglück ist nicht, daß sie ein oberflächliches Gefühl als tiefes mißverstand, sondern daß es ihr versagt ist, ihr Inneres zur Erscheinung zu bringen.“ Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 86.

108

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

das Ende des Romans, in dem sie neben der Erzählung vom Ende der Kunst im Zeichen der Ökonomie trotz allem einen Sieg der Poesie sieht: Mit der Parallele von Novelle und Roman widerspricht Goethe selbst dem Thema der Lehrjahre, die im Untergang Mignons und des Harfners das Ende der Kunst im Zeichen der Ökonomie, die Lähmung der Einbildungs­ kraft durch die Vernunft, die Entwertung der Phantasie durch den Verstand beschrieb. Gegen alle Tendenzen der Zeit, die ein Ende der Kunst behaupten, setzt er sich mit seinem Roman als schöpferisches Subjekt, dessen Einbildungskraft die Welt noch einmal als poetische erschafft.226 Indem der Kunst die Fähigkeit zugesprochen wird, sich der Sprache als einer Subsumierung unter Begriffe zu entziehen, die in ihrer Bestimmung auch immer depravierend sind, steht Wilhelm immer schon auf der anderen Seite. Seine Zugehörigkeit zur Sphäre des logos begleitet ihn von Anfang an, über diese erschließt er sich die Welt und die Kunst gleichermaßen. So überzeugt er schon als Junge den Vater vom Nutzen des Marionettentheaters, indem dieser das Talent des Sohnes stolz bewundert, die Texte der Theaterstücke auswendig zu lernen – ein unpoetischer, handwerklicher und uninspirierter Zugang zur Kunst, der sich im Auswendiglernen der Theaterrollen beim späteren Wilhelm wiederholt. Mariane will er seinen Heiratsantrag und seine Zukunftspläne in einem Brief mitteilen, anstatt eine so wichtige Herzensangelegenheit auszusprechen und mit Gebärden und Mimik – eine besondere Fähigkeit Mignons ist das Gebärdenspiel – zu begleiten. Von Marianes Untreue ist Wilhelm bereits durch einen kleinen handschriftlichen Zettel überzeugt, ihre Leidensgeschichte glaubt er weniger den Erzählungen und Tränen der alten Barbara als den Briefen von Mariane. Seine unangemessenen Versuche, Mignon und den Harfner zu entziffern, wurden bereits erwähnt. Über den Umweg der Schrift versucht Wilhelm auch, sich die Gespräche, die er führt, vollkommen anzueignen: er zeichnet Unterhaltungen, die er geführt hat, auf, um später daraus Nutzen zu ziehen. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespräche die ihm interessant waren, auf, und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an Einer Idee, 226 Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 208. Vgl. auch Meuthen, der mit Schlaffer feststellt: „So hintertreibt, ja überholt – nach Schlaffers Deutung – die mumifizierte Poesie (Mignon) den vermeintlichen Sieg der ökonomischen Vernunft.“ Meuthen, Eins und doppelt, S. 94.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

109

ja man möchte sagen an einer Sentenz hängen, und verließ dabei seine natürliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte. (WM, S. 652) Damit zeigt Wilhelm einen leidenschaftslosen Umgang mit dem Gespräch, dem er im Sinne des Gesprächs als gelebtem Künstlerdasein äußerlich bleibt. Seine Gespräche scheitern nicht nur an der Ungleichheit der Gesprächspartner, sondern an seiner Art, Gespräche als Fundgrube von Sentenzen zu betrachten, die er für seine Zwecke nutzen kann. Die Rolle mit seinen Lehrjahren, die ihm von der Turmgesellschaft übergeben wird, erscheint vor diesem Hintergrund als die Essenz von Wilhelms eigenem Umgang mit Unterhaltungen, ihre Sinnsprüche als der Spiegel seiner eigenen Aufzeichnungen, die er im Verlauf des Romans gesammelt hat. Damit zeigt Wilhelm ein nicht weniger antiquarisches Interesse an Kunstgesprächen, wie es die Turmgesellschaft an der Kunst selbst zeigt. Mit seiner Zugehörigkeit zur Welt des logos steht Wilhelm der Kunst gegenüber, die er nicht zu leben vermag, sondern nur auszulegen. Seine Position ist nicht die eines Künstlers, sondern die eines Kunstkritikers. Schlechta sieht hier eine Entwicklung, die Wilhelm zunächst auf der Seite der Kunst zeigt und ihn erst nach dem Verlust Marianes zur Seite der Kunstkritik wechseln läßt: Wenn er in Zukunft vom Dichter spricht, kann er sich nicht mehr mitmeinen. Wilhelm Meister tritt hinter einem größeren William zurück. Aus dem Dichtenden und dem aus seinem Dichtertraum Lebenden ist ein Versteher, ein Ausleger großer Dichtung geworden.227 Doch gibt es auch schon vorher Anzeichen dafür, daß Wilhelm, der sich als Künstler fühlt, die Kunst selbst fremd bleibt, indem er einen nur auf sich selbst konzentrierten Zugang zu Kunst hat. Seine Betrachtungen und Bewertungen von Kunst sind geprägt davon, daß er sich selbst in der Kunst wiederzuerkennen glaubt und dadurch nie die Kunst selbst, sondern immer nur sich in der Kunst sieht. Wenn Schlechta feststellt, Wilhelm kenne zu Beginn „keine Grenze zwischen der Welt seiner Phantasie und dieser Welt“228, so zeugt dies weniger von einem gelebten Künstlerdasein, als von einer fatalen Verkennung der Kunst. Seine Liebe zur Kunst ist immer eng verbunden mit seinen Gemütsverfassungen, vor 227 Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 104. 228 Ebd., S. 102.

110

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

allem mit seiner Liebe zu Mariane und den ihr nachfolgenden Frauengestalten, Kunstwerke werden für ihn zur Realität, wobei er selbst sich in den Kunstwerken wiederzuerkennen glaubt. „Immerhin aber markiert Wilhelms Umgang mit der Kunst eine Stufe der Rezeption, in der ihr Zusammenhang mit dem Leben noch erhalten bleibt.“229 Dieser Zusammenhang mit dem Leben jedoch ist es, der für Wilhelm problematisch ist: er vermag Kunst und Leben weder zu trennen, noch vermag er die Kunst zu leben. Seine mangelnde Unterscheidung zwischen beiden bringt die Gruppe um ihn und Melina sogar in ernste Gefahr, als er sie zum Aufbruch in einer gefährlichen Situation (drohender Überfall durch Räuber) drängt: Er sagte noch viel, und trug die Sache von so mancherlei vorteilhaften Sei­ ten vor, daß ihre Furcht sich verringerte, und ihr Mut zunahm. Er wußte ihnen so viel von der Mannszucht der regelmäßigen Truppen vorzusagen, und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Gesindel so nichtswürdig zu schildern, und selbst die Gefahr so lieblich und lustig darzustellen, daß alle Gemüter aufgeheitert wurden. (WM, S. 583) Er bemüht dabei die Kategorien von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, denen das Kunstwerk gehorchen soll, die aber für das wirkliche Leben keine verbindlichen Regeln enthalten, und führt die Gruppe ins Unglück. Wilhelms Vermischung von Kunst und Leben, die, würde sie in ein gelebtes Künstlerdasein münden, fruchtbar sein könnte, ist deshalb eine fatale Verkennung des eigentlichen Wesens der Kunst, weil er zwischen Schein und Sein, zwischen Verstellung und Repräsentation nicht zu unterscheiden vermag. So begreift er nicht, daß er auf der Bühne lediglich eine Rolle zu übernehmen habe, sondern möchte ausschließlich die Charaktere übernehmen, in denen er sich selbst wiedererkennt. Ist dies zunächst bei Hamlet der Fall, so bemerkt er aber später, daß Hamlets Äußeres seinem eigenen nicht entspricht – dies nun wiederum ist ein Detail, das nichts mit dem Wesen der Rolle zu tun hat. Aus dieser schiefen Sicht auf eine Theaterrolle erklären sich auch die existentiellen Folgen, die Wilhelms Erkenntnis, er sei kein Hamlet-Typus, für ihn bringen. Während lediglich Äußerlichkeiten nicht übereinstimmen, sieht Wilhelm sein Wesen als Schauspieler betroffen. So gerne Wilhelm das „Dahinter“ begreifen möchte,230 so sehr bleibt ihm der Kern der 229 Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 69. 230 Meuthen sieht das Motiv des Schleiers, der zugleich den Bühnenvorhang symbolisiert, als zentrales Motiv des Romans an. Es veranschaulicht den existentiellen Konflikt Wilhelms, zwischen Sein und Schein nicht unterschieden zu können, und problematisiert zugleich die Vorstellung, daß

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

111

Kunst fremd, da er sich in Selbstbespiegelungen verliert. Indem er den Zusammenhang von innerem Wesen und äußerer Erscheinung verkennt, zeigt er sich auch eines gültigen Geschmacksurteils unfähig. Symptomatisch ist sein Urteil über das Bildnis vom kranken Königssohn, das er im Gegensatz zum Fremden im Wirtshaus seines Gegenstands wegen hochschätzt, dessen Bedeutung für sein Leben aber mehr die einer Identifikationsfigur denn die eines ästhetisch gelungenen Kunstwerks ist. Wilhelm ist zu keinem Zeitpunkt des von Kant geforderten interesselosen Wohlgefallens fähig, das jenem unabdingbare Voraussetzung für das Geschmacksurteil ist. So vermag er zunächst auch die adelige Repräsentation nicht als Schein zu erkennen, hinter dem sich keine Realitäten verbergen, sondern nimmt diese als Aufscheinen der Realität für wahr, während er nicht begreift, daß Mignons Äußeres nicht eine zu überwindende Hürde auf dem Weg zum Verständnis ihres Inneren ist, sondern adäquater Ausdruck ihres Wesens. Ebensowenig ist er sich dessen bewußt, daß er sich in dem Moment, in dem er in seinem Leben das Bild vom kranken Königssohn sich verwirklichen sieht, nämlich als er Natalie zur Braut bekommt, weiter weg von seinen Jugendträumen denn je befindet, da er in Natalie eine Frau wählt, auf die die Reize der Kunst keine Wirkung haben. Anstatt die Kunst zu erkennen und zu leben, verkennt er sie, indem er in ihr nur sich selbst erkennt. In der Geschichte von Wilhelms künstlerischer Laufbahn bildet die Aufführung des Hamlet, in der er die Hauptrolle des Prinzen übernimmt, einen Höhepunkt. Dieser Höhepunkt wird begleitet von der spielerischen Bildung eines idealen, republikanischen, freiheitlichen Staates und ist damit von einer Utopie umgeben, die sich jedoch als lebensfern erweist. Im Zusammenhang mit der Aufführung des Hamlet nun finden wiederholt Auslegungen des Stückes statt, an denen Wilhelm lebhaft beteiligt ist. Es sind diese und allein diese Gespräche, die sich dem Ideal eines sokratischen Gesprächs nähern, so wie sich Wilhelm einer künstlerischen Existenz annähert. Den Höhepunkt seiner Hinwendung zur Kunst bezeichnet das Ablegen seines Nachnamens für die Unterzeichnung des Vertrags mit Serlo (vgl. WM, S. 660). Unmittelbar daran anschließend findet sich nun das einzige wirkliche Kunstgespräch, das zwischen Serlo und Wilhelm sich hinter jeder Fiktion auch eine Wahrheit befinden müsse. Wilhelm „gibt sich nicht zufrieden mit der Anschauung der imaginären Welt, die der Schleier hervorzaubert, sondern quält sich mit dem Gedanken, daß dieser Zauber seinen Grund in der Begrenzung des Blickfeldes hat: daß die Erscheinung des Ganzen auf der Verbergung eines Teils beruht.“ Meuthen, Eins und doppelt, S. 79. Dies wiederum führt auf einen falschen Weg, da „[d]ie ‚neue Zeit‘ […] eine neue, ‚negative‘ Ästhetik [verlangt]; sie fordert das sich selbst hintertreibende, negierende Kunstwerk, das seinen Wahrheitsanspruch dadurch einholt, daß es ihn negiert, das dem Leser nichts mehr ‚vormacht‘, sondern seine Schein-Natur zur Schau stellt.“ Ebd., S. 91.

112

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

stattfindet und deren unterschiedliche Meinung zu Hamlet und dessen Aufführbarkeit zum Thema hat. Das Gespräch wird mit Leidenschaft geführt und die Gesprächspartner können als ebenbürtig bezeichnet werden. Dem Gespräch folgt zunächst die erste Probe, die in Wilhelm wiederum Erinnerungen an Mariane entstehen läßt: „Die Wald- und Dorfdekoration stand genau so, als auf der Bühne seiner Vaterstadt, auch bei einer Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte, und ihm die erste glückliche Nacht zusagte.“ (WM, S. 678), dann die Aufführung. Sie wird ein Erfolg, den die Theatergruppe ausgelassen feiert. Der krönende Abschluß dieses Höhepunkts ist der bacchantische Tanz Mignons, die das Theater wieder an seine Ursprünge im Dionysos-Mythos führt. Die gelebte Kunst bleibt aber Utopie. Der nächste Tag bringt eine veränderte Mignon, kurz darauf erfolgt der verheerende Brand, in dem Felix beinahe stirbt, und der Harfner, der sich am Rande des Wahnsinns zu befinden scheint, wird in Behandlung geschickt. Der Verlust Philines schließlich, die unangekündigt abreist, bringt den kleinen Staat der Theatergruppe ins Wanken. Von diesem Moment an ist der Abstieg in der Geschichte von Wilhelms Theaterlaufbahn unaufhaltsam. Nach den eingeschobenen Bekenntnissen einer schönen Seele findet sich Wilhelm auf Lotharios Schloß, wo alles Ästhetische der Bequemlichkeit untergeordnet zu sein scheint: „Alle äußere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn, schien dem Bedürfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein.“ (WM, S. 799) Bezeichnenderweise ist es hier, daß Wilhelm zum ersten Mal heftig auf das Theater schilt. Die Analyse der Kunstgespräche im Roman ergibt eine Lektüreebene, die die Geschichte von Wilhelms Theaterleidenschaft erzählt. Dem Roman um den Bildungsweg des Wilhelm Meister, sei er nun gelungen oder nicht, ist das Drama um das Verhältnis Wilhelms zum Theater inhärent. Die Exposition des Konflikts stellt dabei das Liebesverhältnis Marianes und Wilhelms dar. Es enthält bereits den Keim aller künftigen Entwicklungen. So wird im Gegenüber von künstlerischem Chaos bei Mariane und bürgerlicher Ordnung bei Wilhelm die dichotomische Struktur von Kunst und Begriff, Gefühl und Verstand sichtbar. Indem Wilhelm Marianes Bedürfnisse verkennt und in einem Monolog von seiner Kindheit und der Liebe zu den Marionetten erzählt, ist sein Verhältnis zur Kunst, in der er sich nur selbst bespiegelt, anstatt diese zu erkennen, angelegt, ebenso wie seine Verbindung von Liebe und Theater. In den folgenden Kapiteln spitzt sich der Wilhelm immanente Konflikt zwischen Kunst und Ökonomie zu, der in immer wiederkehrenden Versuchen, sich endgültig für eine der beiden Seiten zu entscheiden, eine Spirale der Spannung erzeugt. Mit jedem neuen

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

113

„Rückfall“ ins Theaterleben verstrickt er sich tiefer darin, bis er schließlich in einem Akt der utopischen Selbstbefreiung seine kaufmännische Herkunft leugnet und eine glanzvolle Aufführung auf dem Theater durchlebt. Der Klimax folgt die Peripetie aber auf dem Fuß: ein verheerender Brand kehrt alle Verhältnisse um, und nach dem retardierenden Moment der eingeschobenen Erzählung vollzieht Wilhelm mit dem endgültigen Abschied von der Hoffnung, Mariane auf irgend­ eine Weise wiederzufinden, dem Abschied von Mignon und Felix zugleich den Abschied vom Theater, nachdem er Bekanntschaft mit ersten Mitgliedern des Turms gemacht hat. Das Kunstverständnis des Turms, das einer Kunst, wie sie Mignon verkörpert, diametral entgegengesetzt ist, wird zunehmend auch das von Wilhelm. Im Maß, wie er sein zunächst durch Leidenschaft geprägtes Bild vom Theater entzaubert und unter Begriffe zu bringen versucht, entgleitet ihm Mignon. Die äußerliche Wandlung, die sich darin zeigt, daß Mignon plötzlich Frauenkleider trägt, ist sichtbares Zeichen dafür, daß Wilhelms Absicht der Kunst gegenüber, sich ihrer begrifflich bemächtigen zu wollen, übermächtig geworden ist, während der Rest an unbegrifflicher Nähe zur Kunst mit dem Tod Marianes verschwunden ist. Erblickt Schlechta im Lehrbrief des Turms den Katechismus klassizistischer Ästhetik, so läßt sich das Romanende auch lesen als ein Sieg des Klassizismus über die Genieästhetik.231 Die Maxime des Turms jedoch, die „Gib dein Leben auf “ lautet, steht konträr zum Künstlerdasein an sich. Während der Künstler nur aus seiner Individualität heraus schaffen muß und kann, steht die Lebensweise des Turms für eine entindividualisierte Gemeinschaft. In Hinblick auf den Turm und Wilhelms Eintritt dort erscheint der Bildungsweg Wilhelms als der eines versuchten Künstlertums, wobei der Grund für das Scheitern in Wilhelm selbst zu suchen ist, der, so Jarno, überhaupt kein Talent zum Künstler habe. Liest man aber das durch die Künstlergespräche markierte Drama der künstlerischen Existenz im Wilhelm Meister, so scheint der Grund für Wilhelms Scheitern nicht in ihm selbst, sondern im Theater zu liegen. Als Versinnlichung des Sprachzeichens, das durch die Verwischung der Grenzen von Imagination und Wahrheit gekennzeichnet ist,232 ist es einem doppelten Betrug ausgesetzt. Wird die lebendige Kunst zunächst in den toten Buchstaben der Theaterrolle gepreßt, um später durch Auswendiglernen und Repräsentation auf der Bühne wieder verlebendigt zu werden, so wurde in diesem Prozeß zweifach eine Grenze überschritten, die 231 Vgl. Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, S. 67. 232 Vgl. hierzu Meuthen, Eins und doppelt, S. 80.

114

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

im gesamten Roman als nicht-überschreitbar gilt, nämlich die zwischen Kunst und logos. Wahre Kunst ist im Roman niemals Repräsentation, sie ist Wahrheit und Schein zugleich. Damit ist das Theater eine bereits dem feindlichen logos anheimgegebene Kunst. Das Theater gleicht der adeligen Repräsentation, so daß die Verstellung und auch die Suche nach eigenen Vorteilen hier wie dort gleichermaßen vorhanden sind. Jarnos spöttische Antwort auf Wilhelms Tirade gegen das Theater, eben diese Fehler seien überall auf der Welt zu finden, ist in dem Maß wahr, wie das Theater die Spaltung von Kunst und Ökonomie, die auch Wilhelm selbst kennzeichnet, in sich trägt. Durch die Aufklärung zur pädagogischen Institution umgewidmet, an den Höfen zu Unterhaltungszwecken mißbraucht, hat das Theater die mythische Kraft längst verloren, die die Poesie einzig noch in sich trägt. Sie entzieht sich alleine der Dienstbarmachung in jeder Hinsicht und kann deshalb ganz in der Sphäre der Kunst verbleiben. Die Möglichkeit des künstlerischen Lebensvollzugs im Gespräch, wie sie Künstlerromane des ausgehenden 18. Jahrhunderts vorführen, ist in Wilhelm Meister von vorne herein nicht gegeben. Das einzige lebendige Gespräch, das zwischen Wilhelm und Serlo, wird begleitet von Zeichen der Utopie, die in die Zukunft des idealen Staates und die Vergangenheit des Mythos verweisen. Da es als Gespräch aber per se der Sphäre des logos angehört, kann es sich von der Ökonomie als moderner Lebensweise nicht frei machen. Und so verhandelt das Künstlergespräch zwischen Serlo und Wilhelm auch Möglichkeiten der Inszenierung des Hamlet, wobei die Durchführbarkeit und der Publikumsgeschmack sowie die Frage, ob die Leitideen dem Publikum auch in einer verstümmelten Form des Stückes noch nahezubringen sind, verhandelt werden. Daß hierbei das ökonomische Interesse Serlos, der seine Truppe ernähren muß, im Vordergrund steht, ist unnötig zu erwähnen, und auch Wilhelm hat Anteil am Wunsch nach Einnahmen: Schließlich hat er den Vertrag mit Serlo auch deswegen unterschrieben, weil er nach dem Überfall im Wald versprochen hatte, alles zu tun, um für die Verluste der Truppe aufzukommen, und Serlo die Schauspieler nur unter der Bedingung anheuert, daß Wilhelm sich ebenfalls unter Vertrag nehmen läßt. Die Enttäuschung über das Theater und die Bildsamkeit des Publikums, die für Goethes Umarbeitung der Theatralischen Sendung in die Lehrjahre verantwortlich gemacht wird,233 taucht im Wilhelm Meister auf als ein Zweifel am Geschmacksurteil selbst, das nur interesselos gefällt werden kann und damit aber die Sphären von Sinnlichkeit und Intellekt verbinden muß. Die Kunst kann nur 233 Vgl. hierzu Sengle, Kontinuität und Wandlung, S. 200f., sowie Meuthen, Eins und doppelt, S. 73f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

115

noch sich an die Ökonomie verkaufen oder untergehen, wie Mignon und der Harfner, da eine Verbindung der unteren und der oberen Erkenntnisvermögen als Utopie erscheint. Die Unmöglichkeit der Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand spiegelt sich in der Unmöglichkeit, ein Kunstgespräch nach sokratischen Idealen zu führen. Der logos und damit auch das Gespräch, befinden sich immer schon im Dienst von Interessen, der künstlerische Lebensvollzug im Gespräch ist also nicht denkbar.

116

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

5

Gelebte Kunst: Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln „Beklage dich vielmehr über Deine Natur; denn ich, was mich betrifft, bin überall Feuer.“ Eingangsfabel (Ard., S. 7)

Vier Jahre nach Wilhelm Heinses Rückkehr von seinem dreijährigen Aufenthalt in Italien, wo er zwischen 1780 und 1783, größtenteils zu Fuß von Düsseldorf durch Deutschland und die Schweiz herkommend, das Land „die Länge, die Kreuz und die Queere“ durchwandert hatte234, erscheint 1787 sein Roman Ardin­ ghello und die glückseligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert235 zunächst anonym.236 Die Reaktionen auf den Roman sind so heftig wie disparat: Viele seiner ersten Leser zeigen sich begeistert von der Sinnlichkeit der im Roman enthaltenen Darstellung und vom Scharfsinn der Kunsturteile. So bekennt Johann Erhard, „Ardinghello ist das Produkt eines flammenden Genius, es kann mit nichts verglichen werden. Die Sprache ist meisterhaft, volltönend für das Ohr, schildernd für das Auge, bedeutend und belebend für jeden Sinn.“237 und Friederike Brun urteilt, Heinse „[steht] als Kunstbeurteiler […] einzig da und übertrifft nach meiner Meinung noch Winckelmann in Hinsicht auf das Leben der Wirklichkeit.“238, womit sie Christian Gottfried Körner beistimmt, der trotz einiger Kritik an der Sprache des Romans bemerkt: „Über Kunst enthält es

234 Zu den Planungsschwierigkeiten sowohl finanzieller als auch organisatorischer Art wie zur konkreten Durchführung von Heinses Italienreise, die teilweise durch große Entbehrung und Armut gekennzeichnet war und die Heinse nur aufgrund seiner ungebrochenen Begeisterung in dieser Weise durchführen konnte, vgl. Heinrich Macher: „Heinses Ardinghello als Ergebnis seiner Italienreise“, in: Klaus Manger (Hrsg.), Italienbeziehungen des klassischen Weimar, Tübingen 1997 [Reihe der Villa Vigoni, Band 11], S. 153–179; S. 154–159. 235 Die verwendete Textausgabe ist Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln, kritische Studienausgabe, hrsg. von Max L. Baeumer, Stuttgart 1975 u.ö. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe, Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern im Fließtext unter dem Kürzel Ard angegeben. 236 Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 641. 237 Heinse, Ardinghello, Dokumente zur Wirkungsgeschichte, S. 568. 238 Ebd. S. 573.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

117

sehr lichtvolle Ideen.“239 Parallel zu dieser Begeisterung setzt jedoch auch sogleich eine heftige Kritik an Ardinghello ein, die ihn als unmoralisch bezeichnet bis hin zu Wielands Verdikt des „Priapismus“240, als zusammengeflickt abtut wie Schiller, der in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung schreibt: „Daher bleibt ‚Ardinghello‘ bei aller sinnlichen Energie und allem Feuer des Ko­ lorits immer nur eine sinnliche Karikatur, ohne Wahrheit und ohne ästhetische Würde.“241, bis schließlich viele Jahre später Goethe, der sich zunächst aus der Diskussion heraushält, bekennt, der Roman habe ihn „angewidert“: Nach meiner Rückkunft aus Italien, wo ich mich zu größter Bestimmtheit und Reinheit in allen Kunstfächern auszubilden gesucht hatte, unbekümmert, was während der Zeit in Deutschland vorgegangen, fand ich neuere und ältere Dichterwerke in großem Ansehen, von ausgebreiteter Wirkung, leider solche, die mich äußerst anwiderten. Ich nenne nur Heinses „Ardinghello“ und Schillers „Räuber“. Jener war mir verhaßt, weil er Sinn­ lichkeit und abstruse Denkweisen durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen unternahm; […] Die Betrachtung der bildenden Kunst, die Ausübung der Dichtkunst hätte ich gerne völlig aufgegeben, wenn es möglich gewesen wäre: denn wo war eine Aussicht, jene Produktionen von genialem Wert und wilder Form zu überbieten? Man denke sich meinen Zustand!242

239 Ebd., S. 567. Friedrich Bouterwek bezeichnet Heinses in einer im Jahr 1806 erscheinenden Rezension sogar als einen der „ersten, originalsten, genievollsten Köpfe Deutschlands“ und begründet dies folgendermaßen: „Das Angeführte und einiges andre macht es begreiflich, daß das lebendige Gefühl, daß Heinse eines der größten Genies Deutschlands war, nicht, wie es sein sollte, im größeren Publico herrscht, daß man es nicht lebendig genug fühlt, wie ihm keiner in feuriger Darstellung des Schönen, gezügelt von dem richtigsten Urteile, in den bildenden Künsten und der Tonkunst gleichkam und wenige wie er Naturszenen zu schildern vermochten.“ Zitiert nach: ebd., S. 574. 240 Wieland sieht in Heinse einen Menschen, „dessen ganze Seele ein Priap ist“ und bezeichnet ihn als unheilbar gemütskrank. Vgl. hierzu Gert Theile, Wilhelm Heinse. Lebenskunst in der Goethezeit, München 2011, S. 130ff. 241 Friedrich Schiller: „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, München/Wien 2004, S. 694–780; S. 743 (FN). Schiller definiert hier als Maßstab des guten Dichters, daß „[d]erselbe Dichter also, der sich erlauben darf, uns zu Teilnehmern so niedrig menschlicher Gefühle zu machen, […] uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß und schön und erhaben menschlich ist, emporzutragen wissen“ muß. (Ebd.) Der Mangel des Ardinghello sei, daß „die bloß sinnliche Glut des Gemäldes und die üppige Fülle der Einbildungskraft“ (Ebd., FN), die der Roman enthalte, für diesen Anspruch nicht genügen. 242 Heinse, Ardinghello, Dokumente zur Wirkungsgeschichte, S. 577.

118

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Ungeachtet dieser Schmähungen, die sich vor allem über Heinses freizügigen schriftlichen Umgang mit nackten weiblichen Figuren, sei es als Romanfiguren, sei es als Werke der bildenden Künste, sowie seine ausführlichen Beschreibungen erotischer Szenen bis hin zum Geschlechtsakt erregen, findet der Roman eine begeisterte Leserschaft und einen so reißenden Absatz, daß es innerhalb weniger Jahre zu einem Raubdruck (1792) und einer von Heinse leicht überarbeiteten zweiten Auflage (1794) kommt. Abgesehen von der moralischen Entrüstung, die Heinses Roman ausgelöst hat, stehen die Zeitgenossen seinem Werk auch in der Hinsicht ratlos gegenüber, daß eine Zuordnung zu einem Genre schwierig erscheint. Im Untertitel als „italiänische Geschichte“ deklariert, weist Ardinghello durch seinen Umfang und die Komplexität seiner Handlung Züge eines Ro­ mans auf, will aber in die sich soeben etablierende Gattung des Bildungs- oder Entwicklungsromans nicht recht hineinpassen: eine Entwicklung des schon von Heinse selbst immer wieder als „Kernmenschen“, später als „uomo universale“ bezeichneten Helden ist schwer auszumachen, eine Bildung im von Blanckenburg erstmals 1774 formulierten und später von Hegel im Sinn einer Anpassung an die Gesellschaft konkretisierten Sinn noch weniger.243 Diese Schwierigkeit der Zuordnung wird der Heinse-Forschung noch lange anhaften und spiegelt sich wieder in den hilflosen Bezeichnungen des Romans als historischem Roman244, als erstem Renaissanceroman245, dann wieder als Fortführung der barocken Ro243 Zur fehlenden Entwicklung im Sinn des Bildungsromans vgl. auch Charis Goer, Ungleiche Geschwister. Literatur und die Künste bei Wilhelm Heinse, München 2006, S. 157. Eine gegenteilige Auffassung vertritt Gert Theile: „Im folgenden wird versucht, anhand der Komposition des Buches auch diese letzte Behauptung [der Roman zerbreche durch den Versuch des Autors, die nicht zusammenhängenden Einzelepisoden und Diskussionen durch die Briefe zu retten] zu widerlegen und den Ardinghello als durchgehend klar strukturierten Roman einer Individualitätsentwicklung herauszustellen“, Theile, Wilhelm Heinse, S. 166. 244 Vgl. dagegen Markus Bernauer: „Kunst als Natur – Natur als Kunst. Heinses Entwurf der italienischen Renaissance“, in: Gert Theile (Hrsg.), Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München 1998 [Weimarer Editionen], S. 91–124. Bernauer betont, daß Ardinghello in erster Linie ein Künstlerroman sei, keinesfalls aber als historischer Roman gelesen werden dürfe. (S. 95) Ebenfalls als Künstlerroman und nicht als historischen Roman versteht Erich Meuthen Heinses Ardinghello: „Aber selbstverständlich handelt es sich nicht um einen ‚historischen Roman‘.“ Erich Meuthen, Eins und doppelt, S. 22. Almut Hüfler hingegen hält an der engen Verbindung zwischen Geschichtsschreibung und Prosa in Bezug auf den Roman des 18. Jahrhunderts und damit auch Ardinghello fest. Vgl. Almut Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit. Wilhelm Heinses Romanpoetik zwischen Leben und Literatur, Heidelberg 2012, S. 24 (Vor Erscheinen von Blanckenburgs Versuch über den Roman „war insbesondere die zeitgenössische Geschichtsschreibung der Ort, an dem über die Bedingungen, Aufgaben und Möglichkeiten des Erzählens theoretisch reflektiert wurde.“) und S. 37 („Er [Heinses Ardinghello] partizipiert an einem Romanverständnis, das noch in großer Nähe zur Sachprosa steht, deren Zweck es ist, wie ‚nichtfiktionale‘ publizistische Texte Informationen zu vermitteln.“) 245 Vgl. z.B. Gerhard Sauder: „Fiktive Renaissance: Kunstbeschreibungen in Wilhelm Heinses Roman ‚Ardinghello‘“, in: Silvio Vietta (Hrsg.), Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 61–73; S. 61: „Der ‚Ardinghello‘

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

119

mantradition246 oder als letztes literarisches Zeugnis eines auslaufenden Sturm und Drang.247 Noch bis in die Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein zieht sich das Unbehagen an der literarischen Form des Ardinghello. Ihm werden Züge der Reiseliteratur ebenso wie der Journal-Literatur, mit der sich Heinse zeitweilig seinen Lebensunterhalt verdient hat, attestiert, abwechselnd bezeichnet man ihn als ersten Künstlerroman der deutschen Literatur248 oder spricht ihm den Status des Künstlerromans mehr oder weniger ab, da „die Kunst und das Künstlerdasein […] nie Selbstzweck und letztes Ziel [sind, sondern] im Ardinghello vielmehr Mittel zum Liebesgenuß“249 darstellen oder aber, weil der Roman von einem Adligen handele, der die Kunst nur als Durchgangsstadium ansehe.250 Um diese scheinbar unentscheidbare Frage zu umgehen, taucht Ardinghello in fast keiner Überblicksdarstellung zum Roman dieser Zeit auf, weder

ist bei allen notwendigen Einschränkungen, die durch die Sehweise der Spätaufklärung gegeben sind, in weiten Teilen doch zu Recht ein Renaissance-Roman genannt worden.“ 246 Vgl. hierzu Dennis F. Mahoney, Der Roman der Goethezeit (1774–1829), Stuttgart 1988, S. 37: „Vergleicht man jedoch Heinses Romane mit Jacobis ‚Allwill‘ und ‚Woldemar‘ und der noch älteren Tradition der gelehrten Barockromane, so wird deutlich, daß Romanhandlungen verbunden mit philosophischen Gesprächen eine lange Ahnenreihe haben.“ 247 Zur Diskussion um die Einordnung des Ardinghello in ein Roman-Genre vgl. Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 641ff. 248 Vgl. hierzu z.B. Dominik Müller, der Heinses Ardinghello zusammen mit Tiecks und Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders an den Beginn der Tradition des Malerromans stellt: „Unterschiedlicher könnten die beiden gegen das Ende des 18. Jahrhunderts anonym erscheinenden Werke nicht sein, welche die Tradition des Malerromans und der Malererzählung im deutschen Sprachraum begründeten“. Dominik Müller, Vom Malen erzählen, S. 38. 249 Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 690. Baeumer führt weiterhin aus: „Ein Künstlerroman ist der Ardinghello lediglich in dem eingeschränkten Sinn wie seine Nachfolger, wie Goethes Wilhelm Meister, Tiecks Sternbald und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, insofern als hier die Kunst und das Künstlerleben nur ein Durchgangsstadium, ein Mittel zu Bildung und zum Genuß sind. […] So will der Ardinghello kein Entwicklungsroman sein, sondern ist von Anfang bis Ende Darstellung, Beschreibung, Lebensbild des an der Antike ausgerichteten und in der italienischen Renaissance erkannten genialen Menschen.“ (Ebd., S. 690f.) 250 Vgl. Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 647, sowie Gert Theile, der seinem Argument gegen eine Einordnung des Ardinghello als Künstlerroman eine schwer nachvollziehbare Basis gibt, wenn er postuliert: „Der sogenannte Künstlerroman offenbart sich somit [mit dem von Rom aus in einem Brief an Benedikt dramatisch angekündigten Abschied Ardinghellos von der Kunst zu Beginn des zweiten Bandes] zur Hälfte als Desillusionierungsgeschichte eines Künstlers, was ihn nicht nur höchst fragwürdig macht als Vorbild für die sich anschließenden Künstlerromane in der deutschen Literatur […].“ (Theile, Wilhelm Heinse, S. 181) sowie Leonhard Herrmann, Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses „Ardinghello“ – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte, Berlin/New York 2010 [Communicatio – Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte; Band 41], S. 79: „Die im ‚Metaphysischen Gespräch‘ grundgelegte Lehre vom Einzelnen als Teil einer göttlichen und zugleich natürlichen Daseinskette ist die Grundlage für die im Ardinghello entfalteten ästhetischen Konzeptionen, im Rahmen derer individueller, ekstatischer Genuß die zentrale Rolle bei der Produktion und Rezeption von Kunst zugewiesen bekommt. In diesem Sinne gilt der Ardinghello zunächst als ein Produkt von Heinses metaphysischen Reflexionen und erst nachgeordnet als ein ‚Roman um Kunst und Künstler‘.“

120

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

innerhalb der Diskussion um den Bildungsroman, noch in der zum Künstlerroman.251 Insgesamt hat die Beschäftigung mit dem Roman, nachdem die ersten entrüsteten Reaktionen abgeklungen waren, stark nachgelassen. Abgesehen von einer ersten „Renaissance“ innerhalb der Anhänger des Jungen Deutschland, für die Ardinghello zu einer Kultfigur des rebellischen Individualisten wurde,252 sowie einer weiteren nach der Wende zum 20. Jahrhundert, die Ardinghello als einen nietzscheanischen Roman gelesen hat, der das Dionysische des Übermenschen ante litteram feiere,253 scheint er für 200 Jahre in Vergessenheit geraten zu sein. Erst mit dem Erscheinen der ausführlich kommentierten Studienausgabe von Max L. Baeumer beginnt die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman wieder zaghaft, bis er dann seit der Jahrtausendwende im Zusammenhang mit einer zunehmenden Hinwendung zu Phänomenen der Intermedialität zum Gegenstand einer regelrechten Flut an Darstellungen wird.254 Das Problemfeld, das sich beim Versuch, den Roman einzuordnen, auftut, ist so disparat wie seine Beurteilungen. Zunächst stellt sich als Schwierigkeit dar, daß die Handlung des Romans immer wieder von ausführlichen Passagen der Bild- oder allgemein Kunstbeschreibungen ebenso wie von Passagen, in denen Gespräche über Kunsttheorie und Philosophie detailliert wiedergegeben werden, unterbrochen wird. Dies wurde zum Anlaß für abfällige Bewertungen, die Heinse 251 Eine Ausnahme bilden hier zum einen Herbert Marcuse, der in seiner ausführlichen Darstellung des Romans Heinses Ardinghello immerhin einige Seiten widmet (Herbert Marcuse, Schriften Band 1: Der deutsche Künstlerroman. Frühe Schriften, Frankfurt/Main 1978, S. 7–343; S. 32–41), zum anderen die außergewöhnliche und überzeugende Analyse des Romans bei Erich Meuthen, Eins und doppelt, S. 20–41. Besonders eklatant erscheint mir das Fehlen des Romans in Hausdörffer, Rebellion im Kunstschein, aber auch bei Zima, Der europäische Künstlerroman, findet er keine Erwähnung ebenso wie in Helmut Fuhrmann u.a. (Hrsg.), Wilhelm Meister und seine Nachfahren, Vorträge des 4. Kasseler Goethe-Seminars, Kassel 2000, wo, obwohl Wilhelm Meister nicht zweifelsfrei zu den Künstlerromanen zu zählen ist, überwiegend Künstlerromane behandelt werden, Heinses Ardinghello als Vorbild und Begründer der Gattung jedoch keine Erwähnung findet. 252 Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 649ff. 253 Vgl. hierzu Walther Brecht, Heinse und der ästhetische Immoralismus, Berlin 1911, der den Ausdruck des Dionysischen erstmals für Heinses Ardinghello gebraucht („auch bei diesem bacchantischen Dionysier“, S. XI, u.ö.) und diese Lesart somit begründet, sowie Max L. Baeumer, Das Dionysische in den Werken Wilhelm Heinses. Studie zum dionysischen Phänomen in der deutschen Literatur, Bonn 1964 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft Band 19], der den Begriff des Dionysischen schließlich auf das Gesamtwerk Heinses überträgt. 254 Z.B. Almut Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit; Gert Theile, Wilhelm Heinse; Björn Vedder, Wilhelm Heinse und der so genannte Sturm und Drang. Künstliche Paradiese der Natur zwischen Rokoko und Klassik, Würzburg 2011; Leonhard Herrmann, Klassiker jenseits der Klassik; Markus Bernauer, Norbert Miller (Hrsgg.), Wilhelm Heinse. Der andere Klassizismus, Göttingen 2007; Charis Goer, Ungleiche Geschwister; Gerold Schipper-Hönicke, Im klaren Rausch der Sinne. Wahrnehmung und Lebensphilosophie in den Schriften und Aufzeichnungen Wilhelm Heinses, Würzburg 2003 [Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft Band 379].

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

121

mangelnde Fähigkeit zur Komposition und Integration der beiden Textsorten attestieren und zu dem Urteil geführt haben, die beiden Teile stünden „unverbunden nebeneinander“255. Eine weitere Schwierigkeit ist die Figur des Helden, Ardinghello, der zwar einhellig als „uomo universale“ oder „Kernmensch“ bezeichnet wird, der „ganz er selbst“ sei und daher keiner Entwicklung mehr bedürfe, auch keine vollziehen könne,256 dem aber auf der anderen Seite mangelnde Tiefe des Charakters257 vorgeworfen wird – ein Vorwurf, dem auch die anderen Figuren des Romans zum Opfer gefallen sind. Nicht zuletzt erscheint es für die Interpreten schwierig, die Trennung von Fiktion und Realität im Blick zu behalten und die Ausführungen im Roman, seien es nun erotische Schilderungen, Bildbeschreibungen oder Gesprächsinhalte, von ihrem Autor Wilhelm Heinse zu trennen: Erotische Schilderungen werden entweder Heinses unmoralischem Lebensstil258 oder aber einer Kompensation seines asketischen Lebens zugeschrieben,259 die Ausführungen zu Kunst und Philosophie als Darstellung von Heinses Weltanschauung und Kunstauffassung gedeutet.260 Maßgeblich dazu beigetragen 255 Vgl. hierzu z.B. die Unterordnung der Romanhandlung unter die Bildbeschreibungen bei Peter Michelsen: „Das Italienbild in Wilhelm Heinses Ardinghello“, in: Klaus Heitmann, Teodoro Scamardi (Hrsgg.), Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993 [Reihe der Villa Vigoni, Band 9], S. 37–48; S. 37f.: „Die Landschaften, die Städte und die Kunstwerke in dem Roman sind nicht das mehr oder weniger zufällige Locale des Geschehens, sondern das Geschehen umrankt als eine willkürliche [!], im Grunde fast überflüssige [!!] novellistische Ornamentik die Natur-, Orts- und Kunstdarstellungen“, während Dominik Müller das „Zusammengesetzte[…] des Romans“ herausstellt: Dominik Müller, Vom Malen erzählen, S. 52, und Erich Meuthen die Trennung der beiden Stränge sogar als Strukturprinzip des Romans identifiziert. Meuthen, Eins und doppelt, S. 26. 256 Vgl. hierzu z.B. Sauder, Fiktive Renaissance, S. 61, und Goer, Ungleiche Geschwister, S. 157, sowie Marcuse, Künstlerroman, S. 39. 257 Vgl. hierzu Michelsen, Italienbild in Heinses Ardinghello, S. 37: „Vorauszuschicken ist eines: Heinses 1787 zuerst erschienener Roman Ardinghello muß in seiner Totalität aus zwei Gründen als mißglückt gelten: 1) aus kompositionellen Gründen, wegen der mangelnden Integration insbesondere der ausschweifenden kunsttheoretischen und philosophischen Partien; 2) aus Gründen unzureichender Personengestaltung: keine der Figuren – auch die aus der idealen Warte eines ‚ästhetischen Immoralismus‘ (Walther Brecht) als uomo universale entworfene Hauptfigur nicht – gewinnt plastisches oder auch nur individuell unterscheidendes Profil (da helfen auch die vitalistischen Epitheta nicht).“ 258 Vgl. hierzu Sauder, der sich im Rahmen seiner Untersuchung der Beschreibungen von Nacktheit bei Heinse anscheinend an Wolfgang von Wangenheim anschließt: „Wolfgang von Wangenheim hat aus dieser Beschreibung den Schluß gezogen, daß Heinse seine homoerotischen Neigungen hinter einem bisexuellen Kompromiß verborgen habe.“ Gerhard Sauder: „Die Sexualisierung des Ästhetischen bei Heinse“, in: Gert Theile (Hrsg.), Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses ÜberLebenskunst, München 1998 [Weimarer Editionen], S. 77–90; S. 88. 259 Vgl. hierzu Manfred Dick: „Wilhelm Heinse“, in: Benno von Wiese (Hrsg,), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 551–576; S. 551. Auf ihn bezieht sich auch Mahoney, wenn er schreibt: „So verschieden die Gesinnungen und das Verhalten der Romanhelden der Sexualität gegenüber auch sind, so ist Ardinghello wohl genauso ein Wunschbild seines Autors wie Andreas Hartknopf es für Moritz war.“ (Mahoney, Roman der Goethezeit, S. 35) 260 Vgl. z.B. Theile, Wilhelm Heinse, S. 171, der Ardinghello als alter ego Wilhelm Heinses deutet.

122

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

haben mag Baeumers Arbeit, die zum einen viele Quellen identifiziert und zum anderen die zahlreichen Stellen, an denen Reiseaufzeichnungen Heinses in den Roman eingeflossen sind, nachgewiesen hat, lange bevor in den Jahren 2003 und 2005 die Aufzeichnungen aus dem Frankfurter Nachlaß erschienen waren.261 Was innerhalb der Rezeptions- und Forschungsgeschichte zu Ardinghello seit seinem Erscheinen so großen Widerspruch hervorgerufen und so viel Kopfzerbrechen bereitet hast, ist indes das zentrale Strukturelement des Romans: Das Nebeneinander von Handlungs- und reflektierenden Passagen. Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Jahren und läßt sich anhand von historischen Elementen, die Heinse in das Geschehen eingeflochten hat, auf den Zeitraum zwischen dem Frühjahr 1574 und dem Frühjahr 1578 festlegen.262 Sie beginnt in Venedig mit der Zeremonie der Vermählung des Dogen mit dem Meer, die alljährlich stattfindet, und endet auf den griechischen Inseln Paros und Naxos. Getragen wird sie vom Helden des Romans, der sich zunächst als Ardinghello vorstellt und als dessen richtiger Name sich später Prospero Frescobaldi herausstellt. Der abrupt einsetzende Beginn der Handlung wirft nicht nur den Leser medias in res, sondern beginnt auch mit einem realen Sturz des Ich-Erzählers, Benedikt, ins kalte Wasser:263 Wir fuhren an einem türkischen Schiffe vorbei, sie brannten ihre Kanonen los: die Gondel wankte, worin ich aufgerichtet stand; ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in die See, verwickelte mich in meinen Mantel, arbeitete vergebens und sank unter. (Ard, S. 9) Der Erzähler wird durch einen Fremden, der sich später als Ardinghello vorstellt, gerettet, was den Auftakt zu einer innigen Freundschaft der beiden bildet und zugleich den Roman erst ermöglicht, da der ich-Erzähler nicht der eigentliche Protagonist der Handlungen ist, sondern vom zweiten Teil an nur durch Brie261 Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlaß, hrsg. von Markus Bernauer, Nobert Miller u.a., Bd. 1–IV, München/Wien 2003 (Bd. I und II) und 2005 (Bd. III und IV). 262 Vgl. hierzu Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 675. Baeumer zeigt, wie die teilweise verdeckten, teilweise offenen Zeitangaben im Roman eine genaue Eingrenzung des zeitlichen Rahmens ermöglichen. 263 Zur Deutung des Romananfangs vgl. Markus Bernauer, Kunst als Natur, S. 96–98, und v.a. Charis Goer, Ungleiche Geschwister, S. 161–166 (Kopfüber). Goer deutet den Sprung ins kalte Wasser zunächst als Parodie der sich an Heliodors Aithiopika orientierenden Romananfänge im Barock, da hier „der Topos überboten“ wird. (S. 161), um ihn schließlich auf der Grundlage der im Roman behandelten Elementenlehre mit der „naturphilosophischen Dimension, die in der Kopfsprungszene angedeutet und in der ‚metaphysische Unterredung‘ ausgeführt wird“, zu verbinden (S. 165f.).

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

123

fe vermittelt an der Geschichte um Ardinghello teilhat, die er wiederum den Lesern übermittelt. Der Retter macht hierbei einen starken Eindruck auf den Geretteten, der den Rest des Tages „weder essen noch trinken und vor Ungeduld nicht bleiben“ (ebd.) konnte. Dieses Wechselbad der Gefühle zwischen der Kälte des Wassers und des dadurch drohenden Todes und der Hitze Ardinghellos, dessen „Augen […] vor Licht und Feuer“ (ebd.) glühten, markiert zwei Pole des Romans, zwischen denen dieser sich fortwährend bewegt. Schon eine Seite später, am Abend des ersten Tages, begegnet Benedikt seinem Retter in einem völlig anderen Kontext wieder: er entdeckt ihn in einer Weinschenke, die er als Versammlungsort von Künstlern identifiziert, wo jener in einem hitzigen Gespräch mit Paul von Verona über die Voraussetzungen des richtigen Kunsturteils diskutiert. Diese beiden Elemente – Handlung und Gesprächssituation –, die sich bereits auf den ersten beiden Seiten des Romans abwechseln, bilden im gesamten Verlauf dominante Strukturelemente, die dem schon zu Beginn eingeführten Kontrast von Feuer und Wasser, Hitze und Kälte entsprechen: die Gespräche, deren erstes noch relativ knapp gehalten ist, werden immer ausführlicher und in ihrer Argumentation auch immer ausgereifter, überlegter. Sie unterbrechen den Handlungsstrang des Romans und bilden Orte der Ruhe und der Reflexion im Gegensatz zu den aktionsreichen und abenteuerlichen Handlungselementen. Die Handlung ihrerseits bewegt sich in einem der Langsamkeit der reflektierenden Passagen entgegengesetzten Tempo um die Person Ardinghellos. Nachdem er Benedikt gerettet hat, begibt er sich mit diesem auf das Landgut von dessen Mutter, wo sich eine heimliche Liebesgeschichte weiterentwickelt, die Ardinghello bereits in Venedig eingefädelt hat. Nach dem Muster von Skandalgeschichten, die Heinse bei seiner Italienreise aus den angeblich wahren fatti tragici und ähnlichen reißerischen Chroniken zusammengetragen hat,264 stellt sich die Geliebte als Braut des Mörders von Ardinghellos Vater heraus, was jenen wiederum dazu veranlaßt, Rache zu nehmen und den Bräutigam während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu erdolchen (Ard, S. 77). Kurz darauf begibt er sich, um Nachforschungen zu entkommen, auf eine Reise, von der aus er dem Erzähler und Freund Benedikt mehr oder weniger regelmäßig Briefe zukommen läßt. Formal ein Briefroman mit Herausgeberfiktion, finden sich inhaltlich Elemente des Liebes- und des Abenteuerromans ebenso wie der Reiseliteratur. Ardinghello hält sich zunächst in Genua auf, wo er in einen Piratenüberfall gerät, den er erfolgreich abzuwenden hilft, um dann über Lucca und Pisa nach Florenz, seiner Heimat, zu reisen. 264 Vgl. hierzu Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 674–682.

124

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Nachdem ein Liebesverhältnis seines Vaters mit der Frau des Medici-Herrschers öffentlich geworden war, hatte die Familie die Stadt verlassen müssen, durch die Nachricht vom Tod der Herrschers wendet sich die Situation allerdings. In Florenz angekommen erscheint Ardinghellos Auftritt als ein wahrer Siegeszug: seine Besitztümer werden ihm zurückgegeben, er erhält obendrein noch eine Villa, gewinnt das Vertrauen des aktuellen Herrschers und wird mit allerhand Aufgaben betraut. Dieser Triumph wird vorbereitet und verdichtet im Sieg Ardinghellos bei „einer neuen Art olympischen Spielen“ (Ard, S.  137), die zur Zeit seiner Ankunft in Florenz abgehalten werden. Mit Leichtigkeit gewinnt er in mehreren Disziplinen und scheidet schließlich aus, um nicht durch allzu viele Siege die anderen Teilnehmer zu beschämen (vgl. Ard, S. 141). Vom Fürsten im Rahmen seiner Aufgaben als Kunstsachverständiger nach Rom geschickt, verbringt er dort einige Zeit, um weiter in die Gegend um Perugia und schließlich sogar Neapel zu ziehen, bevor er wieder in Florenz anlagt. Dort wird er nun wiederum in eine abenteuerliche Geschichte verwickelt, bei der er nur knapp dem Mordanschlag eines Nebenbuhlers entkommt, indem er den Angreifer ersticht, sowie einen Kardinal, der kurz darauf als vermutlich weiterer Nebenbuhler auftritt, verletzt. Wieder auf der Flucht, begibt sich Ardinghello in die Gesellschaft der Seeräuber, von denen er beim Überfall in Genua einen zum Freund gewonnen hatte, um eine Weile durch das Mittelmeer zu vagabundieren und endlich auf zwei Inseln, die der Sultan Amurath ihm und seinen Freunden überlassen hatte, einen neuen Staat zu gründen. Diese sowieso schon atemlose und abenteuerliche Handlung wird immer wieder mit Liebesgeschichten Ardinghellos verstrickt, der sich als unersättlicher Liebender zeigt. Der Geschwindigkeit der Handlung steht die Langsamkeit der Gesprächsund Beschreibungspassagen gegenüber, die einen gleichberechtigten Anteil am Roman ausmachen.265 Die reflektierenden Elemente lassen sich in zwei Arten unterteilen: vielen mehr oder weniger ausführlichen Beschreibungen von Kunstwerken, denen Ardinghello im Laufe seiner Reise durch Italien begegnet, stellen sich mehrere Gespräche über Kunst und Kunsttheorie sowie Philosophie allgemein an die Seite. Die Gespräche haben das angemessene Urteil über Kunst und Kunstwerke, das Primat von Linie oder Farbe, die Abgrenzung der Künste untereinander und die Frage nach dem metaphysischen Ursprung der Welt zum 265 Verschiedenen, vor allem älteren Deutungen, die die Kunstbeschreibungen als den eigentlichen Kern des Romans lesen oder die Reflexionen über Kunst und Kunsttheorie als Hauptgegenstand des Romans sehen, um den die Handlung lediglich als Ornament angeordnet ist, sei hier dezidiert widersprochen. Vgl. hierzu Michelsen, Italienbild in Heinses Ardinghello, S. 37f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

125

Gegenstand. Der Rhythmus des Romans ist gekennzeichnet durch den ständigen Wechsel von Geschwindigkeit und Retardation, Handlung und Gespräch, Aktion und Reflexion. Dabei stehen die beiden Erzählstränge in einem komplexen Verhältnis zueinander. Verbunden werden sie zunächst durch die Figur Ardinghellos, der zugleich Held der Handlung und Betrachter der Kunstwerke oder Gesprächspartner der Reflexionen ist.266 Er stellt sich dem Erzähler bei der zweiten Begegnung als Maler vor: „Ich bin ein Maler aus Florenz und halte mich hier auf, um nach den toskanischen Gerippen mich am venezianischen Fleisch zu weiden.“ (Ard, S. 15) Neben seiner Selbstcharakterisierung als Künstler, die zunächst keine Informationen zu Herkunft, Familie und Lebensgeschichte enthält, bringt Ardinghello zugleich auch eines der in den Diskussionen erörterten Streitthemen ins Spiel: die Frage nach dem Primat der Linie, für das Michelangelo steht und auf das er mit den „toskanischen Gerippen“ anspielt, oder dem Primat der Farbe, für das die venezianische Schule und als deren Hauptvertreter Tizian stehen. Für Ardinghello verkörpert hierbei das Primat der Linie zunächst eine Auffassung von Kunst, die aus der Theorie und dem mechanischen Studium der Perspektive heraus schafft, während das von ihm bevorzugte Primat der Farbe „das Lebendige mit allen den feinen Tinten in ihrer Vermischung und schwindenden Umrissen, die keine bloße Linie faßt“ (Ard. S. 16), darzustellen vermag. Es geht hier um die Frage nach der Lebendigkeit und der Naturtreue von Kunst, um das Verhältnis von Kunst und Natur, Kunst und Leben. Die Kunst, die den Gegenstand der Reflexionen bildet, und das Leben, das sich in seiner ganzen Lebendigkeit und Vielfalt in den Abenteuern des Protagonisten manifestiert, bilden die Pole, welche die beiden Erzählstränge kennzeichnen und in gleicher Weise zu Ardinghellos Leben gehören. Daß die Kunst eine dem Leben Ardinghellos immanente Größe darstellt, wird bereits an seiner Identität als Maler deutlich. Ardinghellos durch die Unterhaltung mit Demetri, einem griechischen Philosophen, ausgelöster Abschied von der Kunst ist hierbei nicht von Belang: zwar sieht sich Ardinghello in der Folge nicht mehr als Maler – seiner anfänglichen Selbstcharakterisierung als Maler steht gegen Ende des Romans das Bekenntnis „Ich gebe mich […] für einen Maler aus“ (Ard, S. 344) gegenüber –, seine Beschäftigung mit Kunst und Malerei läßt aber nicht nach. Im Gegenteil folgt nach dem erklärten Abschied von der Kunst ein Abschnitt mit Beschreibungen von Kunstwerken, der an Länge und Intensität alle vorherigen überbietet.267 Erich Meuthen führt dies auf das „Wech266 Vgl. hierzu auch Charis Goer, Ungleiche Geschwister, S. 162f. 267 Baeumer (Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 690), Marcuse (Marcuse, Künstlerroman, S. 40) u.a. deuten das Künstlerdasein Ardinghello entweder als Zwischen- oder Durchgangsphase, während

126

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

selspiel zwischen dargestellter und darstellender Wirklichkeit“ zurück, das er als den „‚integrierende[n] Faktor‘, der die Erzählung zusammenhält“268, identifiziert. Grundlage seiner Analyse ist die Annahme, daß dem Roman ein „Spannungsfeld zwischen den kunsttheoretischen und narrativen Partien“269 inhärent sei, innerhalb dessen die Erzählung überhaupt erst möglich werde: Dem Roman selbst ist der angestrebte Zustand [eine Vereinigung der Widersprüche] unerreichbar. Der Zwiespalt ist ihm immanent. Mit dem Zusammenfallen der Erzählstränge verschwände der Reflexionsraum, um dessen Darstellung es geht, da an ihm die Kunst das Leben hat.270 Das Bild der parallel verlaufenden Erzählstränge ist zutreffend und doch irreführend. Zwar konstituiert der Wechsel zwischen Handlung und Reflexion die gesamte Bewegung des Romans, jedoch ist dieser Wechsel eine Emanation des Strukturprinzips der Bipolarität, das Roman und Figuren gleichermaßen einbeschrieben ist. Ardinghellos Position als integrierender Punkt der beiden Erzählstränge bildet dabei nur eine Ausprägungsform dieser bipolaren Struktur, die sich in Ardinghellos Person wiederholt, der auf der einen Seite als praktizierender Maler auftritt, auf der anderen Seite aber als Kunstbetrachter und -kritiker sich ihr auch theoretisch nähert. Eine scharfe Trennung dieser beiden Beschäftigungsarten mit Kunst ist dabei nicht möglich: Die Feststellung, Ardinghello sei im ersten Band des Romans Maler und rede weniger über Kunst, im zweiten dann betätige er sich nicht mehr als Maler und rede stattdessen mehr über Kunst,271 trifft vordergründig zu, verkennt aber die vielfältigen Zugangsmöglichkeiten zum Medium Kunst, das für Ardinghello eben nicht nur in der Berufsausübung des Künstlers besteht. Ebenso, wie er Theorie der Kunst und ihre praktische Ausübung verbindet, vermag er nicht zwischen Kunstbeschreibung und Lebensbeschreibung zu trennen. Er zieht die Natur der Kunst vor:

Theile (Theile, Wilhelm Heinse, S. 181) und Hüfler (Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 34) zumindest von einem generellen Abschied von der Kunst sprechen. Hierbei wird allerdings verkannt, daß Ardinghello sich auf einer anderen Ebene und mit einem anderen Zugang ungebrochen der Kunst widmet. 268 Meuthen, Eins und doppelt, S. 25. 269 Ebd., S. 23. 270 Ebd., S. 27. 271 Vgl. Ebd., S. 23.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

127

Ach, scheiden von der Kunst überhaupt! Sie ist meine Bestimmung nicht; ich habe mich nur jugendlich getäuscht. Nach dem geheimen Gefühl, daß der Endzweck aller Existenz ist, gut zu sein und Schönheit zu genießen, und daß Gott selbst keine andre Glückseligkeit habe, wähnt ich, am ersten meine Beruhigung in der Malerei zu finden, und arbeitete mich herum mit Traum und Schatten. Mein Herz und Geist trachtet nach einer kräftigern Nahrung und findet diese allein in der lebendigen Natur und Gesellschaft der Menschen, in wirklichem Kampf und Krieg und Liebe und Friede mit denselben. (Ard, S. 230f.)272 Bei der Beschreibung von Landschaften und schönen Frauen, denen der Held im Leben wie in der Malerei begegnet, besteht jedoch kein Unterschied zwischen der Beschreibung eines Gemäldes und der der Realität.273 Dies wird möglich durch zwei Grundannahmen Ardinghellos, die er immer wieder formuliert und die sich auch als ein Motiv durch die Reflexionen zur Kunst ziehen. Zum einen ist dies der Anspruch an die Kunst, lebendig zu wirken, die Bewegung und damit das Leben darzustellen, den er in einem Streitgespräch mit Demetri formuliert: Das höchste Leben ist das schwerste in allen Künsten, sowohl in den bildenden als Poesie und Musik: Sturm in der Natur, Mord zwischen Mann und Mann, Seelenvereinigung zwischen Mann und Weib, und Trennung, Abgeschiedenheit verliebter Seelen. Das Tote kann auch der bloße Fleiß darstellen, aber das Leben nur der große Mensch. (Ard, S. 186) Deswegen aber beruht Ideal nicht auf bloßen Hirngespinsten, sondern die Natur selbst ist die ewige Regel: und ein Künstler muß von ihren Quellen schöpfen, wenn er neue Schönheit und neuen unsterblichen Reiz hervorbringen will. (Ard, S. 188)

272 Zur Stellung der Natur über der Kunst vgl. auch das zweite Kunstgespräch des Romans, in dem sich Ardinghello als Befürworter der imitatio naturae anstelle der imitatio auctores zeigt: „Ach, wir sind so weit von der Natur abgewichen und von der wahren Kunst zurück“ (Ard, S. 20) und das kurz darauf folgende Gespräch mit Benedikt, wo er bemerkt: „Alle Künste sind verwandt; sie zusammen erhöhen und verstärken das Gefühl, mehr als alles, für die Schönheiten der Natur und setzen ihn über das Tier.“ (Ard, S. 22) Das Ideal der Nacktheit, das er aus der Beschäftigung mit der Antike bezieht, fällt hier zusammen mit dem Ideal der Natürlichkeit im Gegensatz zur Entfremdung des Menschen innerhalb der aktuellen Gesellschaft. 273 Vgl. hierzu Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 11: „Die Kunstbeschreibungen führen dabei [im Ardinghello] die schon in den Gemäldebriefen von 1776/77 erprobte verlebendigende Beschreibungskunst fort“.

