Polizei im Industrierevier: Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848-1914 9783666357541, 3525357540, 9783525357545

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Polizei im Industrierevier: Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848-1914
 9783666357541, 3525357540, 9783525357545

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 91

V&R

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 91

Ralph Jessen Polizei im Industrierevier

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Polizei im Industrierevier Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848 - 1914

von

Ralph Jessen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutschen Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jessen, Ralph: Polizei im Industrierevier : Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848 - 1 9 1 4 / von Ralph Jessen. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1991 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 91) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1989 u.d.T.: Jessen, Ralph: Polizei in der Klassengesellschaft ISBN 3-525-35754-0 NE: GT

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort © 1991, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Hannover Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Inhalt Vorwort

11

1.

Einleitung

13

1.1.

Von der BegrifFsgeschichte zur Sozialgeschichte der Polizei - Anmerkungen zum Forschungsstand Modernisierung und Disziplinierung Zur Fragestellung der Untersuchung

19

2.

Staat, Gesellschaft und Disziplinierung zwischen Stände- und Klassengesellschaft

28

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Polizei zwischen Reformära und Revolution Instanzen informeller Sozialkontrolle Politische Polizei Militär als innere Ordnungsmacht

28 33 37 40

3.

Polizeifunktionen im gesellschaftlichen Wandel

44

3.1. 3.2.

Industrialisierung, Klassenbildung und die Angst vor dem Proletariat »Die sociale Aufgabe der Polizei«

44 49

4.

Stadien der regionalen Polizeientwicklung

57

4.1.

Stagnation und wachsender Problemdruck in den fünfziger und sechziger Jahren Dezentrale Modernisierung in den siebziger und achtziger Jahren Der Polizeiausbau vor und nach der Jahrhundertwende

1.2.

4.2. 4.3.

4.3.1. Die Gendarmerieverstärkung nach 1889 4.3.2. Der koordinierte Ausbau der kommunalen Polizei 4.3.3. Die Verstaatlichung der Polizei in Bochum, Gelsenkirchen und Essen 4.4.

Die regionale Entwicklung im gesamtstaatlichen Kontext Die preußische Polizei im Längsschnitt

14

57 67 75 76 85 91 102 5

5. 5.1.

Strukturen und Strategien Die Infrastruktur alltäglicher Sozialdisziplinierung

110 111

5.1.1. Die Vernetzung der Stadt 5.1.2. Die Zechen- und Hüttenpolizisten

111 119

5.2.

126

Kapazitäten und Strategien der Streikkontrolle

5.2.1. Tendenzen und Grenzen der Entmilitarisierung 5.2.2. Die Grenzen des staatlichen Gewaltmonopols Die Zechenschutzwehren 5.3.

6. 6.1. 6.2.

138

Die Entstehung einer regionalen politischen Polizei Bezirkskommissare und Polenüberwachungsstelle

148

Strukturwandel, Krise und Binnenmodernisierung der kommunalen Polizei

157

Die Rekrutierung der Exekutivbeamten Die Doppelkrise der Polizei um die Jahrhundertwende

157 170

6.2.1. Die innere Krise der Exekutive: Instabilität und Statusinkonsistenz 6.2.2. Die äußere Krise der Exekutive: Legitimationsverfall und Autoritätsprobleme 6.3.

127

Ansätze zur inneren Modernisierung Die Verberuflichung der Polizei

170 179 186

6.3.1. Homogenisierung, Protest und Verbandsbildung Stabilisierungstendenzen in der Unterbeamtenschaft 6.3.2. Kommissare und Inspektoren als polizeiliche Experten Die Pseudoprofessionalisierung der Oberbeamten 6.3.3. Die Polizeischulen: Schlüsselelement beginnender Verberuflichung

200

6.4.

Zusammenfassung

209

7.

Ruhe und Ordnung - Zur Praxis polizeilicher Disziplinierung 213

7.1.

Die polizeiliche Strafgewalt

186 192

215

7.1.1. Reichweite und rechtlicher Rahmen 7.1.2. Die Strafnormen 7.1.2.1. Polizeiverordnungsrecht und Deliktgruppen 7.1.2.2. »Grober Unfug« und die »Standesauffassungen von guter Sitte«

215 219 219

7.2.

227

6

Exkurs zur Methode: Deliktstatistiken und Polizei

223

7.3.

Empirische Befunde zur alltäglichen Ordnungssicherung

232

7.3.1. Polizeiliche Strafpraxis und soziale Ungleichheit - Eine Fallanalyse für die Stadt Recklinghausen im Jahre 1897 7.3.2. Langfristige Trends der Strafpraxis in den Städten Dortmund, Bochum und Hagen

250

7.4.

262

Wirkungen und Rückwirkungen

232

7.4.1. Anpassung oder Widersetzlichkeit? Überlegungen zur Wirkung polizeilicher Disziplinierung in der Arbeiterschaft.... 263 7.4.2. Die Grenzen der Sozialdisziplinierung 273 8.

Zusammenfassung

283

Abkürzungsverzeichnis

291

Anmerkungen

292

Tabellenanhang

353

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Unveröffentlichte Quellen 2. Zeitschriften und andere Periodika 3. Verwaltungsberichte und Haushaltsetats 4. Andere Quellen und Literatur

377 377 384 385 385

Register

404

Verzeichnis der Schaubilder und Tabellen im Text Schaubild Schaubild Schaubild Schaubild Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

3: 4: 5: 6: 7:

1: 2: 3: 4:

Polizeidichte in westfälischen Industriestädten 1857-1913 Polizeistrafen gegen Ordnungsdelikte und Wohlfahrtsverstoße.... Verhaftungen und Strafverfiigungen wegen Unfugs etc Widerspruch und Haftverbüßung bei Polizeistrafen Die Zunahme polizeilich bestrafter Delikte am Beispiel der Stadt Bochum 1860-1908 Sozialstruktur der erwerbstätigen Bevölkerung und der polizeilich Bestraften Deliktstruktur und soziale Schicht Das Deliktmuster der Risikogruppen Durchschnittliche Höhe der Polizeistrafen Strafverbüßung und Gerichtswiderspruch Zusammenhang zwischen Polizeidichte und Polizeistrafen

63 253 257 259 222 235 238 242 247 248 255

7

Verzeichnis der Tabellen im Tabellenanhang Tabelle 1:

Tabelle 2: Tabelle 3:

Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

4: 5: 6: 7: 8:

Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15:

Tabelle 16: Tabelle 17:

8

a) Gendarmeriedichte in Preußen bis 1848 353 b) Gendarmeriedichte Deutscher Staaten um 1848 353 c) Polizeidichte preußischer Städte bis 1851 353 Gendarmeriestärke und Gendarmeriedichte im Reg. Bez. Arnsberg und Kreis Recklinghausen 1848 - 1913 354 a) Dichte der Kommunalpolizei in den preußischen Städten über 10.000 Einwohner 356 b) Dichte der staatlichen Schutzmannschaften ohne Berlin 356 c) Dichte der Berliner Schutzmannschaft 356 Polizeidichte in den Städten mit staatlicher Polizei 357 Gendarmerie in den preußischen Provinzen 1882, 1892,1913 .... 358 Die preußische Polizei im Jahre 1913 359 Entwicklung des Außendienstes der Hagener Polizei 360 Die Polizeikräfte zur Streikkontrolle im westfälischen Ruhrkohlegebiet (Planungen der Behörden) 361 Übersicht über die designierten Detachements für die Kohlegebiete 1893 361 Anteil der Militäranwärter in Polizei und Kommunalverwaltung.. 362 Militarisierungsgrad der Kommunalpolizeibeamten nach Provinzgruppen 1901 363 Sozialstruktur der Unterbeamten bei der Dortmunder Polizei 1881-1900 364 Soziale Herkunft der Schüler an der Polizeischule im Regierungsbezirk Arnsberg 1906-1912 365 Durchschnittliches Jahreseinkommen von Arbeitern und unteren Polizeibeamten 1870-1910 366 a) Die regionale Verteilung der wegen Amtsüberschreitung gegen Polizeibeamte geführten Verfahren 1899-1905 367 b) Übergriffe und Mißhandlungen durch kommunale und staatliche Polizeibeamte 1896-1905 368 Polizeilich bestrafte Ordnungsdelikte in Bochum 1905 368 a) Polizeistrafen und Verhaftungen Dortmund 1857-1909 370 b) Polizeistrafen und Verhaftungen Bochum 1860-1908 373 c) Polizeistrafen und Verhaftungen Hagen 1876-1913 375

Für Angelika

Vorwort Dies ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im September 1989 unter dem Titel »Polizei in der Klassengesellschaft. Entwicklung und Praxis der preußischen Polizei im westfälischen Industriegebiet (1848 1914)« von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld angenommen wurde. Am Beginn der Arbeit stand die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Praxis staatlicher Disziplinierung und der Ausformung von Arbeiterbewußtsein und Arbeiterbewegung. Dieses Interesse blieb leitend, auch wenn sich der Schwerpunkt der Untersuchung in Richtung einer Sozialgeschichte der Polizei verschob. Diese Arbeit ist geprägt durch die Einflüsse des Bielefelder Studiums. Danken möchte ich vor allem Prof. J. Kocka, der die Untersuchung anregte, kritisch begleitete und kontinuierlich förderte. Prof. H.-U. Wehler hat sie als zweiter Gutachter gelesen. Ihm habe ich für Kritik und Ermutigung ebenso zu danken wie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bielefelder Kolloquiums zur neueren Sozialgeschichte und des Kolloquiums zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte an der Freien Universität Berlin, denen ich Teilergebnisse vorstellen konnte. Stellvertretend für die Freunde und Kollegen, die bei Korrekturen und anderen redaktionellen Arbeiten halfen, möchte ich mich bei M. Goerke bedanken. Seine EDV-Sachkenntnis ist nicht nur den Schaubildern zugute gekommen. Finanziell gefördert wurde die Untersuchung durch einen Zuschuß des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte und vor allem durch ein dreijähriges Promotionsstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ohne diese Unterstützung hätte sie nicht durchgeführt werden können. Die Drucklegung ermöglichte ein Zuschuß des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Allen beteiligten Institutionen sei herzlich gedankt. Berlin, im Oktober 1990

Ralph Jessen

11

1. Einleitung Die Frage nach der Rolle der preußischen Polizei zwischen der Revolution von 1848 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs muß auf den ersten Blick ein wenig anachronistisch anmuten. Schließlich gehört es seit dem Niedergang einer borussophilen Staatshistoriographie zu den Selbstverständlichkeiten der Geschichtswissenschaft, den Uberschuß obrigkeitsstaatlicher Strukturen herauszustreichen, der Preußen und Deutschland insgesamt vor 1918 seinen Stempel aufdrückte. Sicher findet die Auffassung breite Zustimmung, daß Sozialistengesetz, Polizeispitzeleien, Umsturz- und Zuchthausvorlage die häßliche Kehrseite einer international beachteten Sozialpolitik bildeten und daß die Unterdrückung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sowie die Militarisierung und autoritäre Formierung der staatstragenden Schichten wichtige Etappen auf einem verhängnisvollen Sonderweg waren. Im Licht dieses inzwischen gar nicht mehr so neuen, kritischen Preußenbildes scheint die Rolle der Polizei schnell geklärt. Sie war der starke Arm des Obrigkeitsstaates; weit mehr Herrschaftsinstrument zur Sicherung undemokratischer politischer Strukturen und illegitimer gesellschaftlicher Ungleichheit als Garant des inneren Friedens. Nicht nur während der zwölf Jahre des Sozialistengesetzes, sondern bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges übernahmen militarisierte Schutzmänner und politische Polizei die Abwehrpolitik eines »autokratischen, halbabsolutistischen Scheinkonstitutionalismus.«1 Sie sicherten in vorderster Linie die Vorrechte des herrschenden Kartells der Privilegierten aus traditionellen Eliten und aufstrebender Bourgeoisie gegen die wachsende Arbeiterbewegung und ihre immer drängenderen Forderungen nach politischer Emanzipation und sozialer Umgestaltung der Gesellschaft. So in etwa ließe sich - zugegeben recht holzschnitthaft - in wenigen Sätzen das Urteil umreißen, über das unter vielen Historikern sicherlich schnell Konsens herrschen würde. Wenn hier die Frage nach der Polizeifunktion in der preußischen Gesellschaft im allgemeinen und die nach dem Verhältnis zwischen Polizei und Arbeiterschaft im besonderen noch einmal gestellt wird, dann weniger, weil dieses Urteil grundsätzlich anzuzweifeln wäre, als vielmehr deshalb, weil es das Problem weitgehend aus politikgeschichtlich verengtem Blickwinkel wahrnimmt. Was irritiert, ist die doppelte Reduktion einerseits der Polizei auf ihre dezidiert politischen Herrschaftsaufgaben, andererseits der Arbeiterschaft auf die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Dem Bild fehlt weit13

gehend die sozialhistorische Dimension. Die folgenden Studien zur Entwicklung und Praxis der preußischen Polizei im westfälischen Industriegebiet zwischen 1848 und 1914 sollen den Blickwinkel erweitern. Ihr Ausgangspunkt ist die These, daß zwischen der Entfaltung der kapitalistischen Industriegesellschaft, Urbanisierung und Klassenbildung auf der einen und der Entstehung einer modernen Polizei auf der anderen Seite ein Zusammenhang bestand, der über die bloße zeitliche Koinzidenz hinausging und der sich auch nicht allein aus den Imperativen politischer Herrschaft erklären läßt.

1.1. Von der Begriffsgeschichte zur Sozialgeschichte der Polizei Anmerkungen zum Forschungsstand Die Literatur zur deutschen Polizeigeschichte zeichne sich »durch ihre Spärlichkeit und ihre Lücken aus«, urteilte vor einigen Jahren ein nicht nur historisch interessierter Forschungsbericht.2 Grundsätzlich gilt diese Feststellung noch heute. Besonders wenn man auf die reichhaltige und differenzierte Polizeihistoriographie in den angelsächsischen Ländern schaut, bestätigt sich der Eindruck, daß der Versuch, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel auf der einen und Modernisierung sowie Praxis einer der zentralen Institutionen des preußischen Obrigkeitsstaates auf der anderen Seite zu untersuchen, nur auf eine recht schmale Literaturgrundlage zurückgreifen kann.3 Erst seit einigen Jahren wird die Polizei als Gegenstand historischer Forschung ernst genommen. Bis dahin wurde das Bild der preußischen Polizei im 19. Jahrhundert vorwiegend von Autoren mit begriffsgeschichtlichem Interesse geprägt. Oft als juristische Dissertationen entstanden, dominierten lange Zeit rechtshistorische Ableitungen des »Polizeibegriffs« in den einzelnen deutschen Staaten.4 Da sich Abhandlungen dieser Art meist mit einer rechtsimmanenten Begriffsdeduktion begnügten, ohne auf die Realgeschichte der Institution oder den gesellschaftlichen Zusammenhang einzugehen, in den diese eingebettet war, blieben sie steril und ahistorisch. Dies ist um so bedauerlicher, als sich hinter dem immer wieder angeführten Ubergang vom »weiten«, eudämonistischen zum »engen« Polizeibegriff ein realhistorischer Vorgang verbirgt: die Ausdifferenzierung eines spezialisierten Gewaltapparates aus der bis dahin allumfassenden inneren Verwaltung. Läßt man außer den reinen Begriffsgeschichten auch das Genre der offiziösen Polizeigeschichtsschreibung einmal beiseite, das trotz vieler Detailinformationen aufgrund seiner mangelnden Distanz zum Gegenstand, die bis zur apologetischen Rechtfertigungsschrift reicht, und seiner oft antiquarischen Detailverliebtheit, die ihr Objekt in Uniformen, Waffen und polizeitechnischen Innovationen findet, einem wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte 14

der Ordnungsmacht wenig nützt, so haben in den letzten Jahren vor allem fünfAutoren unser Wissen über die Geschichte der preußischen Polizei im 19. Jahrhundert entscheidend vorangebracht. 5 Alf Lüdtke hat in einer Reihe von Aufsätzen und zuletzt in einer umfassenden Monographie das spannungsreiche Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Gewaltträgern im Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert und den ideologischen Kern des Gemeinwohlpostulats von Polizei und Verwaltung freigelegt.6 Sein Untersuchungszeitraum deckt die Inkubationsphase sowohl der modernen Klassengesellschaft als auch der modernen Polizei ab, so daß er zwar auf die sich verschärfenden Widersprüche innerhalb des traditionellen, stark militärlastigen Ordnungsapparates und den sich zur Mitte des Jahrhunderts andeutenden Paradigmenwechsel der Polizei verweisen, nicht aber die endgültige Etablierung einer eigenständigen Polizeiexekutive verfolgen kann. Wichtigster Bezugspunkt für die vorliegende Untersuchung ist der von Lüdtke für die erste Jahrhunderthälfte betonte Primat des Militärs auch beim innerstaatlichen Gewalteinsatz. Ebenfalls auf die Zeit vor der Reichsgründung bezieht sich Wolfram Siemanns Studie zur Entwicklung der politischen Polizei in den deutschen Staaten. 7 Das Interesse an der »höheren Polizei« knüpft an eine Schwerpunktsetzung an, die schon bei älteren Autoren anzutreffen ist, ohne daß diese allerdings den Gehalt der Siemannschen Arbeit auch nur annähernd erreichen.8 Im Rahmen eines politikgeschichtlichen Zugangs haben die geheimen Büros und Kabinette, die verdeckten Spitzeloperationen, die schwarzen Bücher und international operierenden Informationsdienste zentrale Bedeutung. Je mehr man von der politischen Polizei weiß, desto klarer wird aber auch, wie wenig sie mit der Entwicklung der polizeilichen Exekutive insgesamt zu tun hatte. Sie war und ist Hort exklusiven Herrschaftswissens; im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen die Exponenten oppositioneller politischer Strömungen, nicht selten auch die Vertreter und Verwalter der Macht selbst. Dagegen hatte sie mit der alltäglichen Verhaltenskontrolle und Disziplinierung der Bevölkerung nichts zu tun. Dieser Ebene der Polizei nähert sich Frank J. Thomason in seiner Untersuchung über die Gründung und die ersten zwanzig Jahre der Berliner Schutzmannschaft von der 48er Revolution bis zur Reichsgründung. 9 Neben der Rekonstruktion der organisatorischen und personellen Anfänge der Schutzmannschaft und ihres symptomatischen Schwenks von der 1848/49 bewußt zivil auftretenden zur seit Mitte der fünfziger Jahre durchmilitarisierten Polizei sind vor allem zwei Aspekte dieser Studie hervorzuheben. Einmal Thomasons anregende These, daß Erfolg und Effizienz der Schutzmannschaft auf einer neopaternalistischen Strategie kombinierter Repression und Wohlfahrtssicherung beruhten, mit der die Bismarcksche Politik von Sozialistengesetz und Sozialversicherung im Kleinen vorweggenommen wurde. 15

Bemerkenswert ist zum anderen, daß Thomason auch der sozialen Basis der Polizei Aufmerksamkeit schenkt und die soziale Rekrutierung der Beamten als eine möglicherweise verhaltensprägende Variable in die Untersuchung einbezieht. Die neueste monographische Arbeit zur preußischen Polizei im 19. Jahrhundert strebt eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen von 1848 bis 1918 an.10 Albrecht Funk konzipiert seine Studie, die im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts zur Polizeientwicklung in der Bundesrepublik entstanden ist, als »Teil einer politisch verstandenen Staatsgeschichte« und zentriert seine Darstellung um die Leitfrage nach der zunehmenden Limitierung und Verrechtlichung von Herrschaftsausübung.11 Darüber hinaus bietet Funk die bislang umfassendste Darstellung der Entwicklung der staatlichen Schutzmannschaften. Sie gewinnt dadurch zusätzlich an Gewicht, daß sie die Evolution des Polizeiapparates in Beziehung zu den sich wandelnden Ordnungsansprüchen des Bürgertums setzt. Nicht am Berliner Fall, sondern an Beispielen aus dem Rheinland untersucht Elaine Glovka Spencer zwei Spezialaspekte der preußischen Polizeigeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum einen geht sie den vielfältigen Verflechtungen zwischen der zivilen Gewalt und dem Militär nach und konstatiert trotz wachsender Widersprüche zwischen militärischer Räson und den Bedürfnissen der Polizei eine bis zum Ende des Kaiserreichs andauernde tiefgehende Prägung der Polizeientwicklung durch die Standards und Interessen der Armee.12 Durch die Konzentration auf Städte mit kommunaler Polizeiverwaltung kommt ein Gesichtspunkt ins Blickfeld, der bei einer Beschränkung auf die Hauptstadt Berlin leicht übergangen wird: die prekäre Zuständigkeitsverteilung zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Polizeiaufsicht.13 Spencer betont die widersprüchlichen Interessenlagen von Staat und Kommunen und hebt hervor, daß die Polizei um so mehr als Instrument politischer Herrschaftssicherung aufgefaßt und behandelt wurde, je näher die Akteure der Zentrale in Berlin standen. Unabhängig von diesen institutionengeschichtlichen Zugängen werden Aspekte polizeilicher Praxis in Untersuchungen thematisiert, die sich grob drei Bereichen zuordnen lassen. Die größte Aufmerksamkeit hat die Arbeit der politischen Polizei auf sich gezogen. Ihre unmittelbare Nähe zum Arkanbereich staatlicher Herrschaft und ihre verdeckte Operationsweise am Rande und jenseits der Legalität machten sie schon in den Augen der Zeitgenosssen zu der Repräsentantin unkontrollierter staatlicher Macht. Zeitgenössische Darstellungen und Memoiren, besonders aus den Reihen der Sozialdemokratie, umfangreiche Quellenpublikationen und eine langjährige Konzentration der Forschung auf die Verbandsgeschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung haben dazu geführt, daß die Praxis der preußischen politischen Polizei 16

der mit Abstand am besten erforschte Teilbereich polizeilicher Tätigkeit ist.14 Hinzu kommt, daß die Uberwachungsberichte der Landräte und Regierungspräsidenten zu den materialreichsten Quellen über die Arbeiterbewegung auf lokaler und regionaler Ebene gehören; ein Bestand, der trotz intensiver Nutzung noch umfangreiches Material zur Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung birgt.15 Studien zum sozialen Protest im 19. Jahrhundert konzentrieren sich gewöhnlich auf den Extremfall kollektiver gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht.16 Obwohl sich die Protestforschung in erster Linie der einen Seite der Barrikade zugewandt hat, etwa den Motiven der Protestierenden, ihrer sozialen Zusammensetzung, der situativen Dynamik und den Legitimationsmustern ihrer Aktionen, dem Traditionalismus oder der Modernität ihres Handelns, berücksichtigt sie in vielen Fällen auch die Reaktionen der Gegenseite. Polizei und Militär traten als Kern der Ordnungspartei auf und beeinflußten durch Zeitpunkt, Art und Ausmaß ihres Eingreifens nicht selten den Verlauf von Protestereignissen - nicht nur im Sinne erwünschter Pazifizierung, sondern auch als Eskalationsmoment. Auch Studien zur Streikgeschichte berücksichtigen zum Teil die Rolle der Ordnungskräfte.17 Die Protestforschung konzentriert ihr Interesse definitionsgemäß auf die offene, kollektive Austragung sozialer Konflikte, wodurch die Interaktion zwischen Unterschichten und Staatsgewalt im Normalfall des gewaltlosen, deshalb aber noch nicht reibungslosen Alltagskontakts zwischen Polizei und Bevölkerung ausgeblendet bleibt.18 Hinzu kommt, daß trotz vielfältiger Einzelinformationen zum Auftreten der Staatsgewalt bei inneren Unruhen mögliche Veränderungen ihrer Strategien und Eingriffsressourcen, insbesondere die Gewichtsverlagerung zwischen Militär, Polizei und freiwilligen Verbänden nach Art der Bürgerwehren weder hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Erscheinungsformen sozialen Protests noch im Hinblick auf ihre Abhängigkeit von eben diesem Formwandel hinreichend geklärt sind.19 Drittens erscheint die Polizei in den wenigen Arbeiten unter der ohnehin sehr spärlichen Literatur zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland, die es nicht bei einer täterorientierten Sichtweise bewenden lassen, als einer der Schlüsselfaktoren des Kriminalisierungsprozesses.20 Rein täterzentrierte Interpretationsmuster, die Delinquenz etwa als Ausdruck materieller Verelendung oder soziokultureller Desorientierung deuten, nehmen die staatlichen Repressionsorgane dagegen allenfalls als Randbedingung wahr.21 Die erstgenannten komplexen Zugänge zum Phänomen der Kriminalität beziehen sich meist auf die Verbrechenswirklichkeit unter vor- und frühindustriellen Bedingungen und diskutieren massenhafte Kleindelinquenz vorwiegend als eine besondere Erscheinungsform sozialen Protests. Sowohl durch diese zeitliche Schwerpunktsetzung als auch durch das vorherrschende Interpretament des Protests ist es zu erklären, daß bisher keine Versuche gemacht wurden, Kri17

minalitätsentwicklung und den Ausbau der staatlichen Verfolgungs- und Sanktionskapazitäten in der Phase beschleunigter Industrialisierung systematisch aufeinander zu beziehen. Wie dieser Überblick zeigt, sind in den letzten Jahren zweifellos wichtige Beiträge zu einer kritischen Struktur- und Wirkungsgeschichte der Polizei vorgelegt worden, so daß das Urteil über den Forschungsstand heute sicherlich nicht mehr so negativ ausfallen muß, wie noch Ende der siebziger Jahre. Trotzdem bleiben Ungleichgewichte und Lücken. Erstens laufen institutionengeschichtlich interessierte Zugänge und Arbeiten, die Einzelelemente polizeilicher Praxis thematisieren, weitgehend unverbunden nebeneinander her. Der anregende Entwurf von Heinz-Gerhard Haupt, der Entwicklung, Binnenstruktur und Praxis der Ordnungskräfte systematisch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Konstituierung von Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in Deutschland und Frankreich untersucht, hat bisher keine monographische Vertiefung erfahren.22 Zweitens leidet die Historiographie zur deutschen Polizei im 19. Jahrhundert nicht nur unter ihrer Preußenlastigkeit, sondern die zur preußischen Polizei unter einer starken Berlinlastigkeit. In der Hauptstadt entstand während der 48er Revolution mit der legendären Schutzmannschaft die erste moderne städtische Polizeiformation, die nicht nur die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen fesselte, sondern auch das Urteil über die preußische Polizei stärker prägte, als es einem realistischen Gesamtbild guttut. Besonders die kommunalen Polizeikräfte, die bis zum Ende des Kaiserreichs in der weitaus größten Zahl aller preußischen Städte tätig waren, aber auch die Landgendarmerie, sind in der bisherigen Forschung stark vernachlässigt worden. Mit dieser mangelnden Differenzierung hängt drittens zusammen, daß die inneren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten, die aus institutioneller Vielfalt und den nicht immer gleichlaufenden Interessen von staatlicher Polizeiaufsicht und kommunalen Polizeiträgern resultierten, oft hinter dem Bild einer scheinbar monolithischen Staatsgewalt verschwinden. Viertens ist die polizeiliche Praxis in der Klassengesellschaft bisher fast ausschließlich als politische Verfolgung der Arbeiterbewegung thematisiert worden. Aus Verbands- und politikgeschichtlicher Perspektive ist dies zweifellos ein zentraler Aspekt; nimmt man allerdings die ganze Polizei in den Blick, wird schnell klar, daß damit nur ein kleiner Teil ihrer Tätigkeit erfaßt wird. Selbst wenn man sich auf die Kontakte zwischen Ordnungskräften und Arbeiterschaft beschränkt, läßt sich nur ein Bruchteil dem Bereich politischer Unterdrückung zuordnen; die große Masse bewegte sich im »unpolitischen« Vorfeld alltäglicher Ordnungssicherung. Fünftens bedarf die Rekonstruktion der Genese des preußischen Polizeisystems im Spannungsfeld halbabsolutistischer Machtstaatlichkeit und militaristischer Überhänge auf der einen und fortschreitender Rechtsbindung und 18

Bürokratisierung von Herrschaftsausübung auf der anderen Seite ihre Ergänzung in der sozialhistorisch orientierten Analyse. Diese soll die Entstehung, Entwicklung, Praxis und Wirkung einer modernen Polizei im Zusammenhang mit den fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts - Industrialisierung, Urbanisierung und Klassenbildung - diskutieren. Die vorliegende Studie versucht hierzu am Beispiel der Ordnungskräfte in der Industrieprovinz Westfalen einen Beitrag zu leisten.