128

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Warum soll der Künstler keine Handlungen darstellen dürfen? Körper und Handlungen machen hier eins aus, das ist: Leben; und beides ist dafür da; hohes edles Leben; dies ist sein letzter Endzweck. (Ard, S. 189) Zum anderen ist es die Überzeugung, „Empfindung“ sei Grundlage aller Kunstund auch Naturerkenntnis: Man kann die Natur nicht abschreiben; sie muß empfunden werden, in den Verstand übergehen und von dem ganzen Menschen wieder neu geboren werden. Alsdenn kommen allein die bedeutendsten Teile und lebendigen Formen und Gestalten heraus, die das Herz ergreifen und die Sinne entzücken; die Regung in vollstimmiger Einheit durch den ganzen Körper des gegenwärtigen Augenblicks bildet kein bloßer Fleiß nicht. (Ard, S. 193) Das Leben und das Lebendige werden zur Orientierungsgröße für die Kunst, die Wirkung auf die Empfindung des Betrachters zum Beurteilungsmaßstab. Das Sprechen über Kunst wird so zu einem Sprechen über die dort dargestellte Natur und ihre Wirkung auf die Empfindung des Betrachters, das Sprechen über Natur seinerseits zu einem Sprechen über die Wirkung der Natur auf den Betrachter, der sie als ein Schauspiel der Natur, ein Kunstwerk also, auffaßt und begreift. Durch diese chiastische Verschränkung von Natur und Kunst im Erleben durch den Betrachter einerseits und durch die Bemühung, das Erleben zu versprachlichen, andererseits werden die Pole des Romans, Handlung und Reflexion, miteinander verbunden. Diese Verbindung zeigt sich in der Beschreibung von zwei Venusdarstellungen, einer griechischen Statue und Tizians Venus von Urbino, die am Hof von Florenz in direkter Nachbarschaft aufgestellt werden sollen, auf der einen Seite und der Beschreibung der beiden Genueser Frauen Fulvia und Lucinde, die intime Freundinnen sind, auf der anderen.274 Romanhandlung und Kunstbeschreibung treten in einen Bezug zueinander, der sich durch Parallelität und wechselseitige Ergänzung auszeichnet. Die marmorne Venus-Statue, der, so berichtet Ardinghello, ein angesetzter Arm wieder abgenommen werden soll, „weil er allzu schlecht ergänzt ist“ (Ard, S. 328), und deren „Kopf […] am Hals

274 Vgl. Meuthen, Eins und doppelt, S. 27.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

129

angesetzt“ (Ard, S. 329) ist, wird im Fortgang der Beschreibung verlebendigt, bis es schließlich heißt: Das sich regendste Leben wölbt sich sanft hervor in unendlichen Formen und macht eine entzückende ganze. Adel, für sich bestehend, blickt aus den süßen lustseligen Augen, ein sonnenheißer Blick von Liebesfülle [!] flammt die Stirn herab, schwebt auf dem Munde, wo Stolz und Zärtlichkeit zusammenschmelzen. (Ard, S. 329f.) Die Beschreibung gipfelt in dem Ausruf: „Doch was verschwend’ ich Worte darüber; komm und sieh! und fühle! Und traure herzinniglich, daß sie nicht den Mantel von Dir sich umwirft, Dich zu begleiten.“ (Ard, S. 329), der in seinem Staccato eine orgastische Intensität annimmt, um sogleich in eine pygmalionische Klage des getäuschten Betrachters überzugehen. Anschließend wird das Gemälde Tizians beschrieben, neben dem die griechische Venus aufgestellt werden soll. Auch sie wird in einer Lebhaftigkeit beschrieben, die die Gemachtheit des Kunstwerks hinter die Natürlichkeit der durch sie im Betrachter hervorgebrachten Empfindung zurücktreten läßt: Diese ist eine reizende Venezianerin von siebzehn bis achtzehn Jahren, mit schmachtendem Blick, aufs weiße widerstrebende Sommerbett, im frischen Morgenlichte, faselnackend vor innrer Glut von aller Decke und Hülle, bereit und kampflüstern hingelagert, Wollust zu geben und zu nehmen; die, anstatt die Hand vorzuhalten, schon damit die stechende und brennende Süßigkeit der Begierde wie abkühlt und mit den Fingerkoppen die regsamsten gefühligsten Nerven ihres höchsten Lebens berührt. (Ard, S. 331) Die Beschreibung der dargestellten Frau, die Ardinghello weniger als Venus, denn als „bezaubernde Beischläferin“ (ebd.) interpretiert, widmet sich zunächst nicht der Komposition des Bildes oder der Farbgebung, sondern dem aus der Darstellung geschlossenen Gefühlsleben, wobei ihre sexuelle Begierde im Vordergrund steht. Teil der Beschreibung ist die Einschätzung ihres Alters, wie sie bei der Begegnung mit einer wirklichen Frau normal, bei einem Gemälde aber ungewöhnlich ist. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Figuren liegt in der Keuschheit und Jungfräulichkeit bei der Statue, der die „Wollust“ und die „schon einige Zeit

130

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

gewichen[e]“ Jungfräulichkeit beim Gemälde gegenübersteht. Diesem Frauenpaar der Kunst entspricht das Frauenpaar Lucinde und Fulvia im Leben. Die beiden Freundinnen trifft Ardinghello in Genua im Zusammenhang mit einer Hochzeitsfeierlichkeit, zu der ihn ein neu gewonnener Bekannter, Boccadoro, mitgenommen hat. Fulvia, die Braut, „begrüßte […] [Ardinghello] mit einem festen lüsternen Blick und wollüstigem Lächeln“ (Ard, S. 92f.) und wird so mit denselben Attributen eingeführt, wie Tizians Venus: Lüsternheit und Wollust. Lucinde hingegen wird beschrieben als Frau, deren „Mutter, was die Formen des Gesichts betrifft, sich an dem Vatikanischen Apollo versehen zu haben scheint“ (Ard, S. 93); sie rückt damit in die Nähe der griechischen Statue. Im weiteren Verlauf, in dem Ardinghello Bekanntschaft mit beiden macht, entsprechen sie dem ersten Bild, das Ardinghello flüchtig von ihnen gewonnen hatte. Dabei werden beide zu Kunstgestalten stilisiert, allerdings der Poesie: Lucinde erscheint als keusche Laura, zu der Ardinghello – ganz gegen seine Natur – ein petrarkistisches Verhältnis von Verweigerung und Anbetung entwickelt. Sie gibt bei der Ankunft an Land durch „ihre traurige Miene und blasse Farbe, ihr verwirrtes Haar und losgegangenes Gewand […] das Bild einer bezaubernden Heiligen“ (Ard, S. 98), vor dem Ardinghello „in Staub“ (Ard, S. 99) fällt. Seine Annäherungen bleiben indes unerwidert: Lucinde ist nur zu Gesprächen bereit, die Ardinghello bereits ins Schwärmen geraten lassen („Ich habe Gespräche mit der letztern [Lucinde] gehabt, mich auf ewig mit ihr zu fesseln“ Ard, S. 102), und als sie ihm endlich einen Tanz gestattet, erinnert seine Verzückung an jene der petrarkistischen Ball-Gedichte Torquato Tassos.275 Als Ardinghello sich schließlich im Schrank ihres Zimmers verbirgt, um sich ihr nachts zu nähern, ist Lucinde derart entsetzt und fleht um Schonung, daß er als demütig ergebener Liebender alle ihre Wünsche erfüllt und sich auf einen Handel einläßt, der ihm eine Liebesnacht gewährt, wenn er ihren Bräutigam aus der Gefangenschaft befreie (Ard, S. 108-113). Das Bild des in unerfüllter Liebe entbrannten Mannes wird in dieser Szene komplettiert durch eine auf Lucindes Tischchen liegende Ausgabe des Canzoniere von 275 „Sie [Lucinde] gestattete sogar, daß ich auf einem vermummten Ball eine Menuett mit ihr tanzte. Gott! welcher hohe Reiz enthüllte sich bei jeder Bewegung ihres schlanken Körpers! wie heiß die Augen in mich sonnten [!], und sich doch so selbst überlassen! wie süß die zarten Lippen in so frischer Röte lächelten und die festen glänzenden Brüste von der Ebbe und Flut der Jugend wallten! Ich ward umflochten von einem unzerreißlichen Liebesnetz; und die Berührung ihrer Finger entflammte mich, als ob ich lauter Salpeter und Schwefel wäre.“ (Ard, S. 107f.) Die Beschreibung des Tanzes ruft die klassischen Topoi des weiblichen Schönheitspreises, wie er von der Troubadourlyrik herkommend spätestens seit Petrarca in der hohen Liebeslyrik, vor allem im Sonett, sich etabliert hatte, auf – Augen, Lippen, Brüste, später folgt der Hals und das Haar. Selbst die durch die Augen ins Innere und schließlich ins Herz dringenden Blicke der Geliebten im petrarkistischen Diskurs werden aufgerufen, wenn ihre Augen als Sonnen ins Innere vordringen.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

131

Petrarca, die sie später als Schreibunterlage für ihren Vertrag mit Ardinghello benutzt. Den Gegensatz zu Lucinde verkörpert Fulvia, die ihrem ersten Auftritt gemäß eine ebenso vielen Liebhabern zugetane „Buhlerin“ ist wie ihr Gegenstück in der Kunst, die Venus von Urbino. Sie zeigt sich offen dem wenig an ihr interessierten Ardinghello zugetan und wendet, da er sich ihr nicht nähert, eine List an, die ihre literarischen Vorbilder in der Klugheit der unkeuschen Frauen in Boccaccios Decamerone hat.276 Sich Ardinghellos Leidenschaft für Lucinde bewußt, läßt sie ihm durch die Hand einer Dienerin Lucindes ein Zettelchen zukommen, das ihn um einen nächtlichen Besuch bittet. Dort nähert sie sich ihm im Dunkeln als vermeintliche Lucinde an und überrascht ihn mit der Erfüllung seines Wunsches nach sexueller Vereinigung, so daß Ardinghello „glaubte, Lucinde sei plötzlich eine heitere Griechin geworden und wollt ihr himmelschönes junges Leben genießen und mit mir den Anfang machen.“ (Ard, S. 104) Nachdem Fulvia den Betrug aufgeklärt hat, wähnt sich Ardinghello „angeführt auf eine Weise, die [ihm] hohe Lust gewährte“ (Ard, S. 104), so daß er sich auf die Liebschaft mit Fulvia einläßt und die Episode ein lieto fine im Stil Boccaccios nimmt. Die Verschränkung von Kunst und Leben wird vollends deutlich, wenn man die Empfindungen des Betrachters hinzunimmt: Die Verzückung angesichts der spröde wirkenden, keuschen Venus-Statue, die im Wunsch gipfelt, sie möge herabsteigen, spiegelt sich in Ardinghellos Wunsch, die zurückhaltend-keusche Lucinde kennenzulernen, wohingegen er „wenig Neigung, nähere Bekanntschaft mit ihr zu machen“ (Ard, S. 93) in Bezug auf Fulvia ausdrückt, die ihm schon bei der ersten Begegnung verheißungsvolle Blicke zuwirft, was sich wiederum in der Beschreibung der Venus von Tizian spiegelt, die trotz ihrer einladenden Geste keine Erregung im Betrachter auszulösen vermag. Gemäß Meuthens These, „Heinses Roman präsentiert das Leben als farbiges Gemälde und das Kunstwerk als sinnlich erotischen Akt; die Kunst erscheint versinnlicht und der sinnliche Genuß stilisiert“277, lassen sich auch bei anderen Beschreibungen Heinses solche Verschränkungen von Leben und Kunst feststellen. Dabei kommt den Liebesgeschichten ein besonderes Augenmerk zu, weil sich das Gefühl des Lebendigen für Ardinghello am ehesten in extremen Situationen wie Kampf und Liebe äußert und die erotische Erregung als eine der stärksten Empfindungen sein Verhältnis zu Natur und Kunst ebenso prägt wie 276 Zu Boccaccio als einem von Heinses literarischen Vorbildern vgl. Meuthen, Eins und doppelt, S. 29 sowie Vedder, Heinse und der so genannte Sturm und Drang, S. 231f. 277 Meuthen, Eins und doppelt, S. 25.

132

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

das Liebeserleben.278 Eine Verschränkung aller drei Bereiche findet sich bereits zu Beginn des Romans im Zusammenhang mit dem Aufenthalt am Gardasee und Ardinghellos erster Liebschaft Cäcilie. Nach einigen heimlichen Treffen erzählt Ardinghello seinem Freund Benedikt von seiner Liaison mit Cäcilie, die er auf einem Maskenball zum ersten Mal gesehen hatte. Die erste verabredete Begegnung findet in einer Kirche statt, wohin Cäcilie den Verliebten bestellt hat. Auch hier werden literarische Muster zitiert, da die Begegnung Petrarcas mit Laura in einer Kirche am Karfreitag stattgefunden haben soll. Ardinghello hat seine Geliebte schon ein paarmal in Gesellschaft gesehen und „auf den Raub abgezeichnet“ (Ard, S. 43). Während er in der Kirche wartet, läßt er sich das dort befindliche Bild Tizians, Peter der Märtyrer, zeigen, das er dem Freund detailliert beschreibt und schließlich als „täuschend in allen Teilen“ (Ard, S. 45) beurteilt. Beim Eintreten von Cäcilie in die Kirche verblaßt der Anblick der Kunst vor dem Anblick der wirklichen Person und Ardinghello kommentiert diesen Moment mit den Worten: „O alle Kunst, neige dich vor der Natur!“ (ebd.), um die reale Frau dann aber wiederum im Bild der aufgehenden Sonne zu beschreiben. Die Beschreibungen ihrer Gestalt in der darauffolgenden, ersten nächtlichen Begegnung sind wiederum in ihrer Bildlichkeit einem Gemälde nahe, während ihre Motivik der Liebeslyrik entnommen zu sein scheint: .

Ach, wie sie blühte! ein voller Rosenbusch im Mai am frischen Morgen im neuen Glanz des Himmels und den Chören der Nachtigallen herum. Ihre jungen festen Brüste kochten und wallten, und im Netz ihrer verwirrten blonden Haare zappelte meine arme Seele wie ein gefangener Vogel. (S. 48) Der Stilisierung Cäcilies zu einem symbolisch aufgeladenen Gemälde folgt am Gardasee die tatsächliche Portraitierung, die ihr Bräutigam ausgerechnet Ardinghello überträgt. Das kurz zuvor entstandene Gemälde, das Ardinghello für Benedikts Mutter malt, ergänzt die Cäcilien-Episode um ihr Pendant in der Kunst. Es handelt sich um ein Madonnenbild, das die Muttergottes als Madonna lactans mit ihrem Kind an der Brust in der freien Natur vorstellt. Die Brust der Madonna ist wie die der Cäcilie entblößt, nur nicht zu erotischen Begegnungen, sondern zu dem lebenspraktischen Zweck, das Jesuskind zu stillen. Das Haar, das seit jeher ero278 Vgl. hierzu Heinse, Ardinghello, S. 230f. und Sauder, Sexualisierung des Ästhetischen.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

133

tisch aufgeladen ist, ist im Gegensatz zu dem Cäcilies nicht selbst das Netz, das den Liebhaber fängt, sondern wird von einem Netz zusammengehalten, das nur einzelne Locken herausfallen läßt – was bei Cäcilie ausgeführt ist, bleibt bei der Madonna Andeutung. Den Chören der Nachtigallen entsprechen im Madonnenbild die schwebenden Engel, die in ironischer Verkehrung ihrer Funktion als Boten Gottes, die wegen ihrer Verwandtschaft mit Gabriel die unbefleckte Empfängnis symbolisieren, „wie junge Liebesgötter“ (Ard, S.  41) erscheinen. Diese ironischen Brechungen, die in den hervorfallenden Locken und den Liebesgöttern eine der Jungfräulichkeit Marias widersprechende Bedeutungsebene ins Bild bringen, haben ihre Zentrum im Jesuskind, das beschrieben wird als „Bube, so recht in Liebe erzeugt“ (ebd.). Diese Ambivalenz der Bedeutungen, die zwischen der Unschuld Marias und der Natürlichkeit des Kindes, das als Kind stets von einer real vollzogenen Liebe zeugen würde, oszilliert, wiederholt sich später in der Geschichte Cäcilies. Vermeintlich unbefleckte Braut, hat sie ihre Unschuld kurz vor der Hochzeit mit ihrem Bräutigam Mark Anton an Ardinghello verloren und trägt auch schon die Frucht ihrer Liebe im Leib. Dieses Verhängnis wird ihr später zum Vorteil, als ihre Schwangerschaft zum falschen, aber unwiderlegbaren Beweis dafür wird, daß das Brautpaar zum Zeitpunkt des Mordes an Mark Anton die Ehe bereits vollzogen hatte und Cäcilie Witwe und zusammen mit ihrem Kind somit rechtmäßige Erbin des Ermordeten ist. Diese Verhältnisse werden im Marienbild bereits angekündigt. Neben dem Bezug zu Cäcilie ergibt sich durch die Naturszene auf dem Madonnenbild ein weiterer Bezugspunkt, der nun die Naturerfahrung einschließt. Die lebendige Beschreibung der Naturszenerie im Hintergrund des Bildes endet mit dem Hinweis darauf, daß „die bezauberndste Seite von der romantischen Wildnis unseres Lago […] ganz treu hier zu sehen“ (Ard, S. 40) war. In genau dieser Gegend halten sich Ardinghello und Benedikt kurz später auf, und während die Natur auf dem Gemälde realistisch eingefangen scheint, speist sich die Beschreibung des realen Naturerlebnisses der beiden Freunde, die bei dem beschriebenen Ausflug Ardinghellos Lebensumstände und damit auch seine verhängnisvolle Beziehung sowohl zu Cäcilie, als auch zu ihrem Bräutigam Mark Anton thematisieren, aus Zitaten literarischer Texte, die in ihrer Symbolik das authentische Naturerlebnis als ein vermitteltes erkennbar werden lassen.279 Natur und Kunst, Wahrheit und Täuschung durch die Kunst bilden ein unauflösbares Spiel der gegenseitigen Verweise und Überblendungen, das das klare und 279

134

Vgl. hierzu Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 685f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

einfache Bekenntnis Ardinghellos zum Vorrang des Lebens vor der Kunst in komplexen Verflechtungen erscheinen läßt, die gerade eine solche Einschätzung ad absurdum führen. Der historische Rahmen der Handlung und Ardinghellos Figur als Integrationspunkt der Pole von Leben und Kunst sind von besonderer Bedeutung. Ort des Geschehens ist das Italien der Renaissance, das im späten 18. Jahrhundert zunehmend ins Zentrum des Interesses gerät, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen über Kunst und Künstler. Die im 17. Jahrhundert aufkommende Kavalierstour, deren Route ihren letzten Reiseabschnitt in Italien hat, vermehrt die Kenntnis italienischer Kultur, die sich allerdings hauptsächlich an den Werken der klassischen römischen Kunst und Literatur orientiert.280 Diese rückt im Verlauf des 18. Jahrhunderts in den Blick von Kunsttheoretikern, die im italienischen 16. Jahrhundert ein Wiederaufleben der antiken Kunst- und Weltauffassung zu erkennen vermeinen – eine Einschätzung, zu der schon Petrarca und die italienischen Humanisten erste Anstöße gaben, indem sie von einer rinascità der alten römischen Größe im zeitgenössischen Italien träumten.281 Durch die sich in der Renaissance vollziehende Neuordnung der Künste und die damit verbundene Aufwertung des Malers und vor allem des Bildhauers entstehen heftige, auch öffentlich ausgetragene Kontroversen um Bild und Selbstbild der Künstler. Hierbei ist zunächst vor allem der Streit darüber von Bedeutung, ob der Maler oder der Bildhauer der größere Künstler sei: Zentral für den […] Epochenbegriff [der Renaissance] ist das Konzept des Menschen als Künstler im Sinne der menschlichen Gestaltungsfreiheit seiner eigenen Lebensbedingungen und somit der Kunst als einer zentralen Leitkategorie der Anthropologie, die sich nicht mehr primär aus der Schöpfung Gottes oder der Natur ableitet, sondern ihr Schicksal selbst gestaltet, ‚meißelt‘. Der Bildhauer wird das Modell dieser neuen Menschwerdung des Menschen in der Renaissance und aus ihrem Geist.282

280 Zu den Texten, die sowohl Reiseroute als auch Naturerlebnis der Kavalierstouren prägen, vgl. Albert Meier: „Das Land zum Buch. Klassische Literatur und Italienwahrnehmung im 18. Jahr­ hundert“, in: Heitmann, Deutsches Italienbild, a.a.O., S. 26–36. 281 Vgl. hierzu Karlheinz Stierle: „Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts“, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck, (Hrsgg.) Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 [Poetik und Hermeneutik Band XII], S. 453–492; S. 454ff. 282 Silvio Vietta: „Romantik und Renaissance – Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994; S. 1–14; S. 3.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

135

Dieser Streit dauerte fast hundert Jahre, hatte seinen Beginn bereits im 15. Jahrhundert und ging als paragone in die Kunstgeschichte ein. Künstler und Theoretiker wie Leon Battista Alberti, Leonardo da Vinci und sogar Albrecht Dürer beteiligten sich mit Traktaten daran.283 Zunächst wurde der Malerei der höhere Stellenwert eingeräumt, da sie die größere Schwierigkeit zu überwinden habe, indem sie die dreidimensionale Welt auf eine zweidimensionale Leinwand zu übertragen und überdies Licht und Schatten sowie Farbgebung zu beachten habe, während die Bildhauerei lediglich Kopie in der gleichen Dimension sei. Im Verlauf der Diskussion beteiligte sich im Rahmen einer Befragung von Künstlern durch Benedetto Varchi auch Michelangelo an ihr, der nun allerdings der Bildhauerei den Vorzug gab284 – er selbst betätigte sich bekanntlich in beiden Bereichen, fühlte sich aber mehr als Bildhauer, was er in Briefen, aber auch in seinen Gedichten beschreibt und was seinen Ausdruck nicht zuletzt darin findet, daß er als „Michel Agniolo, scultore“285 unterschreibt. Giorgio Vasari, der Verfasser der Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri (1550), schließlich versucht den unentscheidbaren Streit beizulegen, indem er alle bildenden Künste auf eine Basis, die Linie oder Zeichnung (disegno) zurückführt:286

283 Vgl. Leon Battista Albertis Schrift De pictura (1435/36), die Filippo Brunelleschi gewidmet ist und in der er der bildenden Kunst theoretische Grundlagen geben möchte. Hierfür bedient er sich signifikanterweise einiger aus der Rhetorik stammender Begrifflichkeiten wie „inventio“, „ingenium“, „iudicium“ und „aptum“. Die Natur stellt Alberti als wichtigstes Vorbild ins Zentrum, die Naturbeobachtung ist ihm folgerichtig unerschöpfliche Quelle der künstlerischen Arbeit; vgl. ebenfalls Leonardo da Vinci, Trattato della pittura (enthalten auf Codex Vaticano Urbinate 1270, datierbar auf ca. 1480−1516). Da Vinci erörtert zunächst die Frage, ob die Malerei und die Bildhauerei zu den Wissenschaften zu zählen seien („se è scienza o no“), um diese dann zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Bei Da Vinci schneidet die Bildhauerei noch schlechter ab, weil zu ihr weniger Geschick nötig sei, da sie lediglich die dreidimensionale Kopie der dreidimensionalen Wirklichkeit sei und keinerlei Übertragungsgeschick vom Künstler erfordere. Leonardo Da Vinci, Trattato della pittura, introduzione e aparati a cura di Attore Camesasca, Milano 1995, S. 1 und S. 30ff. 284 Zur Beteiligung Varchis am paragone vgl. Benedetto Varchi, Paragone – Rangstreit der Künste, italienisch und deutsch, hrsg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Tristan Weddigen, Darmstadt 2013. Neben zahlreichen anderen Dokumenten ist auch der Antwortbrief Michelangelos auf Varchis Frage zum paragone enthalten (ebd., S. 276–279). 285 Vgl. hierzu Michelangelo Buonarotti, Rime e lettere, a cura di Paola Mastrocola, Torino 1992, S. 310 (Al padre), S. 314 (Al padre), S. 317 (Al Giuliano da Sangallo), S. 319, S. 320, S. 322, S. 328, S. 330 (Al fratello), S. 460 (A Giovan Francesco Fattucci). 286 Vor dem Hintergrund dieser Gleichsetzung von Malerei und Skulptur feiert Vasari Michelangelo als den größten Künstler, der in beiden Künsten und auch in der Architektur als „göttlich“ bezeichnet wird. Vgl. Giorgio Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, neu übersetzt von Victoria Lorini, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004, S. 40.Vasari spielt im Roman die Rolle des Lehrers von Ardinghello – ein Umstand, der im weiteren Verlauf der Romananalyse von Bedeutung sein wird.

136

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Dico adunque che la scultura e la pittura per il vero sono sorelle, nate di un padre, che è il disegno, in un sol parto et ad un tempo; e non precedono l’una alla altra se non quanto la virtú e la forza di coloro che le portano addosso fa passare l’uno artefice innanzi a l’altro, e non per differenzia o grado di nobiltà che veramente si truovi infra di loro. E se bene per la diversità della essenzia loro hanno molte agevolezze, non sono elleno però né tante, né di maniera che elle non venghino giustamente contrapesate insieme, e non si conosca la passione o la caparbietà piú tosto che il giudizio di chi vuole che l’una avanzi l’altra. Laonde a ragione si può dire che una anima medesima regga due corpi; et io per questo conchiudo che male fanno coloro che si ingegnano di disunirle e di separarle l’una da l’altra.287 Mit dem disegno allerdings wird ein weiteres Problemfeld berührt, das innerhalb der Malerei wiederum zur Aufspaltung in zwei Lager geführt hat: die Frage nach dem Primat von Linie (disegno) oder Farbe (colore). Hier spielen die im Roman bereits im ersten Kunstgespräch angerissenen „Schulen“ eine Rolle: Florenz mit Michelangelo als führendem Maler wird zum Identifikationspunkt der Vertreter des Primats der Linie (oder Zeichnung), während die venezianische Schule mit ihrem wichtigsten zeitgenössischen Maler Tizian, der für sein Kolorit berühmt ist, für das Primat der Farbe eintritt.288 287 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri, Firenze 1550, S. 19. Giorgio Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, neu übersetzt von Victoria Lorini, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004, S. 39f.: „Und so sage ich, daß Skulptur und Malerei in Wahrheit Schwestern sind, die von einem Vater – dem disegno – abstammen. Und aus einer Geburt zugleich hervorgegangen sind; demnach übertreffen sie sich nicht gegenseitig, wenn nicht durch die Fähigkeit und Kraft der in ihnen tätigen Künstler der eine den anderen hinter sich läßt, keinesfalls aber aufgrund eines Unterschieds oder dem Grad an Adel, der sich tatsächlich in beiden findet. Und wenn sie auch durch die in ihrem Wesen begründeten Unterschiede jeweils viele Vorzüge besitzen, so sind diese jedoch weder so zahlreich noch von einer solchen Art, daß sie sich nicht gegenseitig vollkommen ausgleichen würden und man nicht zugleich anstelle der Urteilskraft die Leidenschaft und den Starrsinn derjenigen erkennen kann, die die eine der anderen vorziehen wollen. Deswegen kann man mit Recht sagen, daß eine Seele zwei Körper belebt, und so schließe ich daraus, daß jene schlecht daran tun, die versuchen, sie aus ihrer Einheit herauszulösen und voneinander zu trennen.“ 288 Eine zentrale Schrift in diesem Zusammenhang ist Zuccaros (teilweise auch als „Zuccari“ bekannt) Schrift L’idea de’ pittori, scultori et architetti (1607), die ebenfalls den von Vasari formulierten Grundgedanken vom Schöpfungsakt durch die Zeichnung zur Grundlage seiner Stellungnahme zum paragone macht. Der Streit um Linie oder Farbe verbreitet sich über Italien hinaus nach Europa, wo er insbesondere in Frankreich ähnlich heftig ausgetragen wird – dort bilden analog zu der italienischen Lagerbildung die Anhänger Poussins, der für die Zeichnung steht, die Gruppe der Poussinisten, denen die Rubenisten gegenüberstehen, die mit ihrem Vorbild Rubens einen für seine Farbgebung bekannten Maler wählen. Zu Zuccaro vgl. Ulrich Pfisterer: „Die Entstehung des Kunstwerks. Federico Zuccaris ‚L’idea de’ pittori, scultori et architetti‘“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 38 (1993), S. 237–168.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

137

Heinse war diese Diskussion bekannt: Er war als einer der ersten an der in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Rezeption von Vasaris Vite beteiligt, wobei ihm seine Italienischkenntnisse die Lektüre der Ausgabe von 1568 ermöglichten.289 Die Aufwertung der Kunst und der menschlichen Freiheit sowie Diskussionen um verschiedene Auffassungen von Kunst bilden also den intellektuellen Hintergrund, vor dem sich Ardinghello bewegt, und zugleich die Eckpunkte der Diskussion um Natur und Kunst, die im Roman immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten aufgegriffen wird. Die Heftigkeit, mit der die Diskussionspartner im Roman ihre Meinungen vertreten,290 entspricht derjenigen von Ardinghellos Naturell: er ist ungestüm in seinen Leidenschaften und unbedingt in seinen Auffassungen, entschlossen in seinen Handlungen wie in seinen Überzeugungen. Seine Leidenschaftlichkeit bezieht sich nicht einseitig auf einen Gegenstand, weshalb es auch unsinnig erscheint, seine Figur vor allem aufgrund seiner erotischen Ausschweifungen zu beurteilen – in einer solchen Sichtweise auf die Person spiegelt sich lediglich eine Auffassung von Moral und Sittlichkeit, die sich von den durch Ardinghello kritisierten Sichtweisen nicht unterscheidet. Vielmehr begegnet Ardinghello allen Bereichen in seinem Leben mit demselben Feuer, das ihn auch schon zu seinem Künstlernamen inspiriert hat.291 Diese Verwobenheit von Theorie und Praxis, die sich nicht nur in den bereits analysierten Parallelitäten zwischen Lebens- und Kunstbeschreibung zeigt, sondern auch in seinem Umgang mit Freunden und Bekannten, bei deren Zusammentreffen die Geselligkeit der Freundschaft immer verbunden ist mit einem Disput über die Kunst, vereint in der Person des Protagonisten auf lebendige Art und Weise die Renaissance, die Heinse unter dem von Vasari stammenden Begriff der rinas289 Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 702f. 290 Vgl. hierzu z.B. den Beginn des Streitgesprächs zu Michelangelo, Raffael und den Antiken, dessen Anfang Ardinghello folgendermaßen beschreibt: „Der Streit war so heftig, daß man mich nicht bemerkte. ‚Michelangelo‘, sprach ein reizender junger Mensch, ‚gehört gar nicht unter die Maler, so wenig als einer, der bloß den Kontrapunkt versteht, unter die großen Sänger und Geiger. Was hat er denn hervorgebracht? […] Der elende Florentinerschmeichler Vasari hat mit dem Dampf von seinem Weihrauchkessel […] den Leuten das Gehirn benebelt.‘“ Nach weiteren Ausführung des Sprechers bemerkt Ardinghello: „Ein Landsmann von mir, der eigentlich mit diesem im Klopfgefechte begriffen war, wurde darüber vor Ärger grün und gelb, und die Nase schwoll ihm zusehends: doch konnt er vor Zorn nichts hervorbringen, so wortreich er auch sonst ist“ (Ard, S. 165f.). 291 Vgl. hierzu Macher, Heinses Ardinghello, S. 165: „Das besondere dieser Konzeption des Renaissancemenschen [als ‚Kraftkerl‘ des Sturm und Drang] ist, daß solche Züge organisch mit der künstlerisch-ästhetischen Sieite von Ardinghellos Persönlichkeit verbunden werden. In diesem Sinne heißt es schon in der bereits erwähnten ersten Charakterskizze des Helden von 1782/83, er wolle ‚[a]lles beysammen, Kunst, Genuß und Herrschaft‘ (4; 406). Diese im ganzen Roman dann durchgehaltene Einheit von kraftvollem, machtbewußtem ‚Kernmenschen‘ und ästhetisch subtil empfindendem und genießendem Genie bezieht sich allerdings nicht nur auf das Feld des Ästhetischen im engeren Sinne, sie umfaßt vielmehr das ganze Tun des Helden.“

138

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

cità292 bekannt war, mit dem 18. Jahrhundert. Denn die öffentlichen Dispute über die richtige Auffassung von Kunst entsprechen durchaus dem Künstlerleben im 16. Jahrhundert in Italien, von dem berichtet wird, daß sich Leonardo da Vinci und Michelangelo auf dem Gipfel ihres Streits auf offener Straße anfeindeten293. Diese Bedingungslosigkeit, mit der ein Künstler in jeder Lebenslage Künstler ist, ist an eine ganzheitliche Auffassung vom Menschen geknüpft, der sich nicht auf einen Aspekt seines Lebens und seiner Fähigkeiten reduzieren läßt, sondern gemäß dem humanistischen Menschenbild als rundum (aus)gebildeter Mensch, als uomo universale, gedacht wird.294 Als uomo universale entspricht Ardinghello also dem Bild vom Menschen der Renaissance, zugleich vereint er in sich die Eigenschaften, die für die Anhänger des Sturm und Drang den „Kernmenschen“ oder „Kraftmenschen“ kennzeichnen: Ein ungebrochenes Wesen, nicht korrumpierbare Überzeugungen, Kampfgeist, Vitalität, Energie, Leidenschaftlichkeit.295 In seiner Figur laufen also nicht nur die beiden Stränge von Handlung und Reflexion zusammen, er bildet zugleich den Integrationspunkt, an dem Renaissance und 18. Jahrhundert, fiktionale und reale Zeit einander überblenden. Indem Ardinghello sowohl der Held eines Renaissanceromans als auch Identifikationsfigur der zeitgenössischen Leser ist, öffnen sich die im Roman geführten Diskussionen auf den Horizont des 18. Jahrhunderts. Der paragone erscheint somit als Vorläufer und Folie der kunsttheoretischen Diskussionen der Aufklärung, der Streit um disegno und colore sowie die Naturnachahmung gewinnt eine zusätzliche Perspektive auf die Diskussion von Regelpoetiken, die im 18. Jahrhundert unaufhaltsam, aber gegen großen Widerstand abgelöst werden von der neu formulierten Genieästhetik.296 Die Diskussion des ersten Kunstgesprächs, das sich mit den Voraussetzungen des richtigen Urteilens über Kunst befaßt, ist ein markantes 292 Vasari, Lebensbeschreibungen, S. 55, sowie Anmerkung 117: „Vasari ist der erste Autor des italienischen Humanismus, der den Begriff rinascità als Substantiv gebraucht und der die nachantike Geschichte in ein dreiteiliges Geschichtsschema nach dem Muster ‚Perfektion, Verfall, Wiedergeburt‘ einteilt.“ 293 Vgl. hierzu z.B. Martin Kemp, Leonardo, München 2005, S. 476ff, insbes. S. 479f. 294 Vorbilder sind hier, um nur zwei Beispiele zu nennen, wiederum Leonardo da Vinci, der zugleich als Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph gilt, sowie Michelangelo, der sich als Bildhauer, Maler, Architekt und Dichter betätigt hat. Vgl. hierzu z.B. die Kapitel „Leonardo da Vinci“ und „Michelangelo“, in: Herbert Alexander Stützer, Malerei der italienischen Renaissance, Köln 2004, S. 43–50 und 59–62, oder Ders., Die italienische Renaissance, Köln 1977, S. 166–172 sowie S. 203–225. 295 Zum Verhältnis von Heinses Ardinghello zum Konzept des Kraftmenschen im Sturm und Drang vgl. z.B. Herrmann, Klassiker jenseits der Klassik, Kapitel 2.3: „Kernmensch“ auf Sinnsuche: Die Individualitätskonzeption im Ardinghello, S. 55–103. 296 Zum Übergang von Regelpoetik zu Genieästhetik vgl. z.B. Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien 1995; Kapitel 4: Die Wendung zur Ästhetik: Das Subjekt als Künstler – der Künstler als Genie, S. 137–154, sowie Jochen

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

139

Beispiel, da in ihr eine Verlagerung des Interessenschwerpunktes stattfindet: Während in der Renaissance zunächst verschiedene Urteile über Kunstwerke und vor allem Künste gefällt, begründet und diskutiert werden, hebt Heinse die Diskussion im Roman anachronistisch auf eine Metaebene: Ardinghello, Paul von Verona und der Römer diskutieren hier nicht die Urteile selbst, sondern die Voraussetzungen, um zu einem richtigen Urteil zu gelangen. Die vielfältigen Bezüge der innerhalb des Romans angeführten Argumente zu zeitgenössischen Diskussionen sind verschiedentlich nachgewiesen worden und auch auf der Grundlage der Aufarbeitung von Heinses Quellen und Notizheften einsichtig.297 Die Diskussion zeitgenössischer Probleme auf der Folie historischer Romane ist freilich nichts neues, und Heinse hat das Erscheinen eines solchen Romans in seinem literarischen Umfeld miterlebt, da sein Mentor Christoph Martin Wieland in den Jahren 1766 und 1767 seinen Roman Geschichte des Agathon (1766/67, zweite Auflage 1773) publiziert, der innerhalb seiner in der Antike angesiedelten Geschichte zeitgenössische Verhältnisse diskutiert. Doch geht im Ardinghello die Verknüpfung von zeitgenössischem Kontext und historischem Ort des Geschehens über eine bloße Auslagerung des Geschehens in eine unproblematische zeitliche Ferne hinaus. Neben der Figur des Renaissance-Künstlers, der dem Genie-Ideal des ausgehenden 18. Jahrhunderts entspricht, und der Diskussion um Kunst und Kunstwerke, gibt es eine Verbindung der beiden Jahrhunderte, die beide an eine dritte zeitliche Dimension anbindet: Es ist die Antike als gemeinsamer Bezugspunkt sowohl der Renaissance wie des 18. Jahrhunderts. Die (Wieder-)Entdeckung der Antike unter anderem durch Petrarca298 steht am Beginn einer Epoche, die zu einer kulturellen Blütezeit Italiens werden sollte. Die Beschäftigung mit der italienischen Renaissance und ihrer Rezeption der Antike wiederum bildet ein zentrales Moment der deutschen Romantik.299 Gleichsam in einem Spiegelkabinett der Jahrhunderte erscheint das Bild der Antike, dessen Ursprung nicht mehr auszumachen ist. Wahrheit und Abbild verschwimmen zu einem ununterscheidbaren Ganzen, das ähnlich dem Kunstwerk, das die Natur Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens 1750–1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985. 297 Vgl. hierzu Goer, Ungleiche Geschwister, Kapitel „Ungleiche Geschwister. Prämissen und Prinzipien der Ästhetik Heinses“, S. 19–44; Theile, Wilhelm Heinse, Kapitel 2.2: Heinses künstlerische Strategie, S. 120–149, sowie Heinse, Ardinghello, Nachwort, S. 683–718. 298 Vgl. hierzu Stierle, Renaissance, S. 454–458 sowie Enno Rudolph: „Die Entdeckung des Individuums in der Philosophie der Renaissance. Ein Dialog mit Ernst Cassirer über Cusanus, Pico della Mirandola und Pomponatius“, in: Vietta, Romantik und Renaissance, a.a.O., S. 15–32; S. 17f. 299 Zur These, daß sich die deutsche Romantik weniger mit dem Mittelalter, als mit der Renaissance beschäftigt habe, vgl. Vietta, Romantik und Renaissance, Einführung, S. 1f.

140

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

nachahmen soll und doch immer nur ein Bild derselben präsentieren kann, zu einem Amalgam von Bildern unterschiedlicher Provenienz wird. Das Bild der Antike ist es auch, das sowohl die Figur des Ardinghello als auch das von ihm postulierte Schönheits- und Kunstideal prägt. Die Antike, auf die Heinse sich bezieht, steht hierbei vor allem für eine freie Lebensart im Gegensatz zur eingeschränkten zeitgenössischen sowie für einen natürlichen Umgang mit Sinnlichkeit. Die Rezeption der Antike durchläuft im 18. Jahrhundert zwei Phasen: zunächst wendet sie sich der römischen Antike zu, der man auf italienischem Boden zu begegnen hofft. Sie bildet zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Ziel der Kavalierstour, wobei der Engländer Joseph Addison mit seinen 1705 erschienenen Reisebeschreibungen, den Remarks on Several Parts of Italy, die „neue […] Art, Italien aus literarischem Blickwinkel zu betrachten“300, prägt: Sie [die Remarks] haben nach 1700 eine Wechselbeziehung zwischen Gegenwart und antiker Literatur herausgebildet, die sich als „sentimentalisch“ charakterisieren läßt. Unbeschadet aller Varianten und Modifikationen steht immer das Wissen um die Distanz zur Antike im Vordergrund.301 Diesem Zugang zur Antike, der in erster Linie über die Literatur erfolgt, anhand derer das zeitgenössische Italien bereist wird und die gleichsam das Inventar liefert, das den Blick sowohl auf Italien als auch auf die Antike konditioniert, wird im Laufe des 18. Jahrhunderts ein anderer Zugang an die Seite gestellt, der nun die griechische Antike als eigentliche Antike ins Blickfeld rückt. Diese Verschiebung des Interessenschwerpunktes geht einher mit wichtigen Veränderungen, die weitreichende Konsequenzen haben sollten: Zum einen erfolgt eine geographische Ausweitung des Reisehorizontes, der nun Süditalien, also die Magna Graeca miteinbezieht, die zuvor nicht beachtet worden war; zum anderen erfolgt eine Ausweitung auf andere Künste: steht die lateinische Antike im Zeichen der Schrift, so rückt für die griechische Antike die Bildhauerei ins Zentrum des Interesses, das nunmehr erst ‚ästhetisch‘ ist: Durch Winckelmanns Distinktion zwischen der griechischen und der römischen Kultur waren namentlich die deutschen Intellektuellen und Künst­ler auf das klassische Griechenland und dessen nicht mehr lite­ 300 Meier, Klassische Literatur und Italienwahrnehmung, S. 26. 301 Ebd., S. 26f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

141

rarisch, sondern ästhetisch geprägte Kultur verwiesen worden, was zu einer gravierenden Veränderung ihrer Italienbilder führte. Solange Griechenland selbst touristisch unzugänglich blieb, mußte Italien stellvertretend für die Autopsie griechischer Schönheit einspringen, was in zweierlei Weise möglich war: durch die hauptsächlich in Rom versammelten Kunstwerke griechischen Ursprungs (wenngleich zumeist nur in römischen Kopien) und durch die Tempel und Landschaften Süditaliens, speziell Siziliens. Damit kam aber auch ein neuer literarischer Bezug ins Spiel, da Italien sich nun als homerische Landschaft zeigte.302 Diese Hinwendung zur Kunst der griechischen Antike bedeutet zugleich mit der Abwendung von einer rein literarischen Annäherung an die Antike eine Hinwendung zur Plastik, da die griechische Kunst hauptsächlich in Skulpturen und Tempeln erhalten ist. Diese Darstellungen antiker Gottheiten oder Heroen sind es, die Winckelmann zur Herausbildung seiner Kunstauffassung bringen, welche die griechischen Plastiken als vollendete Kunstwerke und den nackten menschlichen Körper als vollendete Schönheit in der Kunst ansieht. Hierin folgt Heinse Winckelmann: immer wieder formuliert Ardinghello in den im Roman enthaltenen Gesprächen über die Künste sowie über die ästhetische Schönheit, die das Ziel aller Kunst ist, als vollkommensten Gegenstand der Kunst das Nackte, das nun wiederum von der Plastik am lebendigsten dargestellt werde.303 Zunächst stellt Ardinghello in einem Taumel der Sehnsucht nach dem unentfremdeten Leben und damit nach Griechenland und der Antike fest: „Ach, wir sind so weit von der Natur abgewichen und von der wahren Kunst zurück, daß wir fast einen bekleideten Menschen für schöner halten, als einen nackten!“ (Ard, S. 20) Im Gespräch über Michelangelo, Raffael und die Antiken konstatiert Demetri, noch ohne Zustimmung durch Ardinghello: „Mit einem Worte, die Schönheit nackender Gestalt ist der Triumph bildender Kunst“ (Ard, S. 173) und folgert daraus: „Die Bildhauerkunst ist die echte Probe schöner Form und geht ins Wesentlichre und das Erhabne: die Malerei gibt sich mit allem ab, wo sie nur ein wenig Reiz findet.“ (Ard, S. 175) Ardinghello durchlebt hierbei seinen eigenen paragone, der anfangs von der Überzeugung, die Malerei sei die edelste aller Künste, geprägt ist: „die Farbe [ist]

302 Ebd., S. 31. Zur Gräzisierung Italiens vgl. auch Macher, Heinses Ardinghello, S. 158f. 303 Zu Ardinghellos Bevorzugung der Plastik gegenüber der Malerei vgl. Sauder, Fiktive Renaissance, S. 65f.

142

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

das Ziel, Anfang und Ende der Kunst“ (Ard, S. 16) lautet eine erste Stellungnahme, die er schließlich sogar auf die griechische Antike zurückprojiziert: Die Griechen mußten dann doch mehr Leben in der Malerei finden als Bildhauerkunst, weil sie dieselbe, wo sie am verständigsten waren, mehr als diese belohnte und beförderten. Ein Bild in Stein war ihnen nur Zeichen einzelner Wahrheit, nämlich der Form: die Malerei aber Zeichen aller Wahrheit und Wirklichkeit und von ungleich größerm Umfange; jenes gleichsam nur Dämmerung, Ding im Mondschein: Gemälde von Appelles, Gestalten wirklicher Welt in ihrem Tage. (Ard, S. 187f.) Später gelangt er in einem Prozeß der Umbesinnung auf die Plastik und die ihr innewohnende Vollkommenheit des menschlichen Körpers und des Lebendigen und vollzieht zugleich die Entwicklung des 18. Jahrhunderts in Bezug auf seine Antikerezeption im Mikrokosmos des Romans erneut: Seine geographische Reise führt ihn vom Norditalien der italienischen Renaissance über das Mittel­ italien der lateinischen Antike immer weiter in den Süden, in Richtung Sizilien und damit zur griechischen Antike. Seine Laufbahn als Künstler führt ihn von der sowohl selbst betriebenen als auch studierten und diskutierten Malerei zur nur noch als Betrachter erlebten Bildhauerei. Seine biographische Reise schließlich führt ihn von der Partizipation an literarischen Vorbildern gehorchenden Skandalgeschichten zur Aktion als Held eines nur noch seinen eigenen Regeln gehorchenden Lebensideals: der Hochzeit Cäcilies, bei der Ardinghello als außenstehender Störenfried zwar den frisch vermählten Mark Anton umbringt, aber dennoch eine Nebenrolle spielt, steht die eigene Hochzeit mit Fiordimona entgegen, die sich in der nach Ardinghellos Regeln errichteten Utopie abspielt. Dem Kampf mit den Piraten, in den Ardinghello eher zufällig hineingezogen wird und der ihn in einen zunächst mehr äußerlichen Kontakt mit der Welt der Seeräuber bringt, steht der eigene Eintritt in die Seeräuberbande des Ulazal gegenüber, mit dem er einige Zeit auf dem Mittelmeer vagabundiert. All dies steht unter dem Ideal der Verlebendigung, die sowohl den Schritt von der Malerei zur Plastik, als auch den von Norditalien nach Süditalien und vom gesellschaftlich dekretierten zum selbstbestimmten Leben auszeichnet und die ebenso die Entwicklung des Interesses an der Antike von einem literarisch geprägten und damit

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

143

fiktional ausgerichteten zu einem auf Persönlichkeitsentwicklung angelegten der späteren Italienreisenden bestimmt.304 Ardinghellos Zugang sowohl zur Kunst als auch zum Leben ist dabei von einer Kategorie geprägt, die beide Bereiche miteinander verbindet und somit Zentrum und Horizont der Weltauffassung Ardinghellos gleichermaßen bildet: der Sinnlichkeit. Von Rezeption und Forschung zunächst mißtrauisch bis ablehnend festgestellt, von den neueren Studien dann neutral betrachtet, erfährt die Konsequenz, mit der Ardinghello einen sinnlichen Zugang zu Welt und Kunst propagiert und vorlebt, bei fast allen Interpreten besondere Beachtung. Diese Sinnlichkeit drückt sich im Bereich des Lebens zunächst in Ardinghellos Liebesbeziehungen aus, die nicht nur zahlreich, sondern auch immer durch Unbedingtheit und Leidenschaftlichkeit geprägt sind. Sie scheint dem Wesen Ardinghellos als einzige mögliche Form der Lebensäußerung inhärent: Ich habe seit meiner letzten Begegnung mit Lucinden gerungen und gekämpft, in keine solche Torheit wieder hineinzugeraten; aber alles muß seiner Natur folgen. Ich zittre und knirsche mit den Zähnen, daß es nicht anders ist: der Mensch hat keine Freiheit. Sieh die Inseln der Glückseligkeit vor Dir, mit vor Verlangen kochendem Herzen nach ihrer Lust, von üppigem Mut alle Nerven geschwellt: und widerstehe mit kalter Überlegung der Gefahren, die vielleicht auf Dich warten, indes der günstigste Wind über Dir in den Wipfeln hinsäuselt! Was ist das, daß der Mensch so nach Ruhe trachtet und sie hernach doch nicht leiden kann? Daß das Ziel keins mehr für ihn ist, sobald er es erreicht hat, und er immer ein neues haben muß? Ach, unser Wesen hat keinen Frieden, und Brand und Glut in und über alles ist dessen erste Urkraft. (Ard, S. 203) Sinnlichkeit ist nicht nur Teil seines Wesens, sondern auch die Basis seiner Kunstbetrachtungen. Die zahlreichen, in die Handlung des Romans verwobenen Betrachtungen und Beschreibungen von Kunstwerken, die gleichsam „die Kernstücke des Romans, sein Mark“305 sind, sind stets getragen von einer Sinnlichkeit, die eine Verlebendigung der Kunstwerke darstellt und die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben scheint. Diese scheinbare Aufhebung der eigentlich streng getrennten Bereiche von Fiktion und Realität, von Kunst und Leben, vollzieht 304 Vgl. hierzu Macher, Heinses Ardinghello, insbes. S. 158–161, sowie Meier, Klassische Literatr und Italienwahrnehmung, insbes. S. 32–34. 305 Michelsen, Das Italienbild in Wilhelm Heinses Ardinghello, S. 41.

144

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

sich durch den Genuß, der aus der Betrachtung eines schönen Kunstwerks ebenso entspringt wie aus der Begegnung mit einer schönen Frau. So, wie die Augen bei der Kunstbetrachtung ihren Gegenstand wahrnehmen, so nimmt der Körper beim erotischen Kontakt das Gegenüber wahr – die verschiedenen Sinnesorgane stehen einander gleichberechtigt gegenüber und bilden verschiedene Möglichkeiten der Rezeption von Schönheit, deren Effekt hier wie da der Genuß ist.306 Der Genuß stellt somit letztlich den Moment dar, in dem Kunst und Leben ununterscheidbar werden, in ihm vollzieht sich für einen Moment die Versöhnung der beiden Bereiche, die sich sonst als unvereinbar gegenüberstehen. Die Fokussierung auf den Genuß als den Moment der Grenzüberschreitung und Versöhnung von Fiktion und Realität umfaßt zugleich auch eine Fokussierung auf den Rezipienten. Kunst wird nicht bereits zu Leben durch den Künstler, sondern erst durch den Betrachter, der die Kunst in seiner Wahrnehmung verlebendigt; das Leben wiederum ist nicht schon an sich ästhetisch, sondern wird durch das Auge dessen, der seine Schönheit zu erkennen vermag, der Kontingenz enthoben und zum Kunstwerk stilisiert. Der Moment des Genusses, an dem Natur und Kunst in einem ekstatisch-erotischen Erlebnis für kurze Dauer sich vereinen, ist per definitionem zeitlich begrenzt. Dieser zeitlichen Begrenzung versucht Ardinghello durch eine möglichst schnelle Iteration der Genußmomente zu entkommen, die so zunehmend als ein Kontinuum der Lust erscheinen. Dieses Kontinuum der Lust und der Sinnlichkeit hat seinen Ursprung und seinen Ort im antiken Arkadien, einer Landschaft, die als Topos der Dichtung schon seit Jahrhunderten präsent ist. Als Gegenbild zur entfremdeten Gesellschaft ist es schon seit seiner literarischen Geburt in Vergils Bucolica ein Sehnsuchtsort, der vor allem gekennzeichnet ist durch seine Harmonie zwischen Mensch und Natur. Er ist synonym für eine idyllische Wunschwelt geworden, die in manchem zwar mit mythischen Paradiesvorstellungen korreliert, ihren Ursprung jedoch der bewußten literarischen Setzung verdankt, also Dichtungslandschaft per se ist. […] es bezeichnet lediglich eine archaische Welt, die

306 Almut Hüfler stellt im Vorwort ihrer Studie zu Heinses Romanpoetik den Genuß sogar ins Zentrum von Heinses gesamtem Werk, wenn sie konstatiert, Heinse sei ein Autor, „dessen Vorstellung von ‚Genuß‘ als Lebensideal das Maß bildet für jede Begegnung zwischen dem Einzelnen und der Welt.“ Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 8.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

145

von Hirtensängern bewohnt, von Pan beschützt und von mythischem Geschehen durchwaltet wird.307 Wie Maisak in ihrem Aufsatz zu Arkadien betont, ist Pan als Beschützer die zentrale Figur der arkadischen Welt – eine Figur, die in die Idylle der Harmonie eine Komponente einbringt, die dieser Harmonie Bewegung und Leben verleiht: Als Gott der Weidelandes und damit verantwortlich für Fruchtbarkeit (des Landes und auch der weidenden Herden) „war Pan liebestoll und jagte dauernd den Nymphen nach.“308 Die Grundlage der arkadischen Welt ist also das Wechselspiel zwischen statischer Harmonie von Mensch und Natur und dynamischem Eros: Das größte Unglück, das man hier kennt, hängt mit den wechselnden Irritationen der Liebe zusammen: Eros ist die zentrale Triebkraft dieser Welt. So wenig sicher, wie das Glück der Liebe ist, so wenig ist es das arkadische, doch daran teilgehabt zu haben, verleiht den trüben Tagen Glanz: „Auch ich in Arkadien“ wird zur Signatur des vergänglichen Glücks.309 Dabei stellen Liebe und Eros einen Teil der Natur dar, die in Arkadien in ihrer ursprünglichen Form vorhanden ist. Die weiteren Naturelemente, die landschaftlich dem Topos des locus amoenus entsprechen, zeichnen sich durch Fruchtbarkeit und Üppigkeit aus, so daß die natürliche Liebe zwischen den Menschen ihre Entsprechung in dieser ursprünglichen Landschaft hat und das eine gleichsam aus dem anderen zu folgen scheint. In dieser symbiotischen Anlage des Verhältnisses von Mensch und Natur werden Arbeitszusammenhänge obsolet, die Freiheit von ihnen wird zu einem weiteren Signum des arkadischen Lebens, das somit als „idyllisches Dasein genügend Zeit für Muße in einer anmutigen Landschaft [bietet]. Damit ist die grundlegende Voraussetzung für Liebe, Spiel und musische Betätigung geschaffen; die Hirten […] stiften […] die Urformen von Dichtung und Musik.“310 Diese Parameter der utopischen Einheit von Kunst und Natur, die erst nach dem Ende des arkadischen Zeitalters in zwei diametral 307 Petra Maisak: „Et in Arcadia ego“, in: Klaus Manger (Hrsg.), Italienbeziehungen des klassischen Weimar, Tübingen 1997 [Reihe der Villa Vigoni, Band 11], S. 11–37; S. 13. 308 „Pan“, in: Michael Grant, John Hazel (Hrsgg.), Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 182004, S. 318f.; S. 318. 309 Maisak, Et in Arcadia ego, S. 14. Maisak kontrastiert hier das vergängliche Glück Arkadiens mit dem unvergänglichen und absolut leid- und schmerzfreien Glück des irdischen Paradiese. Vgl. ebd., S. 13. 310 Ebd., S. 14.

146

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

entgegengesetzte Bereiche auseinandertreten, sind Ardinghello in verschiedener Weise strukturell einbeschrieben: Das Sinnlich-Erotische ist Grundlage des gesamten Romans, die Wichtigkeit der Landschaft spiegelt sich in den zahlreichen Landschaftsbeschreibungen wider, die Schauplatz sowohl von Unternehmungen der Freunde Benedikt und Ardinghello zu Beginn des Romans sind als auch der Liebesabenteuer mit Fiordimona in der zweiten Hälfte. Die Anlage des uomo universale Ardinghello selbst umfaßt sowohl die arkadische Harmonie – in ihm erscheinen alle denkbaren Anlagen eines Menschen gleichermaßen ausgebildet, wenn er als Maler und Politiker, Kämpfer und Kunstverständiger, Philosoph und Seeräuber in Erscheinung tritt – als auch die arkadische Dynamik – sein Wesen ist ruhelos und immerwährend vom Eros getrieben, der Grundlage all seiner Wahrnehmungen zu sein scheint. In dieser utopischen Anlage ist Ardinghello sowohl der intratextuellen Epoche der Renaissance als auch der extratextuellen Epoche seiner Entstehung und Rezeption fremd. In seinem Protagonisten läßt Heinse jedoch ein Bild entstehen, das 18. und 16. Jahrhundert verbindet und das sich zunächst speist aus der Sehnsucht beider Epochen nach Sinnlichkeit, Schönheit und einem harmonischen Leben vor jeder Form der Entfremdung. Die Sehnsucht des 18. Jahrhunderts nimmt, wie die zahlreichen Italienreisen zeigen, zunächst die Antike in den Blick, die sich in Italien in Form von Kunstschätzen und antiken Ruinen in der Phantasie gleichsam zu neuem Leben erwecken läßt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts und bei differenzierterer Betrachtung der Bilder, aus denen sich der Mythos von der Antike speist, entpuppt sich die Sehnsucht nach der Antike als eine Sehnsucht nach Arkadien. Hatte sich die Antike als gemeinsamer, realer Projektionsraum von Renaissance und Aufklärung identifizieren lassen, so öffnet sich im Bild von Arkadien ein weiterer Projektionsraum, der das 18. und das 16. Jahrhundert nun auf eine andere Weise mit der Antike verbindet und ein allen drei Zeiten gemeinsames Ziel der Sehnsucht nach ursprünglichem Leben darstellt. Dieser letzte Projektionsraum bezieht sich nun nicht mehr auf eine konkrete, historische Zeit, die im Roman fiktionalisiert wird, sondern ist selbst schon fiktional. Die Identifizierung eines fiktionalen Raumes als zentraler Bezugspunkt hat indes weitreichende Folgen für die Betrachtung des Romans. Zunächst einmal sind die zahlreichen historischen Bezüge, die durch die Heinse-Forschung akribisch aufgearbeitet worden sind, in einem anderen Licht zu sehen: Auswahl und Verwendung dieser Bezüge im Roman sind nicht erfolgt, um ein möglichst genaues Bild der Zeit der Romanhandlung wiederzugeben, sondern vor dem Hintergrund einer fiktiven Zeit, die als Folie und zugleich als Ideal dem Roman

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

147

unterlegt ist. Außerdem wird das Postulat von der Natur als Vorbild der Kunst und des Lebens durch den imaginären Bezugsrahmen einer Utopie obsolet. Das Ziel des Romans, die dauerhafte Harmonie von Mensch und Natur, Kunst und Leben, wird ins Unerreichbare verschoben. Daher werden Ardinghellos Abenteuer zunehmend märchenhaft, und auch ihre sprachliche Darstellung nähert sich dem Märchen an: Die Ereignisse werden nun überwiegend von Benedikt in einem sachlichen Ton wiedergegeben, die Briefe Ardinghellos werden seltener und berichten temporeich von unglaublichen Verwicklungen wie dem Mord am Neffen des Papstes und der Verwundung des Kardinals, die beide ebenfalls Liebhaber der Fiordimona gewesen waren, der Flucht mithilfe von Demetri und Diagoras, die beide „Heroen, echte wie Theseus und Perithoos, wie Orestes und Pylades“ (Ard, S. 362) sind, sowie der Zeit der Piraterie in der Truppe des Ulazal. Das Ende des Romans schließlich entwirft ein von der Gesellschaft losgelöstes Leben auf zwei griechischen Inseln, die der Gruppe um Ardinghello vom Sultan Amurath überlassen wurden. Ardinghello versammelt hier nun neben Fiordimona, Demetri und anderen Freunden vor allem „junge[…] tapfer[e] Römer […] und blühende […] Römerinnen“ (Ard, S.  368) sowie Künstler um sich. Im weiteren Verlauf wird der Bau von Tempeln und Häusern geschildert, die nach dem Vorbild der griechischen Antike konstruiert werden. Die nachfolgend beschriebene, frei gewählte Gesellschaftsform, die eine Staatsverfassung ebenso enthält wie kultische Einrichtungen, die die Trennung von Männern und Frauen auf zwei verschiedenen Inseln vorsieht und die Künste der Staatsraison unterordnet, erscheint nicht zuletzt durch die Akzentuierung des Kriegerischen („Deswegen ist der Stand der Natur ein Stand des Krieges.“ Ard, S. 374; „Der Krieg richtet greuliche Verwüstungen an, es ist wahr; bringt aber auch die wohltätigsten Früchte hervor. Er gleicht dem Elemente des Feuers.“ Ard, S. 375) als eine Mischung aus spartanischer und athenischer Staatsform und damit als eine Wiederbelebung der Antike. Diese Wiederbelebung auf einem höheren Reflexionsniveau, das „bei den Griechen, fast alle heitern Sinnes, […] in gesellschaftlichen Gesprächen bald den Aberglauben aus[rottete]“ (Ard, S. 373) und damit dem Anspruch der Aufklärung auf Vernunftgebrauch huldigt, verdichtet die dem gesamten Roman zugrundeliegende Struktur. Sie ist zugleich das realisierte Ideal Ardinghellos, der das Verschmelzen von Kunst und Leben unter der Rubrik des Genusses und der Sinnlichkeit propagiert, und die Entfaltung seiner inneren Anlagen, die sich auf den glückseligen Inseln eine ihnen gemäße Umgebung schaffen. Der rückwärtsgerichteten Sehnsucht nach Arkadien stellt sich eine vorwärtsgerichtete Sehnsucht entgegen, die ihre Utopie in die Realität holen

148

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

will. Die scheinbar realisierte Utopie der glückseligen Insel ist unterschiedlich interpretiert worden: Während Gert Theile ihr eine sozialgeschichtliche Relevanz zuspricht und sie als einzig möglichen Ort der Realisierung von „Heinses Vorstellung von der Sexualität als ‚Grundmodus des Seins‘“311 betrachtet, sieht Almut Hüfler in ihr eine Rückführung des Romans in seinen Rahmen und zugleich eine Absage Ardinghellos an die Kunst:312 Der Leser wird hier gewissermaßen an den gedanklichen Rahmen der Erzählung geführt im Vergleich zu den farbenfrohen, lebendigen Schilderungen und abenteuerlichen Berichten zeigt sich dieser auffällig spröde. An die Stelle der enthusiastischen Briefe Ardinghellos ist die nüchterne Erzählweise Benedikts getreten. […] Solche lakonischen Sätze zeigen, dass die aus ihnen sprechenden großen, existenziellen Anliegen im Rahmen des heinseschen Erzählens sprachlich kaum befriedigend zu erfassen sind. So wie Ardinghello die Kunst für das „Leben“ aufgegeben hat, weder malt noch schreibt sondern als Priester wirkt, verweist die Abwesenheit seiner Stimme am Schluss des Romans auf das „Leben“ jenseits der sprachlichen Vermittlung.313 Theile hält die Utopie für den imaginären Ort der Verschmelzung von Kunst und Leben. Bei Hüfler gerät genau diese Leistung des Bildes von den glückseligen Inseln in den Hintergrund. Zwar leistet die Utopie in der Tat die Rückbindung des Romans an seinen Rahmen, genau deshalb aber kann sie unmöglich von einem Abschied von der Kunst zeugen. Rahmen und Zentrum des Romans ist die Person Ardinghellos, die, schon selbst utopisch angelegt, die Gleichzeitigkeit von Fiktion und Realität, von Kunst und Leben verkörpert. Innerhalb dieses Rahmens wird der Versuch erzählt, diese Gleichzeitigkeit zu leben – ein Ziel, das im imaginären Raum „Arkadien“ realisiert wird. Dieser imaginäre Projektionsraum kann niemals eingeholt werden, er existiert lediglich in Bildern, die jederzeit aktualisiert, aber niemals realisiert werden können. Die Inselutopie, die das alte Athen scheinbar wieder aufleben läßt, verweist auf die Fiktionalität dieses Projektionsraumes. Der Roman endet mit dem in nur einem einzigen Satz 311 Theile, Wilhelm Heinse, S. 183. 312 Weitere Interpretationen der Utopie der glückseligen Inseln z.B. in: Max L. Baeumer, HeinseStudien, Stuttgart 1966, S. 36–48: „Die Insel-Utopie bei Heinse“, sowie in: Herrmann, Klassiker jenseits der Klassik, Kapitel 2.37: „Der Kernmensch unter ‚seines Gleichen‘: Individuum und ‚vollkommener Staat‘“, S. 96–103. 313 Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 133f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

149

beschriebenen Untergang der glückseligen Inseln, der an Nüchternheit kaum zu überbieten ist: „Doch vereitelte dies nach seligem Zeitraum das unerbittliche Schicksal.“ (Ard, S. 376) Das Imaginäre des Inselstaates wird schon bei der Beschreibung seiner Gründung hervorgehoben, wenn Benedikt beschreibt: „das alte Athen unter dem Perikles schien wieder aufzuleben. Und es lebte wirklich und verklärt auf.“ (Ard, S. 368; Hervorhebung S.K.) Es ist nicht die Wiedergeburt der Antike in der Moderne, die Ardinghello und seine Jünger zelebrieren, es ist die Verschmelzung der Architektur Athens („wirklich“) mit dem Lebensstil Arkadiens („verklärt“), die hier konstruiert werden soll. Was die Utopie der glückseligen Inseln verkörpert, wird weder durch den Verweis auf eine freie Sexualität, noch durch den Verweis auf die Konstruktion eines realen Arkadiens hinreichend erklärt. Beiden Konzepten gemeinsam ist jedoch der Gedanke einer Harmonie, die im Mittelpunkt des Interesses an Arkadien für die Künstler sowohl der Antike, wie auch der Renaissance und des 18. Jahrhunderts steht: Es ist die Harmonie von Sinnlichkeit und Geist, die auf einer höheren Ebene die Harmonie von Mensch und Natur, Kunst und Leben wiederholt. Während Ardinghello schon zu Beginn die Vereinigung dieser Kategorien verkörpert und damit bereits selbst utopische Züge trägt, ist sein Umfeld von ihrem längst vollzogenen Auseinanderfallen gekennzeichnet. Symbolisch verkörpert wird diese Aufspaltung in Lucinde und Fulvia: Während Lucinde als eine der platonisch-petrarkistischen Liebesauffassung verpflichtete Heilige erscheint, verkörpert Fulvia eine leidenschaftliche Venus. Durch ihr Wesen einander entgegengesetzt, verbindet sie dennoch eine enge Freundschaft, die an die Zusammengehörigkeit der sie prägenden Eigenschaften gemahnt. Das Ideal einer Frau, die diese eigentlich entgegengesetzten Züge vereint und damit zugleich auch ein Pendant zu Ardinghello darstellt, wird später mit Fiordimona in das Geschehen eingeführt, die mit Ardinghello zusammen „das vollkommenste Paar“ ausmacht (S. 363). Mit der Diskussion um Sinnlichkeit und Geist und um deren Verhältnis zueinander kehrt Heinse zurück ins 18. Jahrhundert und zu dessen kunsttheoretischen Entwicklungen. Hier vollzieht sich mit der Emanzipation der Wahrnehmung ein Prozeß, der die jahrhundertelange Vorherrschaft des Geistes auf dem Gebiet der Philosophie und der Kunsttheorie aufbrechen will. Die schon anfangs charakterisierte Diskussion um die Bedeutung der unteren Erkenntnisvermögen bestimmt den kunsttheoretischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und führt nicht nur zur Herausbildung einer Genie-Ästhetik, die sich

150

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

endgültig von der Regelpoetik vorangegangener Jahrhunderte abgrenzt, sondern auch zu einem immer stärker werdenden Interesse an der Person des Künstlers und zugleich auch des Rezipienten von Kunst. Heinse vertritt innerhalb dieser Kontroverse um obere und untere Erkenntnisvermögen und um Genie-Ästhetik und Regelpoetik das Primat der unteren Erkenntnisvermögen,314 wenn er den Genuß als zentrale Kategorie ansieht: „Die entzückendste Handlung für den Betrachtenden hierbei ist freilich, wo gerad ein Körper den anderen genießt: Kuß, Umarmung –“ (Ard, S. 176). Dabei spielt der Genuß eine doppelte Rolle, indem er zum einen als Genuß der dargestellten Körper das Thema des Kunstwerks ist, zugleich aber dem Betrachter oder allgemeiner, dem Rezipienten, Genuß bereitet. Diese Ambivalenz des Genusses in der Kunst hängt eng mit einer anderen Überzeugung zusammen, die Ardinghello im Roman formuliert: „Liebe und Geist ist eins und dasselbe unter verschiedenen Namen, nur daß man Überfluß von Geist Liebe nennt: hohe Schönheit beherrscht alle Geister.“ (Ard, S. 124). Der Zusammenhang von Schönheit und dem Vergnügen ihrer Betrachtung ist keine spezifische Anschauung Heinses, doch in der Verbindung des zunächst geistigen Vergnügens am schönen Kunstwerk mit dem erotischen Genuß der Körper entsteht die Grundlage für die Beschreibungen der Kunstwerke, die ihr Ziel im lebendigen Genuß haben: „Interessant ist, was poetologisch dahinter [hinter Heinses Stil der Beschreibungen] steht: der Versuch nämlich, mit allen Möglichkeiten des Mediums Sprache abstrakte Begriffe und Vorstellungen zu versinnlichen.“315 Ardinghello, der gleichermaßen als Produzent und als Rezipient von Kunstwerken auftritt, verkörpert dieses Leben unter dem Primat der sinnlichen Wahrnehmung idealtypisch. Er legt sowohl für die Arbeit des Künstlers als auch für die Rezeption durch den Betrachter Empfindung und Genuß zugrunde. Zunächst leitet er die Schönheit aus dem Genuß ab: „Schönheit ist, was Vergnügen wirkt“ (Ard, S. 29), der ausschließlich an den Körper und damit das Sinnliche gebunden wird: „Wir haben allen unsern Genuß durch den Körper“ (Ard, S. 186). Als Ziel aller Kunst wird nun die Darstellung des Sinnlich-Lebendigen postuliert: 314 Goer weist ausdrücklich auf diese Haltung Heinses hin, die sie als gemeinsame Basis aller seiner Schriften identifiziert,: „So ist in Heinses Schriften schwerlich zu übersehen, daß ihm die Anerkennung der Sinnlichkeit ein wichtiges Anliegen ist, das er insbesondere auf dem Gebiet der Ästhetik gegenüber rationalistisch geprägten aufklärerischen und klassizistischen Positionen vertritt, die einem Ideal der Vernunft und der Mäßigung anhängen. Dies geschieht aus der im 18. Jahrhundert allmählich wachsenden Überzeugung heraus, daß die sinnliche Wahrnehmung durchaus Erkenntnisse hervorbringt, nur andere als die kognitiv gewonnenen“. (Goer, Ungleiche Geschwister, S. 20) 315 Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 123f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

151

Das höchste Leben ist das schwerste in allen Künsten, sowohl in den bildenden als Poesie und Musik: Sturm in der Natur, Mord zwischen Mann und Mann, Seelenvereinigung zwischen Mann und Weib, und Trennung, Abgeschiedenheit verliebter Seelen. Das Tote kann auch der bloße Fleiß darstellen, aber das Leben nur der große Mensch. […] Warum ist der Torso schön, warum die Kolossen auf dem Monte Cavallo, warum unsre Venus? Weil sie in höchster Vollkommenheit menschlicher Kraft im freudigen Genuß ihrer Existenz sich befinden. (Ard, S. 186f.) Die im 18. Jahrhundert entstehende Genie-Ästhetik, in der die Natur durch das Genie der Kunst die Regeln gibt, anstatt den Künstler zur den Regeln der mimesis gehorchenden Naturnachahmung der Regelpoetiken zu verpflichten,316 inte­ griert Heinse jedoch nur indirekt in den Roman, indem er jenen in die zur Zeit der Romanhandlung aktuelle Diskussion um das Primat von Linie oder Farbe einbettet. Die Positionen innerhalb dieser Kontroverse werden bereits in dem Moment deutlich gemacht, als Ardinghello sich Benedikt vorstellt: Ich bin ein Maler aus Florenz und halte mich hier auf, um nach den toskanischen Gerippen mich am venezianischen Fleisch zu weiden. Tizian hat den wesentlichen Teil von der Malerei, ohne welchen alles andre nicht bestehen kann. […] Tizian ergreift alle, die keine Maler sind; und diese selbst im Hauptstücke der Malerei, welches platterdings die Wahrheit der Farbe ist, so wie die Zeichnung der wesentliche Teil der Zeichnung. Malen ist Malen: und Zeichnen Zeichnen. Ohne die Wahrheit der Farbe kann keine Malerei bestehen, eher aber ohne Zeichnung. (Ard, S. 15f) Diese Gegenüberstellung von Michelangelo, der die florentinische Schule repräsentiert, und Tizian, dem Begründer der venezianischen Schule, entspricht noch ganz der Diskussion zum Zeitpunkt der Romanhandlung. Sie wird im Gespräch über „Michelangelo, Raffael und Antiken“ (Ard, S. 164) wieder aufgenommen, zunächst noch in einem ebenfalls historisch authentischen Rahmen: Während Michelangelo hier wieder das Primat der Linie verkörpert,317 wird ihm diesmal 316 Vgl. hierzu Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46 (S. 405): „G enie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. […] G enie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ sowie § 47 (S. 407): „Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Na cha h mu ngs ge iste gänzlich entgegen zu setzen sei.“ 317 Michelangelo taucht hier in einer Doppelrolle auf, da er zum einen in die Diskussion um disegno und colore integriert wird, zum anderen aber eine zentrale Rolle spielt innerhalb des Streits um

152

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Raffael als Künstler, der sich auf das Kolorit verstehe, entgegengesetzt. Schnell jedoch verläßt die Diskussion die zeitgenössischen Argumentationen, um sich Themen des 18. Jahrhunderts zuzuwenden. Zu Beginn wendet sich Demetri gegen die Auftragskünstler, die den Publikumsgeschmack über die Kunst setzen: Und einer [kann] blutwenig Verstand haben und ein sehr berühmter, vielleicht auch guter Maler sein. In dieser Kunst kann es einer ohne Schöpfungskraft, Erfindungsgeist, ohne eigentlichen Verstand, oder wie Ihr das heißt, was im Leben einen Menschen über den andern setzt, nach dem allgemeinen Urteile weiter bringen als in irgendeiner andern, wenn er nur ein gutes Auge hat, sich eine fertige Hand erwirbt im Schweiße seines Angesichts und überdies Achtung gibt, was denen gefällt, die reich sind und kaufen. (Ard, S. 168f.) Bereits hier klingt eine Ablehnung der Vorstellung an, Kunst lasse sich erlernen, die bei Baumgarten und einigen anderen Theoretikern am Beginn der Ästhetik noch vertreten ist, durch den Genie-Gedanken aber verneint wird: Zum großen Künstler werde man geboren, Genie sei nicht erlernbar. Demetri formuliert im oben zitierten Gespräch diese Überzeugung in einer Absage an die Nachahmung der Natur, die er in eine abwertende Aussage über die Anhänger des imitatio naturae-Gedankens und zugleich über den allgemeinen Kunstgeschmack kleidet: „Und je mehr eine bloßer Kopist der Natur ist, desto mehr wird er gefallen.“ (Ard, S. 169) Als Aufgabe der Kunst gilt Demetri die „Darstellung eines Ganzen für die Einbildungskraft“ (Ard, S. 170). Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird dann die Vollkommenheit dem Verstand, die Schönheit aber dem Gefühl und damit den Sinnen, also den unteren Erkenntnisvermögen zugeordnet, für die sie auf eine sinnlich faßbare Art und Weise Vollkommenheit darstelle (vgl. Ard, S. 178). Damit befindet sich die Diskussion anachronistisch im 18. Jahrhundert, dessen Hauptgegenstand die Frage nach der sinnlichen Vollkommenheit ist. Sinnliche Vollkommenheit wird nun in Zusammenhang gebracht mit der Kategorie der Schönheit, die selbst wiederum schwer zu bestimmen ist. Baumgarten als Vertreter der in Schillers Abhandlung Kallias oder über die Schönheit (1793)318 als „rational-objektiv“ bezeichneten Definition von Schönheit sieht diese noch in einer Übereinstimmung des Kunstwerks mit ihm vorgegebenen Regeln. In Baumdas Primat von Bildhauerei oder Malerei. 318 Friedrich Schiller, Kallias, S. 394f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

153

gartens Bestimmung der Ästhetik als der Vernunft analog spielt die ästhetische Wahrheit im Gegensatz zur logischen Wahrheit eine zentrale Rolle, gemeinsames Ziel ist hierbei die Erkenntnis. Deshalb beschäftigt sich Baumgarten also mit ästhetischer Wahrheit und Falschheit sowie der Kategorie der poetischen Wahrscheinlichkeit, die dann wichtig wird, wenn die ästhetische Wahrheit an die Grenzen der Vermittelbarkeit stößt.319 Die ästhetische Wahrheit löst Baumgarten jedoch noch nicht ab von der logischen, die er beide als subjektive Wahrheiten im Gegensatz zur metaphysischen Wahrheit sieht.320 Weil sie parallel angelegt sind, müssen Ästhetik und Logik den gleichen Prinzipien gehorchen, die Baumgarten im Anschluß an Leibniz im Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs und dem des zureichenden Grundes sieht.321 Seine Ausführungen zum Kunstwerk, die sich auf das Gedicht beschränken, betrachten dementsprechend das Thema als Ausgangspunkt, der zunächst den zureichenden Grund liefert, um dann widerspruchsfrei dargestellt zu werden. Hierfür legt Baumgarten schließlich Regeln fest, die eine vollkommene sinnliche Rede ergeben sollen. Diese objektive Vollkommenheit, die zur sinnlichen Erkenntnis führt und damit in einem der Logik analogen Sinn wahr ist, ist die Bedingung für Schönheit: Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint. Entsprechend ist die Unvollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher, gemeint ist die Häßlichkeit, zu meiden.322 319 Vgl. hierzu Baumgarten, Aesthetica, §§ 478–554: 29. Abschnitt: Die ästhetische Wahrscheinlichkeit; insbesondere §§ 491–502, in denen Baumgarten 15 Gründe ausführt, weshalb es „eine Art ästhetischer Notwendigkeit gibt, nicht nur dasjenige darzustellen, was vollständig gewiß und im strengen Sinne wahr ist.“ (§ 491, S. 120/121f.) Er kommt zu dem Schluß, viele Fälle aufgezählt zu haben, „in denen das Bedürfnis nach heterokosmischen Wahrheiten zu bestehen scheint, welche an die Stelle der strengen Wahrheit gesetzt oder mit ihr vermischt werden müssen.“ (§ 502, S. 134/135). Baumgarten unterscheidet hierbei zwischen der metaphysischen und der „ästhetikologischen“ Wahrheit. (Vgl. ebd., §503, S. 136/137). 320 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Hamburg 1983, S. IL. 321 Vgl. ebd., S. XXVIII. 322 Baumgarten, Aesthetica, § 14, S. 10/11. Schweizer unterstreicht durch seine Doppelübersetzung des Wortes „perfectio“ die auch von Heinz Paetzold herausgestellte Doppelnatur des Baumgartenschen Vollkommenheitsbegriffs, der in der Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis und damit der Sinne ein progressives Moment hat, zugleich aber die ontologische These von der Vollkommenheit der Welt als allgemeines Seinsprädikat umschließt. In dieser ontologischen Perspektive ist die zweite Aufgabe der ästhetischen Erfahrung, die Vollkommenheit der Welt sinnlich erfaßbar zu machen. Vgl. Baumgarten, Philosophische Betrachtungen, S. XXV. Vgl. hierzu ebenfalls: Baumgarten, Metaphysica, § 662: „Perfectio phaenomenon, seu gustui latius dictio observabilis, est PULCRITUDO [sic!].“, zit. nach: Baumgarten, Philosophische Betrachtungen, S. XIII (Einleitung).

154

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Diese ästhetische Vollkommenheit, die in der Angemessenheit der Darstellung ebenso besteht wie in der Ordnung der Teile im Sinne einer Einheit der Vielheit, enthält einen objektiven Schönheitsbegriff, der sich in der Objektivierbarkeit seiner Merkmale widerspiegelt. Zugleich ist sie durch ihre ontologische Anlage dem Prinzip der mimesis als Grundlage der poetischen Darstellung verpflichtet: Vorstellungen, die unmittelbar von der Natur, d.h. von dem inneren Prinzip der Veränderung in der Welt, und den davon abhängigen Hand­ lungen hervorgebracht werden, sind niemals deutlich und intellektuell, sondern sensitiv, aber extensiv sehr klar, § 24, 16. Sie sind als solche poetisch, § 9, 17. Folglich bringen die Natur […] und der Dichter Ähnliches hervor. Daher ist das Gedicht eine Nachahmung der Natur und der davon abhängenden Handlungen, § 108.323 Während die Diskussion zur intradiegetischen Zeit der Romanhandlung mit der Ablehnung der imitatio die imitatio auctorum und somit eine Emanzipation der Künstler von den drückenden Vorbildern voriger Jahrhunderte meint,324 wird diese Kontroverse verschoben auf die zur Zeit der Abfassung des Romans diskutierte Frage nach der imitatio der Natur, also der mimesis. Der Abstand zur italienischen Renaissance, die in ihren Anfängen gerade durch die Hinwendung zur Natur und zur genauen Beobachtung der Welt anstelle von Autoritäten vergangener Zeiten zu Errungenschaften wie der Zentralperspektive in der Kunst und dem Gebrauch des volgare in der Dichtung gelangt war, ist in diesem Punkt kaum zu überschätzen.325 Eine Vermischung der Diskussionen im 16. und im 18. Jahrhundert stellt auch die Frage nach der Wahrheitstreue von Bildhauerei und Malerei dar. Heinse greift hier, wie schon dargestellt, den paragone der Renaissance auf, der allerdings weniger nach der Wahrheitstreue der Kunstform fragt, als vielmehr nach den dazu benötigten Fähigkeiten des Künstlers. Wird die Bildhauerei von Leonardo als der Malerei unterlegen bezeichnet, dann geschieht dies vor dem Hintergrund einer Einschätzung des Bildhauers, die der eines Handwerkers und einfachen „Nachbildners“ der Natur entspricht, während der Maler eine Übersetzung der

323 Ebd., § CX, S. 80/81. 324 Vgl. hierzu Varchi, Paragone, S. 48ff. 325 Vgl. hierzu die mit Dante einsetzende Reflexion über eine angemessene Sprache, die sich als Questione della lingua bis ins 16. Jahrhundert hinein fortsetzt und dort ihren Höhepunkt erreicht.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

155

dreidimensionalen Natur in eine zweidimensionale Kunstform zu leisten habe.326 Ardinghello bemüht hier aber Argumente, die der im 18. Jahrhundert geführten Diskussion um die Wahrheit des Kunstwerks und um die durch dasselbe mögliche Erkenntnis entstammen: Die Griechen mußten dann doch mehr Leben in der Malerei finden als Bildhauerkunst, weil sie dieselbe, wo sie am verständigsten waren, mehr als diese belohnten und beförderten. Ein Bild in Stein war ihnen nur Zeichen einzelner Wahrheit, nämlich der Form: die Malerei aber Zeichen aller Wahrheit und Wirklichkeit und von ungleich größerem Umfange; jenes gleichsam nur Dämmerung, Ding im Mondschein: Gemälde von Apelles, Gestalten wirklicher Welt in ihrem Tage; und Zeichen bleibt immer weiter nichts als Zeichen, sei’s von Stein oder Farbe. (Ard, S. 187f.) Schon Baumgarten hat wie viele Theoretiker nach ihm die subjektive Seite der Schönheit und der sinnlichen Erkenntnis einbezogen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Sinnesurteil, das als „Geschmacksurteil“ unabhängig vom Verstandesurteil gefällt wird und das „zustimmend sein [kann], dann erzeugt es Lust (voluptas), oder […] ablehnend […], dann erzeugt es Unlust (taedium).“327 Die subjektive Kategorie der Lust oder des Genusses, die für das Geschmacksurteil von großer Bedeutung ist, rückt mehr und mehr ins Zentrum der Diskussion um ästhetische Definitionen. Innerhalb des in England dominierenden Sensualismus ist es vor allem Edmund Burke, der die subjektive Empfindung in den Mittelpunkt stellt und diese lediglich anhand empirischer Argumentationen zu einem gewissen Grad an Allgemeingültigkeit steigert, weil er ähnliche Beurteilungen bei vielen verschiedenen Menschen festgestellt haben will.328 326 Vgl. Da Vinci, Trattato della pittura, S. 45: 39. Differenza ch’è dalla pittura alla scultura. La prima maraviglia che apparisce nella pittura è il parere spiccata dal muro od altro piano, ed ingannare i sottili giudizi con quella cosa che non è divisa dalla superficie della parete; qui in questo caso lo scultore fa le opere sue che tanto paiono quanto elle sono, e qui è la causa che il pittore bisogna che faccia l’ufficio della notizia nelle ombre, che sieno compagne de’ lumi. Allo scultore non bisogna tale scienza, perché la natura aiuta le sue opere, com’essa fa ancora a tutte le altre cose corporee, dalle quali tolta la luce sono di un medesimo colore, e renduta loro la luce, sono di varî colori, cioè chiaro e scuro. La seconda cosa che al pittore con gran discorso bisogna, è che con sottile investigazione ponga le vere qualità e quantità delle ombre e lumi; qui la natura per sé le mette nelle opere dello scultore. Terza è la prospettiva, investigazione ed invenzione sottilissima degli studi matematici, la quale per forza di linee fa parere remoto quel ch’è vicino, e grande quel ch’è picciolo; qui la scultura è aiutata dalla natura in questo caso, e fa senza invenzione dello scultore. 327 Baumgarten, Philosophische Betrachtungen, S. XXXV. 328 Vgl. Edmund Burke, Vom Geschmack, S. 41ff.

156

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Zwar wird die Frage nach der Schönheit einer Qualität der Gegenstände selbst zugeschrieben,329 entscheidend für das Geschmacksurteil ist aber die Reaktion, die der Gegenstand im Menschen auslöst. Subjektivität und Rezeptionsorientierung stehen also im Zentrum von Burkes Ästhetik, wobei die Lust, die ein Gegenstand bei seiner Betrachtung auslöst, anthropologisch ausgedeutet und mit dem Gesellschaftstrieb in Verbindung gebracht wird. Dieser stellt neben dem Selbsterhaltungstrieb einen von zwei Grundtrieben des Menschen dar und umfaßt sowohl die Gesellschaft der Geschlechter als auch Gesellschaft in einem allgemeinen Sinn. Die Rückführung des Kunstgenusses und der geschlechtlichen Liebe auf denselben Grundtrieb, die Burke betont,330 scheint Ardinghello umzusetzen, wenn er Kunstwerke und erotische Erlebnisse mit derselben Intensität und demselben Enthusiasmus schildert. Vordergründig die erotische Freiheit der arkadischen Utopie zelebrierend, bewegt sich Ardinghello hier innerhalb der aufklärerischen Diskussion über das Geschmacksurteil, das Kant und Schiller gegen Ende des 18. Jahrhunderts sowohl der Kategorie der Vollkommenheit als vernunftmäßiger entziehen wollen als auch dem Vorwurf der subjektiven Willkür. Kant löst dieses Problem, indem er die Subjektivität des Geschmacksurteils zum einen von persönlichen Interessen befreit und ein „interesseloses Wohlgefallen“331 zur Grundlage der Lust an der Kunst macht, und zum anderen diesem Urteil den Anspruch der Allgemeingültigkeit einschreibt. Schiller wiederum versucht darüber hinauszugehen, indem er der sinnlichen Erkenntnis objektive Regeln geben möchte und Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“332, das Geschmacksurteil aber als freies Spiel der unteren und oberen Erkenntnisvermögen im ästhetischen Raum definiert. Der in der Renaissance vollzogenen Emanzipation des Künstlers, die den Gedanken des uomo universale geprägt hat, folgt zweihundert Jahre später die Emanzipation des Kunstgenusses, der sich

329 Hier nennt Burke in seiner Untersuchung Eigenschaften wie Kleinheit, Rundheit, Glanz, Glätte, Zierlichkeit, die alle geeignet sind, Liebe im Sinn von Zuneigung hervorzurufen. Vgl. ebd., Dritter Teil, 13.–17., S. 152–158. 330 Burke, Vom Erhabenen und Schönen, Erster Teil: „10. Von der Schönheit. Die Leidenschaft, die die Fortpflanzung betrifft, ist – rein als solche – pure Sinnenlust. […] Der Mensch hingegen […] verbindet mit der allen gemeinsamen Leidenschaft die Idee gewisser sozialer Qualitäten, die dem Trieb, den der Mensch mit allen Lebewesen teilt, eine bestimmte Richtung verleihen und ihn zugleich emporheben. […] Das Objekt nun dieser gemischten Leidenschaft, die wir Liebe nennen, ist die Schönheit des anderen Geschlechts. […] Ich nenne Schönheit eine soziale Qualität, denn sooft uns der Anblick eines schönen Mannes oder einer schönen Frau, aber auch irgendeines Tieres ein Gefühl von Freude und Vergnügen bereitet […], so flößen sie uns zugleich eine Gesinnung von Zärtlichkeit und Zuneigung gegen sie ein.“ (S. 76f.) 331 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 6, S. 288. 332 Schiller, Kallias, S. 411: „Der Grund der Schönheit ist überall Freiheit in der Erscheinung.“

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

157

innerhalb des imaginären Raumes von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Erkenntnis, individueller Lust und allgemeingültigem Urteil zu verorten sucht. Dieses Geflecht aus Beziehungen und Verweisen, das einen poetologischen Raum aufspannt, der Antike, Renaissance und Aufklärung umfaßt und in einem Spiel der Spiegelungen und auch Verzerrungen zwischen diesen Bezugspunkten hin und her oszilliert, wird zusammengehalten von einem Rahmen, der zugleich das Zentrum des Romans bildet: dem Urteil. Im Geschmacksurteil, Gegenstand der Diskussion über die sinnliche Erkenntnis im 18. Jahrhundert, spielt das Urteil als Vernunfturteil von jeher eine wichtige Rolle innerhalb der Philosophie und auch der Kunsttheorie, wobei der Roman exemplarisch die Suche nach einem Urteil im Fall des paragone sowie in dem der Frage nach dem Primat von Linie oder Farbe vorstellt. Das Urteil stellt eine zentrale Leistung des erkennenden Menschen dar und ist Voraussetzung sowohl der logischen Erkenntnis als auch der sinnlichen, für die es eine gemeinsame Basis bildet, auf der Baumgarten überhaupt zu seiner Analogisierung von unteren und oberen Erkenntnisvermögen gelangt. Die gemeinsame Basis beider Urteile ist die von Kant auch für das Geschmacksurteil geforderte Allgemeingültigkeit, der eine Kommunikabilität zwingend zugrundeliegen muß. Erst in der Darlegung der Argumente, die zu einem Urteil geführt haben, kann dieses vermittelt und von anderen akzeptiert oder verworfen werden. Das Urteil stellt somit die Gelenkstelle zwischen Philosophie und Kunst dar, bringt aber zugleich die Notwendigkeit der Versprachlichung eines Sinneseindruckes mit sich. Der hohe Stellenwert des Urteils im Roman Ardinghello wird bereits im ersten Kapitel deutlich: die zweite Begegnung des Erzählers mit dem Protagonisten und Titelhelden ist ein Kunstgespräch, doch wird hier noch keine Frage der Kunst erörtert, sondern vielmehr die Voraussetzung richtigen Urteilens: „Paul von Verona führte das Wort und sagte: ‚Wer über ein Kunstwerk am richtigsten urteilen kann? Ich glaube, wer die Natur am besten kennet, die vorgestellt ist, und die Schranken der Kunst weiß.‘“ (Ard, S. 10) Nach dieser Meinung, der die gelungene Naturnachahmung als Maßstab für das Kunsturteil zugrundeliegt, werden im folgenden weitere Positionen diskutiert: neben der Naturkenntnis als Voraussetzung wird auch die Kenntnis der Kunst genannt, außerdem die Kenntnis des Ganzen, um die Teile zu verstehen – Grundlage des Geschmacksurteils sind hier analog zum Vernunfturteil Begriffe, die allerdings zu Vernunft und Verstand gehören und daher auf der Seite der oberen Erkenntnisvermögen stehen. Diese Begriffe werden als Ideal gedacht, das sich der Verstand mittels Abstraktion aus mannigfaltigen Eindrücken bilde. Ardinghello wirft ein, jede

158

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Form sei individuell und es könne nichts Abstraktes geben, womit er sich gegen die Subsumierung von Kunst unter Begriffe wehrt (vgl. Ard, S. 10–13). Die Frage nach der Objektivierbarkeit von Geschmacksurteilen und somit Kunsturteilen leitet Ardinghellos Begegnung mit Kunst und Künstlern ein und bildet im weiteren Verlauf die Leitfrage des gesamten Romans. Nachdem zu Beginn des Romans die Bedingungen richtigen Urteilens theoretisch diskutiert wurden, folgen im weiteren Verlauf praktische Anwendungen dieses Urteilsvermögens im Gespräch: Zunächst folgt das kurze Gespräch zwischen Ardinghello und Benedikt über Linie und Farbe (Ard, S. 15ff.), dann das vielbeachtete Gespräch über Michelangelo, Raffael und die Antiken (Ard, S. 164–195) und schließlich das Pantheon-Gespräch (Ard, S. 264–316). Zwischen diese Gesprächen sind zahllose kurze Bemerkungen und Urteile zur Kunst sowie Beschreibungen eingeflochten, die zumeist auch ein Urteil enthalten, das sie anhand der Beschreibung zu rechtfertigen suchen. Auffallend ist vor allem bei den Gesprächen zweierlei: Zum einen kommt kaum ein Gespräch zu einem einstimmigen Urteil. Zum anderen nehmen sowohl Ardinghello als auch Demetri immer wieder konträre Positionen ein und widersprechen sich damit selbst.333 Bei den in der Renaissance situierten Streitfragen entspricht die fehlende Einstimmigkeit einer historischen Realität. Beide Diskussionen werden, nachdem sie jahrzehntelang ergebnislos geführt wurden, durch einen Kompromiss beendet: Im Fall des paragone findet auf Betreiben Varchis eine Befragung verschiedener Künstler statt, die in einer Aufwertung der bis dahin abgewerteten Bildhauerei resultiert.334 Eine endgültige Gleichsetzung der Künste Malerei, Bildhauerei und Architektur liefert schließlich Federico Zuccaro in seiner 1607 erschienenen Schrift L’idea de’ pittori, scultori et architteti, indem er das disegno interno zur Basis aller Künste macht.335 Im Fall der Frage nach dem Primat von Linie oder Farbe setzt sich erst im 17. Jahrhundert das Primat der Linie durch, nachdem diese Streitfrage lange Zeit die Maler beschäftigt und sich über ganz Europa erstreckt hatte. Eine eindeutige Entscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Urteil scheint in Kunstfragen kaum möglich, das Geschmacksurteil unterscheidet sich vom Vernunfturteil dadurch, daß es sich der einfachen Unterscheidung in „wahr“ oder „falsch“ entzieht. Damit sind Streitfragen nicht ohne weiteres auflösbar, 333 Vgl. Goer, Ungleiche Geschwister, S. 171. 334 Vgl. Varchi, Paragone. Zur Parallelität der Streitfragen und ihrer Unentscheidbarkeit im Ardinghello und innerhalb des paragone vgl. ebd., S. 184. 335 Federico Zuccaro: „L’idea de’ pittori, scultori et architteti“, in: Scritti d’arte di Federico Zuccaro, vol. 2, a cura di Detlef Heikamp, Firenze 1961 [Fonti per lo studio della storia dell’arte inedite o rare I].

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

159

manche scheinen sogar unentscheidbar zu sein, da es keine Beweise geben kann. Zur Vermittlung eines Geschmacksurteils, zur Einlösung seines Anspruchs auf Allgemeingültigkeit, der schon seit jeher angenommen und von Kant schließlich theoretisch formuliert wurde, bedarf es also mehr: Es bedarf der Argumentation, welche die subjektiven Beweggründe für ein Urteil objektiviert und damit allgemein nachvollziehbar macht. Das Problem subjektiver Urteile ist ein Hauptproblem der Aufklärung, die sich in der Folge ihres Anspruches, den einzelnen zum selbstverantwortlichen Denken zu ermächtigen, mit der Kommunizierbarkeit persönlicher Urteile auseinandersetzen muß. Dem Desiderat der Aufklärung, das Gespräch und die Diskussion zu üben, kommt die im 18. Jahrhundert einsetzende Gattung der „Lebensphilosophie“ entgegen, die sich hauptsächlich mit Fragen des alltäglichen Lebens auf einem populären philosophischen Niveau auseinandersetzt.336 Die Popularphilosophie greift hierbei besonders gerne auf den Dialog zurück, eine Vorliebe, die Heinse mit den zeitgenössischen philosophischen Strömungen teilt:337 Heinse orientiert sich einerseits am vorhandenen Reservoir offener li­ terarischer Formen, welche die Popularphilosophie bereitstellt (Dialog, fiktiver Brief, Essay, Aphorismus), und woraus sich sein früheres Vorbild Wieland bedient hatte […]. Andererseits sucht er nach Möglichkeiten, die Idee vom selbstsorgerischen Menschen […] literarisch originell zu gestalten. Dafür gebraucht er die antike Mythologie in ihrer vorbildhaften Wielandschen Verarbeitung (Laidion) ebenso wie die philosophischen Denkmuster der Antike und der Renaissance (Laidion, Ardinghello).338 Jedoch geht es in Heinses Ardinghello weniger darum, die richtige Lebensweise von der falschen, das richtige Urteil vom falschen zu unterscheiden.339 Vielmehr 336 Gert Theile sieht eine ausgeprägte Parallele zu Heinses Gesamtwerk, dem er eine Orientierung an einer ars vivendi, wie sie typisch für das zeitgenössische Denken sei, attestiert: „Mit der Ausrichtung seiner Philosophie auf die Bewältigung der alltäglichen Lebenspraxis entspricht Heinse aber der philosophischen Kardinalfrage der Spätaufklärung, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gestellt wird: ‚Philosophie für die Welt‘ oder ‚Philosophie der Welt‘, wie sie als Frage nach der Bewältigung des praktischen und alltäglichen Lebens im Gewande der deutschen Popularphilosophie einher kommt, ist eine Hauptquelle für Heinses philosophisches Denken, das stets um lebenspraktische Fragen kreist, mit denen sich der Einzelne in der Gesellschaft konfrontiert sieht.“ Theile, Wilhelm Heinse, S. 20f. 337 Vgl. hierzu auch: Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 9. Hüfler weist auf „eine starke Affinität Heinses zum diskursiven Schreiben“ hin. 338 Theile, Wilhelm Heinse, S. 21. 339 Vgl. hierzu Theile, der behauptet, daß „[a]m Beispiel fiktiver Lebenswelten […] Denkmuster sowie Lebenspraktiken durchgespielt“ werden. Ebd., S. 23.

160

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

ist der Prozeß der Urteilsfindung das Thema, das durch die Dialoge im Roman in actu vorgeführt wird. Diese Fokussierung, die die Entstehung, nicht das Ergebnis in den Blick nimmt, erklärt die wechselnden Standpunkte, die Ardinghello und auch Demetri im Verlauf des Romans in den verschiedenen Gesprächen, ja teilweise sogar in einem einzigen Gespräch einnehmen. Den entscheidenden Hinweis hierzu gibt Demetri. Am Ende des hitzigen Gesprächs über Michelangelo, Raffael und die Antiken bemerkt er: Man behauptet in der Hitze des Streits oft Dinge, die man selbst für falsch und übertrieben hält. Zuhörer, die Verstand haben, nehmen von selbst das Wahre heraus; und die keine Unterscheidungskraft besitzen, müssen überall Schwärmern oder der großen Herde wie die Kälber folgen. (Ard, S. 190) Damit relativiert er das Gesagte und verweist auf den Sinn des Dialogs, dessen Schwerpunkt nicht in der Wahrheitsfindung in Bezug auf den Gegenstand liegt, sondern in der Übung des Verstandes anhand solcher Streitgespräche, die der Unterscheidungskraft bedürfen. Nur mithilfe dieser kann es gelingen, das Wahre von den nur vordergründig einleuchtenden Argumenten zu unterscheiden und in der Folge zu einem richtigen Urteil zu gelangen. Demetri zeigt sich hier in der Rolle eines Sokrates, dem es nicht darum geht, selbst die Wahrheit zu vermitteln, sondern den Gesprächspartner zum scharfsinnigen Argumentieren und Denken zu bringen.340 In Ardinghello hat er einen ebenbürtigen Partner gefunden, der sich seinerseits ebenfalls die Freiheit einer „Standortungebundenheit“ erlaubt, die im 18. Jahrhundert zum „Charakteristikum der ersten Intellektuellen“341 wird. Wie Demetri selbst nimmt auch Ardinghello Standpunkte nur um des Argumentierens willen ein und folgt damit einem Credo, das Tolomei zu Beginn des ersten Kunstgesprächs formuliert: „und überhaupt erfährt man mit den bittersten Widersprüchen am besten die Wahrheit.“ (Ard, S. 168) In Fragen der Philosophie und Naturreligion unterlegen, entscheidet Ardinghello das metaphysische 340 Vgl. hierzu Hüfler, die in Bezug auf das metaphysische Gespräch bemerkt: „Das Gespräch nimmt über weite Strecken die Form eines sokratischen Dialogs an“. Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 105. 341 Ebd., S. 44. Hüfler beschreibt die damals neu aufkommende Geisteshaltung der „Standortungebundenheit“ am Beispiel des Teutschen Merkur, wo sie insbesondere für den Kunstrichter und sein Publikum von Belang ist und als geistiges Ziel gilt. Vgl. hierzu auch Theile, Heinse, S. 41 sowie Bernauer, Kunst als Natur, S. 124, der unter anderem in den ironischen Herausgeberkommentaren ein „Plädoyer Heinses für eine geistige Systemlosigkeit, die Systeme zwar aufnimmt, aber jedem Versuch, ein ästhetisches oder metaphysisches System zu entwickeln, eine Absage erteilt“, sieht.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

161

Gespräch auf der Metaebene der Gesprächsführung für sich. Er zweifelt Demetris Beweisführung inhaltlich an, was dieser als „Gymnastik des Verstandes und auf beiden Seiten Gewinn“ (Ard, S. 316) bezeichnet. Ardinghello jedoch bricht das Gespräch an dieser Stelle mit Verweis auf die späte Stunde ab und bemerkt augenzwinkernd: „Wer unrecht hat […], will immer das letzte Wort behalten.“ (Ard, S.  316) – daß Demetri sich nun dennoch von einem Schlußwort nicht abbringen läßt, ironisiert auf der Ebene der Gesprächsführung die vorgetragenen Argumente und stellt alles vorher Gesagte in Frage. Damit stellt das Ende des Gesprächs einen Bezug her zu den fiktiven Herausgeberkommentaren, die ebenfalls eine relativierende Sicht präsentieren: Ich habe dieses jugendliche Gespräch, eine Streiferei in die Metaphysik damaliger Zeit, wo Aristoteles noch auf dem Thron saß, des Zusammenhangs wegen nicht ausgelassen. Wohl uns, wenn wir ein paar Jahrhunderte höher stehen! (Ard, S. 279) Über Pro und Contra in diesen Dingen sind wir jetzt durch gründlich denkende Männer, die es sich zum Hauptgeschäfte machten, besser im klaren. […] Ich wollte nichts daran umändern und den ersten rohen Entwurf lassen, weil es immer wenigstens ein künstlerisches Vergnügen macht, auch des Geringsten eignen Gang wahrzunehmen. (Ard, S. 308) Der Leser wird hier eigens angesprochen, um zu verdeutlichen, daß an dieser Stelle nicht die Inhalte der Gespräche von Belang sind, sondern ihre Form. In ihr, nicht im relativen Wissen, das seine Bedeutung im Laufe der Zeit verlieren kann und durch neuere Erkenntnisse ersetzt wird, liegt ein Wert, der unvergänglich und auch für den aktuellen Leser noch von Bedeutung ist. Mit dieser Durchbrechung der Kommunikationsebenen, die darauf zielt, die durch Ardinghello, Demetri und deren Gesprächspartner im Streit spielerisch erprobte Argumentations- und Urteilsfähigkeit für den Leser fruchtbar zu machen, schließt Heinse an die von Blanckenburg formulierte Forderung an, im Roman solle nicht nur der Protagonist etwas lernen, sondern an seinem Beispiel auch der Leser.342 Vorbilder für diese Auffassung des Dichters als „Lehrer für’s Volk“ findet Heinse in der benachbarten Disziplin der Geschichtswissenschaft, die dem Leser Lehren für das eigene Leben und Verhalten geben will, ebenso wie in der zeitgenössischen Journalliteratur, innerhalb derer auch sein Vorbild 342 Vgl. Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 13, S. 424.

162

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Wieland mit dessen Teutschem Merkur das kritische Denken lehren will.343 Heinse diagnostiziert eine mangelnde Urteilsfähigkeit seiner Zeitgenossen, wenn er in persönlichen Notizen, der von ihm so bezeichneten „Gedanken Hecke“, bemerkt: Aus dunkeln trüben Ideen entscheiden die Menschen die meisten Dinge; denn wenn sie klar sähen, würden sie überall noch Ungewißheit finden. Deßwegen ist schon eine herrliche Regel: Suche jedes Ding auf allen seinen Seiten zu erkennen, und das Gute mit dem Bösen, und das Wahre mit dem Schein und dem Trug abzuwiegen.344 Diese dunklen Ideen zu erhellen und zu kritischem Denken und reflektierteren Urteilen anzuleiten ist das Ziel der Gesprächspassagen, die den Roman durchziehen. Sie sind mit den Handlungspassagen verflochten, weil das richtige Urteilen ein integraler Bestandteil des Lebens selbst sowie der Frage nach dem richtigen Leben ist. Indem Heinse seine Figuren unterschiedliche Standpunkte einnehmen läßt, zwingt er den Leser dazu, sich aus der Bequemlichkeit einer schon vorgefertigt präsentierten Meinung zu lösen und den unbequemeren Pfad der eigenen Reflexion zu beschreiten. Damit und mit der zum Prinzip der Diskussionen im Roman erhobenen Vielheit der Perspektiven wendet sich Heinse zugleich gegen eine der Aufklärung innewohnende Totalisierungstendenz, die zurückfällt hinter den Anspruch auf individuelle Freiheit, der sich die Aufklärung verpflichtet hatte.345 Die Freiheit, die von Ardinghello im Gespräch über Raffael und die Antiken in Form der künstlerischen Freiheit als Voraussetzung aller großen Kunst bezeichnet wird, ist das hervorstechende Merkmal der Figur des Ardinghello: finanziell und geographisch ungebunden, durchstreift er Italien. In seinen Meinungen ungebunden, zeichnet er sich als Gesprächspartner durch eine spielerische Auffassung von Diskussionen aus. Diese Freiheit der Person und des Geistes versucht er am Ende des Romans mit Gleichgesinnten in eine neue Staatsform zu übersetzen. Die Insel-Utopie schließt den Roman auf der Handlungsebene ab: Die neu errichtete Staatsform samt ihren Mitgliedern wird kurz beschrieben, innerhalb derer die erneute Zusammenführung der beiden Protagonisten Ardinghello und Benedikt stattfindet. Die durch den gesamten Roman hindurch sich stets an der Grenze zum Unwahrscheinlichen bewegende 343 Eine sehr gute Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich bei Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 23–43. 344 Heinse, Aufzeichnungen. Band I: Aufzeichnungen 1768–1783, S. 119. 345 Vgl. Goer, Ungleiche Geschwister, S. 22.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

163

Figur des Ardinghello hat in dieser realitätsenthobenen Umgebung vordergründig endlich den ihr angemessenen Ort gefunden. Diesen Abschluß des Romans konterkariert jedoch der letzte Satz: „Doch vereitelte dies nach seligem Zeitraum das unerbittliche Schicksal.“ (Ard, S. 376) Zunächst erscheint dieses dementi der Utopie als Verstärkung ihres utopischen Charakters und bestätigt, daß die von Ardinghello verkörperte Vereinigung von Gefühl und Verstand, das Signum des gesamten Romans,346 nicht realisierbar ist. Indem das Ankommen in der Utopie jedoch durch einen in seiner Nüchternheit un-utopisch erscheinenden Ausblick auf die Zukunft als Durchgangsstadium kenntlich gemacht wird, bleibt der Roman – entgegen der üblichen Interpretationen347 – ohne Schluß. Die Utopie, die sofort wieder zugunsten einer realistischen Prolepse zurückgenommen wird, korrespondiert den verschiedenen Entwürfen und Standpunkten, die der Roman in Bezug auf Lebenskonzepte (Ardinghello ist zu Beginn leidenschaftlicher Künstler, will im zweiten Teil dann das Künstlerdasein aufgeben) und Kunsttheorien einnimmt. Sie verweist damit auf die Unabgeschlossenheit der im Roman enthaltenen Diskussionen, die wie der Roman selbst nur scheinbar zu einem Ende und damit einem Kompromiß oder einer Lösung gekommen sind. Stattdessen stellt sie die Prozeßhaftigkeit der Argumentationen und Gespräche ins Zentrum: nicht das Ziel ist wichtig, sondern der Vollzug; das Ziel liegt gewissermaßen im Vollzug. Diese Rückbindung an den sokratischen Dialog, der nicht Wissen vermitteln will, sondern Denken lehren, bildet den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Romans, dessen zentrales Thema das richtige Urteilen und dessen Bedingungen ist. Seine gesamte Form, die im Wechsel zwischen reflektierenden und erzählenden Passagen besteht, spiegelt ein „Denken in Bewegung“348 wider, das auf allen Ebenen zu finden ist: in der Person des Ardinghello, der hin- und hergerissen ist zwischen dem Leben und der Kunst wie auch zwischen dem Lebensentwurf als Produzent von Kunst und dem als Kritiker von Kunst, in den Kunstgesprächen, die verschiedene Standpunkte erproben, in den sich abwechselnden Stimmen des die Vernunft verkörpern346 Vgl. Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 108. 347 Vgl. z.B. Macher, Heinses Ardinghello, S. 175, der Ardinghellos Abschied von der Kunst als Endpunkt des Romans sieht, während Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 133, die Täuschung durch die Sprache in den Mittelpunkt stellt, wobei Heinse durch die Sprache Entzücken erreichen wolle und sie zu diesem Zweck „an die Grenze […] zur Musik“ führe. Dem Abschied von der Kunst zugunsten des Lebens entspreche die Abwesenheit der Stimme des Protagonisten am Ende des Romans (Ebd., S. 134). Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S. 40, behauptet, Ardinghello habe das Künstlertum als Surrogat-Zustand erkannt und zugunsten der höheren Stufe des „echten Lebens“ überwunden. 348 Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 8.

164

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

den Benedikt und des die Sinnlichkeit verkörpernden Ardinghello. Die Kunst, sowohl intradiegetisch in Form der im Roman besprochenen Kunstwerke als auch extradiegetisch in Form der Anlage der Figuren und schließlich des Ro­ mans selbst als Einübung von Urteilsfähigkeit des Lesers, öffnet hier einen Raum des Ästhetischen, der durch seinen Charakter des Spielerischen, den auch die Gespräche als „spielerisches Kräftemessen“349 tragen, gekennzeichnet ist. Innerhalb dieses Raumes ist aufgrund seiner Fiktionalität möglich, was in der Realität unerreichbar scheint: die Freiheit, die als Grundlage sowohl aller Kunst als auch der Herausbildung eines selbstverantwortlichen Individuums und folglich eines aufgeklärten Staates gilt. Dabei bewegt sich Heinse gar nicht so weit entfernt von dem, was Schiller acht Jahre später in der Erziehung des Menschengeschlechts formulieren wird: Hält man sich einzig diese Passage vor Augen [Ard, S.  170], werden der Grimm Schillers und der Ärger Goethes verständlich. Das von der Aufklärung hinterlassene und von Winckelmanns Adepten mit Kunstreligion verfüllte [sic!] Vakuum wird als eine anthropologische Unabänderlichkeit beschrieben, was die – zum Zeitpunkt der Heinseschen Niederschrift noch ungeschriebenen – ästhetischen Erziehungsprogramme als auch die – von Goethe noch zu entwerfende – privatistische Ontologie und Kunstautonomie der Weimarer Klassik lediglich in den Status sedativer Beigaben für moderne Lebensarrangements versetzt. […] Schillers ästhetisch-ethischer Impetus, der Mensch sei nur dort ganz bei sich, wo er „spielt“, erhält bei genauerem Hinsehen im harten desillusionierenden Licht Heinseschen Kunstverständnisses das Stigma der Traumtänzerei und der Lebensferne. Mehr noch: es ist gerade der Autor Heinse, der „spielerisch“ den „ganzen“ Menschen entfaltet, wenn er die paragonehafte Debatte um eine Kunst als Lebensersatz und Genußstimulans zur emotionalen Klimax mittels Wein, Tanz und Gruppensex führt.350 Theile verkennt hier die existentielle Bedeutung, die Heinse der Kunst und ihrer Rezeption zuschreibt. In ihr sind Verstand und Sinnlichkeit vereint, was als Ideal der menschlichen Existenz im Roman der „hohe Ausnahmemensch“351 Ardinghello verkörpert. Sie ist den Momenten intensivsten Lebens, die für Heinse 349 Goer, Ungleiche Geschwister, S. 193. 350 Theile, Wilhelm Heinse, S. 173. 351 Ebd., S. 166.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

165

Kampf und Geschlechtsakt darstellen,352 durch die für Heinses Lebensauffassung zentrale Bedeutung des Genusses in Form des Kunstgenusses gleichgestellt. Der Genuß, der die entscheidende Kategorie der Rezeption von Kunst darstellt, hat jedoch nicht nur sinnliche, sondern auch den Verstand mit einbeziehende Momente, da der Moment intensivsten Kunstgenusses, den Heinse als „Wollust“ beschreibt, das Entzücken über die gelungene Täuschung darstellt.353 Auf den Verstand bezieht sich auch Heinses Anspruch an den Roman, das eigenständige Denken zu schulen, das durch die spezielle Anlage der Gespräche spielerisch erprobt wird und das den Bezug zur Realität des Rezipienten ein weiteres Mal herstellt, wenn er ihm im richtigen Urteilen eine Fähigkeit vermitteln will, die innerhalb der Lebensphilosophie eine zentrale Rolle spielt. Außerdem übersieht Theile bei seiner Gegenüberstellung von Heinses und Schillers Spielauffassung die Ambivalenz, die der Hierarchisierung der Vermögen bei Schiller inhärent ist. Zwar zielen die im ästhetischen Spiel gewonnenen Fähigkeiten darauf ab, moralisch gerüstet zu sein für den Ernstfall des ethischen Staates, den Zustand vollkommener Freiheit jedoch erlebt der Mensch bei Schiller wie schon bei Kant ausschließlich im freien Wechselspiel von Vernunft und Sinnlichkeit, Stofftrieb und Formtrieb, einer Autonomie, die ähnlich dem interesselosen Wohlgefallen bei Kant nur in den „seligen Träumen“ (Ard, S. 170) der Kunst möglich ist.354 Dieses Primat der Kunst, das Schillers Abhandlung unter der Oberfläche enthält, wird von Heinse deutlich formuliert und steht einem „Abschied von der Kunst“355, wie Ardinghello ihn vermeintlich vollzieht, konträr entgegen. Seine Entscheidung für das „Leben“ ist keine Absage an die Kunst, sondern eine Ent352 Vgl. hierzu Heinse, Ardinghello, S. 230f. und Sauder, Sexualisierung des Ästhetischen. 353 Vgl. Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 69. 354 Vgl. Schiller, Ästhetische Erziehung, insbesondere 15. Brief, S. 614–619. Schiller macht hier deutlich, daß die eigentliche Freiheit des Menschen sowohl vom Zwang der Sittlichkeit als auch vom Druck der Bedürfnisse nur im Spieltrieb, im Ästhetischen, gegeben ist. „Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Forderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, d.h. ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet.“ (Ebd., S. 615) Vgl. hierzu auch Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.), Schiller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 427–437. 355 Vgl. Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 134: „So wie Ardinghello die Kunst für das ‚Leben‘ aufgegeben hat, weder malt noch schreibt, sondern als Priester wirkt, verweist die Abwesenheit seiner Stimme am Schluss des Romans auf das ‚Leben‘ jenseits der sprachlichen Vermittlung.“ Hüfler verkennt hier, daß Ardinghellos Betätigung als Priester die von Winckelmann und anderen im 18. Jahrhundert vorgenommene Aufwertung der Kunst als Religionsersatz verarbeitet. Nicht zufällig wird Ardinghello zum „Priester der Sonne und der Gestirne“ (Ard, S. 370) gewählt: Als Gott der Sonne wird hier Phoebus Apollo konnotiert, der zugleich der Gott der Musen und der Künste ist, Ardinghello mithin zum Priester der Kunst eingesetzt.

166

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

scheidung für das Leben als Künstler, das nicht zwingend an Kunstproduktion gebunden ist.356 Das wichtigste Moment des Künstlerdaseins ist die Auseinandersetzung mit dem Urteil über Kunst, das der Kunstproduktion zum einen vorangeht und sie maßgeblich konstituiert, ihr zum anderen aber auch nachfolgt in Form von Beurteilungen des Erschaffenen. Doch nicht nur die Existenz des Kunstwerks wird eingerahmt vom Urteil darüber, auch die Existenz des Künstlers selbst besteht in einer permanenten Auseinandersetzung mit ihren Bedingungen und verläuft parallel zur Etablierung der Ästhetik als philosophischer Disziplin. Das Künstlergenie ist der Gesellschaft schlecht integrierbar und muß seine Stellung innerhalb derselben zunächst finden und dann formulieren. Als Mitglied der Gemeinschaft der Künstler muß es sich innerhalb sich widersprechender Kunstauffassungen positionieren, was in beiden Fällen mit Diskussionen verbunden ist und Argumente zur Rechtfertigung der eigenen Entscheidung, des eigenen Urteils benötigt. Die Fähigkeiten überzeugenden Argumentierens und richtigen Urteilens bilden also einen integralen Bestandteil des Künstlerdaseins, für das Heinses Roman einen idealtypischen Künstler entwirft, der sich vor allem anderen durch geistige Unabhängigkeit und die schon genannte „Standortungebundenheit“ auszeichnet. Die verschiedenen Standpunkte, die er einnimmt, präsentieren verschiedene Möglichkeiten des Weltzugangs,357 die in demokratischer Weise gleichberechtigt nebeneinanderstehen und durch die Forderung nach einem individuellen Urteil über sie verbunden werden, dessen Grundlage die Verbindung von logos und Sinnlichkeit im Genuß darstellt. Vor diesem Hintergrund muß die Frage nach Wahrheit und Täuschung, die in der Geschichte der abendländischen Kunst seit jeher eine zentrale Rolle spielt und im Roman als Thema auf verschiedene Weise präsent ist, neu bewertet werden. Dem Motiv der Täuschung ist die Forderung nach Ent-Täuschung und damit Enthüllung und Erkenntnis inhärent. Die Aufgabe des Urteils müßte darin bestehen, die Täuschung von der Realität zu unterscheiden. Daß dies aber für die Kunst nicht gelingen kann, ist unmittelbar einleuchtend, da sie wesenhaft auf Täuschung basiert und allen mimesis- und imitatio naturae-Idealen zum Trotz gerade in dem Moment, in dem sie realistisch erscheint, eine umso größere Täuschung ist. Aus diesem Grund trifft innerhalb der Kunst die Unterscheidung in ‚wahr‘ und ‚falsch‘ nicht zu, entzieht sich die Kunst den Gesetzen der herkömm356 Vgl. hierzu Meuthen, Eins und doppelt, S. 32: „Künstlerroman ist Heinses Roman nicht, weil sein Held eine Zeitlang als Maler auftritt, sondern weil er die Kunst verkörpert und ihr Wesen bedeutet.“ Somit kann es für Ardinghello kein Leben jenseits oder „nach“ der Kunst geben, ein Abschied von derselben erscheint absurd. 357 Vgl. hierzu Goer, Ungleiche Geschwister, S. 193f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

167

lichen Logik. Der Anspruch, eine zweite Natur darzustellen, muß aufgegeben werden zugunsten der Erschaffung neuer Welten.358 Das Problem des objektiven Urteils über diese Sinnestäuschungen der Kunst ist komplex und kann, das zeigen alle Antworten auf die Frage nach dem adäquaten Geschmacksurteil, nur im Anspruch auf die Objektivierbarkeit des Subjektiven mittels Gespräch oder Argumentation gelöst werden. Daß die Diskussion um Geschmacksurteile jedoch nicht so leicht zu einer Lösung führt, zeigt Heinse in seinem Roman eindringlich: Am Beispiel der unlösbaren paragone-Frage wird deutlich, daß es bisweilen für entgegengesetzte Urteile einleuchtende Argumente gibt, und die Figuren des Ardinghello und des Demetri zeigen, daß das Einnehmen verschiedener Standpunkte durchaus zur Erkenntnis beitragen kann. Die Masken, die die beiden innerhalb der Diskussionen anlegen, führen zu einer Undurchschaubarkeit und Unentscheidbarkeit, die den ganzen Roman prägen: Die erzählenden und diskursiven Passagen behaupten und dementieren sich wechselseitig – und nirgends findet sich ein Halt. Die Täuschung ist im Reich des willkürlichen Zeichens, das sich allen Fixierungsversuchen widersetzt, allgegenwärtig. Nicht zufällig wird Benedikt, der Erzähler des Romans, in Ardinghellos Inselstaat zum Hüter eines Tempels bestellt, des als Labyrinth bezeichnet wird und einem ‚unbekannten Gotte‘ geweiht ist.359 Dem Spiel mit verschiedenen Standpunkten innerhalb der Argumentationen analog ist das Spiel der Masken und Verkleidungen, das auf der Handlungsebene ein in Variationen immer wiederkehrendes Element ist. In einer konkreten Bedeutung spielt die Maske bereits bei der ersten Liebschaft Ardinghellos eine Rolle, wenn er mit Cäcilie während einer Karnevalsveranstaltung mit einer Maske, die der ihres Bruders ähnelt, zum ersten Mal Kontakt aufnimmt. Das Element der Maskerade, das Meuthen in seiner Darstellung in Form der Verstellung allgemein als bedeutendes Element der Intrigengeschichten identifiziert und auf eine höfische Tradition zurückführt, als deren Gewährsmann ihm Machiavelli gilt, dessen

358 Zur Bedeutung von Friedrich Justus Riedels Abhandlung Von der Nachahmung und Illusion für Heinse speziell und die Entwicklung der Ästhetik allgemein vgl. Hüfler, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 66ff. 359 Meuthen, Eins und doppelt, S. 40.

168

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Briefen der Name „Ardinghello“ entnommen sein soll,360 begleitet das Geschehen um Ardinghello bis zum Ende des Romans. Mit Cäcilie kann er sich nur heimlich treffen, da sie verlobt ist, und als er ihr unvermutet auf dem Land, wohin er mit Benedikt gereist ist, wieder begegnet, soll er sie noch vor der bevorstehenden Hochzeit porträtieren. Beide müssen nun in die Rollen von Maler und Porträtierter schlüpfen und den Anschein erwecken, als würden sie sich nicht kennen. In einer Verkleidung schließlich schleicht sich Ardinghello auf die Hochzeit, um dort den frisch vermählten Ehemann zu ermorden, der sich als der Auftraggeber des Mordes an Ardinghellos Vater entpuppt hatte. Nach dem Mord muß er in die Rolle des Unschuldigen schlüpfen, bevor er die Gegend schließlich verläßt. Diese Verwicklungsgeschichte ist die erste in einer längeren Reihe, die, sämtlich den fatti tragici entnommen, das Strukturelement der Verwirrung um Verkleiden und Entdecken, Verkennen und Erkennen aufweisen. Daneben tritt Ardinghello als Pirat auf, was sich seinerseits wie eine Verkleidung aus einem Abenteuerroman ausnimmt, ferner tritt er als Duellgegner gegen den Kardinal an, nachdem er zwischendurch als Diplomat und Kunstexperte der Medici durch Italien gereist ist. Doch die Maskerade betrifft nicht nur Ardinghello selbst, die ihn umgebenden Frauenfiguren beherrschen die Kunst der Verstellung ebenfalls, was Meuthens These untermauert, Boccaccio und sein Decamerone seien neben Machiavellis Principe ein weiteres literarisches Vorbild. Schon die unschuldige Cäcilie spielt nicht nur in den Porträt-Sitzungen ihre Rolle gut, sie verstellt sich auch nach dem Mord an ihrem Bräutigam so gut, daß jeder ihr die Maske der trauernden Witwe, die die Frucht des ermordeten Ehemanns im Leib trägt, abnimmt. Fulvia, die anstelle der von Ardinghello begehrten Lucinde Feuer gefangen hat, erschleicht sich die Zuwendung des Angebeteten, indem sie sich als Lucinde ausgibt und ein Schäferstündchen arrangiert, bei dem Ardinghello erst nach erfolgtem Liebesakt sich der Täuschung bewußt wird: „Ich mußte mir’s gefallen lassen; ich war angeführt auf eine Weise, die mir hohe Lust gewährte. Wenn ich auch ein Joseph hätte sein wollen, so war die Flucht zu spät.“ (Ard, S. 104f.) Lucinde hingegen, die eine auf Innigkeit und Aufrichtigkeit basierende Auffassung von der Liebe zu haben scheint, wird wahnsinnig, als ihr verschollen geglaubter Verlobter auftaucht und sie sich gewzungen sieht, Ardinghello ihr gegebenes Versprechen zu erfüllen, der wiederum entgegen seiner Angewohnheiten auf eine Einlösung des Versprechens freiwillig verzichtet. Doch auch dieser Wahnsinn, der selbst den sonst so lebenslustigen Ardinghello zumindest vorübergehend von seinem Lebenswandel 360 Vgl. ebd. S. 29ff.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

169

abschwören läßt („Aber ich verwüstete schändlich alle Inbrunst der Natur wie ein Gotteslästerer, und gab ihr das teure Zettelchen wieder, und stammelte die tollen Silben hervor: Ich kann deine Gunst nicht annehmen“, Ard, S. 131f.), fällt am Ende des Romans unter den Verdacht, eine Maskerade gewesen zu sein, die sich von den anderen höchstens durch besonders überzeugendes Spiel unterscheidet: „Lucinde kam schon vorher in der klösterlichen Einsamkeit wieder zu sich von ihrer Leidenschaft, wofür sie genug gebüßt hatte, und ließ ihren wohl größtenteils verstellten Wahnsinn.“ (Ard, S. 369) Fiordimona zuletzt ist ebenfalls in der Kunst der Verstellung bewandert, die sie schon vor ihrem Verhältnis zu Ardinghello im Zusammenhang mit ihren verschiedenen Liebhabern nutzen mußte. Um mit Ardinghello ungestört reisen zu können, legt sie sich schließlich das Kostüm eines jungen Edelmannes zu, das sie so überzeugend trägt, daß sich in einer Verwechslungskomödie im Stil der commedia dell’arte eine junge Dame unsterblich in sie verliebt: Nebenan bewohnt einen andern [Garten] die Geliebte des Sohns vom Vizekönig, eine reizende Spanierin, kaum sechszehn bis siebzehn Jahre alt, sogenannte Gräfin von Coimbra. Diese brennt vor Leidenschaft gegen Fiordimonen; und Candida hat sich mit weniger Geschmack, aber besserm Instinkt in mich und meinen jungen Bart vergafft. Beide sind wir so belagert. Coimbra ist eifersüchtig auch mich und Candida auf Fiordimonen, und der Sohn vom Vizekönig ward es endlich auf uns beide und schöpfte Verdacht gegen alle. Die Komödie fing sich damit an. (Ard, S. 351) Hier wie auch an anderer Stelle gelingt die Verstellung so gut, daß die Grenzen zwischen Wahrheit und Täuschung zu verschwimmen scheinen. In der doppelten Täuschung der Literatur kann der Leser sich nie sicher sein, ob eine Information sich als wahr oder falsch entpuppt, eine Behauptung zurückgenommen oder eine scheinbare Wahrheit als Betrug enttarnt wird. Er begibt sich gleichsam in ein Spiegelkabinett, in dem Bilder und ihre Ursprünge nicht voneinander zu unterscheiden sind. Es gibt keinen Erzähler, der ihn durch die Handlung begleitet und ihm Interpretationshinweise gibt, sondern lediglich verschiedene Stimmen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Für die Berichte in den Briefen Ardinghellos gibt es ebensowenig einen zuverlässigen Zeugen, wie es einen Richter innerhalb der Kunstdebatten gibt. Somit ist der Leser auf sich selbst und seinen

170

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Verstand gestellt, wenn er ein Urteil fällen soll, die Lektüre des Romans wird zu einer beständigen intellektuellen Übung. Dieses unaufhörliche Oszillieren zwischen Wahrheit und Täuschung, das dem Roman eigen ist, bildet auch die Basis des Spiels mit dem Bild der Antike, als dessen Fluchtpunkt sich das imaginäre Arkadien erwiesen hatte. Dieses schon in seinem Ursprung rein fiktionale Bild findet durch die Spiegelungen und Verzerrungen von Antike, 16. Jahrhundert und 18. Jahrhundert hindurch Eingang in den Roman und wird als Ort aller Sehnsüchte und Utopien zugleich montiert und dementiert. Beim Rückbezug auf Arkadien kann es nicht mehr um die Natur und ihre Nachahmung gehen, sondern nur noch um die Nachahmung von Bildern, deren Qualität von ihrer Überzeugungskraft abhängt und davon, welchen Genuß sie dem Rezipienten gestattet. Ebenso, wie die Basis der Kunst zunächst die Realität zu sein scheint, ist die Basis des Geschmacksurteils die Wahrheit. Hier wie dort geht es um Überzeugungskraft, die im Fall des Urteilens von der Nachvollziehbarkeit der vorgebrachten Argumente abhängt. Die Bedeutung der Urteilsfähigkeit, mit der ein gelingendes Leben für Heinse verbunden ist, wird im Roman durch eine Figur präsentiert, der die für das Geschmacksurteil unabdingbaren Eigenschaften Verstand und Sinnlichkeit gleichermaßen gegeben sind und die somit nicht nur den Künstler im engeren Sinn, sondern den „Ästhetiker“ verkörpert. Damit ist der Roman entgegen allen gegenteiligen Interpretationen ein Künstlerroman, der das gelingende Künstlerdasein par excellence vorführt, ein Dasein, das nur im immerwährenden Prozeß der Selbstvergewisserung und der Selbsterkenntnis in Form von argumentierenden Dialogen bestehen kann. Indem die Prozeßhaftigkeit als Signum des künstlerischen Lebens hervorgehoben wird, muß sich der Roman einem Ankommen im Sinn des Bildungsromans verweigern. Heinses Ardinghello vollzieht diese Verweigerung, indem er eine Utopie entwirft, die er sofort wieder zurücknimmt, und damit auf seine Weise fragmentarisch bleibt.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

171

6

Die Vereinigung von Kunst und Leben in der Sprachlosigkeit: Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen „Ihr könntet nun wohl Euer Gezänk abbrechen“, sagte Rudolf; „denn Ihr werdet nie über irgend etwas einig werden.“ (FS, S. 216)

Mit Ludwig Tiecks im Jahr 1798 in zwei Teilen erschienenen Roman Franz Sternbalds Wanderungen361 liegt nur drei Jahre nach dem Erscheinen von Goethes Wilhelm Meister der erste sowohl in der zeitgenössischen wie auch in der nach­ folgenden Rezeption bis heute einhellig als Künstlerroman, meist sogar in Negierung von Heinses Ardinghello als „erster Künstlerroman“362 gelesene Roman der deutschen Literatur vor. Daß jedoch auch diese klare Zuschreibung nicht unproblematisch und eindeutig ist, liegt auf der einen Seite in der Natur des im 18. Jahrhunderts viel diskutierten Gegenstandes „Kunst“ sowie der seines Produzenten, des Künstlers, der in der Folge von Geniekult und Problematisierung der Kunsttheoreme ebenfalls ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Auf der anderen Seite hat das Erscheinen des Wilhelm Meister kurz zuvor Standards für den Roman und vor allem für dessen Ausprägung des Bildungsromans gesetzt, an denen Franz Sternbald sich messen lassen mußte. So schreibt Caroline Schlegel an ihren Schwager Friedrich: 361 Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, hrsg. von Alfred Anger, Stuttgart 1994. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe. Im Folgenden wird der Roman mit dem Kürzel FS bezeichnet, die daraus entnommenen Zitate mit der Seitenzahl im Fließtext bezeichnet. 362 Vgl. hierzu Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Nachwort, S. 546f. sowie z.B. Meuthen, Eins und doppelt, S. 98; Richard Littlejohns: „Der Rutsch in die Fiktion: Renaissancekunst und Renaissancekünstler in Tiecks ‚Franz Sternbalds Wanderungen‘“, in: Silvio Vietta (Hrsg.), Romantik und Renaissance, a.a.O., S. 163–175; S. 165; Uwe Japp: „Der Weg des Künstlers und die Vielfalt der Kunst in Franz Sternbalds Wanderungen“, in: Detlef Kremer (Hrsg.), Die Prosa Ludwig Tiecks, Bielefeld 2005, S. 35–52; S. 35 und Müller, Vom Malen erzählen, S. 62. Lothar Pikulik sieht den Beginn des Genres „Künstlerroman“ noch etwas früher mit Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, eine Textsammlung, deren letzten, „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“, er als ersten deutschen Künstlerroman wertet, Lothar Pikulik, Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, zweite, bibliographisch ergänzte Auflage, München 2000, S. 274.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