1.2. Modernisierung und Disziplinierung Zur Fragestellung der Untersuchung Spätestens seitdem eine fortschrittsskeptische Grundströmung auch in den Debatten unter Historiker an Boden gewann, werden Modernisierung und Disziplinierung oft als einander entgegengesetzte Leitbegriffe zur Kennzeichnung des säkularen Entwicklungstrends westlicher Gesellschaften verwandt. Wo modernisierungstheoretisch orientierte Positionen langfristig wachsenden Wohlstand, zunehmende soziale Mobilität oder die Demokratisierung des politischen Systems konstatieren, registrieren Kritiker die Zerstörung lebensweltlicher Beziehungen, den Niedergang einer autonomen Völkskultur und die immer unentrinnbarer erscheinende Reglementierung in einer bürokratisierten Welt. Wo die einen die Leistungen und Errungenschaften der Moderne bilanzieren, denunzieren die anderen ihre Pathologien. Je mehr die impliziten normativen Grundlagen der Modernisierungstheorie angesichts chronischer Krisen der Gegenwart an Uberzeugungskraft verloren, desto eher bot es sich an, Disziplinierung als handliches Passepartout zur Entschlüsselung der langfristigen Trends der Gesellschaftsgeschichte heranzuziehen.23 In der Forschungspraxis haben allerdings weniger die Positionen überzeugen können, die statt der Erfolgsgeschichte der Modernisierung eine pauschale Verlustgeschichte rekonstruieren24 oder der nivellierenden und disziplinierenden Macht von Staat und Kapital eine zum Inbegriff authentischen Lebens hypostasierte Volkskultur der kleinen Leute entgegenstellen.25 Als ertragreicher haben sich Ansätze erwiesen, die die analytischen Chancen beider Zugänge nutzen und dabei wohl der dialektischen Verschränkung von Fortschritt und Verlust am nächsten kommen.26 Sieht man einmal von der Verwendung des Disziplinierungsbegriffs als allgemeiner Chiffre für die negativen Seiten von Modernisierung und Rationalisierung ab, diente er der sozialgeschichtlichen Forschung der letzten Jahre in drei unterschiedlichen, wenn auch verbundenen Zusammenhängen als Leitlinie. Erstens in dem Kontext, in dem Oestreich diesen Begriff ursprünglich entwickelt hat: als zentrales Moment frühneuzeitlicher Staatsbildung.27 19

Vorbei an den traditionellen intermediären Gewalten und gestützt auf das Militär, die entstehende Bürokratie und die Kirchen, die allesamt nicht nur Instrumente, sondern selbst Modelle der Disziplin waren, setzte der absolutistische Staat neue Verhaltensnormen und beanspruchte ihre allgemeine Verbindlichkeit. Frühneuzeitliche Polizeiordnungen und eine anschwellende Hausväterliteratur formten ein rationales Verhaltensmodell, das all die Tugenden, die bürgerlich zu nennen man sich später angewöhnt hat, zum verbindlichen Standard erhob. Zucht- und Arbeitshäuser taten das ihre, um Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, Gehorsam und Sparsamkeit auch den Randsegmenten der ständischen Gesellschaft zu vermitteln.28 Die Modalpersönlichkeit des industriellen Zeitalters mit ihrem Arbeitsethos und rationalen Verhalten erfuhr in dieser »Inkubationszeit der Moderne«29 ihre entscheidende Prägung im Prozeß der Sozialdisziplinierung, der zugleich die mentalen Voraussetzlingen der Industrialisierung schuf. Während hier der Disziplinierungsprozeß als Vorbedingung der Industrialisierung erscheint, unterstreichen die an die Pionierarbeiten von Thompson und Pollard anknüpfenden Untersuchungen die Parallelität beider Vorgänge. Die frühen Unternehmer konnten nicht auf ein verinnerlichtes Arbeitsethos bauen, sondern waren gezwungen, Pünktlichkeit, Ordnung und Nüchternheit im zähen Ringen mit den vorindustriellen, durch bäuerliche oder handwerkliche Lebensweise geprägten Verhaltensmustern der Arbeiterschaft durchzusetzen. Disziplinierung wird hier enger als Fabrikdisziplinierung gefaßt, als Anpassung der Arbeiter an die Standards und Anforderungen zentralisierter, arbeitsteiliger, in der Regel maschinisierter Produktion unter der direkten Regie des Produktionsmittelbesitzers.30 Auch heben diese Arbeiten eher die Konflikthaftigkeit des Disziplinierungsprozesses und die Grenzen der Verhaltenskontrolle hervor, die nicht zuletzt daraus resultierten, daß auch arbeitsteilige und entfremdete Industriearbeit nicht ohne ein Minimum an Kooperation und Eigeninitiative der Arbeitenden denkbar ist.31 Drittens wurde Disziplinierung in letzter Zeit zum zentralen Begriffbei der Analyse des entstehenden Sozialstaats und seiner Institutionen. Damit löste sich ihre Bezugsebene erstmals sowohl von den mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des Kapitalismus als auch von den akuten Problemen der Verhaltenskontrolle in seiner Etablierungsperiode. Statt dessen rückten jetzt die sozialen Folge- und Begleiterscheinungen der Industrialisierung und die zu ihrer Bewältigung geschaffenen Einrichtungen in den Mittelpunkt des Interesses.32 Armenpflege und entstehende Sozialarbeit, Wohnungsbau und Jugendfürsorge werden dabei weiterhin funktional auf den industriellen Produktionsprozeß bezogen. Nicht nur in dem Sinne, daß sie Lebensrisiken bearbeiten, bei deren Regulierung der Markt offensichtlich versagt, sondern vor allem dadurch, daß diese Institutionen ihren normativen Bezugspunkt in der Lohnarbeit finden. Sie ist der Regelfall, zu ihr soll der Kranke wieder 20

befähigt und der Arme angehalten werden. Darüber hinaus streben sie eine dauerhafte Rationalisierung des Verhaltens an. Wichtige Elemente von Sozialdisziplinierung im Kontext des entstehenden Sozialstaats sind die Etablierung spezialisierter Behörden für eine klar definierbare Klientel, die Orientierung an einem rationalen, »bürgerlichen« Verhaltenstypus, die Mischung von Hilfe, Repression und Erziehung, umgesetzt in einer aggressiv aufsuchenden, tendenziell präventiv orientierten Strategie durch zunächst ehrenamtliche, später immer öfter berufliche Agenten oder, wie im Fall der Mediziner, professionelle Experten. Uberblickt man die Verwendungsvarianten des Begriffs in der Forschungspraxis, ist die Zunahme der Akteure, die mit Disziplinierungsprozessen identifiziert werden, ebenso unverkennbar wie die Ausdehnung des zeitlichen Bezugsfeldes: Von der auf die Frühe Neuzeit beschränkten Konnotation Oestreichs bis zum Sozialstaat des ausgehenden neunzehnten, beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts reicht die Spannweite. Zweifellos liegt hierin die Gefahr einer Überdehnung. Je weiter der Zeithorizont und je heterogener die unter den Begriff subsumierten Phänomene, desto geringer wird seine analytische Leistungsfähigkeit zu veranschlagen zu sein, zumal, wenn es um die Feinanalyse eng begrenzter Prozesse geht. Zudem ist bei einige Autoren ein fatalistischer Grundzug der Argumentation nicht zu übersehen, der die Moderne nur noch als immer perfekteres »Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber) perhorresziert, je mehr offene Gewalt zugunsten vorgeblich humaner, in dieser Sicht jedoch nur unangreifbarerer, subtilerer Methoden der Verhaltenskontrolle in den Hintergrund tritt.33 Hiergegen ist nicht nur auf den unbestreitbaren Gewinn an Lebenschancen zu verweisen, der nicht zuletzt der Zivilisierung der Disziplinierungsagenturen zu verdanken ist, sondern auch auf die äußeren Widerstände, mit denen diese in der Praxis zu kämpfen hatten. Zu denken ist auch an die inneren Widersprüche, die z.B. zwischen dem Anspruch sozialer Hilfe, den Mitteln autoritärer Verhaltenskontrolle und der Erkenntnis, daß diese den strukturellen Ursachen des Problems nicht gerecht werden konnten, bestanden. Es stellt sich die Frage, wieweit der Begriff der Disziplinierung angesichts dieser Unschärfeprobleme, Inflationstendenzen und teilweise irreführenden Überfrachtungen noch ein tragfähiges Gerüst für die Analyse von Funktion und Praxis der Polizei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeben kann. Folgende Argumente sprechen m.E. dafür: Erstens könnte man direkt an Oestreich anknüpfen, der den Organen der Staatsgewalt, Militär und Polizei, eine Schlüsselrolle im Prozeß der »Fundamentaldisziplinierung« zuwies. Anders als die frühneuzeitliche Polizei, die mehr ein Synonym für die allgemeine Verwaltung war, kann allerdings der moderne Polizeiapparat des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eine leistungsfähige, in die Gesellschaft hineinwirkende Behörde angesehen werden, die 21

sich nicht mehr auf den Erlaß wortreicher Verordnungen beschränken mußte, deren regelmäßige Einhaltung sie kaum erzwingen konnte.34 Zweitens bleibt Disziplinierung trotz der skizzierten thematischen und zeitlichen Auffacherung an die Etablierung der modernen Industrie- und Klassengesellschaft gebunden. Ob aus der Perspektive der Vorbedingungen, der Durchsetzung oder der Folgeerscheinungen - stets kreist das Disziplinierungsproblem um die Formung und Vermittlung eines neuen, rationalen Verhaltenstypus, der den Anforderungen sowohl der Markt- und Verkehrsgesellschaft als auch des bürokratischen Anstaltsstaats entspricht. Allerdings zeigt drittens die Ausdehnung des Zeitraums, innerhalb dessen Disziplinierungsprozesse verortet werden, daß man nicht von einem einmaligen Akt sprechen kann, auch nicht im Sinne abschließend geschaffener Vorbedingungen, sondern von einer anhaltenden Notwendigkeit der Verhaltensregulierung ausgehen muß. Dabei ist ein Wandel der beteiligten Institutionen und der Zusammensetzung ihrer Klientel unverkennbar. Die bisherigen Forschungsergebnisse machen eine schrittweise Verlagerung des Disziplinierungsschwerpunkts an die gesellschaftliche Peripherie wahrscheinlich. Weniger der Kern der jungen Arbeiterklasse, wie in der Frühzeit der Industrialisierung, als vielmehr ihre Ränder, die Armen und Deklassierten, die Alkoholiker, der Flugsand, der auch in der Hochindustrialisierungsperiode nicht zur Ruhe kommt, werden zu ihrem bevorzugten Gegenstand. Die Kontinuität des Problems rechtfertigt die Erweiterung des Untersuchungszeitraums über die Vorbereitungsphase der Moderne hinaus und die Anwendung des Begriffs auf neu entstehende Institutionen. Viertens reizt die eingangs angedeutete Polarisierung von Modernisierung und Disziplinierung, nach den Verbindungen zwischen beiden Ebenen, nach der Dialektik von Fortschritt und Verlust zu fragen. Die Entstehung eines effektiven Polizeiapparates war zweifellos ein Element der Modernisierung staatlicher Regulierungskapazitäten und führte zu intensiveren staatlichen Eingriffen in die Gesellschaft. Zugleich nahm aber der Legitimationsdruck zu, unter dem die Behörde stand, erhöhte die Verrechtlichung des Polizeihandelns dessen Berechenbarkeit und provozierten ausufernde Staatseingriffe Widerstand und Protest. Fünftens bietet sich kein überlegener Altemativbegrifif an, der geeignet wäre, die institutionelle Verselbständigung verhaltenssteuernder Funktionen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung zu fassen. Der in der britischen und amerikanischen Sozialgeschichtsschreibung dominierende Begriff der sozialen Kontrolle wird zwar von etlichen Autoren etwa im selben Sinn wie der hier eingekreiste Disziplinierungsbegriff verwandt, changiert aber je nach Untersuchungsgegenstand und Vertrautheit der Autoren mit der soziologischen Theorietradition zwischen nackter Repression und gewaltfreier, informeller Verhaltensbeeinflussung.35 22

Insgesamt bietet der Disziplinierungsbegriff die Chance, die Entstehung einer modernen Polizei und ihre Praxis im systematischen Zusammenhang mit den fundamentalen ökonomischen und sozialen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Zugleich erleichtert dieser Blickwinkel die Abkehr von der gängigen Fixierung auf politisch-polizeiliche Herrschaft, deren Wichtigkeit nicht bestritten werden soll, die aber allein die Polizeigeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum erklären kann. Ein Polizeiapparat, der im Spektrum der disziplinierenden Instanzen eine ernstzunehmende Rolle beanspruchen konnte, entstand auch in Preußen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise war er keine Errungenschaft des absolutistischen »Polizeistaats«, sondern eher eines seiner Zerfallsprodukte. Die Entstehung der Polizei im modernen Sinne ging einher mit der Auflösung des alten, eudämonistischen PolizeibegrifFs, der im wesentlichen die gute Ordnung des Gemeinwesens bezeichnete, und der Verengung des Begriffsinhalts auf den Bereich der Gefahrenabwehr und Ordnungssicherung. Wie die Polizei als neue Disziplinierungsagentur im Spannungsfeld gesellschaftlichen Wandels und innerer Staatsbildung Profil gewann und wie dieser Institutionalisierungsprozeß in die Gesellschaft wirkte, sind Themen dieser Arbeit. Der Darstellung liegen einige Modellannahmen über Form und Funktion einer modernen Polizei zugrunde, die die Strukturierung der Analyse erleichtern und zugleich Richtungskriterien formulieren, anhand derer sich Nähe oder Distanz der Realentwicklung zur Modellvorstellung ermessen lassen. Zentraler Bezugspunkt dieses Idealtypus der modernen Polizei ist Max Webers klassische Staatsdefinition: »Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebiets ... das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.«36 Jedes Element dieser Definition verweist auf wesentliche Eigenschaften der Polizei. In der modernen Polizei materialisiert sich das Gewaltmonopol des Staates. Sie allein besitzt das Recht unmittelbarer physischer Gewaltanwendung gegenüber Herrschaftsunterworfenen - ein Privileg, das sie erst im Laufe eines langwierigen Konzentrationsprozesses durchsetzen konnte. Solange nämlich in der ständischen Gesellschaft ökonomische und außerökonomische Herrschaft verwoben waren, solange standesspezifisches Recht standesspezifische Gewaltverhältnisse legitimierte - klar durchgebildet im »alten Handwerk« mit seiner zünftigen Gerichtsbarkeit und »Polizei«, sehr lange konserviert im Herrschaftsverband des ostelbischen Gutsbezirks - , solange konkurrierte der staatliche Monopolanspruch mit anderen Gewaltträgern. Das Ausmaß der Modernisierung bemißt sich danach, wieweit es dem Staat gelang, das Gewaltmonopol seiner Polizei nicht nur zu beanspruchen, sondern auch durchzusetzen. Dieser Monopolisierungsprozeß richtete sich einmal gegen die Polizeikompetenzen der Städte und die traditional legitimierten Uberre23

ste ständischer Herrschaft, im Prinzip aber auch gegen den Überschuß an Herrschaftsgewalt, der sich - legitimiert durch Markt und freien Vertrag - in den Händen des modernen Unternehmers konzentrieren konnte. Die moderne Polizei ist zuallererst Gewaltapparat. Anders als bei der »Polizey« des Absolutismus, die Repression und Wohlfahrtspflege, Verbrechensbekämpfung, Armenwesen, Wegebau und vieles andere mehr unter dem Leitmotiv der »guten Ordnung« verband, tritt bei ihr das »spezifische Mittel« des modernen Staates, »das der physischen Gewaltsamkeit«, um so mehr in den Vordergrund, je weiter die Verselbständigung der Polizei voranschreitet. 37 Auch wenn die Verengung des Polizeibegriffs der tatsächlichen Spezialisierung der Behörde vorauseilte, verweist die Begriffsgeschichte doch auf den Trend der Realgeschichte. Auf lange Sicht hatte der Übergang von der »Polizey« zur »Polizei« sein realhistorisches Pendant in der Abschichtung von Wohlfahrtsfunktionen, durch die der Gewaltkern der Institution immer mehr freigelegt wurde. Der Wandel des Polizeibegriffs wurde somit zum »Schulbeispiel begriffsgeschichtlichen Wandels im Prozeß struktureller D ifferenzierung«. 38 Zwei Hauptrichtungen des Modernisierungsprozesses sind damit angedeutet: Zum einen streifte die Polizei nach und nach allgemeine Verwaltungsfunktionen ab und konzentrierte sich auf ihre Funktion gewaltbewehrter Ordnungs- und Herrschaftssicherung. Zum anderen zog sie die in die Gesellschaft eingelassenen Residuen legitimer Gewalt an sich. Von der polyfunktionalen »Polizey« zum Gewaltspezialisten Polizei und von der polymorph vergesellschafteten Gewalt zum Staatsmonopol - dies dürfte der kürzeste Nenner sein, auf den sich die Entwicklungstendenz bringen läßt. Ein drittes Richtungskriterium der Polizeimodernisierung ist die Entmilitarisierung innerstaatlicher Gewaltausübung. Auch wenn bis heute der innere Militäreinsatz Ultima ratio staatlicher Herrschaft geblieben ist, trat das Militär immer mehr in den Hintergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und überließ der Polizei die Bühne. In gewisser Weise stellt die Entmilitarisierung der inneren Gewalt einen Sonderfall der schon angesprochenen funktionalen Differenzierung dar, denn je weiter der Prozeß innerer Staatsbildung voranschreitet, desto mehr fächert sich der bürokratische Staat in eine Vielzahl spezialisierter Institutionen auf. Der langfristige Druck in Richtung Entmilitarisierung der inneren Gewalt läßt sich bereits aus der Weberschen Staatsdefinition herleiten. Je mehr nämlich der Staat gesellschaftliche Gewaltträger marginalisierte und alle legitime Gewalt monopolisierte, desto mehr war er gezwungen, selbst jederzeit und überall verfügbare Ordnungsorgane bereitzuhalten. Die Verstaatlichung ehemals gesellschaftlich eingebundener Ordnungsfunktionen kann aber langfristig nur deren Verpolizeilichung bedeuten, denn das Militär mag als Notbehelf in Ausnahmesituationen brauchbar sein - als alltägliche Ordnungsmacht der bürgerlichen 24

Gesellschaft ist es untauglich. Auf einer mehr technischen Ebene dokumentiert sich diese Untauglichkeit in der Grobschlächtigkeit und Inflexibilität militärischen Einschreitens. Schwerer wiegt allerdings das Problem, daß sich der militärische Gewalteinsatz prinzipiell keiner rationalen Begrenzung unterwirft. Sein Ziel ist die Vernichtung des Gegners. Diese spezifische Logik militärischer Gewalt ist auf Dauer nicht mit dem Legitimationskriterium innerer Gewaltausübung in Einklang zu bringen. In dem Maße, in dem sich der moderne Staat als Rechtsstaat etabliert, zieht auch seine Exekutive ihre Legitimität aus der Legalität ihres Handelns. Ein Gewaltapparat, der sich wie das Militär keiner rechtlichen Beschränkung seiner Handlungsregeln unterordnet, würde im Dauereinsatz die Bestandsbedingungen legaler Herrschaft unterhöhlen.39 Die Monopolisierung aller legitimen Gewalt in der Hand des Staates, die AusdifFerenzierung einer besonderen Agentur zur Ausübung dieser Gewalt nach innen, deren Trennung vom Militär und deren Verrechtlichung sind die wichtigsten Richtungskriterien der Polizeientwicklung im 19. Jahrhundert.40 Wenn hier von mehr oder weniger fortgeschrittener Modernisierung der preußischen Polizei gesprochen wird, dienen diese Kriterien als Maßstab. Die beiden folgenden Kapitel stecken die Rahmenbedingungen des zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Polizeiausbaus ab. Kapitel zwei skizziert in groben Zügen die Verteilung von Disziplinierungsleistungen zwischen Staat und Gesellschaft während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deutet die bis in die Reformphase reichende Vorgeschichte der Polizeimodernisierung in Preußen an, während Kapitel drei die Neubestimmung der Polizeifunktion im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft diskutiert. Dabei wird der doppelte Druck hervorgehoben, der daraus resultierte, daß einerseits durch Industrialisierung, Klassenbildung und Urbanisierung neue Spannungen und Ordnungsprobleme entstanden, die andererseits nicht durch informelle Kontrollstrukturen der Gesellschaft, auch nicht durch die immer wichtiger werdende Fabrikdisziplinierung aufgefangen werden konnten. Diesen mehr systematischen Erörterungen schließt sich in Kapitel vier ein chronologischer Längsschnitt durch die Polizeientwicklung im westfälischen Ruhrgebiet zwischen 1848 und 1914 an. Am regionalen Beispiel wird überprüft, wieweit die preußische Polizei dem oben abgesteckten Modernisierungspfad folgte bzw. davon abwich. Kapitel fünf greift einige besonders brisante Aspekte der Entwicklung vertiefend auf. Die systematisch angelegten Einblicke in die Strukturen alltäglicher Kontrolle und obrigkeitlicher Streikbekämpfung gehen nicht nur auf den Zusammenhang zwischen Polizeiausbau und Klassenformierung ein, sondern stecken gleichzeitig nach zwei Seiten die Modernisierungsgrenzen ab. Zum einen die Grenze des staatlichen Gewaltmonopols, die in der Verquickung öffentlicher und privater Herr25

schaft zu finden ist, zum anderen die Grenze der Entmilitarisierung, soweit diese bei der Niederschlagung der Bergarbeiterstreiks erkennbar wird. Kapitel sechs fragt nach der inneren Modernisierung der kommunalen Polizei. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist das verbreitete Bild der militarisierten preußischen Polizei, das bei genauerem Hinsehen einige Risse bekommt. Fluchtpunkt der Darstellung ist die These, daß bei der städtischen Exekutive als unintendierte Nebenfolge ihrer eigenen Expansion eine langsame Binnenmodernisierung einsetzte, deren Hauptelemente die sozialstrukturelle Zivilisierung des Personals und die Verberuflichung der Polizeiarbeit waren. Das abschließende Kapitel sieben überprüft am Beispiel der polizeilichen Ordnungspraxis die Hypothese, daß die expandierende Exekutive vor allem die durch den Zerfall gesellschaftlicher Herrschaftsinstanzen aufgerissenen Kontroilücken füllen mußte. Inhalt, Härte und soziale Selektivität polizeilicher Disziplinierungsleistungen werden sowohl auf der Ebene der formalen Eingriffsregeln und der gesetzlichen Strafnormen rekonstruiert wie in einer mikroanalytischen Lokalstudie und längsschnittartigen Trendanalysen empirisch untersucht. Durch die Beschränkung auf die alltäglichen Ordnungsmaßnahmen der Ortspolizei wird der Blick auf die unspektakulären, dafür aber massenwirksamen Eingriffe der Staatsgewalt in die Gesellschaft gelenkt und zugleich ein Gegengewicht zur bislang üblichen Sicht geschaffen, die das Verhältnis zwischen Polizei und Arbeiterschaft allein als politisch-polizeiliche Verfolgung thematisiert hat. Eine Geschichte der preußischen Polizei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird nicht angestrebt; eher wird versucht, bislang unterbelichtete Aspekte ihrer Entwicklung und Praxis aufzuhellen. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Nachklang der 48er Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, wobei der Schwerpunkt in den Jahrzehnten nach 1871 liegt. Die relativ langgezogene Spanne erscheint vor allem deshalb angebracht, weil nur auf diese Weise langfristige Verschiebungen und Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Institution erkennbar werden. Die Eckpunkte des Untersuchungszeitraums werden durch die bekannten politischen Zäsuren markiert: In der Revolution und in den ersten Restaurationsjahren erfolgten mit der Gründung der Berliner Schutzmannschaft und dem Erlaß des Polizeiverwaltungsgesetzes von 1850 langfristige Weichenstellungen für eine moderne, staatliche Berufspolizei. Der Beginn des Weltkriegs veränderte die Rahmenbedingungen polizeilicher Tätigkeit so grundlegend, daß eine Ausdehnung des Zeitraums bis 1918 nicht sinnvoll erschien. Im Kern handelt es sich um eine Regionalstudie zur Entwicklung und Praxis der Polizei im westfälischen Ruhrgebiet; einem Raum, der etwa die nördlichen Teile des Regierungsbezirks Arnsberg und den Kreis Recklinghausen umfaßt. Die Orientierung an den sozialgeschichtlich zweitrangigen Grenzen 26

der preußischen Verwaltung lag aus pragmatischen Gründen nahe, da die Aktenüberlieferung zur Polizei, die neben den städtischen Verwaltungsberichten den wichtigsten Quellenbestand fur diese Arbeit bildete, dem vertikalen Instanzenzug folgt und sich daher die Untersuchung einer verwaltungsmäßigen Großeinheit anbot. Wichtiger als dieser formale Aspekt wiegt die sozioökonomische Struktur der Untersuchungsregion, die zusammen mit dem rheinischen Teil des Montangebiets eines der dynamischsten Industriegebiete Preußens und des Deutschen Reiches bildete. Wenn anderswo moderate, evolutionäre Entwicklungen prägend waren, dominierte hier ein schubartiger, durch hohes Wachstumstempo gekennzeichneter Industrialisierungs- und Urbanisierungsverlauf. Die Ordnungsprobleme, die den Ubergang von der Stände- zur Klassengesellschaft belasteten und die Entstehung einer modernen Polizei vorantrieben, traten hier besonders intensiv in Erscheinung. Aus der Perspektive der Polizeientwicklung spricht zudem für diese Region, daß hier die Vielfalt der preußischen Polizei, das Neben- und Nacheinander von kommunaler Ortspolizei, staatlicher Landgendarmerie unter der Kontrolle des Landrats und - seit 1 9 0 9 - staatlicher Schutzmannschaft in den Blick gerät. Sooft es möglich ist, wird versucht, über den engeren Raum der Studie hinausgehende Bezüge und Vergleiche zur gesamtstaatlichen Entwicklung herzustellen. Wo es sachlich geboten ist, wie bei der Untersuchung der normativen Grundlagen der Polizeitätigkeit, oder wo es aufgrund der Quellenlage unvermeidlich ist, wie bei der Diskussion von Wirkungen und Rückwirkungen polizeilicher Sozialdisziplinierung, wechselt die Darstellung von der regionalen auf die gesamtpreußische Ebene. Sachliche Grenzen der Arbeit sind schon angedeutet worden; zwei Lücken seien hier noch einmal benannt. Nur am Rande berücksichtigt werden Geschichte und Praxis der politischen Polizei - eine bewußte Beschränkung, die sich aus dem Interesse an der vorpolitischen Ebene polizeilicher Verhaltensregulierung ergibt und die vor dem Hintergrund einer differenzierten Arbeiterbewegungsgeschichte, die bis 1914 nicht zuletzt eine Geschichte ihrer politischen Verfolgung ist, vertretbar erscheint. Eher ist zu bedauern, daß die »Wohlfahrtspolizei« weitgehend ausgeblendet bleibt. In diesem Bereich polizeilicher Tätigkeit, in dem repressive und helfende Leistungen schwer zu trennen waren, in dem sich die Tradition des absolutistischen Polizeistaats mit neuen sozialstaatlichen Impulsen verband und in dem Keimzellen später selbständiger Wohlfahrtsbehörden lagen, hätten sich zweifellos die Zusammenhänge zwischen polizeilicher und nichtpolizeilicher Sozialdisziplinierung, aber auch die Übergänge von disziplinierender Verhaltenskontrolle zu wohlfahrtsstaatlicher Intervention nachzeichnen lassen. Eine differenzierte Erörterung dieser Grenzzone hätte jedoch den Umfang der Untersuchung unvertretbar anschwellen lassen.

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2. Staat, Gesellschaft und Disziplinierung zwischen Stände- und Klassengesellschaft 2.1. Polizei zwischen Reformära und Revolution Ein Grundmotiv der preußischen Verwaltungsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Schwächung, Marginalisierung oder Beseitigung kleinräumiger feudaler Herrschaftsrechte und stadtbürgerlich-ständischer Privilegien zugunsten einer hierarchisch gestaffelten, zentralisierten, bürokratisierten Staatsgewalt, der der einzelne Staatsbürger ohne intermediäre Zwischengewalten unmittelbar gegenüberstand.1 Für wenige Jahre schien die Chance zu bestehen, daß dieser Reformansatz auch zum Ausgangspunkt einer modernen, flächendeckend ausgebauten Polizeiexekutive werden könnte. Nachdem bereits das Allgemeine Landrecht von 1794 mit seiner vielzitierten Polizeizweckdefinition eine moderne, von allgemeinen Verwaltungsfunktionen befreite und auf die Wahrung von »Ruhe, Sicherheit und Ordnung« zentrierte Polizei wenn nicht dekretiert, so doch zumindest antizipiert hatte,2 lösten die Städteordnung von 1808 und das Gendarmerieedikt von 1812 sie aus ihrer institutionellen Verklammerung mit gutsherrlichen Herrschaftsprivilegien und stadtbürgerlicher Lokalverwaltung. Am radikalsten war der Vorstoß der Reformbürokraten auf dem Land. Hardenbergs Gendarmerieedikt - »in gewisser Hinsicht das ehrgeizigste und kühnste Unternehmen der Verwaltungsreform«3 - definierte nicht nur die Position des Landrats neu, indem es an die Stelle eines Interessenvertreters des ansässigen Landadels einen von oben eingesetzten Kreisdirektor als Staatskommissar etablierte, sondern stattete diesen auch mit einer schlagkräftigen Exekutive aus, die ihn bei der Wahrnehmung der auf ihn konzentrierten Polizei von der Feudalgewalt der Gutsbesitzer unabhängig machte. Die bis zu fünfzig Gendarmen, die für jeden Kreis vorgesehen waren, boten dafür einen ausreichenden Rückhalt. Weniger deutlich verlief die Neuformierung der Polizei in den Städten. Die entscheidende Neuerung der Steinschen Städteordnung war die nominelle Verstaatlichung der Polizei. Nicht mehr die Stadtverwaltung und mit ihr die lokalen Eliten sollten aus eigenem Recht die Polizei handhaben; Polizei war von jetzt an ein ausschließlich staatliches Hoheitsrecht. Wo ihre Führung nicht staatlichen Polizeidirektoren übertragen wurde, fungierten die Magistrate und später allein die Bürgermeister als Leiter der ihnen im Wege der Auftragsverwaltung überantworteten Polizei - in dieser Eigenschaft waren sie 28

weisungsabhängige Staatsbeamte.4 War damit auf der untersten Leitungsebene ein formaler Gleichstand zwischen Stadt und Land erreicht - Kreisdirektor, Polizeidirektor und Bürgermeister galten gleichermaßen als staatliche Beamte - zeigte sich der gravierendste Unterschied beider Reformprojekte auf Seiten der eigentlichen Exekutive. Die 1812 nach französischem Muster eingerichtete Gendarmerie - die erste einheitliche, zentral verwaltete staatliche Polizeiformation Preußens - blieb auf das Land beschränkt. Die städtische Polizeiverwaltung mußte sich wie bisher auf eine kleine Schar von Polizeidienern, -offizianten oder -Sergeanten stützen. Bis 1848 blieb dies der einzige Ansatz einer Polizeireform in Preußen. So grundsätzlich die Reform der ländlichen Kreis verwaltung und der Polizei auf dem Lande 1812 angelegt war, so spektakulär nahm sich ihr Scheitern aus, das nur acht Jahre später mit der Verordnung zur Organisation der Gendarmerie vom 30.12.1820 besiegelt wurde. Die ländlichen Eliten, allen voran die Rittergutsbesitzer, konnten ihren maßgeblichen Einfluß bei der Besetzung der Landratsstelle ebenso wie ihre weitreichenden gutsherrlichen Polizeikompetenzen gegenüber ihren Hintersassen erfolgreich gegen den zentralstaatlichen Zugriff verteidigen.5 Mehr noch: Die Gendarmerie, die als exekutiver Arm des Landrats in der Lage gewesen wäre, das gutsherrliche Polizeimonopol zu brechen, mußte eine radikale Verringerung ihrer Mannschaftsstärke hinnehmen. Von den 8897 Gendarmen des Jahres 1819 verblieben nach der Neuordnung 1820 gerade 1336 Mann. Entsprechend verringerte sich die Polizeidichte auf dem Lande. Von 84 Gendarmen pro 100.000 Einwohner im Jahre 1819, einer Zahl, die bis 1914 nie wieder erreicht wurde, stürzte die Gendarmeriedichte 1820 auf einen Wert von dreizehn ab, um bis 1848 sukzessive auf acht zu fallen. Nimmt man die Gendarmeriedichte als Maßstab, verfügte Preußen zum Zeitpunkt der Revolution über die mit Abstand schwächste Polizei aller deutschen Staaten. Hannover und Württemberg übertrafen Preußen um das Dreifache, Braunschweig um das Fünffache und das Königreich Bayern gar um mehr als das Sechsfache.6 Die Kehrseite dieser eklatanten Schwäche der ländlichen Polizei war eine Aufwertung der traditionellen Träger der Polizeigewalt, in Ostelbien vor allem der Gutsbesitzerklasse. An ihrem Widerstand war der staatliche Modernisierungsvorstoß von 1812 gescheitert, sie profitierte als erste von diesem Scheitern, da die vormoderne Koppelung von Besitztitel und öffentlichen Herrschaftsfunktionen für lange Zeit zementiert wurde. Für die Beherrschten dürften die Wirkungen dieser Restauration ambivalent gewesen sein: Einerseits blieb der »Herr« das, was er immer gewesen war, nämlich Arbeitgeber und Obrigkeit in einem. Andererseits konnte dieses umfassende Gewaltverhältnis patriarchalisch gemildert werden. Es war zwar anfällig für gewaltsame Ubergriffe, aber auch offen für Schlamperei und Indolenz des Polizeiherren, der womöglich Kosten und Aufwand der Strafverfolgung scheute.7 29

So zugespitzt ergab sich diese Konsequenz vor allem in den östlichen Provinzen mit ihrer gutswirtschaftlichen Agrarverfasssung. In den westlichen Teilen Preußens - auch in Westfalen - konzentrierte sich die Polizeigewalt auf den Landrat, der als Aufsichts- und Leitungsinstanz die Bürgermeister der Kleinstädte und die Amtmänner der Landgemeinden überwachte, die als Ortspolizeibehörden fungierten. Gleichwohl waren auch diese Regionen von der massiven Reduzierung der Gendarmerie betroffen.8 Weil der Polizeiausbau auf dem Lande steckenblieb, erfaßte der rationale, bürokratische Anstaltsstaat mit seinen uniformierten Repräsentanten vorerst nicht die Alltagswelt der ländlichen Unterschichten.9 In den Städten blieb die formale Verstaatlichung der Polizei weitgehend ohne Konsequenzen für die Praxis. Man muß sich vor Augen halten, daß Verstaatlichlang zunächst nur ein definitorischer Akt war, der zwar verfassungsrechtlich insofern große Tragweite gehabt hat, als ein vormals kommunaler Rechtskreis als staatliches Hoheitsrecht beansprucht wurde, der aber keine praktischen Änderungen der Polizeiorganisation, der Mannschaftsstärke oder der Verfolgungsstrategien mit sich brachte. Selbst wo die Verwaltung der Ortspolizei aus den Händen des Bürgermeisters in die eines staatlichen Polizeidirektors oder -präsidenten überging, was ohnehin die Ausnahme blieb, änderte dies nichts an der Polizeiexekutive.10 In aller Regel war der Bürgermeister Vorsteher der örtlichen Polizei, und es spricht vieles dafür, daß bei seinen konkreten Entscheidungen oft lokale Machtstrukturen, örtliche Milieus und die Loyalität gegenüber der Honoratiorenschaft der Stadt eine größere Rolle gespielt haben als eine rigide Staatsaufsicht. Neben diesen schwer faßbaren informellen Kanälen blieb der Kommune bzw. den in der Stadtverordnetenversammlung repräsentierten lokalen Eliten ein sehr handfester Zugriff auf die Ortspolizei. Solange sie nämlich mit ihrem Budgetrecht über die materielle und personelle Ausstattung der Ortspolizei entschieden, hatten sie erheblich mehr Einfluß auf ihre Entwicklung, als ihn Landrat, Regierungspräsident oder Innenminister mit ihrem Aufsichtsrecht in der Regel geltend machten.11 Von einer auch nur ansatzweise koordinierten Entwicklung des örtlichen Polizeiapparates kann unter diesen Bedingungen nicht die Rede sein. Unabhängig davon, ob ein Polizeidirektor oder der Bürgermeister der Ortspolizei vorstand, stagnierte die städtische Polizeidichte in Preußen bis zur Jahrhundertmitte und darüber hinaus auf niedrigem Niveau. Die Zahl der Beamten, die auf 100.000 Einwohner entfielen, schwankte zwischen 25 und 50, ein Wert, von dem auch die Hauptstadt Berlin bis zur Mitte des Jahres 1848 nicht abwich.12 Dies bedeutete, daß in einer Stadt von 10.000 Einwohnern äußerstenfalls fünf, meist aber weniger Polizeibeamte agierten, darunter ein leitender Inspektor oder Kommissar. Um die Qualität der unteren Exekutivbeamten war es gewöhnlich nicht gut bestellt. Eine niedrige Besoldung 30

zwang sie zu allerlei Nebentätigkeiten, was von Seiten der Aufsichtsbehörden als Einsparungsmöglichkeit einkalkuliert wurde, und auch wenn sie im Dienst waren, wird man sie kaum als Vertreter eines disziplinierten Repressionsorgans ansehen können - jedenfalls dann nicht, wenn man den zahlreichen Klagen über gebrechliche, schlecht ausgerüstete, betrunkene und furchtsame Polizeidiener Glauben schenken kann. Noch schlechter stand es um das Heer der Feldhüter, Flurschützer und Nachtwächter, deren Zahl die der ordentlichen Polizeibediensteten weit überstieg, die aber wegen ihrer nebenamtlichen Hilfstätigkeit nicht zu diesen gerechnet werden können.13 Die desolate Lage der Polizeimannschaften unterstreicht noch einmal, wie begrenzt trotz aller Verwaltungsreformen die Durchgriffstiefe der Staatsmacht auf den Alltag der Unterschichten blieb. Der Reformimpuls war, soweit er die Polizei in den Städten erfaßte, im Definitorischen steckengeblieben, ohne die Ebene praktischer Kontrolle und Repression zu erreichen. Einerseits notwendige Voraussetzung, andererseits unausweichliche Folge dieser Stagnation war die fortdauernde Virulenz außerpolizeilicher Gewaltträgerund Kontrollinstanzen, deren Bedeutung angesichts wachsender sozialer Spannungen im Vormärz eher zu- als abnahm. Kurz gesagt, der preußische Staat konnte sich eine schwache Polizei leisten, weil er im Notfall auf das Militär, im Alltag auf einen allerdings schwindenden Bestand vormodernständischer Muster sozialer Kontrolle verweisen konnte.14 Daneben kam es punktuell zu Rückgriffen auf das aus Sicht des Staates zweischneidige Instrument der Bürgerwehr. In den Befreiungskriegen erprobt, dann schnell demobilisiert, bildete die Bewaffnung der Bürgerschaft zur Verteidigung ihrer Angelegenheiten im Prinzip den wohl schärfsten Antagonismus zum staatlichen Gewaltmonopol. Ein bewaffneter Trupp loyaler Bürger konnte unter Umständen die Ortspolizei gegenüber einem tumultierenden Haufen entlasten, konnte sich aber auch - und hier lag die potentielle Gefahr - in einer kritischen Situation gegen den Staat stellen. Eine größere Rolle sollten die Bürgerverbände erst in der Ausnahmesituation der Revolution spielen. Davor blieb ihre Aufstellung auf Einzelfälle beschränkt. Insgesamt scheinen die Bürgerwehren dabei weniger durch den latenten Konflikt zwischen Staat und Bürgerschaft belastet gewesen zu sein, als vielmehr durch die immer mehr an Bedeutung gewinnende soziale Konfliktlinie: Im Zweifelsfall war die Bürgerwehr die Sicherheitswache der saturierten Stadtbürger gegenüber Arbeitern und anderen Unterschichtengruppen. Diese Trupps konnten allerdings bestenfalls ein Notbehelf in Krisensituationen sein - eine Systemalternative zur Berufspolizei stellten sie nicht dar.15 Die Ambivalenz der Bürgerwehren zeigte sich in ganzer Schärfe während der 48er Revolution in Berlin. Nachdem sich das Militär in den Märztagen durch seine Gewaltexzesse hoffnungslos desavouiert hatte, kam es zur Formierung einer Bürgerwehr, die einerseits Zugeständnis an die revolutionäre 31

Bewegung war, andererseits ihren unkontrollierten Weiterungen eine Schranke entgegensetzen sollte. Je mehr diese »Bürgerschutzkommission« in demokratisches Fahrwasser geriet und je augenfälliger die Schwierigkeiten wurden, die Ordnung auf der Straße durch eine Miliz zu gewährleisten, desto energischer drängten bürgerliche Kreise und Bürokratie auf eine grundsätzliche Neuformierung der Polizei.16 Noch während der Amtszeit des liberalen Märzministeriums unter Camphausen fiel die Entscheidung zur Gründung der Berliner Schutzmannschaft, der ersten modernen, staatlich organisierten und finanzierten Polizeiexekutive in einer preußischen Stadt. Sie war einheitlich uniformiert, in der Öffentlichkeit präsent und das in einer Stärke, die allein schon den qualitativen Umschlag gegenüber der alten Stadtpolizei signalisierte: Statt 51 Beamten in der ersten Hälfte des Jahres 1848 kamen seit Juli 305 Schutzmänner aufje 100.000 Berliner. Die anfänglich am Londoner Vorbild orientierte, betont zivile Präsentation der Schutzmannschaft war ein Zugeständnis an die Revolution, das Anfang der fünfziger Jahre im Zuge einer forcierten Militarisierung zurückgenommen wurde. Durch die Rekrutierung aus dem Unteroffizierskorps statt aus der Bürgerschaft Berlins, durch die Angleichung von Uniformen und Waffen an die der Armee und durch die Imitation der militärischen Offiziershierarchie profilierte sich die Schutzmannschaft als eine der Gendarmerie gleichrangige, städtische Polizeiformation. Alle militärischen Attribute dürfen dabei nicht über ihre genuin polizeiliche Funktion hinwegtäuschen: Nicht die fallweise Unterdrückung von Unruhen, sondern die permanente, flächendeckende, tendenziell präventiv wirkende Kontrolle des Alltags war die Hauptaufgabe der Schutzmänner.17 Mit der Gründung der Berliner Schutzmannschaft wurde das preußische Polizeisystem komplettiert, das in seiner dreigliedrigen Struktur - Gendarmerie, kommunal verwaltete Ortspolizei und staatliche, »königliche« Schutzmannschaften in wenigen Großstädten - bis zum Ende des Kaiserreichs Bestand hatte. Die Berliner Schutzmannschaft stieg dabei immer mehr zum Modell auf, an dem sich nicht nur die Polizei unter staatlicher Leitung, sondern auch die kommunale Ortspolizei zu orientieren versuchte. Mit welchem Erfolg dies geschah, wird zu prüfen sein. Betont sei an dieser Stelle nur eins: Die Berliner Gründung war 1848 singulär und blieb es noch lange Zeit danach. Nicht diese Musterinstitution bestimmte die Realität in den meisten preußischen Städten nach 1850, sondern die Kommunalpolizei, deren Qualitäten oben kurz umrissen wurden. Sie und die Gendarmerie waren es, die auch im westfälischen Ruhrgebiet bis 1909 allein die Staatsmacht repräsentierten.

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2.2. Instanzen informeller Sozialkontrolle Ständische und klassengesellschaftliche Muster sozialer Ungleichheit unterscheiden sich unter anderem durch den Grad der Durchmischung von ökonomischer und außerökonomischer Herrschaft. In der ständischen Gesellschaft war ökonomische Abhängigkeit in ein dichtes Geflecht formeller und informeller Regeln der Lebensführung, Ehre und Statuszuweisung eingebettet, die für Herrschende wie Beherrschte gleichermaßen verpflichtend waren. Die wechselseitigen Beziehungen waren verbindlich durch standesspezifisches Recht geregelt, das dem »Herrn« nicht nur weitreichende Zwangsmittel gegenüber seinen Untergebenen sicherte, sondern ihn auch im Sinne einer patriarchalischen Fürsorgepflicht - in Grenzen - für dessen Wohlergehen verantwortlich machte. Abweichendes Verhalten, Verstöße gegen den Ehren- und Sittenkodex des Standes, auch Reibungen zwischen beiden Seiten wurden - soweit sie ein bestimmtes Niveau nicht überschritten - durch die Sanktionsgewalt des Herrn oder korporative Schieds- und Zwangsinstitutionen geahndet. Aus moderner Perspektive betrachtet, waren die meisten Disziplinierungs- und Ordnungsfunktionen der Polizei in den Kontext ständischer Herrschaft eingelagert und nicht einer spezialisierten Institution zugewiesen.18 Wieweit hatten ständische Herrschaftsstrukturen in Preußen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Bestand, in welchem Ausmaß wurden sie durch den expandierenden Staat abgetragen bzw. durch neue klassengesellschaftliche Muster an den Rand gedrängt? Gefragt ist nach dem erreichten Stand funktionaler Differenzierung zwischen den Dimensionen ökonomischer Abhängigkeit und außerökonomischer Herrschaftsgewalt.19 Ein grober Überblick über die Lebenslage der unteren Schichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, daß die Reichweite außerökonomischer Herrschaftsrechte in Arbeitsbeziehungen sehr unterschiedlich war.20 Für das ländliche Gesinde und die häuslichen Dienstboten blieben wirtschaftliche Abhängigkeit und Herrengewalt am dichtesten verwoben. Trotz Aufhebung der Gesindezwangsdienste und Einführung der Vertragsfreiheit konservierte die preußische Gesindeordnung von 1810 bis zu ihrer Aufhebung im Jahre 1918 wesentliche Elemente traditioneller Gutsuntertänigkeit: vom kraß asymmetrischen Kündigungsrecht über die bedingungslose Gehorsamspflicht bis hin zum Züchtigungsrecht der Dienstherrschaft. Der patriarchalische Zusammenhang von Unterordnung und Fürsorge wurde zugunsten einer kaum reduzierten Disziplinargewalt des Herrn aufgelöst, der nach wie vor das »Recht der häuslichen Polizei« auch seinem Gesinde gegenüber wahrnahm.21 Wo der Dienstherr zur Durchsetzung seiner Rechte die Ortspolizeibehörde in Anspruch nehmen mußte, etwa wenn es um die zwangsweise Rückführung entlaufenen Gesindes ging, konnte er in den gutswirtschaftlich 33

geprägten Ostprovinzen nicht selten in Personalunion als Gutsherr und Polizeiverwalter in eigener Sache tätig werden oder mußte sich schlechtestenfalls an den aus der gleichen Klasse stammenden Landrat wenden. »Der Gesindedienst behielt Zwangscharakter«; 22 ein Zustand, der durch das Gesindestrafgesetz vom 24.4.1854 trotz der dort vorgesehenen, vorsichtigen Trennung von Dienstherrschaft und Polizeigewalt nicht gemildert wurde, sondern dadurch, daß Koalitionsverbot und Beschränkung der Freizügigkeit auch für die nicht zum Gesinde gehörigen Landarbeiter galten, auf weitere Segmente der ländlichen Unterschichten ausstrahlte.23 Wo die Sozialbeziehungen auf dem Lande weniger durch das streng kodifizierte Gesinderecht, sondern mehr, wie im Bereich der westdeutschen Grundherrschaft, durch ein enges formelles und informelles Netz ökonomischer Abhängigkeit und paternalistischer Wechselseitigkeit zwischen Bauern und landlosen Unterschichten geprägt waren, wurde ständische Einheit mehr und mehr durch Klassengegensätze überlagert. Protoindustrialisierung, Markenteilung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft unterhöhlten den Paternalismus und verschärften die Konflikte in der ländlichen Gesellschaft. 24 Vor allem die Sozialkriminalität ländlicher Unterschichten im vormärzlichen Pauperismus zeigte, daß nicht nur die Ökonomie der Agrargesellschaft in der Krise steckte, sondern auch ihre immanenten Kontrollstrukturen immer weniger wirkten. Wenn ostwestfälische Bauern gegenüber Holzdieben zu brutaler Selbstjustiz schritten und einen Verein zur Koordination bäuerlicher Kontroll-und Sanktionsmaßnahmen gegenüber den landlosen Unterschichten gründeten, warf dies ein Schlaglicht sowohl auf die Erosion patriarchalischer Herrschaftsstrukturen als auch auf die Ferne und Hilflosigkeit der Staatsmacht. 25 Außerhalb des Agrarsektors und des Bereichs häuslicher Dienste konnte sich in Preußen ein geschlossenes System ständischen Sonderrechts am längsten im Bergbau halten. Solange dieser nach dem Direktionsprinzip verwaltet wurde, bestimmten nicht Markt und freier Vertrag die Arbeitswelt des Bergmanns. Prägend blieb ein Geflecht aus Privilegien und besonderen Verpflichtungen, das ihn weit von den freien Fabrikarbeitern entfernte und ihn in eine besondere Nähe zum Staat rückte. Die Disziplinargewalt der vorgesetzten Revierbeamten beschränkte sich nicht auf unmittelbare Belange der Produktion und Arbeitssicherheit, sondern erstreckte sich in typisch ständischer Manier auf den Bereich der außerbetrieblichen Lebensführung. 26 Ebenso läßt sich das Institut der Knappschaft nicht auf seine Versicherungsfunktionen reduzieren; stets war es auch ein »Organ zur Pflege der bergmännischen Moral und Gemeinschaft, die die Behörden nach Kräften zu beeinflussen suchten«. 27 Sei es der behördliche Heiratskonsens, das gemeinsame Gebet vor der Arbeit oder die Uniform - viele Elemente bergmännischen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweisen auf die Persistenz 34

ständischer Strukturen, auf die undifferenzierte Totalität von Arbeit, Standesehre und umfassender Herrschaftsunterworfenheit; ein Zusammenhang, der erst durch die Bergrechtsreformen der fünfziger und sechziger Jahre aufgebrochen wurde.28 Anders als im Bergbau fielen im Handwerk zentrale Bestandteile ständischer Autonomie und Geschlossenheit der liberalen preußischen Gewerbepolitik in der Reformära zum Opfer. Mit Einführung der Gewerbefreiheit und der Marginalisierung der Zünfte durch die Edikte von 1810 und 1811 verloren die Handwerkskorporationen viele ihrer ehemals weitgespannten, Arbeit und Leben ordnenden Kompetenzen.29 Damit wurde der Dekorporationsprozeß des Handwerks weiter beschleunigt, der schon im ausgehenden 18. Jahrhundert durch ökonomische Krisen und staatliche Ordnungseingriffe, besonders gegenüber der Gesellenschaft, eingeleitet worden war. In der Realität haben sich außerökonomische Herrschaftsrechte des Meisters gegenüber seinen Lehrlingen und Gesellen sicher noch bis weit ins 19. Jahrhundert gehalten, die polizeilichen und jurisdiktioneilen Funktionen der Zünfte allerdings waren jetzt großenteils auf den Staat übergegangen, nachdem bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts die interne Gesellengerichtsbarkeit erfolgreich unterdrückt worden war.30 Handwerksehre und das Ideal standesgemäßer Lebensführung mögen weiterhin für viele Meister und Gesellen normative Bedeutung gehabt haben, die zünftigen Sanktionskompetenzen und ständischen Strukturen sozialer Kontrolle, die ihre Einhaltung hätten gewährleisten können, hatten jedoch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts viel von ihrer Verbindlichkeit eingebüßt. Die bisher angeführten Beispiele verbindet die ständische Rechtstradition mit ihrer zur Mitte des Jahrhunderts mal gemilderten, mal virulenten Durchmischung ökonomischer Abhängigkeit und außerökonomischer Herrschaft. Zumindest residuale Formen ständischer Sozialkontrolle haben hier bis weit ins 19. Jahrhundert Bedeutung gehabt. Ganz anders stand es in den Wirtschaftssektoren, die neben den noch oder ehemals zünftig verfaßten Gewerben und außerhalb ständischen Sonderrechts expandierten. Freie Lohnarbeit war in der ersten Jahrhunderthälfte sicher ein Minderheitenphänomen, nahm aber seit den vierziger Jahren zu. So mobilisierte der Eisenbahnbau seit dem Ende der dreißiger Jahre zehntausende Angehörige der pauperisierten ländlichen Unterschichten, löste sie aus dem sozialen Kontext ihrer Heimatgemeinden und faßte sie als ungelernte Erdarbeiter in großen Gruppen auf den Streckenbaustellen zusammen.31 Die Kontrolle dieser Arbeitermassen wurde spätestens dann als brisantes Problem erkannt, als sich um die Mitte der vierziger Jahre Eisenbahnarbeiterstreiks häuften. Einerseits waren diese modernen Massenarbeiter nicht durch ländlich-patriarchalische, gemeindliche, zünftige oder gesinderechtliche Strukturen eingebunden, andererseits stand keine nennenswerte polizeiliche Exekutive zur Verfügung, die deren 35

Funktionen hätte übernehmen können. Mit der Handarbeiterverordnung vom 21.12.1846 suchte der Staat für dieses Mal noch den Ausweg in der Imitation ständischer Strukturen: Indem öffentliche polizeiliche Aufsichtsund Strafkompetenzen an die privaten Baugesellschaften delegiert wurden, versuchte man eine künstliche Integration von Arbeits-und Herrschaftsbeziehungen zu erreichen, um so den Ausbau eines besonderen Gewaltapparates zu vermeiden.32 Die moderne Fabrik schließlich stand wie das eben genannte Beispiel der Eisenbahnarbeiter jenseits aller traditionellen Ordnung. Obwohl fur die hier beschäftigten Arbeiter Markt und freier Vertrag, nicht aber zünftiges Herkommen oder fixiertes Recht die entscheidenden Determinanten bildeten, waren die Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern nicht auf den rein sachlichen Austausch von Arbeit gegen Lohn reduziert. Im rechtsfreien Binnenraum der Fabrik blühte eine Unternehmerautokratie, die unter dem Banner der Vertragsfreiheit und mit dem Hebel der Fabrikordnung den Arbeitern nicht nur die Arbeitsbedingungen diktierte, sondern über ein ausgefeiltes Strafsystem auch deren Verhalten in umfassender Weise reglementierte.33 Insofern stand die innerbetriebliche Herrschaft in der Fabrik den Zwängen mancher vorindustrieller Arbeitsbeziehungen sicher in nichts nach. Trotzdem ist aufUnterschiede und Grenzen hinzuweisen. Die Fabrikdisziplinierung blieb in der Regel auf den Bereich der Arbeit beschränkt. Sie war trotz aller Härte eher funktionales Instrument; es fehlte der umfassend lebensweltliche Zuschnitt ständischer Herrschaft.34 Der Zugriff des Unternehmers auf den ganzen Menschen innerhalb wie außerhalb der Werkstatt blieb eher die Ausnahme.35 Verkürzt läßt sich festhalten, daß die Fabrikproduktion zwar zahlreiche neue Zwänge und die Erfahrung oft willkürlicher Herrschaft fur die dort Arbeitenden brachte, daß aber die Gewalt des Unternehmers am Werkstor ihre Grenze hatte. Die industrielle Produktionsweise beschleunigte die Trennung von Arbeit und Leben; damit aber eröffnete sie auch tendenziell die Möglichkeit nichtreglementierter Freizeit neben der Anstaltsdisziplin der Fabrik. Am Ende des hier nach der Reichweite außerökonomischer Herrschaftsrechte in Arbeitsbeziehungen geordneten Kontinuums stehen diejenigen Segmente der Unterschichten, die weder von ständischen Rechts- und Regelkreisen noch von der modernen Arbeitsdisziplin erfaßt waren: der unterständische »Pöbel«, die Vagabunden und Landstreicher, die Armen und Arbeitslosen. Bei der Kontrolle dieser heterogenen Bevölkerungsgruppen machte sich als erstes die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Exekutive geltend. Sowohl die sporadischen, halb militärischen, halb zivilen Landesvisitationen und Streifzüge gegen Gauner und »Gesindel«, die bis ins 19. Jahrhundert überdauerten, als auch die neue Landgendarmerie mit ihren ständigen Patrouillen dienten vor allem der Kontrolle der vagierenden 36

Unterschichten. Polizeiliche Aufsicht und Disziplinierung setzte zuerst und am intensivsten dort ein, wo ständische Regulierung versagte.36

2.3. Politische Polizei Man hat für die deutsche und besonders für die preußische Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zwiespältigkeit staatlicher Politik hervorgehoben: Auf der einen Seite wirkte der sich abschwächende, aber nicht erlöschende Reformimpuls einer liberalen Beamtenschaft, der ständische Partikularrechte und traditionelle Privilegien brach und den Stadtbürger durch den Staatsbürger, den Zunftgenossen durch den freien Wirtschaftsbürger, Arbeiter oder Unternehmer, ersetzte. Auf der anderen Seite stand die politische Restauration mit ihrem intensiven Bemühen, dem bürokratisch eingehegten, absolutistischen Staat das Politikmonopol gegenüber bürgerlichen Partizipationsansprüchen zu sichern.37 Was oben unter dem Gesichtspunkt der Schwächung oder Fortdauer ständischer Herrschaftsmuster kurz umrissen wurde, hängt wesentlich mit dem ersten Aspekt staatlichen Handelns zusammen. Der vielleicht deutlichste institutionelle Ausdruck des zweiten, der Restauration, war die Entstehung einer politischen Polizei.38 Gegen den befürchteten Umschlag gesellschaftlicher und ökonomischer Modernisierung ins Politische setzte der bürokratische Staat die Idee traditioneller Legitimität und monarchischer Souveränität; zu ihrer Durchsetzung gegenüber oppositionellen Strömungen bediente er sich der politischen Polizei.39 Der Grundstein einer preußischen politischen Polizei wurde nach der Gründung des Berliner Polizeipräsidiums im Jahre 1809 von dessen erstem Präsidenten Justus Gruner gelegt, der versuchte, einen Spionagedienst gegen die französische Okkupationsmacht aufzubauen. Spätestens mit der Rekonstituierung eines unabhängigen preußischen Staates im Jahre 1815 orientierte dieser Dienst seine zunächst im klassischen Sinne der »Staatspolizei« primär nach außen gerichteten Erkundungen um und fokussierte sie auf den Gegner im Innern. Das Wartburgfest 1817, das Sandsche Attentat von 1819, das Hambacher Fest 1832 und der Frankfurter Wachensturm von 1833 seien hier nur als herausragende Symbole des Grundkonflikts der Restaurationsära erwähnt, die zugleich wichtige Zäsuren in der Entwicklung einer politischen Polizei wurden. Diese institutionalisierte sich zunächst in zwei aufeinanderfolgenden Ministerialkommissionen, gegründet 1819 im Zuge der intensivierten »Demagogenverfolgung« und 1833 als Antwort auf den Frankfurter Wachensturm, die beide den Auftrag hatten, das Umfeld der politisierenden Turner, 37