173

Wollen Sie nun mein Urtheil über den zweyten [Teil des Romans]? Vom ersten nur so viel, ich bin immer noch zweifelhaft, ob die Kunstliebe nicht absichtlich als falsche Tendenz im Sternbald hat sollen dargestellt werden und schlecht ablaufen wie bei Wilhelm Meister, aber dann möchte offenbar ein andrer Mangel eintreten – es möchte dann vom Menschlichen zu wenig darinn seyn.363 Einen Tag später fügt sie diesem Urteil hinzu: „Bey muntern Szenen hält man sich am liebsten auf, aber wer kann sich eben dabey enthalten zu denken, da ist der Wilhelm Meister und zu viel W.M.“364 Friedrich Schlegel seinerseits zieht FS dem Wilhelm Meister vor und begründet dies im Kontext der Spaltung der Künstler und Kunsttheoretiker in das Lager der „Klassiker“ und das der „Romantiker“: „Es [Franz Sternbalds Wanderungen] ist ein göttliches Buch und es heißt wenig, wenn man sagt es sey Tiecks bestes… Es ist der erste Roman seit Cervantes der romantisch ist, und darüber weit über Meister.“365 Dieser, bedenkt man die Wirkung des Wilhelm Meister, unumgängliche Vergleich, wird auch in der Rezension des Romans in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung aus dem Jahr 1799 gezogen, wo der Verfasser sehr differenziert urteilt, wenn er bemerkt: „So gut wie W i l h e l m M e i s t e r , und ungleich besser als A r d i n g h e l l o , taugt F r a n z S t e r n b a l d zum Helden eines K u n s t r o m a n s . Was ihn von W i l h e l m M e i s t e r unterscheidet, ist nur eben, was W i l h e l m M e i s t e r s L e h r j a h r e zu gleicher Zeit zu einem K u n s t - u n d L e b e n s r o m a n macht.“366 Damit wird auf den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Romanen verwiesen, der den Wilhelm Meister zu einem Bildungsroman macht, dessen Protagonist im Zuge seiner Bildung eine Phase der Kunstliebe und vermeintlicher Berufung zur Kunst durchläuft, die jedoch spätestens mit dem Eintritt in die Turmgesellschaft und markiert durch den Tod Mignons abgeschlossen ist. Demgegenüber stellt Franz Sternbald einen Protagonisten in den Mittelpunkt der Romanhandlung, der bereits eine langjährige Ausbildung als Künstler bei Albrecht Dürer absolviert hat und sich nun zum Zweck der Vervollkommnung als Künstler und der Suche nach einem eigenen Stil auf Reisen begibt.367 Die Frage nach der Berufung zum 363 Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Dokumente und zeitgenössische Urteile, S. 507. 364 Ebd. 365 Ebd., S. 510. 366 Ebd., S. 511. 367 Vgl. zu dieser Lesart auch Cord-Friedrich Berghahn, Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidel-

174

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Künstler wird niemals gestellt, da sie bereits zu Beginn des Romans beantwortet ist368 – im Gespräch mit dem Handwerksgesellen Messys und mit dem Fabrikant Zeuner, aber auch Lukas von Leyden gegenüber betont Franz immer wieder, daß er schon seit jeher eine Berufung zum Künstler, und noch präziser: zum Maler gefühlt habe.369 Die Bildung, die Franz Sternbald durchläuft, unterscheidet sich folglich grundsätzlich von der des Wilhelm in Wilhelm Meister, da dieser seinen Ort in der Gesellschaft erst noch finden muß, jener aber bereits weiß, daß er als Künstler unweigerlich eine Position außerhalb der Gesellschaft innehat. Im Roman wird dies deutlich, wenn Franz sich angesichts von städtischer Betriebsamkeit in seiner Kreativität als Künstler gehemmt sieht (FS, S. 35), und Dürer selbst formuliert den Gedanken wenig später in einem Brief an Franz mit den Worten: „Es ist immer etwas Wunderbares darinnen, daß wir Maler nicht so recht unter die übrigen Menschen hineingehören“ (FS, S. 59).370 Vor diesem Hintergrund wird auch der Vorwurf, Franz Sternbald sei kein richtiger Künstler, da er im Roman kaum Kunstwerke produziere,371 in doppelter Hinsicht obsolet: berg 2012, der ebenfalls zu dem Schluß kommt, „anders als Goethe hat Tieck mit dem Sternbald eben keinen Entwicklungs-, geschweige denn einen Bildungsroman vorgelegt.“ (S. 493) 368 Vgl. hierzu auch Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt/Main 1975. Hannelore Schlaffer stellt diesen Zug als charakteristisch für den Künstlerroman heraus: „Da sich in solchen Verhältnissen die Künstler selbst rechtfertigen, stehen die Künstlerromane im Gegensatz zum Bildungsroman. Er konfrontiert den Helden mit der Außenwelt, sein Selbstentwurf hat sich an ihr zu bewähren. […] Der ‚Held‘ des Kunstromans ist der Künstler in der Lehre und auf der Wanderschaft; an die Stelle der Bildung tritt das Lernen.“ (S. 61) Der Aspekt der verschiedenen Positionen innerhalb der Kunsttheorie und das Problem der Verortung des Künstlers innerhalb der Kunstdiskussionen, die ihrerseits einen Prozeß der Bildung mit sich bringen können, werden hier allerdings vernachlässigt zugunsten einer Sicht auf die Kunstwelt als „fertige“ (ebd.). 369 Auf Messys Frage nach dem Grund seiner Berufswahl heißt es im Roman: „Franz wußte darauf nichts zu antworten und schwieg still, er hatte noch nie darüber nachgedacht, ob seine Beschäftigung den Menschen nützlich wäre, sondern sich nur seinem Triebe überlassen.“ (FS, S. 23) Diese Antwort gibt er auch Zeuner wenig später auf dieselbe Frage: „‚Wie seid Ihr gerade auf die Malerkunst geraten?‘ ‚Das kann ich Euch selber nicht sagen, ich war plötzlich dabei, ohne zu wissen, wie es kam; einen Trieb, etwas zu bilden, fühlte ich immer in mir.‘“ (FS, S. 37) Auch Lukas von Leyden gegenüber formuliert Franz diesen Trieb zur Kunst, wenn er sagt: „Ach, mein lieber Meister, ich kann es Euch nicht sagen, Ihr könnt es vielleicht kaum fassen, welchen Drang zu unsrer edlen Kunst ich empfinde, wie es meinen Geist unaufhörlich antreibt, wie alles in der Welt, die seltsamsten und fremdesten Gegenstände sogar, nur von der Malerei zu mir sprechen“ (FS, S. 97). 370 Vgl. auch Hausdörfer, Rebellion im Kunstschein. Sie sieht in der „Transzendenz des Gesellschaftlichen, [der] Festigung der Position als Ausnahme-Ich“ (S. 90), ein grundlegendes Merkmal der Künstlerromane im Gegensatz zum Bildungsroman nach dem Vorbild des Wilhelm Meister. 371 Vgl. hierzu Alexandra Pontzen, Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller, Berlin 2000, Kapitel A III.: Ludwig Tieck: „Franz Sternbalds Wanderungen“(1798), S. 83–153. Zwar ist Pontzens Beobachtung, die sie in der Einleitung zum der Romantik gewidmeten Teil ihrer Studie formuliert, „die Praxis eines faktischen Künstlertums unter der Ägide des facere ist im Begriff, abgelöst zu werden von einem Konzept des fingere, einer Produktionsästhetik, die sich verstärkt über das ‚Erfinden‘ und ‚Empfinden‘ definiert“ (S. 30) auch für Tiecks FS von grundlegender Bedeutung, die Einordnung des Franz Sternbald unter die Künstler ohne Werk bleibt aber dennoch problematisch. Wenn Pontzen

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

175

zum einen, weil Franz sich seines Lebenswegs als Künstler bereits sicher ist und daher die Produktion von Kunstwerken nicht erst als Probe oder Bestätigung seiner Eignung in den Blick genommen werden muß. Zum anderen, weil mit der Beurteilung seiner Existenz als Künstler nach Kriterien der Produktivität ein seinem Lebensentwurf äußerlicher Maßstab angelegt wird, der in die Welt der Ökonomie gehört und damit der Welt der Kunst, wie sie Autonomieästhetik und Geniekult des 18. Jahrhunderts definieren und wie sie im Roman durch die Welt der italienischen Renaissancekunst repräsentiert wird, per se fremd bleiben muß. Die Produktivität als fragwürdiges Kriterium, das der Auffassung von Kunst als Handwerk und damit als eine der artes mechanicae, nicht aber der von Kunst als einer der artes liberales angemessen ist, wird im Roman im Zusammenhang mit Lukas von Leyden diskutiert.372 Dieser charakterisiert sich Sternbald gegenüber als unermüdlich: „Es ist eine seltsame Sache mit dem Fleiße“, fuhr Lukas fort, „so treibt es auch mich Tag und Nacht zur Arbeit, so daß mich manchmal jede Stunde, ja jede Minute gereut, die ich nicht in dieser Stube zubringen darf. Von Jugend auf ist es so mit mir gewesen, und ich habe auch nie an Spielen, Erzählungen, oder dergleichen zeitvertreibenden Dingen Gefallen gefunden.“ (FS, S. 96). Diesem Selbstverständnis als Künstler wird das von Franz Sternbald gegenüber gestellt, der zwar einen ständigen „Drang […] zu unsrer edlen Kunst“ (FS, S. 97) empfindet, aus Respekt vor dem Gegenstand einerseits und aufgrund der permanenten Reflexion über die Umsetzung der Vorstellung in ein Kunstwerk andererseits in einen derartigen Fleiß nicht hineinfinden kann. Lukas von Leyden begegnet dieser Problematisierung des Kunstschaffens mit wenig Verständnis: die Feststellung, Franz’ „Äußerungsform ist die Absichtserklärung“ (S. 102) zur Grundlage dieser Einordnung macht, bleiben die zahllosen Kunstwerke, die Franz schon während seiner vor dem Einsatz der Romanhandlung durchlebten Lehrjahre bei Dürer angefertigt hat ebenso unbeachtet wie die während der Romanhandlung entstehenden, meist eher beiläufig erwähnten. Es ist dem nicht mehr zu diskutierenden Selbstverständnis Sternbalds als Künstler, nicht seinem Mangel an Produktivität zuzuschreiben, daß das Malen als Akt der Berufsausübung nicht grundsätzlich thematisiert werden muß. In diesen Zusammenhang gehört auch die gleichwohl zutreffende These Pontzens, Sternbald müsse im Gegensatz zu Lukas von Leyden nicht malen, um Maler zu sein, sondern empfinden. (S. 110) Auch Berghahn deutet Sternbalds Überlegungen zum Umsetzen von Ideen in Kunstwerke ungeachtet der Vielzahl an von diesem fertiggestellten Gemälden als Zeichen eines ScheiternS. Vgl Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 493. 372 Zur Verkörperung einer handwerksmäßigen Auffassung von Kunst durch Lukas von Leyden vgl. Christoph Brecht, Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993 [Studien zur deutschen Literatur Band 126], S. 82.

176

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

„Ich kann mir Eure Verfassung wohl so ziemlich vorstellen, aber ich bin niemals in solcher Gemütsstimmung gewesen.“ (FS, S. 99), wie er auch Sternbalds Vorhaben einer Reise nach Italien für sinnlos hält: „Ich habe mich von jeher über die Künstler gewundert, die Wallfahrten nach Italien wie nach einem gelobten Lande der Kunst anstellen, aber nach dem, was Ihr mir von Euch erzählt habt, muß ich mich billig noch mehr verwundern. Warum wollt Ihr Eure Zeit also verderben?“ (FS, S. 100) Und so lautet sein Urteil über Sternbald auch für den jungen Maler wenig schmeichelhaft: „Nach dem, was Ihr mir gesagt habt, müßt Ihr viele Anlagen zu einem Poeten haben.“ (ebd.) An dieser Stelle werden die zwei Pole des Romans deutlich, zwischen denen sich Sternbald auf seiner Reise bewegt. Denn wenn Lukas von Leyden urteilt, Sternbalds Entzückungen seien einem Dichter, nicht aber einem Maler angemessen, so zeigt sich darin die klassische Einteilung der Künste in artes liberales und artes mechanicae, die die Dichtkunst unter die freien, die Malerei aber unter die dienenden Künste rechnet. Der Auffassung der Malerei als Handwerk ist Lukas und mit ihm die im Roman sogenannte „altdeutsche“ Kunst Deutschlands und der Niederlande zuzurechnen, während die Kunstauffassung, die Sternbald im Italien der Renaissance antrifft, bereits die Emanzipation der Malerei (und auch der Bildhauerei) von der Rubrizierung als handwerkliche Kunst zu der als freie Kunst durchlaufen hat. Indem Lukas sich gegen eine Reise nach Italien ausspricht, stellt er sich zugleich gegen die Umwertung der Malerei, nordisches Handwerkerethos des Fleißes und italienische Kunstfreiheit werden bereits als Rahmen der Handlung angelegt. Der Weg, den Franz Sternbald im Laufe des Romans geht, bewegt sich mit dem Start in der Welt Albrecht Dürers und Lukas von Leyden und der Ankunft in der Welt der italienischen Renaissance also dezidiert im Spannungsfeld zweier Auffassungen von Kunst, nicht dem zwischen Kunst und Gesellschaft. Zwar spielt auch dieses eine Rolle im Roman, jedoch nicht in der Weise, daß Franz sich zwischen diesen Bereichen bewegt oder gar an beiden zu partizipieren versucht, wie Wilhelm Meister das tut. Die Gesellschaft mit ihren Vorstellungen von sinnvoller Tätigkeit und materieller Sicherheit tritt vielmehr von außen an ihn heran.373 Schon kurz nach Sternbalds Aufbruch aus Nürnberg wird er bei einem 373 Sabrina Hausdörfer liest die Konfrontationen mit den Erwartungen der Gesellschaft und ihrem Vorzug eines sicheren, ruhigen Lebens christologisch: „Sternbald wird dreimal in Versuchung geführt, seine Reise abzubrechen – durch Zeuner, seine Pflegemutter, schließlich durch Vansen –,

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

177

Mittagessen im Haus des Fabrikanten Zeuner, dem er einen Brief übergeben sollte, mit Bedenken seinem Künstlerberuf gegenüber konfrontiert. Zeuner tut die Beschäftigung mit der Malerei als Jugendbeschäftigung ab, die der erwachsene Mensch gegen „ernsthafte Geschäfte“ eintauschen müsse, und macht Franz das Angebot, in seiner Fabrik als Aufseher zu arbeiten: „Ihr habt ein sichres Brot und ein gutes Auskommen, Ihr könnt Euch hier verheiraten und sogleich antreffen, was Ihr in einer ungewissen zukünftigen Ferne sucht.“ (FS, S.  38). Mit ähnlichen Argumenten versucht bei Sternbalds Besuch in seinem Heimatort kurz darauf die Mutter, die nach dem Tod des Vaters auf Unterstützung bei der Bewirtschaftung der Felder durch den Sohn hofft, Franz zur Aufgabe seiner Reise- und Berufspläne zu bringen.374 Sie stellt die Sicherheit eines bäuerlichen Lebens der Unsicherheit des Künstlerdaseins gegenüber: Dein Malen ist auch ein unsicheres Brot, wie du mir schon selber gesagt hast, du wirst darüber alt und grau; deine Jugend vergeht, und du mußt noch obendrein wie ein Flüchtling aus deinem Lande wandern. […], wenn du dich des Hauswesens und des Ackerbaus annehmen willst, so ist uns beiden geholfen, und du führst doch ein sichres und ruhiges Leben, du weißt doch dann, wo du deinen Unterhalt hernimmst. Du kannst hier heiraten, es findet sich wohl eine Gelegenheit. (FS, S. 52) Zwar verteidigt Franz seinen Beruf und seine Reisepläne und ist nicht bereit, seine Wünsche den scheinbar vernünftigen Argumenten der durch Zeuner und die Mutter verkörperten Gesellschaft aufzuopfern, fühlt sich aber doch verunsichert. Erst Albrecht Dürer, der während Sternbalds Aufenthalt bei Lukas von Leyden überraschend zu Besuch kommt, bestärkt ihn in seinen Absichten, indem er ihn des Nutzens der Reisen und seiner Begabung zum Künstler versichert. Solchermaßen gestärkt begegnet Sternbald dann auf der Überfahrt nach Antwerpen dem um eine ruhige, gesicherte bürgerliche Existenz zu begründen. Wenn man hierbei – ohne Überdehnung der Parallele – die dreimalige Versuchung Christi in der Wüste assoziiert, kommt man der Bedeutung des Religiösen in der Romantik sicherlich näher als durch eingehende Analyse der in den künstlerischen Texten selbst explizierten Konnotationen des Religionsbegriffs.“ (Hausdörfer, Rebellion im Kunstschein, S. 90). Diese Lesart des Sternbald als Christusfigur wird jedoch durch keine weiteren Hinweise im Text plausibilisiert und scheint mir deshalb als Interpretationsspur irrelevant und sehr bemüht. Wichtiger als diese Parallele ist die Tatsache, daß durch die drei Angebote an Sternbald verschiedene agrarisch-bürgerliche Existenzformen präsentiert und durch Sternbald abgelehnt werden: durch Zeuner der industrielle Sektor, durch die Mutter die bäuerliche Lebensform und durch Vansen schließlich die Ökonomie in Form des Kaufmännischen. 374 Vgl. hierzu Brecht, Gefährliche Rede, S. 84, der die Mutter und Zeuner als Vertreter einer alten Lebensweise, die vor allem auf Sicherheit angelegt ist, interpretiert.

178

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Kaufmann Vansen, der ihn zwar auch von seinen Reiseplänen abhalten will, seine Berufung zur Malerei aber schätzt. Vansens Liebe zur Kunst wird beschrieben als blinder Trieb, der sich zufälligerweise auf diese Kunst geworfen hatte. Er hatte angefangen Gemälde zu kaufen, und nachdem er sich einige Kenntnisse erworben hatte, war es nur Eitelkeit und Sucht zu sammeln und aufzuhäufen, daß er es nicht müde ward, sich um Gemälde und ihre Meister zu bekümmern. So treiben die meisten Menschen irgendeine Wissenschaft oder Beschäftigung, und der gute Künstler irrt sehr, wenn er unter diesen die verwandten Geister, die Verehrer der Kunst sucht. (FS, S. 172) Dieser äußerlichen Verehrung der Kunst ohne Kunstsinn ist es auch zuzuschreiben, daß Vansen Sternbald die Hand seiner Tochter, die er schon immer einem Maler zur Frau geben wollte (FS, S. 181f.), anbietet. Zwar scheint die Situation hier eine andere zu sein als mit Zeuner und der Mutter, da immerhin Sternbalds Beruf respektiert wird, die Argumente bleiben jedoch dieselben: materielle Sicherheit, die schnelle Eheschließung und dadurch ein berechenbares Leben werden gegen die Unsicherheit von Sternbalds Lebensentwurf gehalten. Indem Franz ablehnt und gleichzeitig die Ehe der Tochter mit Messys, den diese liebt und den er selbst durch seine Empfehlung an Dürer auf den Weg des Malers gebracht hat, arrangiert, stellt der Roman eine Verbindung zwischen der anachronistisch durch Vansen verkörperten, eigentlich im aufgeklärten Bürgertum des 18. Jahrhunderts beheimateten kleinbürgerlichen Scheinkultur375 und der handwerklichen Auffassung von Kunst, die in Messys, dem von der Schmiedekunst zur Malerei gekommenen Handwerker, ihrerseits eine weitere Verkörperung findet. Der Welt der Kunst als Handwerk, die Sternbald trotz aller Verehrung für seinen Lehrer Albrecht Dürer immer schon als seinem Wesen fremd empfunden hatte und die als altdeutsche Welt den Ausgangspunkt der Handlung und der Reise bildet, steht die Welt der italienischen Renaissance gegenüber, in der Sternbald am Ende der Romanhandlung ankommt. Chronologisch korrekt als neuere Kunst der alten gegenübergestellt, hat sie einen Prozeß der Emanzipation (im Fall der Malerei von der dienenden zur freien Kunst) und auch der Säkularisierung hinter sich, der sich in den verschiedenen Lebensauffassungen ihrer Repräsentanten zeigt. Dürer wird wiederholt mit den auch für Lukas von Leyden zentralen Begriffen des Fleißes und der Genauigkeit im „Ausmalen“ (FS, S. 93f.) 375 Vgl. hierzu Müller, Vom Malen erzählen, S. 76 sowie Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S. 101f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

179

in Verbindung gebracht, beider Kunstwerke werden aufgrund ihrer „Simplizität in der Zusammensetzung, […] Verschmähung unnützer Nebenwerke, [der] rührende[n] und echt deutsche[n] Behandlung der Gesichter und Leidenschaften [und ihrem] Streben nach Wahrheit“ (FS, S. 94) charakterisiert. Gegenstände dieser Form der Malerei sind volkstümliche und religiöse Szenen, so daß es nicht weiter verwundert, wenn Dürer seinen Schüler beim zweiten, endgültigen Abschied in Antwerpen ermahnt: „Sei immer wacker […] und laß dein frommes Herz allerwege so bleiben, als es jetzt ist.“ (FS, S. 133), nachdem er zuvor in einem Gespräch mit Lukas die Religion und den Glauben an Gott als das Höchste bezeichnet hatte (FS, S. 124). Bereits zuvor hatte Dürer in einem Brief an Franz bemerkt: „weil Du große Gedanken hegst und mit warmer, brünstiger Seele die Bibel liesest und die heiligen Geschichten, so wirst Du auch gewißlich ein guter Maler werden“ (FS, S. 60). Dieser Auffassung von Kunst, die nicht die Inspiration des Genies, sondern die neue Darstellung bekannter Themen aus dem Repertoire religiöser Motive zum Anlaß der Kunstproduktion nimmt, ist die von Lukas von Leyden formulierte Überzeugung angemessen, die Natur sei die einzige Erfinderin und der Künstler als Kind der Natur ahme diese immer nur nach. Sie steht dem Anliegen Sternbalds, sein Innerstes auf die Leinwand zu bringen und also nicht die Natur nachzuahmen, sondern seine Gefühle in Bilder zu fassen und mithin einen Akt der Schöpfung aus sich selbst heraus vorzunehmen, diametral entgegen. Die Auffassung der Kunst als Darstellung von Empfindungen und die damit verbundene Ablösung von den althergebrachten Motiven scheint in die der altdeutschen entgegengesetzte Welt Italiens zu gehören. In ihr entsprechen sich eine freie Auffassung von Kunst und ein freier Lebenswandel, der an Hedonismus grenzt. Dürer und Lukas werden hier durch Tizian und Correggio abgelöst, über welchem, wie Franz in einem Brief an Sebastian bekennt, jener „alle übrige Kunst vergessen“ (FS, S. 368) hat. Insbesondere Correggio hat es Franz angetan, der „das Glorreiche der Sinnenwelt offenbart“ (FS, S. 369) habe. An die Stelle des christlichen Gottes von Dürer und Lukas tritt hier der „Gott der Liebe“ (ebd.) und mit ihm die ganze Welt der antiken Mythologie und ihrer Sinnlichkeit. Damit verbunden sind auch neue Anforderungen an ein gutes Kunstwerk: Hat Franz in Antwerpen noch vom „Ausmalen“ der Zeichnung bei Dürer und Lukas gesprochen, das als handwerkliche Tätigkeit die vorher angefertigte Zeichnung lediglich ausfüllt, so preist er nun die Farbe als das Element, das dem Bild erst Wärme zu geben vermag, wo die Zeichnung lediglich edel sein könne (FS, S. 370). Wo Lukas von der Nachahmung der Natur als einziger Erfinderin spricht, sieht Franz nun in Correggio eine Veredelung der Natur durch den Künstler

180

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

(vgl. FS, S. 369), der dadurch als der eigentliche Schöpfer hervortritt. Damit ist Sternbalds Weg im Roman nicht nur ein geographischer, der ihn von Norden nach Süden, von Deutschland und den Niederlanden nach Italien führt, sondern auch ein historischer, der die Entwicklung von der mittelalterlichen Kunst mit ihrer Auffassung von Kunst als Handwerk zur Kunst der Renaissance mit ihrer Erhöhung des Künstlers zum göttlichen Schöpfer, wie sie Vasari in seinen Vite für die Künstler der rinascità vollzieht.376 Der Eintritt in die Welt der rinascità, die bei Vasari innerhalb seines dreigliedrigen Geschichtsmodells auf Perfektion (Antike) und Verfall (Mittelalter) folgt,377 wird im Roman durch Elemente des Frühlings, der im zyklischen Bild des Jahreskreislaufs ebenfalls einen Moment der Wiedergeburt darstellt, begleitet. Es ist, so möcht’ ich sagen, der Frühling, die Blüte der Menschheit: alles im vollen, schwelgenden Genuß, alle Schönheit emporgehoben in vollster Herrlichkeit, alle Kräfte spielend und sich übend im neuen Leben, im frischen Dasein. Herbst ist weit ab, Winter ist vergessen, und unter den Blumen, unter den Düften und grünglänzenden Blättern wie ein Märchen, von Kindern erfunden. Es ist, als wenn ich mit der weichen, ermattenden und doch erfrischenden Luft Italiens eine andre Seele einzöge, als wenn mein inneres Gemüt auch einen ewigen Frühling hervortriebe, wie er von außen um mich glänzt und schwillt und sich treibend blüht. Der Himmel hier ist fast immer heiter, alle Wolken ziehn nach Norden, so auch die Sorgen, die Unzufriedenheit. (FS, S. 371) Der Bildungsweg Franz Sternbalds endet in der Renaissance, da sich die geographische Entfernung zwischen Nürnberg und Florenz als die ins Auge springende symbolische Markierung einer Entwicklung dar[stellt] – genauer der Entwicklung von der durch Dürer geprägten religiösen Kunst zur sinnlichen Kunst der italienischen Renaissance.378

376 Tiecks Rezeption der italienischen Renaissance, die über die Vorlesungen des Malers und Göttinger Kunstgeschichts-Professors Johann Dominicus Fiorillo vermittelt vor allem Giorgio Vasaris Vite zur Grundlage hat, arbeitet Jutta Voorhoeve ausführlich auf in: Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, bes. Kapitel 3: „Orte des Sehens“, S. 63–79. 377 Vgl. hierzu: Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie, S. 55 sowie S. 130, Anm. 117. 378 Japp, Der Weg des Künstlers, S. 50.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

181

Die Interpretationen, die im Erweckungserlebnis Sternbalds angesichts des Jüngsten Gerichts von Michelangelo gerne eine Rückkehr zu Sternbalds altdeutschem Ursprung und damit die Rückbesinnung auf Dürer und seine Heimat sehen, sind aus zweierlei Gründen nicht zutreffend: zum einen ist eine solche Rückkehr von vorne herein nicht möglich, da Franz, wie schon gezeigt, sich bereits zu Beginn in dieser Welt nicht heimisch fühlt, ja überhaupt als Heimatloser in die Ferne aufbricht – beim Besuch, den er seinen Eltern abstattet, verliert er selbst diesen Bezugspunkt, da ihm der Vater auf dem Sterbebett offenbart, er sei nicht sein Sohn und damit nicht, wie bis dahin angenommen, Kind aus erster Ehe. Zum anderen ist die im Roman beschriebene Umbesinnung, die Franz die sinnlichen Ausschweifungen der letzten Zeit als ephemer erkennen läßt, nicht mit dem Hinweis auf eine geplante Rückkehr nach Deutschland verbunden, sondern mit einer erneuten, ernsthafteren Hinwendung zur Kunst: „er fühlte sich innerlich neu verändert, neu geschaffen, noch nie war die Kunst so mit Heeresmacht auf ihn zugekommen.“ (FS, S. 397) Die Struktur des Romans ist also keine kreisförmige,379 die Ausgangspunkt und Ziel ineins setzt, sondern eher als dialektisch anzusehen, innerhalb derer Sternbald „das Neue [entdeckt], ohne das Alte zu verlieren.“380 Er bewegt sich dabei zwischen den bereits skizzierten Polen von Norden und Süden, Kunsthandwerk und Genieästhetik, ohne einem der beiden jemals vollkommen anzugehören. Während der Verlauf der Handlung sein chronologisches Ende in der Renaissance findet, führt der Verlauf des Bildungsprozesses des Protagonisten darüber hinaus und auf einer höheren Stufe dieser dialektischen Bewegung zu einer Synthese beider Pole, die sich in der Epiphanie der wahren Kunst vor dem Gemälde des Michelangelo am Ende des Romans manifestiert und Franz Sternbald zugleich geläutert und über sein bisheriges Leben erhoben zurückläßt. Diese eigentliche Ankunft im ekstatischen Kunsterleben ist gefolgt von der Ankunft bei der unbekannten Geliebten, Marie, die Franz im gesamten Romanverlauf sucht und die als Personifikation der idealen Kunst zu verstehen ist.381 Die Kunst und Marie bilden das eigentliche Ziel der Suchbewegung, die zwischen Aufbruch in Deutschland und Ankunft in Italien liegt. 379 Zur Interpretation des Italienerlebnisses als Durchgangsstadium der Verirrung, das Franz am Ende wieder zur religiösen Kunst Dürers zurückfinden läßt, vgl. z.B. Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 15 sowie Irmgard Osols-Wehden, Pilgerfahrt und Narrenreise. Der Einfluß der Dichtungen Dantes und Ariosts auf den frühromantischen Roman in Deutschland, Hildesheim 1998, S. 91f. und S. 178f. 380 Ebd., S. 51. 381 Vgl. z.B. Müller, Vom Malen erzählen, S. 90–99: Die ferne Geliebte; Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 16; Osols-Wehden, Pilgerfahrt und Narrenreise, S. 98–117: Mystische Gelieb-

182

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Während Anfang und Ende des Romans in Städten spielen, liegt im Zwischenraum ein Wald, in dem sich eine Vielzahl an Begegnungen und Begebenheiten ereignet. Der Wald als Zwischen-Raum bildet den Übergangsbereich zwischen den Polen der dialektischen Bewegung und partizipiert seinerseits an beiden. Zu Beginn der Handlung erscheint der Wald als allegorischer Raum, der in der Tradition der Divina Commedia Dante Alighieris zu stehen scheint:382 Sternbald fühlt sich beim Aufbruch zu seiner Reise zuerst vom Wald über den schweren Abschied von Sebastian hinweggetröstet (FS, S. 21), schließlich, als er sich dem heimatlichen Dorf nähert, bezichnet er ihn dann als „heiligen Tempel“ (FS, S. 42). Er wird mit seiner Vergangenheit, insbesondere seiner Kindheit, konfrontiert und in „ein Labyrinth von seltsamen Empfindungen“ (FS, S. 44) geführt, bis ihm beim Betreten einer Lichtung die Begegnung mit Marie im Alter von sechs Jahren wieder in Erinnerung kommt: „Mit einem Male brachen ihm die Tränen aus den Augen, er hörte vom Felde herüber eine einsame Schalmeie eines Schäfers, und nun wußte er alles.“ (ebd.) Die Begegnungen mit Marie bleiben auch weiterhin mit dem Wald verbunden, wenn er, nachdem sie bei der zweiten, flüchtigen Begegnung auf dem Kirchhof ihre Brieftasche verloren hatte, mit dieser in den Wald eilt, um sie auf der Lichtung ihrer ersten Begegnung zu öffnen (FS, S. 74). Erscheint der Wald mit der Lichtung und den Blumen zunächst allegorisch, so schiebt sich mit Florestans Erzählung bereits ein anderer Prätext über das Bild des Waldes: hier begibt sich ein Ritter auf die Suche nach einer geliebten Frau, von der er lediglich das Porträt besitzt, das er im Wald gefunden hatte. Auf dieser Suche sitzt er oft im Wald und dichtet Lieder, und der Wald ist auch der Ort, an dem er sich verirrt und dadurch scheinbar von seiner Leidenschaft geheilt wird. Die in der Welt der Ritterepen beheimatete Erzählung ruft mit ihrem Motivinventar, vor allem der Verbindung von Wald und Wahnsinn des unglücklich Liebenden, den Wald Ariosts auf, der in seinem poema cavalleresco Orlando Furioso den Wald als einen der wichtigsten Orte der Handlung einsetzt. Der allegorische Wald Dantes wird also umgedeutet in den labyrinthischen Wald Ariosts,383 der te und reformatio bzw. renovatio; Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 83ff. sowie Brecht, Gefährliche Rede, S. 80 u.v.m. 382 Zu den Parallelen zwischen Dantes Divina Commedia und Tiecks FS vgl. Osols-Wehden, Pilgerfahrt und Narrenreise, Kapitel 2: Die Rezeption der Vita Nuova und der Commedia in Tiecks Franz Sternbald’s Wanderungen, S. 38–133. 383 Zur Rezeption von Ariosts Orlando Furioso durch Tieck vgl. ebd., Kapitel 3: Zur Ariost-Rezeption in Franz Sternbald’s Wanderungen, S. 134–183. Der Deutung von Osols-Wehden, welche die intertextuellen Verweise auf Ariost als Verirrung im Wald der Sünde, der eine Läuterung durch die Rückführung in den Wald Dantes und damit auf den Weg des christlichen Heils folgt, interpretiert, sei hier allerdings dezidiert widersprochen. Zum einen enthalten die Beschreibungen der Wälder keine Anhaltspunkte dafür, daß der Ariostsche Wald im Verlauf des Textes wieder zu ei-

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

183

Ort zahlloser Verirrungen und zufälliger Begegnungen ist und damit dem als arazzo bezeichneten Handlungsverlauf des Orlando Furioso entspricht.384 Diese Deutung des Waldes wird bereits angekündigt in der Bemerkung, Franz befinde sich bei seinem Spaziergang im Wald plötzlich in einem Labyrinth der Empfindungen. Der Wald ist ähnlich wie im Orlando Furioso für weite Teile des Romans der Ort der Handlung und damit Hintergrund zahlreicher Gespräche über die Kunst. Die Begegnungen erscheinen im Franz Sternbald ebenso wie im Orlando Furioso zufällig, die im Zusammenhang mit den Begegnungen geführten Gespräche erweisen sich aber trotz ihrer Disparatheit als Bestandteile eines Mosaiks, das ein nahezu vollständiges Bild der möglichen Auffassungen von Kunst bietet. Japp stellt die verschiedenen Auffassungen unter schlagwortartigen Benennungen zusammen: Aus den zahllosen Äußerungen über ‚die Kunst‘ im Sternbald lassen sich (mindestens) sieben Kunstbegriffe destillieren, die sich teils überschneiden, teils widersprechen. Ich nenne sie im folgenden die mimetische Kunst, die religiöse Kunst, die sinnliche Kunst, die allegorische Kunst, die autopoietische Kunst, die subjektive Kunst und die phantastische Kunst.385 Weiterhin ordnet Japp die Kunstauffassungen den Figuren zu und zeigt, daß Franz Sternbald diesen Auffassungen teilweise zustimmt, teilweise widerspricht und der Roman somit „den verschiedensten Kunstdeutungen Raum gibt.“386 nem Danteschen wird. Zum anderen, und dies ist vielleicht noch wichtiger, ist der Wald bei Dante nicht als Heilsweg zu interpretieren. Gerade der Wald ist Metapher für den dunklen Moment der Verwirrung im Leben des Protagonisten, und der Weg, der aus dieser Verwirrung hinausführt, führt auch aus dem Wald hinaus. 384 Zur Strukturierung des Erzählraumes im Orlando Furioso vgl. Ariosto, Orlando Furioso, S. XXf. (Introduzione) und S. XLIV–XLVI sowie Angelo Marchese, Storia intertestuale della letteratura italiana. Il Cinquecento, il Seicento e il Settecento dal rinascimento all’illuminismo, Firenze 1993, S. 12, der den Text als „straordinario arazzo lavorato con fili di molti colori“ bezeichnet. Der Begriff geht auf Stellen des Orlando Furioso selbst zurück, z.B. Ariosto, Orlando Furioso, vol. I, Canto secondo, 30, V. 5–8: „Ma perché varie fila a varie tele / uopo mi son, che tutte ordire intento“ (S. 35). 385 Japp, Der Weg des Künstlers, S. 45. 386 Ebd., S. 50. Zur Präsentation verschiedener Standpunkte der Kunstdiskussion vgl. auch Brecht, Gefährliche Rede, S. 103, der insbesondere die mißglückte Kommunikation innerhalb der Gespräche unterstreicht: „In den Gesprächen der Romanfiguren geht es mehr und mehr um die bloß assoziative wechselseitige Anregung, die Übersetzung fremder Rede in eine inkompatible, je individuelle Bedeutung, ein produktives Aneinandervorbeireden.“ sowie Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 124, die die gleichberechtigte Stellung der verschiedenen theoretischen Ansätze im Roman hervorhebt: „Sie [die verschiedenen Erklärungsansätze von Kunst] siedeln sich auf so unterschiedlichen Ebenen an, daß sie systematisch, z.T. auch historisch unvereinbar sind und daß, weil nicht nur Unvereinbarkeit, sondern auch Unvergleichbarkeit ihr Verhältnis bestimmt, kein einzelner Ansatz Geltung vor anderen beanspruchen darf.“ Berghahn stellt diesen Grundzug der

184

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Der labyrinthische Wald wird zur Topographie einer Diskursebene des Romans, innerhalb derer Kunst und Kunsttheorie diskutiert und unterschiedliche Topoi dieser Diskussion aufgesucht werden. Dementsprechend wird auch die Natur immer anders wahrgenommen. Besonders augenfällig ist dies im Zusammenhang mit dem Besuch Sternbalds bei dem Eremiten Anselm. Anselm vertritt eine Auffassung von Kunst, die zunächst aus dem christlichen Allegorie-Verständnis erwächst. Seine Motive sind durchweg christliche, die weniger eine Abbildung der Natur oder der Wirklichkeit, als stilisierte Heiligenbilder darstellen: Er [der Eremit] öffnete eine Tür und führte den Maler [als den Franz sich zu erkennen gegeben hat] in eine andre kleine Stube, die voller Gemälden hing. Die meisten waren Köpfe, nur wenige Landschaften, noch weniger Historien. Franz betrachtete sie mit vieler Aufmerksamkeit […]. In allen Bildern spiegelte sich ein strenges, ernstes Gemüt, die Züge waren bestimmt, die Zeichnung scharf, auf Nebendinge gar kein Fleiß gewendet, aber auf den Gesichtern schwebte ein Etwas, das den Blick zugleich anzog und zurückstieß, bei vielen sprach aus den Augen eine Heiterkeit, die man wohl grausam hätte nennen können, andre waren seltsamlich entzückt und erschreckten durch ihre furchtbare Miene. (FS, S. 255) Der Eremit erklärt die Wirkung seiner Bilder durch seine besondere Stimmung beim Malen, in der er „die Bildnisse der Apostel, der heiligen Märtyrer hoch oben in den Bäumen“ rauschen höre, die ihn aufforderten, sie abzuzeichnen (ebd.). Erscheint dem malenden Eremiten die Natur als Quelle einer auf dem christlichen Glauben basierenden Inspiration, die in der Tradition der Acheiropoieta (der ‚nicht von Menschenhand gemachten Kunstwerke‘) oder des vera icon stehend den Maler als Medium einer göttlichen Führung instrumentalisiert,387 so wird diese mystische Sicht auf die Kunst vorbereitet durch Sternbalds Naturerlebnis kurz vor Ankunft beim Eremiten:

Toleranz verschiedenen Kunstauffassungen gegenüber bereits für die von Wilhelm Wackenroder und Ludwig Tieck gemeinsam verfaßten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders fest und deutet dies als Zeichen von Modernität (Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 479). 387 Vgl. hierzu Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 126. Pontzen sieht bei Sternbald zwar im Enthusiasmus die Grundlage zum antiken furor poeticus gelegt, spricht ihm die Fähigkeit zur gottgleichen Schöpfung jedoch ab.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

185

Der Weg wand sich enge und schmal zwischen Felsen hindurch, Tannengebüsch wechselte auf dem kahlen Boden, und nach einigen Stunden stand Franz auf dem höheren Gipfel des Gebirges. Nun war es wieder wie ein Vorhang niedergefallen, seinem Blicke öffnete sich die Ebene wieder, die kahlen Felsen unter ihm verloren sich lieblich in dem grünen Gemisch der Wälder und Wiesen, die unfreundliche Natur war verschwunden, sie war mit der lieblichen Aussicht eins, von dem übrigen verschönert, diente sie selber, die andern Gegenstände zu verschönern. (FS, S. 248) Dieses Bild, das die Natur Franz bietet, läßt ihn nun seinerseits wie die Heiligen auf den Gemälden des Eremiten in Verzückung geraten; er hat ein mystisches Erlebnis, in dem er sich eins fühlt mit Natur und „Weltgeist“, der „mit meisterndem Finger die furchtbare Harfe mit allen ihren Klängen greift“ (FS, S. 249). In diesem Moment der Entrückung ist es auch, in dem Franz die Natur über die Kunst stellt, indem er ausruft: „O ihr Törichten! Die ihr der Meinung seid, die allgewaltige Natur lasse sich verschönern, wenn ihr nur mit Kunstgriffen und kleinlicher Hinterlist eurer Ohnmacht zu Hülfe eilt, was könnt ihr anders, als uns die Natur nur ahnden lassen, wenn die Natur nur die Ahndung der Gottheit gibt?“ (FS, S. 250), und schließlich die häufig als Grundlage der im Sternbald vermittelten Kunsttheorie angesehene Bemerkung macht: „Die Hieroglyphe, die das Höchste, die Gott bezeichnet, liegt da vor mir in tätiger Wirksamkeit […]. Die höchste Kunst kann sich nur selbst erklären, sie ist ein Gesang, deren Inhalt nur sie selbst zu sein vermag.“ (ebd.)388 Spricht Sternbald hier von der Natur als höchster Kunst, die alle von Menschen gemachte Kunst in den Schatten stellt und als Hieroglyphe des Schöpfers erscheint, so zieht Anselm wenig später den Vergleich mit dem Künstler, der es „fast ebenso macht“ (FS, S.  252) wie der christliche Gott: wo dieser zu den Menschen in jeder Erscheinung der Natur spricht, tut es der Künstler in seinem Kunstwerk, Kunst und Natur werden ebenso vergleichbar wie Gott und Künstler. Die Apotheose des Künstlers aufgrund der 388 Zur Deutung dieser Passage vgl. Meuthen, Eins und doppelt, S. 112f., der die Landschaft als uneigentlichen Ausdruck, als Metapher sieht. Ahrend hingegen liest den zitierten Satz „als programmatisch für jene Selbstreflexion der Poesie […], für die Schlegel dann den Begriff der Arabeske finden wird“, Hinrich Ahrend, Verschlungene Lineaturen. Die Poetik der Arabeske in Ludwig Tiecks Erzählwerk, Würzburg 2012, S. 107. Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 498ff., verbindet die allegorische Lesart des Romans mit dem Gedanken der Arabeske zu einem Verhältnis von Schrift und Bild, das die Grundlage für seine Deutung des Textes als Inszenierung von Autonomie darstellt. Brecht, Gefährliche Rede, S. 98f., schließt sich ebenfalls an die Lesart des Romans als allegorischem an.

186

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

analogen Tätigkeit des „Schöpfens“ ist ein bereits in der Renaissance geläufiger Topos. Diesem Konzept stimmt Franz sofort innerlich zu, wenngleich er „über sich selbst [erschrak], daß er aus dem Munde eines Mannes, den die übrigen Leute wahnsinnig nannten, seine eigensten Gedanken deutlich ausgesprochen hörte“ (FS, S.  253). Seine Zustimmung zu einer Gleichstellung des Künstlers mit dem Schöpfer der Natur, welche er deutlich empfindet und welche wiederum in den Kontext der Renaissance gehört, weicht allerdings einem verlegenen Zweifel, als der Eremit über die göttliche Inspiration im Sinne der Acheiropoieta spricht – hier hält sich Franz zurück, da er nicht sicher ist, „ob der alte Maler wirklich vom Wahnsinn befallen sei oder ob er nur die Sprache der Künstler rede“ (FS, S. 256). Mit einer Differenz endet auch das Kunstgespräch wenig später, als Franz das Bild des Eremiten, das dieser ihm erklärt, als allegorisch bezeichnet: während Sternbald sich lediglich auf dieses nach der Beschreibung tatsächlich im herkömmlich-mittelalterlichen Sinn allegorisch zu nennende Bild bezieht, weitet Anselm den Begriff aus, indem er sagt: „Alle Kunst ist allegorisch.“ (FS, S. 257) Zu einer Verständigung kommt es nicht, weil während der Ausführungen des Eremiten zum Allegorie-Begriff ein Vogel entfliegt und die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zieht. Bezeichnenderweise kauft Sternbald dem Eremiten am Ende seines Aufenthalts das einzige Bild ab, das nicht allegorisch ist und auch keine christliche Heilige darstellt: Es ist ein Porträt, in dem Franz seine unbekannte Geliebte erkennt (FS, S. 265) und das er in der Folge einer Ikone gleich bei sich trägt und in Momenten der Unsicherheit zum Trost hervorholt.389 Der Begegnung mit dem Eremiten entgegengesetzt ist eine andere Begegnung im Wald, die Franz Sternbald kurz zuvor in Begleitung von Rudolf Florestan macht. Nachdem die beiden Freunde ein Stück Weg gemeinsam mit dem Bildhauer Bolz und einem Mönch zurückgelegt hatten und sich nun wieder zu zweit auf der Reise befinden, geraten sie wiederum in einen Wald, den Florestan zum Anlaß nimmt, gleichsam aus der Außenperspektive eines Dichters über den Wald als Motiv für Maler zu sprechen. „Wenn ich ein Maler wäre, Freund Sternbald, so würde ich vorzüglich Waldszenen studieren und nachstellen.“ (FS, S. 220) Seinem heiteren Charakter gemäß imaginiert Florestan Szenen aus der griechischen Mythologie, indem er die Jagdgöttin Diana und ihre Nymphen in die die Freunde umgebende Natur projiziert. Diese Projektion erscheint durchaus als passend, denn während der tiefe Wald beim Aufstieg zum Eremiten als „wild und verworren“ beschrieben wird und an Dantes „selva oscura“ der Anfangsterzinen 389 Vgl. FS, S. 288 und 356. Zum Umgang Sternbalds mit dem Bild als Ikone vgl. außerdem Brecht, Gefährliche Rede, S. 86ff.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

187

der Divina Commedia erinnert, ist er hier dicht und kühl und „[e]ine erquickende Luft zog durch die Zweige, und das mannigfaltigste, anmutigste Konzert der Vögel erschallte. Es war ein lebendiges Gewimmel in den Gebüschen“ (ebd.). Derart mit den Attributen arkadischer Idylle ausgestattet, bietet der Wald den idealen Hintergrund für eine Szene, die der mystischen Schau auf dem Berg des Eremiten entgegengesetzt ist: Sternbald und Florestan entdecken, nachdem sie dem Klang von Hörnern und Gesang gefolgt waren, eine Gruppe, die im Einklang steht mit der antiken Szenerie, die Florestan kurz zuvor entworfen hatte. Eine am Fuße eines Hügels hingelagerte Gruppe von Jägern und eine als Amazone beschriebene Jägerin werden geschildert, die sich die Ruhepause mit Musik versüßen und als Reminiszenz an Bacchus und sein Gefolge Wein trinken. Auf dem Schloß der Amazone, die sich als Gräfin herausstellt, wird nun bei Tisch ein Dichterwettstreit zwischen Florestan und einem anderen Poeten angesetzt, der in einer Vermischung von Bildern sowohl in der Tradition der Antike und ihrer Symposien als auch der der mittelalterlichen Sängerwettstreite zu stehen scheint. Florestans Erscheinung erinnert dabei wiederum an Bacchus, wenn beschrieben wird, er „bestieg nun den Tisch, indem er einen Hut aufsetzte, der mit grünem Laub geputzt war; vorher trank er noch ein großes Glas Wein, dann nahm er eine Zither in die Hand“ (FS, S. 227). Dem im Konventionellen verbleibenden Trinklied seines Kontrahenten setzt er eines entgegen, das die Wiederkunft der von der Erde entschwundenen Götter im Sinnenrausch besingt: ‚Was brauchen wir Euch und Euer Geschick [das der Götter]?‘ So tönt von der Erde die Antwort zurück, ‚Wir können Euch ohne Gram entbehren, Wenn Wein und Liebe bei uns gewähren.‘ (FS, S. 232) Der Allegorisierung der Welt als Hieroglyphe des christlichen Gottes und damit der Sicht auf die Natur als göttliches Zeichen steht hier die Zurückweisung des Transzendentalen zugunsten der Sinnlichkeit, die durch Liebe und Wein, also durch Genuß, verkörpert wird, gegenüber. Der mystischen Schau, die der Eremit als Grundlage der Kunstproduktion ansieht, stellt Florestan die Empfindung als Grundlage der Kunst entgegen: „Es tut nichts“, sagte Florestan, „sie [die Überschriften zu Liedern von Florestan] mögen auch wohl unpassend sein, aber mir kam es so vor, als ich sie machte; wer es nicht mitfühlt, dem ist es auch nicht zu beweisen.

188

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Sie sollten gleichsam die Akzente sein, in die diese Instrumente freiwillig übergingen, wie sie als lebendige Wesen sprechen und sich ausdrücken würden. Man könnte sich, wenn man sonst Lust hätte, ein ganzes Gesprächstück von mancherlei Tönen aussinnen.“ (FS, S. 236) Wenig später bemerkt er abschließend „So geschieht alle Kunst“ (ebd.), nämlich durch Einfühlung. Florestans Kunstauffassung weist nicht nur den allegorischen Gehalt der Natur als Sprache Gottes zurück zugunsten einer Belebung der Natur durch die Sinnlichkeit, sondern stellt gleichzeitig damit die sinnliche Erkenntnis über die rationale, die an dieser Stelle Franz mit seinem Einwand, Überschriften und Texte passten nicht zusammen, vertritt. Auch hier bleibt eine Einigung der beiden auf ein Kunstverständnis aus, stattdessen stimmen sie einen Wechselgesang an. Die kurz darauf von Sternbald in einem Monolog formulierten Gedanken nehmen die Empfindung als Zugang zur Welt wieder auf und gehen sogar darüber hinaus, indem die Natur als Sprachrohr für die Empfindungen des Künstlers imaginiert wird: Dann drängt es mir im Herzen, als wenn ich wie auf Flügeln hinüberfliegen sollte, höher über die Wolken hinaus, und von oben herab meine Brust mit neuem, schönerem Klang anfüllen und meinen schmachtenden Geist mit dem höchsten, letzten Wohllaut ersättigen. Ich möchte die ganze Welt mit Liebesgesang durchströmen, den Mondschimmer und die Morgenröte anrühren, daß sie mein Leid und Glück wiederklingen, daß die Melodie Bäume, Zweige, Blätter und Gräser ergreife, damit alle spielend meinen Gesang wie mit Millionen Zungen wiederholen müssen. (FS, S. 241) Meint Sternbald, ganz im Sinn der Kunstauffassung des Eremiten, bei diesem seine Geliebte in Form eines ikonischen Porträts wiederzufinden, so glaubte er sie auf dem Schloß kurz zuvor in der Gräfin wiederzuerkennen, fügt aber selbstkritisch hinzu: „Ich werde ungewiß, ob mir allenthalben ihr süßes Bild begegnet oder sie meine Phantasie nur in allen Gestalten wiedererkennt.“ (FS, S. 233) Dies ist nicht nur eine Vorausdeutung auf die kurz darauf von Florestan proklamierte Belebung der Natur und der Kunst durch die Empfindung, sondern verweist zugleich auf den literarischen Intertext Orlando Furioso: Das Zauberschloß des Atlante hat dort die Eigenheit, daß jeder, der sich in ihm befindet, seine(n) Geliebte(n) zu

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

189

sehen glaubt.390 Es bildet im Orlando Furioso ein weiteres labyrinthisches System neben dem des Waldes, das sich nun allerdings nicht durch tatsächliche zufällige Begegnungen auszeichnet, sondern durch die Imagination der Besucher belebt wird, deren innere Bilder sich gleichsam fiktiv materialisieren. Das Zauberschloß des Atlante aus dem Orlando Furioso stellt insofern ein wichtiges Interpretament des FS dar, als das Problem der Veräußerlichung der inneren Bilder für Sternbald von Anfang an eine große Rolle spielt: Während ihm durch einen vorgegebenen Gegenstand klar definierte Auftragsarbeiten wie Porträts oder christliche Motive leicht von der Hand gehen, stellt ihn die Darstellung seiner inneren Bilder, die der Einbildungskraft entspringen und über einen realen Gegenstand hinaus ein Gefühl umfassen, vor große Schwierigkeiten. Schon zu Beginn formuliert er das Mißverhältnis von inneren Bildern und deren Umsetzbarkeit. Zunächst führt er diese Hemmungen auf die beklemmende Atmosphäre der Stadt zurück: Ich hatte auf dem Wege so vielen Mut, ich konnte mich ordentlich gegen die großen, herrlichen Gestalten nicht schützen und mich ihrer nicht erwehren, die in meiner Phantasie aufstiegen, sie überschütteten mich mit ihrem Glanze, überdrängten mich mit ihrer Kraft und eroberten und beherrschten so sehr meinen Geist, daß ich mich freute und mir ein recht langes Leben wünschte, um der Welt, den Kunstfreunden und Dir, geliebter Sebastian, so recht ausführlich hinzumalen, was mich innerlich mit unwiderstehlicher Gewalt beherrschte. Aber kaum habe ich nun die Stadt, diese Mauern und die Emsigkeit der Menschen gesehen, so ist alles in meinem Gemüt wieder wie zugeschüttet, ich kann die Plätze meiner Freude nicht wiederfinden, keine Erscheinung steigt mir auf. (FS, S. 34f.) Die Stadt und in ihr die gewöhnlichen, auf Erhalt der Existenz gerichteten Tätigkeiten erscheinen als kunstfeindlich und unterstreichen die gesellschaftliche Position des Künstlers als Außenseiter.391 Der Stadt mit ihrer ökonomischen Interessen verpflichteten Lebensweise steht die Natur als Ort der Abwesenheit 390 Ariosto, Orlando Furioso, Canto duodecimo, IV–XXII, S. 287–292. Vgl. hierzu auch Ludovico Ariost, Rasender Roland, nacherzählt von Italo Calvino, München 2008, S. 231f. Zum Labyrinth als struktureller Basis des Orlando Furioso vgl. Cornelia Klettke: „Der Text als Trugbild – Gewebe, Labyrinth, Knoten: Studien zur Ästhetik des Orlando furioso von Ariost“, in: Cornelia Klettke, Georg Maag (Hrsgg.): Trugbildnerisches Labyrinth, kaleidoskopartige Effekte. Neurezeptionen des ‚Orlando Furioso‘ von Ariost. Horizonte, 9. Jahrgang (2005), Tübingen 2006, S. 101–126. Zur Bedeutung des Zauberschlosses vgl. Brigitte Burrichter: „Der Zauberer und der Autor – Atlantes Zauberwelt als mise en abyme des romanzo“, in: ebd., S. 17–26. 391 Vgl. hierzu z.B. Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 28.

190

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

alles Gesellschaftlichen gegenüber, die Sternbald zu den inneren Bildern angeregt hatte. Doch auch in dieser Umgebung gelingt Franz die Umsetzung der Bilder in Gemälde nicht: bei einem Spaziergang im heimatlichen Dorf will er eine Landschaft zeichnen, scheitert aber daran. „Franz zog eine Schreibtafel hervor und wollte die Landschaft anfangen zu zeichnen; aber schon die wirkliche Natur erschien ihm trocken gegen die Abbildung im Wasser, noch weniger aber wollten ihm die Striche auf dem Papier genügen, die durchaus nicht nachbildeten, was er vor sich sah.“ (FS, S. 51) Das Problem, das Franz selbst als das der adäquaten Abbildung von Gesehenem ansieht, bewegt sich jedoch nicht im Bereich der imitatio naturae, sondern entsteht daraus, daß Franz nicht die Natur, sondern ihre Wirkung auf ihn abbilden möchte: „Er hatte noch nie eine Landschaft mit diesem Vergnügen beschaut, es war ihm noch nie vergönnt gewesen, die mannigfaltigen Farben mit ihren Schattierungen, das Süße der Ruhe, die Wirkung des Baumschlags in der Natur zu entdecken“ (ebd.). Der Anspruch an den Künstler verschiebt sich von der Abbildung der Natur zur Darstellung einer Stimmungslage oder eines Gefühls, so daß für FS gelten kann, was Berghahn bereits für die Herzensergießungen konstatiert: er vollzieht „am Beispiel der Kunst und ihrer Bildpoetik den Übergang von einer mimetischen zu einer poietischen Ästhetik“ und enthält somit einen neuen Bildbegriff, der „nicht länger das Bild als Abbild, als pictura, sondern als produktives, generierendes Bild, als imago, als die Denkkraft beförderndes und je schon perspektiviertes Bild“392 meint. Der Vorrang der imago wird bereits in der zitierten Szene deutlich und führt zu einem weiteren Problem, das sich für Franz stellt: Es ist nicht die Natur selbst, die ihn begeistert, sondern deren Abbild im Wasser. Das künstlich generierte Bild übertrifft hierbei das Original, da ja „schon die wirkliche Natur […] trocken gegen die Abbildung im Wasser“ (FS, S. 51) erscheint. Die Wahrnehmung der Natur als Bild ist ein Modus des Sehens, der sich durch den gesamten Roman zieht und für Sternbald zur Ununterscheidbarkeit von Bild und Original und letztlich zum Verschwimmen der Grenzen von Kunst und Leben führt.393 Diese Wahrnehmungsweise fällt zum ersten Mal auf, als Franz sich Leyden nähert und die Stadt wie in einem Gemälde sieht, von dem er selbst ein Teil ist: es war ihm wunderbar, daß nun die Stadt, die weltberühmte, mit ihren hohen Türmen wie ein Bild vor ihm stand, die er sonst schon öfter im Bilde 392 Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 488. 393 Vgl. hierzu z.B. Schlaffer, Schlaffer, Ästhetischer Historismus, S. 63; zur Grenzverwischung zwischen Kunst und Leben vgl. z.B. Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 145.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

191

gesehn hatte. Er kam sich jetzt vor als eine von den Figuren, die immer in den Vordergrund eines solchen Prospektes gestellt werden, und er sah sich nun selber gezeichnet oder gemalt da liegen unter seinem Baume und die Augen nach der Stadt vor ihm wenden. Sein ganzes Leben erschien ihm überhaupt oft als ein Traumgesicht, und er hatte dann einige Mühe, sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, wirklich zu überzeugen. (FS, S. 87) Doch schon zuvor fallen immer wieder Beschreibungen auf, die die Natur als ein Gemälde erscheinen lassen, und die Beschreibungen von Gemälden spiegeln sich in den Beschreibungen realer Szenen. So „zeichnet[…] sich [Franz] die schönen Abendwolken in seinem Gedächtnisse ab“ (FS, S. 64), kurz bevor er das Abendrot auf den Wangen eines Bauernmädchens bewundert, neben das er sich bei einem Fest im Dorf gesetzt hat: „Jetzt lag das Abendrot auf ihren Wangen, er sah sie an, sie ihn, und er hätte sie gern geküßt; so schön kam sie ihm vor.“ (ebd.) Nur wenig später wird das Gemälde, das Franz seiner Heimat hinterlassen will, beschrieben und „das Angesicht des einen Mädchens stand in rosenrotem Schimmer, vom fernen Strahl der Himmlischen erleuchtet.“ (FS, S. 66). Der Künstler [gerät] auf der Wanderschaft nicht in lebendige Situationen, sondern selbst in Szenen, die Gemälden zu entstammen scheinen: der Blick des Ankommenden auf ein abendliches Dorf, die Vesper der Nonnen mit einer heiligen Schönheit in ihrer Mitte. Stets tritt die Figur einer vollendeten Situation als anschauendes Individuum gegenüber, die Welt selbst ist zu Bildern geronnen.394 Die Wirklichkeit wird somit zu einem Labyrinth aus Bildern, zwischen denen Franz sich bewegt, und die ihrerseits wiederum innere Bilder hervorrufen: Ob nach dem Gespräch mit Messys am Beginn seiner Reise (FS, S. 26), nach dem Tod seines Vaters (FS, S. 50) und bei dessen Aufbahrung (FS, S. 51), beim Spaziergang mit dem Bildhauer Bolz im Wald (FS, S. 341) oder bei der Köhlerfamilie, die den beiden Unterkunft für die Nacht bietet (FS, S. 347), immer wieder lösen die äußeren Bilder Ideen für Gemälde in Sternbald aus. Die zum Bild stilisierte Außenwelt spiegelt sich im Innern der Figuren, wie überhaupt der gesamte Roman aus einem Geflecht an Spiegelungen besteht. Während die inneren Bilder eine 394 Schlaffer, Schlaffer, Ästhetischer Historismus, S. 61.