Burschenschaftler und Literaten aufzurollen und dingfest zu machen. Im Grunde blieb die Arbeit der Kommissionen retrospektiv auf die Aufklärung zurückliegender politischer Unruhen und Bewegungen bezogen. Gleichwohl zeigt die Tätigkeit der zweiten Kommission eine Ausweitung in Richtung präventiven Staatsschutzes: Als »landesweit wirksame Überwachungsbehörde« oblag ihr die regelmäßige Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit neu einzustellender Lehrer, Geistlicher und Rechtskandidaten.40 Beide Kommissionen bildeten das Pendant zu den Institutionen des Deutschen Bundes, der Mainzer Zentraluntersuchungskommission der Jahre 1819 bis 1829 und der Frankfurter Zentraluntersuchungsbehörde von 1833 bis 1842.41 Diese enge Verzahnung der einzelstaatlichen Entwicklung mit der Etablierung zwischenstaatlicher Gremien wiederholte sich in der Reaktionsphase nach der Revolution von 1848/49; jetzt allerdings auf einem höheren Niveau institutioneller Spezialisierung. Der 1851 von den wichtigsten deutschen Staaten gegründete geheime »Polizeiverein« war nicht mehr ein ad hoc gebildetes Untersuchungsgremium hoher Ministerialbeamter, sondern ein auf Dauer angelegter, stark präventiv gegen zukünftige »Umtriebe der Revolutionspartei« gerichteter Zusammenschluß führender Polizeipraktiker aus den Haupt- und Residenzstädten der beteiligten Staaten. Neben regelmäßigen Konferenzen diente vor allem der schriftliche Informationsaustausch durch sogenannte »Wochenberichte« dazu, den Überblick über Bestrebungen demokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Provenienz zu behalten \ind die Gegenmaßnahmen zu koordinieren.42 In Preußen gab der Verein den Anstoß zur Etablierung eines innerstaatlichen politisch-polizeilichen Informationsdienstes, dem erst die Direktoren der königlichen Polizeiverwaltungen, später auch die Landräte aller preußischen Kreise zuarbeiteten. Im Grundsatz zumindest bestand damit ein »netzartig ausgebreitetes und ineinandergreifendes Ueberwachungssystem«.43 Im Zentrum saß der Berliner Polizeipräsident von Hinckeldey, der in seiner Funktion als »Generalpolizeidirektor« seit 1853/54 zum weisungsberechtigten Leiter aller politischpolizeilichen Aktivitäten geworden war und durch seine alle Prinzipien bürokratischer Geschäftsverteilung überschreitende Immediatstellung zu König Friedrich Wilhelm IV zur Schlüsselfigur eines polizeistaatlich aufgeladenen »monarchischen Kryptoabsolutismus« wurde.44 Obwohl die politische Polizei in den Apparat des Berliner Polizeipräsidiums eingelagert war, entwickelte sie kein ausreichendes institutionelles Eigengewicht, um sich von politischen Vorgaben zu emanzipieren. Nachdem der inner- und zwischenstaatliche geheime Informationsfluß mit nachlassender Revolutionsfurcht in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre langsam verebbte, fand das bisher am weitesten entwickelte politisch-polizeiliche Informationssystem in Preußen und im Deutschen Bund nach dem Thronwechsel und dem Beginn der »Neuen Ära« 1858 ein vorläufiges Ende.45 Trotz vieler 38

Ähnlichkeiten gab es keine durchlaufende Kontinuität zwischen der politischen Polizei der Restaurations- und Reaktionsphase und den entsprechenden Organen zur Zeit der Bismarckschen Sozialistenverfolgung. Uber den Zusammenhang zwischen der Genese der politischen Polizei und dem politischen Grundkonflikt des vor- und nachrevolutionären Preußens hinaus lassen sich verallgemeinernd folgende Charakteristika dieser Institution festhalten: Erstens ist die politische Polizei scharf von der Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei zu trennen. Ebenso wie dem politisch motivierten Verbrechen, selbst noch dem politischen Mord, von vielen Zeitgenossen eine andere, prinzipiell höhere moralische Qualität zugemessen wurde als dem gewöhnlichen Verbrechen,44 war auch die politische Polizei als diejenige Institution, die den bestehenden Staat gegen die Herausforderungen einer sich politisierenden Gesellschaft abschirmen sollte, von der übrigen Polizei verschieden. Zweitens zeigte sie - eng mit dieser Funktionszuweisung verbunden - eine außerordentlich zentralistische Tendenz. Im Unterschied zur kommunal tradierten Ortspolizei, die nur zögernd und zunächst eher pro forma verstaatlicht wurde, war die politische Polizei genuin staatlich. Dieser Zentralismus ging so weit, daß die wichtigsten Impulse zum Ausbau einzelstaatlicher Organe von bundesstaatlichen Zusammenschlüssen ausgingen und erst nach 1850 die Polizeispitzen einzelner Städte systematisch einbezogen wurden.47 Drittens war die politische Polizei nicht primär eine offen agierende, Gesetze oder höchste Anweisungen exekutierende Anstalt, die unmittelbar ordnend, strafend oder verbietend in das Leben der Untertanen eingriff. In erster Linie war sie ein geheimer Apparat zur Gewinnung, Ordnung und Auswertung von Informationen. Briefe wurden geöffnet, verdeckte Spitzel unterwanderten Vereine und Verbindungen, legten Dossiers über ihre Mitglieder an und spürten überörtlichen Zusammenhängen nach. Das tragende Gerüst des »Polizeivereins« und des innerpreußischen Netzes der Wochenberichte waren regelmäßige Rapporte über den Stand der politischen Opposition; ergab sich die Notwendigkeit, aktiv einzugreifen, wurden Staatsanwaltschaft und uniformierte Polizei bemüht. Viertens waren Arbeitsweise und Ziel der politischen Polizei von einem Feindbild geprägt, das um die Vorstellung einer zentral gesteuerten, womöglich international verflochtenen, im geheimen operierenden revolutionären Konspiration kreiste. Wußte man genug über die fuhrenden Köpfe dieser Bewegung, so die strategische Prämisse, war man in der Lage, deren Pläne zu durchkreuzen. Diese Annahme beruhte zum Gutteil auf selbstgeschaffenen Voraussetzungen, denn unter den Bedingungen eines allgemeinen Verbindungsverbots war politische Opposition kaum anders als in der Illegalität denkbar, so daß sie in Gestalt der geheimen Bünde und Vereine des Vormärz in Grenzen der Realität entsprach.48 39

Damit war die politische Polizei fünftens wohl in der Lage, umfangreiche Verdächtigenlisten mit tausenden von Namen anzulegen, niemals aber konnte sie auf die prinzipiell anders gelagerten Herausforderungen der »sozialen Frage« eine angemessene Antwort geben. Sieht man auf das soziale Profil ihrer angenommenen Gegner, war die politische Polizei von Gruner bis Hinckeldey gegen die politischen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums gerichtet. Insofern war es nicht nur auf die politischen Kontingenzen eines Thronwechsels zurückzuführen, daß sie Ende der fünfziger Jahre verfiel. Ein in seinen politischen Ansprüchen frustriertes und resigniertes Bürgertum, das sich mehr und mehr mit den gewährten ökonomischen Freiheiten zufriedengab, ohne die politischen noch ernsthaft einzufordern, bedurfte keiner kontinuierlichen Aufsicht mehr. Die Arbeiterbewegung aber, die im Kaiserreich als Objekt geheimpolizeilicher Überwachung an seine Stelle trat, hatte sich noch nicht formiert, und die Spannungen und Konflikte, die die ökonomische und soziale Konstituierung der Arbeiterklasse begleiteten, lagen jenseits der Eingriffsmöglichkeiten einer politischen Polizei im hier umrissenen Sinne.49

2.4. Militär als innere Ordnungsmacht Unter den öffentlichen Gewaltträgern im vormärzlichen Preußen nahm das Militär bei weitem die prominenteste Stellung ein. Blendet man die hier nicht interessierenden äußeren Aufgaben der Armee aus und konzentriert sich auf ihre innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Funktionen und Wirkungen, lassen sich drei Ebenen unterscheiden: einmal die prägende Kraft militärischer Anstaltsdisziplin, dann die aktiven Ordnungseingriffe des Militärs in die Gesellschaft und schließlich der Modellcharakter, den militärischer Habitus, Strukturen und Operationsweisen fur zivile Institutionen und insbesondere für die Polizei hatten. Aufallen drei Ebenen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fundamente jenes militaristischen Syndroms gelegt, das die Gesellschaft des Kaiserreichs prägte. Bereits Oestreich hat mit Blick auf den frühneuzeitlichen Absolutismus die Pionierrolle militärischer Anstaltsdisziplin hervorgehoben, die mit ihren Drillreglements, ihrer rigiden Verhaltenskontrolle, ihrer strengen Befehlshierarchie und ihrem Anspruch auf unbedingten und automatischen Gehorsam das Modell der Disziplin fast idealtypisch abbildet.50 Weder ständische Sozialbeziehungen noch innerbetriebliche Reglementierung in der modernen Fabrik erreichten für die Betroffenen eine vergleichbare Totalität von Herrschaft. Zwar ging von der militärischen Anstaltsdisziplin kein kontinuierlicher Einfluß auf die Gesellschaft aus; als Sozialisationsinstanz, als »Erzie40

hungsschule der Nation«, konnte sie gleichwohl unterschwellig und langfristig verhaltensprägend wirken.51 Solange sich das Militär lediglich aus langjährig dienenden Berufssoldaten zusammensetzte, blieb die Breitenwirkung militärspezifischer Verhaltensmuster notwendig begrenzt; Armee und Gesellschaft waren auch im altpreußischen Militärstaat weitgehend getrennt. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1814 hob diese Trennung auf. Im Prinzip sollte in Zukunft jeder wehrtaugliche junge Mann für drei Jahre eingezogen und der militärischen Erziehung unterworfen werden.52 Die Verzahnung von Armee und Gesellschaft durch das Institut der Wehrpflicht war die entscheidende Voraussetzung, um militärische Anstaltsdisziplin zur prägenden Erfahrung weiter Teile der männlichen Bevölkerung zu machen. Die militärische und politische Führung war sich dieses Effekts durchaus bewußt. Die dreijährige Dienstzeit wurde spätestens seit den dreißiger Jahren immer weniger unter dem Gesichtspunkt der Einübung soldatischer Fertigkeiten gerechtfertigt, die auch in kürzerer Zeit zu erlernen gewesen wären, als vielmehr als »Gewöhnungszeit«, die der »ideologischen Domestizierung der männlichen Jugend« diente.53 Man sollte den tatsächlichen Wirkungsgrad dieses Disziplinierungsprogramms nicht überschätzen, schon deshalb nicht, weil die allgemeine Wehrpflicht niemals wirklich allgemein war, sondern aufgrund finanzieller Restriktionen im Vormärz kaum ein Viertel der Wehrpflichtigen erfaßte.54 Trotzdem: Militärische Sozialisation und Disziplinierung hatten im Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weit größere Reichweite als jemals zuvor. Aus der Perspektive der Polizeientwicklung gravierender war die Rolle, die militärische Verbände bei der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung in der Gesellschaft spielten. Schon der flüchtige Blick auf die Anlässe militärischer Eingriffe zeigt, wie wenig die Polizei und wie stark statt ihrer das Militär die Realität staatlicher Gewalt nach innen bestimmte. Das eklatante Unvermögen der polizeilichen Exekutive enthüllte sich dabei nicht erst im Falle größerer Unruhen. Schon bei der alltäglichen Ordnungssicherung war sie oft auf militärischen Rückhalt angewiesen. Formal lag der erste Zugriff gegen kollektive Widersetzlichkeit und Tumult, gegen streikende Handwerksgesellen, Bauernunruhen, städtische Lebensmittelkrawalle, Eisenbahnarbeiterausstände, antisemitische Ausschreitungen oder politische Kundgebungen, um nur einige Facetten des vormärzlichen Protests zu nennen, bei der städtischen oder ländlichen Polizeiverwaltung, beim Bürgermeister oder Landrat.55 In der Praxis waren diese mit ihren wenigen Exekutivkräften allerdings schnell überfordert und mußten die Unterstützung des Linienmilitärs oder der Landwehr erbitten. So beispielsweise 1828 bei den Unruhen unter den Krefelder Seidenarbeitern, wo acht Polizeibeamte hilflos einer zweitausendköpfigen, erbitterten Menschenmen41

ge gegenüberstanden, was einen Augenzeugen zu dem lakonischen Kommentar veranlaßte: »Die Polizei war eine Null.«56 Zögerte die Zivilbehörde, hatten die Militärkommandanten das Recht, aus eigenem Entschluß einzugreifen. Die Befehlsgewalt über die eingesetzten Kräfte ging in beiden Fällen auf das Militär über, so daß auch ohne Erklärung des Ausnahmezustands von einer rein militärischen Pazifizierungsstrategie gesprochen werden kann. Es muß betont werden, daß die Aufbietung geschlossener militärischer Verbände zur bewaffneten Niederschlagung größerer und kleinerer Unruhen weniger als letzter, nach Möglichkeit zu vermeidender Ausweg angesehen wurde, sondern eher den bewußt einkalkulierten Normalfall darstellte - zur Routine geworden nicht zuletzt aufgrund der notorischen Schwäche der Polizeiexekutive.57 Bis zur Revolution 1848 und vielfach bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein blieb der Militäreinsatz bei kollektiven Unruhen die Regel, war die rein polizeiliche Reaktion eher die Ausnahme: Bei 281 zwischen 1816 und 1847 registrierten Protestereignissen, in die Sicherheitskräfte involviert waren, griff das Militär in 178, die Polizei bloß in 103 Fällen ein. In der Ausnahmesituation der Revolution verschoben sich die Gewichte noch weiter zuungunsten der Polizei. Lediglich in 19 von 158 ausgewerteten Fällen blieb sie Herrin der Lage; in allen anderen Fällen kam das Militär zum Zuge.58 Der Einsatz von Soldaten für innere Ordnungsaufgaben beschränkte sich in Preußen nicht auf die Fälle punktueller Unruhen und Tumulte. In Städten, in denen eine Garnison lag, fungierten die zur Sicherung militärischer Objekte eingesetzten Wachen als permanenter Polizeiersatz.59 Auf Anforderung der Zivilbehörden, in vielen Fällen aber auch aufgrund eigenen Ermessens schritten die Wachen bei Aufläufen und Unglücksfällen, bei der Verhaftung ergriffener Verbrecher, ja selbst bei der Ahndung kleinerer Übertretungen ein. 1840 waren rund 53% der preußischen Stadtbevölkerung Einwohner einer Garnisonsstadt und unterstanden damit der Aufsicht und Ordnung dieser militärischen Hilfspolizei.60 Aus Sicht der betroffenen Stadtverwaltungen hatten die Militärwachen den Vorzug, die vorhandenen Exekutivkräfte zu verstärken, ohne zusätzliche Kosten zu verursachen; als Nachteil konnte sich erweisen, daß die Wachsoldaten allein dem militärischen Kommando unterstanden und ihr Verhalten somit kaum an zivile Standards zu binden war. Das finanzielle Kalkül der Kommunen mochte für die in den Städten stationierten Militärs in Einzelfällen zu lästiger Mehrarbeit und unerfreulichen Reibungen mit der Bevölkerung führen; generell entsprach diese Regelung jedoch dem Interesse der Armee an möglichst weitreichenden, von zivilen Stellen unbeeinflußten Eingriffsrechten in alle sie berührenden Belange, zu denen auch die Ordnung und Sicherheit am Stationierungsort gehörten. Am schwerwiegendsten wirkte sich diese militärische Handlungsautonomie gegenüber der zivilen Bürokratie in den Festungsstädten aus, wo den Festungskommandan42

ten für den Fall des militärischen Belagerungszustandes sehr weitreichende Befugnisse zugestanden wurden.61 Zumindest bis zur Mitte des Jahrhunderts lag die Exekution staatlicher Gewalt in vielen Fällen in der Hand der Armee; regelmäßig bei kollektiven Protesten, in Garnisonsstädten auch bei der Sicherung von Ruhe und Ordnung. Alf Lüdtke, der als erster auf diese wenig spektakuläre Militarisierung polizeilicher Alltagsfunktionen hingewiesen hat, sieht hier die Grundlage für eine tiefgreifende, langfristig wirkende »Übernahme militärischer Handlungsmuster durch die Polizeiverwaltung«, die er mit dem Begriff der »Festungspraxis« zu fassen sucht.62 Wieweit diese These geeignet ist, den Entwicklungstrend der preußischen Polizei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angemessen zu beschreiben, wird weiter unten zu prüfen sein. Hier soll sie vor allem als Hinweis auf die Querverbindungen zwischen Militär und Polizei verstanden werden, die auch in der ersten Jahrhunderthälfte über die beschriebene praktische Arbeitsteilung hinausgingen. So war die Gendarmerie intern nach militärischen Prinzipien organisiert und unterstand hinsichtlich ihrer inneren Organisation dem Kriegsministerium. Ihre Angehörigen rekrutierten sich aus dem Unteroffizierskorps der Armee und glichen in Uniformierung und Bewaffnung aktiven Soldaten. Zwei wichtige Unterschiede zum Militär seien jedoch hervorgehoben: In ihrer praktischen polizeilichen Tätigkeit unterstanden die Gendarmen dem zivilen Landrat, nicht einem militärischen Kommandanten, und sie waren niemals kaserniert, sondern als Einzelposten über das ganze Land verstreut. Während bei der Gendarmerie die soziale Militarisierung über das Rekrutierungsmonopol der Armee von Anfang an gewährleistet war, dürfte sich das Zivilversorgungswesen des Militärs, das ausgedienten Soldaten das Anrecht auf eine Anstellung im zivilen Staatsdienst sicherte, vor 1850 auf Struktur und Verhalten der städtischen Polizeibeamten kaum ausgewirkt haben.63 Nicht nur, weil dieses Privileg zunächst ausschließlich für Militärinvaliden galt, sondern schlicht deshalb, weil in der ersten Jahrhunderthälfte keine nennenswerte Polizeiexekutive existierte, die von Militäranwärtern hätte dominiert werden können. Gleichwohl waren die Weichen für zukünftige militärnahe Rekrutierungsstrategien der Polizei gestellt.

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3. Polizeifunktionen im gesellschaftlichen Wandel

3.1. Industrialisierung, Klassenbildung und die Angst vor dem Proletariat An »amerikanische Zustände«1 fühlten sich manche zeitgenössischen Beobachter erinnert, wenn sie über Verlauf und Begleiterscheinungen des rasanten Industrialisierungsprozesses urteilten, der seit den fünfziger Jahren, mit zusätzlicher Schubkraft in der Hochindustrialisierungsperiode seit den achtziger Jahren, die rheinisch-westfälische Montanregion tiefgreifend veränderte. Der Vergleich sollte das grundsätzlich Neue und die Geschwindigkeit, die scheinbare Traditions- und Regellosigkeit des Wandels hervorheben. Überhört man den pejorativen Unterton, trifft dieses Urteil durchaus einige Charakteristika der Ruhrgebietsindustrialisierung. Anders als in den übrigen westfälischen Industrieregionen, um das ostwestfälische Bielefeld etwa oder im märkischen Sauerland, wo eine Kontinuität des Industrialisierungsverlaufs von der protoindustriellen Gewerberegion zur räumlich und produktionstechnisch zentralisierten Fabrikindustrie vorherrschte, war die Ruhrindustrialisierung durch ihren schubartigen Verlauf gekennzeichnet, der kleine Ackerbürgerstädte und unbedeutende Dörfer innerhalb weniger Jahrzehnte zu großstädtischen Dimensionen heranwachsen ließ. In mehreren Phasen schob sich der strukturbestimmende Steinkohlebergbau von den traditionellen Abbaugebieten nahe der Ruhr immer weiter nach Norden und ließ in seiner jüngsten, nördlichen Expansionszone jene »Boomtowns« auf der grünen Wiese entstehen, die mit ihrer regellosen Mischung aus Schachtanlagen, Kohlehalden, Wohnsiedlungen und Verkehrswegen sowie mit ihrer Arbeiterschaft »aus aller Herren Länder« am ehesten zu jener Amerikaassoziation verleiten konnten.2 Die Belegschaft der Ruhrkohlezechen hatte sich von 1850 bis zur Reichsgründung von 12 741 auf63 043 Arbeiter verfünffacht, um 1900 wurde die Viertelmillion überschritten und 1913 zählte man 401715 Bergleute.3 Dieses exorbitante Wachstum war nur durch einen kontinuierlichen Zustrom neuer Arbeitskräfte möglich. Nachdem der regionale Arbeitsmarkt, der die Expansion des Bergbaus in ihrer ersten Phase durch Nahwanderung gespeist hatte, in den siebziger Jahren erschöpft war, setzte in den achtziger Jahren eine Fernwanderungswelle ein, in deren Verlauf, durch gezielte Anwerbung 44

stimuliert, hunderttausende Bewohner der östlichen Agrargebiete als Arbeitskräfte in die Montanregion strömten, unter ihnen als markantestes Segment die große Gruppe der Polen und polnischsprechenden Masuren.4 Die Immigranten kamen in Städte, Dörfer und Siedlungen, deren Infrastruktur dieser massiven Zuwanderung in keiner Weise gewachsen war. Besonders empfindlich traf die Zuwanderer die »unbeschreibliche Wohnungsnot«,5 die weder durch den Bau von »Menagen« - Schlafhäusern fur ledige Bergleute - noch durch die Errichtung von Zechenkolonien durchgreifend gemildert wurde. Der einzige Ausweg aus dieser Mangelsituation war zumindest für Arbeiter ohne Frau und Kinder - das Wohnen in Kost und Logis, oft bei einem Arbeitskollegen und dessen Familie. U m der dürftigen Freizeitsituation unter beengten Wohnverhältnissen und dem Mangel an geeigneten Gastwirtschaften zu entgehen, gründeten Arbeiter eigene Schankstätten, die, wie überhaupt Wirtshausbesuche und Alkoholkonsum, einen wichtigen Platz in der arbeitsfreien Zeit einnahmen.6 Bedingt durch diese und andere Defizite, verstärkt durch konjunkturelle Schwankungen, bestand unter den neuen Bergleuten eine große Bereitschaft, Arbeitsplatz und Wohnort zu wechseln. Die Dynamik der massenhaften Zuwanderung wurde ergänzt durch eine rege intraregionale Fluktuation, in deren Verlauf Arbeiter von einem Ort zum anderen zogen, auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen oder Verdienstmöglichkeiten häufig die Arbeitsstelle und dabei auch z.T. von Bergarbeit zu anderen Hilfs- und Anlerntätigkeiten etwa auf dem Bau wechselten.7 Diese wenigen Stichworte zur Industrialisierung und zur Lebenssituation von Arbeitern im Ruhrgebiet sollten genügen, um ein Spezifikum der Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert zu illustrieren, das hier stärker als anderswo den Klassenbildungsprozeß und das Verhältnis der Arbeiterschaft zu anderen Gruppen und Klassen der Gesellschaft wie auch zum Staat prägte. Gemeint ist die Instabilität der Lebenslage, weniger im Sinne absoluten Mangels verstanden, sondern als Resultat einer komplexen Mischung äußerer Bedingungen und individueller wie kollektiver Reaktionen und Bewältigungsversuche.8 Hohes Wachstumstempo und defizitäre Urbanisierung, der ruckartige Ubergang vom Landarbeiterleben unter den Bedingungen der ostelbischen Gutswirtschaft in die neuartigen Zwänge, aber auch ungewohnten Freiheiten bergmännischer oder industrieller Arbeit, nationale und konfessionelle Gegensätze, eine zugunsten junger, lediger Männer verzerrte Alters- und Geschlechterverteilung in der Gesellschaft - unter diesen kumulativ wirkenden Belastungen verlief der Klassenbildungsprozeß außerordentlich konfliktträchtig. Klassenspannungen nahmen schon lange vor der Formierung schlagkräftiger Arbeiterorganisationen unversöhnliche Züge an. Aus der Perspektive der lokalen Bürokratie und des Bürgertums verdichteten sich diese Spannungen und Friktionen zu dem Gefühl, daß zentrale 45

in voller Auflösung begriffen seien. Als der Bürgermeister der Stadt Hörde 1874 im Auftrag des »Gemeindeverbandes der Städte und Ämter der Provinz Westfalen« eine Denkschrift zur Lage der Verwaltung in der Region veröffentlichte, geißelte er die »Völlerei«, die »Lust zur Sünde« und die »Demoralisation« der »fluktuierenden Arbeiterbevölkerung« und konstatierte, »daß selbst das moderne Babel, Berlin, noch nicht auf das Niveau der Bestialität herabgesunken ist, wie der westfälische Industriebezirk.« 9 Das Kostgängertum führe zur Auflösung der Familie und wo dies geschehe, »da wuchern auf dem Grabhügel des Familienlebens: die Liederlichkeit, das Wirtshausleben, die Trunksucht und die Streitsucht, und diese Laster fuhren in Verbindung mit der Unkeuschheit und der Untreue zu einer förmlichen Banditenwirthschaft, welche sich des italienischen Dolches, des amerikanischen Revolvers und des westfälischen Todtschlägers zu ihrer Blutarbeit, vorzugsweise auch gern gegen die in unzulänglicher Anzahl vorhandenen und ohne leitende Spitze operierenden Polizei-Exekutivbeamten bedient.«10

In ganz ähnlichen Wendungen empörte sich wenige Jahre später der Bürgermeister der Stadt Oberhausen über die desintegrierenden Folgen des plötzlichen Wachstums: »Die in der Glanzperiode des Gründerthums eingetretene rapide Steigerung der Arbeitslöhne hat die Lage der Arbeiter wahrlich nicht gebessert, vielmehr einen Zustand geschaffen, wie er nothwendig folgen mußte. Bei dem >heidenmäßig vielen Gelde< war es selbstverständlich erwünscht, auch Etwas >drauf gehen zu lassen'in besseren Tagen< gehofft werden sollte.«14

Erschwerend komme hinzu, daß sich die Bürgermeister der beiden größten Städte der Region, Iserlohn und Hagen, als völlig inkompetente Polizeiverwalter erwiesen hätten. So sei der Hagener Bürgermeister »in gänzliche Apathie versunken und der Gegenstand der allgemeinen Verachtung geworden«, während die ihm unterstellten Polizeidiener »dem Trünke ergebene oder sonst erschlaffte und geistig verkommene, theilweise selbst polizeilich sehr verdächtige Subjekte« seien.15 So wie die öffentliche Polizei versage im Landkreis Hagen angesichts des dort vorherrschenden Verlags auch die Kontrolle und Disziplinargewalt des Unternehmers über seine Arbeiter. Konsequenz dieser desolaten Zustände könne nur die Einsetzung staatlicher Polizeidirektoren in Iserlohn und Hagen sowie - für den Fall der Fälle - die Stationierung von Militär sein.16 Die beabsichtigte Verstaatlichung der Polizeifuhrung hätte in den beiden Städten sicherlich eine formale Straffung der Polizei und eine intensivierte Staatsaufsicht über die lokale Arbeiterschaft bedeutet. Trotzdem überwogen auch in diesem Reformvorschlag traditionelle Elemente. So wie sich der Bochumer Landrat und der Berliner Polizeipräsident die Verbesserung der Polizei am ehesten unter Rückgriff auf die ständischen Loyalitäten der Bergleute vorstellen konnten, setzte auch Naumann stark auf außerpolizeiliche Gewalten: im Alltag womöglich auf den Fabrikherren, im Notfall auf's Militär und nur soweit diese nicht hinreichten, sollte der staatliche Polizeidirektor aushelfen. Dieser hätte im übrigen mit dem vorhandenen Personal arbeiten müssen, da eine Verstaatlichung der eigentlichen Exekutive nicht beabsichtig war.17 Weder der Vorschlag der Arnsberger Regierung noch der reduzierte Antrag des Oberpräsidenten in Münster, lediglich einen leitenden staatlichen Polizeibeamten im Industriegebiet zu stationieren, der den möglicherweise staats- und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen der Arbeiterschaft in der Region nachzugehen hätte, wurden realisiert.18 Beide scheiterten an der Finanzierungsfrage, die von nun an zu einem der wichtigsten restriktiven Faktoren eines koordinierten Ausbaus der staatlichen Polizei werden sollte. Nur mühsam gelang es dem Innenministerium bis 185 3 für neunzehn preußische Städte die Verstaatlichung der Polizeifuhrung gegen den zähen Widerstand des Finanzministeriums durchzusetzen. Sechs von ihnen lagen in der Rheinprovinz, darunter Düsseldorf, Elberfeld, Barmen 60

und Krefeld. Aus der Provinz Westfalen war lediglich die Stadt Minden wegen der »demokratischen Elemente« in ihrer Stadtverwaltung vertreten.19 Zusammen mit den zehn größeren Städten, die schon vor 1850 eine staatliche Polizeiverwaltung erhalten hatten, verfugte der Staat damit in den fünfziger Jahren in neunundzwanzig Städten über einen direkten Zugriff auf die Ortspolizei und in einer Stadt, Berlin, unterhielt er eine leistungsfähige Exekutive. In allen anderen Fällen übernahm der Polizeidirektor das Personal von der Kommune, die die Sergeanten, Bürobeamten und Nachtwächter auch weiterhin bezahlen mußte. Nur der eingesetzte Leiter bezog sein Gehalt aus der Staatskasse.20 Um diese Lastenverteilung entwickelte sich schnell ein Dauerkonflikt zwischen der Ministerialbürokratie und den Kommunen, die wenig Verständnis dafür aufbrachten, daß sie eine Polizeibehörde finanzieren sollten, über deren Aktivitäten allein ein eingesetzter Staatskommissar entschied. 1861 wurde der Konflikt durch einen Spruch des Obertribunals gelöst - jedoch nicht im Sinne des Staates. Wollte er die Leitung der städtischen Polizei übernehmen, so das Urteil, wäre der Staat auch zur Finanzierung des gesamten Personals verpflichtet.21 Konsequenz dieser Entscheidung war eine schlagartige Rekommunalisierung fast sämtlicher nach 1850 verstaatlichter Polizeiverwaltungen. Neben den »alten« Direktionen behielten nur Koblenz und Stettin eine staatliche Polizei. Auch die Sicherheitskräfte der oben genannten rheinischen Industriestädte und des ostwestfälischen Minden standen von nun an wieder unter kommunaler Regie - soweit es die Konstruktion der Auftragsverwaltung und die Aufsichts- und Bestätigungsrechte der Landräte und Regierungspräsidenten zuließen.22 Bis 1898 kam es lediglich nach der preußischen Expansion von 1866 zu einer Vermehrung der staatlichen Polizeiverwaltungen. Vor allem die ehemaligen Hauptstädte der neuen Territorien, so z.B. Hannover, Wiesbaden oder Frankfurt am Main, unterstellte man königlich preußischen Polizeidirektoren, während die zuvor staatliche Polizei kleinerer Städte rekommunalisiert wurde.23 Der Uberblick über die Entwicklung der staatlich geleiteten Ortspolizeiverwaltungen zeigt, daß der Impuls des Polizeiverwaltungsgesetzes nach kurzer Zeit versandete. Obwohl lokale und regionale Verwaltungsbeamte wie Naumann in Arnsberg die neuen Spannungen der entstehenden Klassengesellschaft als das Polizeiproblem der Zukunft analysierten, blieb die Polizeipolitik der Berliner Zentrale vorläufig an der seit dem Vormärz dominanten Frontstellung zwischen staatlichem Politikmonopol und bürgerlichen Partizipationsansprüchen orientiert.24 Aus den sich in der 48er Revolution überlappenden politischen und sozialen Konflikten zog man polizeiinstitutionelle Konsequenzen nur in bezug auf die politische Konfliktdimension: Hinckeldeys geheimes Berichtswesen und der Polizeiverein der Bundesstaaten richteten sich gegen mutmaßliche demokratische und republikanische Konspirationen, königliche Polizeidirektoren wurden gegen die »demokratischen 61

Elemente« in den Kommunen, nicht aber gegen die »rohe« Arbeiterbevölkerung der Industrieregionen in Stellung gebracht. Dort vertraute man auf nichtpolizeiliche Kontrollkapazitäten und auf das Militär, falls es zum Äußersten kommen sollte. Das Ergebnis dieser dilatorischen bis desinteressierten Politik war ein schleichender Verfall der ohnehin schwachen Polizeikräfte im westfälischen Industriegebiet. Unter dem Diktat knapper Mittel waren die Kommunen kaum bereit, in den Ausbau der Polizei zu investieren, d.h. neues Personal einzustellen, zumal die prekäre Zwitterstellung der Polizeiverwaltung zwischen staatlichen Hoheitsansprüchen und lokalen Mitspracherechten, kommunaler Verpflichtung, Personal einzustellen und zu finanzieren und staatlichem Recht, die Beamten abzulehnen oder zu bestätigen, kaum dazu angetan war, das Engagement der Lokalverwaltungen und die Ausgabebereitschaft der Stadtverordnetenversammlungen zu stimulieren.35 Schaubild l 26 zeigt für diese Phase in allen Städten eine bestenfalls stagnierende, z.T. aber deutlich fallende Polizeidichte. In keinem Fall wurde eine Rate von 40 Polizeibeamten pro 100.000 Einwohner auf Dauer überschritten. Als Naumann 1848 die Verstaatlichung der Polizei in Iserlohn und Hagen anregte, wiesen diese Städte eine Polizeidichte von 26 bzw. 19 auf.27 In Dortmund fiel die Polizeidichte zwischen 1859 und 1872 von 41 auf 24, die Bochumer Dichteziffer pendelte zwischen 30 und 40 und in Gelsenkirchen erreichte der entsprechende Wert 1888 ein Minimum von 17, was in diesem Fall bedeutete, daß vier Polizeibeamte rund 24.000 Einwohner einer Stadt überwachen sollten, die sich zum Gutteil aus zugewanderten Bergarbeitern zusammensetzten.28 Diese fortwährende Verschlechterung zog sich wenigstens bis zur Mitte der siebziger Jahre, in einigen Fällen bis in die neunziger Jahre hin und war das Resultat rasant steigender Bevölkerungszahlen bei gleichzeitig stagnierender oder nur mäßig zunehmender Polizeistärke. Die Entwicklung der Exekutive hielt mit der sozioökonomischen Umschichtung der Region nicht Schritt. In Dortmund war die Einwohnerschaft in den dreizehn Jahren zwischen 1859 und 1872 um rd. 125% gewachsen, die Zahl der Polizeibeamten aber nur um rd. 33%. In Gelsenkirchen sorgten 1888 wie 1878 gerade vier Beamte für Ordnung, während sich die Bevölkerung inzwischen um 86% vermehrt hatte.29 Die eklatante Schwäche der Ortspolizei wurde zu einem gewissen Teil dadurch ausgeglichen, daß die Zuständigkeitsgrenzen zwischen kommunaler Polizei und Gendarmerie in der Praxis fließender waren, als es die formale Trennung zwischen dem polizeilichen Wirkungskreis des Landrats und dem der Kommunalverwaltung vermuten läßt. Obwohl die Bestrebungen nicht abrissen, die Kommunen zum Ausbau ihrer Polizei zu animieren und ihnen den bequemen und kostenlosen Rückhalt zu entziehen, den der Einsatz von 62

Landgendarmen in den Städten für die Ortspolizei bedeutete, kann davon ausgegangen werden, daß die Gendarmerie die Städte solange in ihre Patrouillenbezirke einschloß, wie sie keine eigenständigen Stadtkreise bildeten.30 Wenn damit die reale Polizeidichte der Gemeinden um einige Punkte höher zu veranschlagen ist, bedeutet dies doch keine nennenswerte Aufbesserung. Wie die Exekutive der Städte wurde nämlich auch die staatliche Gendarmerie von der industriellen Expansion der fünfziger und sechziger Jahre überrollt. Zwischen 1848 und 1869 fiel die Gendarmeriedichte im Regierungsbezirk Arnsberg von 13,5 auf 12,3 Gendarmen pro 100.000 Einwohner, in den Ruhrgebietskreisen sogar von 12,8 auf 9,6, obwohl die Zahl der Gendarmen in diesen 21 Jahren von 74 auf 98 bzw. von 18 auf 26 gestiegen war; die Bevölkerungszunahme hatte die gewachsene Mannschaftsstärke mehr als ausgeglichen.31 Seit den ausgehenden sechziger Jahren wurde die sich unter dem Druck von Zuwanderung, Industrialisierung und Bergrechtsliberalisierung anbahnende Krise der gesellschaftlichen und staatlichen Kontrollinstanzen, die vorzugsweise als Krise der öffentlichen Sicherheit perzipiert wurde, zunehmend zum Gegenstand verwaltungsinterner Erörterungen. Der Umschwung von der praktischen Subsidiarität zum Primat der Polizei bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte deutete sich in diesen Jahren an. Achtzehn Jahre nachdem der Berliner Polizeipräsident und der Bochumer Landrat in den ständisch verfaßten Ruhrbergleuten die idealen Polizeibeamten gesehen hatten, kam es 1866 noch einmal zu einer vergleichbaren Anregung. Im Juni des Jahres erreichte den Arnsberger Regierungspräsidenten ein Schreiben des königlichen Bergmeisters Schmid aus Sprockhövel, der auf drohende Unruhen durch arbeitslose Fabrikarbeiter hinwies und vorschlug: »Da Militair nicht vorhanden ist, die vorhandenen Sicherheitsbeamten aber zum Schutz des Eigenthums nicht ausreichen,... beabsichtige ich aus den Bergleuten meines Reviers ein Sicherheitscorps zu organisieren.«

Schmid bat um die Zustimmung des Regierungspräsidenten und um die Erlaubnis, dem Sicherheitskorps die Rechte exekutiver Polizeibeamten zu übertragen. »Da die Bergleute an sich disciplinirt und nebenbei uniformirt sind, so glaube ich, von diesem Corps direct und indirect großen Nutzen versprechen zu dürfen.«32

Auch das Dortmunder Oberbergamt äußerte sich zustimmend zu einem derartigen Korps, »zu dessen Mitglieder die in der Corporation des Knappschafts-Vereins ohnehin vereinigten Bergleute besonders geeignet erscheinen ...«33 Während die Bergbehörde trotz Bergrechtsliberalisierung an die disziplinierende Kraft ständischer Tradition glaubte, lehnte der Bochumer Landrat den Vorschlag scharf ab. Zwar nahm auch er an, daß durch Werkstillegungen und Massenentlassungen demnächst »Ausschreitungen in großem 64

Maßstabe« zu erwarten wären, und daß die vorhandenen Polizeikräfte auf keinen Fall ausreichten. Im Unterschied zu Schmid und dem Oberbergamt sah der Landrat in den Bergleuten jedoch nicht mehr die korporierten Knappen, sondern die freien Lohnarbeiter: »Schon jetzt haben mehrere Bergwerke ihre Förderung eingestellt und es steht zu befürchten, daß in nächster Zeit noch viele andere, fast die meisten, diesem Beispiel folgen werden.... Tausende von Bergleuten würden alsdann brodlos werden und die Nothwendigkeit eintreten, gegen diese Leute selbst ein Sicherheits-Corps zu errichten. ... Nach meiner Ansicht würde sich die Anstellung von Schutzmannschaften und zwar zur Verstärkimg der vorhandenen Sicherheitsbeamten, der vorhandenen Gendarmen empfehlen und zwar in vier- bis sechsfacher Anzahl der letzteren, mit denen sie die gleichen Rechte und Pflichten haben. Bei der Auswahl der Schutzmannschaften muß vorzugsweise auf Personen gesehen werden, die im stehenden Heere gedient haben und welche das Vertrauen und die allgemeine Achtung der Mitbürger genießen.«34

Der Umschlag von der durch besondere Staatsbindung und ständische Tradition als Polizeireserve prädestinierten Korporation der Bergmänner zur Bergarbeiterschaft als Objekt staatlicher Ordnungsmaßnahmen symbolisiert das endgültige Scheitern der Idee, der öffentlichen Polizeigewalt die integrativen und disziplinierenden Momente ständisch verfaßter Arbeitsbeziehungen zunutze zu machen. Durch die Aufhebung der bergmännischen Privilegien waren die Ruhrbergleute aus Sicht der Polizeibehörden mit dem Fabrikproletariat zu einer einzigen gefährlichen Klasse verschmolzen - ja sie bildeten sogar, wie die nicht enden wollenden Klagen seit dem Einsetzen des großen Booms suggerieren, deren besonders disziplinlosen und gewalttätigen Kern. Der Vorschlag des Bergbeamten Schmid war damit ad acta gelegt. Allerdings kam es auch nicht zu der vom Bochumer Landrat nach dem Muster der Kreisschutzmannschaften von 1848 angeregten Verstärkung der Gendarmerie, so daß der Chef der westfälischen Gendarmeriebrigade drei Jahre später zu einem vernichtenden Urteil über die polizeilichen Verhältnisse in der Industrieregion gelangte. Die Denkschrift des Brigadiers von Franckenberg-Proschlitz aus dem Jahre 1869 dokumentiert, daß die bisherige Polizeipolitik der preußischen Regierung mit ihrem harten Sparkurs, soweit es die exekutiven Mannschaften betraf, und ihrem politikzentrierten Feindbild, das an der Realität sozialer Spannungen in der Industrialisierung vorbeiging, im Ruhrgebiet gescheitert war.35 Aus der Fülle der Details, die der Gendarmeriechef ausbreitet, schält sich im wesentlichen ein fünfschrittiger Argumentationsgang heraus, der den Perspektivwechsel der Polizei hervortreten läßt. Erstens entsprach die räumliche Verteilung der Gendarmeriekräfte in der Provinz seiner Einschätzung nach nicht mehr den Bedürfnissen. Die überproportionale Gendarmeriedichte im ostwestfälischen Regierungsbezirk Minden (15,2 Gendarmen pro 100.000 Einwohner), die ursprünglich durch die während des Pauperismus ausufernde Sozialkriminalität im sterbenden pro65

toindustriellen Gewerbegebiet von Minden-Ravensberg begründet war, sei nach dem Ende der Krise nicht mehr gerechtfertigt. Wie in den agrarischen Kreisen des Regierungsbezirks Münster, der nur eine Gendarmeriedichte von 12,3 aufwies, herrsche im Mindener Bezirk zum Ende der sechziger Jahre weitgehend Ruhe. Demgegenüber reiche die Gendarmeriedichte von 12,3 im Regierungsbezirk Arnsberg mit seiner rasch wachsenden Industrie bei weitem nicht aus. Besonders die Kreise Hagen und Bochum hätten sich zu notorischen Unruheherden entwickelt; der völlig überlastete Gendarm bekomme dort »Tag und Nacht die Stiefel nicht von den Füßen.«36 Zweitens war es die Arbeiterschaft dieser Kreise, die sich fur den Gendarmeriechef als Ordnungs- und Polizeiproblem par excellence erwies. Aufsässig, gewalttätig, bindungslos, zum Gutteil aus Ausländern und der nicht integrierten ländlichen Überschußbevölkerung bestehend, fast jeder mit Messer oder Revolver bewaffnet und zu jeder Art von »Unfug und Uebermuth« bereit - sämtliche Topoi des bürgerlich-bürokratischen Diskurses über die Arbeiterschaft in der Industrieregion finden sich im Franckenbergbericht in zahlreichen Variationen wieder. Dieses Schreckensbild steigerte sich bis zum Gefühl direkter physischer Bedrohung: In nahezu allen Straßen Bochums gäbe es Waffengeschäfte, die fast nur Revolver verkauften; völlig grundlos würden friedliche Bürger angegriffen. Von politischen Gefahren durch die Arbeiterschaft ist an keiner Stelle die Rede.37 Mit der Aufsässigkeit der Arbeiter korrespondiere drittens der Autoritätsverfall der Unternehmer, die nicht bereit seien, bei der Einstellung ihrer Arbeitskräfte auf deren moralische Qualifikation zu sehen, und die nicht in der Lage seien, das Verhalten der Arbeiter während der Arbeit und in der Freizeit zu überwachen und zu steuern. Beispiele funktionierender Fabrikdisziplin im ostwestfälischen Raum hätten im Ruhrgebiet keine Entsprechung.38 Viertens würde unter den Bürgern und bei den Unternehmern der betroffenen Kreise der Ruf nach einer verbesserten Polizei immer lauter. Während die Arbeiterbevölkerung den Sicherheitskräften mit ostentativer Mißachtung oder sogar Auflehnung begegnete, würden sie von den ordentlichen Bürgern unterstützt, z.B. auch durch Fabrikbesitzer, die sie durch billige Wohnungen und andere Vergünstigungen zu binden versuchten. Die Haltung der Gesellschaft zur Polizei erwies sich als klassenmäßig scharf polarisiert.39 Abhilfe aus dieser Krise der öffentlichen Sicherheit sei fünftens nur durch eine Verstärkung der Gendarmerie oder zumindest durch eine Neuverteilung der Kräfte zwischen den ruhigen Agrar- und den brodelnden Industriekreisen zu erwarten. Die städtischen Polizeikräfte seien zwar ebenfalls viel zu schwach, wegen ihrer schlechten Qualität und ihrer im Vergleich zu den Gendarmen geringen Autorität unter den Arbeitern könne man sich von ihrer Vermehrung allerdings nicht viel versprechen.40 Obwohl der Arnsberger Regierungspräsident die Initiative des Gendarmeriebrigadiers lebhaft unterstützte und seiner Ansicht beipflichtete, »daß die 66

gesetzliche Zucht unter einer so zügellosen Fabrikbevölkerung wie wir sie in unseren Industriekreisen besitzen, nur durch Vermehrung der Gendarmerie hergestellt werden kann,«41 drohte auch dieser Plan zur Verbesserung der Polizei zunächst zu scheitern. Selbst als sich die Vermehrungsforderung auf fünf Gendarmen reduziert hatte, die vom Regierungsbezirk Minden in den Regierungsbezirk Arnsberg versetzt werden sollten, leistete die Mindener Behörde so lange hinhaltenden Widerstand gegen diese Verminderung ihrer eigenen Polizeistärke, daß die Versetzung erst nach vier Jahren zustande kam.42 Diese bescheidene Umstrukturierung der Gendarmerie schloß eine Entwicklungsphase der Polizei im westfälischen Industriegebiet ab, die vor allem durch Stagnation, strukturellen Traditionalismus und gescheiterte Innovationsansätze charakterisiert war. Zwar zeichnete sich in der innerbürokratischen Problemperzeption immer mehr ab, daß die Disziplinierung der Industriearbeiterschaft zum überragenden Ordnungsproblem der Region zu werden begann, gleichwohl verhinderten finanzielle Restriktionen, eine auf das »Gespenst des Kommunismus« oder auch der Demokratie fixierte Berliner Zentrale und das anhaltende Vertrauen in die Leistungsfähigkeit informeller Disziplinierungsmechanismen sowie in das Militär eine Modernisierung der Polizei. Daß eine solche Modernisierung möglich war, hatte die Berliner Schutzmannschaft bewiesen. Zugleich zeigte sich in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung aber auch, wie brüchig die außerpolizeilichen Kontrollinstanzen geworden waren; ein Prozeß, der sich exemplarisch in der radikalen Neubewertung der Bergarbeiterschaft niederschlug.

4.2. Dezentrale Modernisierung in den siebziger und achtziger Jahren »Die preußische Polizei ist verbesserungsfähig« - so leitete 1886 der Polizeirat Otto Held seine Darstellung zur Lage der Sicherheitskräfte ein und forderte eindringlich, daß sie in die Lage versetzt werden müßten, »den hohen Anforderungen der Zeit des Dampfes und der Elektrizität, der Paß-, Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit im vollen Umfange zu genügen.«43 Daß sie diesen Anforderung nicht entsprachen, hatten seine Erhebungen zu Genüge bewiesen. Nur in sieben preußischen Städten mit mehr als 25.000 Einwohnern, deren Polizei kommunal verwaltet wurde, existierten besondere Kriminalkommissariate und allein in diesen 37 Städten fehlten nach Heids Berechnungen rund 560 Polizeibeamte, um eine Polizeidichte von etwa 80 zu 100.000 zu erreichen. Nur ein systematischer Ausbau der staatlichen Polizei, zumindest die Verstaatlichung der Ortspolizei in Städten mit mehr als 50.000 67

Einwohnern, sowie der koordinierte und kontrollierte, an verbindlichen Maßstäben orientierte Ausbau der übrigen Ortspolizeiverwaltungen könne hier Abhilfe schaffen.44 Die Forderung nach einer zentral gesteuerten Polizeireform blieb vorerst ohne Echo; gleichwohl gab der Autor mit seiner Warnung ein verbreitetes Unbehagen unter Polizeipraktikern wieder, die immer deutlicher sahen, daß die Entwicklung des Sicherheitsapparates besonders in den industriellen Zentren weit hinter den Anforderungen zurückblieb. Von der Ebene der einzelnen Städte und nicht von der Berliner Zentrale, an deren Initiative Held appelliert hatte, gingen denn auch seit Anfang der siebziger Jahre die ersten zögernden Schritte zur Modernisierung der Ortspolizei aus. Die Gründerhausse hatte in den ersten Jahren nach 18 71 das Entwicklungstempo der westfälischen Industriestädte weiter beschleunigt. Die Bevölkerungszunahme erreichte ihren bisher größten Umfang: Zwischen 1870 und 1875 wuchs die Einwohnerschaft Dortmunds um 46,6%, die der benachbarten Stadt Bochum sogar um 63,4%.45 Sieht man auf das Ausmaß der Bevölkerungsbewegungen insgesamt, wird die Dynamik der Wanderungen und das darin liegende Unruhepotential noch deutlicher. 1873 belief sich die Summe der Zu- und Abzüge in Dortmund auf 40,7% der Stadtbevölkerung und in Bochum wurde ein Jahr später sogar ein Wanderungsvolumen von 48,5% registriert. »Ein großer Teil unserer Bevölkerung gehört noch immer der sg. schwimmenden an, die heute hier und morgen dort ist,« hatte der Bochumer Verwaltungsbericht 1862 angesichts eines Wanderungsvolumens von rund 24% geklagt; wieviel mehr Grund zur Klage gab es zwölf Jahre später bei einer verdoppelten Rate!46 Angesichts dieser rasanten Entwicklung, für die die angeführten Bevölkerungsdaten ja nur ein dürrer Indikator sind, erwies sich die Stagnation der Polizei als ein immer drängenderes Problem. »Die geringste außergewöhnliche Inanspruchnahme,« so urteilte der Verwaltungsbericht 1871 über die Dortmunder Polizei, »kann so zu sagen einen Geschäftsbankerott zur Folge haben.«47 Die wenigen Polizeibeamten waren in jeder Hinsicht überfordert. Die Unruhe auf den Straßen nahm zu, die rege Fluktuation brachte das Meldewesen an seine Leistungsgrenzen, die Zahl der gemeldeten Verbrechen stieg bedrohlich und jenseits der alten Stadtbezirke entstanden neue Siedlungen, die von der vorhandenen Polizei nicht erfaßt wurden. Die notorischen Klagen über die Immoralität, den Sittenverfall und die Brutalität der Arbeiterschaft erreichten in den siebziger und achtziger Jahren einen Höhepunkt.48 Die von lokalen Polizeiführern und Verwaltungsbeamten vorgebrachte Kritik an der kommunalen Polizei konzentrierte sich vor allem auf zwei Aspekte. Einmal monierte man die generelle Schwäche der Exekutive, die sich seit geraumer Zeit in sinkenden oder bestenfalls stagnierenden Werten der Polizeidichte ausdrückte.49 Daneben wurde immer deutlicher, daß das tradi68

tionelle System der Nachtwache den veränderten Bedingungen nicht gewachsen war. Nach der bisherigen Praxis wurden Ruhe und Ordnung in allen preußischen Städten, auch in denen mit staatlicher Polizeiverwaltung, nur tagsüber durch Festangestellte Vollzeitbeamte gesichert; des Nachts übernahmen diese Aufgabe nebenamtliche Wächter, die während des Tages einem anderen Berufnachgingen. Anläßlich der Reorganisation der Hagener Polizei zeichnete der Polizeiinspektor Meyer ein plastisches Bild von der bisherigen Nachtwache, das alle gängigen Klagen über diese Institution zusammenfaßte. Die jetztigen Nachtwächter seien völlig ungeeignet, da ihnen »alle die Eigenschaften fehlen, welche ein Sicherheitsbeamter besitzen muß und ist es namentlich der Mangel an Energie und Disciplin, der sie zu ihrem Amte untauglich macht. In der Mehrzahl dem Handwerkerstande angehörig, sind sie gezwungen, auch tagsüber einem Verdienste nachzugehen, da es ihnen mit dem geringen Einkommen als Nachtwächter nicht möglich ist, ihre Familie zu ernähren. Müde gearbeitet erscheinen sie Abends zum Dienst und glauben dann schon ihre volle Schuldigkeit zu thun, wenn sie die vorgeschriebenen Stunden auf der Straße zubringen.... Die Thatsache, daß von Seiten der Wächter in der Zeit vom 1. October bis zum 1. Februar nur 4 Anzeigen gemacht worden sind ... muß zu der Annahme führen, daß die Wächter überhaupt Vorkommnissefn], durch welche sie zum Einschreiten und zum Heraustreten aus der ihnen eigenen Indolenz veranlaßt werden könnten, geflissentlich aus dem Wege gehen. Daß solche Wächtcr auch nicht die mindeste Garantie für die öffentliche Sicherheit bieten, dürfte nach dem Gesagten wohl eindeutig sein und zu großen Bedenken Veranlassung geben.«50

Beide Aspekte, die zahlenmäßige Schwäche der eigentlichen Exekutive, d.h. der hauptamtlichen Sergeanten, Wachtmeister, Kommissare und Inspektoren, und die fast sprichwörtliche Unfähigkeit der Nachtwache lassen sich zum Gutteil auf die langjährige Weigerung der Stadtverordnetenversammlungen zurückführen, den Polizeietat mit seinem hohen Personalkostenanteil auszuweiten. Diese Sparpolitik ließ sich bisher durchhalten, weil die Gendarmerie auch die kreisangehörigen Städte mit in ihren Tätigkeitsbereich einbezogen hatte.51 Dieser Rückhalt drohte den größeren Städten der Region in den siebziger und achtziger Jahren verlorenzugehen. Zum einen bemühte sich die Gendarmerieführung nämlich verstärkt darum, die vorhandenen Berührungspunkte mit den Ortspolizeiverwaltungen so weit wie möglich zu reduzieren und die Kooperation auf das absolute Minimum zu beschränken. Die bis zur heimlichen Obstruktion ihrer Tätigkeit reichende Abneigung der Ortspolizeibeamten gegen die militaristische Arroganz der Gendarmen und das Selbstverständnis der Gendarmerie als Polizeielite bildeten den Hintergrund eines »fortdauernde [n] Antagonismus der Gendarmen und Polizisten«,52 der nach Ansicht des Chefs der Landgendarmerie die Leistungsfähigkeit des Korps gefährdete. Zudem würde der eher zivile Habitus der kommunalen Polizeibeamten die hochgeschätzten militärischen Standards der Gendarmerie bedrohen: die Ortspolizeibeamten trügen Mütze statt Helm, wür69

den auf der Straße rauchen, nähmen Trinkgelder an, verkehrten in Wirtshäusern und unterstünden allgemein einer weniger strengen Kontrolle, »wie es bei dem Institut der Gendarmerie im Interesse der Disciplin und des militärisch ernsten Dekorums zu Gunsten einer soldatisch schneidigen Executive geschehen muß.«53 In seiner Antwort bestätigte der Innenminister die getrennten Zuständigkeiten von Landgendarmerie und Ortspolizei und unterstrich noch einmal, daß die kommunalen Polizeiverwaltungen kein Recht hätten, die Gendarmen zu städtischen Polizeidiensten heranzuziehen.54 Schon 1875 war anläßlich der Stationierung von zwei Gendarmen in Bochum hervorgehoben worden, daß dies die Stadtverwaltung keinesfalls von ihrer Verpflichtung entbinde, ihre eigene Polizei auszubauen.55 Die von der Gendarmerieführung gewünschte und von den Leitern der Kommunalverwaltungen aus finanziellen Gründen gefürchtete Entflechtung der städtischen und ländlichen Polizei wurde spätestens zu dem Zeitpunkt unvermeidlich, als eine Stadt aus der landrätlichen Aufsicht entlassen wurde und einen selbständigen Stadtkreis bildete, in dem allein die Ortspolizei zuständig war. Die verwaltungsmäßige Verselbständigung der Stadt und der damit verbundenen Verlust der Zugriffsmöglichkeit auf die staatliche Gendarmerie war in den siebziger und achtziger Jahren der letzte Anstoß, um die lange aufgeschobene Reform der Ortspolizei in die Wege zu leiten.56 Mit geringen Abweichungen folgten die Polizeireformen in allen untersuchten Städten einem einheitlichen Muster, das neben einer Verbesserung der behördlichen Infrastruktur durch den Aufbau eines Netzwerks innerstädtischer Polizeibezirke und -reviere vor allem die Neustrukturierung der Exekutivmannschaften vorsah. In Dortmund - einer der Pionierstädte der Region - hatte die Stadtverwaltung 1871 den Versuch unternommen, den Nachtdienst ohne Strukturveränderung allein durch Personalvermehrung und bessere Kontrolle effektiver zu gestalten, mußte aber schon ein Jahr später einsehen, daß das bisherige System zum Scheitern verurteilt war.57 An seine Stelle trat hier wie in anderen Städten eine neue Kategorie von Vollzeitbeamten - die »Schutzmänner« - , die hauptsächlich für den Nachtdienst zuständig sein sollten, bei Bedarf aber auch für Polizeiaufgaben am Tage herangezogen werden konnten. Komplett uniformiert und bewaffnet, mit einem bedarfsdeckenden Gehalt versehen, das Nebentätigkeiten überflüssig machte, sollten die Schutzmänner in Zukunft so effektiv arbeiten, »daß sie im Nachtdienste ganz das sein werden, was die Polizeisergeanten im Tagesdienst sind.«58 Die Schutzmänner waren vollwertige, hauptberufliche Polizeibeamte, die zwar geringer besoldet wurden als die Sergeanten vom Tagdienst, die aber bis auf den nächtlichen Einsatz mit den inkompetenten Nachtwächtern nicht viel gemein hatten. Im Grundsatz galten für sie dieselben Rekrutierungskriterien wie für die Polizeisergeanten und schon zum Zeitpunkt ihrer Gründung war 70

beabsichtigt, die Schutzmänner in Zukunft auch als personelles Reservoir für die übrigen Polizeimannschaften heranzuziehen.59 Die Stadt Dortmund löste die nebenamtliche Nachtwache 1874 auf und formierte ein Schutzleutekorps für den nächtlichen Aufsichtsdienst - ein Jahr bevor die Gemeinde zum selbständigen Stadtkreis erhoben wurde. In Bochum endeten die Tage der alten Nachtwache bereits 1873. Bis die Kommune 1893 Nachtschutzleute einstellte, versahen allerdings die Sergeanten sowohl Tag- als auch Nachtdienst. Die zeitliche Nähe zur Auskreisung - in Bochum im Jahre 1876-ist hier wie in Dortmund unübersehbar. Klarer noch erscheint der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen in Hagen, wo 1887 Polizeireform und Austritt aus dem Landkreis im selben Jahr stattfanden. In Gelsenkirchen und Recklinghausen lag eine größere Spanne zwischen beiden Ereignissen: Gelsenkirchen reformierte seine Polizei im Jahre 1892, erlangte die verwaltungsmäßige Selbständigkeit aber erst 1896, während es von der Ausmusterung der Reckünghausener Nachtwächter im Jahre 1893 bis zur Auskreisung der Stadt im Jahre 1901 acht Jahre dauerte.60 Die Polizeireform eilte dort der verwaltungsrechtlichen Verselbständigung der Stadt voraus. Diese Verschiebung läßt darauf schließen, daß sich die von den Vorläufern erprobte Reform verselbständigte und von den Nachzüglern auch ohne den Druck des drohenden Gendarmerierückzugs übernommen wurde. Dies spricht dafür, daß sich in den siebziger und achtziger Jahren ein neuer Standard der städtischen Polizeiorganisation etablierte, der Schritt für Schritt und weitgehend auf dem Wege horizontaler Imitation die Region diffundierte.61 Die Einführung der Nachtschutzmänner war ein doppelter Modernisierungsschritt. Unter dem Gesichtspunkt der institutionellen Entwicklung der Polizei war die Reform insofern bedeutsam, als das nebenamtliche Element in der Polizeitätigkeit definitiv wegfiel. Die Gründung der Nachtschutzmannschaften war eine wichtige Etappe beim Aufbau eines homogenen Beamtenkorps und damit eine entscheidende Voraussetzung zur Verberuflichung der Polizeiarbeit. Der nächste Schritt, die Verschmelzung von Tag- und Nachtdienst, ließ freilich noch bis zur Jahrhundertwende auf sich warten. Hinsichtlich der Außenwirkung der Polizei bedeutete die Reform des Nachtdienstes, daß die Ordnungsmacht von nun an rund um die Uhr in den Straßen der Stadt präsent war und damit eine empfindliche Kontrollücke geschlossen wurde. Gerade in der Nacht, so wird immer wieder berichtet, kam es zu Ruhestörungen auf der Straße, gegen die nun wirksam eingeschritten werden konnte.62 Zwei Jahre nach Abschaffung der Nachtwache zog der Hagener Polizeiinspektor eine positive Bilanz. Insgesamt herrsche seit Einführung der Schutzleute mehr Ruhe und Ordnung auf der Straße, da diese weit aufmerksamer vorgingen und »namentlich auch mehr Anzeigen über Excesse pp. vorlegen als wie dies seitens der früheren Nachtwächter geschehen ist.« Den 71