192

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Spiegelung der äußeren darstellen, figurieren die Lieder und Gedichte, die vor allem mit Rudolf Florestan zu einem wichtigen Bestandteil des Romans werden, als lyrische Umsetzungen der Gefühle und Stimmungen der Protagonisten. Doch auch auf der Handlungsebene tauchen immer wieder Spiegelungen auf, die nur teilweise aufgelöst werden und eine enge Verweisstruktur des Romans schaffen. So vermeint Sternbald sich in der Binnenerzählung Florestans vom Ritter, der seine Geliebte anhand eines Portraits sucht und findet, wiederzuerkennen. Er wird recht behalten: Auch er wird am Ende des Romans seine unbekannte Geliebte wiederfinden. „Franz war sehr nachdenkend geworden. Fast alles, was er hörte und sah, bezog er auf sich, und so traf er in dieser Erzählung auch seine eigne Geschichte an.“ (FS, S. 161) Der Umstand, daß Franz alles auf sich selbst bezieht, wird hier als allgemeine Disposition beschrieben, die sich nicht nur bezüglich der Binnenerzählung zeigt, sondern eine spezielle Wahrnehmungsweise Sternbalds darstellt. Doch beschränkt sich diese Wahrnehmungsweise nicht auf Sternbald alleine, sondern wird durch die Struktur des Textes, der mit Bildern und wiederkehrenden Motiven arbeitet, auf den Leser übertragen. So scheint die in der Binnenerzählung enthaltene Szene, in der jener Ritter Ferdinand mit seiner endlich gefundenen Geliebten bei einbrechender Dunkelheit bei einem Eremiten Unterkunft findet, sowohl zurückzuverweisen auf Sternbalds Traum, in dem er zunächst Dürer ein Bildnis seiner unbekannten Geliebten malen sieht und dann in einem finster wirkenden Wald, geleitet durch die Rufe Sebastians und seiner Geliebten, bei einem „Waldbruder“ aufgenommen wird, als auch vorauszuweisen auf Sternbalds tatsächlichen Aufenthalt beim Eremiten Anselm. Alle drei Szenen sind nicht nur durch das Motiv des Eremiten, das Karl Philipp Moritz abschätzig als „Lieblingsmotiv“ der jungen Schwärmer bezeichnet,395 miteinander verbunden, sondern auch durch die (wieder-) gefundene Geliebte – in der Binnenerzählung als reale Person, im Traum als Gemälde Dürers und als Stimme, bei Anselm in Form eines Porträts, sowie durch das Motiv des Malens. Während die Geliebte der Binnenerzählung die Materialisation des gefundenen Porträts darstellt, taucht die Malerei in Form des Gemäldes von Dürer und in Form der Palette und Staffelei, die Franz im Traum beim Eremiten findet und die ihn zu einem Gemälde inspirieren, gleich zweifach auf, bei Anselm wiederum vollzieht sich der umgekehrte Prozeß der Binnenerzählung, indem Franz dort die in die Kunst entmaterialisierte Geliebte, der er schon zweimal real begegnet war, vorfindet. Kurz nach dem soeben erwähnten Traum Sternbalds überläßt 395 Vgl. hierzu Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 136.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

193

sich dieser seiner Phantasie, die ihm die Geliebte in einem „schöne[n], dunkle[n] Lindengang, welcher blühte und den süßesten Duft verbreitete“ (FS, S. 92) zeigt und damit wiederum auf das Ende des Romans vorausdeutet, wo Sternbald Marie in einer Gartenlaube antrifft: „Der Diener empfing ihn und leitete ihn durch angenehme Baumgänge, der Garten war nicht groß, aber voller Obst und Gemüse.“ (FS, S. 398) In der Phantasie wie in der Realität übergibt Franz der Frau die getrockneten Blumen, die als Erkennungszeichen dienen und auf ihre erste Begegnung zurückverweisen, sie küssen sich und gestehen sich ihre Liebe. Doch nicht nur Szenen stehen in einem Verhältnis des Verweises zueinander, immer wieder ergeben sich vermeintliche oder tatsächliche Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Figuren, die manchmal in einem Moment der Anagnorisis aufgelöst werden, oft aber auch als Verdacht oder Rätsel bestehen bleiben. So erkennt Florestan bei einem Dichterwettstreit auf dem Schloß der Gräfin einen Verwandten wieder, was zum versöhnlichen Ausgang des Streites führt, ob die Gräfin nun allerdings die Schwester von Sternbalds Geliebter ist oder eine zufällige Ähnlichkeit zwischen der angeblich verstorbenen Schwester und dem Portrait der Geliebten besteht oder aber das Porträt die Schwester, nicht aber die Geliebte, mit der jene nur eine zufällige Ähnlichkeit hat, darstellt, bleibt bis zum Schluß ungeklärt. Das Porträt steht damit symptomatisch für die Bilder, in denen sich die Welt Franz Sternbald und damit auch dem Leser präsentiert: Original und Ursprung, Bild und Abbild, Kunst und Leben, Realität und Imagination vermischen sich zu einem Labyrinth von Bildern, innerhalb dessen sich der Roman und auch Franz Sternbald bewegen. Damit wird auch der Unterschied zwischen Kunst und Natur obsolet, weil die Natur sich immer als Bild und damit immer als Kunstwerk präsentiert. Als ein Beispiel sei hier Sternbalds erotisches Abenteuer mit Emma genannt. Schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft wird die Begegnung der beiden von Signalen der Kunst begleitet. Der Erzähler berichtet, „Rudolf hatte sich auf seine Art phantastisch geschmückt und glich einer schönen idealischen Figur auf einem Gemälde.“ (FS, S. 269) Die kurz darauf folgende Szene, in der Emma, angestoßen von Sternbald und Florestan, schaukelt, erscheint als Beschreibung des Gemäldes Die Schaukel (1767/68) von Fragonard: Abseits befestigten Franz und Rudolf ein Seil zwischen zwei dicken, nahestehenden Eichen, ein Brett war bald gefunden und die Schaukel fertig. Emma setzte sich furchtsam hinein und flog nun nach dem Takte und Schwunge der Musik im Waldschatten auf und ab. Es war lieblich, wie sie bald höher hinauf in den Wipfel schwankte, bald wieder wie eine Göttin

194

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

herabkam und mit leichter Bewegung einen schönen Zirkel beschrieb. Franz fand sie immer schöner; der Busen war verräterisch halb bloß, die Bewegung der Schaukel entblößte eine zierliche Wade und ein schönes rundes Knie, wenn der Schwung sie etwas höher trieb, entdeckte das lüsterne Auge den runden, weißen Schenkel, sie aber saß ängstlich und unbefangen oben und dachte nicht daran, vorsichtiger zu sein, weil sie zu vorsichtig war und nur den Fall befürchtete. (FS, S. 269f.) Kurz darauf trifft Franz Emma zufällig beim Baden und auch diese Szene wird vom Hinweis auf Gemälde eingeleitet, wenn es heißt: „sein [Sternbalds] Auge verlor sich in die schöne Dunkelheit des dichten Waldes, und ihm fielen allerhand Gemälde ein, auf denen er ähnliche Darstellungen angetroffen hatte.“ (FS, S. 278) Wie einem Gemälde entstiegen wirkt auch Emma, die aus ebendiesem Wald heraustritt, um ein Bad zu nehmen. Ihre Nacktheit erinnert an Darstellungen von Nymphen, der folgende Liebesakt Sternbalds mit ihr fügt sich ein in das Bild einer arkadischen Idylle. Dieser Szene geht ein kurzes Kunstgespräch zwischen Sternbald und Florestan voraus, das durch ein von Franz als frivol empfundenes Lied Florestans ausgelöst wird. Während Franz die Sinne unbedingt dem Verstand unterordnen will, verteidigt Florestan den Wert der Sinnlichkeit für die Kunst: „oh, laß ja die Kunst fahren, wenn dir deine Sinnen nicht lieber sind, denn durch diese allein vermagst du die Rührungen hervorzubringen.“ (FS, S. 277) Mit der Diskussion über den Wert der Sinne und damit der sinnlichen Erkenntnis für die Kunst befindet sich der Kunstdiskurs anachronistisch im 18. Jahrhundert, das die Entdeckung der „unteren Erkenntnisvermögen“ und deren Stellenwert diskutiert. Innerhalb des Kunstgesprächs im 18. Jahrhundert angekommen, wendet sich Florestan sogleich implizit einer der zentralen Figuren der für die Entstehungszeit des Romans zeitgenössischen Kunstdiskussion, Winckelmann, zu, wenn er die Nacktheit als das Höchste in der Kunst und die Kunst der Griechen als Perfektion der Nacktheit ansieht: „Das griechische Altertum verkündigt sich in seinen nackten Figuren am göttlichsten und am menschlichsten. Die Dezenz unseres gemeinen prosaischen Lebens ist in der Kunst unerlaubt, dort in den heiteren, reinen Regionen ist sie ungeziemlich“ (ebd.).396 Der gelebten 396 Vgl. hierzu: Johann Joachim Winckelmann: „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, in: ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hrsg. von Walther Rehm, mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann, Berlin 1968, S. 27–59; insbesondere S. 30, 33 und 37, sowie Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlaß, Band 4.1: Geschichte der Kunst des Altertums, Text: Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776, hrsg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens u.a., Main/Rhein 2009, S. 241: „Die Zeichnung des Nackenden gründet sich auf die Kenntniß und auf Begriffe der Schönheit, und diese Begriffe

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

195

Antike in Form der erotischen Begegnung mit Emma geht ein Gespräch über die Kunst der Antike voraus, die sich zugleich zu verlebendigen und in ein Gemälde überzugehen scheint. Neben die Verweiskraft der Motive und Bilder im Roman, die teilweise intratextuelle, teilweise intertextuelle Bezüge freilegen, tritt die Kunsttheorie sowohl der Renaissance als auch des 18. Jahrhunderts mit ihren verschiedenen Positionen als Text-Topoi innerhalb des labyrinthischen Waldes auf. Dieser enthält nicht nur verschiedene Sichtweisen auf die Natur, die einmal als allegorische Chiffre des christlichen Gottes, dann wieder als locus amoenus der griechischen Antike, als durch die Wahrnehmung des Künstlers geschaffenes Gemälde oder als möglicher Gegenstand für ein Gemälde gesehen wird, sondern auch verschiedene Kunstauffassungen, die von der christlich-allegorischen über die antike bis zu einer im 16. Jahrhundert gerade im Entstehen begriffenen Landschaftsmalerei,397 von der Sicht auf die Kunst als Nachahmung der Natur bis zum Gedanken eines gottgleichen Schöpfer-Künstlers reichen.398 Daß weder ein wahrer Ursprung der Bilder auszumachen ist, noch ein endgültiges Urteil über die richtige Kunstauffassung gefällt wird, zeugt dabei nicht von einer allegorischen Grundstruktur des Romans, wie sie oft herausgestellt wird.399 Das ständige Verschieben des Sinns, die Leerstelle, die an die Stelle der Wahrheit rückt, mag in den Kontext der romantischen Allegorie-Definition passen, diese erscheint aber im Roman nur als eine von vielen möglichen Auffassungen von Kunst. Die Tatsache, daß Sternbald im Laufe des Romans verschiedenen Kunstauffassungen zustimmt und sich damit selbst widerspricht, ist dabei nicht als geistige Unreife oder gar intellektueller Mangel des Protagonisten zu bewerten, sondern im spezifischen Diskurs-Kontext zu sehen. Dieser ist mit der Diskussion um Kunst und Kunsttheorie spätestens seit Kants 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft den der Logik zwar analogen, nicht jedoch zum rationalen Denken gehörenden Bereich der sinnlichen Erkenntnis zuzuordnen. Damit ist er nicht der logischen Wahrheit und Falschheit auf der Basis von rationalen Argumenten unterworfen, sondern der Empfindung und ihrer sinnlichen Wahrheit. Irrt Franz Sternbald auf seiner Reise durch den Wald von einem Topos der Kunsttheorie zum nächsten, so vollzieht er auf der Handlungsebene die Suchbewegung des bestehen theils in Maaße und Verhältnissen, theils in Formen, deren Schönheit der ersten griechischen Künstler Absicht war, wie Cicero sagt: diese bilden die Gestalt, und jene bestimmen die Proportionen.“ 397 Vgl. hierzu Littlejohns, Rutsch in die Fiktion, S. 167f. sowie Müller, Vom Malen erzählen, S. 83ff. 398 Vgl. Japp, Der Weg des Künstlers, S. 45. 399 Zur allegorischen Lesart vgl. Meuthen, Eins und doppelt; Berghahn, Wagnis der Autonomie; Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft; Brecht, Gefährliche Rede, u.v.m.

196

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

discorso, wie ihn Stierle für das Argumentieren allgemein beschreibt. Sternbalds Zustimmung zu einem theoretischen Standpunkt basiert dabei naturgemäß nicht auf einer unumstößlichen Einsicht, sondern auf der momentanen Überzeugungskraft der vorgetragenen Argumente, die er bisweilen vollständig, bisweilen aber auch nur partiell, wie an der Episode mit Anselm gezeigt wurde, anerkennt. Da die Grundlage nicht die rationale Erkenntnis, sondern die sinnliche ist, darf es nicht verwundern, wenn Franz die Rolle der Gefühle in den Vordergrund rückt. Schon zu Beginn stellt er in einem Brief an Sebastian den Zusammenhang von Kunstsinn und Gefühl heraus: „Er [der Menschengeist] kann die Kunst nicht lieben, da er das nicht liebt, was ihn von der Verworrenheit erlöst, denn mit diesem seligen Frieden ist die Kunst verwandt.“ (FS, S.  32) Als im Haus des Antwerpener Kaufmanns Vansen ein Gespräch über Kunst stattfindet, legt Sternbald eine gefühlsbetonte Beziehung zur Kunst an den Tag. Er wendet sich gegen die an die platonische Ablehnung der Künstler erinnernde Haltung eines alten Mannes, der Künstler als im Getriebe des Staates unnütze Glieder und als Lügner ansieht: Nach einer langen und feurigen Rede, die anachronistisch im Gefolge Schillers die Kunst als „Spiel mit Ernst gemischt und Ernst durch Lieblichkeit gemildert“ (FS, S.  176) verteidigt und in ihr die wahre, nicht die bürgerliche Freiheit sieht, „hielt [Franz] eine kleine Weile ein, weil er sich wirklich die Tränen abtrocknete.“ (FS, S. 179) Nicht Einsicht in logische Zusammenhänge, sondern die Überwältigung der Sinne ist hier ausschlaggebend für das Kunsturteil, wie sich an Sternbalds Zustimmung zur Kunstanschauung des Eremiten zeigt: „Franz war vor Erstaunen wie gefesselt, denn dermaßen hatten ihn bis dahin noch keine Worte angeredet; […] so daß wie mit Bannsprüchen seine Seele aus ihrem fernen Hinterhalt hervorgezaubert ward und seine unkenntlichen Ahndungen in anschaulichen Bildern vor ihm schwebten.“ (FS, S. 253) Das Gespräch über Kunst soll „jedermanns Einstimmung“400 erreichen, indem die Eindrücke, welche die Kunst zunächst als verworrene oder dunkle Erkenntnis in den Sinnen erzeugt, derart präsentiert werden, daß sie das Gegenüber zu überzeugen vermögen, obgleich ihnen keine rationalen Argumente zur Verfügung stehen. Es muß also anstelle der Einsicht der ratio eine Zustimmung der Sinne, die beim Anblick von Kunst dieselbe Gefühlserfahrung gemacht haben, erreichen. Was Franz zunächst als produktionsästhetisches Problem der Malerexistenz formuliert, nämlich die Überführung innerer Bilder aus der Imagination auf die Leinwand, die Fixierung dieser Stimmungen in der Materie, wird übertragen auf das Sprechen über 400 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 8, S. 294.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

197

Kunst und das Kunsturteil. Auch hier müssen innere Stimmungen, muß der Eindruck, den ein Kunstgegenstand auf die Sinne gemacht hat und der zunächst vor- und außersprachlich ist, in Sprache überführt werden. Wie die Außenwelt gesellschaftlicher Zwänge von Anfang an im Roman der Künstlerexistenz entgegensteht und eine Materialisierung der inneren Bilder zugleich eine Auslieferung der Kunst an eine ihr fremde Welt ist,401 so bedeutet das Kunsturteil eine Übersetzung der der Logik entgegengesetzten sinnlichen Erkenntnis in das ihr fremde Medium der Sprache, den logos, der als Operator der Vernunft der Kunst eigentlich nicht angemessen ist. Für das Kunsturteil bedeutsam ist folglich der Umstand, daß es Zustimmung und Ablehnung nicht aufgrund immer gültiger logischer Gründe erfährt, sondern auf der Basis von Argumenten, die für die sinnliche Erkenntnis nachvollziehbar sind. Die sinnliche Erkenntnis wiederum verlangt Anschaulichkeit und sinnliche Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit. Diese Anschaulichkeit gehört aber nicht zum Wesen eines Argumentes, sondern hängt maßgeblich von seiner Präsentation ab, von der Fähigkeit des Sprechers, Gefühle und Sinneseindrücke sprachlich zu vermitteln. Daher hat ein ästhetisches Urteil keine unbegrenzte Dauer, wie es das logische Urteil hat, sondern gilt für den Moment des Gesprächs. Ein Konsens über die Kunst muß immer wieder neu erarbeitet werden und gegebenenfalls bei verschiedenen Kunstwerken auch zu verschiedenen Beurteilungen führen. Sternbald formuliert in einem Brief an Sebastian die unablässige Suche als konstitutiv für die Künstlerexistenz: Viele suchen schon gar nicht mehr, und diese sind die Unglücklichsten, denn sie haben die Kunst zu leben verlernt, da das Leben nur darin besteht, immer wieder zu hoffen, immer zu suchen, der Augenblick, wo wir dies aufgeben, sollte der Augenblick unsers Todes sein. […] Ich will daher immer suchen und erwarten, ich will meine Entzückungen und Verehrung der Herrlichkeit in meinem Busen aufbewahren, weil dieser schöne Wahnsinn das schönste Leben ist. Der Vernünftige wird mich immer als

401 Deutlich wird dieser Akt der Auslieferung an ein fremdes Medium im Gefühl der Leere, wenn Franz ein Bild beendet hat, (z.B. FS, S. 91), sowie anhand der Gemälde, die er als Auftragsarbeiten im Dienst einer ökonomischen Macht, sei es des Kaufmanns oder des Klosters, fertigstellt, und die ihm zwar gelingen, ihn aber mit Unbehagen erfüllen. Der Gedanke des Künstlers, der sich schwer von seinem Kunstwerk trennt, taucht bereits in Wackenroders Phantasien über die Kunst auf, vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder: „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst“, in: ders., Werke und Briefe, hrsg. von Gerda Heinrich, München/Wien 1984, S. 249–363; „II: Eine Erzählung, aus einem italienischen Buche“, S. 262–271.

198

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

einen Berauschten betrachten, und mancher wird mir vielleicht furchtsam oder verachtend aus dem Wege gehn. (FS, S. 79) Passend hierzu stellt sich Franz an einer anderen Stelle die Frage, ob mit dem Finden – hier auf Marie, die unbekannte Geliebte, die ihm Ziel seiner Suche und Inspiration seiner Kunst zugleich ist, bezogen – als dem Ende der Suche nicht auch seine künstlerischen Fähigkeiten enden würden („Wenn ich sie [die ferne Geliebte] einst finden sollte, würde dann vielleicht mein Künstlertalent seine Endschaft erreicht haben?“, FS, S. 202). Diesen Gedanken schiebt er zwar sofort als unzutreffend beiseite, doch kann er damit das Paradox eines auf der Suche begründeten Daseins nicht aufheben, das beständig ein Ziel verfolgt, das es jedoch niemals erreichen darf, wenn es sich nicht selbst auslöschen will. Was im Zusammenhang mit Marie zunächst als ein weiterer Topos des Künstlertums erscheint, nämlich der einer fernen Geliebten, wie sie die im Roman sogar eigens erwähnten Minnesänger in die europäische Literatur einführten und Francesco Petrarca mit seiner Laura mehr noch als Dante mit Beatrice zu einem festen Bestandteil der Liebesdichtung machten, bezieht sich aber auf einer autoreferentiellen Ebene auf die Kunst selbst: Die nicht endende Suche ist zugleich die Suche nach dem idealen Kunstwerk, der wahren Kunst. Auf der Metaebene der Kunstkritik, die der Roman hiermit integriert, ist sie zuletzt auch die Suche nach einem Urteil über die Kunst. Hier allerdings ist ein endgültiges Ankommen, wie es das Finden Maries am Ende des Romans zunächst suggeriert, nicht möglich. Beide, das Kunstwerk selbst und das Sprechen darüber, können nie zu einem Endpunkt gelangen, jedes Ankommen ist nur vorläufig, ist Schein und damit ein transitorischer Zustand. Der Roman bezieht damit implizit auch eine Stellung, die die Möglichkeit eines Konsenses in Bezug auf das Kunsturteil zurückweist. Das Kunstgespräch als Spiel, in dem verschiedene Rollen teilweise nur mit dem Ziel der Übung geistiger Fähigkeiten übernommen wurden, führt bereits Heinses Ardinghello vor: Dort wird erklärt, daß manche Aussagen nur aus Lust am Streitgespräch eingenommen werden und daß aus dem Widerspruch ein besonderer Erkenntnisgewinn entstehe. Auch im Franz Sternbald wird das Kunsturteil dezidiert thematisiert, hier steht jedoch der Konsens, den zu erreichen als Utopie erscheint, im Mittelpunkt. Dieser Utopie nähert sich der Roman allerdings von zwei verschiedenen Seiten an: zunächst fällt auf, daß Franz Sternbald widersprüchlichen Kunstauf-

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

199

fassungen recht gibt.402 Der Gedanke, gegensätzliche Meinungen zu vertreten, den Heinses Ardinghello vorführt, wird allerdings insofern verändert, als Franz nicht absichtlich und aus Lust am Spiel verschiedene Auffassungen vertritt, sondern seine Zustimmung oder Ablehnung seiner jeweiligen Stimmung und der Überzeugungskraft des Argumentierenden zuzuschreiben sind. Damit wird das Kunsturteil an seinen Ursprung, die Übersetzung einer Stimmung oder einer sinnlichen Erfahrung in ein sprachlich verfaßtes Urteil, zurückgeführt. Dieser Ursprung ist auch der Grund für den zweiten Aspekt, der das einstimmige Kunsturteil unmöglich erscheinen läßt: da das Kunsturteil auf Gefühlen basiert, kann sich ein Konsens zwar einstellen, er ist aber keineswegs erzwingbar. Die Feststellung Kants, über Geschmack lasse sich nicht disputieren, wohl aber streiten,403 denkt Tiecks Roman insofern zu Ende, als er das Fehlen eines übereinstimmenden Urteils nicht als Mangel auffaßt, sondern als dem Kunsturteil inhärent betrachtet und dadurch zum Relativismus eines Denkens hinführt, das mit der Entdeckung der Historizität nicht nur von Geschichte, sondern auch von Kunstgeschichte am Ende des 18. Jahrhunderts die Gleichberechtigung verschiedener Kunstformen dem präskriptiven Klassizismus entgegenstellt.404 Wenn Florestan die Kunstdebatte zwischen dem Mönch, dem Bildhauer Bolz und Franz Sternbald mit den Worten „Ihr könntet nun wohl Euer Gezänk abbrechen, […] denn Ihr werdet nie über irgend etwas einig werden“ (FS, S. 216) beendet, dann steht dies symptomatisch für den Umgang mit Kunsturteilen im Roman. Damit wird nicht das Gespräch über Kunst als unnötig erachtet, vielmehr ist die Aussage Florestans im Zusammenhang zu sehen mit einer Bemerkung, die am Ende des schon erwähnten Streits zwischen Franz und einem alten Mann bei Vansen steht. Hier sagt der alte Mann, als Franz sich im Nachhinein für seine Heftigkeit im Gespräch entschuldigen will: „Laßt das; […] haben nicht alle Zungen recht und alle unrecht? Jeder trachte darnach, daß er es wahr und redlich mit sich meine, das ist die Hauptsache.“ (FS, S. 180) Es wahr und redlich mit sich selbst zu meinen, bedeutet beim Kunsturteil, den eigenen Empfindungen 402 Vgl. hierzu Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 17: „Tieck kontrastiert die Positionen, um im verbleibenden Leerraum der überblendeten Splitter, die häufig nur momenthaft inhaltliche Tendenzen aufscheinen lassen, den eigentlichen Raum des Romans aufzumachen: Im Oszillieren der Argumente markiert sich die artistisch kaum zu überbietende Neuordnung der Kunst und des Wissens über sie.“ 403 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 56; S. 442. 404 Zum kunsttheoretischen Relativismus des FS vgl. z.B. Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 91, insbes. FN 27; Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 14 und S. 22ff.; Japp, Der Weg des Künstlers, S. 50; Pikulik, Frühromantik, S. 290f. Zur Entstehung eines historischen Bewußtseins am Ende des 18. Jahrhunderts und der damit einhergehenden „Veränderung in der Art zu denken und zu sehen“ vgl. Schlaffer, Schlaffer, Ästhetischer Historismus, Einleitung, insbesondere S. 8–11.

200

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

treu zu bleiben, die eigene sinnliche Erkenntnis nicht anderen zu unterwerfen. Folgerichtig wird kein einziger Wettstreit und kein einziges Kunstgespräch in dem Sinn entschieden, daß eine Meinung als die falsche und eine andere als die richtige, ein Kunstwerk besser als das andere beurteilt werden. Der Sängerwettstreit zwischen Florestan und dem Hofdichter der Gräfin endet damit, daß beide sich als Verwandte erkennen, das Gespräch Sternbalds mit Anselm bricht in dem Moment ab, als verschiedene Auffassungen von allegorischer Kunst aufeinanderzutreffen drohen, weil ein Vogel des Eremiten aus dem Käfig entkommt (FS, S. 258). Ein weiteres Streitgespräch Sternbalds mit Bolz endet damit, daß sich die beiden im Wald verirren und so das Herumirren in Argumenten der Diskussion eine reale Entsprechung erhält (FS, S. 342f.), ein Gespräch zwischen Rustici und Sternbald auf dem Künstlerfest in Florenz, das die Stellung Dürers im Verhältnis zu den zeitgenössischen italienischen Malern diskutiert, bricht Rustici ab. Er läßt ein Pferd kommen, mit dem er das Gemälde einer antiken Szene, den Raub der Deianeira, darstellt und damit den blaß wirkenden Argumenten lebendige Sinneseindrücke folgen läßt (FS, S. 389f.). Auch an anderer Stelle werden Kunstgespräche oder -überlegungen abgebrochen zugunsten der Kunst selbst. Was die Sprache des Verstandes nicht zu leisten vermag, weil sie innerhalb der Aufteilung in untere und obere Erkenntnisvermögen zu den oberen, rationalen zu zählen ist, vermag die Sprache der Kunst eher: die Veranschaulichung eines Gefühls, einer sinnlichen Erkenntnis. Die endlose Bewegung, die generell konstitutiv für den Künstler ist, besteht vor diesem Hintergrund im unabschließbaren Prozeß der Suche nach ästhetischer Wahrheit. Diese Wahrheit ist nun allerdings die Leerstelle, von der die allegorischen Lesarten des Franz Sternbald sprechen: da die ästhetische Wahrheit auf der Vermittlung von Innen- und Außenwelt beruht, auf der Veranschaulichung von inneren Bildern, kann sie nur momenthaft aufscheinen, nicht dauerhaft festgehalten werden.405 Damit setzt sich das Konzept des Franz Sternbald als Künstlerroman dezidiert von dem des Bildungsromans ab: Während die Suche des Bildungsromans auf das Ankommen am Ziel ausgerichtet ist, bildet sie im Künstlerroman das Ziel selbst. Ganz wie die philosophische Lebenspraxis der 405 Vgl. hierzu Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 29f., der für die Texte des „urbanen intellektuellen Feld[es] Berlins um 1800“, zu dem er auch Tieck hinzurechnet, als charakteristisch feststellt: „Wahrheit nicht mehr als repraesentatio zu denken, sondern als Prozess, der unabschließbar und nicht in Ähnlichkeitsrelationen beschreibbar ist, der aus der Produktion entsteht und im Kunstwerk dieses mitten in die Reflexion versetzt, diese poetologische und ästhetische Revolution der Literatur um 1800 lässt sich an den gewählten Momenten ebenso beobachten wie die Entwicklung eines Stil-Begriffs jenseits der (noch in Buffons berühmtem Diktum Le style, c’est l’homme même entscheidenden) normativen Stillehre und jenseits der Genie-Ästhetik der Spätaufklärung.“

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

201

Antike, die den Prozeß des philosophischen Argumentierens als eigentlich philosophisches Leben auffaßt und im Sinne der Eudaimonia das Ziel im Vollzug sieht, ist Zentrum und Ziel des Künstlerromans der Vollzug einer Suchbewegung, die niemals zum Stillstand kommen kann und darf. Während im Bildungsroman der Protagonist sich auf der Suche nach der richtigen Lebensweise befindet und sich folglich im Laufe des Romans verändern muß, um zu ihr zu finden, soll der Protagonist des Künstlerromans nicht anders werden, will Franz Sternbald der bleiben, der er war. Seine Suche ist die nach der richtigen Ausdrucksweise, die mit jedem neuen Kunstwerk neu erfolgen muß. Franz Sternbald möchte sich nicht ändern, sondern entfalten. Deshalb erweist sich das anfangs naiv wirkende Versprechen Sternbalds, er werde sich auf der Reise nach Italien nicht ändern („O Sebastian“, sagte Franz, „mag die ganze Welt klug und überklug werden, ich will immer ein Kind bleiben.“, FS, S. 19), als wichtiges Merkmal des Romans und als dezidierte Absage an das Ideal des Bildungsromans. Als Franz von seinem Heimatdorf abreist, drückt er sich konkreter aus: Aber alle Menschen sind so abgetrieben, so von Mühseligkeiten, Neid, Eigennutz, Planen, Sorgen verfolgt, daß sie gar nicht das Herz haben, die Kunst und Poesie, den Himmel und die Natur als etwas Göttliches anzusehn. In ihre Brust kömmt selbst die Andacht nur mit Erdensorgen vermischt, und indem sie glauben, klüger und besser zu werden, vertauschen sie nur eine Jämmerlichkeit mit der andern. (FS, S. 77) Daß Franz Sternbald damit dem gängigen Ideal der Bildung widerspricht, wie sie der Bildungsroman spätestens seit Wilhelm Meister vorschreibt, reflektiert Sternbald wiederum anachronistisch: auf der Schiffahrt nach Antwerpen findet er Gefallen an einem schönen jungen Mann, Florestan, und begründet seine Bevorzugung Jüngerer damit, daß er die Meinungen der Älteren meist nicht teile und diese außerdem „zuweilen mit einem gewissen Mitleiden, mit einer tyrannisierenden Duldung auf ihn hinabblickten, als wenn er endlich allen diesen Gefühlen und Stürmen vorüberschiffen müßte, um in ihr ruhiges, kaltes Land festen Fuß zu fassen.“ (FS, S. 136). Diesem Ziel der Reifung durch Integration in das Leben der Gesellschaft widersetzt sich Sternbald konsequent und formuliert dies in einem weiteren Brief an Sebastian: „So will ich mich denn der Zeit und mir selber überlassen.“ (FS, S. 200), und auch Ludoviko entzieht sich dem Bildungsideal, indem er rät: „Nein, mein Roderigo, hüte dich vor dem Anderswer-

202

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

den, denn an den meisten Menschen ist die Jugend noch das Beste, und was ich habe, ist mir auf jeden Fall lieber, als was ich erst bekommen soll.“ (FS, S. 309f.) Die Struktur des Romans kann folglich nicht die einer linearen Bildung sein, sondern vollzieht sich als Suchbewegung zwischen zwei Polen, die auf der Handlungsebene durch Deutschland und Italien markiert werden, auf der Diskursebene der Kunsttheorie durch die mittelatlerlich-allegorische Kunstauffassung und die Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance. Die Bewegung dieser Suche schlägt niemals eine bestimmte Richtung ein, weil sie sich zwischen als gleichberechtigt angesehenen Meinungen abspielt, deren Wahrheit von subjektiven Kriterien abhängt. Die Bilder, aus denen der labyrinthische Ort der Suche besteht, lassen ihrerseits keinen Ursprung erkennen, ihre permanente Spiegelung und Überblendung machen eine gültige Entzifferung unmöglich. Diesem unabschließbaren Prozeß, der konstitutiv für die künstlerische Existenz ist, stellt der Roman jedoch auch das absolut Andere der Bewegung, die Ankunft und damit den Stillstand der Suche, entgegen. Anders als bei Heinse mit der Figur des Ardinghello, der selbst die Gleichzeitigkeit der Pole repräsentiert und als uomo universale Sinnlichkeit und Verstand in sich vereint, findet die Suche ihr Ende nicht in der Figur des Künstlers, sondern in seinem Erleben. Der endlosen Suche wird das Ankommen in Form eines mystischen Erlebnisses entgegengesetzt. Es vollzieht sich für Sternbald in kurzer zeitlicher Folge im Bereich der Kunst vor Michelangelos Fresko und im Bereich des Lebens beim Aufeinandertreffen mit Marie und umfaßt somit die beiden oft als getrennt gesehenen Bereiche Kunst und Leben gleichermaßen. Dabei wird das Betrachten des Jüngsten Gerichts von Michelangelo als eine Schau im religiösen Sinn inszeniert und die Wirkung des Kunstwerks mit der des Erhabenen gleichgesetzt: „In der ruhigen Einsamkeit schaute Sternbald das erhabene Gedicht mit demütigen Augen an. Die großen Gestalten schienen sich von oben herab zu bewegen, das gewaltige Entsetzen des Augenblicks bemächtigte sich auch seiner.“ (FS, S. 396) In dieser unio fühlt sich nicht nur Sternbald „innerlich neu verändert, neu geschaffen, noch nie war die Kunst so mit Heeresmacht auf ihn zugekommen“ (FS, S. 397), sie verbindet auch die als Spannungsfeld des Romans identifizierten Pole in einer sich der sinnlichen Erkenntnis unmittelbar offenbarenden Synthese: Im Jüngsten Gericht Michelangelos präsentiert sich dem Betrachter die Perfektion der Malerei der italienischen Renaissance, als deren Vollender schon bei Vasari Michelangelo gilt, mit einem christlichen Gegenstand, der dem Urteil Dürers und der allegorisch-mittelalterlichen Kunstauffassung zufolge der einzig würdige ist. Dies ist besonders auffallend dadurch, daß Franz bei seinem Italienaufenthalt zuvor nur weltliche oder antike

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

203

Motive betrachtet hatte, die Kunst der italienischen Renaissance also als eine säkularisierte oder gar heidnische aufgetreten war. So schreibt er an Sebastian über Correggios „Leda“ (FS, S. 369) und begleitet seine Betrachtungen der Kunst ausschließlich mit Metaphern aus der griechischen Mythologie, wenn er den Betrachter der Kunstwerke Correggios mit Mars gleichsetzt: er sei wie unter dem Netz des Vulkans gefangen und dadurch immer enger an Venus geschmiegt (FS, S. 371). Die christlichen Motive Dürers und die Sinnlichkeit Correggios gehen in Michelangelo also erstmals eine Symbiose ein und kennzeichnen das Werk des Künstlers, der als „göttlich“406 gilt. Damit wird klar, daß trotz des christlichen Motivs keinesfalls von einer Rückkehr zur Kunst des Mittelalters und nach Deutschland gesprochen werden kann: Die Offenbarung, die sich für Sternbald angesichts des Gemäldes in der Sixtinischen Kapelle vollzieht, ist keine Rückkehr zum Gott der Christen nach Ausschweifungen mit antikischem Anstrich, sondern eine Aufhebung der Gegensätze von Mittelalter und Antike, spiritueller Liebe und sinnlicher in der Kunst, dessen Schöpfer, der Künstler, als neuer Gott erscheint. Bezeichnenderweise ist es die Kunst, die Sternbald „mit Heeresmacht“ auf sich zukommen sieht, und seine Abkehr vom bisherigen Leben der sinnlichen Ausschweifung ist auch nicht durch moralische Bedenken motiviert, sondern soll zugleich eine Hinwendung zur Kunst sein. Die Leerstelle im Roman wird im momenthaften mystischen Erlebnis durch die Kunst ausgefüllt. So, wie die Natur als Chiffre des christlichen Gottes aufgefaßt wird (FS, S. 249–253), ist das einzelne Kunstwerk Chiffre des schaffenden Künstlers, der in ihr das Geheimnis seiner inneren Bilder und Empfindungen offenbaren will. Die Kunst, die immer nur sich selbst erklärt („Die höchste Kunst kann sich nur selbst erklären, sie ist ein Gesang, deren Inhalt nur sie selbst zu sein vermag“, FS, S. 250), kann somit nicht nahtlos in eine allegorische Lesart des Romans eingegliedert werden, die Natur und Kunst als Äußerungsformen einer höheren Macht betrachtet. Ganz im Gegenteil erscheint die Natur selbst nur als Kunstwerk, als eines der vielen Bilder, die die Welt des Romans konstituieren. Verbleibt der Ursprung der Bilder nicht zuletzt durch die vielen Spiegelungen und Verweise zunächst unklar, werden sie angesichts der Fresken in der Sixtinischen Kapelle einem einzigen Schöpfer zugeschrieben: dem Künstler. Wie Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle die ganze Welt von der Erschaffung bis zum Jüngsten Gericht als seine Schöpfung zur Darstellung bringt, so besteht die Welt des Romans aus den Bildern des Franz 406 Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Malerei und Skulptur feiert Vasari Michelangelo als den größten Künstler, der in beiden Künsten und auch in der Architektur als „göttlich“ bezeichnet wird. Vgl. Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie, S. 40.

204

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Sternbald, der jene somit hervorgebracht hat. Die Frage, ob Ähnlichkeiten und Bezüge der Figuren oder Episoden untereinander real oder nur eingebildet sind, wird vor diesem Hintergrund obsolet, weil vor dem Auge des Künstlers alle Bilder gleichberechtigt sind, die Imagination nicht nach deren Ursprung fragt. Solchermaßen zum Schöpfer ermächtigt, gelingt es Franz auch endlich, das Bild der unbekannten Geliebten in der Realität zu finden, dem mystischen Erlebnis angesichts eines als unübertrefflich geltenden Kunstwerks folgt die Vereinigung der Liebenden. Franz hat somit Marie und die Kunst, die sie repräsentieren soll, gleichzeitig gefunden. Die Ankunft am Ziel der Suche ist hier wie dort durch das Erleben und Empfinden gekennzeichnet, das dem Raisonnement überlegen ist. Dieses wird kurz zuvor durch Castellani repräsentiert, der in einer Art Überblendung von antiker Philosophenschule und aufklärerischem Gesprächszirkel eine „Akademie“ aus Kunstfreunden und Künstlern um sich versammelt, die sich regelmäßig in seinem Haus treffen. Sternbald, der Castellanis Kunstwissen schätzt, möchte in diesen Gesprächsrunden viel lernen, stellt aber zugleich fest, daß dessen Denkweise zu seiner eigenen im Widerspruch steht: „Sternbald gewöhnte sich mit einiger Überwindung an seine [Castellanis] Art zu denken, er zwang sich, nicht heftig zu sein, nicht seine Gefühle sprechen zu lassen, wenn sein Verstand und sein Urteil in Anspruch genommen wurden.“ (FS, S. 393) Der Roman entfernt sich so von den zur Handlung zeitgenössischen Diskussionen um das Kunsturteil, für welche diese Gegenüberstellung von Gefühl und Verstand im Kunstdiskurs kein Problem dargestellt hatte, und klassifiziert das Kunsturteil als eine Arbeit des Verstandes. Hiermit stellt er sich gegen die Einteilung des 18. Jahrhunderts, das mit Kant das Kunsturteil als eine eigene Art des Urteils neben das Vernunfturteil stellt oder mit Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen die ästhetischen Vermögen des Menschen als Zwischenglied zwischen dem Bereich der Sinne und dem der Vernunft betrachtet.407 Die Einordnung des Kunsturteils in den Geltungsbereich des Verstandes zeigt dieses als der Kunst, die dem Bereich der sinnlichen Erkenntnis angehört, äußerlich und damit potentiell unangemessen. Wenn Franz, um im Zirkel um Castellani mitreden zu können, seine Gefühle und Empfindungen unterdrücken muß, dann unterdrückt er diejenigen Vermögen des Menschen, die zuallererst für die Rezeption von Kunst zuständig sind. Tieck legt damit eine Tendenz der Aufklärung bloß, alles der Vorherrschaft der Vernunft zu unterwerfen ohne Ansehung des Gegenstands und ohne nach der 407 Vgl. Schiller, Ästhetische Erziehung, 14. Brief (S. 611–614) sowie 24. Brief (S. 645–651).

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

205

Angemessenheit des Beurteilungsmaßstabs zu fragen. Das Paradox eines Kunsturteils, das zwar auf der sinnlichen Erkenntnis und damit auf dem individuellen Gefühl basiert, dennoch aber nicht nur die allgemeine Beistimmung, wie Kant sie als Ziel formuliert, erreichen möchte, sondern die eigenen Werte als allgemeingültig festsetzen will, formuliert bereits Wackenroder in den mit Tieck verfaßten Herzensergießungen. Hier heißt es in „Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst“: Sie [die Menschen] zanken miteinander, und verstehen sich nicht, und sehen nicht, daß sie alle nach demselben Ziele eilen, weil jeder mit festem Fuß auf seinem Standort stehenbleibt, und seine Augen nicht über das Ganze zu erheben weiß. Blöden Menschen ist es nicht begreiflich, daß es auf unserer Erdkugel Antipoden gebe, und daß sie selber Antipoden sind. Sie denken sich den Ort, wo sie stehen, immer als den Schwerpunkt des Ganzen, – und ihrem Geiste mangeln die Schwingen, das ganze Erdenrund zu umfliegen, und das in sich selbst gegründete Ganze mit einem Blicke zu umspielen. Und so betrachten sie ihr Gefühl als das Zentrum alles Schönen in der Kunst, und sprechen, wie vom Richterstuhle, über alles das entscheidende Urteil ab, ohne zu bedenken, daß sie niemand zu Richtern gesetzt hat, und daß diejenigen, die von ihnen verurteilt sind, sich ebensowohl dazu aufwerfen könnten.408 Wackenroder plädiert für eine Sicht auf die Künstler und ihre Kunstwerke, die den Eigenwert jedes Kunstwerks würdigt: „Die romantische Kunsthermeneutik Wackenroders spielt die großen Künstler der Renaissance nicht gegeneinander aus, sondern versucht, die je eigene Vollendung eines jeden zu würdigen.“409 Dieser Gedanke der Toleranz und der Gleichberechtigung der verschiedenen Urteile über Kunstwerke ist auch in Tiecks Franz Sternbald vorherrschend. Indem der Roman implizit den Vorwurf der Intoleranz Castellani gegenüber erhebt, trifft Tieck zugleich auch eine Aussage über die Kunstdiskussionen des 18. Jahrhunderts, namentlich über Lessing, dessen Laokoon-Schrift in den Ausführungen Castellanis unschwer wiederzuerkennen ist. Wenn Castellani ausführt: „Jede 408 Wilhelm Heinrich Wackenroder: „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, in: ders., Werke und Briefe, hrsg. von Gerda Heinrich, München/Wien 1984, S. 139–247; S. 179. 409 Silvio Vietta: „Vom Renaissance-Ideal zur deutschen Ideologie: Wilhelm Heinrich Wackenroder und seine Rezeptionsgeschichte“, in: ders. (Hrsg.), Romantik und Renaissance, a.a.O., S. 140–162; S. 146.

206

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Kunst hat ihr eigentümliches Gebiet, ihre Grenzen, über die sie nicht hinausschreiten darf, ohne sich zu versündigen. So die Poesie, Musik, Skulptur und Malerei. Keiner muß in das Gebiet des andern streifen, jeder Künstler muß seine Heimat kennen.“ (FS, S. 393), dann fügt sich diese Bemerkung in das im Roman diskutierte Thema ein: Sternbald hatte Castellani soeben darauf angesprochen, daß dieser als einer der wenigen Michelangelos „Jüngstes Gericht nicht für den Triumph der Kunst halte“ (ebd.). Castellani bringt zunächst Argumente hervor, die ein historisches Bewußtsein bezeugen, wenn er zu bedenken gibt, man dürfe eine solche Auszeichnung in Anbetracht der vielleicht noch kommenden Künstler nicht voreilig treffen. Doch was sich anfangs als überlegter Relativismus gegen das dreigliedrige Geschichtsmodell Vasaris stellt, der in der Renaissance die Wiedergeburt der antiken Perfektion und in Michelangelo den Vollender dieser Wiedergeburt sieht,410 erscheint im nächsten Moment als aufklärerische Einschränkung der Künste auf ein von außen festgelegtes Gebiet im Sinne Lessings, der die Eingrenzung dieses Gebiets bereits im Titel des ersten Teils seiner Geschichte der Kunst, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie411, als Programm der Schrift ausweist und in der Vorrede als Aufgabe des Kunstrichters vorstellt: Ein dritter, welcher über den Wert und die Verteilung dieser allgemeinen Regeln nachdachte, bemerkte, daß einige mehr in die Malerei, andere mehr in der Poesie herrschten; daß also bei diesen die Poesie der Malerei, bei jenen die Malerei der Poesie mit Erläuterungen und Beispielen aushelfen könne. […] Das dritte [war] der Kunstrichter.412

410 Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie, S. 55 und S. 79 sowie insbesondere S. 99–103. 411 Gotthold Ephraim Lessing: „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders., Werke in drei Bänden. Band III: Geschichte der Kunst, Theologie, Philosophie, hrsg. von Herbert Göpfert, München 2003, S. 9–188. 412 Ebd., S. 10. Die Überzeugung, mit der Lessing seine eigenen Gedanken argumentativ darlegt, ist zwar notwendig, wenn die eigenen Empfindungen anderen dargestellt werden müssen, um deren Zustimmung zu erhalten. Lessings abfällige Äußerungen über andere „Kunstrichter“ rücken ihn allerdings in die Reihe der intoleranten Zeitgenossen, die Wackenroder verurteilt: „Von der Ähnlichkeit, welche die Poesie und Malerei mit einander haben, macht sich Spence die allerseltsamsten Begriffe. Er glaubet daß beide Künste bei den Alten so genau verbunden waren, daß sie beständig Hand und Hand gegangen, und der Dichter nie den Maler, der Maler nie den Dichter aus den Augen verloren habe. Daß die Poesie die weitere Kunst ist; daß ihr Schönheiten zu Gebote stehen, welche die Malerei nicht zu erreichen vermag; daß sie öfters Ursachen haben kann, die unmalerischen Schönheiten den malerischen vor zu ziehen: daran scheinet er gar nicht gedacht zu haben, und ist daher bei dem geringsten Unterschiede, den er unter den alten Dichtern und Artisten bemerkt, in einer Verlegenheit, die ihn auf die wunderlichsten Ausflüchte von der Welt bringt.“ (ebd., S. 69)

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

207

Worauf Castellani seine Befähigung zum Kunstrichter gründet, bleibt im Franz Sternbald unklar, da Sternbald ihn lediglich als „verständige[n] Mann, der die Kunst über alles liebt,“ (FS, S. 372) bezeichnet und später lediglich mit den Worten charakterisiert: „Castellani war ein großer Freund der Kunst, er studierte sie unablässig und schrieb darüber, sprach auch viel mit seinen Freunden.“ (FS, S. 391) Mit seinem Studium der Kunst und seinen Schriften und Gesprächen erscheint er eher als Gelehrter denn als Künstler, und aus der der Kunst äußerlichen Warte des Gelehrten urteilt er auch über sie, indem er allgemeine Regeln aufstellt, die auf alle Kunstwerke gleichermaßen anwendbar sein sollen. So urteilt er über Michelangelo, indem er ihm vorwirft, die Kunst mehr zurückgeworfen als vorangebracht zu haben, indem er gegen alle Erfordernisse eines guten Kunstwerks gesündigt hat. Was will die richtige Zeichnung seiner einzelnen Figuren, wenn seine Gemälde selbst so gar nichts sind? Sein Jüngstes Gericht ist eine ungeheure Wand voller Figuren in mannigfaltigen Stellungen, aber ohne alle Verbindung, ohne Wirkung. Der Zweck seiner Darstellung ist ohne Schönheit, eine Handlung, die keine ist, die sich nicht anschauen, nicht darstellen läßt, die sich selbst nicht in der Erzählung vortragen läßt: es sind tausend Begebenheiten, die sich durchaus nicht zu einer einzigen verbinden lassen. (FS, S. 394f.) Dieses Urteil legt die Forderung nach Einheit in der Mannigfaltigkeit, die Baumgarten, Schiller und andere Autoren des 18. Jahrhunderts formulieren, in einer allzu rigorosen Weise aus und spielt zugleich an auf die von Lessing vertretene Meinung, die Dichtung stehe über der Malerei, da sie Zeitlichkeit darzustellen vermöge und damit den Mangel an Anschaulichkeit, die die Stärke der Kunst ist, vielfach ausgleiche.413 Damit macht sich Castellani dessen schuldig, was Tieck in der Vorrede zu den Herzensergießungen für einige zeitgenössische Kritiker des

413 Vgl. ebd.: „Nichts nötiget hiernächst den Dichter sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft.“ (S. 30) und später in Bezug auf die Darstellung der durch Apoll ausgelösten Pest bei Homer und einer malerischen Repräsentation derselben Stelle: „So weit das Leben über das Gemälde ist, so weit ist der Dichter hier über den Maler. […] Es ist unmöglich die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen, in eine andere Sprache überzutragen. Es ist eben so unmöglich, sie aus dem materiellen Gemälde zu vermuten, ob sie schon nur der allerkleineste Vorzug ist, den das poetische Gemälde vor selbigem hat. Der Hauptvorzug ist dieser, daß uns der Dichter zu dem, was das materielle Gemälde aus ihm zeiget, durch eine ganze Galerie von Gemälden führet.“ (S. 98)

208

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

18. Jahrhunderts feststellt, die er, wie im Franz Sternbald Castellani, als „Kunstfreunde“ bezeichnet: Ich konnte es nie dahin bringen, – ja ein solcher Gedanke würde mir gottlos vorgekommen sein, – an meinen auserwählten Lieblingen das Gute von dem sogenannten Schlechten zu sondern, und sie am Ende alle in eine Reihe zu stellen, um sie mit einem kalten, kritisierenden Blicke zu betrachten, wie es junge Künstler und sogenannte Kunstfreunde wohl jetzt zu machen pflegen.414 Sternbald äußert sich einer solchen Haltung gegenüber wenig verständnisvoll: Ob es meine Unerfahrenheit oder meine Vorliebe für das Alter macht, ich sehe selten ein ganz schlechtes Bild; ehe ich die Fehler entdecke, sehe ich immer die Vorzüge an jedem. Ich habe gemeiniglich bei jungen Künstlern die entgegengesetzte Gemütsart gefunden, und sie wissen sich immer recht viel mit ihrem Tadel. Ich habe eine fromme Ehrfurcht vor unsern treuherzigen Vorfahren, die zuweilen recht schöne und erhabene Gedanken mit so wenigen Umständen ausgedrückt haben. (FS, S. 83f.) Solche Kritiker sind es, die in den Augen Tiecks „das Kunstgeheimnis einer gänzlich säkularisierten und trivialisierten Aufklärung unterwerfe[n].“415 Das Urteil Castellanis entstammt einem Sprechen über Kunst, das sich in dem schon bei Baumgarten der Ästhetik mit auf den Weg gegebenen Versuch, die sinnliche Erkenntnis als analogon rationis zu behaupten, den nivellierenden Regeln des Verstandes unterworfen und damit die Sinnlichkeit als Basis verloren hat. Es nähert sich der Kunst nicht auf der Grundlage der Empfindung, die die Kunst im Rezipienten auszulösen vermag, sondern bemißt diese an Regeln, die der Verstand vorgibt. Bei einer derart verstandesgeleiteten Annäherung an die Kunst hat die Begeisterung, die sowohl im Kunstschaffenden, wie auch im Kunstschauenden Voraussetzung des Kunstgenusses ist, keinen Platz: „Was soll ich aber genießen und fühlen, wenn die Ausführung auch gar keinen Tadel verdiente?“ (FS, S. 395) fragt Castellani am Ende seiner Ausführungen gegen Michelangelo. Dieser Auffassung entgegengesetzt ist das Kunstverständnis Camillos, der kurz 414 Wackenroder, Herzensergießungen, S. 141. 415 Vietta, Vom Renaissance-Ideal zur deutschen Ideologie, S. 145.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

209

zuvor als Greis und als Verrückter vorgestellt wurde (FS, S. 392). Wie Sternbald es bis zu seiner Aufnahme in den Kreis um Castellani bei Streitgesprächen zu tun pflegte, so mischt sich auch jener „mit dem höchsten Unwillen“ (FS, S. 395) in das Gespräch ein und verläßt „im Zorne den Saal“ (ebd.). Sein Urteil über Michel­ angelo spricht die Sprache der sinnlichen Erkenntnis, wenn es das Ent­zücken, das das Kunstwerk auslöst, die Herrlichkeit der Kunst und die Erhabenheit des Künstlers nennt und schließlich in einer Apotheose des Künstlers schließt: Ihr glaubt die Kunst zu ergründen und ergründet nur Eure Engherzigkeit, nach dieser soll sich der Geist Gottes richten, der jene erhabene Ebenbilder des Schöpfers beseelt. Ihr lästert der Kunst, wenn Ihr sie erhebt, sie ist nur ein Spiel Eurer nichtigen Eitelkeit. Wie der Allmächtige den Sünder duldet, so erlaubt auch Angelos Größe, seine unsterblichen Werke, seine Riesengestalten dulden es, daß Ihr so von ihnen sprechen dürft, und beides ist wunderbar. (ebd.) Das Kunsturteil wird damit wieder an seinen Ursprung, an die nicht-sprachliche Sinnlichkeit, herangeführt, und der Absolutheit des aufklärerischen Rationalismus, der sich des Kunstdiskurses zu bemächtigen droht, entzogen. Das mystische Erlebnis Sternbalds in der Sixtinischen Kapelle ist deshalb auch von Sprachlosigkeit begleitet. Sternbald verfolgt Camillo, der die Gruppe verlassen hat, um ihn seiner Zustimmung zu versichern. Camillo entgegnet ihm mit einer allgemeinen Absage an Diskussionen über Kunst und mit der Einsicht in die Unvermittelbarkeit von sich widersprechenden Kunsturteilen: „‚Ich war ein Tor,‘ sagte der Greis, ‚daß ich mich wieder, wie mir oft geschieht, von meiner Hitze übereilen ließ. Wozu Worte? Wer versteht die Rede des andern?‘“ (FS, S. 396) Ohne weitere Worte oder Erklärungen führt er Sternbald vor das Jüngste Gericht und geht, Sternbald läßt wortlos und „in der ruhigen Einsamkeit“ (ebd.) das Gemälde Michelangelos auf sich wirken. Die Epiphanie der Kunst416 und die damit einhergehende Synthese der sich widersprechenden Meinungen und Kunstauffassungen kann nur momenthaft stattfinden und ist als Moment intensivsten Erlebens mit Sprachlosigkeit verbunden. Sie wiederholt sich im Moment der Vereinigung mit Marie: „Franz zitterte, er konnte die Sprache nicht wiederfinden, die Stunde, die er so oft als die seligste seines Lebens herbeigewünscht hatte, 416 Vgl. hierzu Ahrend, der das Aufhängen des Altarbildes, die Begegnung mit der unbekannten Geliebten kurz danach sowie die Landschaft beim Aufstieg zum Eremiten als drei Epiphanien der Kunst deutet (Ahrend, Verschlungene Lineaturen, S. 98 und 104).

210

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

überraschte ihn zu unerwartet.“ (FS, S. 398) Diese Synthese, die als Zusammenfallen der Widersprüche im Erleben die Regeln der Logik außer Kraft setzt, ist das eigentliche Ziel des künstlerischen Daseins, „dessen Ganzheit sich nur in epiphanischen Momenten sehnsüchtigen Liebens oder ekstatischer Begeisterung einstellt.“417 Sie ist als dialektische Synthese der Pole, zwischen denen sich der Roman bewegt, eine Ankunft auf einer höheren Stufe, die aber für den Künstler immer momenthaft bleiben muß. Sie entspricht der „schwebenden Synthese“, die Friedrich Schlegel „als nur bedingt gültige[n] Fixpunkt einer unendlichen Reflexion entwirft.“418 Ein Verharren in ihr würde einen Stillstand bedeuten, der die künstlerische Produktion lähmt. Symbolisch für diese Lähmung im Moment der Ankunft steht die Sprachlosigkeit, die, wie Camillo zeigt, als ‚das Andere‘ der Vernunft Voraussetzung der Epiphanie, zugleich aber, wie das Zusammentreffen mit Marie deutlich macht, deren Folge ist. Erst nach dem Besuch in der Sixtinischen Kapelle beschließt Franz, sich der Kunst ernsthaft zu widmen, und erst nachdem er Marie wieder verlassen hat und in seine Kammer zurückgekehrt ist, findet er zur Sprache zurück und überführt seine Empfindungen in ein Kunstwerk, das Gedicht, mit dem der Roman endet. Die unio als mystisches Erlebnis wird zu einem Moment der Inspiration, die mit ihren Wurzeln in der griechischen Antike nicht zu einem christlichen Begriff von Kunst führt, sondern über diese beiden Pole von Sinnlichkeit und Transzendenz zu einem über beide hinausweisenden Begriff von Kunst als mystischer und vom Künstlertum als schöpfender Partizipation an deren Welt. Die scheinbare Abgeschlossenheit des Romans wird weniger durch Tiecks Verweis auf eine Fortsetzung unterlaufen,419 als durch die Momenthaftigkeit der 417 Ebd., S. 107. 418 Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 32. Vgl. hierzu auch Friedrich Schlegel: „Über das Studium der griechischen Poesie“, in: ders., Kritische Schriften, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, München 3 1971, S. 121f: „Es springt in die Augen, daß die moderne Poesie das Ziel, nach welchem sie strebt, entweder noch nicht erreicht hat, oder daß ihr Streben überhaupt kein festes Ziel, ihre Bildung keine bestimmte Richtung, die Masse ihrer Geschichte keinen gesetzmäßigen Zusammenhang, das Ganze keine Einheit hat.“ Kurz zuvor führt Schlegel aus, „daß das Interessante [als dem Objektiven der antiken Kunst entgegensetzte Zuschreibung der subjektiven Poesie der Moderne], als die notwendige Vorbereitung zur unendlichen Perfektibilität der ästhetischen Anlage, ästhetisch erlaubt sei. Denn der ästhetische Imperativ ist absolut, und da er nie vollkommen erfüllt werden kann, so muß er wenigstens durch die endlose Annäherung der künstlichen Bildung immer mehr erreicht werden.“ (ebd., S. 119) 419 Für die Interpretation des vorliegenden Romans ist die Spekulation über dessen Fortführung nicht nötig, teilweise sogar irreführend. So z.B. die Interpretation des Romans als Rückkehr zur Kunst Dürers mit Verweis auf das geplante Ende des Romans an Dürers Grab, vgl. Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Dokumente und zeitgenössische Urteile, S. 501. Diese Lesart läßt außer Acht, daß eine Rückkehr zu Dürer schon alleine aufgrund von dessen Ableben nicht möglich ist und außerdem eine Vereinigung der deutschen und italienischen Weggefährten Sternbalds an Dürers Grab vorgesehen war. Auch der Hinweis, Tieck habe den Roman nicht zu Ende führen

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

211

Ankunft. Von dieser Synthese unverändert bleibt das Problem des Künstlers, zwischen inneren Bildern und äußerer Materialität gleichsam übersetzen zu müssen, ja, es wird sogar verschärft durch den Hinweis darauf, daß sich das wahre künstlerische Erleben jenseits der Sprache, also jenseits jeglicher Vermittelbarkeit (sei es sprachlich-dichterischer oder malerischer Natur) abspielt. Der Prozeß der labyrinthischen Suche nach der geeigneten Darstellungsform und dem richtigen Urteil bleibt unweigerlich weiterhin im Zentrum der künstlerischen Existenz. Doch während Heinse in seinem Protagonisten die gelebte Synthese von Verstand und Sinnlichkeit und damit auch eine gelungene Künstlerexistenz in der fortwährenden Versprachlichung sowohl von Kunsturteilen als auch von Kunstbeschreibungen vorführt, teilt Tieck diese Utopie zehn Jahre später nicht mehr. Der unabschließbaren Suche nach einer Vermittlung von inneren und äußeren Bildern und von sich widersprechenden Kunsturteilen, die auch für Franz Sternbalds Dasein als Künstler konstitutiv ist, stellt der Roman am Ende das Entgegengesetzte an die Seite: den absoluten Stillstand im ekstatischen Erleben. Statt der Ankunft in einer diesseitigen Utopie, wie sie Ardinghello vorführt, zeigt Franz Sternbald die Epiphanie einer transzendenten Kunst, die sich dem Künstler nur in seltenen Momenten offenbart und somit ewig Gegenstand seiner Suche bleiben muß. Hier wie dort ist das Ziel der Vollzug, bei Heinse jedoch der Vollzug des Sprechens, bei Tieck der Vollzug einer Suche. Beide Romane entsprechen dabei auf ihre je eigene Weise nicht dem Ideal des Bildungsromans, weil sie an die Stelle der Integration in die Gesellschaft die Behauptung eines Standpunktes außerhalb derselben setzen und der Weiterentwicklung und Formung der Person durch einen externen Bildungsbegriff die Entfaltung der inneren Anlagen entgegenstellen. Die Entfaltung der inneren Anlagen kann auch in Franz Sternbald nur diskursiv erfolgen: In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Kunstauffassungen, mit verschiedenen Lebensformen, die im Gespräch stattfindet. Und so präsentiert sich Franz Sternbald auch als unablässiges Sprechen in Form von Dialogen, aber auch Monologen und Briefen. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, daß die Gespräche im Roman meist nicht dem Ideal einer Kommunikation und damit Verständigung zwischen den Gesprächspartnern entsprechen. Daß Sternbald gerade den seinen eigenen widersprechenden Kunstauffassungen bisweilen können, weil die Synthese von Nord und Süd, Mittelalter und Renaissance nicht möglich sei, erscheint mir wenig plausibel und für das Verständnis des vorliegenden Textes wenig ertragreich – vgl. Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Nachwort, S. 564ff.; Littlejohns, Rutsch in die Fiktion, S. 175; Mayer, Bildungsroman, S. 75f.; Mahoney, Roman der Goethezeit, S. 82f.

212

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

recht gibt, ohne dies so zu meinen, wurde als Moment mißglückter Kommunikation bereits erwähnt. Hierzu passen die resignativen Feststellungen, es sei im Gespräch ja doch kein Konsens zu erzielen. Vor dem Hintergrund der vielen Monologe und Briefe, die meist keine direkte Antwort auf die darin formulierten Meinungen erhalten, ergibt sich das Bild eines um sich selbst kreisenden Sprechens, das analog zu den sich spiegelnden Bildern eine Welt konstituiert, die, in sich geschlossen, keine Korrektur von außen zuläßt. Sie ähnelt hierin der Kunst, die „nur sich selbst erklären kann“ (FS, S. 250), und ist damit eine Chiffre ihrer selbst. Damit wird zum einen die Autoreferentialität des Kunstwerks zur Grundthese der Kunstauffassung, zum anderen wird ein grundsätzliches Mißtrauen der Kommunikationsfunktion von Sprache gegenüber ausgesprochen.420 Damit bewegt sich die nie endende Suche des Künstlers letztlich im nicht aufzulösenden Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit von Kommunikation, da jedes Kunstwerk in seiner Mitteilungsfunktion zwischen Künstler und Rezipient ein Akt der Kommunikation ist, und der Unmöglichkeit der Vermittlung durch eine Sprache, die immer selbstbezüglich bleiben muß, weil sie als Zeichen dem Bezeichneten fremd ist. Der problematisierten Kommunikation wird das nicht kommunizierbare Erleben gegenübergestellt, das das Kunstgespräch als Ort gelungenen Künstlerdaseins ablöst und die Kunst in die Sinnlichkeit zurückführt. Die Kunst entzieht sich somit der Sprache als Medium der ratio, der Roman widerlegt die Illusion der Vermittelbarkeit von sinnlicher und logischer Erkenntnis.

420 Ahrend erkennt in dieser Selbstbezüglichkeit des Romans die Arabeske als Strukturprinzip: „An dieser Stelle […] wird beispielhaft deutlich, wie überlegt Tieck seinen Text komponiert hat, wie gekonnt er das enigmatische Verweisungspotenzial von Brüchen und unvermittelten Fügungen nutzt, wie er – mit einem Wort – die Arabeske als das den ganzen Roman organisierende Strukturprinzip einzusetzen versteht […]. Die Arabeske steht hier für das Poetische selbst, sie ist ein Universalprinzip.“ (Ahrend, Verschlungene Lineaturen, S. 99) Die Arabeske selbst deutet Ahrend im Zusammenhang mit der „‚ästhetischen Moderne‘ […], die sich im Widerspruch gegen die Herrschaft der Vernunft als eine arabesk pluralisierte ankündigte“. (ebd., S. 11) Er übersieht dabei allerdings, daß die Arabeske, die sich im labyrinthischen Charakter des Waldes und den in ihm enthaltenen Bildern ebenso zeigt wie in der Pluralität der Kunstauffassungen, die nebeneinander bestehen bleiben, zwar das Strukturprinzip der künstlerischen Denkbewegung darstellt, sie selbst aber wiederum aufgehoben ist in der alles umfassenden, dialektischen Bewegung zwischen Extremen, deren Ziel der Stillstand der Synthese ist.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

213

7

Die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben: Karl Philipp Moritz, Anton Reiser Eigentlich kämpften in ihm, so wie in tausend Seelen, die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Wirklichkeit. (AR, S. 415)

Mit dem in den Jahren 1785–1790 in vier Teilen erschienenen Roman Anton Reiser. Ein psychologischer Roman421 von Karl Philipp Moritz kehren wir nun anachronistisch zum Beginn des deutschen Künstlerromans und zugleich zu einem Werk zurück, das sich scheinbar nicht recht in die Reihe fügen will: Seine Editionsgeschichte beginnt in dem von Moritz selbst herausgegebenen Magazin für Erfahrungsseelenkunde, das zwischen 1783 und 1793 erschien und in dem Auszüge des ersten Teils abgedruckt wurden.422 Stimmig zu diesem ersten Publikationsort erhält der Roman den Untertitel „psychologischer Roman“, den der Verfasser, der sich auf dem Titelblatt in die Rolle eines (fiktiven) Herausgebers begibt, in der Einleitung zum ersten Teil sofort modifiziert und präzisiert durch die Bemerkung: „Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind.“ (AR, S. 86) Der Publikationsort und Mo­ ritz’ Hinweis auf die Biographie als Genre haben zusammen mit dem Umstand, daß schon die Zeitgenossen, mehr noch aber die spätere Forschung in den im Roman geschilderten Begebenheiten nicht zu Unrecht Moritz’ eigene Biographie wiederzuerkennen glaubten, den Blick auf den Text stark vereinseitigt.423 Mit 421 Karl Philipp Moritz: „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman“, in: Ders., Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Werke in zwei Bänden, Band 1, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/Main 1999, S. 85–518. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe. Im Folgenden wird der Roman mit dem Kürzel AR, die daraus entnommenen Zitate mit der Seitenzahl im Fließtext bezeichnet. 422 Moritz, Dichtungen und Schriften, S. 943. Im Magazin für Erfahrungsseelenkunde gibt es eine Rubrik, in der Zuschriften von Lesern abgedruckt werden, die psychische Phänomene beschreiben und diese so mit anderen teilen und zugleich selbst verarbeiten können. Vgl. Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 77–83. 423 Vgl. hierzu z.B. Georges Arthur Goldschmidt: „Die beflügelte Wahrnehmung des Leidens. Zu Karl Philipp Moritz’ Roman ‚Anton Reiser‘“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text und Kritik, Band 118/119: Karl Philipp Moritz, unveränderter Nachdruck München 1995, S. 24–34; Erich

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

215

der minutiösen Schilderung der Seelenlagen des Protagonisten Anton Reiser und durch die Erkenntnis, daß die Erlebnisse der Kindheit im Positiven wie im Negativen prägend sind für das Verhalten und die Befindlichkeiten eines Menschen, hat Moritz Ungewöhnliches im Bereich der Psychologie geleistet. Er gilt vielen sogar als Wegbereiter der Erkenntnisse und Methoden Sigmund Freuds.424 Dieser naheliegende Zugang zum Roman Anton Reiser verstellt jedoch bisweilen den Blick darauf, daß jener neben den Publikationen im Magazin für Erfahrungsseelenkunde auch in vier Teilen als Roman erschienen ist und daß Moritz trotz seiner Erläuterungen in den Einleitungen zu den einzelnen Romanteilen auch dem erst im Jahr 1790 erschienenen vierten Teil den Untertitel „Ein psychologischer Roman“ (AR, S. 413) hinzugefügt hat und somit den Text eindeutig in den Bereich des fiktionalen Schreibens einordnet.425 Schon kurz nach Erscheinen des ersten Teils hat Karl Philipp Moritz mit der ambivalenten Zuordnung seines Romanes zu kämpfen und begegnet der dahingehenden Kritik in der Einleitung zum zweiten Teil, indem er erklärt: Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über das Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie, und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen, ist, als es vielleicht nur irgend eine geben kann. (AR, S. 186)

Meuthen, Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg/Breisgau 1994 [Rombach Wissenschaft – Reihe Litterae Band 23], S. 209ff., sowie Alo Allkemper, Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, München 1990, S. 19ff. Schon zeitgenössische Leser haben hierüber diskutiert, so z.B. Friedrich Schiller, der in einem Brief an Charlotte von Lengefeld die Frage formuliert, ob Moritz denn nun für Anton Reiser genommen werden wolle oder nicht: „Sie wollten wißen, ob Moritz sich überhaupt für seinen Anton Reiser gehalten lassen will? Aus der Art, wie er davon spricht, sollte ichs fast glauben, und überhaupt ist er der Mensch nicht, der in solchen Dingen an sich hält.“, zitiert nach: Moritz, Dichtungen und Schriften, a.a.O., S. 975f. 424 Vgl. hierzu exemplarisch Christiane Frey: „Der Fall Anton Reiser: Vom Paratext zum Paradigma“, in: Anthony Krupp (Hrsg.), Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens, Amsterdam/New York 2010 [Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Band 77], S. 19–43. 425 Entgegen der häufig anzutreffenden Ineinssetzung von Autor und fiktiver Romanfigur durch die Identifizierung von Anton Reiser mit Karl Philipp Moritz soll hier eine rein literaturwissenschaftliche Lesart präsentiert werden, die den Roman durchgehend als fiktiven Text behandelt und etwaige Parallelen zwischen den Biographien von Moritz und Reiser außer Acht läßt. Zur Ineinssetzung von Moritz und Reiser vgl. z.B. bereits Hugo Eybisch, Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K.Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909, sowie später Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S. 23. Neuere Untersuchungen sehen diesen Zusammenhang oft kritischer, lösen sich aber dennoch zumeist nicht vollständig davon.