vier Anzeigen, die neun Nachtwächter 1886/87 in vier Monaten erstattet hätten, stünden 153 Anzeigen und 71 Arrestierungen in nur drei Monaten des Jahres 1889 durch die sieben Schutzleute gegenüber.63 Die Einfuhrung einer vierundzwanzigstündigen Polizeipräsenz in der Stadt war nicht nur ein qualitativer Sprung nach vorn, sondern zog eine ruckartige Erhöhung der Polizeidichte nach sich. Man könnte argumentieren, daß es sich dabei lediglich um einen definitorischen Scheineffekt handele, da die Schutzleute an die Stelle der Nachtwächter getreten sind, und erstere bei der Ermittlung der Polizeidichte mitgezählt werden, während letztere in diese Rechung nicht eingegangen sind. Würde man die Nachtwächter mitzählen, fiele der Sprung in der Tat weniger spektakulär aus. Gegen ein solches Verfahren spräche aber nicht nur die zeitgenössische Sicht, die stets scharf zwischen den nebenamtlichen Nachtwachen und der Berufspolizei unterschieden hat, sondern auch das genannte Qualitätsargument, das nicht zuletzt durch die Äußerung des Hagener Inspektors bestätigt wird. Wenn die langfristige Analyse der Polizeidichteentwicklung überhaupt stichhaltige Hinweise auf das Ausmaß obrigkeitlicher Präsenz im Alltag der Stadtbevölkerung und die Durchgriffstiefe der Staatsmacht auf den Bürger geben kann, dann nur, wenn man sich auf den harten Kern der Berufspolizei konzentriert und das Umfeld ihrer zahlreichen, aber in jeder Hinsicht unqualifizierten und äußerst leistungsschwachen Hilfskräfte konsequent außen vor läßt. Innerhalb eines Jahres wuchs die Mannschaftsstärke der Exekutive in Bochum um 88% (1872/73), in Dortmund um 158% (1873/74), in Hagen um 82% (1886/87) und in Gelsenkirchen um 80% (1892/93). Entsprechend stieg die Polizeidichte. Den spektakulärsten Zugewinn konnte Dortmund verzeichnen, dessen Polizeidichte seit den ausgehenden fünfziger Jahren kontinuierlich gefallen war und am Vorabend der Reform ein Minimum von 24 Beamten pro 100.000 Einwohner erreicht hatte. Durch die Reform der Exekutive schnellte die Dichteziffer auf einen Wert von über 88; eine Höhe, die erst um die Jahrhundertwende wieder erreicht und überschritten wurde.64 Welche Folgen dieser massive Zuwachs der Sicherheitskräfte für ihre Praxis gegenüber der Arbeiterbevölkerung hatte, deren Wachstum und spezifische Lebensweise diese Veränderungen zum Gutteil motiviert hatten, wird weiter unten zu untersuchen sein. Hier soll zunächst auf eine charakteristische Eigentümlichkeit der Polizeientwicklung hingewiesen werden, die mehr oder weniger ausgeprägt in allen Städten auftrat. Schaubild 1 zeigt in jedem der untersuchten Fälle kurz nach dem plötzlichen, reformbedingten Anstieg einen schnellen Rückgang der Polizeidichte, der besonders ausgeprägt in Bochum und Dortmund, den Reformpionieren der Region, zu beobachten ist. Sieben bis acht Jahre nach Einführung der Schutzmannschaft ist die Polizeidichte in beiden Städten um rund zwanzig Punkte gefallen, um erst von diesem Zeitpunkt an in ein mehr oder weniger kontinuierliches Wachstum 72

einzumünden. Die drei anderen Städte weisen das gleiche Muster auf, wobei die Entwicklung in den beiden Nachzüglerstädten Gelsenkirchen und Recklinghausen insgesamt sprunghafter und weniger kontinuierlich verlief. Der auffällige »Reformbuckel« der Dichtekurve zeigt an, daß die Verwaltungen der betreffenden Städte trotz der Polizeireform zunächst in den statischen, finanzpolitisch restriktiven Denkmustern verharrten, die in den Jahrzehnten zuvor die Stagnation der Polizei verursacht hatten. Während die Bevölkerung der Städte ungebremst zunahm, blieb die Polizeistärke für etliche Jahre auf dem Niveau, das durch den einmaligen Reformakt erreicht worden war. Nach der Reform verfugte beispielsweise die Dortmunder Polizei 1875 über 51 untere Exekutivbeamte. Drei Jahre später reduzierte man ihre Zahl wegen der »mehr oder weniger darniederliegenden Industrie, insbesondere aber [wegen] der allgemeinen finanziellen Verhältnisse« auf 47.65 Bis 1882 hatte sich der Mannschaftsbestand zwar um drei Leute erhöht, erreichte aber noch nicht den Stand von 1875. Während dieser sieben Jahre des Rückgangs oder der Stagnation war die Bevölkerung der Stadt um 22% gewachsen: von rund 58.000 auf über 71.000 Einwohner.66 Die nach der Reform anhaltende Diskontinuität des Polizeiausbaus ist ein deutliches Indiz dafür, daß die Entwicklung der Sicherheitsinfrastruktur der Stadt in diesen Jahren noch nicht auf dem Wege einer gleitenden Anpassung an die Dynamik des Urbanisierungsprozesses verlief. Zwar signalisiert die skizzierte Reform in jedem Fall den »take off« der Polizeimodernisierung. Bis dieser Impuls in anhaltendes Wachstum der Institution überging, bedurfte es allerdings noch einiger Jahre der Anpassung und - wie sich zeigen wird - massiver äußerer Einflüsse.67 Ein den Vorgängen in den größeren Städten vergleichbarer Strukturwandel der Polizeiexekutive blieb in den Kleinstädten und Landkreisen der Region aus. Bis 1889, dem Endpunkt dieses Entwicklungsabschnitts, blieb es hier bei der traditionellen Durchmischung der ortspolizeilichen und landrätlichen Exekutive, allerdings mit einer deutlichen Tendenz zugunsten der Gendarmerie, die sich mehr und mehr zum Rückgrat der ländlichen Polizei entwickelte.68 Auf sie richteten sich die Hoffnungen der Gemeinde- wie der Kreisverwaltungen, wenn es um die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnving im ländlichen Industrierevier ging. Die wachsende Bedeutung der Landgendarmerie gerade im rheinisch-westfälischen Industriegebiet läßt sich vor allem auf den dezentralen, flächigen Charakter der Industrialisierung im Montangebiet zurückführen. Ein Großteil der Zechengründungen erfolgte außerhalb der Verwaltungsgrenzen der Städte in den Landkreisen zwischen Ruhr und Lippe, in der Nähe von Dörfern und Gemeinden, deren Infrastruktur dieser Belastung noch weit weniger als die der Städte gewachsen war. Seit den sechziger Jahren wiederholten sich daher regelmäßig die Anfragen und Appelle an die Bezirksregierungen und das Innenministerium, diesem Umstand 73

Rechnung zu tragen und die Gendarmeriekräfte der Ruhrkohlekreise zu erhöhen. In stereotypen Wendungen diente dabei der Verweis auf die unstete, unruhige, aufsässige und gewalttätige Arbeiterschaft als Begründung. Im Februar 1866 richtete beispielsweise der bekannte Unternehmer W Hammacher aus Barop im Kreis Dortmund eine dringende Petition an den Innenminister, umgehend einen Gendarmen am Ort zu stationieren. »In und in der nächsten Umgegend von Barop sind auf den beiden größten Hüttenwerken, 10 Tiefbauzechen, verschiedenen Koaksfabriken, Mühlen und einer Fabrik für feuerfeste Steine ca. 2700 - 3000 Mannschaften beschäftigt, und nimmt die bei den mehr und mehr sich entwickelnden Industrie-Verhältnissen täglich zu. Unter diesen Mannschaften kommen die blutigsten Raufereien und Schlägereien, wo es an jeder polizeilichen Hülfe fehlt, des häufigsten vor.«69

Dieselbe Argumentation findet sich Anfang der achtziger Jahre in den Verhandlungen um die Vermehrung der Gendarmeriekräfte im Landkreis Bochum, die als typisches Beispiel fur zahlreiche vergleichbare Vorgänge angesehen werden können. Wegen mehrerer Sittlichkeitsverbrechen war die Polizei im Kreis 1882 vorübergehend um neunzehn auswärtige Gendarmen verstärkt worden. Als diese wieder abgezogen werden sollten, forderte der Landrat, die provisorische Vermehrung in eine dauernde umzuwandeln, da nur so die Ordnung aufrechtzuerhalten sei.70 Der westfälische Gendarmeriechef in Münster stimmte dem Antrag zu und ließ in seiner Begründung sehr deutlich erkennen, daß nicht die Verbrechen, die der Anlaß für die vorübergehende Verstärkung gewesen waren, sondern die »exzessiven« Verhaltensformen der Arbeiterschaft das eigentliche polizeiliche Problem des Kreises darstellten: »Der Landkreis Bochum hat nach der letzten Zählung 211.428 Einwohner, größtentheils Arbeiter in den dortigen Industriewerken, darunter Gesindel aus aller Herren Länder;... Das Einschreiten eines [H.i.O.] Gendarmen bei den fast ausnahmslos zu Tumulten ausartenden Belustigungen in den zahlreichen Wirthshäusern und Schänken ist für diesen meistens gefährlich und daher wirkungslos; zu einem regelmäßigen Cooperieren der Gendarmen reicht aber deren Zahl nicht aus. ... Die in dem Landkreise Bochum zur Aushülfe commandierten 19 Gendarmen haben dort so außerordentlich gewirkt, daß momentan absolute Ruhe herrscht und Vagabonden überhaupt nicht mehr getroffen werden.«71

Die Gendarmerie wurde vermehrt, aber auch dieser Schritt trug nicht dazu bei, die polizeilichen Verhältnisse in den unüberschaubaren Landkreisen durchgreifend zu verbessern. Mehr noch als die städtische Polizei steckte die Gendarmerie der ländlichen Industriekreise in dem Dilemma, daß jede Aufstockung des Personals innerhalb kürzester Zeit durch das Bevölkerungswachstum kompensiert und überkompensiert wurde, so daß es zu keiner wirklichen Verdichtung der Polizei kam. Tatsächlich verlief die Zunahme der Gendarmeriedichte umgekehrt pro74

portional zum Wachstum des eingesetzten Personals. Während der Mannschaftsbestand in den Ruhrkohlekreisen zwischen 1848 und 1889 um 228% zunahm, verschlechterte sich die Relation zwischen Einwohnerschaft und Gendarmeriekräften - die Polizeidichte - aufgrund der Bevölkerungsvermehrung um 16%. In den saarländischen Industriekreisen zahlte sich in derselben Spanne eine Aufstockung des Personals um 86% nur in einer vierprozentigen Zunahme der Dichte aus und allein in den statischen Agrarkrisen des Arnsberger Bezirks schlug sich eine Personalvermehrung um 44% in einem Dichtezuwachs von immerhin 16% nieder.72 Allen Anstrengungen zum Trotz wiesen die unruhigen Ruhrgebietskreise bis zum Ende der achtziger Jahre die relativ schwächste Polizeiausstattung von allen Kreisen des Regierungsbezirks Arnsberg auf.73 Eine Gendarmerie, die ihre Position im Wettlauf mit dem Bevölkerungswachstum nur mühsam halten konnte, und die beginnende Modernisierung der städtischen Polizeiexekutive - dies waren die wichtigsten Aspekte der Polizeientwicklung in der Region zwischen der Reichsgründung und dem Streik von 1889. In bezug auf die städtischen Modernisierungsansätze ist hervorzuheben, daß es sich im wesentlichen um eine endogene Entwicklung handelte, die zwar durch die verwaltungsstrukturelle Verselbständigung der Städte und den damit verbundenen Rückzug der Gendarmerie in die Landkreise gestützt und beschleunigt wurde, die aber nicht auf staatliche Direktiven oder gar auf ein zentral koordiniertes Ausbaukonzept zurückzufuhren war. Ähnliche Probleme und horizontaler Erfahrungsaustausch waren bei der Übernahme dieser Reformen durch andere Kommunen weit wichtiger als der Einfluß der staatlichen Polizeiaufsicht.

4.3. Der Polizeiausbau vor und nach der Jahrhundertwende Die Jahre 1889 bis 1892 markieren in der Polizeientwicklung des rheinischwestfälischen Industriegebiets eine scharfe Zäsur. Die in diesen Jahren beginnende Neuorientierung der staatlichen Polizeipolitik leitete eine Phase rascher Expansion und stufenweiser Umstrukturierung der Sicherheitskräfte ein, bei der polizeistrategische Entscheidungen auf der politischen Führungsebene, die Politisierung und Verhärtung der Klassenauseinandersetzungen und die Folgen des sozialstrukturellen Wandels im Industriegebiet die entscheidenden Parameter bildeten und die innerhalb von fünfundzwanzig Jahren zum Aufbau eines regional vernetzten Polizeiapparates führte, der in Preußen in bezug auf Stärke und Qualität nur noch von der Berliner Schutzmannschaft übertroffen wurde. Während der Ausbau der Exekutive bisher vor allem mit der angeblich oder tatsächlich zunehmenden Unruhe 75

und Unordnung in der Arbeiterbevölkerung begründet worden war, erklärt sich die Schubkraft der jetzt einsetzenden Expansions- und Modernisierungswelle aus der Bündelung dreier Motive. Erstens strebten die Berliner Regierung und die regionale Verwaltung in den neunziger Jahren eine Entmilitarisierungund damit Verpolizeilichung der Streikkontrolle an, zweitens wurde die Überwachung und Eindämmung der sozialdemokratischen und nationalpolnischen Arbeiterbewegung immer mehr als exekutivpolizeiliche Aufgabe definiert und drittens behielt das Grundmotiv der repressiven Zivilisierung und Disziplinierung der Arbeiterschaft seine handlungsleitende Bedeutung. Auf den Ausbau der politischen Polizei und die Maßnahmen zur Streikbekämpfung wird weiter unten noch systematisch einzugehen sein; hier soll es zunächst um die chronologische Darstellung der einzelnen Ausbaustadien von Gendarmerie und Ortspolizei gehen, wobei weiterhin die Entwicklung der Polizeidichte als zuverlässigster Indikator eines solchen Längsschnittvergleichs herangezogen wird. Die Feingliederung des Abschnitts folgt den wechselnden Schwerpunkten des gestaffelten Umstrukturierungsprozesses: vom Ausbau der Gendarmerie in den neunziger Jahren über die forcierte Verbesserung der Kommunalpolizei seit der Jahrhundertwende bis hin zur Verstaatlichung der Sicherheitspolizei in Bochum, Gelsenkirchen und Essen im Jahre 1909.

4.3.1. Die Gendarmerieverstärkung

nach 1889

Den Anlaß zur Neubewertung der Polizei und zum umfassenden Ausbau ihrer Exekutive gaben zwei empfindliche Niederlagen, die der preußische Obrigkeitsstaat in seiner Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung einstecken mußte: einmal der Verlauf des großen Bergarbeiterstreiks von 1889 und dann das Scheitern des Sozialistengesetzes im Herbst 1890. Der Bergarbeiterstreik im Mai 1889 war zweifellos eines der innenpolitischen Schlüsselereignisse in der Geschichte des Kaiserreichs. Der spontan ausgebrochene Flächenstreik, an dem sich nach zweiwöchiger Dauer 90.000 von 104.000 Ruhrbergleuten beteiligten und der nach seinem Übergreifen auf die rheinischen, schlesischen und sächsischen Bergbauregionen sowie auf das Saarrevier an die 150.000 Arbeiter erfaßt hatte, wirkte nicht nur als Katalysator bei der Formierung einer schlagkräftigen Bergarbeitergewerkschaft.74 Er gab darüber hinaus den sozialpolitischen Reformansätzen zu Beginn der neunziger Jahre einen wichtigen Anstoß und motivierte - als deren Gegenstück - den massiven Ausbau der Polizei. Die Dialektik von »sozialer Innovation und sozialem Konflikt« galt für beide Seiten: für die sich festigende Arbeiterbewegung wie für das sozialpolitische Engagement und die Repressionskapazitäten des entstehenden Interventionsstaates.75 76

Polizei und Verwaltung wurden vom Ausbruch des Streiks Ende April 1889 und seiner raschen Ausdehnung in den ersten Maiwochen völlig überrascht. Die vorhandenen Polizeikräfte waren bald überfordert und erwiesen sich bei den Rangeleien und Krawallen, die bei ihren Einsätzen zum »Schutz der Arbeitswilligen« unvermeidlich waren, schnell als die Unterlegenen. Wenige Tage nach Streikbeginn griffen die Behörden daher - wie bisher stets in vergleichbaren Situationen - auf militärische Hilfe zurück. Am 5. Mai begann die militärische Besetzung des westfälischen Ruhrgebiets, in das insgesamt zehn Bataillone Infanterie und acht Schwadron Kavallerie verlegt wurden.76 Zwar verfugte die Staatsmacht nun über ausreichende Mittel, um Ausschreitungen gewaltsam zu unterdrücken, die massive Demonstration militärischer Macht stieß in der unübersichtlichen Industrieregion jedoch schnell an ihre Grenzen. Die Infanterie- und Kavallerieverbände hatten kein ausgearbeitetes Konzept zur Unruhebekämpfung, waren unvorbereitet und außerstande, ihre Maßnahmen mit den zivilen Polizeibehörden zu koordinieren. Weder brachten sie ausreichende Ortskenntnis mit, noch konnten die schwerfälligen militärischen Formationen flexibel auf den vielen dezentralen Schauplätzen des Geschehens agieren.77 Stießen diese Trupps mit erregten Arbeitermassen zusammen, stand ihnen zudem kein abgestuftes, situationsbezogenes Repertoire an Eingriffsmitteln zur Verfügung, sondern nur die typisch militärische Alternative: entweder man verhielt sich passiv oder schlug unter Einsatz aller Mittel zu. Das erschütternde Ergebnis dieser systematischen Verengung des Handlungsspielraums auf Seiten der Staatsgewalt ist bekannt. Mit mindestens elf Toten und sechsundzwanzig Schwerverletzten mußte am Ende des Arbeitskampfes »die blutigste Bilanz eines Streiks im Kaiserreich« gezogen werden.78 Schon fünfTage nach Mobilisierung des Militärs und noch bevor der Streik seinen Höhepunkt erreicht hatte, war den Provinzialbehörden bewußt geworden, daß der unflexible Militäreinsatz den neuen Anforderungen der Streiksituation im Revier nicht gerecht wurde. »Das Militair ist nicht im Stand, die bedrohten Zechen zu besetzen,« berichtete der Oberpräsident am 10. Mai nach Berlin und forderte die Entsendung auswärtiger Gendarmen, die - anders als die nur im Verband handlungsfähigen Soldaten - zu dezentralen Einzeleinsätzen in der Lage waren. Bis zum Abbruch des Streiks Anfang Juni wurden so zusätzlich zum Militär und zu den 72 einheimischen 250 Gendarmen aus anderen Teilen Preußens in die Kohlekreise verlegt.79 Noch bevor alle Verstärkungskräfte wieder demobilisiert waren, zog der Generalkommandeur des siebten Armeekorps in Münster und Chef der ins Streikgebiet entsandten Militärverbände in einem Immediatbericht ein vorläufiges Resümee. In scharfer Form griff er die Versäumnisse der Zivilbehörden an und betonte, daß das Militär in Zukunft nicht mehr für das Versagen des zivilen Gewaltapparates einzustehen bereit sei:

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»Es befindet sich dort eine überaus große Arbeitermenge ... auf einem verhältnismäßig kleinen Räume zusammen, und es ist nichts, oder wenigstens nichts von irgendwelcher Bedeutung geschehen oder vorgesehen, um solche Arbeitermengen auch nur einigermaßen in der Hand zu haben und um auch nur einiger Einwirkung auf dieselben sicher zu sein.«

Der recht glimpfliche Ausgang der Bewegung sei »mehr ein glücklicher Zufall, als eine Folge der öffentlichen Sicherheits- und Regierungsmaßregeln«, meinte der Kavalleriegeneral und schloß seinen Bericht mit einer Forderung, die für die nächsten Jahre zum Kredo des Polizeiausbaus werden sollte: »Das aber spreche ich mit Bestimmtheit aus, daß es in der bisherigen Weise nicht fortgehen kann...; ich glaube nur das hervorheben zu müssen, daß ein sehr häufiges und wiederholtes Einschreiten mit dem Militair hier eine sehr bedenkliche Maßregel sein würde, und daß es mir dringend erforderlich erscheint, bei den zu treffenden Einrichtungen als einen wesentlichen Punkt festzuhalten, daß die Aufsichtsbehörden über die so großen Arbeiteranhäufungen wenigstens so viel Gendarmen, Schutzleute oder Polizisten zu ihrer Verfugung haben, daß die Hülfe des Militairs nur in ernsten Fällen und bei wirklich aufrührerischen Bewegungen in Anspruch genommen zu werden braucht.«80

Die Forderung des Generals nach einer Entmilitarisierung der Streikkontrolle stieß in der Zivilverwaltung und bei der Gendarmerieführung auf positive Resonanz. Allen Beteiligten war durch die Ereignisse im Frühjahr klar geworden, daß der spezifisch polizeiliche Zugriff dem massiven Militäreinsatz überlegen war. Vier Argumente waren für diesen Perspektivwechsel ausschlaggebend. Erstens drohte der exzessive militärische Gewalteinsatz gegen unbewaffiiete Zivilisten die Legitimität militärischer Eingriffe im Innern generell in Frage zu stellen. Die Streikforderungen der Bergleute waren nicht unpopulär und selbst die Verwaltungsspitzen glaubten nicht an die Legende von den sozialdemokratischen Aufrührern, die die Bergarbeiter verfuhrt hätten, so daß harsche Militärauftritte zwar von den Zechenherren lebhaft gefordert wurden, ansonsten aber im In- und Ausland auf Kritik stießen.81 Zweitens waren Soldaten zwar im geschlossenen Einsatz unter dem Befehl eines Offiziers recht brauchbar, »aber ihre Verwendbarkeit würde gegen die der Gendarmen sofort sehr zurücktreten, wenn Umstände, die sich nicht vorhersehen lassen, selbständiges Handeln erheischen.«82 Von der Notwendigkeit selbständigen Eingreifens war nach den Erfahrungen von 1889 jedoch auszugehen. Drittens fehlten den Soldaten die persönliche Autorität und die breiter gefächerten Eingriffsmittel der erfahrenen Polizeibeamten. »Ich halte es für zweifelhaft«, urteilte der westfälische Gendarmeriechef im Herbst 1889, »daß es selbst dem tüchtigsten Unteroffizier, ohne gleich zum äußersten zu schreiten, gelingen würde, sich in gleicher Weise [wie der Gendarm, R.J.] Autorität zu verschaffen.«83 Dieses Argument verweist viertens auf das generelle Interesse der Zivilbehörden, sich ein höheres Maß 78

situationsadäquater Flexibilität zu sichern und dem fatalen Automatismus zu entgehen, bei jeder außergewöhnlichen Belastung hoheitliche Befugnisse ans Militär abtreten und sich damit zugleich dessen Handlungsregeln mit ihrem unberechenbaren Potential zur blutigen Eskalation unterwerfen zu müssen.84 Das »überkommene militärische Funktionsverständnis«85 mit seinen rigiden Ehrbegriffen und seinem unnachsichtigen Anspruch auf bedingungslose Unterwerfung geriet in wachsenden Widerspruch zu den Anforderungen, die an die staatliche Ordnungssicherung im Industriegebiet gestellt wurden. 1889 war Militär wie ziviler Verwaltung klar, daß dies nicht der letzte Ausstand der Bergarbeiter gewesen war und daß es nun Sache der Polizeibehörden sein mußte, Kräfte bereitzustellen und Strategien zu entwickeln, die in Zukunft gewährleisteten, daß die repressive Pazifizierung sozialer Konflikte auf einem niedrigeren, dafür aber permanent verfugbaren Gewaltniveau ablief. Mit der Abkehr vom traditionellen Primat militärischer Unruhebekämpfung vollzog sich in den neunziger Jahren ein weiterer grundsätzlicher Modernisierungsschritt in der Polizeientwicklung, nachdem der Vorrang außerpolizeilicher und ständischer Strukturen auf dem Feld alltäglicher Sozialdisziplinierung bereits seit den sechziger Jahren obsolet geworden war.86 Dadurch, daß sich die behördeninternen Debatten nach dem Streik sofort auf die Frage der Modernisierung des staatlichen Repressionsinstrumentariums verengten, blieben nachdenklichere Stimmen unbeachtet, die, wie der Arnsberger Regierungspräsident Ende Juni 1889, auf das disziplinierende Potential der entstehenden Bergarbeitergewerkschaft verwiesen. Eine sofortige massive Aufstockung der Polizei sei nicht erforderlich, da zu erwarten sei, »daß etwaige erneute Arbeitseinstellungen in größerem Umfange doch nicht mit entsprechend umfangreichen Ausschreitungen verbunden sein werden. Die Bergarbeiter erstreben eine Organisation, zugleich in der Absicht, auf dieser Grundlage einer etwaigen Arbeitseinstellung größeren Nachdruck und größere Wirksamkeit zu verschaffen; die organisierten Strikes ... sind aber in der Regel nicht mit Gewaltthätigkeiten verbunden, namentlich nicht in dem ersten Stadium der Bewegung, da der Strikefonds die zum Unterhalten der die Arbeit Einstellenden erforderlichen Geldmittel gewährt.« 87

Diese weitsichtige Einschätzung nahm ein Argument vorweg, das spätestens seit den blutigen Herner Ereignissen von 1899 von den Gewerkschaften immer wieder zur Legitimation ihrer Organisationstätigkeit angeführt wurde, sie hatte jedoch auf die Haltung der Innenbehörden keinerlei Einfluß.88 Die Erörterung der Konsequenzen aus dem Streik kreiste von Anfang an um die staatliche Gendarmerie. Wenn auch die Städte ebenfalls zur Anstellung einer ausreichenden Zahl von Polizeibeamten verpflichtet seien, meinte der Oberpräsident, »so fällt demgegenüber die politische Unsicherheit der städtischen Behörden in das Gewicht, welche mir die Vermehrung der staatlichen 79

Sicherheitsorgane als dringend angezeigt erscheinen lassen.«89 Darin stimmte er mit dem Innenminister überein, der im Juni aus der zurückliegenden Streikbewegung den Schluß gezogen hatte, »daß die Landgendarmerie nach ihrer Organisation in erster Linie geeignet ist, Ausschreitungen leidenschaftlich erregter Bevölkerungsklassen gegen die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu verhindern, im Keime zu ersticken oder an weiterer Verbreitung zu hemmen, sofern den Ruhestörungen sogleich beim Ausbruch eine ausreichende, allseitig richtig geführte und einheitlich geleitete Gendarmerie-Mannschaft gegenübersteht.«90

Die Reorganisation der polizeilichen Streikkontrolle wurde seit dem Sommer 1889 mit Nachdruck betrieben - auch aus der Sorge heraus, im Frühjahr des folgenden Jahres könne erneut ein Massenstreik im Revier aufflammen, der aufgrund des gewachsenen Selbstbewußtseins der Bergleute und ihrer Organisationsfortschritte »zu einer ungleich härteren Konfrontation führen und einen blutigen Militäreinsatz fast unvermeidlich machen würde.«91 Im Oktober war eine Stellenvermehrung für die westfälische Gendarmerie um 54 Mann und einen Offizier beschlossene Sache, und am Ende des folgenden Monats stand das Grundkonzept der zukünftigen Antistreikstrategie fest. Die ständig stationierten Gendarmen sollten danach bei Ausbruch eines Streiks als erste eingreifen und hatten vor allem »Ruhestörungen geringeren Umfangs wirksam zu unterdrücken.« Falls diese Maßnahmen nicht ausreichten, war beabsichtigt, auswärtige Gendarmeriekräfte nach vorab aufgestellten Designationslisten heranzuführen. Diese Verstärkung konnte bei größeren Tumulten zu zwei geschlossenen »Detachements« von jeweils 65 Mann zusammengefaßt werden, die in Bochum und Dortmund stationiert werden sollten. Erst wenn diese Vorkehrungen versagten, sollte das Militär zum Einsatz gelangen.92 Der befürchtete Streik im Frühjahr 1890 blieb aus, ohne daß deshalb die Bemühungen zur Verbesserung der Polizeikräfte zum Stillstand kamen. Seit Mai 1890 überlagerten sich nämlich in den Lageanalysen der Ministerial- und Provinzialbehörden die Sorgen vor einem erneuten Streik mit den aus ihrer Sicht unkalkulierbaren Folgen, die sich aus dem Auslaufen des Sozialistengesetzes zum 30. September des Jahres ergeben mochten. Während der Laufzeit des Ausnahmegesetzes war zwar der politisch-polizeiliche Uberwachungsapparat mit seiner zentralen Leitstelle beim Berliner Polizeipräsidium stark erweitert worden, die polizeiliche Exekutive in der Provinz war von diesen Maßnahmen jedoch weitgehend unberührt geblieben.93 Das Auslaufen des Gesetzes, so der Innenminister in einem Erlaß vom 9. Mai 1890, werde an alle Polizeiorgane und insbesondere an die Gendarmerie erhöhte Anforderungen stellen. Eine Verstärkung sei daher ins Auge zu fassen.94 Obwohl die Sozialdemokratie im westfälischen Montangebiet bisher kaum eine Rolle gespielt hatte, ging der Oberpräsident davon aus, daß eine legalisierte SPD 80

»gerade hier mit erneuter Thatkraft auftreten (wird), um die durch den großen Ausstand hervorgerufene Beunruhigung eines .. Theiles der Arbeiterbevölkerung für sich noch nachhaltiger auszunutzen. Es erscheint mir daher unzweifelhaft, daß eine erhebliche Vermehrung der Executivkräfte zum Herbst des Jahres nothwendig sein wird. Dies gilt in erster Linie von der Gendarmerie.«

Diese sollte um 55 Mann verstärkt werden, wovon 33 Gendarmen allein fur die Kohlekreise des Regierungsbezirks Arnsberg vorgesehen waren.95 Die Prioritätensetzung bei der Gendarmerie wurde von den übrigen preußischen Regionalbehörden geteilt. Angesichts der bevorstehenden Agitationsoffensive der Sozialdemokratie und drohender Streiks sei vor allem die Gendarmerie zu vermehren, meinte etwa der Oberpräsident in Magdeburg, denn auf die kommunalen Polizeibeamten sei kaum Verlaß, »da es ihnen meist an der erforderlichen Energie fehlt und sie überdies auch häufig durch ihre verwandtschaftlichen und sonstigen persönlichen Beziehungen an einem entschiedenen und erfolgversprechenden Handeln gehindert werden.«96 Insgesamt summierten sich die Verstärkungsforderungen aus den Provinzen auf nicht weniger als 370 neue Gendarmeriestellen, die vom Innenminister auf »unbedingt erforderliche« 130 Mann zusammengestrichen wurden.97 Die vor allem finanziell motivierte Kürzung der Anträge verweist auf das seit langem ungelöste Problem der Polizeifinanzierung. Zwar schwebten seit Mitte der achtziger Jahre Verhandlungen darüber, die Städte mit königlichen Polizeiverwaltungen stärker als bisher an den Personalkosten der Ortspolizei zu beteiligen, die die Entscheidung des Obertribunals von 1861 dem Staat aufgebürdet hatte; zu einer Neuverteilung der Polizeilasten war es aber bis 1890 nicht gekommen. Das Reformvorhaben scheiterte an der starren Haltung des Staates, der sich weigerte, den Kommunen mit staatlicher Polizei als Gegenleistung die Verwaltung der sog. »Wohlfahrtspolizei« zu überlassen, d.h. der Baupolizei, der Gesundheits- oder Schulpolizei usw.98 Das Ende des Sozialistengesetzes und der Streik des Jahres 1889 gaben den schleppenden Verhandlungen über die Polizeilastenverteilung eine überraschende Wende. Die Stärkung der staatlich kontrollierten Exekutive hatte plötzlich absoluten Vorrang, auch vor dem bis dahin eifersüchtig verteidigten Anspruch der königlichen Polizeidirektoren auf die »ganze« Polizei. In einer großen Rochade sollte die verbesserte Finanzierung der staatlichen Polizei mit der Verengung ihrer Zuständigkeit auf den Bereich der Sicherheitspolizei und einer gleichzeitigen erheblichen Aufstockung ihres Mannschaftsbestands verbunden werden. Das Polizeikostengesetz vom 20. April 1892 ermöglichte in den Städten mit königlicher Schutzmannschaft die Rekommunalisierung großer Teile der Wohlfahrtspolizei und verpflichtete die Kommunen im Gegenzug zu einem erhöhten Personalkostenbeitrag. Gleichzeitig wurde dort die bislang kommunale Nachtwache abgeschafft und ein vierundzwanzigstündiger Dienst der Schutzmannschaften eingeführt. Zusätzlich sollten die 81

erhofften Mehreinnahmen des Staates dazu genutzt werden, den Mannschaftsbestand der Gendarmerie auszuweiten. Die Einbeziehung der Gendarmerie in die Finanzreform war ursprünglich mit der Absicht einer grundlegenden Neudefinition der Gendarmeriezuständigkeit verknüpft, die die oben dargestellte Fokussierung der Polizeistrategie auf die Landgendarmerie als Kern einer staatlichen Polizei der Industrieregionen konsequent zu Ende dachte. Die Polizeiplaner im Innenministerium beabsichtigten, die seit Gründung der Gendarmerie gültige Beschränkung ihres Wirkungskreises auf die Gemeinden und kleinen Städte der Landkreise aufzuheben und ihr den Einsatz in selbständigen Stadtkreisen zu ermöglichen. Ohne weitere Verstaatlichungsmaßnahmen wäre damit die Ortspolizei in den direkten Einflußbereich der staatlichen Polizeiexekutive geraten." Ein Votum des Innen- und des Finanzministers zur Neuvorlage des Polizeikostengesetzes brachte das Mißtrauen der Staatsverwaltung gegen die kommunale Polizei noch einmal deutlich zum Ausdruck: »Was die Ausdehnung der Wirksamkeit der Landgendarmerie auf die Stadtgemeinden mit städtischer Polizeiverwaltung anlangt, so darf es als notorisch bezeichnet werden, daß die in den mittleren und kleineren Städten vorhandenen Polizei-Executiv-Organe sich meist auf einem sehr niedrigen Niveau befinden und nur geringe Autorität genießen. Die städtischen Polizeidiener... stehen gegen die Gendarmen soweit zurück, daß in Fällen, wo es auf ein energisches Einschreiten ankommt, mit zwei Gendarmen mehr ausgerichtet werden kann, als mit einem halben Dutzend städtischer Polizeidiener. Es hat denn auch die Erfahrung namentlich bei den Streikbewegungen des vorigen und laufenden Jahres ... gezeigt, daß nur mit Hülfe der Landgendarmerie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung in mitderen und kleineren Städten hat gesichert werden können.«100

Um den Einsatz der Gendarmen in den großen Städten zu ermöglichen, ohne das geltende Polizeirecht anzutasten, hatte man im Innenministerium einen interpretatorischen Kunstgriff erwogen, wonach die Funktionen des Oberbürgermeisters der Stadtkreise in landrätliche und ortspolizeiliche aufzuspalten seien; in seiner Eigenschaft als Landrat des Stadtkreises hätte er dann legalen Zugriff auf die Gendarmerie gehabt.101 Diese Konstruktion stieß beim Arnsberger Regierungspräsidenten auf erhebliche Vorbehalte. Vor allem, weil die Gendarmen bei ihrer Unterstellung unter die Oberbürgermeister der Aufsicht durch den politisch zuverlässigen Landrat entzogen wären, aber auch wegen der absehbaren Reibungen zwischen Ortspolizei und Gendarmerie sprach er sich gegen diesen Plan aus.102 Diese Bedenken gewannen schließlich auch im Innenministerium die Oberhand. Man ließ den Plan fallen, denn: »In diesen Stadtkreisen würden, da es an einem über dem Polizeiverwalter stehenden Staatsbeamten, welchem als Civildienstbehörde die Gendarmen zugewiesen werden

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könnten, fehlt, die zur Verwendung kommenden Gendarmen der städtischen Ortspolizeibehörde unterstellt werden müssen.«103

Damit wäre die Gendarmerie aber in Abhängigkeit zu einer Ortspolizei geraten, deren politische Unzuverlässigkeit und mangelnde Qualität die skizzierten Reformpläne wesentlich motiviert hatten. Man beschränkte sich darauf, mit den überschüssigen Mitteln aus dem Polizeikostengesetz von 1892 neue Gendarmen einzustellen, die bevorzugt im Weichbild der selbständigen Industriestädte stationiert werden sollten, um so als Reserve für eventuelle Unruhen zu dienen und einen staatlich kontrollierten Kordon um die Orte mit kommunaler Polizei zu legen.104 Das Innenministerium versprach sich hierdurch einen Gendarmeriezuwachs von rund sechshundert Stellen, von denen mindestens neunundzwanzig dem Arnsberger und einundsiebzig dem benachbarten Düsseldorfer Regierungsbezirk zugewiesen werden sollten.105 Diese hochgespannten Erwartungen wurden schnell enttäuscht. Gerade einhundert zusätzliche Gendarmen konnten durch den neuen Finanzierungsmodus eingestellt werden; zehn von ihnen in der Provinz Westfalen - davon acht im Regierungsbezirk Arnsberg - und einundzwanzig in der Rheinprovinz.106 Obwohl der politische Wille, die Gendarmerie zu einem »semi-militärischen Polizeikorps für die Industriezentren«107 auszubauen, seit 1889 zum entscheidenden Antrieb der staatlichen Polizeireform geworden war, gelang es nicht, diese Absicht in eine grundlegende Neuverteilung der Zuständigkeiten zwischen Staat und Kommune umzusetzen. Ohne eine solche Strukturreform, die insbesondere den Einfluß der staatlichen Polizei auf die Stadtkreise hätte gewährleisten müssen, endete das neue Gendarmeriekonzept jedoch in einer Sackgasse. Zunächst allerdings führten die verschiedenen Verstärkungsmaßnahmen zwischen 1889 und 1892 zu einer schlagartigen Verbesserung der Gendarmeriedichte in den Ruhrkohlekreisen (Vgl. Tab. 2 im Anhang). Die Zahl der Gendarmen pro 100.000 Einwohner stieg in drei Jahren von 11,2 auf 21,9. Damit wiesen die Kreise des Montangebiets erstmals die höchste Gendarmeriedichte des Regierungsbezirks auf, nachdem sie in den zurückliegenden Jahrzehnten mit der relativ schwächsten Polizeiausstattung auskommen mußten. Die Entwicklung der nächsten Jahre zeigt allerdings, daß die hastige Gendarmerievermehrung nach Streik und Sozialistengesetz nicht in eine kontinuierliche Wachstumskurve überging. Wie in den Vorjahren wurde die Gendarmerieentwicklung vom explosiven Bevölkerungswachstum überholt, so daß die Dichteziffer zwischen 1892 und 1898 von 21,9 auf 15,9 sank. Die Entwicklung der Gendarmeriedichte glich damit verblüffend dem Kurvenverlauf der kommunalen Polizeidichte in Bochum oder Dortmund nach den Reformen Mitte der siebziger Jahre. Hier wie dort gelang es wegen des punktuellen Charakters der Innovationen nicht, die Entwicklung der Sicher83

heitskräfte in Gleichklang mit der Dynamik der Bevölkerungsbewegung zu bringen. Erst um die Jahrhundertwende scheint sich der Verdichtungsprozeß zu verstetigen. Bis 1908 stieg die Gendarmeriedichte in den Ruhrkreisen immerhin auf 24,4. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings ein strukturelles Dilemma der Gendarmerie im schwerindustriellen Ballungsraum des Ruhrgebiets erkennbar. Die Zunahme der Gendarmeriedichte um 53%, die zwischen 1898 und 1908 in der Kohleregion zu verbuchen war, ging mit einer Mannschaftsvermehrung von bloß 46% einher.108 Das scheinbare Paradox erklärt sich aus dem Sinken der zweiten Bezugsgröße der Dichteziffer, der Bevölkerung in den Landkreisen. 1871 war das gesamte westfälische Ruhrgebiet noch in vier Landkreise - Bochum, Dortmund, Hamm und Recklinghausen - unterteilt. Selbständige Städte gab es nicht. Im Jahre 1890 wohnten noch 82,4% der Bevölkerung dieses Gebiets in Landkreisen, 1895 waren es 82,5%. Seit der Jahrhundertwende forderte der Urbanisierungsprozeß allerdings immer deutlicher seinen Tribut. 1900 lebten nur noch 78,0% der westfälischen Ruhrgebietsbevölkerung unter der Verwaltungshoheit der Landräte, 1905 waren es 63,5% und 1910 gerade noch 57,7%.109 Durch Ausweisungen und Eingemeindungen verloren die Landkreise des Industriegebiets seitMitte der neunziger Jahre immer mehr Einwohner an die selbständigen Städte, die damit dem Zugriff der Landgendarmerie entzogen waren. Allen Versuchen der staatlichen Behörden zum Trotz, dem Urbanisierungsprozeß im Ruhrgebiet die rechtliche Anerkennung zu verweigern, und Orte mit einer Einwohnerzahl von etlichen zehntausend auf der gemeinderechtlichen Stufe eines Dorfes und damit unter der Kontrolle des Landrats zu halten,110 expandierten die Stadtkreise und schrumpfte der Zuständigkeitsbereich des Landrats und der Gendarmerie. Berücksichtigt man diesen strukturellen Wandel, erscheinen die Wachstumsraten der Gendarmeriedichte vor und nach der Jahrhundertwende in einem anderen Licht. Nur in der Periode von 1889 bis 1892 waren sie Resultat einer massiven Vermehrung der Mannschaften; seit der Jahrhundertwende reflektieren die steigenden Raten vor allem den Verdichtungseffekt beschleunigter Urbanisierung. Durch die Auskreisungen wurden die Gendarmen auf einer immer kleineren Fläche mit - im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der Region - sinkender Einwohnerzahl zusammengedrängt. Entsprechend wuchs die Bedeutung der kommunalen Ortspolizei, in deren Zuständigkeitsbereich ein immer größerer Teil der Ruhrgebietsbevölkerung geriet. Ohne die Auskreisungen wäre die Gendarmeriedichte in den Kohlegebieten bei gegebenem Mannschaftsbestand seit 1898 kaum mehr gestiegen und hätte recht exakt auf dem sehr moderaten Wachstumspfad der saarländischen Industriekreise gelegen. Um unter diesen hypothetischen Bedingungen die gegebenen Dichteziffern zu erreichen, hätten 1904 einhundertzwanzig und 1913 einhundertdreiundachtzig zusätz84

liehe Gendarmen in den westfälischen Ruhrkreisen eingesetzt werden müssen. Diese finanziell nicht unbedeutende Last lag nun bei der kommunalen Polizei. Als vorläufiges Fazit läßt sich festhalten, daß das gendarmeriezentrierte Polizeikonzept für die Industrieregion, das nach 1889 mit soviel Elan entworfen und umgesetzt wurde, bereits zehn Jahre später gescheitert war. Die Urbanisierung hatte ihm buchstäblich den Boden entzogen.

4.3.2. Der koordinierte Ausbau der kommunalen Polizei Obwohl die zentral gesteuerte Polizeiverstärkung der Jahre 1889 bis 1892 den Akzent auf die Gendarmerie setzte, ließen die staatlichen Planer die kommunalen Polizeiverwaltungen nicht völlig außer acht. Deren Entwicklungsstand lag zum Zeitpunkt des Bergarbeiterstreiks in der überwiegenden Zahl der Fälle noch auf dem niedrigen Niveau, das schon vor dem Einsetzen der Industrialisierung geherrscht hatte. Die oben umrissene Reform der Ortspolizei mit ihrer Teilhomogenisierung des Unterbeamtenkorps und der damit verbunden Aufstockung der Mannschaften war im Jahre 1889 über die drei Stadtkreise des Regierungsbezirks Arnsberg nicht hinausgekommen. Nur in diesen Städten hatte die Ortspolizei sowohl in bezug auf ihre innere Organisation als auch in Hinblick auf den Umfang ihrer Exekutive in etwa Anschluß an die Entwicklung der königlichen Schutzmannschaften in den Provinzstädten außerhalb Berlins gehalten. Die Polizeidichte pro 100.000 Einwohner lag im Streikjahr in Bochum (80,9), Dortmund (76,4) und Hagen (60,4) ungefähr in derselben Größenordnung wie in vergleichbaren Städten mit staatlichen Schutzmannschaften.111 Ganz anders sah es in den umliegenden Landkreisen und kleineren Städten aus. Mit einer durchschnittlichen Polizeidichte von 29,1 Exekutivbeamten pro 100.000 Einwohner waren die kommunalen Sicherheitskräfte der Landkreise des Kohlengebiets nur unwesentlich stärker als in den saarländischen Industriekreisen (26,8) und sogar schwächer als in den friedlichen agrarischen Kreisen (32,5) im östlichen und südöstlichen Teil des Regierungsbezirks.112 Bei den Exekutivbeamten der Landstädte und Ämter handelte es sich überwiegend um Polizeidiener oder -Sergeanten, als deren direkter und einziger Vorgesetzter der Ortsbürgermeister oder Amtmann fungierte. Nur in den seltensten Fällen war es schon zu einer internen Hierarchisierung gekommen, wie sie in den größeren Städten längst üblich war, wo ein Polizeiinspektor die Exekutive leitete, dem einige Kommissare und Wachtmeister zur Seite standen. 1889/90 war rund die Hälfte aller mittleren und höheren Polizeibeamten des Bezirks in den drei genannten Städten angestellt. Von den übrigen zweiundzwanzig Inspektoren, Kommissaren und Wachtmeistern entfielen vierzehn auf die Ruhrkreise, 85

fünf auf die sauerländischen Industriekreise und drei auf die landwirtschaftlich geprägten. Mit einer Vorgesetzten-Mannschaften-Relation von 1:17 lagen die Bergbaukreise zwar deutlich vor den beiden anderen Kreisgruppen, die bloß auf 1:21 bzw. 1:29 kamen, erreichten aber bei weitem nicht das Niveau der Stadtkreise, in denen durchschnittlich ein leitender fünf untere Exekutivbeamte beaufsichtigte.113 Nachdem sich die Erregung der Streikwochen gelegt hatte und die Reorganisationsplanung für die Gendarmerie in Gang kam, forderte der Innenminister auch eine Bestandsaufnahme der lokalen Polizeikräfte. Anders als die Provinzialbehörden, die die politische Unzuverlässigkeit der örtlichen Polizeiverwalter hervorhoben, wollte die Berliner Zentrale das Potential der Kommunalpolizei nicht unberücksichtigt lassen, ohne daß damit allerdings der Primat der Gendarmerie in Frage gestellt worden wäre.114 Eine erste Uberprüfung führte zu dem Ergebnis, daß die Exekutive der größeren Städte ihren Anforderungen gewachsen war und dort lediglich die politische Polizei verbessert werden müßte, wohingegen in den kleineren Städten z.T. erhebliche Mängel vorlagen. So seien beispielsweise die über 15.000 Einwohner der Stadt Hörde, die nach Einschätzung des Regierungspräsidenten zum größten Teil aus den »niedrigsten Schichten der Bevölkerung [stammen] und Gewaltthätigkeiten und Excessen zuneigen«, durch die zehn vorhandenen, zum Teil unbrauchbaren Polizeibeamten bei weitem nicht ausreichend überwacht.115 Nach Prüfung der Einzelfälle forderte die Bezirksregierung die Kommunen mit sehr schwacher Polizei zur Vermehrung ihrer Kräfte auf. Der Widerstand der Städte war erheblich. In Hattingen und Witten sperrten sich die örtlichen Behörden gegen eine Vermehrung des Personals und forderten statt dessen um Kosten zu vermeiden - die Stationierung von Gendarmen. Bis Mitte 1890 hatten nur zwei Städte eine geringfügige Stellenvermehrung klaglos akzeptiert. In Hattingen, Hörde, Schwelm und Gevelsberg mußte der Regierungspräsident Zwangsetatisierungsverfahren einleiten, bzw. damit drohen.116 Viel war mit diesen Einzelmaßnahmen nicht gewonnen, denn schon wenige Tage nach dieser ersten Bilanz insistierte der Innenminister, jetzt vor dem Hintergrund des drohenden Endes des Sozialistengesetzes, auf eine erneute Uberprüfung der örtlichen Polizei. Es sei neben der Verbesserung der Gendarmerie darauf zu achten, »daß in den Gegenden mit ausgedehnten Industrien und insbesondere in den größeren Städten auch die den Polizei-Verwaltungen zu Geboten stehenden, von den Gemeinden zu besoldenden Polizei-Executivbeamten, sowohl in bezug auf die Zahl wie auch in bezug auf die Fähigkeiten und die Ausrüstung den ihnen zufallenden Aufgaben vollständig gewachsen sind.« 117

Insgesamt hielt der Regierungspräsident eine weitere Personalvermehrung von 70 Beamten für erforderlich. Dies wäre bei einem Gesamtbestand von 496 Exekutivbeamten im Sommer 1890 ein Zuwachs von rd. 14% gewesen. 86

Innerhalb der folgenden drei Jahre führte das kommunalpolizeiliche Verstärkungsprogramm freilich nur zu einer Aufstockung der lokalen Kräfte um 49 Mann, was rund 10% des Ausgangsbestandes entsprach - dann verebbte die Kampagne.118 Ihr Auslaufen dürfte einmal auf die anhaltenden Widerstände der Kommunen zurückzuführen sein, die die staatlichen Aufsichtsbehörden von Fall zu Fall zu Zugeständnissen und Abstrichen zwangen. So im Fall der Stadt Hattingen, wo die Bezirksregierung von der zwangsweisen Einsetzung eines Wachtmeisters absah, da zu befürchten sei, »daß ein erneutes Zwangsetatisierungsverfahren beziehungsweise die desfallsigen Verhandlungen in den städtischen Körperschaften eine weitere Stärkung der Fortschrittspartei in Hattingen zur Folge haben würden.«119 Ebenso wichtig war der begrenzte Ansatz des Programms, das eine einmalige Überprüfung und Verbesserung, nicht aber die kontinuierliche Vermehrung der Exekutive beabsichtigte. Die städtische Polizei spielte in den Überlegungen der staatlichen Aufsichtsorgane nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Diese Gewichtsverteilung wurde selbst dadurch nicht beeinflußt, daß sich die Gefahrenperzeption der Provinzialbehörden und auch die Aufgabenzuweisung an die kommunale Polizei mittlerweile stark politisiert hatten. Während beispielsweise der Regierungspräsident die Stadt Siegen wegen der »Unordnungen und Mißstände auf den Straßen« zur Einstellung zweier zusätzlicher Polizeisergeanten zwingen wollte, folgte der Oberpräsident der Weigerung des städtischen Magistrats, »da der Stand der sozialdemokratischen Bewegung in der Stadt Siegen und deren Umgegend besondere Maßregeln in der fraglichen Richtung nicht erheischt.«120 Der Umschwung setzte 1898 ein. Zwar läßt sich nicht nachweisen, daß die im Zuge des Urbanisierungsprozesses drohende Marginalisierung der Gendarmerie bei der jetzt einsetzenden Neubewertung der städtischen Polizei eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat, gleichwohl kann vor dem Hintergrund der internen Debatten nach der Jahrhundertwende davon ausgegangen werden, daß die polizeistrategischen Folgen des strukturellen Wandels im Revier den Polizeiplanern in Arnsberg, Münster und Berlin nicht entgangen waren. Um die Jahrhundertwende begann ein zentral koordinierter und auf Dauer angelegter, an verbindlichen, dem mutmaßlichen Unruhepotential der Orte angepaßten Maßstäben orientierter Ausbau der polizeilichen Exekutive. Erstmals begnügte man sich nicht mit der einmaligen Vermehrung der Mannschaften, sondern forderte ihre gleitende Anpassung an die Bevölkerungsentwicklung. Den Auftakt zur Reform bildete ein Erlaß des Innenministers vom 12.8.1898, der einige ungenannte Fälle der letzten Zeit, in denen städtische Polizeikräfte bei Tumulten Militärhilfe erbitten mußten, zum Anlaß nahm, auf eine durchgreifende Verbesserung der kommunal verwalteten Polizei zu drängen. Es sei nicht länger zu tolerieren, daß es Großstädte von über 50.000 Ein87

wohner mit einer Polizeidichte von 30-55 Mann pro 100.000 gäbe. Bei der Überprüfung der vorhandenen Kräfte habe der Regierungspräsident vor allem auf diejenigen Orte zu achten, »in denen sich insbesondere in Folge der steigenden Entwicklung der Industrie, des Handels, des Bergbaus usw. größere Arbeitermassen angesammelt haben, die zu Ausschreitungen neigen und meist auch der Agitation unlauterer Elemente ausgesetzt sind.«121

Ein Jahr nach diesem Erlaß trafen Vertreter des Innenministeriums und der Mittelbehörden in Dortmund zu einer Konferenz zusammen, auf der die bisherigen Erfahrungen und die Berliner Forderungen in verbindliche »Grundsätze ... über die Regelung des Polizei- und Gendarmeriewesens in den industriellen Bezirken« umgesetzt wurden.122 Diese »Grundsätze« leiteten die eigentliche Wende ein. Zunächst schrieb man Richtgrößen für die Stärke der kommunalen Polizei fest. In Stadtkreisen durfte danach eine Polizeidichte von 83 Mann pro 100.000 Einwohner nicht unterschritten werden, in kreisangehörigen Städten galt eine Marge von 66-83, während in den nichtstädtischen Landgemeinden eine Dichte von durchschnittlich 50 angestrebt wurde. Bei der Ermittlung der Polizeidichte waren die leitenden Exekutivbeamten ebenso wie die nebenamtlichen Hilfskräfte - die Nachtwächter, Feldhüter etc. - außer acht zu lassen; eine klare Bestätigung des Prinzips der Berufspolizei, das sich in den größeren Städten der Region längst durchgesetzt hatte. Um die Qualität der Exekutive zu erhöhen, sollten untaugliche Beamte in einer verlängerten Probezeit ausgesondert und geeignete Kandidaten durch eine einheitliche Minimalbesoldung angeworben werden. Als niedrigste Eingangsbesoldung der Unterbeamten legte die Konferenz einen Jahresbetrag von 1100 Mark fest, der im dreijährigen Rhythmus um jeweils 100 Mark auf maximal 1600 Mark steigen sollte. Unerwünscht wäre es allerdings, so die Reformgrundsätze, wenn die Besoldung der Kommunalpolizeibeamten die der Gendarmerie überstiege. Ein derartiges Gefalle hätte höchst unliebsame Wanderungsbewegungen zwischen den Polizeiformationen auslösen können. Hinsichtlich der inneren Organisation der Ortspolizei bestimmte die Konferenz, daß die Kommunen in ausreichender Zahl Kommissare anstellen sollten, die sich auf den eigentlichen Sicherheitsdienst zu konzentrieren hätten und von Büroarbeiten durch besondere Beamte zu entlasten seien. Die Leistungsfähigkeit der mittleren Ränge solle zudem durch Ausbildungskurse für Polizeikommissare verbessert werden. Im Vergleich zu diesem umfassenden Reformkatalog nehmen sich die beschlossenen Maßnahmen zur Optimierung der Gendarmerie eher bescheiden aus. Für diese sollte »in den Bezirken mit überwiegender industrieller Arbeiterbevölkerung« eine Dichteziffer von rd. 28 Gendarmen pro 100.000 Einwohner gelten und bei Bedarf die Bildung von Doppelpatrouillen erfol88

gen.123 Das Mobilisierungsverfahren fur Streikeinsätze wurde flexibilisiert und die geschlossenen »Detachements« auswärtiger Gendarmen, die bei großen Streiks eingreifen sollten, aufgelöst. Völlig neu war der Vorschlag, die Gendarmen zu kasernieren, wenn mindestens vier von ihnen an einem Ort stationiert waren. Dieser Plan brachte ein bisher fremdes Element in die Organisationsgrundsätze der preußischen Polizei, die durchgängig -sieht man von den Detachements bei Streikeinsätzen ab - vom Prinzip des Einzeldienstes geprägt waren. Obwohl die Anregung der Kasernierung niemals in die Praxis umgesetzt wurde, wirft der Vorschlag ein bezeichnendes Licht auf die zunehmende Lager- und Belagerungsmentalität, die sich unter den Polizeiplanern ausbreitete, die sich an den Gedanken zu gewöhnen begannen, daß soziale Konflikte mit kasernierten Verbänden auszutragen wären. Andererseits illustriert er den Weg, auf dem der Rückzug der Armee aus der Unruhebekämpfung angestrebt wurde: durch eine Militarisierung der Polizei, insbesondere der Gendarmerie.124 Mit den »Grundsätzen« vom August 1899 wurde das seit 1808 gültige Prinzip der Staatlichkeit der Polizei erstmals breitflächig in operative Politik umgesetzt. Zwar war es auch in der Vergangenheit schon zu staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen Kommunen gekommen, die sich beharrlich weigerten, ihre Polizeikräfte auszubauen,125 und die Verstärkungskampagne von 1889/90 hatte die Durchsetzungschancen einer zentral gesteuerten Aufbesserung der Polizei erprobt. Trotzdem signalisierten die Dortmunder Beschlüsse einen qualitativen Sprung. Mit ihren verbindlichen Richtgrößen zur Polizeidichte, ihren Vorgaben für die Beamtenbesoldung und ihren Anweisungen zur Verbesserung der Beamtenqualität erhoben die »Grundsätze« den Ausbau der Ordnungskräfte ungeachtet der gemeinderechtlichen Prärogative in der Polizeiverfassung, insbesondere ungeachtet des Budgetrechts der Stadtverordneten- und Amtsversammlungen, zu einer Angelegenheit staatlicher Planung. Erst seit der Jahrhundertwende läßt sich mit einigem Recht von einer einheitlichen staatlichen Polizeipolitik im Industriegebiet sprechen. Der Arnsberger Regierungspräsident trug den Gemeinden die Umsetzung der Beschlüsse auf und verpflichtete die Landräte, die Dichtevorgaben notfalls zwangsweise durchzusetzen. Schließlich komplettierte der Regierungspräsident die »Grundsätze« durch eine zukunftsweisende Gleitklausel: »Für die Zukunft ist darüber zu wachen, daß die Vermehrung der Polizeikräfte mit der Zunahme der Bevölkerung in den in Betracht kommenden Gemeinden und Ämtern gleichen Schritt hält. Es ist deshalb alljährlich - und zwar auch für die Städte eine Prüfung der Sache in dieser Richtung von Ihnen vorzunehmen.«120

Erst dieser Passus verlieh der Polizeireform dauernde Wirkung, denn er gewährleistete, daß eine einmal beschlossene Personalvermehrung nicht schon wenige Jahre später durch das rasche Bevölkerungswachstum der 89

Industriestädte kompensiert wurde. Die permanente Berichtspflicht der Städte und Kreise verschaffte der Regierung einen kontinuierlichen Überblick über den Stand der Polizei. Seit dem Jahre 1900 wurde beim Regierungspräsidenten in Arnsberg eine jährliche tabellarische Nachweisung der Polizeikräfte der Gemeinden erstellt, die neben Stärke und Besoldung der einzelnen Ränge der Exekutive die Einwohnerzahl sowie die Zahl der am Ort wohnenden und arbeitenden Fabrik- und Bergarbeiter verzeichnete. Der Umfang der lokalen Arbeiterklasse wurde als der entscheidende Indikator für das Unruhepotential der jeweiligen Stadt angesehen, an dem sich die Polizeidichte zu orientieren hatte - bei Bedarf auch über den in den »Grundsätzen« abgesteckten Rahmen hinaus.127 In jedem Fall sollten die Polizeikräfte zukünftig ausreichen, um in den Orten des Industriereviers eine ununterbrochene, vierundzwanzigstündige Überwachung der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Wie der Regierungspräsident hervorhob, lag in der Verbesserung der alltäglichen Kontrollkapazitäten der Ortspolizei neben der prophylaktischen Verstärkung der Sicherheitskräfte für den Fall von Unruhen und Streiks das Hauptanliegen der Polizeireform seit der Jahrhundertwende: »Gerade der mangelnde Patrouillen- und Nachtwachdienst gibt.. fast überall in den Industriegemeinden zu häufigen Beschwerden Anlaß, und es muß m.E. in allen größeren Industriegemeinden eine Vermehrung der Polizeibeamten insoweit bewirkt werden, daß die regelmäßige Durchführung jenes Dienstes ermöglicht wird.«128

Schon im März 1902 berichtete die Arnsberger Regierung optimistisch, daß »die Reform in der Hauptsache nunmehr als durchgeführt anzusehen« sei. Wohl habe man einigen Gemeinden aufgrund ihrer knappen finanziellen Mittel verlängerte Fristen einräumen müssen, im Großen und Ganzen sei das Ziel der Grundsätze jedoch erreicht.129 Die hier vorsichtig angedeuteten Finanzierungsprobleme stellten tatsächlich in einigen Städten ein gravierendes Hindernis dar. In Gelsenkirchen waren die Probleme derart offensichtlich, daß auch die Arnsberger Polizeiabteilung die Aussichtslosigkeit möglicher Zwangsmaßnahmen einsah. Durch Eingemeindungen war die Stadt im April 1903 von einem Tag auf den anderen von rund 37.000 auf über 133.000 Einwohner gewachsen. Mit einer Polizeistärke von einem Inspektor, sieben Kommissaren und neunzig unteren Exekutivbeamten verfehlte die örtliche Polizei das festgesetzte Soll um dreiundvierzig Mann. Um die Kommune nicht finanziell zu überlasten, gestand ihr die Regierung eine Übergangsphase von zehn Jahren zu, innerhalb derer die Vorgaben erfiillt werden sollten.130 Auch wenn Städte den umgehenden Vollzug der oktroyierten Polizeireform meldeten, bedeutete dies nicht in jedem Fall, daß die Exekutive vermehrt worden war. Einige Kommunen verstanden es nämlich, den Forderungen der Regierung pro forma nachzukommen, ohne ihre Mannschaften wirklich zu 90

verstärken. So wurden 1905 in Bochum sieben Büroassistentenstellen in Polizeisergeantenstellen umgewidmet, deren Inhaber »für den Bureau-und nötigenfalls auch für den Außendienst« herangezogen werden sollten.131 Schon ein Jahr zuvor hatte der Hagener Polizeiinspektor dem Oberbürgermeister vorgeschlagen, an Stelle ziviler Bürobeamter in den Bezirksbüros uniformierte »Schreibsergeanten« einzusetzen. Dieses Revirement hätte den besonderen Vorzug, »daß dadurch die Zahl der uniformierten Polizeibeamten vermehrt wird, ohne daß erhebliche Mehrkosten entstehen.«132 Statt die Zahl der Exekutivbeamten im Außendienst erhöhte man die Zahl der Uniformträger in den Büros und unterlief damit die Intentionen der staatlichen Verstärkungsbewegung. Selbst wenn man unterstellt, daß noch andere Ortspolizeiverwaltungen auf diesen kostensparenden Etikettenschwindel verfielen, steht der Erfolg der zentralen Polizeireform außer Frage. In den Stadtkreisen des westfälischen Ruhrreviers stieg die durchschnittliche Polizeidichte pro 100.000 Einwohner von 76,5 im Jahr 1889 auf 95,8 im Jahr 1904 und 102,6 im Jahr 1913. In den Landkreisen der Region lag die Dichteziffer der Kommunalpolizei in diesen Jahren bei 29,1, 52,9 und 53,7; dort ist allerdings zusätzlich die staatliche Gendarmerie zu berücksichtigen.133 Schaubild 1 zeigt, wie die früher breit gefächerten Dichtekurven der fünf Orte seit der Jahrhundertwende mit geringer Schwankungsbreite um eine Polizeidichte von 100 Beamte pro 100.000 Einwohner pendeln. Die staatlichen Richtlinien hatten die disparaten Entwicklungspfade der einzelnen Städte vereinheitlicht und die gleitende Anpassung der Mannschaftsstärke an das Bevölkerungswachstum brachte eine bisher unbekannte Kontinuität in die Polizeientwicklung. Der zentral koordinierte Polizeiausbau nach 1899 schuf erstmals seit Beginn der Industrialisierung und Verstädterung der Region die Voraussetzungen für eine systematische, flächendeckende und kontinuierliche Anpassung der öffentlichen Sankdons- und Kontrollkapazitäten an die Eigendynamik des sozialstrukturellen Wandels - zumindest soweit sich diese Kapazitäten in Stärke- und Dichteziffern messen lassen.

4.3.3. Die Verstaatlichung der Polizei in Bochum, Gelsenkirchen und Essen

Mit ihrem Schwenk von der Landgendarmerie zur städtischen Polizei zogen die staatlichen Polizeiplaner die Konsequenz aus der rapiden Urbanisierung in der einst ländlichen Region. Die Akzentverlagerung auf die städtische Polizei aktualisierte freilich ein Problem, dem die Regional- und Zentralbehörden 1889/90 mit ihrem Gendarmeriekonzept zu entgehen glaubten: Je mehr sich die Polizeimacht in den Städten konzentrierte, desto mehr entglitt 91

sie der unmittelbaren staatlichen Führung und Kontrolle und geriet in wachsende Abhängigkeit von lokalen Interessen und Prioritätensetzungen. Solange der Etat der Polizei von gewählten Stadtverordneten beschlossen wurde und ihre Leitung in den Händen selbstbewußter Oberbürgermeister lag, die sich mehr als Repräsentanten der Stadt als des Staates verstanden, solange konnten von der Polizeiaufsicht festgelegte Richtgrößen zwar einen gewissen Minimalstandard gewährleisten, nicht aber die direkte staatliche Verfügung über die Exekutive ersetzen. Das ein Jahrhundert alte Prinzip der Auftragsverwaltung, das dem Staat die formale Polizeihoheit und den Kommunen die praktische Wahrnehmung des Polizeidienstes und dessen Kosten ließ, mußte sich um so mehr als Hemmschuh erweisen, je mehr einerseits die Verpolizeilichung sozialer Konflikte zunahm und andererseits diese Konflikte von den staatlichen Herrschaftsträgern als Bedrohung der politischen und gesellschaftlichen Machtverteilung wahrgenommen wurden, der mit einem homogenen staatlichen Gewaltapparat zu begegnen sei. Schon in den achtziger Jahren waren die Auseinandersetzungen über die Neuverteilung der Polizeilasten u.a. mit dem Argument gefuhrt worden, daß der Regierung durch einen erhöhten Kommunalbeitrag die Möglichkeit eröffnet würde, »auch in anderen Städten die Staatspolizeiverwaltung einzuführen, z.B. in den Industriestädten des Westens, wo eine starke Arbeiterbevölkerung es zum Staatsbedürfnis macht.«134 Im Innenministerium waren diese Überlegungen 1890 dahingehend konkretisiert worden, daß man nach Verabschiedung des Polizeikostengesetzes eine großangelegte Umstrukturierung der königlichen Schutzmannschaften in Angriff nehmen wollte. Die kleinen Polizeidirektionen in Koblenz, Göttingen, Celle, Marburg, Fulda und Hanau sollten rekommunalisiert und an ihrer Stelle in Kiel, ElberfeldBarmen, Halle/Saale, Dortmund, Bochum, Essen und Altona staatliche Polizeidirektionen eingerichtet werden.135 Der beabsichtigte Austausch zeigt den verschobenen Frontverlauf im Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft. Nicht mehr die bürgerlich-demokratischen Regungen in den kleinen Verwaltungs- und Universitätsstädten, sondern die Arbeiterschaft in den industriellen Zentren und ihre politischen Aspirationen stellten jetzt aus Berliner Sicht das drängendste Polizeiproblem dar. Wie schon manches zuvor, blieb auch dieses Reformvorhaben zunächst ein papierenes Planspiel. Allein in der Ostseestadt Kiel mit ihrem bedeutenden Marinehafen kam es 1898 zur Verstaatlichung.136 Die Arbeiterbevölkerung in den westlichen Industrieprovinzen sollte vorläufig noch mit einer gestärkten Landgendarmerie unter Kontrolle gehalten werden. Fünfzehn Jahre nach diesen Erwägungen lieferte der zweite große Kohlenarbeiterstreik im Januar und Februar 1905 den Anlaß, die Idee einer staatlichen Polizei in den Ruhrgebietsstädten erneut aufzugreifen. Obwohl die jetzt beginnende Debatte über die Polizeiverstaatlichung im Revier ihren Aus92

gangspunkt im Bergarbeiterstreik hatte, spielte die Streikerfahrung eine weit geringere Rolle als bei der Polizeireform nach 1889. Damals hatte der blutige Verlauf des Massenstreiks wie ein Schock gewirkt, der den Provinzial- und mehr noch den Zentralbehörden erstmals das scheinbar systemgefährdende Potential dieser politisch bisher eher unauffälligen Arbeitermassen vor Augen führte. Der Ablauf des Streiks im Winter 1904/05 konnte dagegen als erfolgreiche Feuerprobe der polizeilichen Streikkontrolle angesehen werden. Trotz einer Streikbeteiligung von über 200.000 Mann und trotz der Tatsache, daß auch dieser Streik spontan entstanden war und zum Gutteil von unorganisierten, jungen Bergleuten getragen wurde, war es nicht zu den befürchteten Ausschreitungen gekommen. Wichtiger noch war aus Sicht der Behörden, daß es erstmals gelang, einem Streik dieser Größenordnung ohne Militäranforderung mit rein polizeilichen Maßnahmen zu begegnen. Das Demilitarisierungskonzept konnte nach der Schlappe von Herne im Jahre 1899 seinen ersten großen Erfolg vorweisen.137 Aus dem Verlauf des Arbeitskampfes und dem Erfolg der Polizeimaßnahmen ließ sich keine zwingende Notwendigkeit zur grundlegenden Umgestaltung der Ruhrgebietspolizei herleiten. Eine wichtige Ursache der Verstaatlichungsbewegung ist vielmehr in der seit der Jahrhundertwende immer rascher fortschreitenden Marginalisierung der Gendarmerie im Ruhrgebiet und der damit zwangsläufig verbundenen Kommunalisierung der Polizei zu suchen. Der Anstoß zum letzten Akt der Polizeireform ging von der Arnsberger Bezirksregierung aus. Die verantwortlichen Regierungsräte der dortigen Innenabteilung beließen es nach Abbruch des Arbeitskampfes nicht bei einer Manöverkritik der zurückliegenden Einsätze, sondern nutzten die Erfahrungen der vergangenen Wochen zu einer grundsätzlichen Analyse der Strukturbedingungen staatlicher Polizeipolitik in der Region. Regierungspräsident von Coels unterbreitete dem Innenministerium am 1. Mai 1905 eine Lageeinschätzung, die in nuce alle wichtigen Argumente der Verstaatlichungsdebatte enthielt. Erstens den Hinweis auf die wachsende Arbeiterbewegung und zukünftig zu erwartende Ausstände, die eine entschlossene Polizei erforderten. Zweitens die Feststellung, daß die kommunalen Verwaltungen nicht leistungsfähig genug und zudem politisch unzuverlässig seien, während der Einfluß der Landräte immer weiter schwinde, und drittens die Schlußfolgerung, daß in den Städten Bochum und Gelsenkirchen königliche Schutzmannschaften einzurichten seien.138 Komprimiert man den aktenfüllenden Berichtsverkehr der folgenden vier Jahren auf seinen Kerngehalt, zeichnen sich die Umrisse der staatlichen Polizeipolitik in der Endphase des Kaiserreichs ab. Zentraler Bezugs- und Ausgangspunkt der Debatte war ein hochpolitisiertes Feindbild und eine bisher in dieser Schärfe noch nicht übliche Verengung der Polizeifunktionen auf den Bereich der politischen Herrschaftssicherung. 93

»Was die besondere Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung im diesseitigen Bezirke anbetrifft, so soll der Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung nicht durch den Hinweis auf die ständige Zunahme der Rohheitsvergehen geführt werden,«139

leitete der Arnsberger Verwaltungschef ein Jahr nach seinem ersten Vorstoß einen erschöpfenden Begründungsbericht zu den Verstaatlichungsplänen ein. Die Unruhe und die Gewalttätigkeit der Arbeiterbevölkerung, die in den siebziger und achtziger Jahren panikartige Reaktionen des lokalen Bürgertums provoziert hatten, waren jetzt keine Thema: »Viel mehr in die Waagschale fällt die Gefährdung durch das Anwachsen der auf den Umsturz der bestehenden Ordnung gerichteten Parteien.«140 Er verwies darauf, daß sich die Zahl der sozialdemokratischen Wählerstimmen zwischen den Reichstagswahlen von 1898 und 1903 im Regierungsbezirk Arnsberg um 72% erhöht hätte und dadurch zwei wichtige Wahlkreise an die Sozialisten gefallen wären. Partei und Gewerkschaften wären über ein weitverzweigtes Vereinswesen eng miteinander verflochten und könnten ihre Mitglieder regelmäßig zu eindrucksvollen Großveranstaltungen mobilisieren. Insgesamt stellte sich die Sozialdemokratie den Polizeiplanern als wohldisziplinierte und gutorganisierte, überregional agierende und zentral geleitete Bewegung dar, der keine vergleichbare, einheitliche Polizeiexekutive gegenüberstand.141 Der »revolutionäre Charakter« der Partei trete immer mehr hervor, konstatierte der Regierungspräsident im Sommer 1906. Spätestens nach dem Parteitag Anfang des Jahres mit seinen Debatten zur russischen Revolution und zum politischen Massenstreik hätten sich alle Hoffnungen auf eine reformistische »Mauserung« der Partei als irrig erwiesen.142 Es läßt sich nur schwer entscheiden, wieweit das Insistieren der Bezirksregierung auf die revolutionäre Gefahr eine taktische Übertreibung im verwaltungsinternen Ringen um die Priorität der Polizeireform im Ruhrgebiet darstellte oder wieweit die Streikerfahrungen und die linkssozialdemokratische Propaganda für den Massenstreik in der Phantasie der Regierungsbeamten zu einem scheinbar realistischen, subjektiv für wahr gehaltenen Revolutionsszenario verschmolzen.143 Unabhängig davon, wie man diese Frage beantwortet, bleibt der zentrale Stellenwert des politischen Arguments unumstritten. Dieses erhielt zusätzliche Schubkraft durch die seit den neunziger Jahren aufblühende polnische Vereinsbewegung im Ruhrgebiet, die von den Aufsichtsbehörden als permanente Provokation gegenüber der chauvinistischen Nationalitätenpolitik des preußischen Staates empfunden und dementsprechend bekämpft wurde.144 Während unter den beteiligten Stellen über das politische Feindbild weitgehend Konsens herrschte, lag im zweiten Hauptargument der Reformdebatte erheblicher Konfliktstoff. Die »Ohnmacht der Polizei in dem Industriegebiete«,145 die die geschilderten Gefahren so drängend machte, war nämlich 94

nach Auffassung der staatlichen Aufsichtsorgane primär auf die Mängel der kommunalen Polizei zurückzufuhren. Die Ausführlichkeit, mit der sich besonders die ortskundige Bezirksregierung in Arnsberg diesem Problem widmete, deutet darauf hin, daß hier das hauptsächliche Motiv für die Strukturreform zu suchen ist. Vier Gründe sprachen aus der Perspektive der staatlichen Planer gegen die Beibehaltung der bisherigen Zuständigkeitsverteilung.140 Erstens zeigten sich die Bürgermeister und Oberbürgermeister der Städte eher desinteressiert an einer starken Polizei. Aufgaben der kommunalen Daseinsvorsorge, von der Bauplanung über die Entwicklung des Schulwesens und des öffentlichen Personennahverkehrs bis hin zur städtischen Wohlfahrtspflege, erschienen den Verantwortlichen in den jungen Großstädten oft dringlicher als eine starke, auch für die seltenen Streikeinsätze und nicht nur für die Alltagsgeschäfte ausreichende Exekutive. Soweit vorhanden, konzentrierte sich das Interesse der Kommunalvertretungen auf die Zweige der Polizei, die diesen Prioritäten entgegenkamen: auf die Wohlfahrts- und Baupolizei mit ihren handlichen Zwangs- und Planungsbefugnissen.147 Zweitens zog es die eigentümliche Doppelbindung der Bürgermeister einerseits Staatsbeamter, andererseits gewählter Vertreter der Gemeinde nach sich, daß ihre politische Zuverlässigkeit weit weniger gewiß war, als die der stets loyalen Landräte. Zwar war an den gegenwärtigen Amtsinhabern nach Auffassung des Regierungspräsidenten in politischer Hinsicht nichts auszusetzen, er hielt es jedoch »für nicht unwahrscheinlich, daß sich auch hier im Westen im Laufe der Zeit der Zug nach Links bemerkbar machen wird und Persönlichkeiten an die Spitze der Städte treten, welche den staatlichen Anforderungen in politischer Beziehung nicht mehr genügen, einer Verstaatlichung der Polizei aber einen ungleich stärkeren Widerstand entgegensetzen werden, als er jetzt zu erwarten ist.«148 Drittens hatten gerade die Ereignisse des letzten Bergarbeiterstreiks bewiesen, wie stark die Kommunalverwaltungen und damit die städtische Polizei von lokalen Kapitalinteressen abhängig waren. Nur zu schnell hatten sich einzelne Ortsbürgermeister unter dem Druck der Zechengesellschaften bereit erklärt, nach militärischer Hülfe zu rufen, obwohl die Polizei noch lange nicht am Ende ihrer Kräfte gewesen war.149 Aber nicht nur in der Ausnahmesituation des Arbeitskampfes wurde die Handlungsautonomie der öffentlichen Gewalt durch die Ubermacht der großen Unternehmen eingeschränkt. In den kleineren Gemeinden und Amtern des Ruhrgebiets stellten sie den einzigen nennenswerten Machtfaktor dar: »Alles in der Gemeinde ist abhängig von dem Bergwerke. Den mächtigsten Willen in der Gemeinde und regelmäßig auch in der Gemeindevertretung hat deshalb die Bergwerksverwaltung; ... Die Gemeindeverwaltung stellt sich unter diesen Verhältnissen dar als das Ergebnis der zwischen Zechenverwaltung und Amtmann betriebenen Politik.«150

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In den Großstädten herrschte zwar gewöhnlich keine derartige Machtmonopolisierung durch das örtliche Zechenkapital, dafür waren Lokalverwaltung und Ortspolizei dem Einfluß verschiedenster Interessengruppen ausgesetzt, unter denen sich die durch das kommunale Klassenwahlrecht privilegierten und durch das informelle Kommunikationsnetz der angesehenen Bürger und Honoratioren vielfach verflochtenen Wohlhabenden und Mächtigen regelmäßig Geltung verschaffen konnten.151 Der staatliche Vorstoß gegen die kommunale Polizei richtete sich nicht zuletzt gegen eine zu enge Interessenverflechtung zwischen Lokalverwaltung und Großkapital, durch die der Handlungsspielraum der Staatsgewalt in kritischen Situationen eingeengt wurde. Man kann in dieser Spitze gegen die Übermacht privater Interessen den Versuch des Staates erkennen, sich das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen und den Polizeieinsatz stärker dem Primat der Politik zu unterwerfen. Dies bedeutete freilich solange nicht das Ende der unverhohlenen Parteilichkeit der Polizei im Arbeitskampf, wie sich Zechenunternehmer und Staat in ihrer grundsätzlichen Ablehnung kollektiver Tarifvereinbarungen und Streiks einig waren. Die Differenzen zwischen Staat und Unternehmerlager bezogen sich weniger auf den Inhalt als auf die Form staatlicher Gewaltanwendung. Wo die Zechenherren einen harten und schnellen Militäreinsatz forderten, wollte die Verwaltung die politischen Risiken des Zugriffs mildern und sich ein Spektrum abgestufter Möglichkeiten erhalten, über deren Einsatz sie allein entschied. Durch die Verstaatlichung sollten die Voraussetzungen dafür verbessert werden. Aufjeden Fall wäre es verfehlt, davon auszugehen, daß die »Schwerindustriellen .. die staatliche Bürokratie geradezu zur Verstaatlichung drängten.«152 Viertens wurden die genannten Defizite der kommunalen Polizei dadurch zu einem brennenden Problem, daß das Ruhrgebiet vollständig zu verstädtern drohte. Der durch Auskreisungen und Eingemeindungen ausgelöste Schwund der landrätlichen Einflußsphäre hatte sich seit der Jahrhundertwende stark beschleunigt. Der Anteil der Stadtkreisbewohner unter der Ruhrgebietsbevölkerung war zwischen 1895 und 1900 von 17,5% auf 22% gestiegen und in den folgenden fünf Jahren durch umfangreiche Eingemeindungen auf einen Anteil von 36,5% hochgeschnellt.153 Den zeitgenössischen Polizeiplanern stand diese Entwicklung deutlich vor Augen. Als der Innenminister die Verstaatlichungspläne erstmals dem Finanzminister vortrug, konstatierte er unter den vorliegenden Äußerungen der Unterbehörden in einem Punkt durchgängige Übereinstimmung: »nämlich darin, daß die im engsten Zusammenhange mit dem Anwachsen des Bergbaus und der Hüttenindustrie stehende kommunale Entwicklung in den fraglichen Gebieten, insbesondere die unaufhaltsam fortschreitende Bildung von größeren, den Landkreisen entwachsenden und immer größere ländliche Gebietsteile der Kreise an sich ziehenden

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Städten zu einer stetig weiter greifenden Schwächung des staatlichen Einflusses namentlich in der so überaus wichtigen Lokal- und Kreisinstanz gefuhrt habe und mit Sicherheit zu einer allmählichen gänzlichen Beseitigung dieses Einflusses fuhren müsse.«154

Angesichts der drohenden Auflösung des Industriebezirks »in eine Kette von Städten«,155 die unter sich die verbliebenen Restbestände der Landkreise aufteilten, gewannen die geplanten Polizeidirektionen eine strategische Bedeutung, die über den vordergründigen Anlaß einer intensivierten Kontrolle der Arbeiterbewegung hinauswies: Sie allein verbürgten langfristig die aktive Präsenz des Staates in einer der industriellen Schlüsselregionen Preußens - Präsenz gegenüber der sozialistischen Arbeiterbewegung, der Industrie und den Kommunen. Der Arnsberger Regierungspräsident brachte diesen Zusammenhang 1906 auf den Punkt. Nach seiner Ansicht liege ein »besonders wichtiger Grund für die Errichtung königlicher Polizeibehörden darin, daß die Staatsregierung sich in den Polizeidirektoren politisch zuverlässige, staatliche Beamte in den großen Städten schaffen kann, die sie bei der weiteren Entwicklung derselben auf die Dauer nicht wird entbehren können.«156 In unterschiedlicher Weise waren von der Verstaatlichung die Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, das Großkapital der Eisen- und Kohleindustrie sowie die Kommunen betroffen. Die ablehnende Haltung der Sozialdemokratie war vorauszusehen und wurde von den Planern in Arnsberg als willkommene Bestätigung ihrer Auffassung begrüßt.157 Soweit Äußerungen aus dem Unternehmerlager vorliegen, deuten sie daraufhin, daß die Reform als Schritt in Richtung einer vereinheitlichten und gestärkten Polizei angesehen und unterstützt wurde, ohne daß man die Entwicklung mit besonderem Engagement förderte. Der Vorsitzende des Direktoriums der Krupp AG in Essen, Rötger, teilte dem Innenminister seine grundsätzliche Zustimmung zu den Verstaatlichungsplänen mit und befürwortete die Bildung je einer rheinischen und einer westfälischen Polizeidirektion, die den östlichen und westlichen Teil des Reviers vollständig abdecken sollten. Weder der Entstehungszusammenhang dieser Stellungnahme - Rötger war vom Innenminister ausdrücklich darum gebeten worden - noch ihr Inhalt lassen auf ein außergewöhnliches Interesse dieses hervorragenden Repräsentanten des Unternehmerlagers an der Polizeireform schließen.158 Die Kommunen verhielten sich im Grundsatz nicht ablehnend, waren aber sehr darauf bedacht, nicht zuviele ihrer Kompetenzen an den staatlichen Polizeidirektor abgeben zu müssen. Drei Aspekte standen bei den zähen und z.T. mit großer Erbitterung geführten Auseinandersetzungen zwischen den betroffenen Ruhrgebietsgemeinden und dem Innenministerium im Vordergrund. Zum einen waren die Gemeinden wohl bereit, die Sicherheitspolizei, d.h. die eigentliche uniformierte Exekutive, die Kriminalpolizei und die politische Polizei an den Staat abzugeben, sträubten sich aber gegen den

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Verlust der »Wohlfahrtspolizei«. Insbesondere die Baupolizei eröffnete den Lokalverwaltungen Mittel, um die Stadtentwicklung zu steuern und spekulativen Baumaßnahmen einen Riegel vorzuschieben. Darüber hinaus waren unter Federführung der Polizeibehörde beispielsweise in Essen, aber auch in anderen Kommunen neue sozialpolitische Institutionen wie Wohnungsinspektionen oder Wohnungsnachweise entstanden, die es den Kommunen gestatteten, gegen die übelsten Auswüchse von Wohnungsnot und Grundstücksspekulation vorzugehen. Andere Zweige der »Wohlfahrtspolizei« waren eng mit der Schulverwaltung verknüpft, boten den Rahmen für eine wirksame Lebensmittelüberwachung oder regelten die Konzessionierung bestimmter Gewerbebetriebe. Das Tätigkeitsfeld der Polizei umfaßte ganz in der Tradition der breiten »Polizey« große Teile des kommunalen Wohlfahrtswesens, die sich mittlerweile zu tragenden Stützen einer städtischen Sozialpolitik entwickelt hatten und zum Gutteil das institutionelle Gerüst des sog. »Munizipalsozialismus« darstellten. Eine Verstaatlichung dieser Polizeizweige hätte die Leistungsfähigkeit der Kommualverwaltung empfindlich beschnitten.159 Zum anderen wollten es die Kommunen vermeiden, daß allein ihre Territorien unter die Kontrolle eines königlichen Polizeidirektors gerieten, die umliegenden Landkreise aber weiterhin der Polizei des Landrats unterstünden. Sie plädierten statt dessen für die Bildung großer, flächendeckender Polizeidirektionen, die tendenziell das gesamte Ruhrrevier umfassen sollten. Eine derartige Großbehörde hätte sich kaum in die Details der lokalen Verwaltung einmischen können und sich ganz auf die Sicherheitspolizei konzentrieren müssen. Außerdem wäre eine Gleichbehandlung von Stadtund Landkreisen gewährleistet gewesen und der durchaus zutreffende Eindruck verwischt worden, speziell die Städte sollten unter politische Kuratel gestellt werden. Die größte Verbitterung und den entschiedensten Widerstand der Städte löste freilich die Absicht der staatlichen Behörden aus, den Landräten der umliegenden Kreise den Posten des Polizeidirektors im Nebenamt zu übertragen. Ein Gutteil der sich bis 1909 hinziehenden Verhandlungen über die Einrichtung der Polizeidirektionen in Essen, Bochum und Gelsenkirchen kreiste um diese Frage. So wie sich die Landräte durch die von den Städten präferierte Lösung - Zentralisierung der gesamten Sicherheitspolizei der Stadt-