216

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Die leicht zu erratenden Ursachen liegen in der Gattung des Romans selbst. Wenn Moritz in seiner Einleitung seinen Roman beschreibt als ein „Buch, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll“ (AR, S. 86), so greift er damit ein Hauptmerkmal auf, das Blanckenburg in seiner 1774 erschienenen Schrift zum Roman für diesen festhält: „Dem Romanendichter aber ist die Veränderung des innern Zustandes seiner Personen eigenthümlich. Die innre Geschichte des Menschen, die er behandelt, besteht aus einer Folge abwechselnder und verschiedener Zustände.“426 Widmet sich das Magazin für Erfahrungsseelenkunde den inneren Zuständen des Menschen aus psychologischwissenschaftlicher Perspektive, so hat der Roman denselben Gegenstand aus literarisch-ästhetischer Perspektive zu behandeln. Aus letzterer betrachtet ist Anton Reiser nicht nur als innere Geschichte eines Menschen zu lesen, sondern als die eines Künstlers; daher gehört das Werk zur Gattung des Künstlerromans.427 Schon seit seinem achten Lebensjahr beschäftigt sich Anton mit Literatur (AR, S. 93) und verfertigt bereits mit neun Jahren sein erstes Gedicht: Er fing nun an, sich auf die Poesie zu legen, und besang, was er sah und hörte. Er hatte zwei Stiefbrüder, die beide in P. das Schneiderhandwerk lernten, und deren Meister ebenfalls Anhänger der Lehre des Hrn. v. F. waren. Von diesen nahm er in Versen, die er selbst gemacht und auswendig gelernt hatte, sehr rührend Abschied, so wie auch von dem v. F…schen Hause. (AR, S. 107) Diesem folgen noch viele weitere, die zum Teil sogar Beifall ernten und Anton Reiser in seinem Wunsch, eine Dichterlaufbahn einzuschlagen, bestärken: Seine 426 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 10, S. 390f. Zum Zusammenhang von Moritz’ Anton Reiser und Blanckenburgs Versuch über den Roman, vgl. auch Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 51f. sowie 97f.; Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 21–28. 427 Durch den teilweise einseitigen Fokus auf den psychologischen Gehalt des Romans wird dieser Aspekt meist außer Acht gelassen, so daß Anton Reiser nur selten in Darstellungen zum Künstlerroman auftaucht oder als solcher gelesen wird. Ausnahmen bilden Meuthen, Eins und doppelt, sowie Nadja Wick, Apotheosen narzisstischer Individualität. Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Gottfried Keller und Robert Gernhardt, Bielefeld 2008, deren Lesart Anton Reiser als modernen Künstlerroman einordnet, sich allerdings speziell auf das Problem des Dilettantismus bezieht. Auf die mögliche Lesart als Künstlerroman verweist auch Wolfgang Martens in seinem Nachwort in: Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2001, S. 559 sowie Marcuse, der ihn in seiner Abhandlung zum Künstlerroman aufnimmt und ihm im Gegensatz zu Heinses Ardinghello einen realistischen Grundzug attestiert: „So versucht er [Anton Reiser] sich den vorgefundenen Lebensformen der Umwelt anzupassen, sich ihnen einzuordnen; so tendiert sein autobiographischer Roman zum realistisch-objektiven Künstlerroman; – warum er ihn nicht erreicht, wird später zu zeigen sein.“, Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S. 25f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

217

Neujahrswünsche in Versen, die er aufgrund einer „erstaunliche[n] Wut Verse zu machen“ (AR, S. 234) verfaßt, finden sogar Gefallen beim strengen Vater, was Reiser zu weiteren poetischen Projekten verleitet: Seine poetische Lektion bestand damals in fast nichts, als Lessings kleinen Schriften, die ihm Philipp Reiser geliehen hatte und die er fast auswendig wußte, so oft hatte er sie durchgelesen. […] Demohngeachtet hatte er allerlei große Projekte; der Stil im Kornelius Nepos war ihm z.E. nicht erhaben gnug, und er nahm sich vor, die Geschichte des Feldherrn ganz anders einzukleiden; etwas so wie Daniel in der Löwengrube geschrieben war – dies sollte denn auch eine Art von Heldengedicht werden. (Ebd.) Zur Liebe zur Poesie tritt später die Liebe zum Theater, die im Wunsch, Schauspieler zu werden, gipfelt. Das Künstlerdasein Anton Reisers ist, wie sein ganzes Leben, geprägt von einem Wechsel zwischen Erfolg und Niederlage, die eng verknüpft sind mit den Seelenlagen des Protagonisten. Diesen korrespondiert der Wechsel zwischen Enthusiasmus und Resignation bei der Berufswahl. Der Roman bricht an der Stelle ab, an der Anton endlich die tatsächliche Aufnahme in eine Theaterkompanie in Aussicht gestellt wird und er – zum wiederholten Mal – alles aufgibt, um sich dem Theater zu widmen, die Theatertruppe sich nun aber wegen mangelnder Einnahmen auflösen muß. Dieses zumeist als fragmentarisch gelesene Ende des Romans läßt Reisers weiteren Lebensweg offen, legt jedoch ein mißlingendes Künstlerdasein nahe, da ein weiterer Versuch, als Schauspieler angestellt zu werden, scheitert. Das Künstlerdasein als mißlingendes ist ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht und das bereits relativ früh auftaucht: Mit zehn Jahren schreibt Reiser ein Gedicht, das den Beifall des Pastors M… und des Schuldirektors erhält, so daß Reiser beinahe angefangen hätte, sich für einen Dichter zu halten. Aber der Kantor benahm ihm fürs erste diesen Irrtum, indem er sein Gedicht Zeile für Zeile mit ihm durchging, und ihn sowohl auf die Fehler gegen das Metrum, als auf den fehlerhaften Ausdruck, und den Mangel des Zusammenhangs der Gedanken aufmerksam machte. (AR, S. 215) Die Ambivalenz der Erzählerstimme, deren ironische Tonlage offen läßt, ob sie sich auf Antons furor poeticus oder das Kunsturteil des Kantors bezieht, zeigt das

218

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Scheitern des Künstlerdaseins auch als ein Scheitern an äußeren Umständen, doch wiederholen sich Hinweise auf Reisers hypersensible Einbildungskraft, die mit einem gelingenden Künstlerdasein nicht in Einklang zu bringen ist. Dabei spielt die Unterscheidung zwischen Empfindungskraft und Bildungskraft eine Rolle, welche Moritz selbst in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788)428 trifft. Er hält zunächst für das Schöne fest, daß seine Natur „ja eben darin [besteht], daß sein innres Wesen außer den Grenzen der Denkkraft, in seinem Entstehen, in seinem eignen Werden liegt.“429 Daraus folgert er: „Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht – oder empfunden werden.“430 Diese Unterscheidung in die empfindende und die hervorbringende Annäherung an das Schöne, die Moritz mit Empfindungsvermögen und Bildungsvermögen oder -kraft bezeichnet, impliziert zugleich die Unterscheidung in den Ästhetiker und den Künstler, die Moritz auch daran anschließt, wenn er fortfährt: Denn weil in gänzlicher Ermangelung eines Vergleichspunktes, einmal das Schöne kein Gegenstand der Denkkraft ist, so würden wir, in so fern wir es nicht selbst hervorbringen können, auch seines Genusses ganz entbehren müssen, indem wir uns nie an etwas halten könnten, dem das Schöne näher käme, als das Minderschöne – wenn nicht etwas die Stelle der hervorbringenden Kraft in uns ersetzte, das ihr so nahe wie möglich kömmt, ohne doch sie selbst zu sein – dies ist nun, was wir Geschmack oder Empfindungsfähigkeit für das Schöne nennen, die, wenn sie in ihren Grenzen bleibt, den Mangel des höhern Genusses bei der Hervorbringung des Schönen, durch die ungestörte Ruhe der stillen Betrachtung ersetzen kann.431 In diesem Zusammenhang weist Moritz auf die Gefahr der Selbstüberhebung des Empfindungsvermögens hin, das, je vollkommener es selbst ist, desto anfälliger dafür wird, seine eigenen Grenzen zu überschreiten und sich im Hervorbringen von Kunstwerken zu versuchen. Diese Versuche der Empfindungsfähigkeit, die sich für Bildungskraft hält und durch das Hervorbringen von Kunstwerken und 428 Karl Philipp Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie. Werke in zwei Bänden, Band 2, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/Main 1997, S. 958–991. 429 Ebd., S. 974. 430 Ebd. 431 Ebd., S. 974f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

219

damit Schönem in diesen höheren Genuß kommen will, müssen, so Moritz, unweigerlich zu Enttäuschung und Frustration führen: Um sich nun diesen höhern Grad des Genusses [der eigenen Hervorbringung von Schönem], welchen sie an einem Werke, das einmal schon da ist, unmöglich haben kann, auch zu verschaffen, strebt die einmal zu lebhaft gerührte Empfindung vergebens etwas Ähnliches aus sich selbst hervorzubringen; haßt ihr eigenes Werk, verwirft es, und verleidet sich zugleich den Genuß alle des Schönen, das außer ihr schon da ist, und woran sie nun eben deswegen, weil es ohne ihr Zutun da ist, keine Freude findet.432 Moritz formuliert die Grundlagen einer Kritik des Dilettantismus, die später Goethe und Schiller in ihrer Schrift Über den Dilettantismus von 1799 aufnehmen und weiterdenken werden.433 Die Identifizierung eines „falschen Bildungstriebs“ bei Anton Reiser erfolgt vor allem im vierten Teil des Romans, der nach Moritz’ Rückkehr aus Italien und nach der Niederschrift der Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen erscheint und bereits in der Einleitung den „falschen Kunsttrieb“ und den „mißverstandenen Trieb zur Poesie und Schauspielkunst“ (AR, S. 414) zum Hauptthema erklärt. Tatsächlich verdichten sich hier die vom Erzähler gegebenen Hinweise auf einen derartigen falschen Bildungstrieb bei Anton Reiser und werden in einer kleinen Abhandlung unter dem Zwischentitel „Die Leiden der Poesie“ analytisch präzisiert. Hier werden „untrügliche Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe“ (AR, S. 497) aufgezählt und alle an Reiser diagnostiziert. Diese sind das Dichten aufgrund einer „Empfindung im Allgemeinen“ ohne eine bestimmte Szene im Kopf zu haben, außerdem der Hang zu bestimmten Stoffen wie dem Einsiedler-Motiv, dem Schrecklichen allgemein oder dem Fremdländischen und Unbekannten, die allesamt schon an sich poetisch sind und daher eine mangelnde Fähigkeit zur Poetisierung ausgleichen können, und zuletzt die „Ruhmbegier“ als eigentlicher Antrieb. (AR, S. 496–499) Doch tauchen Anzeichen für eine stark ausgeprägte Einbildungskraft und einen falschen Bildungstrieb bei Anton schon vom ersten Teil an immer wieder auf. So empfindet Anton schon als Kind bei der Lektüre der Acerra philologica und des Telemach von Fénélon, welche ihm Herr v. F. bei seinem Aufenthalt in P., wohin 432 Ebd., S. 976. 433 Vgl. hierzu Uwe Wirth: „Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen“, in: Stefan Blechschmidt, Andrea Heinz (Hrsgg.), Dilettantismus um 1800, Heidelberg 2007 [Ästhetische Forschungen Band 16], S. 41–49; S. 44.

220

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

er seinen Vater begleiten durfte, gegeben hatte, die „süße Wehmut“, die Moritz in der Bildenden Nachahmung des Schönen im Zusammenhang mit dem ewigen Kreislauf von Zerstörung und Bildung beschreibt: Sobald die Erscheinung in der Gattung, über die Wirklichkeit im Individuum gesiegt hat, geht das bitterste Leiden, durch das über die Individualität erhabne Mitleid, in die süßeste Wehmut über; und der Begriff des höchsten Schädlichen in der Wirklichkeit, löst sich in den Begriff des höchsten Schönen in der Erscheinung, auf.434 Die Notwendigkeit des Leidens des einzelnen und die Aufhebung des Leidens im schönen Kunstwerk ist es auch, die Anton bei der Vorstellung der antiken Helden begreift: „Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihm, sie mußten fallen.“ (AR, S. 104) Wenn er Schlachten inszeniert und sich dabei selbst unter den Opfer vorstellt, so geschieht dies zunächst nicht „aus Überlebens- und Therapiegründen“,435 um in zerstörerischen Spielen die eigene Unterdrückung zu kompensieren, und ist nicht „Rache an seinem eigenen Schicksal“ und „Umkehr der Verhältnisse“, die durch „totale Vernichtung […] eine befreiende und erlösende Entschädigung“436 schafft, sondern im Bewußtsein dessen, daß die Leiden des Einzelnen, insofern sie der Erhöhung und Weiterentwicklung der Gattung dienen, sich aus der Sinnlosigkeit eines zufälligen Schicksals in die Sinnhaftigkeit eines bedeutenden Ganzen verlagern.437 Das Bedürfnis, Teil einer Masse zu sein, taucht immer wieder auf im Verlauf des Romans: in der Lehre beim Hutmacher („Er bekam nun auch eine schwarze Schürze, wie der andre Lehrbursche, und anstatt, daß ihn dieser Umstand hätte niederschlagen sollen, trug er vielmehr vieles zu seiner Zufriedenheit bei. Er betrachtete sich nun als einen Menschen, der schon anfing, einen gewissen Stand zu bekleiden. Die Schürze brachte ihn in Reihe und Glied mit andern seines Gleichen, da er vorher einzeln und verlassen da stand“ AR, S. 136), beim Chorsingen („Da nun Reiser auf eine kurze Zeit die Schule besucht 434 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 986. 435 Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 155. 436 Ebd., S. 153. 437 Vgl. hierzu: Moritz, Bildende Nachahmung, S. 985: „Und das Individuum muß dulden, wenn die Gattung sich erheben soll. Die Menschengattung aber muß sich heben, weil sie den Endzweck ihres Daseins nicht mehr außer sich, sondern in sich hat; und also auch durch die Entwicklung aller in ihr schlummernden Kräfte, bis zur Empfindung und Hervorbringung des Schönen, sich in sich selber vollenden muß.“

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

221

hatte, so kam er auf den Einfall, ins Chor zu gehen; nicht sowohl um Geld zu verdienen, als vielmehr in einen neuen ehrenvollen Stand zu treten, wovon er sich schon als Hutmacherbursche in B… immer so große Begriffe gemacht hatte.“ AR, S. 220), als er dem Chor schließlich wirklich beitritt: „Ein solches Chor hat viel Ähnlichkeit mit einer herumwandernden Truppe Schauspieler, in der man auch Freude und Leid, gutes und schlechtes Wetter u. s. w. auf gewisse Weise mit einander teilt, welches immer ein festeres Aneinanderschließen zu bewirken pflegt.“ AR, S. 229) und in Bezug auf die Neujahrsgrüße an den Direktor von Reisers Schule, die durch die Schüler der Prima persönlich überbracht werden („Das Neujahr kam wieder heran, und er freute sich schon darauf, daß er nun bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik, doch wieder die Vorrechte seines Standes genießen, in Reihe und Glied mit den übrigen gehen, und auch nun nicht mehr, wie das vorige mal, einer der letzten in der Ordnung sein würde.“ AR, S. 296f.) Diesem Wunsch diametral entgegengesetzt ist der Drang, sich auszuzeichnen und hervorzustechen. Die beiden Extreme von Antons Persönlichkeit illustrieren den Kampf zwischen einem Empfindungsvermögen, das sich innerhalb seiner Grenzen bewegt und dabei das Ganze der Natur, das sich als höchstes Schönes in den Kunstwerken, wie den Erzählungen um Troja, widerspiegelt, zu ahnen imstande ist, und einem Empfindungsvermögen, das diese Grenzen überschreitet und als falscher Bildungstrieb selbst das Abbild des höchsten Schönen im Kunstwerk zu schaffen versucht. Auch Antons Naturerleben zeugt von der Ahnung des Ganzen der Schöpfung, welche das Empfindungsvermögen dunkel zu erfassen vermag.438 Schon das erste Naturerlebnis, das er anläßlich des Umzugs mit seiner Mutter auf ein Dorf im Alter von sieben Jahren hat, hinterläßt Bilder bei ihm, die „sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken [mischen], und […] gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus[machen], die oft seine Phantasie sich vormalt.“ (AR, S. 92) Auch die erste Reise mit dem Vater nach P. konfrontiert Anton mit der „Natur in unaussprechlicher Schönheit“, die „seine Seele [entzückt], und […] sie in Wehmut“ schmelzen läßt. (AR, S. 101) Die Naturerfahrung spielt fortan eine wichtige Rolle in Reisers Leben, indem sie entweder Kulisse seiner einsamen, meist nächtlichen Spaziergänge oder der mit Freunden gemeinsamen Lektüren von Poesie ist:

438 Zur Erfahrung der Natur als poetisch geformter vgl. auch Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 172ff. Allkemper unterscheidet zwischen der ästhetischen Stillstellung der Natur im Bild, der poetischen Wallfahrt zur Natur sowie dem literarisierten Anempfinden der Natur als drei verschiedenen Möglichkeiten, sich des Ganzen der Natur zu bemächtigen, die der Roman präsentiert.

222

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Aber der Frühling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. – Die angenehmen Shakespearenächte, welche er im Winter mit Philipp Reisern zugerbracht hatte, wurden nun durch noch angenehmere Morgenspaziergänge verdrängt. – Nicht weit von H…, wo der Fluß einen künstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Gehölz, welches man nicht leicht irgendwo angenehmer und einladender finden kann. – […] Hierzu wurden besonders Kleists Gedichte ausgewählt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten. […] In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte – und wenn irgend ein schöner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor H… längst dem Flusse ein Plätzchen gesucht, wo ein klarer Bach über Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. – […] Dies Plätzchen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. (AR, S. 325f.) Ganz im Sinn der von Moritz in der Bildenden Nachahmung beschriebenen Funktion der Natur in Bezug auf den Geschmack, werden Antons Naturerfahrungen in dem Maß häufiger und wichtiger, in dem die Begeisterung für den Predigerberuf abgelöst wird von der für die Literatur. „Unser Naturgenuß soll durch die Betrachtung des Schönen in der Kunst, verfeinert; und unser Gefühl für das Schöne in der Kunst soll wechselseitig durch den Genuß der schönen Natur gestärkt, und zugleich seine Grenzen ihm vorgezeichnet werden.“439 Was Reiser jedoch bei seiner Ausbildung des Geschmacks im Weg steht, ist sein „falscher Bildungstrieb“. Moritz bemerkt über den Genuß des Schönen: Während das Schöne unsre Betrachtung ganz auf sich zieht, zieht es sie eine Weile von uns selbst ab, und macht, daß wir uns in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen; und eben dies Verlieren, dies Vergessen unsrer selbst, ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt.440

439 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 981. 440 Karl Philipp Moritz: „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie, a.a.O., S. 943–949; S. 945.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

223

Genau dieses uneigennützige Vergnügen ist es aber, an dem Anton häufig scheitert. Zwar verliert er sich oft in seinen Empfindungen, doch ist dies selten Anlaß, die eigene Person zu vergessen. Vielmehr bezieht er alles außer sich auf sich selbst441 und macht Natur und Kunst somit zur Kulisse seiner Suche nach einer Identität. Eng damit verknüpft ist die ständige Suche nach Ruhm, den Reiser braucht, um sich seiner selbst und seines Wertes zu vergewissern,442 dessen Bedeutung für Reiser aber von Moritz als Zeichen eines falschen Bildungstriebs gedeutet wird.443 So gründet sich bereits seine Begeisterung für den Prediger P…, der Anton anfangs durch seine mitreißenden rhetorischen Fähigkeiten in seinen Bann zieht, auf den Gedanken an dessen Wirkung auf die Gemeinde und ihre Ehrfurcht vor dem Geistlichen. Er [Anton] konnte sich nichts Erhabeneres und Reizenderes denken, als, wie der Pastor P…, öffentlich vor dem Volke reden zu dürfen, und alsdann, so wie er, manchmal gar die Stadt mit Namen anzureden – Dies letzte hatte insbesondre für ihn etwas Großes und Pathetisches – so daß er sich oft ganze Tage über in seinen Gedanken beständig mit dieser Anrede beschäftigte – und sogar, wann er etwa, um Bier zu holen, über die Straßen ging, und ein paar Jungen sich balgen sahe, nicht unterlassen konnte, im Geiste die Worte des Pastors P… zu wiederholen, und die ruchlose Stadt vor ihrem Verderben zu warnen, wobei er zugleich den Arm drohend in die Höhe hob. (AR, S. 154) Der Wunsch zu predigen wird im Verlauf des Romans abgelöst durch die Begeisterung für die Deklamation, die einen ersten Schritt auf einem Weg darstellt, 441 Besonders betont wird dies bei der Lektüre der Werke von Shakespeare, AR, S. 311ff., z.B.: „Er dachte sich nicht mehr allein, wenn er sich gequält, gedrückt, und eingeengt fühlte; er fing an, dies als das allgemeine Los der Menschheit zu betrachten.“ (AR, S. 312) sowie von Goethes Leiden des jungen Werther, AR, S. 334: „Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahr die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei, u. s. w. eingriffen.“ 442 Vgl. z.B. Jutta Eckle, „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir.“ Studien zu Johann Wolfgang von Goethes ‚Wilhelm Meisters theatralische Sendung‘ und Karl Philipp Moritz’ ‚Anton Reiser‘, Würzburg 2003, S. 149ff. sowie Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 157ff. 443 Vgl. hierzu die folgende Passage im vierten Teil des Romans, Abschnitt „Die Leiden der Poesie“: „Denn der wahre Dichter und Künstler findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen, und würde dieselbe nicht für verloren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte. […] Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein die Kraft dazu kann sie dem nie gewähren, der sie nicht schon besaß, ehe er selbst die Ruhmbegier noch kannte.“ (AR, S. 499)

224

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

dessen letzter die Hinwendung zum Theater sein wird und der eine langsame Säkularisierung von Reisers Horizont darstellt. Die Deklamationsübungen der Schüler stehen im Gegensatz zur Predigt, der es um Inhalte gehen sollte, im Zeichen des Vortrags und der Performanz. Sie bilden den Übergang zum Wunsch, Theater zu spielen: „Dies [das Deklamieren] hatte für ihn und I… einen so außerordentlichen Reiz, daß alles andre sich dagegen verdunkelte, und Reiser nichts mehr wünschte, als Gelegenheit zu haben, mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen, um sich im Deklamieren hören zu lassen.“ (AR, S. 238) Der Gedanke, Beifall zu erregen und eine Wirkung auf andere zu haben, aus deren Zirkel er infolgedessen hervorsticht, ist der Hauptantrieb für Antons Tätigkeit als Künstler, die folglich nicht ihren Zweck in sich und im schönen Werk hat, sondern außer sich, indem sie der Selbstdarstellung Reisers dienen soll. Die Kunst wird abgelöst vom Empfinden, das vom wahren Bildungstrieb so weit angeregt werden soll, daß es in diesen gleichsam übergeht, und in den Dienst der Wirkung gestellt. Eine solche Auffassung ist weniger einer ästhetischen Theorie der Kunst als einer rhetorischen zuzuordnen, was auch Reisers Bevorzugung rhetorisch geprägter Disziplinen erklärt: sowohl die Predigt, als auch die Deklamation in ihrer Doppelrolle als rhetorische Übung für die Schüler und als Deklamation auf dem Theater sind primär rhetorischer Natur. „Antons ‚Schauspielkarriere‘, die hier ihren Anfang nimmt, vollzieht sich in drei Etappen, als deren Nenner die Motive der ‚Kanzel‘, des ‚Katheders‘ und der ‚Bühne‘ zu gelten haben. Sie bezeichnen rhetorische Aktionsbereiche und verdeutlichen in ihrer Abfolge die grundlegenden Veränderungen, denen die Rhetorik im 18. Jahrhundert unterworfen ist.“444 Die Rhetorik steht nun allerdings der dunklen Empfindung eines höchsten Schönen diametral entgegen. Reisers „‚Inszenierung‘ von personaler Identität [bewegt sich also] im Spannungsfeld von rhetorischer Strategie und ‚natürlicher‘ Empfindung“, die Meuthen als Thema der Romane der Spätaufklärung im allgemeinen identifiziert.445 Zunächst ist die Rhetorik, passend zu Reisers Neigung zu Eitelkeit und Selbstdarstellung, auf Wirkung ausgerichtet. Indem die Wirkung von der Empfindung abgelöst wird, rückt ein wichtiger Aspekt der Sprache in den Mittelpunkt, der im Roman zunächst im Motiv der Heuchelei in den Blick genommen wird. Sie zeigt am anschaulichsten, daß in der Sprache das Gesagte und das Gemeinte voneinander abweichen können, Zeichen und Bezeichnetes 444 Meuthen, Eins und doppelt, S 67. 445 Meuthen, Selbstüberredung, S. 11.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

225

folglich nicht übereinstimmen müssen. Diese Erfahrung macht Anton zum ersten Mal, als er sich in P. weigert, einen Engländer, mit dem er sich während des Aufenthalts dort angefreundet hat, einem unerwünschten Besucher gegenüber zu verleugnen. „Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet, und war just einer der Fälle, wo er tugendhafter scheinen wollte, als er wirklich war, denn er hatte sich sonst eben aus einer Notlüge nicht so sehr viel gemacht; aber seinen wahren innern Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche einem eingebildeten Mißfallen des göttlichen Wesens aufopferte, bemerkte niemand.“ (AR, S. 106) Diese Erfahrung wird in dem Moment relevant, in dem Anton sich in höchster Verzweiflung darüber, daß sein Vater ihn von den lateinischen Privatstunden abgemeldet hat und ihn statt zu seinem privaten Schreibmeister in eine öffentliche Stadtschule schickt, zunehmend gehen läßt, in der Schule schlechter wird und sich schlecht benimmt. In diesem Moment „wird [Anton] ein Heuchler gegen Gott, gegen andre, und gegen sich selbst.“ (AR, S. 122) Davon aufgebracht, hält ihm sein Vater ausgerechnet seine geheuchelte Verweigerung dem Engländer gegenüber als vormals gutes Betragen im Gegensatz zum aktuellen schlechten vor, woraufhin Anton die Heuchelei und Lüge als gesellschaftliche Strategie erkennt: Weil sich nun Anton bewußt war, daß gerade dies damals mehr aus einer Art von Affectation, als würklichem Abscheu gegen die Lüge geschehen sei, so dachte er bei sich selber: wenn sonst nichts verlangt wird, um mich beliebt zu machen, das soll mir wenig Mühe kosten; und nun wußte er es in kurzer Zeit durch eine Art von bloßer Heuchelei, die er doch aber vor sich selber als Heuchelei zu verbergen suchte, so weit zu bringen, daß sein Vater über ihn mit dem Hrn. v. F. korrespondiert. (AR, S. 123) Die auf Wirkung bedachte Verstellung wird Anton fortan begleiten und stellt für ihn ein Instrument dar, die eigene Wirkung auf die Außenwelt bewußt zu beeinflussen. Das auffallendste Beispiel hierfür ist das von Anton verfaßte Gedicht auf den Tod des Sohnes von Pastor M…, dessen Zustandekommen der Erzähler als Heuchelei entlarvt: […] und Reisers erste Gedanken, da er dies hörte [die Nachricht vom baldigen Tod des jungen M…], waren, wie er auf diesen Vorfall ein Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und Beifall und auch vielleicht die Gunst des Pastor M… wieder zuwege brächte. Kurz, er hatte das Gedicht schon acht Tage vorher angefangen, ehe der junge M… starb. –

226

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Statt nun, daß er dies Gedicht hätte machen sollen, weil er über diesen Vorfall betrübt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art von Betrübnis zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu können. – Die Dichtkunst machte ihn also diesmal wirklich zum Heuchler. (AR, S. 327) Doch bleibt Anton nicht bei der Heuchelei als Strategie zur Erlangung von gesellschaftlicher Anerkennung stehen. Die Ambivalenz einer Sprache, die sich von ihrem Signifikat ablösen kann, führt auf direktem Weg zur Selbsttäuschung, die sich in der Heuchelei, die er vor sich selbst zu verbergen versucht, zeigt. Daß Reisern also sein Gedicht auf den jungen M… mehr am Herzen lag, als der junge M… selbst, war wohl sehr natürlich, obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er Empfindungen log, die er nicht hatte – er war auch dabei nicht ganz einig mit sich selber, sondern sein Gewissen machte ihm häufige Vorwürfe, die er denn dadurch übertäubte, daß es sich selbst zu überreden suchte, er empfinde wirklich eine solche Wehmut über den frühen Tod des jungen M…, der in der Blüte seiner Jahre allen Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft dieses Lebens entrissen ward. (AR, S. 328) Durch diese mögliche Selbsttäuschung wird jeder sprachliche Ausdruck ambivalent, eine eindeutige Entscheidung darüber, ob eine Äußerung auf echten Empfindungen basiert oder nur Inszenierung ist, wird zunehmend unmöglich. Dies hat eine Auflösung der Grenzen von Wahrheit und Lüge zur Folge: durch die gemeinsame Basis des sprachlichen Ausdrucks werden beide zunächst ununterscheidbar, die Selbsttäuschung schließlich läßt die Lüge zur Wahrheit werden.446 Dieser Erfahrung der Inkongruenz von Fühlen und Sprechen korrespondiert die Einsicht in die Grenzen der Sprache als Ausdrucksmittel innerer Vorgänge, die Anton Reiser im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit der Philosophie macht. Er stieß hier an die undurchdringliche Scheidewand, welche das menschliche Denken von dem Denken höherer Wesen verschieden macht, an das notwendige Bedürfnis der Sprache, ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eignen Schwung nehmen kann – und welche gleichsam nur ein 446 Zum Problem der wahren Lüge und der „‚Verstellung‘, die von ihrem Subjekt als solche nicht bemerkt wird“, vgl. z.B. Meuthen, Selbstüberredung, S. 231f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

227

künstlicher Behelf ist, wodurch etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir dereinst vielleicht gelangen werden, ähnliches, hervorgebracht wird. – Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken. (AR, S. 301)447 Weder als adäquater Ausdruck der Gedanken noch für die zuverlässige Wiedergabe der Gefühle geeignet, erscheint die Sprache als ein System von Zeichen, das keine fest umrissene Bedeutung hat. Sie gehört einer vom Innenleben Anton Reisers streng getrennten Sphäre an und eignet sich daher nicht zu dessen Darstellung. Als Signifikanten ohne eindeutigen Inhalt bieten sich die Wörter andererseits einer willkürlichen Füllung mit Signifikaten an. Ausgehend von der Erfahrung der unentdeckten Heuchelei kann Anton die Sprache als Instrument benutzen, verschiedene Rollen zu spielen. Schon als Kind schlüpft er für seine Brüder in die Rolle des Predigers (AR, S. 173f.), später begibt er sich in die – scheiternde – des reuigen Sünders vor dem Pastor M. (AR, S. 274 sowie S. 288), nimmt in Gedanken die Rolle eines Bauern oder eines Theologie-Studenten an (AR, S. 426), um schließlich im Schauspieler den Berufsstand zu erkennen, der seine Vorliebe für Rollenspiele gleichsam legitimiert: „Dadurch [durch die Anwesenheit der Ackermannschen Schauspieltruppe in H…] bildete sich ein Ideal von der Schauspielkunst in ihm, das nachher nirgends befriedigt wurde, und ihm doch weder Tag noch Nacht Ruhe ließ, sondern ihn unaufhörlich umhertrieb, und sein Leben unstet und flüchtig machte.“ (AR, S. 272); „Theater – und reisen – wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklärt.“ (AR, S.  379) Dabei wird die Unterscheidung zwischen Realität und Rolle für Reiser zunehmend schwierig. Nicht nur die Selbsttäuschung läßt die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmen, sondern auch die Einbildungskraft, die bei Anton schon von frühester Kindheit als Kompensation für äußere Armut besonders reich vorhanden ist, ist maßgeblich daran beteiligt, daß Anton die Imagination realer erscheint als die Wirklichkeit. Im Zusammenhang mit dem von der Mutter übermittelten Aberglaube bemerkt der Erzähler, „seine Leiden konnte man, im eigentlichen Verstande, die Leiden der Einbildungskraft nennen – sie waren für ihn doch würkliche Leiden, sie raubten im die Freuden seiner Jugend.“ (AR, S. 157) Zum ersten Mal geweckt wird Antons Einbildungskraft 447 Vgl. hierzu z.B. ebd., S. 236 und ders., Eins und doppelt, S. 70 sowie Goldschmidt, Beflügelte Wahrnehmung, S. 25.

228

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

durch die Lektüre von religiösen Schriften aus dem Bereich des Pietismus und Quietismus, die er allzu wörtlich versteht. Diese Lektüreeindrücke mischen sich schon bald mit denen des griechischen Mythos: Dies [die Erzählung des Telemach] hatte nun freilich für Antons Seele weit mehr Anziehendes, als die biblische Geschichte, und alles, was er vorher in dem Leben der Altväter, oder in den Guionschen Schriften gelesen hatte; und da ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes wahr, und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnischen Göttergeschichten mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben. (AR, S. 103) Schon an dieser Stelle werden für Anton Reiser Bilder verschiedener Provenienz in seiner Einbildungskraft unterschiedslos. Reales und Fiktives, Sehen und Imagination spielen lediglich als Produzenten innerer Bilder eine Rolle, so daß er schon lange vor dem Beginn seiner exzessiven Lektüren mehr in einer „idealischen“ als in der realen Welt lebt. Die Lektüren, die der Erzähler als „Romansucht“ bezeichnet und damit in eine zeitgenössische Erscheinung, die allerdings häufiger beim weiblichen Geschlecht zu finden ist, einordnet, tragen weiterhin dazu bei, seine Phantasie zu beschäftigen. Seine „Empfindungskraft“ führt ihn dabei nicht aus sich hinaus und zum schönen Kunstwerk hin, sie läßt ihn vielmehr sich selbst in der Kunst wiedererkennen. Seine Einfühlung geht dabei so weit, daß er sich sogar die Ausdrucksweise seiner Helden zu eigen macht und schließlich nicht mehr zwischen eigenen Formulierungen und denen der gelesenen Literatur unterscheiden kann: Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft, um vieles zurück, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftern Wiederholungen so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt, und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiscenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern gewesen ist, die sich seit der Zeit gebildet haben. (AR, S. 337) Die sich verselbständigende Sprache, die für Anton keinen Bezug zur Wirklichkeit außer ihm selbst hat, gewinnt zunehmend ein Eigenleben, das sich aus der

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

229

Klangqualität und damit rein aus der Form speist. Wiederholt wird berichtet, daß Anton beim Klang eines Wortes sich Vorstellungen zurechtlegt, die mit der Bedeutung desselben nichts oder wenig zu tun haben.448 Selbst als Reiser sich schon einigen Ruhm durch die Abfassung von Gedichten eingetragen hat, hält er an der sinnlichen Qualität der Wörter fest, wenn er seine Texte mit Vorliebe mit den Worten „Welch ein“ beginnt, weil ihm der Klang dieser Worte besonders gut gefällt: Auf diesen Spaziergängen verfertigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit welch ein anfing; denn in das sanftklingende welch ein hatte er sich ordentlich verliebt, es schien gleich eine solche Fülle von Ideen zu fassen, und alles folgende hinein zu fügen – er konnte sich keinen vollklingenderen Anfang denken. (AR, S. 388f.) Die sinnliche Wahrnehmung erscheint vom Verstand abgekoppelt und erschafft, derart jeglicher Kontrolle enthoben, eine innere Welt in Anton Reiser, die unabhängig von der äußeren existiert und nur selten durch diese korrigiert wird.449 Die Bilder, derer sich die Sprache in Form von Metaphern bedient, fließen für Anton ebenfalls in die Menge der unterschiedslos behandelten Bilder in seinem Inneren ein, so daß er häufig die uneigentliche Bedeutung der Metaphern im eigentlichen Sinn auffaßt (z.B. AR, S. 110f.). Die Unfähigkeit, zwischen den verschiedenen Bildern zu unterscheiden, zieht die Unfähigkeit des Urteils nach sich. Die Unterscheidung als Leistung des Verstandes kann Reiser nicht auf die Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung anwenden, zwischen Sinnlichkeit und Verstand befindet sich die „Scheidewand“, die zu durchstoßen ihm bis zuletzt nicht gelingt. Sie ist an die Sprache als Medium des Verstandes gekoppelt und damit der Sphäre der Einbildungskraft und ihrer Bilder fremd. In der Trennung von Sprache und inneren Bildern, die Anton Reiser nicht zu überwinden vermag, liegt auch das 448 So spekuliert er z.B. über die Bedeutung der Worte „Sodomiterei, stumme […]“ und „Laster der Selbstbefleckung“, die er in einer Predigt gehört hat, ohne sich etwas darunter vorstellen zu können (AR, S. 210f.), assoziiert mit den „Höhen der Vernunft“ die beiden Türme in H. (AR, S. 165) und macht sich einen übertrieben negativen Begriff vom Ausdruck „des Rektors Famulus“, mit dem er von Mitschülern bedacht wird (AR, S. 247) 449 Eines der seltenen Beispiele für die Korrektur eines durch die sinnliche Qualität der Worte entstandenen falschen Bildes ist „Hylo“: „Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen, und gab seiner Einbildungskraft allemal außerordentlichen Schwung, weil er es für irgend einen orientalischen Ausdruck hielt, den er nicht verstand, und eben deswegen einen so erhabnen Sinn, als er nur wollte, hineinlegen konnte: bis er einmal den geschriebenen Text unter den Noten sahe, und fand, daß es hieß: Hüll’ o schöne Sonne, u. s. w. […] Und nun war auf einmal das ganze Zauberwerk verschwunden, welches Reisern, so machen frohen Augenblick gemacht hatte.“ (AR, S. 249f.)

230

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Mißlingen der Kunstwerke begründet: Da der Künstler die Gegenstände der Natur und der Außenwelt zunächst in sein Inneres aufnehmen muß, um diese inneren Bilder wiederum in ästhetisch erhöhter Form und als Schönheit nach außen, in Erscheinung zu bringen, ist die Verbindung von Innen- und Außenwelt unabdingbar.450 Diese Verbindung gelingt Reiser nur selten und auch eher zufällig: Einige seiner Gedichte finden großen Zuspruch nicht nur bei Philipp Reiser, sondern auch bei Lehrern und Mitschülern.451 Voraussetzung für ein Gelingen seiner Gedichte ist das erfolgreiche Herstellen einer besonderen Stimmung, die zum Gegenstand des Gedichtes paßt oder aber durch die Wahl eines Gegenstandes, der die Stimmung Reisers widerspiegelt: Dies Gedicht [an Philipp Reiser] floß gleichsam aus seiner Seele – Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. – Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und dies gelang ihm nie so gut. (AR, S. 324f.)452 Nicht nur bei der Lektüre, auch bei der Produktion von Literatur bezieht Anton Reiser alles auf sich, seine Befindlichkeiten sind, analog zum Roman selbst, das Zentrum, um das alle Texte kreisen. Dadurch erfüllt er nicht nur die Maßgabe an den Künstler, sich selbst zu vergessen und die von außen ins Innere eingedrungenen Bilder und Gegenstände wieder zur veräußerlichen, absolut nicht, er ist 450 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 979; vgl. hierzu auch Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 125f. 451 So z.B. im Rahmen einer Deklamationsübung, bei der normalerweise das Gedicht eines Dichters vorgetragen wird, Anton Reiser aber ein eigenes deklamiert, das, als er dem Rektor seine Autorschaft bekennt, sehr gelobt wird und in der Folge für einen sich unter Mitschülern und anderen Bewohnern von H… ausbreitenden Ruhm sorgt: „Sein poetischer Ruhm breitete sich bald in der Stadt aus – er bekam von allen Seiten Aufträge Gelegenheitsgedichte zu machen – und seine Mitschüler wollten alle von ihm in der Poesie unterrichtet sein, und das Geheimnis, wie man Verse machen könne, von ihm lernen“ (AR, S. 349f.) 452 Vgl. hierzu auch das Gedicht auf den Tod des jungen M., das nicht gelingt, während das Gedicht auf einen beim Baden ertrunkenen Bekannten von Philipp Reiser, den auch Anton kannte, gut wird: „denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zu Stande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht, wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher da, als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt“ (AR, S. 326) gegenüber: „ Reiser war nehmlich auch in der Absicht sich zu baden an den Fluß gegangen, und eben da er hinkam war der junge Mensch ertrunken, dessen Gefährte sich noch nicht einmal wieder angekleidet hatte; er sahe darauf die gleichgültigen und bei der Sache uninteressierten Zuschauer sich allmählich versammeln, sahe den Körper des jungen Menschen, den er selbst durch Philipp Reisern sehr gut gekannt hatte, herausziehen, und alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergeblich anwenden, – dies alles machte einen so lebhaften Eindruck auf ihn, daß das Gedicht, welches er auf diesen Vorfall verfertigte, eine gewisse Wahrheit im Ausdruck erhielt, und sich dadurch von dem Gedicht auf den Tod des jungen M… sehr merklich unterschied.“ (AR, S. 330)

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

231

auch keines Urteils über Kunst fähig. Zur Beurteilung seiner Kunstwerke ist er auf andere angewiesen, eine Rolle, die zumeist Philipp Reiser übernimmt. Diese auch als alter ego Antons interpretierte Figur453 dient Anton als kritisches Korrektiv seiner Texte, und einzig deren Urteil empfindet er nicht als Kränkung seines Selbstwertgefühls, sondern als konstruktiv. Philipp Reiser verkörpert ideales Publikum und kritische Vernunft zugleich: Als Seelenverwandter Anton Reisers lauscht er nächtelang dessen Shakespeare-Lesungen, wobei ein „Gleichklang“ der Empfindungen durch den Erzähler bestätigt wird. Als Urteilsinstanz legt er Antons Einbildungskraft bisweilen die nötigen Fesseln an: „Aber sein Freund [Philipp Reiser] war ein strenger und unparteiischer Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim, oder ein Flickwort ungeahndet ließ.“ (AR, S. 326) Der Trennung zwischen Innen- und Außenwelt bei Anton Reiser korrespondiert die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, die sich in der Unfähigkeit, Gefühle in Sprache zu übersetzen, äußert. Die Sprache bleibt für Anton oftmals ein inhaltsleeres System von Zeichen, entweder, weil er die Bedeutung der Worte nicht kennt, oder aber, weil diese keine Referenz in der Wirklichkeit haben. Dies ist der Fall im Bereich des Rhetorischen, vor allem in Bezug auf Lüge und Heuchelei. Die leeren Wortkörper entsprechen Anton Reiser selbst, von dem der Erzähler wiederholt feststellt, er habe zu wenig eigene Existenz: „Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an.“ (AR, S. 442)454 Der Mangel an Existenz im wirklichen Leben, der gleichsam eine Leerstelle darstellt, wird ausgeglichen durch fiktive Bilder, die diese Leerstelle füllen. Wenn Anton alles, was er liest, auf sich selbst bezieht, so gleicht er einem leeren Gefäß, das alles in sich aufzunehmen bereit ist. Der Roman, der in den Einleitungen zu den einzelnen Teilen wiederholt als Biographie bezeichnet wird, bewegt sich in all seinen Schilderungen ausschließlich um die Identität Anton Reisers, die sich aber als blinder Fleck erweist. Damit verliert das Erzählen sich im Labyrinth der verschiedenen Rollen und Bilder, die Anton sich aneignet, ohne jedoch zum eigentlichen Kern, Reisers wahrem Ich, vorzudringen. Im unabschließbaren Vexierspiel der Bilder, die in Reisers Imagination gleichwertig nebeneinanderstehen, wird seine Identität niemals greifbar. Identität wird ihm so zu einer Rolle, die er beliebig spielen oder gegen eine andere austauschen kann. Er ist damit ein idealer Schauspieler, da 453 Zur Figur des Philipp Reiser vgl. z.B. Goldschmidt, Beflügelte Wahrnehmung, S. 31 u. 33 sowie Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 167. 454 Vgl. hierzu auch AR, S. 94ff., S. 208, S. 238, S. 414f., S. 242.

232

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

er nicht erst den eigenen Charakter ablegen muß, um einen anderen spielen zu können. Auch das Selbst erscheint ihm als eine Rolle, die er spielt: „Während nun dies [als Tagelöhner zu arbeiten] in seinen Gedanken vorging, glaubte er selbst, es sei sein wahrer Ernst, und wußte nicht, daß seine Einbildungskraft ihn wieder täuschte, und daß er schon wieder in Gedanken eine Rolle spielte.“ (AR, S. 452)455 Der Roman Anton Reiser kreist somit nicht nur um Anton Reisers Biographie, um seiner Identität auf die Spur zu kommen, sondern auch um das Problem einer Sprache, deren Korrespondenz von Zeichen und Bezeichnetem für den Protagonisten fragwürdig geworden ist. Der Kampf Anton Reisers um Anerkennung, von der seine Identität maßgeblich abzuhängen scheint, ist zugleich ein Kampf mit der Sprache, derer Anton bedarf, um seine Gedanken und Gefühle auszudrücken und also um seine Identität sichtbar zu machen. Das Verhältnis zur Sprache ist jedoch schon seit seinen ersten Erfahrungen mit deren Ambivalenz im Zusammenhang mit der Heuchelei von einem grundlegenden Mißtrauen geprägt: Da sie sich vom Gemeinten und Tatsächlichen abzulösen vermag, ist ihre Verbindung zum Ich grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie kann damit nicht als Kommunikationsmedium für die Gefühle und Empfindungen dienen, da sie in der Lage ist, Empfindungen zu „erlügen“. Sinnliche Wahrnehmung und Empfindungen verbleiben damit für Anton Reiser notwendig im Bereich des Nicht-Kommunizierbaren. Damit muß auch der Roman Fragment bleiben: Hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die „innere Geschichte des Menschen“ (AR, S. 86) wahrheitsgemäß aufzuschreiben, so kann er diese Aufgabe nie letztendlich lösen, da er an das Medium der Sprache gebunden ist. Die teilweise formelhaft wiederholten Beschreibungen von Antons Seelenzuständen und deren Begründungen bleiben der Person Antons immer äußerlich. Die Sprache kann keinen Beitrag zur Vermittlung der wahren inneren Geschichte leisten, die Gefühle und die sinnliche Wahrnehmung verbleiben im Bereich des Unsagbaren und der Sprachlosigkeit. Der Sprachlosigkeit in Bezug auf das Wesen Antons Reisers entspricht das Fehlen seiner Stimme im Roman: Seine Gedanken und Worte werden nie direkt wiedergegeben, sondern immer durch den Erzähler vermittelt, der als heterodiegetischer Erzähler mit auktorialer Perspektive schon durch seine Haltung der kritischen Distanz und durch seine Kommentare niemals einen Zweifel an der Mittelbarkeit des Erzählten aufkommen läßt. Alles, was erzählt wird, erscheint bereits aus einer bestimmten Perspektive, die den Anspruch auf Authentizität, den der Roman wiederholt geltend macht, ad absurdum führt. 455 Vgl. ebenfalls AR, S. 261, S. 442 und S. 504. Zur Rolle des Schauspielers vgl. Meuthen, Eins und doppelt, S. 42–52, Exkurs: Rhetorische Klugheitslehre. Der Mensch als Schauspieler.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

233

Der Roman endet damit, daß Anton Reiser, als er nun endlich in eine Schauspieltruppe aufgenommen werden soll, dieser nachreist, als er ankommt jedoch von deren Auflösung erfahren muß: „Die Sp…sche Truppe war also nun eine zerstreute Herde.“ (AR, S. 518) Sie entspricht der Person Anton Reisers, zu deren Kern im Medium des Romans vorzudringen unmöglich bleibt. Der Versuch, durch alle Bilder und Rollen hindurch zum wahren Wesen Antons vorzudringen, endet ebenso im Nichts, wie die Schauspieler der Sp…schen Truppe, die in alle Winde verstreut sind, da es keine Wahrheit hinter den sich überlagernden Bildern gibt. Der Roman verweist damit das Anliegen der Ästhetik, Verstand und Sinnlichkeit über das Medium der Sprache zu vereinen, in den Bereich der Utopie. Dies betrifft weniger das Sprachkunstwerk, die Dichtung, als das Sprechen über Kunstwerke, das kritische Urteil. Im Bereich der Kunst stellt Karl Philipp Moritz die Literatur nicht als weniger geeignete Kunstform hinter die Malerei und Bildhauerei, wie Berghahn es behauptet: Diesem in metaphysischer Hinsicht defizitären Sprechen [ein Sprechen, das die „metaphysische Orientierungslosigkeit“ nicht aufzuheben vermag] aber stellt er [K.P. Moritz] in der Kunst – die nicht Literatur ist, ja sein kann, oder, wenn doch, eine Literatur, die anders, eben wie Kunst, wie ein Bild funktioniert – eine andere, wahre (Zeichen-)Sprache gegenüber.456 Vielmehr wird der bildenden Kunst als Kunstform, die durch die Plötzlichkeit, mit der sie das Dargestellte vor Augen führt, charakterisiert ist, die Dichtung als durch die sukzessive Ausbreitung ihres Gegenstands gekennzeichnete Kunstform gegenübergestellt: Denn das höchste Schöne der bildenden Künste, faßt dieselbe Summe der Zerstörung, ineinander gehüllt, auf einmal in sich, welche die erhabenste Dichtkunst, nach dem Maß des Schönen, auseinander gehüllt, in furchtbarer Folge uns vor Augen stellt.457 Die Sprache des Kunstwerks ist selbst schon Kunst und bewegt sich deshalb in der Sphäre der Sinnlichkeit. Sie kann gelingen, wenn der Künstler sich im Gegenstand verliert, dieser seine Einbildungskraft völlig anfüllt und jene schließ456 Berghahn, Wagnis des Autonomie, S. 110. 457 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 988f.

234

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

lich zum Bildungstrieb sich verwandelt. Ein solcher Vorgang verbleibt völlig im Bereich dessen, was mit Baumgarten als „untere Erkenntnisvermögen“ bezeichnet werden kann und ist folglich nicht abhängig von der Vermittlung zwischen sinnlicher und rationaler Erkenntnis. Diese Vermittlung wird allerdings relevant beim Sprechen über Kunst, das Moritz grundlegend problematisiert. Grundlage des Kunsturteils ist die Übersetzung der Empfindungen, die die Betrachtung eines Kunstwerks auslöst, in die Sprache der Vernunft, den logos. Daß diese Übersetzung häufig zum inadäquaten Sprechen über das Kunstwerk führt, zeigt Moritz anschaulich in seiner Schrift In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können458. Hier stellt er zunächst fest, daß ein vollkommenes Kunstwerk keiner Erklärung bedarf: Denn darin besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Teil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – und also außer dem bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt, keiner weitern Erklärung und Beschreibung mehr bedarf.459 Im weiteren Verlauf der Abhandlung fordert er dann, „das vollkommenste Gedicht sei, seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst, so wie dies wiederum die Verkörperung oder verwirklichte Darstellung des Meisterwerks der Phantasie“460, um schließlich festzustellen, „daß die Werke der bildenden Künste selbst schon die vollkommenste Beschreibung ihrer selbst sind, welche nicht noch einmal beschrieben werden kann.“461 Er unterscheidet also die Sprache der Dichtung, die zur Sphäre der Kunst gehört und damit ebenso adäquate Abbildung des Schönen in der Phantasie ist, wie die bildenden Künste, von der Sprache der Kunstbeschreibung und -beurteilung, die als Metasprache der Kunst äußerlich ist und eine unnötige Verdoppelung dessen, was die Kunst selbst schon sagen sollte, darstellt. Seine anschließende Kritik der Winckelmannschen Beschreibung des Apollo von Belvedere beschreibt dieses Problem:

458 Karl Philipp Moritz: „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie, a.a.O., S. 992–1003. 459 Ebd., S. 994. 460 Ebd., S. 999. 461 Ebd., S. 1002.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

235

Diese Beschreibung hat daher auch der Betrachtung dieses erhabenen Kunstwerks weit mehr geschadet, als genutzt, weil sie den Blick vom Ganzen abgezogen, und auf das Einzelne geheftet hat, welches doch bei der nähern Betrachtung immermehr verschwinden, und in das Ganze sich verlieren soll. Auch macht die Winkelmannsche Beschreibung aus dem Apollo eine Komposition aus Bruchstücken, indem sie ihm eine Stirn des Jupiter, Augen der Juno, u. s. w. zuschreibt; wodurch die Einheit der erhabnen Bildung entweihet, und ihr wohltätiger Eindruck zerstört wird.462 Moritz betrachtet die zergliedernde Weise, in der Winckelmann über die Werke der bildenden Kunst spricht, als dem Ganzen des Kunstwerks unangemessen. Das zergliedernde Moment ist der Sprache der Vernunft aber grundsätzlich einbeschrieben, da deren Kraft sich zunächst im Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zeigt und damit auf eine analytische Vorgehensweise festgelegt ist. Diese analytische Vorgehensweise ist dem synthetischen Erfassen der Kunst äußerlich und kann zur Betrachtung des Kunstwerks nur dann etwas beitragen, wenn es „nähern Aufschluß über das Ganze und die Notwendigkeit seiner Teile geben“463 kann. Er macht damit das epiphanische Kunsterleben,464 das im Kunstgenuß das Schöne des Kunstwerks als Ganzes unmittelbar zur Anschauung bringt, zur Grundlage des Sprechens über Kunst, nicht das analytische Urteil. „Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht – oder empfunden werden.“465 Was andere Künstlerromane als Basis der künstlerischen Existenz vorführen: das Gespräch über die Kunst und ihre Grundlagen und theoretischen Voraussetzungen, erscheint vor diesem Hintergrund obsolet, das Kunsturteil als Moment der gleichzeitigen Bildung auf dem Gebiet der Sinnlichkeit und Vernunft in der beide verbindenden Kategorie des Geschmacksurteils als der Kunst äußerlich. Der Geschmack wird von der Sprache als Medium des Verstandes getrennt:

462 Ebd., S. 1002f. 463 Ebd., S. 1003. 464 Vgl. hierzu: Berghahn, Wagnis der Autonomie, S. 136f., der in Bezug auf die Kunstwerke der Antike feststellt: „Moritz entwirft im Gegenzug am Apoll […] eine Hermeneutik der Plötzlichkeit, die Winckelmanns Moment der im beschreibenden Nachvollzug aktualisierten Plastik […] aufbricht in der Denkfigur der Simultaneität, der ‚blitzartigen Zusammenschau‘. […] Dieses Zusammenziehen der historischen Zeit in die Immanenz des anschauenden Moments [Hervorhebung S.K.] wird für die Erfahrung der Stadt Rom entscheidend.“ 465 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 974.

236

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Der Geschmack, oder die Beurteilung des Schönen, gehört ja eben so, wie das Schöne selbst, zu den Sachen, die wir nicht brauchen, sobald wie sie nicht kennen, und nicht entbehren, sobald wir sie nicht haben; deren Bedürfnis erst durch den Besitz entsteht, wo es sich durch sich selbst befriedigt: geht also das Bedürfnis vor dem Besitz vorher, so kann es nicht anders als eingebildet oder erkünstelt sein. Was uns daher allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand; vorhergegangne ruhige Betrachtung der Natur und Kunst, als eines einzigen großen Ganzen, das in allen seinen Teilen sich in sich selber spiegelnd, da den reinsten Abdruck läßt, wo alle Beziehung aufhört, in dem echten Kunstwerke, das, so wie sie, in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht seines Daseins in sich selbst hat.466 Diese Auffassung vom Kunstwerk, die den Grundstein der Autonomieästhetik bildet, wendet sich gegen alle Versuche, die Kunst in das Erziehungs- und Bildungsprogramm der Aufklärung zu integrieren, indem sie jenes als der Kunst unangemessen betrachtet. Die Ausbildung eines Vermögens zum Geschmacksurteil, das auf dem spielerischen Feld der Ästhetik die Fähigkeit zum Urteilen insgesamt einübt, wie Schiller es später in seiner Erziehung des Menschengeschlechts formuliert, wird von Moritz zurückgewiesen. Während Schillers Auffassung von Kunst in einer Instrumentalisierung derselben den Menschen in den Mittelpunkt des Kunstdiskurses setzt, geht Moritz den entgegengesetzten Weg: Nur indem der Mensch sich selbst vergißt und die Kunst zum Mittelpunkt macht, kann er das Schöne der Kunst angemessen rezipieren und genießen. Anton Reisers Scheitern an der Kunst erklärt sich dadurch, daß er sich selbst als Zentrum setzt, indem er alles auf sich selbst bezieht. Diese Selbstbezüglichkeit Antons ist seinen Erfahrungen mit der Sprache geschuldet, deren Signifikat sich Anton zunächst als Leerstelle darstellt. Diese Leerstelle füllt er nun mit seiner eigenen Person, die zum Bedeutungszentrum aller Kunst wird. Anstatt aus sich hinaus- und zur Kunst hinüberzugehen, zieht Anton Reiser die Kunst zu sich. Er füllt damit das leere Signifikat der Sprache mit seiner Person und gleichzeitig die leere Identität seiner Person mit der Kunst. Um diesem Abhängigkeitsverhältnis zu entkommen, ist eine Abkopplung der Sprache des Subjekts sowie derjenigen der Kunst von der Rhetorik notwendig, welche die Basis von Antons Zugang zur 466 Ebd., S. 983.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

237

Sprache darstellt – die drei rhetorischen Bereiche von Predigt, Deklamation und Schauspiel wurden bereits erwähnt. Es ist folglich weniger Antons allzu lebhafte Empfindungskraft, die ihn zum geeigneten Vorbild für die Künstler der nachfolgenden Künstlerromane macht, sondern die dem Roman einbeschriebene Forderung nach einer authentischen Sprache, die in der Lage ist, das Ganze der Natur und Kunst, das sich der sinnlichen Erkenntnis in einem Moment der Sprachlosigkeit als Bild präsentiert, in Worte zu fassen. Während Heinses Ardinghello eine authentische Sprache des Schönen und der Kunst gefunden hat, die auf der gemeinsamen Grundlage des Genusses die Intensität des Erlebens in eine Intensität des Sprechens zu übersetzen vermag, ringt Tiecks Franz Sternbald unaufhebbar mit diesem Problem. Das Sprechen über Kunst und das epiphanische Erleben von Kunst bleiben für ihn unvereinbar, bilden aber dennoch die immer aufeinander bezogenen Pole seiner Identität als Künstler. Anton Reiser hingegen ist eine Versöhnung mit der Sprache versagt. Am Ende des Romans versucht er, zum Kern seines Wesens vorzudringen, indem er seinen Freunden seine wahre Gefühlslage offenbart: Er machte seinen Freunden sogleich den Entschluß bekannt, daß er gesonnen sei, mit der Sp…schen Truppe nach Leipzig zu gehen, daß er einen unwiderstehlichen Trieb in sich fühle, der ihn unglücklich machen würde, wenn er ihn überwinden wollte, und der ihn in allen seinen Unternehmungen doch immerfort hindern würde. (AR, S. 515) Er überzeugt nicht nur seine Freunde, sondern auch den Regierungsrat Springer, und selbst Froriep läßt ihm freie Hand. Scheinbar endlich zu sich selbst gekommen, muß Anton Reiser nun feststellen, daß sich die Welt um ihn herum aufgelöst hat, da sie nur aus rhetorisch erzeugten Bildern bestanden hat, die keine Beziehung auf sein wahres Inneres hatten.

238

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

8

Die Vermeidung des Konflikts von Kunst und Leben durch die Alleinherrschaft der Phantasie: Jean Paul, Flegeljahre Ich lasse Dich, wie Du warst, und gehe, wie ich kam. […] Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen. Vult im Brief an Walt (Flegeljahre, S. 1081)

Als spätestes der behandelten Werke schließt Jean Pauls 1804 erschienener Roman Flegeljahre467 chronologisch die mit Moritz’ Anton Reiser begonnene Reihe der Künstlerromane und präsentiert die zweite der „Extremformen“ einer Künst­ lerexistenz. Der Text ist der vorletzte der großen Romane Jean Pauls: er läutet eine Schaffenspause ein468 und wird sogar als „Abschied von der Poesie“469 bezeichnet. In den Jahren 1795–1804470 parallel zur Vorschule der Ästhetik471 entstanden, knüpft der Roman an die mittlerweile etablierte Form des Bildungsromans und dessen spezielle Unterform, den Künstlerroman, an: Der Untertitel „Eine Bio­ graphie“ verweist auf die Geschichte eines Lebens als Thema, die Hauptfigur, Gottwalt Harnisch, wird schon vor seinem ersten Auftreten als Dichter, genauer, als „etwas elastischer Poet“ (Flegeljahre, S. 588) im Testament des verstorbenen van der Kabel bezeichnet. Doch bereits der Titel konterkariert die Zugehörigkeit zur Gattung des Bildungsromans, der spätestens seit Goethes Wilhelm Meister mit den Vorstellungen von der allseitigen Bildung eines Individuums in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft verknüpft ist. „Flegeljahre“ lassen weniger 467 Jean Paul, Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 2: Siebenkäs. Flegeljahre, hrsg. von Norbert Miller, München/Wien 1959, S. 577–1088. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe. Im Folgenden wird der Roman mit ‚Flegeljahre‘ bezeichnet, die daraus entnommenen Zitate mit der Seitenzahl im Fließtext bezeichnet. 468 Vgl. hierzu Gustav Lohmann, Jean Pauls „Flegeljahre“ gesehen im Rahmen ihrer Kapitelüberschriften, Teil 2, Würzburg 1995, S. 254. 469 Vgl. hierzu Ralf Berhorst, Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie, Tübingen 2002, S. 396f. 470 Jean Paul, Flegeljahre, Anmerkungen, S. 1170. 471 Jean Paul, Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 5: Vorschule der Ästhetik. Levana. Politische Schriften, 6., korrigierte Auflage, München/Wien 1995, S. 7–514.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

239

auf Bildung, als auf ungestüme Jugend schließen, die komplexen Verflechtungen der Autorfiktion, die einen J.P.F. Richter textintern als den „habile[n], dazu gesattelte[n] Schriftsteller von Gaben“ nennt, der gemäß dem Testament des van der Kabel „die Geschichte und Erwerbzeit [des] möglichen Universalerben und Adoptivsohnes“ (Flegeljahre, S. 592) aufschreibt, und der Figurenkonstruktion, die wiederum Vult als den Verfasser der von Jean Paul im Jahr 1783 veröffent­ lichten Grönländischen Prozesse (Flegeljahre, S. 666) ausweist, widersprechen der Forderung an den Bildungsroman, eine Schilderung der „innre[n] Geschichte des Menschen“472 zu präsentieren, indem sie die Herkunft der Erzählerstimme derart undurchschaubar gestalten. Die Widersprüchlichkeiten spitzen sich zu in Bezug auf das Genre der ‚Biographie‘. Der fiktive Erzähler J.P.F. Richter klagt über seine Aufgabe als Biograph, denn: Ein Jammer ist es eben und ein unbestimmliches Unglück für die ganze schöne Literatur, daß sie [die Geschichte von Gottwalt Harnisch] wahr ist – daß mir so etwas nicht früher eingefallen als zugefallen – daß ich unglückliche Haut, an Testaments-Klauseln und Naturalien-Nummern gefesselt gehend wie an klein-schrittigem Weiber-Arm, nichts von romantischen Gaben und Blüten (indem ich doch auch unter den Romanciers mitlaufe) künstlich pelzen darf auf solchen Stamm – – O Kritiker! Kritiker, wär’s meine Geschichte, wie sollt’ ich sie für euch erfinden und schrauben und verwirren und quirlen und kräuseln! (Flegeljahre, S. 932) Ihr geradezu entgegengesetzt erscheint die Bemerkung des Bürgermeisters Kuhnold, der dem Schreiber der Waltschen Biographie, J.P.F. Richter, die unveränderte Aufnahme des von Vult geschriebenen Tagebuchs über Walt untersagt mit der Begründung: Unsere Biographie soll doch, der Sache, der Kunst, der Schicklichkeit und dem Testamente gemäß, mehr zu einem historischen Roman als zu einem nackten Lebenslauf ausschlagen; so daß uns nichts Verdrüßlicheres begegnen könnte, als wenn man wirklich merkte, alles sei wahr. (Flegeljahre, S. 1002)

472 Blanckenburg, Versuch über den Roman, Teil II, Kapitel 10, S. 390f.

240

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Die problematische Konzeption des Bildungsromans als Geschichte eines Menschen, die durch diese sich widersprechenden Zuschreibungen in den Blick gerückt wird, erscheint auf der Handlungsebene ebenfalls in mehreren Spiegelungen. Der Held des Romans, Gottwalt Harnisch, befindet sich in der für den Beginn eines Bildungsromans typischen Situation eines Übergangs, der zunächst dadurch gekennzeichnet ist, daß er das Ende seiner Ausbildung zum Juristen erreicht hat und der Leser Zeuge seines mündlichen Examens durch den Pfalzgrafen Knoll wird (Flegeljahre, S.  627–629). Dieser Übergang wird allerdings potenziert durch den Eintritt des Erbfalls van der Kabel, der Walt als Universalerben in bestimmte Erbämter zwingt. Diese Erbämter, mit denen Walt nach van der Kabels Willen dessen „Leben, wie folgt, wieder nach- und durchlebt“ (Flegeljahre, S. 588), da Kabel „alles das […] eben selber durch[lebt], nur länger“ (Flegeljahre, S. 589), stellen das Programm einer Erziehung vor, das den weltfremden Dichter Walt mit den Zwängen der Gesellschaft bekannt machen soll: Die pädagogische Absicht der Testamentsbedingungen ist unverkennbar. In ihrer Forderung nach dem Durchlaufen verschiedenster Berufe, die vielfältige Tätigkeiten, Kontakte mit den unterschiedlichsten Menschen und insgesamt die konzentrierte Aneignung der Erfahrung eines ganzen Lebens versprechen, präsentieren sie sich als Erziehungsprogramm im Sinne einer Entwicklung zur allseitig gebildeten Persönlichkeit.473 Die von Jean Paul an Wilhelm Meister von Goethe, den er als Dichter außerordentlich geschätzt hat, beanstandete Tatsache, daß die Bildung Wilhelms keine Entfaltung innerer Anlagen, sondern ein von außen fremdbestimmter Werdegang ist,474 wird im Motiv des Erbämter-Programms pointiert dargestellt und das Ziel der Bildung einer Persönlichkeit durch Arbeits- und Ausbildungszusammenhänge als absurd vor Augen geführt. Die Erbämter sind Scheinumwege auf dem Weg zu Walts eigentlichem Ziel, dem Leben als Dorfpfarrer, das er sich allerdings gar nicht durch eine gut gewählte Ausbildung erfüllen kann, da der Vater ihn mithilfe der Mutter zum Jurastudium gezwungen hat, sondern als letzte Bedingung für den Erbantritt erfüllen muß. Die Fehler, die Walt während der Erbämter macht, dienen dementsprechend auch nicht der Reifung seiner Persön473 Andreas Böhn, Vollendende Mimesis. Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis, Berlin/New York 1992 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, NF, Band 101], S. 76. Zur Interpretation der Erbämter als Bildungsprogramm vgl. auch Mayer, Bildungsroman, S. 106. 474 Ebd., S. 79.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

241

lichkeit und der Erfahrung, sondern verringern lediglich nach der Maßgabe der jeweiligen „Reguliertarife“ das materielle Erbe Walts, der in seiner weltfremden Art mit Geld sowieso wenig anzufangen weiß. Mit der Reise, die Walt im dritten Bändchen des Romans unternimmt, greift Jean Paul wiederum ein Element des Bildungsprogramms auf, das, zunächst als Erscheinung der Kavalierstour von England herkommend,475 den Eingang in den Bildungsroman gefunden hat als eine Wanderung, die den zu bildenden Protagonisten mit Welt und Erfahrungen konfrontiert und ihn nach einigen Wirrungen und Umwegen seiner – inneren wie äußeren – Bestimmung zuführt. Die vermittelte Herkunft aus dem Bildungsroman wird dabei ebenso direkt thematisiert wie die Irrwege einer Wanderung, die als Metapher der Seelenzustände vor allem im romantischen Roman eine zentrale Rolle spielt.476 So beschließt Walt, nachdem er zunehmend zärtliche Gefühle für Wina empfindet, da ihm „Rock, Stube und Stadt zu enge wurden“ (Flegeljahre, S. 843), eine Reise, wie er sie aus der Lektüre von Romanen kennt: „Er reisete unsäglich gern, besonders in unbekannte Gegenden, weil er unterwegs glaubte, es sei möglich, daß ihm eines der romantischsten lieblichsten Abenteuer zuflattere, von dem er noch je gelesen.“ (Flegeljahre, S. 843f.) Walt ist somit „Autor“ einer literarischen Vorbildern nachempfundenen Reise und Protagonist derselben in einer Person, ein Unterfangen, das nur gelingen kann, weil er in einer Art von Selbsttäuschung die Gegend, die er durchwandern möchte, als eine ihm unbekannte betrachtet, obwohl es sich um die ihm sehr gut bekannte rund um seine Heimatorte Haßlau und Elterlein handelt: Seine Hauptabsicht war es, den Namen der Stadt gar nicht zu wissen, der er etwa unterwegs aufstieß, desgleichen der Dörfer. Durch eine solche Unwissenheit hofft’ er ohne alles Ziel unter den geschlängelten Blumenbeeten der Reise umherzuschweifen und nichts zu begehren so wie zu besehen, als was er eben habe – in einem fort bei jedem Tritt anzukommen – sich in jedes goldgrüne Lust-Wäldchen zu betten, und ständ’ es hinter ihm – in jeder Ortschaft selber den Namen der Ortschaft zu erfragen und darüber sich heimlich zu ergötzen – und dabei, bei solchen Maßregeln in einem solchen Strich Landes, der vielleicht mit Landhäusern, Irrgärten, Tharan475 Vgl. hierzu Berhorst, Anamorphosen, S. 393. 476 Michael Vonau deutet die Reise als Roman im Roman, vgl. Michael Vonau, Quodlibet. Studien zur poetologischen Selbstreflexivität von Jean Pauls Roman „Flegeljahre“, Würzburg 1997 [Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte, Band 2], S. 52f.

242

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

den, plauischen Gründen vorher, Bergschlössern voll heruntersehender Fräuleins-Augen, Kapellen voll aufgehobener Bet-Augen und überhaupt mit Pilgern, Zufällen und Mädchen ordentlich übersäet sein konnte, in romantische Abenteuer von solcher Zahl und Güte hineinzugeraten, als er freilich nie erwarten konnte. (Flegeljahre, S. 855) Neben Walt und seiner bewußten Inszenierung des Unwissens gibt es in Vult einen weiteren Regisseur der Reise, der jedoch im Verborgenen arbeitet. Zwar kündigt er sich dem Leser bereits durch wiederkehrende Flötenmusik an, Walt jedoch erkennt die Leitung der Reise durch seinen Bruder erst, als dieser ihn über seine Autorschaft des von Walt auf der Wanderung gekauften Quodlibets aufklärt und schließlich bekennt: Sanft hob Vult die Larve ab, sah ihn heiter an und sagte: „Ich weiß nicht, was deine Gedanken über die Sache sind; ich sentiere, daß sowohl der Larvenherr und Flötenspieler als auch ich und der Briefschreiber dieselben Personen sind.“ (Flegeljahre, S. 939) Die geheime Lenkung der Reise durch eine vernünftige Instanz unterstreicht den schon im Titel Flegeljahre (als Gegensatz zu den Lehrjahren) gesetzten intertextuellen Bezug zu Goethes Wilhelm Meister, dessen Protagonist auch erst am Ende seiner Reise darüber aufgeklärt wird, daß vieles von dem, was er für Zufälle gehalten hatte, von der Turmgesellschaft klug inszenierte Um- und Irrwege waren. Wilhelms Durchgangsphase beim Theater wird in der verkürzten Form des gemeinsamen Aufenthalts mit Schauspielern in einem Wirtshaus nachempfunden, die erotische Versuchung, die Philine für Wilhelm darstellt, taucht für Walt in Jakobine auf, wobei die Parallelen bis in Details gehen: wie Philine arbeitet Jakobine an einem Strickzeug, als sich Walt neben sie setzt, hier wie dort werden die Schuhe als erotisches Detail eingesetzt (Flegeljahre, S. 892f.), und während Philine Wilhelm in seinem Zimmer überrascht und ihn in der Dunkelheit verführt, stürmt Jakobine in Walts unabgeschlossenes Zimmer, vorgeblich um durch das Fenster auf die Straße zu schauen. Die sich anbahnende Verführung des unschuldig-naiven Walt verhindert Vult, indem er seine Maske durch das geöffnete Fenster ins Zimmer wirft. (Flegeljahre, S. 915ff.) In Walts romantischer Reise erscheint einmal mehr das Moment der Autoreflexivität im Roman, das diesem nicht nur als die eigene Zugehörigkeit zum Genre des Bildungsromans kritisch reflektierende Grundstruktur implizit ist,

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

243

sondern permanent explizit thematisiert wird. Walts Bildungsreise ist eine auf der Grundlage von Romanlektüre inszenierte, sie verweist auf andere Romane und dient selbst wiederum zum Stoff für einen Roman, nämlich den Doppelroman der beiden Brüder: nicht zuletzt auf Erlebnisse, die er in den Hoppelpoppel oder das Herz verarbeiten kann, hofft Walt auf seiner Reise. („Beide Brüder freuten sich wochenlang auf alles, was jeder nun dem andern Geschichtliches werde zu erzählen haben, wenn er wochenlang weggewesen; jetzt war Walt der Geber.“ Flegeljahre, S. 853) Die vielfache Spiegelung von Realität und Fiktion, die durch das intratextuelle Spiel mit dem Namen des extratextuellen Autors Jean Paul selbst für den Leser zu einem verwirrenden Gemisch aus Bildern wird, hat ihr Zentrum in Walt, der auf der einen Seite abgebildet werden soll, auf der anderen Seite aber selbst permanent an der Produktion von Bildern arbeitet. Walt vermag zwischen Realität und Fiktion nicht zu unterscheiden, sein poetischer Blick auf die Welt läßt diese zum Abbild einer poetischen Fiktion werden. Während die Unfähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Fiktion für Anton Reiser zu einem existentiellen Problem führt, weil er sich immer wieder unsanft an der Realität stößt und seine Bilder sich schließlich zerstreuen, bleibt für Walt die Konfrontation mit der Realität im Sinn einer Kollision aus. Der Unterschied zwischen Reiser und Walt liegt dabei vor allem darin, daß Reiser sich eine zweite Welt aus inneren Bildern zusammensetzt, deren Projektionen durch die Realität zerstört werden, während Walts Projektionen sich aus äußeren Bildern speisen, die er dann poetisch umdeutet. Zwar entstehen dabei teilweise bis zum Lächerlichen komische Momente, die Walt aber nie als solche zu Bewußtsein kommen.477 In seiner unbewußten, aber beharrlichen Weigerung, eine Korrektur seiner poetischen Bilder durch die Realität zuzulassen, scheint er vielmehr diese nach seinen Wünschen zu zwingen: nachdem er das poetische Bild einer Sehnsucht nach Freundschaft für den Roman im Roman entwirft, verspürt er selbst diese Sehnsucht, die sich dann auch sofort in einer realen Erscheinung verkörpert, nämlich im Grafen Klothar, der als schöner Jüngling in die Handlung eintritt; als Walt von der Verlobung Klothars mit Wina hört, verliebt er sich zunächst derart in die Liebe („denn für eine schöne Seele gibt es keine schönere als des Freundes Geliebte“; „Walt – in die Liebe verliebt – erinnerte sich mit Vergnügen an Kuhnolds bekannte fruchttragende Ehe voll Töchter.“, 477 Ein Beispiel hierfür ist die Szene im Garten von Peter Neupeter, in der Walt Raphaelas Strumpfband findet, es aber für ein Armband hält und es ihr deshalb ungeniert nachträgt. Seine poetischen Ergüsse bei der Übergabe erscheinen harmlos-pathetisch für denjenigen, der das Band für ein Armband hält, für denjenigen, der es als Strumpfband identifiziert hingegen peinlich-zweideutig: „er sei so glücklich gewesen, ein schönes Band der Liebe zu finden, eine Sehne an Amors Bogen, gleichsam den größern Ring an schöner Hand, und er wisse nicht, wer glücklicher sei, der, so ihn abzöge, oder der ihn anlegte.“ (Flegeljahre, S. 833)

244

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Flegeljahre, S. 722f. u. 725), daß ihm die passende Frau dafür in der Figur von Wina begegnet – vorerst als Geliebte des Freundes Klothar, nach deren Trennung dann als Objekt der eigenen Liebe. Damit erfüllt sich nicht nur Walts Sehnsucht nach der Liebe als solche, sondern auch eine schon früher formulierte Vorstellung: „denn er war dermaßen mit Erwartungen ganz romantischer Naturspiele des Schicksals, frappanter Meerwunder zu Lande ausgefüllet, daß er es eben nicht über sein Vermuten gefunden hätte – bei aller Achtung eines Stubengelehrten und Schulzensohnes für höhere Stände –, falls ihm etwa eine Fürstentochter einmal ans Herz gefallen wäre, oder der fürstliche Hut ihres Herrn Vaters auf den Kopf.“ (Flegeljahre, S. 657) Während die ersehnte Freundschaft zu Klothar aufgrund von dessen Standesdünkel und Walts unglücklichem Bekenntnis, er habe den Brief Winas an Klothar Winas Vater übergeben, nicht zustande kommt, kann Walt die von ihm wie auch von Vult geliebte Frau für sich gewinnen. Die Bezwingung der äußeren Welt mittels ihrer permanenten Überblendung durch innere Bilder entspricht Jean Pauls Charakterisierung des Dichters in seiner kleinen Schrift Über die natürlich Magie der Einbildungskraft, die 1796 unter der Rubrik der „Jus de tablette für Mannspersonen“ dem Leben des Quintus Fixlein angefügt ist: Im Rausche dringen die Wolken der innen brennenden Räucherkerzen hinaus und legen sich außen an den Gegenständen an und geben ihnen eine vergrößerte, abgeründete, zitternde Gestalt. In der Liebe ist das Amalgam der Gegenwart mit der Phantasie noch inniger. Schaue die Gestalt an, die du einmal geliebt hattest und die nun mit allen ihren Reizen nicht einmal den idealischen Zauber einer Bildsäule für dich hat! Warum sonst ist sie jetzt ein lackierter Blumenstab für dich, als bloß weil alle Rosen, die deine Phantasie an diesem Stabe hinaufgezogen, nun ausgerissen sind? […] Noch mehr. Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist, finden auch außerhalb desselben keine geringeren. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremden Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern – gesetzt er wäre das selber – zumute ist.478 478 Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, in: ders., Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 4: Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hrsg. von Norbert Miller, 4. korrigierte Auflage, München/Wien 1988, S. 195–205; S. 198.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

245

Dies entspricht der Veranlagung, die bereits Karl Freye in Jean Pauls Studienblättern zu Walt vorfindet, „poetische Phantasie“479, und die im Gegensatz zum für Vult festgehaltenen Charakteristikum, „Verstand“480 steht. Die Gegenüberstellung der beiden Brüder spiegelt dabei eine Dichotomie wider, die Schlaffer als Struktur des gesamten Werks von Jean Paul herausgestellt hat: den „Gegensatz von satirischer und idealer Welt, von humoristischer und empfindsamer Darstellung, […] von Gegenwart und Zukunft.“481 Gemäß der Definition der Poesie, die Jean Paul zu Beginn der Vorschule der Ästhetik formuliert, erzeugt Walt durch seine poetische Phantasie eine „zweite Welt in der hiesigen“482. Hierbei dient ihm die Wirklichkeit als Material, das er poetisch uminterpretiert und dabei ähnlich wie der mit Bildungstrieb ausgestattete Künstler bei Karl Philipp Moritz die Welt in sich aufnimmt und als neue wieder aus sich herausbildet,483 aber auch die aus der Lektüre literarischer Texte gewonnenen Bilder, die er den realen gleichberechtigt an die Seite stellt. Seine bevorzugte Identifikationsfigur ist Petrarca sowie die diesem vorausgegangene Troubadour-Dichtung, aus der er die Bilder des höfisch gesinnten Liebenden und seiner fernen Geliebten als Protagonisten ebenso bezieht wie topische Elemente des Frauenbildes und der eigenen Gefühlslage.484 Die für die Romantik durch Wackenroder und Tieck topisch gewordene Hinwendung zu mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur sowie die empfindsame Vorliebe für Lyrik verschmelzen in der Verehrung Petrarcas, die Walt und seine

479 Karl Freye, Jean Pauls Flegeljahre. Materialien und Untersuchungen, Berlin 1907 [Palaestra LXI], S. 86. 480 Ebd., S. 87. 481 Heinz Schlaffer: „Jean Paul“, in: Uwe Schweikert (Hrsg.), Jean Paul, Darmstadt 1974 [Wege der Forschung, Band CCCXXXVI], S. 389–410; S. 403. Auf diese Gegenüberstellung der Brüder als Verkörperung von Verstand und Gefühl/Phantasie ist in der Folge noch häufig hingewiesen worden, z.B. Bernhard Buschendorf: „‚Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt.‘ Zur relativen Autonomie des Ästhetischen bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, hrsg. von Helmut Pfotenhauer, 35./36. Jahrgang, Weimar 2001, S. 218–237; insbes. S. 235. 482 Jean Paul, Vorschule, Über die Poesie überhaupt, § 1: Ihre Definitionen, S. 30. 483 Moritz, Bildende Nachahmung, S. 270ff. 484 Beispiele für Walts Troubadour-Stimmungen sind folgende: Beim Konzert des angeblich blinden Vult gerät Walt beim Anblick der Frauen bereits in eine petrarkische Stimmung: „Da er schon seit Jahren gewünscht hatte, in einem schönen weiblichen Auge von Stand und Kleidung einer Träne ansichtig zu werden“ (Flegeljahre, S. 760f.), die sich beim Anblick von Wina noch verstärkt: „Als Walt die Jungfrau erblickte, sagte die Gewalt über der Erde: ‚sie sei seine erste und seine letzte Liebe, leid’ er, wie er will.‘“ (S. 762); ähnliche Stellen sind: S. 843 (Entfernung der Geliebten als Ideal und als Berechtigung zur Liebe, da sie ja unentdeckt bleibe), S. 919ff. (Erkennen der gegenseitigen Liebe von Walt und Wina lediglich durch Blickwechsel, Natur als Seelenlandschaft, Verklärung Winas), S. 1063 (wiederum Verklärung Winas in der Rotunda des Neupeterschen Parks, Walt fällt ihr zu Füßen: „so sank er auf die Knie, unwissend, ob zum Beten oder zum Lieben, und sah auf zu ihr, welche vom Mond wie eine obenherabgekommene Madonna umkleidet wurde mit dem Nachtglanze des Himmels. Sie legte sanft die rechte Hand auf sein lockiges Haupt“)

246

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Poetisierung der Welt wiederum in die Nähe Don Quijotes rückt.485 Neben der bewußten Nachahmung Petrarcas und der Dichter der scuola siciliana und des dolce stil nuovo, die sich in seiner Begeisterung für das Sakrale, insbesondere das Katholische, in Verbindung mit der Liebe, im Ideal einer fernen Geliebten, in der Aufladung der Landschaft als Spiegel seiner Seele aber auch in seiner Vorstellung, wie Petrarca am Hof unter Adligen zu verkehren,486 manifestiert, existiert in der Inszenierung des Lebens noch eine weitere, allerdings etwas schiefe Analogie zwischen den beiden Dichtern. Während Walt unreflektiert die Realität zu einer Verlängerung seiner Phantasie macht und damit sich und sein Leben einer poetischen Umdeutung und Inszenierung unterzieht, hat Petrarca diese Inszenierung bewußt betrieben, indem er sich seinerseits an literarischen Vorbildern, vor allem Cicero und Horaz, orientiert und seine eigene Biographie systematisch umgedeutet hat; auch die längst Topos gewordene Begegnung mit der Geliebten in einer Kirche, die Stufen der Annäherung in Form von Blick und Gruß, fallen unter die Kategorie der Inszenierung.487 Durch die naive Nachahmung eines selbst schon auf Nachahmung beruhenden Bildes von einem Dichter wird das Urbild in immer größere Ferne und Unschärfe verschoben, Walts Phantasie immer weiter von der ihn umgebenen Realität abgelöst. In je weitere und erhabenere Ferne das nachgeahmte Bild rückt, desto komischer wirkt es in der Konfrontation mit der Wirklichkeit. Walt erfüllt unwissend die Bedingungen des romantischen Komi485 Hinweise auf Cervantes’ Don Quijote als Referenztext sind in den Flegeljahren an verschiedenen Stellen explizit enthalten, so z.B., wenn Vult bemerkt: „‚Ich denke roher‘, sagte Vult, ‚ich respektiere alles, was zum Magen gehört, diese Montgolfiere des Menschen-Zentaurs; der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus‘.“ (Flegeljahre, S. 670) oder auf Walts literarischer Reise: „Wär’ ihm Don Quixotes Rosinante auf einer Wiese grasend begegnet, er hätte sich frei auf die nackte geschwungen (er wäre sein eigener Sattel gewesen), um in die romantische Welt hineinzureiten bis vor die Haustüre einer Dulzinee von Toboso. Er sah vorübergehend in eine hackende Ölmühle und trat hinein; die Riesenmaschinen kamen ihm lebendig vor, die hauenden Rüssel, die unaufhaltbaren Stampf-Mächte und Klötze wurden von seltsamen Kräften und Geistern getreten und aufgehoben.“ (Flegeljahre, S. 896). 486 Als Vult auf den Standesunterschied zwischen dem Grafen Klothar und Walt aufmerksam macht, indem er das Bild der italienischen im Vergleich mit der deutschen Schule in Bezug auf die Malerei benutzt, reagiert Walt verständnislos: „Walt schwieg verwundet, weil er sich gar nicht für einen Teniers, sondern eher für einen Petrarca hielt.“ (Flegeljahre, S. 800) 487 Eine solche mit vielen petrarkischen Topoi aufgeladene Szene ist z.B. folgende: „Im Tempel fand er sie kniend und gebogen auf den Stufen des Hochaltars, ihr schmuckloser Kopf senkte sich zum Gebet, ihr weißes Kleid floß die Stufen herab. – Der Meßpriester in wunderlicher Kleidung und Bedienung machte geheimnisvolle Bewegungen – die Altarlichter loderten wie Opferfeuer – ein Weihrauchwölkchen hing am hohen Fensterbogen – und die untergehende Sonne blickte noch glühend durch die obersten bunten Scheiben hindurch und erleuchtete das Wölkchen – unten im weiten Tempel war es Nacht. Walt, der Lutheraner, dem ein betendes Mädchen am Altare eine neue himmlische Erscheinung war, zerfloß fast hinter ihrem Rücken in Licht und Feuer, in Andacht und Liebe. Als wäre die heilige Jungfrau aus dem beflammten Altarblatte, worauf sie gen Himmel stieg, herabgezogen auf die Stufen, um noch einmal auf der Erde zu beten, so heiligschön sah er das Mädchen liegen.“ (Flegeljahre, S. 837f.)

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

247

schen, das Jean Paul beschreibt als „unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber.“488 Die ständige, Walt selbst im Gegensatz zum Leser und auch zu Vult nicht bewußte Diskrepanz zwischen seinen poetischen Idealen und der ihn umgebenden Wirklichkeit gründet vor allem darin, daß Walt als literarische Figur einer Stilebene angehört, die Jean Paul als die deutsche Schule bezeichnet und die durch einen gewissen Abstand zu romantischen Idealen gekennzeichnet ist: „Die zweite Klasse, die Romane der deutschen Schule, erschwert das Ausgießen des romantischen Geistes noch mehr als sogar die niedrige dritte. […] Nichts ist schwerer mit dünnem romantischem Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratioren.“489 Walts Selbstbild und sein Blick auf die Wirklichkeit entstammen aber durchweg der hohen, italienischen Schule, in der sich all das wiederfindet, was Walt in seine Umgebung projiziert:490 In ihnen [den Romanen der italienischen Schule] fallen die Gestalten und ihre Verhältnisse mit dem Tone und dem Erheben des Dichters in eins. Was er schildert und sprechen läßt, ist nicht von seinem Inneren verschieden; denn kann er sich über sein Erhabnes erheben, über seine Größtes vergrößern? […] In diesen Romanen fodert und wählt der höhere Ton ein Erhöhen über die gemeinen Lebens-Tiefen – die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände – weniger Individualisierung – unbe­ stimmtere oder italienische oder natur- oder historisch ideale Gegenden – hohe Frauen – große Leidenschaften etc. etc.491 Die Zugehörigkeit Walts zum Personal der mittleren und die der von ihm begehrten Figuren, Klothar und Wina, zur höheren Klasse sowie die daraus resultierende Komik werden besonders bei Walts Werben um die Freundschaft mit Graf Klothar deutlich. Dieser empfindet Walts anfängliche Annäherungen als lästig: „Aber den Jüngling verdroß es [Walts Nähe], und er verließ den Tisch.“ (Flegeljahre, S. 701); „Er suchte ihm noch sechs- oder siebenmale aufzustoßen und zog ebensooft – aus Unbekanntschaft mit der Garten-Kleiderordnung – den Salutier-Hut, was zuletzt dem Grafen so verdrüßlich fiel, daß er unter Dach und 488 Jean Paul, Vorschule, § 31: Begriff des Humors, S. 124. 489 Ebd., § 72: Der poetische Geist in den drei Schulen der Romanmaterien, der italienischen, der deutschen und niederländischen, S. 254. 490 Vgl. hierzu auch Berhorst, Anamorphosen, S. 390f. 491 Jean Paul, Vorschule, § 72: Der poetische Geist, S. 253f.

248

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Fach auswich.“ (Flegeljahre, S. 721) Er würdigt Walt trotz gleicher Ansichten in Bezug auf die Poesie erst in einer aus dem Theaterfundus geliehenen Verkleidung als Meinau aus Kotzebues Rührstück Menschenhaß und Reue einer Unterhaltung. Am Ziel seiner Wünsche angekommen, gesteht Walt dem vermeintlich neu gewonnenen Freund die Verkleidung und wird bitter enttäuscht: Statt der über Standesgrenzen hinweggehenden Liebe des Freundes schlägt ihm die Verachtung entgegen, die Klothar ihm auch zuvor schon entgegengebracht hatte. Nur für die kurze Dauer der Inszenierung, die bereits durch die Kleidung Walts, die aus einer Theatergarderobe besteht, in den Bereich des Fiktiven verweist, ist eine scheinbare Überwindung der Grenzen von Adel und Bürgertum, hoher und mittlerer Romanschule herstellbar. Während Vult den Grafen zutreffend einschätzt und Walt auch mehrfach warnt, ruft Walt wiederum ein poetisches Bild ab, das seinen Umgang mit dem Grafen als möglich erscheinen läßt: Die Sache war indes, daß der Notar schon seit geraumen Jahren, wo er Petrarcas Leben gelesen, sich für einen zweiten Petrarca still ansah, nicht bloß in der ähnlichen Zeugungskraft kleiner Gedichte – oder darin, daß der Welsche von seinem Vater nach Montpellier geschickte wurde, um das Jus zu studieren, das er gegen Verse später fahren lies –, sondern auch – und hauptsächlich – darin mit, daß der erste Petrarca ein gewandter zierlicher Staatsmann war. (Flegeljahre, S. 709) Die Verdoppelung der Welt innerhalb des Romanes, die durch Walts Poetisierung derselben zustande kommt, führt zu einem Nebeneinander der zwei Ebenen, die sich nicht nur in der Parallelität der beiden sie verkörpernden Figuren Walt und Vult äußern, sondern auch auf der Ebene der Sprache: „Die Bauform der ‚Flegeljahre‘ ist antithetischer Art, sie beruht auf dem Kontrast zweier verschiedener Stilebenen und strebt über den bloßen Kontrast hinaus zur Kontrastharmonie.“492 Das Pendeln zwischen den beiden den Roman konstituierenden Polen mittlerer und hoher Stil, Vernunft und Phantasie, Vult und Walt, findet seinen emblematischen Ausdruck im von Walt gekauften Quodlibet als „poetologische[m] Konzentrationspunkt der Flegeljahre“493. Der dort als Zeichnung enthaltene Januskopf, der die Gesichter von Walt und Vult zeigt, weist über den Roman und seinen Spannungsraum zwischen den beiden Polen, die durch die beiden Brüder 492 Hermann Meyer: „Jean Pauls ‚Flegeljahre‘“, in: Uwe Schweikert, Jean Paul, a.a.O., S. 208–265; S. 214. 493 Vonau, Quodlibet, S. 12.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

249

verkörpert werden, hinaus auf die ästhetische Theorie Jean Pauls, wo jener zunächst im Zusammenhang mit dem Genie auftaucht, das die Janusköpfigkeit des Menschen zu überwinden vermag: Und so findet man denn bei dem Volke innere und äußere Welt, Zeit und Ewigkeit als sittliche oder christliche Antithese – bei dem Philosophen als fortgesetzten Gegensatz, nur mit wechselnder Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem besseren Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augen-Paar, bald das andere zugeschlossen oder zugedeckt. Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das Ir­ dische anschauen lehrt […]; – wenn er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und sie zu einem Ganzen machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung beider Welten ist das sogenannte Ideal.494 Das Verhältnis von innerer und äußerer Welt, deren Vermittlung Jean Paul als Ideal formuliert, spielt auch für den Witz eine zentrale Rolle. Seine beiden Formen, der unbildliche und der bildliche Witz, stellen eine weitere Referenz des Janusgesichtes dar: durch das dem Witz im Allgemeinen eigentümliche Moment des Vergleichens einander verbunden, unterscheiden sie sich durch ihre Art, mit den Dingen umzugehen. Der Grund für diese Verschiedenheit liegt darin, daß „wie an dem unbildlichen Witze der Verstand, so […] am bildlichen die Phantasie den überwiegenden Anteil“495 hat. Die Zuordnung der beiden Arten des Witzes zu Verstand und Phantasie entspricht der Zuordnung zu den beiden Brüdern Vult und Walt, deren Umgang mit den Erscheinungen der Welt das Vorgehen der beiden Arten des Witzes widerspiegelt. Vults Witz beruht als Reflexionswitz auf Operationen des Verstandes und macht dabei respektlos Ähnlichkeiten bewußt, ohne auf die Signifikanten der von ihm benutzten Zeichen Rücksicht zu nehmen. Er entlarvt dabei die Endlichkeit der Welt und ihre Diskrepanz zur Unendlichkeit der Idee, das Ergebnis ist die Vernichtung der Realität im Humoristischen: 494 Jean Paul, Vorschule, § 15: Das geniale Ideal, S. 65f. 495 Ebd., § 49: Der bildliche Witz, dessen Quelle, S. 182.

250

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

„Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee.“496 Dem entgegengesetzt ist Walts Witz, der als bildlicher „entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern kann.“497 Ihm wird eine der Phantasie zuzurechnende „Zauberei“ zugeschrieben: „Dieselbe unbekannte Gewalt, welche mit Flammen zwei so spröde Wesen, wie Leib und Geist, in ein Leben verschmelzte, wiederholt in und außer uns dieses Veredeln und Vermischen“498. Diese komplementären Arten des Umgangs mit den Zeichen, als welche die Realität dem Menschen entgegen tritt, begegnen in Walt und Vult als inkompatible Arten der Weltauffassung, die kommunikativ nicht zu vermitteln sind. Die Unfähigkeit zur Kommunikation ist ein zentrales Moment des Verhältnisses von Walt und Vult.499 Mehrfach und meist an entscheidenden Stellen der Handlung wird die „kommunikationslose Dysfunktionalität“500 als Hauptmerkmal des Verhältnisses zwischen den Brüdern thematisiert. Schon zu Beginn ihres gemeinsamen Romanprojekts beschäftigt sich Walt mehr mit sich als mit dem, was Vult ihm zu sagen hat: „Aber der Notar hörte und sah nichts als Apollos flammenden Sonnenwagen in sich rollen, worauf schon die Gestalten seines künftigen Doppelromans kolossalisch standen und kamen“ (Flegeljahre, S. 669). Später nimmt er Vults Lüge der Erblindung, die ihm einen besonderen Ruhm als Flötenspieler einbringen soll, ernst (Flegeljahre, S. 683) und bemerkt nicht, daß er Vult mit seiner überschwenglichen Liebe zu Graf Klothar verletzt (Flegeljahre, S. 693). Sehr deutlich bringt Walt die Unfähigkeit, den Bruder zu verstehen, zum Ausdruck, als dieser ihm eröffnet, er habe die ganze Reise heimlich gelenkt. Walt, der solchen an höfische Klugheitstaktiken erinnernden Intrigen nicht gewachsen ist, kann die Sache nicht recht glauben: „‚Mein Verstand steht still‘, sagte Walt. ‚Kurz, ich wars‘, beschloß Vult. Aber der 496 Ebd., § 32: Humoristische Totalität, S. 125. 497 Ebd., § 49: Der bildliche Witz, dessen Quelle, S. 184. 498 Ebd., S. 182. 499 Zur Unfähigkeit von Jean Pauls Figuren zum Gespräch vgl. Kurt Wölfel: „Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift“, in: ders., Jean Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf, Frankfurt/Main 1989, S. 72–101: „Jean Pauls Figuren erscheinen nur selten auf ein solches imaginäres Gesprächszentrum ausgerichtet. Ihre Reden haben etwas der Gesprächshandlung gegenüber abstraktes, sie gebärden sich als selbständig geltende, in sich zum Abschluß gelangende Äußerungen: als erhebe die Figur von vorn herein den Anspruch, das letzte Wort zu sagen und zu behalten. […] Wie sich das Erzähler-Ich über die jeweils aktuellen Belange der erzählten Welt und ihrer ‚Geschichte‘ hinwegsetzt und die ‚epische Substanz‘ in der Hitze seines Selbst-Mitteilungsdrangs sozusagen verdunstet, so kann auch die erzählte Figur im Augenblick ihrer Rede-Lizenz, ‚rücksichtslos‘ gegenüber der kommunikativen Handlung Gespräch und deren ‚objektiven‘ Bedingungen, nur noch dem situationstranszendenten Redeimpuls nachgeben und in ihrer Rede die eigene Selbstkundgabe betreiben.“ (S. 97f.) 500 Mayer, Bildungsroman, S. 109.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

251

Notar wollte seiner eigenen Bestürzung nicht recht glauben: ‚Etwas Wunderbares‘, sagte er, ‚steckt gewiß noch hinter der Zauberei; und warum hättest du mich überhaupt so sonderbar hintergangen?‘“ (Flegeljahre, S. 939). Dem Problem der Kommunikation liegt das Problem der verschiedenen Sprachauffassungen der Brüder zugrunde: Während Vult ohne Ansehung der Herkunft der Zeichen und Bilder respektlos alles mit allem vermischt, um so jegliche Bedeutung hinter den Zeichen ad absurdum zu führen, stellt Walt neue Verbindungen von Zeichen und Bildern her, die zu eine Sinnbereicherung führen. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Episode von Vults Flötenkonzert, wo der erhöhenden, poetischen Verklärung der Szene durch Walt die humoristische Darstellung der dem Konzert vorangegangenen Schlägerei unter den Musikern durch Vult folgt. Die grundlegend verschiedene Sicht auf die Realität korrespondiert einer unterschiedlichen Auffassung von Kunst, die die Brüder vertreten: Für Vult stellt die Musik eine Alternative zur Realität dar, von welcher als zu verachtender und letztlich zu überwindender jene sich vollkommen ablöst. Dies wird deutlich an Vults Ausführungen zur Musik, die für ihn die höchste Kunst darstellt, und auch an Bemerkungen im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Roman Hoppelpoppel. So darf nach Vults Ansicht der Grund des Dichtens nicht in einer tatsächlichen Gemütsverfassung des Dichters liegen, als deren Folge und Ausdruck sich die Dichtung dann erwiese, sondern muß reines Produkt eines schaffenden Geistes sein, der sich von den Akzidenzien des Alltags befreit hat.501 Für Walt hingegen ist die Kunst eine Möglichkeit der Poetisierung der Welt, einerseits in Form ihrer Umdeutung auf der Grundlage von poetischen Idealen und Vor-Bildern, andererseits durch die Integration des Stoffes, den die Realität ihm bietet, in die Kunst, wodurch jener aufgewertet wird. Diese Form der Aufhebung der Realität in der Kunst ist ihrerseits ebenfalls eine Vernichtung derselben, allerdings im konstruktiven Sinn einer Überwindung durch Erhöhung, während Vults Vernichtung der Realität eine destruktive ist. Obwohl die Brüder eine gemeinsame Basis teilen, die in der Liebe zur Kunst, in der Verarbeitung der Realität mit den Mitteln des Witzes und in der Überwindung der Realität besteht, sind ihre Vorgehensweisen 501 Als Vult seinem Bruder den Vorschlag des gemeinsamen Romanprojekts unterbreitet, betont er diese Haltung explizit: „Die Kunst sei ihr [der Künstler] Weg und Ziel zugleich. Durch den jüdischen Tempel durfte man nach Lightfoot nicht gehen, um bloß nach einem andern Ort zu gelangen; so ist auch ein bloßer Durchgang durch den Musentempel verboten. Man darf nicht den Parnaß passieren, um in ein fettes Tal zu laufen.“ (Flegeljahre, S. 665f.) Als er wenig später Streckverse von Walt vorgetragen bekommt, bringt er diese von der Realität unabhängige Haltung des Dichters als Ideal wiederum zur Sprache: „‚Warst du so trübe gestimmt an einem so schönen Tage?‘ fragte Vult. ‚Selig war ich wie jetzt‘, sagte Walt. Da drückte ihm Vult die Hand und sagte bedeutend: ‚Dann gefällts mir, das ist der Dichter. Weiter!‘“ (Flegeljahre, S. 672)

252

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

derart voneinander verschieden, daß sie als lebender Januskopf zwar zusammengewachsen sind, doch in unterschiedliche Richtungen blicken und sich niemals ansehen können. Das Unvermögen, sich anzusehen und damit also zu einem Verständnis des anderen zu gelangen, formuliert Vult in seinem Abschiedsbrief an Walt in der Metapher der Glasscheibe, welche die Brüder trennt: Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen an das Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen. (Flegeljahre, S. 1081) Hinter der Unmöglichkeit einer gelingenden Kommunikation der beiden Brüder verbirgt sich die Auffassung einer Unvereinbarkeit von Verstand und Phantasie, von logos und Gefühl, die durch Vult und Walt verkörpert werden. Ihre Verfahrensweisen sind trotz eines gemeinsamen Interesses, dem für die Kunst, einander entgegengesetzt und damit unvereinbar. Durch die Glasscheibe wird zwar das Gegenüber als dasselbe erkannt, zu einem Austausch kann es aber nicht kommen. Dadurch negiert Jean Paul implizit auch den Anspruch der Aufklärung, die auf dem Gefühl basierende Rezeption von Kunst in den Dienst der aufklärerischen Emanzipation des Verstandes beim einzelnen zu nehmen. Die Stimme der Vernunft, die Vult verkörpert, erreicht Walt, der ganz Gefühl ist, überhaupt nicht. Vult hingegen, der als personifizierte Vernunft die Welt entzaubert, verliert im Zuge dieser Vernichtung den Kontakt mit ihr. Während Walt sein Inneres in seinem von Jean Paul in den Studienblättern als „Menschenliebe“ und „moralische und polierte Zartheit“ sowie „romantischer Sin“502 bezeichneten Gefühlsüberschwang nach außen überträgt, die gefühllose Welt beseelt und verzaubert503 und so schließlich eine zumindest scheinbare Entsprechung von Innen und Außen herstellt, ist Vult nicht in der Lage, sein Inneres nach außen sichtbar zu machen. Die Gefühle hinter der Maske der destruktiven Vernunft bleiben unsichtbar und dadurch unerwidert. Durch Vults nach außen kommunizierte Abwertung der Gefühle durch den Verstand verhindert er die Wahrnehmung seiner Gefühle durch andere. Seine Liebe zum Bruder bleibt verkannt, seine Liebe zu Wina 502 Freye, Jean Pauls Flegeljahre, S. 86f. 503 Hermann Meyer bringt diese Konstellation mit der knappen Formulierung: „Walt ist verzaubert; Vult entzaubert.“ auf den Punkt. Meyer, Jean Pauls „Flegeljahre“, S. 224.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

253

unerwidert. Die Vernichtung der Realität durch den ihr überlegenen Verstand führt zu einem Verlust derselben. Doch auch Walts Überwindung der Realität ist nicht unproblematisch: Durch seine permanente Poetisierung der Welt wird er blind für deren reale Zusammenhänge. Damit gerät er in eine gefährliche Nähe dessen, was Jean Paul in seiner Vorschule an den „Poetischen Nihilisten“ tadelt: die „gesetzlose Willkür“ derer, die „sich zuletzt auch an die harten, scharfen Gebote der Wirklichkeit stoßen und daher lieber in die Öde der Phantasterei verfliegen, wo sie keine Gesetze zu befolgen finde[n] als eigne, engere, kleinere, die des Reim- und Assonanzen-Baues.“504 Poetische Gesetzlosigkeit, die lediglich den Vorgaben des bildlichen Witzes in Form von Bildverknüpfungen gehorcht, zeigt sich in Walts Streckversen oder Polymetern, die, frei von Reimen, lediglich klangliche Qualitäten sowie Parallelismen und Chiasmen in ihren poetischen Bildern enthalten. Sie erinnern an Jean Pauls Vorwurf der „Ichsucht“ und der zügellosen Phantasie bei jungen Dichtern: Kommt nun vollends zur Schwäche der Lage die Schmeichelei des Wahns, und kann der leere Jüngling seine angeborne Lyrik sich selber für eine höhere Romantik ausgeben: so wird er mit Versäumung aller Wirklichkeit – die eingeschränkte in ihm selber ausgenommen – sich immer weicher und dünner ins gesetzlose Wüste verflattern; und wie die Atmosphäre wird er sich gerade in der höchsten Höhe ins kraft- und formlose Leere verlieren.505 Das Problem des Weltverlusts für Walt liegt dabei vor allem in der Tatsache begründet, daß seine Phantasie nicht nur in der Kunst eine neue Welt erschafft, sondern in einer Ästhetisierung seines gesamten Lebens dieses zu einer neuen, poetischen Welt umschaffen möchte. Dies führt unweigerlich zur Trennung von der Realität, da es nicht möglich ist, „den köstlichen Ersatz der Wirklichkeit und die Wirklichkeit zu gleich zu begehren, zu den unverwelklichen Blumenstücken der Phantasie noch die dünnen Blumen der irdischen Freuden dazu zu fordern“506. Ist die Poetisierung der Welt also nur durch die Abkehr von ihr zu erreichen, so bedeutet dies zugleich auch eine Abkehr von derjenigen Kraft, die ihr zugeordnet ist: der Vernunft. Den Abschied von der Welt und von der sie durchdringenden Vernunft zugunsten der Poesie und der diese produzierenden 504 Jean Paul, Vorschule, § 2: Poetische Nihilisten, S. 31. 505 Ebd., S. 34. 506 Jean Paul, Magie der Einbildungskraft, S. 205.

254

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Phantasie vollzieht Walt in der letzten Nummer des letzten Bändchens mit dem Abschied von Vult. Doch während Vult diesen Abschied herbeiführt und ihn damit begründet, daß sich die Brüder letztendlich fremd gegenüberstünden, ist er Walt noch nicht einmal als Abschied bewußt. Er verliert den Bruder unmerklich: „Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die entfliehenden Töne reden, denn er merkte nicht, daß mit ihnen sein Bruder entfliehe.“ (Flegeljahre, S. 1088) Die bevorstehende Trennung der Brüder wird im Roman in zweifacher Weise angekündigt, bevor sie schließlich vollzogen und durch den Erzähler berichtet wird. Zunächst ist sie Gegenstand von Vults Brief, der auf der Grundlage von Argumenten und Einsichten die Sinnlosigkeit des weiteren Zusammenlebens erläutert. Dabei liegen seine Gründe vor allem in der Fruchtlosigkeit der gegenseitigen Kommunikation und im Unvermögen, voneinander zu lernen. Vults Einsicht in die Vergeblichkeit seiner Bemühungen veranlaßt ihn, das Vorhaben aufzugeben, womit er seinem Namen gemäß handelt: Quod Deus Vult, verkürzt zu Vult, beinhaltet vor allem einen Akt des Willens und damit des Verstandes, ist also aktiv besetzt, während Gottwalt, verkürzt zu Walt, im „Walten“ die passive Haltung des Geschehen-Lassens ausdrückt. Das nüchtern-illusionslose Fazit Vults, der trotz aller Willensanstrengungen nichts erreichen konnte, lautet: Ich lasse dich, wie du warst, und gehe, wie ich kam. Auch du hast mich nicht merklich umgemünzt, so daß ich leicht schließe, du bist der – so wahren – Meinung, es sei im Geisterreich, so wie im Körperreich – man trage das Fuhrmannshemde sowohl auf Redouten als auf Chausseen – das Spurfahren verderblich. […] du bist nicht zu ändern, ich nicht zu bessern. (Flegeljahre, S. 1081f.) Walt, der die Vorbereitungen seines Bruders für die Abreise nicht richtig deutet, berichtet Vult wenig später von einem Traum, der als wilde allegorische Phantasie daherkommt, jedoch in seinen Bildern die Trennung der Brüder und damit die Trennung von Vernunft und Phantasie ebenso enthält wie den Eintritt in eine nur noch von der Phantasie erzeugte, zweite Welt der Poesie.507 Im Gegensatz zu den vernunftgesteuerten Einsichten Vults ist der Traum vor allem charakterisiert durch die Abwesenheit der Vernunft: „Der Schlaf ist nur ein schwächerer Ner507 Der Traum ist bei Jean Paul der Phantasie nahe verwandt, vgl. z.B. Jean Paul, Magie der Einbildungskraft, S. 197: „Der Traum ist das Tempe-Tal und Mutterland der Phantasie: die Konzerte, die in diesem dämmernden Arkadien ertönen, die elysischen Felder, die es bedecken, leiden keine Vergleichung mit irgend etwas, das die Erde gibt“.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

255

venschlag, also eine periodische Lähmung und Asthenie des Gehirns“ und „Der spekulative Traum, so wie der praktische der Nachtwandler, der den Übergang zum Wachen (zum Wahnsinn) macht, lassen uns nach dem Raube der Vernunft und Erinnerung doch die Kompetenzstücke, die Viktor erwähnt, Phantasie, Witz, Scharfsinn, sogar Verstand.“508 Walts Traum, gerne als „Schlußtraum“ bezeichnet, ist strukturiert von den Dichotomien Zeit – Ewigkeit, Bewegung – Stille, Entstehung – Zerstörung, an die sich noch weitere Gegensatzpaare anschließen. Zwar erscheint es unmöglich, den Traum durchgehend zu interpretieren,509 vor dem Hintergrund des bevorstehenden Abschieds der Brüder erscheint jedoch ein Motiv besonders von Bedeutung zu sein. Es ist das Motiv des „rechten Landes“. Auf eine Bilderfolge, die zunächst die Schöpfung der Welt aus dem Chaos thematisiert („wie ein Chaos wollte die unsichtbare Welt auf einmal alles gebären, eine Gestalt keimte auf der andern, aus Blumen wuchsen Bäume, daraus Wolkensäulen, aus welchen oben Gesichter und Blumen brachen“, Flegeljahre, S. 1084), folgen Bilder des Jüngsten Gerichts („unten aus dem Meeres-Grund stiegen aus unzähligen Bergwerken traurige Menschen wie Tote auf und wurden geboren. […] Da hörte ich einen Seufzer und alles war verschwunden.“, Flegeljahre, S. 1084f.). Die daraufhin aus einem „glatte[n] stille[n] Meer“ (Flegeljahre, S. 1085) erscheinende „böse Feindin“, die Peter Horst Neumann in seiner Synopse des Traums als personifizierte Zeit deutet,510 kündigt das Erklingen eines Tones an, sobald die Zeit vorbei und die Ewigkeit zurückgekehrt sei. Die Überwindung der Zeit durch die vorgespiegelte Unendlichkeit verweist auf die Aufgabe der Poesie, denn „das Idealische in der Poesie ist nichts anders als diese vorgespiegelte Unendlichkeit; ohne diese Unendlichkeit gibt die Poesie nur platte abgefärbte Schieferabdrücke, aber keine Blumenstücke der hohen Natur.“511 Nach einem Angriff auf das Ich des Traums verschwindet alles und stattdessen erscheint das „rechte Land“, von dem nun das angekündigte Tönen ausgeht. Auf jenem, welches das Land der Poesie, der „einzigen zweiten Welt in der hiesigen“512, verkörpert, 508 Jean Paul: „Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, Fünfter Brief: Über das Träumen bei Gelegenheit eines Aufsatzes darüber von Doktor Viktor“, in: ders., Sämtliche Werke. Abteilung I, Vierter Band: Kleinere erzählende Schriften, a.a.O., S. 971–982; S. 976 u. 978. Vgl. hierzu auch: Vonau, Quodlibet, S. 103f. 509 Zum Versuch einer Interpretation des Schlußtraums vgl. z.B. Vonau, Quodlibet, S. 103–118, und Peter Horst Neumann, Jean Pauls „Flegeljahre“, Göttingen 1966, S. 103–116. Zur Theorie des Traums bei Jean Paul allgemein vgl. Hans Walter Schmidt-Hannisa: „‚Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst‘. Traumtheorie und Traumaufzeichnung bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft, a.a.O., S. 93–113. 510 Vgl. Neumann, Jean Pauls „Flegeljahre“, S. 106. 511 Jean Paul, Magie der Einbildungskraft, S. 202. 512 Jean Paul, Vorschule, § 1: Ihre Definitionen, S. 30.

256

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

werden nun Bienen und Spinnen beschrieben, die Vonau in seiner Interpretation des Schlußtraums mit Walt und Vult, mit der Phantasie und dem Verstand, Aufklärung und Romantik und darauf aufbauend mit dem humoristischen und dem empfindsamen Dichten identifiziert.513 Die Trennung der beiden Dichter Walt und Vult, die in der allegorischen Gestalt von Biene und Spinne zunächst gleichzeitig auftauchen, wird im Traum folgendermaßen umgesetzt: Aber der Morgenröte gegenüber stand eine Morgenröte auf; immer herzerhebender rauschten beide wie zwei Chöre einander entgegen, mit Tönen, statt Farben, gleichsam als wenn unbekannte selige Wesen hinter der Erde ihre Freudenlieder heraufsingen. Die schwarze Blume der Spinne bog sich krampfhaft bis zum Knicken nieder. (Flegeljahre, S. 1087) Der Anbruch des Morgens der Phantasie ist zu deuten als die Entstehung der zweiten Welt der Poesie, die nur noch die Phantasie zu ihrer Grundlage hat und daher den Verstand in Gestalt der Spinne bezwingt. Ihre Blume neigt sich zu Boden, Vult muß seine Niederlage eingestehen. Auf Walts Frage an Vult, was er „zu diesem künstlich-fügenden Traume“ (Flegeljahre, S. 1088) sage, antwortet dieser mit Flötentönen und mit dem langsamen Weggehen – er vollzieht, was Walts Traum auf poetische Weise, sein eigener Brief auf rhetorisch-vernünftige Weise angekündigt hatten. Die Überlegenheit der Phantasie, die am Ende des Romans in der Figur Walts triumphiert, was nicht zuletzt in der Eroberung der von ihm und Vult geliebten Wina verdeutlicht wird, ist in Jean Pauls Roman jedoch nicht eindeutig positiv besetzt. Der Verlust des Bruders ist ein schmerzhaftes Element, das auf humoristisch-tragische Weise noch dadurch verstärkt wird, daß Walt sich dessen nicht bewußt ist. Damit wiederholt sich das für das Verhältnis der beiden Brüder konstitutive Moment der Fremdheit oder der Unfähigkeit zur Kommunikation. Vult ist nur deshalb vollkommen überrascht, als er Walts Liebe zu Wina entdeckt, weil er zuvor durch die falsche Interpretation der Zeichen, die Walt gibt, Raphaela für die Angebetete hält. Walt andererseits verkennt die Liebe seines Bruders und dessen Inneres nicht nur deshalb, weil dieser seine Gefühle vor der Außenwelt verborgen hält, sondern auch, weil er in anderen nur die Bilder seines eigenen Inneren wiederzuerkennen vermag:

513 Vonau, Quodlibet, S. 115f.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

257

Sehr zu besorgen ist, mein’ ich, daß du – ob du gleich sonst wahrlich so unschuldig bist wie ein Vieh – nur poetisch lieben kannst, und nicht irgend­ einen Hans oder Kunz, sondern bei der größten Kälte gegen die besten Hänse und Künze, z.B. gegen Klothar, in ihnen nur schlecht abgeschmierte Heiligenbilder deiner innern Lebens- und Seelenbilder knieend verehrst. (Flegeljahre, S. 1000) Auf beide Brüder trifft gleichermaßen zu, was Jean Paul für den Witz definiert: Der Witz – das Anagramm der Natur – ist von Natur ein Geister- und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; er stellt zwischen die Poesie, welche sich und etwas darstellen will, Empfindung und Gestalt, und zwischen die Philo­ sophie, die ewig ein Objekt und Reales sucht und nicht ihr bloßes Suchen, sich in die Mitte und will nichts als sich und spielt ums Spiel […]514 Die Verkennung der Außenwelt durch ihre permanente Überblendung mit selbst produzierten inneren Bildern macht für Walt nicht nur das Sprechen mit Vult, sondern auch das Sprechen über Kunst unmöglich. Das Kunstgespräch, in das Walt beim Geburtstagsessen im Hause Neupeter mit dem Grafen Klothar gerät, ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die beiden Gesprächspartner zunehmend aneinander vorbeireden, der Dialog wird zu einem Monolog, in dem nur noch die eigene Meinung dargestellt wird: „Keiner antwortete mehr recht dem andern.“ (Flegeljahre, S. 750)515 Durch die Unfähigkeit zum Dialog mit der Welt wird nicht nur Walts weltfremdes Leben in einer poetisierten Welt Objekt der humoristischen Darstellung, vielmehr wird zugleich die Möglichkeit eines Sprechens über Kunst in Frage gestellt. Walt kann Kunst nur herstellen, nicht darüber reflektieren, während der Graf zwar hier und an anderen Stellen des Romans über Kunst sprechen kann, selbst aber kein Künstler ist. Das vom Nicht-Künstler gefällte Kunsturteil steht dem Kunstwerk des zum Urteil darüber unfähigen Künstlers gegenüber, eine Verbindung der beiden gibt es ebensowenig wie zwischen Walt und Vult.

514 Jean Paul, Vorschule, § 54: Notwendigkeit deutscher witzigen Kultur, S. 201. 515 Vgl. hierzu auch Wölfel, Die schwierige Geburt des Gesprächs, S. 98.

258

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Damit verneint Jean Paul die Möglichkeit des durch die Ästhetik geforderten Urteils über Kunst. Das Zusammenspiel der beiden gegensätzlichen Kräfte Sinnlichkeit und Verstand im ästhetischen Urteilen, das für Schiller die Vorstufe zum ethischen darstellt, wird durch die Figur Walts, der am Ende seinen Verstand einbüßt, indem er den Bruder verliert, demontiert. Es ist als Widerspiel verschiedener Kräfte vorübergehend denkbar, zu einer Synthese kann es jedoch nicht kommen, da sich die Phantasie und damit die von ihr produzierte Poesie den Ansprüchen der Vernunft per definitionem systematisch entziehen. So wird zugleich der Gedanke einer Bildung des Künstlers ad absurdum geführt. Sie erscheint bei Jean Paul weder im Sinne der Bildung durch die Gesellschaft, wie sie Wilhelm Meister vorführt, denkbar, noch in Form der Entfaltung innerer Anlagen, wie es die Künstlerromane der Romantiker nahelegen. Der Künstler, den die Flegeljahre vorstellen, zeichnet sich durch das Gegenteil der für den Bildungsroman notwendigen Bildsamkeit aus: er ist unveränderlich, und das nicht zuletzt dadurch, daß selbst der durch die Erbämter erzwungene Kontakt mit der Realität nicht zu einer Korrektur der poetischen Weltsicht und zu mehr Lebenserfahrung führt. Walts „Überzuckern“516 der Welt gelingt ihm selbst in den widrigsten Situationen noch so gut, daß er aus seinem poetischen Traum nicht aufwachen muß. Daß die humoristische Haltung, mit der Walt präsentiert wird, nicht unbedingt eine Absage an ein Übermaß der Phantasie sein muß, legt der Schluß des Romans nahe: Entgegen aller Wahrscheinlichkeit gewinnt Walt das Herz seiner Angebeteten Wina, die Vult schon zuvor als Walt ähnlich beschrieben hat.517 Seine durchgehende Weigerung, die Realität ohne poetische Verklärung wahrzunehmen, hat Erfolg, eine Anpassung an die Walt umgebende Gesellschaft scheint unnötig, ja im Gegenteil eher nachteilig: Während der Verlauf des Bildungsromans meist durch den Verlust von Illusionen und Träumen gekennzeichnet ist und letztlich zu einem vernünftigen Leben im Kompromiß mit den äußeren Bedingungen führt, erhält Walt gerade durch seine hartnäckige Weigerung, seine Wünsche an das enge Raster des Realistischen anzupassen, am Ende genau das, was er möchte. Die humoristische Darstellung des Helden Walt 516 Vgl. z.B. Flegeljahre, S. 692: „Er [Vult] sehe nur gar zu gut voraus, wie ihm künftig Walt eine Erbosung nach der andern versalzen werde durch sein Überzuckern“. 517 Schon im vorerst versiegelten Brief an Walt beschreibt Vult Wina als eine verwandte Seele Walts: „Vom Grafen will ich dir nichts sagen, als daß er als protestantischer Philosoph eine liebliche, aber katholische Braut – dir frappant ähnlich in der Liebe gegen jeden Atem des Lebens – schlechterdings aus ihrer Religion in seine schleppen will, bloß aus egoistischer stolzer Unduldsamkeit gegen einen stillen Glauben in der Ehe, der seinen als einen falschen schölte.“ (Flegeljahre, S. 713f.) Als Vult später von seiner ersten Begegnung mit Wina berichtet, bemerkt er ebenfalls: „Sie schwieg betroffen, als wäre sie du“ (Flegeljahre, S. 791)

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

259

zeigt weniger eine lächerliche Figur, als daß sie den Bildungsanspruch der Aufklärung ebenso unterläuft wie die Idee einer durch die Kunst erreichbaren Bildung des Menschen zur Freiheit. Der Künstler Walt wünscht sich schon zu Beginn des Romans ein Leben, das den Beschreibungen der Idylle als einer „epische[n] Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“518 entspricht, das ihm als ideale Möglichkeit der Verbindung von Kunst und Leben in einem recht pragmatischen Sinn erscheint.519 Die Anspielung auf die Verbindung von Künstlertum und Religion bei den Romantikern ist unübersehbar: Der Einsiedler-Künstler mit seiner religiösen Auffassung von Kunst, der nicht nur in Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen begegnet, wird zum Streckverse-schmiedenden Dorfpfarrer, das Kunstgespräch, das in Heinses Ardinghello als Vollzug des Künstlerdaseins erscheint, wird zum enthusiastischen Monolog eines Schwärmers. Der solchermaßen auf ein mittleres, der deutschen Schule des Romans angemessenes Maß reduzierte Anspruch des Künstlers schafft die Ablösung von den Idealen eines genialen Künstlers, wie er als Figur aus der italienischen Renaissance entliehen worden ist, ebenso wie von den Vorstellungen einer Kunst, die als Ersatz der Religion zu sehr mit transzendentalen Aufgaben aufgeladen wurde. Jean Paul schließt damit an Karl Philipp Moritz an, der diese Gefahr schon zwanzig Jahre zuvor bemerkt und in seiner Warnung vor dem angemaßten Bildungstrieb formuliert hat: Er verweist mit seinen Flegeljahren nicht zuletzt alle diejenigen in ihre realistischen Schranken, die, ermutigt durch Ansichten der Romantik, daß jeder, der lebendig empfinde, bereits ein Künstler sei, lebhafte Empfindungskraft mit genialischer Schöpfungskraft verwechseln.

518 Ebd., § 73: Die Idylle, S. 258. 519 Zur Interpretation der Idylle „Das Glück eines schwedischen Pfarrers“ vgl. Ralf Simon: „Versuch über einige Rahmenbedingungen des literarischen Charakters in Jean Pauls Flegeljahren“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, a.a.O., S. 251–266; S. 251–258.

260

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

9

Schluß: Der Übertritt der Kunst ins Leben: Der Künstler als sinnliche Erscheinung der Theorie „Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern.“520 (Jean Paul)

Mit diesen Worten beschreibt Jean Paul einen Zustand, der sich im Verlauf der wenigen Jahrzehnte zwischen der Begründung der Ästhetik durch Baumgarten und Jean Pauls Abfassung der Vorschule der Ästhetik ergeben hat. Wie keine philosophische Disziplin vorher oder nachher ist die Ästhetik in großem Tempo ins Bewußtsein einer relativ breiten Öffentlichkeit gerückt. Diese Tatsache verdankt die Ästhetik nicht zuletzt ihrer Thematisierung in den Künstlerromanen. Neben der Aufnahme in die recht populäre Gattung des Romans bedeutet dies nämlich zugleich eine Versinnlichung theoretischer Überlegungen, die durch die spezielle Form des an das Muster des Bildungsromans angelehnten Künstlerromans in besonderem Maße möglich ist. Der erste Schritt ist die Bindung der theoretischen Begrifflichkeiten an eine literarische Figur, die jenen eine – zumindest fiktive – sinnliche Präsenz verleiht: In der Figur des Künstlers verlebendigt sich die Kunsttheorie, indem ihre Thesen an die Beschreibung einer Figur gebunden werden. Zu den theoretischen Überzeugungen müssen Charaktereigenschaften treten, um den Romanhelden plastisch erscheinen zu lassen, seine Tätigkeit als Künstler muß in eine Romanhandlung eingebunden sein, die eine ansprechende Lektüre bietet. Der Roman Ardinghello vertritt eine aus dem Bild des 18. Jahrhunderts von der italienischen Renaissance gewonnen Auffassung von Kunst, die problemlos mit dem Leben vereinbart werden kann, da beiden das Moment des Genusses als bestimmender Kategorie zugrundeliegt. Die daraus resultierende Überzeugung, Sinnlichkeit und Verstand ließen sich vereinbaren, spiegelt sich im Protagonisten Ardinghello wider. Er verkörpert den idealen Künstler in Form eines Universalgenies, das durch seine Schöpfungskraft Kunst und Leben im Moment des Genusses gleichmacht. Eine Verbindung von logos und Gefühl entsteht in 520 Jean Paul, Vorschule, Vorrede zur ersten Ausgabe, S. 22.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

261

Ardinghellos Kunstbeschreibungen, die eine Verlebendigung der Sprache zelebrieren, welche den Genuß des Betrachters im Genuß des Lesers wiederholen soll, wie auch in den Kunstgesprächen, die eine Form der gelebten Kunst im philosophischen Sinne des Vollzugs als Lebenspraxis und als Ziel des künstlerischen Daseins darstellen. Ardinghello ist als eine Figur entworfen, die vor allem durch Leidenschaftlichkeit gekennzeichnet ist, sei es in Liebesangelegenheiten, sei es in Streitgesprächen. Ihm gelingt, was er sich vornimmt, sogar die Gründung eines idealen Staats. Solcherart als ‚Tatmensch‘ angelegt, spielt das Innere keine besondere Rolle: Innen und Außen sind bei Ardinghello kongruent. Der Streit, der in Form des paragone der Renaissance in die Romanhandlung integriert wird und zugleich auf die Diskussion um das Geschmacksurteil im 18. Jahrhundert verweist, ist das strukturelle Zentrum des Romans. Er und sein Resultat, das kurzfristig geltende Geschmacksurteil, sind die theoretischen Positionen, die hinter der Übereinstimmung von Innen und Außen der Figur Ardinghello stehen und die Überzeugung formulieren, daß das von der Ästhethik geforderte „freie Zusammenspiel“ von Vernunft und sinnlicher Wahrnehmung möglich ist. Im Unterschied zu diesem erscheint Franz Sternbald viel mehr durch sein Inneres gekennzeichnet: Die Veräußerlichung innerer Bilder zu Kunstwerken ist ein Problem, mit dem er im gesamten Verlauf des Romans zu kämpfen hat und das ihn zu einer unsicheren, suchenden Figur macht. Die Suche als zentrales Moment spiegelt sich auch in der unabgeschlossenen Suche nach der richtigen Kunstauffassung wider: In Franz Sternbalds Wanderungen spielen Kunstgespräche zwar auch eine wichtige Rolle, doch vertritt Sternbald nicht mit der Vehemenz des Ardinghello eine Haltung, sondern ist vielmehr bereit, sich auf die Überzeugungen der Gesprächspartner einzulassen. Während Ardinghello, wenngleich auch seine Kunstauffassungen im Verlauf der Handlung einer Veränderung unterworfen sind, immer vollkommen überzeugt ist und seinen Standpunkt mit ganzem Herzen verteidigt, macht sich Sternbald die Relativität der jeweiligen Auffassungen bewußt und thematisiert so den Zweifel daran, ob im Gespräch überhaupt ein dauerhaft gültiges Urteil über Kunst gefällt werden könne. Die Sprachskepsis und die damit verbundene Zurückweisung der Annahme, Sinnlichkeit und Verstand seien vereinbar, sind Theoreme, die durch die Epiphanie der Kunst im intensiven Erleben veranschaulicht werden. Dieses Kunsterleben ist für Sternbald verbunden mit Sprachlosigkeit, die Absage an den logos wird im Roman vollzogen. Neben diesen beiden ‚echten‘ Künstlern gibt es die problematischeren Figuren Wilhelm Meister, Anton Reiser und Gottwalt Harnisch. Wilhelm Meister steht

262

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

einer Vereinigung von logos und Sinnlichkeit ebenfalls kritisch gegenüber, jedoch aus anderen Gründen: Wilhelm, der eigentlich aus der Sphäre der Ökonomie stammt, nähert sich der Sphäre der Kunst so weit an, daß er gerne seine Laufbahn als Kaufmann zugunsten des Theaters aufgeben möchte. Sein Aufenthalt bei einer Theatertruppe stellt den Versuch dar, sein Leben der Kunst zu widmen, er bleibt jedoch Episode. Zur Schauspielerei nicht geboren, zieht er sich nach einigem Schwanken schließlich von ihr zurück, um sich in die von der Turmgesellschaft für ihn vorgesehene Lebensführung zu fügen. Seine Person wird allerdings von Anfang an als der Kunst äußerlich beschrieben: Er verkörpert die kaufmännische Ordnung, die dem künstlerischen Chaos fremd gegenübersteht. Diese Fremdheit wird im Roman dadurch deutlich, daß die ‚wahre‘ Kunst durch die exotisch wirkenden Figuren des Harfners und vor allem Mignons repräsentiert wird. Sie gehören der bürgerlichen Sphäre überhaupt nicht an, während die Schauspieler zwar Außenseiter sind, aber dennoch durch ihre Abhängigkeit von derselben gekennzeichnet bleiben. Damit illustriert der Roman eine Absage an die Versuche der Aufklärung, Kunst in den Dienst der Emanzipation des Bürgertums zu stellen: Anstatt die Freiheit der Kunst zu respektieren, verhält sich Wilhelm wie ein Kaufmann zu ihr, indem er Mignon ihrem Ziehvater abkauft. Die Unvereinbarkeit der Sphären von Bürgertum und Kunst wird im Roman durch den Tod Mignons veranschaulicht. Sie, die als Verkörperung der freien Kunst gilt, stirbt in dem Moment, als Wilhelm endgültig in die Sphäre des aufgeklärten Bürgertums eintritt, das die Turmgesellschaft repräsentiert. Er vollendet in diesem Moment den von außen erzwungenen Bildungsweg, ohne die als Ziel des Bildungsromans formulierte Ausbildung der inneren Anlagen und die Entfaltung seiner Kräfte vollzogen zu haben. Seine ‚Verirrung‘ in die Sphäre der Kunst ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß Wilhelm nicht die unabhängige, freie Kunst von Mignon und Harfner vor Augen hat, sondern die in den Dienst der Aufklärung gestellte, deren beliebtestes Genre das Theater als Erziehungsorgan des Menschen ist. In Anton Reiser wird dem Leser ein Protagonist präsentiert, dem eine Vermittlung von Innen und Außen nicht nur problematisch, sondern unmöglich ist. Seine Geschichte ist die eines Künstlers, der nicht zu unterscheiden vermag zwischen inneren und äußeren Bildern und dem das daraus resultierende ‚Leiden an der Einbildungskraft‘ zum Verhängnis wird. Schon in den ersten Bänden wird Reiser präsentiert als Figur, die durch besonders intensives Empfinden gekennzeichnet ist und dieses Empfinden nicht in Einklang mit vernünftigem Handeln zu bringen vermag. Grund dafür ist Reisers zutiefst problematisches Verhältnis

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

263

zur Sprache, die ihm, sobald er sie als Instrument der Heuchelei erkannt hat, nicht mehr als adäquater Ausdruck seiner Gefühle geeignet erscheint. Durch die Instrumentalisierung der Sprache bis hin zur Selbsttäuschung werden Realität und Fiktion, innere und äußere Bilder ununterscheidbar. Damit illustriert Reiser die von Moritz als gefährlich eingestufte Verwechslung des echten mit dem falschen Bildungstrieb, der keine guten Kunstwerke hervorzubringen vermag. Im letzten Band wird diese Verbindung zwischen Kunsttheorie und Roman explizit, da bereits in der Einleitung zum vierten Band, besonders aber im Einschub „Die Leiden der Poesie“ die Anzeichen des falschen Bildungstriebs genannt und bei Reiser identifiziert werden. Dem Verkennen der Poesie durch den falschen Bildungstrieb bei Anton Reiser steht ein Verkennen der Realität in den Flegeljahren gegenüber. Der Protagonist Gottwalt Harnisch projiziert seine inneren, poetischen Bilder auf die Außenwelt, ohne die Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion zu erkennen, ja meist, ohne die Fiktion als solche wahrzunehmen. Ihm, der die Einbildungskraft verkörpert, steht sein Zwillingsbruder Vult gegenüber, der als Personifikation des Verstandes durch eine zynisch-analytische Sicht auf die Realität gekennzeichnet ist. Die Brüder und ihr entgegengesetzter Zugang zur Welt und damit auch zur Kunst führen die disharmonische Harmonie von Verstand und Gefühl, von logos und Sinnlichkeit auf verschiedene Weise vor: im Projekt des Doppelromans Hoppelpoppel oder das Herz, der autoreferentiell die Produktion eines Romans in den Roman einbindet, aber auch im Versuch, das Erbe zu erhalten, das sich Walt durch das Ableisten von Erbämtern verdienen muß, und nicht zuletzt in den unterschiedlichen Kunstauffassungen. Das Zusammenspiel erweist sich allerdings entweder als Widerspiel oder aber als Parallelen, die keine Berührungspunkte haben. Das Mißlingen der gemeinsamen Projekte steht dabei für die Unvereinbarkeit von Verstand und Gefühl: Der Doppelroman wird mehrfach von Verlegern abgelehnt, das Erbe verringert sich zusehends, und das Zusammenleben der Brüder scheitert daran, daß beide zu keinem Verständnis für den anderen gelangen und sich dadurch fremd bleiben. Damit erteilt der Roman in den Figuren der Brüder dem Zusammenspiel von Verstand und Gefühl eine Absage, ohne sich jedoch für eines der Vermögen – sinnliches oder rationales – zu entscheiden. Walt rückt durch die Diskrepanz zwischen Phantasie und Realität in die Nähe humoristischer Figuren wie Don Quijote, wodurch die von der Welt losgelöste Einbildungskraft in einem kritischen Licht erscheint. Vult, der die Welt zum Gegenstand seines Witzes macht, stellt aber auch keinen positiven Gegenentwurf

264

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

dar: Er verläßt am Ende als Verlierer den Ort der Handlung, da seine Liebe von Walt nicht erkannt und von Wina nicht erwidert wird. Die Versinnlichung der ästhetischen Theorie in der Figur des Künstlers wird in den vorliegenden Romanen um eine weitere Komponente ergänzt: die der Liebe. Diese erfüllt eine doppelte Funktion, indem sie stets im Zusammenhang mit der Kunst auftaucht. Die Verbindung von Kunst und Liebe oder Erotik gründet dabei auf der gemeinsamen Basis des Gefühls oder der Sinnlichkeit. Verbleibt die Theorie vom analogon rationis, der sinnlichen Erkenntnis, zunächst abstrakt, so gewinnt sie dadurch an Konkretheit, daß im Anschluß an Burke und die englischen Sensualisten dem Gefühl, das die Grundlage der ästhetischen Wahrnehmung und des Geschmacksurteils bilden soll, das Gefühl der Liebe oder der sexuellen Anziehung an die Seite gestellt wird. Neben dieser Funktion der Veranschaulichung der ästhetischen Theoreme haben die in den Romanen enthaltenen Liebesbeziehungen allerdings noch eine weitaus praktischere Funktion: Sie tragen zur Spannung des Handlungsstranges und damit zur Beliebtheit der Romane bei den Lesern und vor allem den Leserinnen bei. Die Einbettung der erotischen Beziehungen erfolgt dabei auf je andere, zur theoretischen Position des Romans passende Weise. Im Ardinghello wird eine Reihe von Liebschaften des unermüdlichen Liebhabers Ardinghello beschrieben, die dessen leidenschaftliches Wesen illustrieren. Der Genuß, der die Grundlage von Ardinghellos Zugang zur Kunst und zur Welt darstellt, wird im erotischen Genuß für jeden nachvollziehbar. Außerdem erhält das Interesse am Kunstwerk und an dessen Beschreibung, die in den theoretischen Abhandlung beispielsweise bei Lessing oder Winckelmann eher fachmännisch-trocken daherkommt, einen Anreiz, der ganz im sinnlichen Bereich liegt. Franz Sternbalds Wanderungen hingegen sind von einer einzigen Liebe gekennzeichnet, und zwar der Sternbalds zu Marie, die er im Verlauf der Romanhandlung mehrfach flüchtig sieht. Sie bildet im Bereich des Lebens das Ziel einer den gesamten Roman durchziehenden Suche, die konkret das spiegelt, was weniger konkret im Bereich der Kunst die Suche nach der wahren Kunstauffassung und der Kunst schlechthin ist. Beide Bereiche sind nicht nur durch eine unabschließbare Suche gekennzeichnet, sondern verbunden durch die Figur der fernen Geliebten, die zugleich die geliebte Frau und die Kunst selbst verkörpert. Die Ankunft am Ziel der Suche ist, passend zur Sprachskepsis des Romans, in beiden Fällen durch Sprachlosigkeit begleitet: Als Sternbald die Epiphanie der wahren Kunst vor Michelangelos Jüngstem Gericht erlebt, fehlen ihm die Worte ebenso wie im Moment der Begegnung mit Marie, bei der er anfangs nur stammeln kann.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

265

Die religiöse Aufladung der Kunst wird durch die madonnenhaft überhöhte Geliebte ergänzt, Kunst und Leben im Motiv der Geliebten unauflöslich verknüpft. Bei Wilhelm Meister repräsentieren die Frauen, die in Wilhelms Gefühlsleben eine Rolle spielen, sein problematisches Verhältnis zur Kunst. Dies wird vor allem an Mariane und Mignon deutlich, die beide für die wahre Kunst stehen und beide von Wilhelm mißachtet werden. Wilhelms Liebe zu Mariane ist von Anfang an von Wunschbildern Wilhelms geprägt, der schon seit seiner Kindheit eine große Liebe zum Theater entwickelt hat. Marianes vermeintlicher Betrug an Wilhelm wird von diesem anhand von Indizien unterstellt, aus denen er Konsequenzen zieht, ohne Mariane auch nur einmal anzuhören. Indem er sie permanent verkennt, macht er sich mitschuldig an ihrem Tod. Ebenso wie Mariane verliert Wilhelm am Ende des Romans auch Mignon: sie stirbt an gebrochenem Herzen, nachdem Wilhelm ihre Liebe zurückgewiesen und sie in die Obhut der Turmgesellschaft gegeben hat, die ihr Wesen nicht nur nicht verstehen, sondern ändern will, indem sie Mignons Andersartigkeit durch das Tragen von Frauenkleidung zu überdecken versucht. Wilhelms endgültiger Abschied von der Kunst, den der Eintritt in die Turmgesellschaft darstellt, wird verdeutlicht durch den Tod Mig­ nons, dem der Tod Marianes vorausgegangen ist. Im Gegensatz zu Mariane, mit der Wilhelm Liebe verbindet, spielt auch Philine eine wichtige Rolle, allerdings als ständige erotische Verlockung. Ihre Leichtfertigkeit und Unabhängigkeit von bürgerlichen Moralvorstellungen machen sie zur Repräsentantin des vom Bürgertum mit Skepsis oder gar Ablehnung betrachteten Stands der Schauspieler. Der skandalöse Eintritt eines Kaufmannssohns in eine Theatertruppe wird durch die Anziehungskraft Philines auf Wilhelm illustriert: Als Verkörperung des Theaters droht sie den braven Bürgersohn ins Verderben zu ziehen. Zugleich repräsentiert Philine allerdings eine Kunst, die nicht die freie Kunst Mignons ist, sondern eine Kunstform, die sich in den Dienst der Aufklärung ebenso wie des Adels gestellt hat. Philines Nonchalance, mit der sie sich in jedem Umfeld sofort eingliedert und sogar Zuneigung erhält, symbolisiert die bedenkenlose Unterwerfung des Theaters unter ihm eigentlich fremde Maximen. Die letzten beiden Frauenfiguren, Therese und Nathalie, stehen der Kunst fremd gegenüber. Ihre Kunstfremdheit spiegelt sich in der Abwesenheit von Liebe Wilhelm gegenüber: Während Therese Wilhelm nur als Ersatz für den verloren geglaubten Verlobten heiraten würde und umgekehrt Wilhelm in ihr vor allem die tüchtige Hauswirtschafterin sieht, verkörpert Natalie den kühlen Verstand. Sie, die selbst angibt, niemals geliebt zu haben, gehört einer Welt an, die Kunst nur als Gegenstand eines musealen Sammeltriebs betrachtet. Deshalb kann Mignon in Natalies Ge-

266

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

genwart nicht überleben. Die verschiedenen Auffassungen von Kunst und Wilhelms Verwechslung echter Kunstliebe mit der Instrumentalisierung der Kunst werden durch die verschiedenen Frauengestalten sinnlich faßbar. Für Anton Reiser, der sich durch einen falschen Bildungstrieb auszeichnet, spielen Frauen überhaupt keine Rolle: Er, der sich als äußerlich wenig anziehend betrachtet, hält den Gedanken, von einer Frau geliebt zu werden, für abwegig, die Liebe spielt in seinem Gefühlshaushalt nur als Liebe zum Freund eine Rolle. Reiser ist zwar der sinnlichen Wahrnehmung, nicht aber der sinnlichen Erkenntnis und noch weniger der Geburt einer ästhetischen Welt aus sich selbst heraus fähig. Dieser Unfähigkeit zum echten Kunstwerk entspricht die Unfähigkeit zur Liebe, da beide, Kunst wie Liebe, eine Verknüpfung der Gefühle im Innern mit der Außenwelt zur Voraussetzung haben. In den Flegeljahren schließlich wird die Liebe Walts zu Wina dadurch charakterisiert, daß ihre Grundlage ganz in der Kunst liegt. Während in den anderen Romanen eine Parallelität von Liebesgeschehen und Kunstauffassung vorherrscht und die Frauen im Bereich des Lebens ein Pendant zu Konzepten und Auffassungen im Bereich der Kunst und Kunsttheorie darstellen, ist Wina das Produkt von Walts Phantasie. Der Grundzug seines Charakters ist die Projektion innerer, meist aus der Literatur entnommener Bilder auf die Außenwelt. Im Fall von Wina sind diese Bilder aus der Troubadour-Lyrik und dem Petrarkismus entnommen, sie erscheint Walt als Verkörperung dieser lyrischen Frauengestalten. Ob die projizierten Bilder der Realität von Winas Charakter entsprechen, spielt dabei für Walt keine Rolle. Und da er ihre Liebe gewinnt, muß er sich diese Frage bis zum Schluß nicht stellen. Der Umstand, daß Wina kein Eigenleben hat, sondern nur aus inneren Bildern Walts zusammengesetzt ist, veranschaulicht ein Konzept von künstlerischer Einbildungskraft, die die reale Welt überwindet, indem sie ihr eine zweite Welt entgegenstellt, ein Konzept, das Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik vorstellt. Jean Pauls Flegeljahre befinden sich am Ende einer Entwicklung, die von einer immer stärker werdenden Bedeutung der Sinnlichkeit und Empfindung gekennzeichnet ist: Während Heinse das gelingende Zusammenspiel von Verstand und Sinnlichkeit im gültigen Geschmacksurteil an Ardinghello vorführt, der Kunst und Leben problemlos zu verbinden vermag, gestaltet sich dieses Verhältnis in den anderen Künstlerromanen schwieriger. Anton Reiser und Wilhelm Meister stellen dabei Gegenentwürfe zu Ardinghello dar, da sie das nicht-gelingende Künstlertum zum Gegenstand haben. Anton Reiser ist gefangen in einer Innenwelt der Empfindungen, die den Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

267

nicht imstande ist. Innenwelt und Außenwelt bilden zwei Bereiche, zwischen denen keine Kommunikation möglich ist, Reiser scheitert also sowohl in der Kunst als auch im Leben. Goethes Wilhelm Meister hingegen bildet insofern eine Ausnahme, als er das Konzept der Bildung in Form einer Eingliederung in die Gesellschaft zugrundelegt. Diese Eingliederung gelingt zwar, jedoch auf Kosten der Sinnlichkeit. Das Verhältnis von Gesellschaft und Kunst ist das zweier entgegengesetzter Sphären, der Eintritt Wilhelms in die Gesellschaft des Turm bedeutet zugleich einen Abschied von der Sphäre der Kunst. Tieck hingegen präsentiert in Franz Sternbald einen Künstler, der sich dieser Unvereinbarkeit von Kunst und Gesellschaft bewußt ist, zugunsten der Kunst aber von Anfang an auf die Zugehörigkeit zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft verzichtet und sich in eine Außenseiterrolle begibt, wie sie auch sein Lehrer Dürer für die Künstler in Anspruch nimmt. Gleichzeitig mit dieser Ausgrenzung des Künstlers aus der Sphäre der Gesellschaft wird auch eine Trennung der Sphären von logos und Sinnlichkeit vollzogen. Diese Bereiche treten zwar im Kunstgespräch in Interaktion miteinander, aus dem Zusammenspiel der beiden bei Heinse ist jedoch ein Widerspiel geworden. Anstelle der Vermittlung beider im Geschmacksurteil ist die unendliche Suche getreten. Ihr entgegengesetzt ist die epiphanische Einsicht in die fast schon mystisch verschlüsselten Geheimnisse einer Kunst, die zunehmend religiöse Konnotationen erhält; diese Einsicht vollzieht sich in Form des plötzlichen, intensiven Erlebens, mit dem die Abwesenheit des logos einhergeht. Die hier vollzogene Aufwertung der Sinnlichkeit als der ratio überlegen ist der nächste Schritt einer Entwicklung, die mit der Gleichsetzung von ratio und sinnlicher Empfindung bei Baumgarten begonnen hatte. Das in der Folge dieser Gleichsetzung geforderte Zusammenspiel der beiden Erkenntnisvermögen des Menschen, sinnliche und logische Erkenntnis, das Kant und Schiller am wirkungsvollsten postulieren, wird zunehmend als problematisch betrachtet, da die Unvereinbarkeit von deren Grundlagen erkannt wird. Die Konsequenz daraus ist die Abwertung der ratio für den Bereich der Kunst, welche sich von jener als potentieller Unterdrückerin befreien muß. Die Chance, aber auch Gefahr, die von der Befreiung der Sinnlichkeit von der Vernunft ausgeht, ist eines der Themen in Jean Pauls Flegeljahren. Die Kunst kann, derart von den Regeln des Verstandes befreit, die von Jean Paul beschriebene „zweite Welt in der ersten“ bilden und vermag über das Unglück der Welt und über ihre Endlichkeit dadurch hinwegzutrösten, daß sie den ‚Widerschein des Unendlichen‘ zeigen kann. Zugleich besteht aber die Gefahr einer völligen Ablösung der Phantasie von der Realität,

268

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

welche die zum Teil humoristisch dargestellte Figur des Gottwalt Harnisch zur Anschauung bringt. Die zunehmende Bedeutung der Sinnlichkeit im Zusammenhang mit dem Sprechen über Kunst hat für die Kunstdiskussionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts vor allem die Folge einer wachsenden Demokratisierung des Sprechens über Kunst. Während in einer auf theoretischen Überlegungen, poetologischen Regeln und philosophischen Axiomen aufbauenden Diskussion über Kunst eine breite Kenntnis der zugrundeliegenden Texte und aktuellen Auseinandersetzungen notwendige Voraussetzung für die Teilnahme ist, verlieren jene dann an Bedeutung, wenn das Geschmacksurteil vorwiegend auf subjektiven Empfindungen beruht. Können diese subjektiven Empfindungen auf objektive Grundlagen und Argumente verzichten, dann folgt daraus eine Gleichsetzung allen Sprechens über Kunst. Lautet die Maxime der Aufklärung ‚sapere aude‘, so gilt für die Kunstdiskussionen um 1800 zunehmend ‚sentire aude‘. Damit wird das Kunstgespräch zu einem möglichen Thema für Gesprächskreise, wie sie das Bürgertum im 18. Jahrhundert mit Vorliebe bildet. Der aus Frankreich allmählich auch nach Deutschland kommende Salon stellt dabei eine Variante dessen dar, was als Gesprächskreis sich unter Bürgern zunächst im abgeschlossenen, privaten Raum gebildet hatte und einen Gegenentwurf zur höfischen Gesprächskultur darstellen soll. Das Zusammenspiel dieser Faktoren – Demokratisierung des Sprechens über Kunst, Bedeutung des Gesprächs im 18. Jahrhundert und Einfluß der französischen Salonkultur, nicht zuletzt durch den Besuch der Madame de Staël521 – führt zur Bildung der literarischen Salons in Deutschland. In ihnen zeigen sich die Auswirkungen des allgemeinen Sprechens über Kunst und vor allem der Verbindung von Kunsttheorie mit der Figur eines Künstlers, an denen die Künstlerromane bei der relativ großen Menge der Romanleser ein Interesse geweckt haben. Dabei spielt die Figur des Künstlers eine große Rolle. Im Roman nicht nur als Produzent von Kunst, sondern als Held teilweise abenteuerlicher Verwicklungen beschrieben, wird der Künstler zu einem leidenschaftlichen oder empfindsamen, außergewöhnlichen, genialen Menschen, der mehr durch sein Leben als durch seine Kunst zu begeistern vermag. Die Verbindung von Kunst und Leben wird zu einer Mischform des künstlerischen Lebens, an dem mehr die Lebensführung als die Kunst selbst interessant erscheint. Gleichzeitig mit dem in der Lektüre imaginierten Künstlerleben entsteht 521 Vgl. hierzu Hermann Krapoth: „Geist des Gesprächs und Gespräch der Geister. Mme de Staël – Pariser Salonkultur und europäische Begegnungen“, in: Roberto Simanowski u.a. (Hrsg.), Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999, S. 251–267.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

269

der Wunsch nach einer Inszenierung des eigenen Lebens als Kunstwerk, was sich am Programm der geselligen Zirkel ablesen läßt. Als typische Aktivitäten der „Salonkultur im klassischen Weimar“ gelten Vorträge zur gegenseitigen Belehrung der Teilnehmer, Vorlesen und Besprechen eigener und fremder Texte, Lesen mit verteilten Rollen, gemeinsame Textproduktion (Reimen, improvisierendes Erzählen), gemeinsames Musizieren (Klavierspiel, Gesang), Konzerte von professionellen Musikern, Anfertigung von Zeichnungen, Scherenschnitten etc. einzeln oder in Gemeinschaftsarbeit, Porträtsitzungen/Porträtausstellungen, Vorbereitung und Veranstaltung von öffentlichen Ereignissen, wie Bilderverlosungen, Maskenzügen, Laientheateraufführungen.522 Die Rezeption von Kunst und deren Beurteilung im Gespräch werden vermischt mit der eigenen Produktion von Kunst, zu der sich die Teilnehmer der literarischen Zirkel dadurch berechtigt fühlen können, daß nicht mehr die Kenntnis von Regeln, sondern die lebhafte Empfindung als wichtigste Fähigkeit des Künstlers angesehen wird. Neben dieser Tendenz zur eigenen Produktion, zu der vor allem die in den Salons stark vertretenen Frauen sich durch den Umgang mit Kunst und Künstlern berufen fühlen,523 kommt als weitere Form der Verbindung von Kunst und Leben die Teilnahme von Schriftstellern an diesen Zirkeln. Der Kontakt mit Künstlern steht hierbei im Mittelpunkt: „im Salon trafen sie Menschen, die in ihren Häusern nicht verkehrt hätten, unter ihnen die Künstler, Schauspieler und Schauspielerinnen, die sie bewunderten.“524 Der Wunsch, die bewunderten Dichter, Maler und Schauspieler persönlich zu treffen, ist eine Folge der Künstlerfiguren in den Künstlerromanen, die den Frauen der Salons auch als Folie ihrer Selbstwahrnehmung dienten. Wenn Rahel Varnhagen in einem Briefwechsel von sich selbst schreibt: „ich bin so einzig, als die größte Erscheinung dieser Erde. Der größte Künstler, Philosoph oder Dichter [ist] nicht über mir. Wir sind vom selben Element. Im selben Rang und gehören zusammen…

522 Astrid Köhler, Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept, Stuttgart 1996, S. 98. 523 Vgl. hierzu Peter Gradenwitz, Literatur und Musik in geselligem Kreise. Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen Salongesellschaft, Stuttgart 1991, S. 94: „Frauen traten ja seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bereits auch als Schriftstellerinnen auf.“ 524 Ebd., S. 77.

270

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Mir aber ward das Leben angewiesen“525, so gründet diese Selbstüberhebung vor allem im Moment der Leidenschaft, die sie bei sich ebenso wie bei den genialen Künstlern vorzufinden glaubt.526 Ihre literarische Vorlage, vor deren Hintergrund sie ihr eigenes Leiden im Leben und an der Liebe poetisiert und damit erhöht, ist Goethes Wilhelm Meister: Sie will, wie sie es im „Wilhelm Meister“ vorgezeichnet sieht, in allem Leid und jeder Enttäuschung ein Weiterkommen, ein Festerwerden erreichen; „immer in der Unschuld, die andern besser zu sehen, als sie sind und meist sie sich vorzuziehen; immer aufgelegt zu lernen und nachzugeben“, identifizierte sie sich fast mit Wilhelm Meister.527 In einer Ineinssetzung von fiktiven Künstlern und deren realen Schöpfern wächst das Interesse am Künstler derart, daß im Salon Johanna Schopenhauers ein regelrechter Goethe-Kult betrieben wird. Sie war bereits mit der Absicht, Goethe in ihren literarischen Salon einzubeziehen, nach Weimar gekommen: „Johanna Schopenhauer hatte Verschiedenes nach Weimar mitgebracht: Geld, Bildung und Lebenserfahrung sowie einige im Voraus geknüpfte Beziehungen gehörten dazu. Von vornherein war Goethe eine der wichtigsten Personen in ihren weimarischen Kalkulationen.“528 Ihre Absicht war genau die einer Ästhetisierung des Lebens durch den Umgang mit Künstlern: Das Zusammentreffen dieser verschiedenen Konstellationen ermöglichte es Johanna Schopenhauer offenbar, eine Geselligkeitskultur von außen in die Stadt [Weimar] hineinzutragen, einen Kreis ‚großer Geister‘ um sich zu ziehen und im Zusammensein mit ihnen ihre eigene Lebens-Kunst zu kreieren. Ein solches Konzept kann von Seiten der Wirtin bewußt oder unbewußt als Konkurrenzunternehmen zu bekannten Berliner Salons, aber auch zu deutschen Künstlerkolonien im Ausland (in Rom beispielsweise dem Kreis um Angelika Kauffmann) angesehen werden.529 525 Rahel Varnhagen an Karl Varnhagen, zitiert nach: Ingeborg Drewitz, Berliner Salons. Gesellschaft und Literatur zwischen Aufklärung und Industriezeitalter, Berlin 31984, S. 51. 526 Vgl. hierzu Gradenwitz, Literatur und Musik, S. 86. 527 Ebd., S. 59. 528 Köhler, Salonkultur, S. 24. 529 Ebd., S. 27.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

271

Der Salon der Schopenhauer mit der Inszenierung Goethes als Dichterfürst530 ist jedoch keine Ausnahme. Viele der zeitgenössischen Dichter und Musiker frequentieren die Salons entweder regelmäßig oder doch zumindest als Ausnahmebesucher, um vom Kult um den Künstler zu profitieren.531 Für Ludwig Tieck, der als Rezitator in ganz Europa bekannt war,532 stellt der Goethe-Kult, der nicht nur im Salon der Johanna Schopenhauer, sondern auch in absentia in den Berliner Salons von Henriette Herz und Rahel Varnhagen betrieben wurde,533 das Vorbild für seinen eigenen Personenkult dar, den er erfolgreich inszeniert.534 Tieck, der als einer der Väter der Romantik mit seinem Franz Sternbald die Empfindung zu einem der wichtigsten Begriffe der Kunsttheorie gemacht hat, nutzt die Wirkung von Kunst und Künstlerperson auf seine Leser, um seine Vorleseabende am Altmarkt zu einem fast schon kultischen Ereignis werde zu lassen:535 Die Abende selbst waren, wie bereits umfassend dargestellt, von einem festen Ritus bestimmt, der sich allabendlich wiederholte und nur selten durch abweichende Handlungen unterbrochen wurde. Rituale, wie das sich stetig wiederholende Begrüßungszeremoniell zu Beginn der Vorleseabende, das Teetrinken und die anschließende Einladung des Autors, doch mit der Vorlesung zu beginnen, wie auch das schnelle Beenden der Vorlesung sowie des gesamten Abends nach Beendigung des Stückes – gleichsam ein Entziehen des Autors, ohne das Geschehene hinterfragen zu können oder gar zu müssen – tragen durch ihren Wiederholungscharakter zur Selbstorganisation, Interaktion und Stabilität der sozialen Gruppe bei.536 530 Vgl. hierzu z.B. Astrid Köhler: „Welt und Weimar: Geselligkeitskonzeptionen im Salon der Johanna Schopenhauer (1806–1828)“, in: Simanowski, Europa – ein Salon, a.a.O., S. 147–160. Sie bewertet den Umgang mit Goethe als „Goethe-Fixierung im Salon“ und zitiert den kritischen Augenzeugenbericht von Stephan Schütze, ebd., S. 156f. 531 Vgl. hierzu Gradenwitz, Literatur und Musik, S. 70f. 532 Vgl. hierzu Klaus Günzel: „‚Das beste Theater in Deutschland‘. Literarische Leseabende bei Ludwig Tieck am Dresdner Altmarkt“, in: Walter Schmitz (Hrsg.), Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, Tübingen 1997, S. 161–167; S. 165f. 533 Vgl. Köhler, Welt und Weimar, S. 156, FN 27. 534 Vgl. hierzu Andreas Känner, „Jeder Ort hat seinen Heiligen…“. Gruppenbildung um Ludwig Tieck in Dresden, Dresden 2009, S. 64: „Wie bereits erwähnt, sprechen zahlreiche vor allem äußerliche Zeichen in Tiecks Repräsentationsgesten für eine doch vorhandene Adaption von Goethes Verhalten als ‚Dichterfürst‘ in Weimar. Sich deckende Berichte unterschiedlicher Zeugen lassen doch auf die Stimmigkeit einiger solcher Beobachtungen schließen. So ähneln sich neben der Einrichtung der Wohnungen und des Empfangsritus auch die zunehmende Instrumentalisierung und Inszenierung beider als Sehenswürdigkeit.“ 535 Vgl. hierzu Känner, Gruppenbildung um Tieck, S. 56ff. 536 Ebd., S. 59.

272

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Mit dem Kult um den realen Künstler vollzieht die Popularisierung der Ästhetik den Schritt aus der Kunst ins wirkliche Leben. Die Künstlerromane bieten zunächst eine Möglichkeit, das populäre Medium des Romans mit der ihm inhärenten Verlebendigung abstrakter Ideen in der Figur des Künstlers zu nutzen, um ästhetische Problemstellungen auf einem anschaulicheren Niveau zu diskutieren und damit zugleich eine Schulung der Leser zur Bildung selbständiger Geschmacksurteile zu verbinden. Die dadurch hergestellte Verbindung von Kunst und Leben innerhalb der Fiktion greift jedoch unweigerlich auf den fiktionsexternen Bereich über, dem Interesse für den fiktiven Künstler folgt das Interesse am realen. Im Personenkult um den Künstler gerät freilich das ursprüngliche Anliegen einer Bildung der Leser zum Geschmacksurteil schnell in den Hintergrund. Die pseudo-religiöse Aufladung der Kunst als Ersatz für die von der Aufklärung verabschiedete Religion, die besonders in der Romantik stattfindet, läßt den Künstler nicht nur als alter deus, sondern als neuen Gott erscheinen: „Durch die Anlehnung an seinen [Tiecks] ihm eigenen literarischen Kanon wird er gleichsam zum ‚Prediger‘ einer – seiner – ästhetischen Offenbarung.“537 Nicht Urteilsbildung, sondern Verehrung stehen im Zentrum der Inszenierungen, das Ideal der Bildung des Volkes durch die Kunst wird damit ad absurdum geführt, zumal Tieck selbst sich trotz seiner Selbstinszenierung über die Einrichtung der literarischen Salons lustig macht.538 Die Popularisierung der Ästhetik im Künstlerroman hat jedoch zumindest ein Ziel erreicht: Das weit verbreitete Sprechen über eine ursprünglich philosophische Disziplin. Diese Entwicklung dürfte, vor allem in der Geschwindigkeit, mit der sie sich vollzogen hat, einzigartig in der deutschen Geistesgeschichte sein.

537 Ebd, S. 70. 538 Vgl. Gradenwitz, Literatur und Musik, S. 100.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

273

10 Literaturverzeichnis 10.1 Primärliteratur Ariost, Ludovico: Rasender Roland, nacherzählt von Italo Calvino, München 2008. Ariosto, Ludovico: Orlando Furioso, a cura di Lanfranco Caretti, presentazione di Italo Calvino, due volumi, Torino 1966/1992. Aristoteles: Nikomachische Ethik, hrsg. von Günther Bien, Hamburg 1985. Aristoteles: Rhetorik, übersetzt von Franz G. Sieveke, München 31989. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationis philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58), lat.-dt., übers. und hrsg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983. Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965. Boccaccio, Giovanni: Decameron, Band I, hrsg. von A.E. Quaglio, Milano 82007. Burke, Edmund: Philosophische Abhandlung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übers. von Friedrich Bassenge, neu eingel. und hrsg. von Werner Strube, Hamburg 1980. Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers, 1. Band, Berlin 1870. Engel, Johann Jakob: „Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung“, in: Ders., Schriften 1801–1806, Band IV, Frankfurt/Main 1971 [Athenäum Reprints], S. 201–266. Goethe, Johann Wolfgang: „Kunst und Handwerk“, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abteilung I, Band 18: Ästhetische Schriften 1771– 1805, hrsg. von Friedmar Apel, Frankfurt/Main 1998, S. 437–440. Goethe, Johann Wolfgang: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abteilung I, Band 9: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen Deutscher Aus­ gewanderten, hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt/Main 1992, S. 355–992. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke, Band 14: Vorlesungen über die Ästhetik 2, Frankfurt/Main 41995. Heinse, Wilhelm: Ardinghello und die glückseligen Inseln, kritische Studienausgabe, hrsg. von Max L. Baeumer, Stuttgart 1975 u.ö.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

275

Heinse, Wilhelm: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlaß, hrsg. von Markus Bernauer, Nobert Miller u.a., Bd. 1–IV, München/Wien 2003 (Bd. I und II) und 2005 (Bd. III und IV). Herder, Johann Gottfried: Werke. Band 7: Briefe zu Beförderung der Humanität, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/Main 1991. Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 2: Siebenkäs. Flegeljahre, hrsg. von Norbert Miller, München/Wien 1959, S. 577–1088. Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 5: Vorschule der Ästhetik. Levana. Politische Schriften, 6., korrigierte Auflage, München/Wien 1995, S. 7–514. Jean Paul: „Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, Fünfter Brief: Über das Träumen bei Gelegenheit eines Aufsatzes darüber von Doktor Viktor“, in: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 4: Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hrsg. von Norbert Miller, 4. korrigierte Auflage, München/Wien 1988, S. 971–982. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, in: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung I, Band 4: Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hrsg. von Norbert Miller, 4. korrigierte Auflage, München/Wien 1988, S. 195–205. Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Band 10: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Zweiter Teil: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968. Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Band 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968. Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: ‚Was ist Aufklärung?‘“, in: Norbert Hinske, Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit einem Vorwort versehen, unveränderter Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. ergänzte Auflage, Darmstadt 1981, S. 452–465. Leonardo Da Vinci: Trattato della pittura, introduzione e aparati a cura di Attore Camesasca, Milano 1995. Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: Ders., Werke in drei Bänden. Band III: Geschichte der Kunst, Theologie, Philosophie, München 2003, S. 9–188. Lochner, Johann Hieronymus: Kunst zu reden in gemeinem Umgang, oder, Gründliche Anleitung Complimenten, sowol bey alltäglichen als sonderbaren Gelegenheiten, fertig abzulegen, Nürnberg 1730. Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Bände, Halle im Magdeburgischen, 1754–1759, Nachdruck: Hildesheim 1976. Mendelssohn, Moses: „Über die Frage: was heißt aufklären?“, in: Norbert Hinske: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit einem Vorwort versehen, unveränderter Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. ergänzte Auflage, Darmstadt 1981, S. 444–451. Michelangelo Buonarotti: Rime e lettere, a cura di Paola Mastrocola, Torino 1992.

276

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Morgenstern, Karl: „Über das Wesen des Bildungsromans“, Vortrag, gehalten den 12. December 1819, in: Rolf Selbmann (Hrsg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988 [Wege der Forschung, Band 640], S. 55–72. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens, bibliogra­ phisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2001. Moritz, Karl Philipp: „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman“, in: Ders., Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, Werke in zwei Bänden, Band 1, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/Main 1999, S. 85–518. Moritz, Karl Philipp: „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie, S. 992–1003. Moritz, Karl Philipp: „Über die bildende Nachahmung des Schönen“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie, Werke in zwei Bänden, Band 2, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/Main 1997, S. 958–991. Moritz, Karl Philipp: „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in: Ders., Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie, Werke in zwei Bänden, Band 2, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/Main 1997, S. 943–949. Rosenkranz, Karl: „Einleitung über den Roman“, in: Rolf Selbmann (Hrsg.), Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988 [Wege der Forschung, Band 640], S. 100–119. Schiller, Friedrich: „Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., München/Wien 2004, S. 394–433. Schiller, Friedrich: „Über Anmut und Würde“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., München/Wien 2004, S. 433–488. Schiller, Friedrich: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Text­ edition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, München/Wien 2004, S. 570–669. Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: Ders., Sämt­ liche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt u.a., Band V: Erzählungen und theoretische Schriften, München/Wien 2004, S. 694–780. Schlegel, Friedrich: „Gespräch über Poesie“, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken I. 1796–1801, hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner, Kritische Friedrich-­ Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Erste Abteilung, Zweiter Band, München u.a. 1967, S. 284–362. Schlegel, Friedrich: „Über das Studium der griechischen Poesie“, in: Ders., Kritische Schriften, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, München 31971.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

277

Sulzer, Johann Georg: „Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste“, in: Ders., Vermischte philosophische Schriften, 2 Bände, Leipzig 1773, Nachdruck Hildesheim/New York 1974, Band 1. Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen, hrsg. von Alfred Anger, Stuttgart 1994. Varchi, Benedetto: Paragone – Rangstreit der Künste, italienisch und deutsch, hrsg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Tristan Weddigen, Darmstadt 2013. Vasari, Giorgio: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, neu übersetzt von Victoria Lorini, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, in: Ders., Werke und Briefe, hrsg. von Gerda Heinrich, München/ Wien 1984, S. 139–247. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst“, in: Ders., Werke und Briefe, hrsg. von Gerda Heinrich, München/Wien 1984, S. 249–363. Winckelmann, Johann Joachim: Schriften und Nachlaß, Band 4.1: Geschichte der Kunst des Altertums, Text: Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776, hrsg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens u.a., Main/Rhein 2009. Winckelmann, Johann Joachim: „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, in: Ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hrsg. von Walther Rehm, mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann, Berlin 1968, S. 27–59. Zuccaro, Federico: „L’idea de’ pittori, scultori et architteti“, in: Scritti d’arte di Federico Zuccaro, vol. 2, a cura di Detlef Heikamp, Firenze 1961 [Fonti per lo studio della storia dell’arte inedite o rare I].

10.2 Sekundärliteratur Ahrend, Hinrich: Verschlungene Lineaturen. Die Poetik der Arabeske in Ludwig Tiecks Erzählwerk, Würzburg 2012. Allkemper, Alo: Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, München 1990. Ammerlahn, Hellmut: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003. Ammerlahn, Hellmut: „Wilhelm Meisters Mignon – ein offenbares Rätsel. Name, Gestalt, Symbol, Wesen und Werden“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 42 (1968), S. 89–116. Bachmann-Medick, Doris: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989.

278

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Baeumer, Max L.: Das Dionysische in den Werken Wilhelm Heinses. Studie zum dionysischen Phänomen in der deutschen Literatur, Bonn 1964 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 19]. Baeumer, Max L.: Heinse-Studien, Stuttgart 1966. Beaujean, Marion: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bonn 1964 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 22]. Beck, Angelika: Der Bund ist ewig, Erlangen 1982. Berghahn, Cord-Friedrich: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidelberg 2012. Berhorst, Ralf: Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichts­ philosophie, Tübingen 2002. Bernauer, Markus: „Kunst als Natur – Natur als Kunst. Heinses Entwurf der italienischen Renaissance“, in: Gert Theile (Hrsg.): Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München 1998 [Weimarer Editionen], S. 91–124. Bernauer, Markus; Miller, Norbert (Hrsgg.): Wilhelm Heinse. Der andere Klassizismus, Göttingen 2007. Birus, Hendrik: „‚Größte Tendenz des Zeitalters‘ oder ‚ein Candide, gegen die Poesie gerichtet‘? Friedrich Schlegels und Novalis’ Kritik des Wilhelm Meister“, in: Karl Eibl; Bernd Scheffer (Hrsg.): Goethes Kritiker, Paderborn 2001, S. 27–43. Böhn, Andreas: Vollendende Mimesis. Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis, Berlin/New York 1992 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N.F. Band 101]. Brecht, Christoph: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993 [Studien zur deutschen Literatur, Band 126]. Brecht, Walther: Heinse und der ästhetische Immoralismus, Berlin 1911. Brettschneider, Julia: „Herzsprung. Die Geschichte des Herzens und dessen Dekonstruktion am Beispiel Mignon“, in: Heike Brandstädter; Katharina Jeorgakopulos u.a. (Hrsgg.), Margarete – Ottilie – Mignon. Goethe-Lektüren, Hamburg/Berlin 1999, S. 77–90. Bucher, Theodor G.: Einführung in die angewandte Logik, zweite, erweiterte Auflage, Berlin/New York 1998. Buck, Günther: „Das Lehrgespräch“, in: Karlheinz Stierle; Rainer Warning (Hrsgg.): Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 191–210. Burrichter, Brigitte: „Der Zauberer und der Autor – Atlantes Zauberwelt als mise en abyme des romanzo“, in: Cornelia Klettke; Georg Maag (Hrsgg.): Trugbildnerisches Labyrinth, kaleidoskopartige Effekte. Neurezeptionen des ‚Orlando Furioso‘ von Ariost. Horizonte, 9. Jahrgang (2005), Tübingen 2006, S. 17–26. Buschendorf, Bernhard: „‚Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt.‘ Zur relativen Autonomie des Ästhetischen bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, hrsg. von Helmut Pfotenhauer, 35./36. Jahrgang, Weimar 2001, S. 218–237. Dick, Manfred: „Wilhelm Heinse“, in: Benno von Wiese (Hrsg,), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 551–576.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

279

Drewitz, Ingeborg: Berliner Salons. Gesellschaft und Literatur zwischen Aufklärung und Industriezeitalter, Berlin 31984. Eckle, Jutta: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“. Studien zu Johann Wolfgang von Goethes ‚Wilhelm Meisters theatralische Sendung‘ und Karl Philipp Moritz’ ‚Anton Reiser‘, Würzburg 2003. Enders, Horst: „Zur Popular-Poetik im 19. Jahrhundert: ‚Sinnlichkeit‘ und ‚inneres Bild‘ in der Poetik Rudolph Gottschalls“, in: Helmut Koopmann u.a. (Hrsg.), Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Band 1, Frankfurt/Main 1971, S. 66–84. Eybisch, Hugo: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K.Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909. Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991. Frey, Christiane: „Der Fall Anton Reiser: Vom Paratext zum Paradigma“, in: Anthony Krupp (Hrsg.), Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens, Amsterdam/ New York 2010 [Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 77], S. 19–43. Freye, Karl: Jean Pauls Flegeljahre. Materialien und Untersuchungen, Berlin 1907 [Palaestra LXI]. Fuhrmann, Helmut u.a. (Hrsg.): Wilhelm Meister und seine Nachfahren, Vorträge des 4. Kasseler Goethe-Seminars, Kassel 2000. Goer, Charis: Ungleiche Geschwister. Literatur und die Künste bei Wilhelm Heinse, München 2006. Goldschmidt, Georges Arthur: „Die beflügelte Wahrnehmung des Leidens. Zu Karl Philipp Moritz’ Roman ‚Anton Reiser‘“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text und Kritik, Band 118/119: Karl Philipp Moritz, unveränderter Nachdruck München 1995, S. 24–34. Gradenwitz, Peter: Literatur und Musik in geselligem Kreise. Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen Salongesellschaft, Stuttgart 1991. Grant, Michael; Hazel, John (Hrsgg.): Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 182004, S. 318f. Günzel, Klaus: „‚Das beste Theater in Deutschland‘. Literarische Leseabende bei Ludwig Tieck am Dresdner Altmarkt“, in: Walter Schmitz (Hrsg.): Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, Tübingen 1997. Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007 [Einführungen Germanistik]. Hausdörfer, Sabrina: Rebellion im Kunstschein. Die Funktion des fiktiven Künstlers in Roman und Kunsttheorie der deutschen Romantik, Heidelberg 1987. Herrmann, Leonhard: Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses „Ardinghello“ – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte, Berlin/New York 2010 [Communicatio – Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Band 41]. Hüfler, Almut: Vermittlung und Unmittelbarkeit. Wilhelm Heinses Romanpoetik zwischen Leben und Literatur, Heidelberg 2012.

280

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Iser, Wolfgang: „Zur Phänomenologie der Dialogregel“, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsgg.), Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 183–189. Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchung zum deutschen Bildungsroman, München 1972. Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972. Jacobs, Jürgen; Krause, Markus: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989 [Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte]. Japp, Uwe: „Der Weg des Künstlers und die Vielfalt der Kunst in Franz Sternbalds Wanderungen“, in: Detlef Kremer (Hrsg.), Die Prosa Ludwig Tiecks, Bielefeld 2005, S. 35–52. Känner, Andreas: „Jeder Ort hat seinen Heiligen…“ Gruppenbildung um Ludwig Tieck in Dresden, Dresden 2009. Kemp, Martin: Leonardo, München 2005. Klettke, Cornelia: „Der Text als Trugbild – Gewebe, Labyrinth, Knoten: Studien zur Ästhetik des Orlando furioso von Ariost“, in: Cornelia Klettke; Georg Maag (Hrsgg.): Trugbildnerisches Labyrinth, kaleidoskopartige Effekte. Neurezeptionen des ‚Orlando Furioso‘ von Ariost. Horizonte, 9. Jahrgang (2005), Tübingen 2006, S. 101–126. Klinger, Cornelia: Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien 1995. Köhler, Astrid: Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept, Stuttgart 1996. Köhler, Astrid: „Welt und Weimar: Geselligkeitskonzeptionen im Salon der Johanna Schopenhauer (1806–1828)“, in: Roberto Simanowski u.a. (Hrsg.), Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999, S. 147–160. Krapoth, Hermann: „Geist des Gesprächs und Gespräch der Geister. Mme de Staël – Pariser Salonkultur und europäische Begegnungen“, in: Roberto Simanowski u.a. (Hrsg.), Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999, S. 251–267. Lange, Victor: Goethe-Studien. Bilder, Ideen, Begriffe, Würzburg 1991. Littlejohns, Richard: „Der Rutsch in die Fiktion: Renaissancekunst und Renaissancekünstler in Tiecks ‚Franz Sternbalds Wanderungen‘“, in: Silvio Vietta (Hrsg.): Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 163–175. Lohmann, Gustav: Jean Pauls „Flegeljahre“ gesehen im Rahmen ihrer Kapitelüber­ schriften, Teil 2, Würzburg 1995. Luckmann, Thomas: „Das Gespräch“, in: Karlheinz Stierle; Rainer Warning (Hrsgg.): Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 49–63. Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

281

Macher, Heinrich: „Heinses Ardinghello als Ergebnis seiner Italienreise“, in: Klaus Manger (Hrsg.), Italienbeziehungen des klassischen Weimar, Tübingen 1997 [Reihe der Villa Vigoni, Band 11], S. 153–179. Mahoney, Dennis F.: Der Roman der Goethezeit (1774–1829), Stuttgart 1988. Maisak, Petra: „Et in Arcadia ego“, in: Klaus Manger (Hrsg.), Italienbeziehungen des klassischen Weimar, Tübingen 1997 [Reihe der Villa Vigoni, Band 11], S. 11–37. Marchese, Angelo: Storia intertestuale della letteratura italiana. Il Cinquecento, il Seicento e il Settecento dal rinascimento all’illuminismo, Firenze 1993. Marcuse, Herbert: Schriften Band 1: Der deutsche Künstlerroman. Frühe Schriften, Frankfurt/Main 1978, S. 7–343. Mayer, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. Meier, Albert: „Das Land zum Buch. Klassische Literatur und Italienwahrnehmung im 18. Jahrhundert“, in: Klaus Heitmann; Teodoro Scamardi (Hrsgg.): Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993 [Reihe der Villa Vigoni, Band 9], S. 26–36. Meuthen, Erich: Eins und doppelt oder Vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans, Tübingen 2001 [Studien zur deutschen Literatur, Band 159]. Meuthen, Erich: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg/Breisgau 1994 [Rombach Wissenschaft – Reihe Litterae, Band 23]. Meyer, Hermann: „Jean Pauls ‚Flegeljahre‘“, in: Uwe Schweikert (Hrsg.): Jean Paul, Darmstadt 1974 [Wege der Forschung, Band CCCXXXVI], S. 208–265. Michelsen, Peter: „Das Italienbild in Wilhelm Heinses Ardinghello“, in: Klaus Heitmann; Teodoro Scamardi (Hrsgg.): Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993 [Reihe der Villa Vigoni, Band 9], S. 37–48. Mittelstrass, Jürgen: „Versuch über den sokratischen Dialog“, in: Karlheinz Stierle; Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch, München 1984, [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 11–27. Müller, Dominik: Vom Malen erzählen. Von Wilhelm Heinses „Ardinghello“ bis Carl Hauptmanns „Einhart der Lächler“, Göttingen 2009. Neumann, Michael: Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Frankfurt/Main 1992 [Das Abendland, N.F. 22]. Neumann, Peter Horst: Jean Pauls „Flegeljahre“, Göttingen 1966. Oesterhelt, Anja: „Poetik des Dialogs als Projekt der Aufklärung“, in: Marion Gym­nich; Ansgar Nünning (Hrsgg.), Funktionen von Literatur. Theoretische Grund­lagen und Modellinterpretationen, Trier 2005 [ELK Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 16], S. 157–167. Osols-Wehden, Irmgard: Pilgerfahrt und Narrenreise. Der Einfluß der Dichtungen Dantes und Ariosts auf den frühromantischen Roman in Deutschland, Hildesheim 1998.

282

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Pfisterer, Ulrich: „Die Entstehung des Kunstwerks. Federico Zuccaris ‚L’idea de’ pittori, scultori et architetti‘“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 38 (1993), S. 237–168. Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, zweite, bibliographisch ergänzte Auflage, München 2000. Pontzen, Alexandra: Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller, Berlin 2000. Rudolph, Enno: „Die Entdeckung des Individuums in der Philosophie der Renaissance. Ein Dialog mit Ernst Cassirer über Cusanus, Pico della Mirandola und Pomponatius“, in: Silvio Vietta (Hrsg.): Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 15–32. Sauder, Gerhard: „Die Sexualisierung des Ästhetischen bei Heinse“, in: Gert Theile (Hrsg.): Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München 1998 [Weimarer Editionen], S. 77–90. Sauder, Gerhard: „Fiktive Renaissance: Kunstbeschreibungen in Wilhelm Heinses Roman ‚Ardinghello‘“, in: Silvio Vietta (Hrsg.): Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 61–73. Schipper-Hönicke, Gerold: Im klaren Rausch der Sinne. Wahrnehmung und Lebensphilosophie in den Schriften und Aufzeichnungen Wilhelm Heinses, Würzburg 2003 [Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 379]. Schlaeger, Jürgen: „Vom Selbstgespräch zum institutionalisierten Dialog. Zur Genese bürgerlicher Gesprächskultur in England“, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsgg.): Das Gespräch, München 1984 [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 361–376. Schlaffer, Hannelore: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980. Schlaffer, Hannelore; Schlaffer, Heinz: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt/Main 1975. Schlaffer, Heinz: „Jean Paul“, in: Uwe Schweikert (Hrsg.): Jean Paul, Darmstadt 1974 [Wege der Forschung Band CCCXXXVI], S. 389–410. Schlechta, Karl: Goethes Wilhelm Meister, mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt/Main 1985. Schmidt-Hannisa, Hans Walter: „‚Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst‘. Traumtheorie und Traumaufzeichnung bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-­ Paul-Gesellschaft, hrsg. von Helmut Pfotenhauer, 35./36. Jahrgang, Weimar 2001, S. 93–113. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens 1750–1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985. Schmölders, Claudia: Die Kunst des Gesprächs, München 1979. Schrader, Monika: Mimesis und Poiesis. Poetologische Studien zum Bildungsroman, Berlin 1975.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

283

Selbmann, Rolf (Hrsg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988 [Wege der Forschung, Band 640]. Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Stuttgart/Weimar 1994. Sengle, Friedrich: Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk, hrsg. von Marianne Tilch, mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr, Heidelberg 1999 [Reihe Siegen – Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft, Band 138]. Simon, Ralf: „Versuch über einige Rahmenbedingungen des literarischen Charakters in Jean Pauls Flegeljahren“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, hrsg. von Helmut Pfotenhauer, 35./36. Jahrgang, Weimar 2001, S. 251–266. Stierle, Karlheinz: „Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal“, in: Karlheinz Stierle; Rainer Warning (Hrsgg.): Das Gespräch, München 1984, [Poetik und Hermeneutik, Band XI], S. 297–334. Stierle, Karlheinz: „Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts“, in: Reinhart Herzog; Reinhart Koselleck (Hrsgg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 [Poetik und Hermeneutik, Band XII], S. 453–492. Stützer, Herbert Alexander: Die italienische Renaissance, Köln 1977. Stützer, Herbert Alexander: Malerei der italienischen Renaissance, Köln 2004. Theile, Gert: Wilhelm Heinse. Lebenskunst in der Goethezeit, München 2011. Vedder, Björn: Wilhelm Heinse und der so genannte Sturm und Drang. Künstliche Paradiese der Natur zwischen Rokoko und Klassik, Würzburg 2011. Vietta, Silvio: „Romantik und Renaissance – Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 1–14. Vietta, Silvio: „Vom Renaissance-Ideal zur deutschen Ideologie: Wilhelm Heinrich Wackenroder und seine Rezeptionsgeschichte“, in: Ders. (Hrsg.): Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 140–162. Vonau, Michael: Quodlibet. Studien zur poetologischen Selbstreflexivität von Jean Pauls Roman „Flegeljahre“, Würzburg 1997 [Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte, Band 2]. Voorhoeve, Jutta: Romantisierte Kunstwissenschaft. ‚Franz Sternbalds Wanderungen‘ von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit, München 2010. Wick, Nadja: Apotheosen narzisstischer Individualität. Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Gottfried Keller und Robert Gernhardt, Bielefeld 2008. Winter, Hans-Gerhard: Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J. J. Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974. Wirth, Uwe: „Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen“, in: Stefan Blechschmidt, Andrea Heinz (Hrsgg.): Dilettantismus um 1800, Heidelberg 2007 [Ästhetische Forschungen, Band 16], S. 41–49.

284

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

Wölfel, Kurt: „Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman“, in: Reinhold Grimm (Hrsg.): Deutsche Romantheorien, Band 1, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt/Main 1974, S. 29–60. Wölfel, Kurt: „Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift“, in: Ders., Jean Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf, Frankfurt/Main 1989, S. 72–101. Zima, Peter V.: Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen/Basel 2008.

© Frank & Timme  Verlag für wissenschaftliche Literatur

285

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Band 1 Thomas Schneider: Das literarische Porträt. Quellen, Vorbilder und Modelle in Thomas Manns Doktor Faustus. 294 Seiten. ISBN 978-3-86596-001-6 Band 2 Alfrun Kliems / Ute Raßloff / Peter Zajac (Hg.): Spätmoderne. Lyrik des 20. Jahr hunderts in Ost-Mittel-Europa I. 446 Seiten. ISBN 978-3-86596-020-7 Band 3

Martina Steinig: „Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder …“ Lied- und Gedichteinlagen im Roman der Romantik. Eine exemplarische Analyse von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Joseph von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. Mit Anmerkungen zu Achim von Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. 600 Seiten. ISBN 978-3-86596-080-1

Band 4 Ilse Nagelschmidt / Lea Müller-Dannhausen / Sandy Feldbacher (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutsch-sprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. 256 Seiten. ISBN 978-3-86596-074-0 Band 5 Sandra Kersten: Die Freundschaftsgedichte und Briefe Johann Christian Günthers. 398 Seiten. ISBN 978-3-86596-052-8 Band 6 Alfrun Kliems / Ute Raßloff / Peter Zajac (Hg.): Sozialistischer Realismus. Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa II. 522 Seiten. ISBN 978-3-86596-021-4 Band 7 Rosvitha Friesen Blume: Ein anderer Blick auf den bösen Blick. Zu ausgewählten Erzählungen Gabriele Wohmanns aus feministisch-theoretischer Perspektive. 136 Seiten. ISBN 978-3-86596-097-9 Band 8 Brigitte Krüger / Helmut Peitsch / Hans-Christian Stillmark (Hg.): Lesarten. Beiträge zur Kunst-, Literatur- und Sprachkritik. 168 Seiten. ISBN 978-3-86596-093-1 Band 9 Lavinia Brancaccio: China accommodata. Chinakonstruktionen in jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit. 268 Seiten. ISBN 978-3-86596-130-3 Band 10 René Granzow: Gehen oder Bleiben? Literatur und Schriftsteller der DDR zwischen Ost und West. 138 Seiten. ISBN 978-3-86596-159-4 Band 11 Alfrun Kliems / Ute Raßloff / Peter Zajac (Hg.): Intermedialität. Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa III. 392 Seiten. ISBN 978-3-86596-022-1

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Band 12 Ines Theilen: White hum – literarische Synästhesie in der zeitgenössischen Literatur. 242 Seiten. ISBN 978-3-86596-191-4 Band 13 Jean-Luc Gerrer (Hg.): Anklage, Nachdenken und Idealisierung. Literatur über die ehemaligen deutschen Ostgebiete / Zeugnisse von Flucht und Vertreibung. 84 Seiten. Nur als E-Book erhältlich. ISBN 9783-386596-201-0, s. auch Band 34 Band 14

Gérard Krebs: Schweizerisch-finnische Literaturbeziehungen. Fünf Beiträge und eine Bibliographie der ins Finnische übersetzten Schweizer Literatur mit Einschluss der Kinder- und Jugendliteratur 1834–2008. 200 Seiten. ISBN 978-3-86596-211-9

Band 15 Jürgen Adam: Antithetische Kategorien als ein methodisches Mittel in der deutschen Literaturwissenschaft. 154 Seiten. ISBN 978-3-86596-229-4 Band 16 Hannelore Schwartze-Köhler: „Die Blechtrommel“ von Günter Grass: Bedeutung, Erzähltechnik und Zeitgeschichte. Strukturanalysen eines Best sellers der literarischen Moderne. 434 Seiten. ISBN 978-3-86596-237-9 Band 17 Sylvie Grimm-Hamen / Françoise Willmann (Hg.): Die Kunst geht auch nach Brot! Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur. 130 Seiten. ISBN 978-3-86596-281-2 Band 18 Ilse Nagelschmidt / Inga Probst / Torsten Erdbrügger (Hg.): Geschlechter gedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart. 232 Seiten. ISBN 978-3-86596-232-4 Band 19 Beatrice Sandberg (Hg.): Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 342 Seiten. ISBN 978-3-86596-288-1 Band 20 Zsuzsa Soproni: Erzählen in Ost und West. Intertextualität bei Irmtraud Morgner und Günter Grass. 196 Seiten. ISBN 978-3-86596-294-2 Band 21 Steffen Groscurth / Thomas Ulrich (Hg.): Lesen und Verwandlung. Lektüre prozesse und Transformationsdynamiken in der erzählenden Literatur. 230 Seiten. ISBN 978-3-86596-328-4 Band 22 Cristina Spinei: Über die Zentralität des Peripheren: Auf den Spuren von Gregor von Rezzori. 318 Seiten. ISBN 978-3-86596-337-6

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Band 23 Nikolaos Karatsioras: Das Harte und das Amorphe. Das Schachspiel als Konstruktions- und Imaginationsmodell literarischer Texte. 266 Seiten. ISBN 978-3-86596-353-6 Band 24 Lea Müller-Dannhausen: Zwischen Pop und Politik. Elfriede Jelineks inter textuelle Poetik in wir sind lockvögel baby! 296 Seiten. ISBN 978-3-86596-362-8 Band 25 Antje Göhler: Antikerezeption im literarischen Expressionismus. 538 Seiten. ISBN 978-3-86596-377-2 Band 26 Gökçen Sarıçoban: Zwischen Tradition und Moderne. Lebensvorstellungen und Wahrnehmungsweisen in Selim Özdoğans Roman „Die Tochter des Schmieds“. 114 Seiten. ISBN 978-3-86596-393-2 Band 27 Stephan Krause / Friederike Partzsch (Hg.): „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen“. Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90. 270 Seiten. ISBN 978-3-86596-398-7 Band 28 Dolors Sabaté Planes / Jaime Feijóo (Hg.): Apropos Avantgarde. Neue Einblicke nach einhundert Jahren. 312 Seiten. ISBN 978-3-86596-407-6 Band 29 Maja Razbojnikova-Frateva: „Jeder ist seines Unglücks Schmied“. Männer und Männlichkeiten im Werk von Theodor Fontane. 334 Seiten. ISBN 978-3-86596-409-0 Band 30 Sven Pauling: „Wir werden Sie einkerkern, weil es Sie gibt!“ Studie, Zeitzeugen berichte und Securitate-Akten zum Kronstädter Schriftstellerprozess 1959. 148 Seiten. ISBN 978-3-86596-419-9 Band 31 Gonçalo Vilas-Boas / Teresa Martins de Oliveira (Hg.): Macht in der Deutsch schweizer Literatur. 446 Seiten. ISBN 978-3-86596-411-3 Band 32 Torsten Erdbrügger / Ilse Nagelschmidt / Inga Probst (Hg.): Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion. 474 Seiten. ISBN 978-3-86596-522-6 Band 33 Philippe Wellnitz (Hg.): Das Spiel in der Literatur. 312 Seiten. ISBN 978-3-86596-521-9

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Band 34 Jean-Luc Gerrer (Hg.): Anklage, Nachdenken und Idealisierung. Literatur über die ehemaligen deutschen Ostgebiete / Zeugnisse von Flucht und Vertreibung. 88 Seiten. ISBN 9783-386596-533-2 Band 35 Bogdan Trocha / Paweł Wałowski (Hg.): Homo mythicus. Mythische Identitätsmuster. 222 Seiten. ISBN 978-3-86596-435-9 Band 36 Halit Üründü: Zwischen Sehnsucht und Überdruss. Der Untergang der Habs burgermonarchie in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. 162 Seiten. ISBN 978-3-7329-0007-7 Band 37 Sabine Zubarik (Hg.): Tango Argentino in der Literatur(wissenschaft). 246 Seiten. ISBN 978-3-7329-0001-5 Band 38 Markus Fischer: Celan-Lektüren. Reden, Gedichte und Übersetzungen Paul Celans im poetologischen und literarhistorischen Kontext. 208 Seiten. ISBN 978-3-7329-0033-6 Band 39 Luigi Giuliani / Leonarda Trapassi / Javier Martos (eds.): Far Away Is Here. Lejos es aquí. Writing and migrations. 412 Seiten. ISBN 978-3-86596-545-5 Band 40 Lydia Bauer / Antje Wittstock (Hg.): Text-Körper. Anfänge – Spuren – Überschreitungen. 206 Seiten. ISBN 978-3-86596-481-6 Band 41 Marie Vachenauer: Kafkas Roman Der Proceß als Spiegelung historischer Ereignisse in der Stadt Prag. 166 Seiten. ISBN 978-3-7329-0057-2 Band 42 Paula Giersch: Für die Juden, gegen den Osten? Umcodierungen im Werk Karl Emil Franzos’ (1848 – 1904). 528 Seiten. ISBN 978-3-86596-476-2 Band 43 Jutta Eming / Gaby Pailer / Franziska Schößler / Johannes Traulsen (Hg.): Fremde – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne. 290 Seiten. ISBN 978-3-86596-469-4 Band 44 Carme Bescansa / Ilse Nagelschmidt (Hg.): Heimat als Chance und Heraus forderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat. 340 Seiten. ISBN 978-3-7329-0027-5

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Band 45 Helene von Bogen / Theresa Mayer / Shirin Meyer zu Schwabedissen /  Daniel Schierke / Simon Schnorr (Hg.): Literatur und Wahnsinn. 218 Seiten. ISBN 978-3-7329-0038-1 Band 46 Annie Bourguignon / Konrad Harrer / Franz Hintereder-Emde (Hg.): Hohe und niedere Literatur. Tendenzen zur Ausgrenzung, Vereinnahmung und Mischung im deutschsprachigen Raum. 472 Seiten. ISBN 978-3-7329-0059-6 Band 47 Gennady Vasilyev: Wiener Moderne: Diskurse und Rezeption in Russland. 444 Seiten. ISBN 978-3-7329-0137-1 Band 48 Raluca Rădulescu: Das literarische Werk Hans Bergels. 194 Seiten. ISBN 978-3-7329-0159-3 Band 49

Imre Gábor Majorossy: Bittersüße Begegnungen: Grenzüberschreitende Liebesbeziehungen und Freundschaften im Schatten der Kreuzzüge. „strît und minne was sîn ger“ – Fallbeispiele aus altfranzösischen und mittelhochdeutschen Erzählungen. 258 Seiten. ISBN 978-3-7329-0182-1

Band 50 Marco Hillemann / Tobias Roth (Hg.): Wilhelm Müller und der Philhellenismus. 286 Seiten. ISBN 978-3-7329-0177-7 Band 51 Günther F. Guggenberger: Georg Drozdowski in literarischen Feldern zwischen Czernowitz und Berlin (1920 – 1945). 364 Seiten. ISBN 978-3-7329-0169-2 Band 52

Klára Berzeviczy / László Jónácsik / Péter Lőkös (Hg.): Mitteleuropäischer Kulturraum. Völker und religiöse Gruppen des Königreichs Ungarn in der deutschsprachigen Literatur und Presse (16.–19. Jahrhundert). 234 Seiten. ISBN 978-3-7329-0194-4

Band 53 László V. Szabó: Renascimentum europaeum. Studien zu Rudolf Pannwitz. 270 Seiten. ISBN 978-3-7329-0185-2 Band 54 Sabrina Krone: Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman. 292 Seiten. ISBN 978-3-7329-0192-0

Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur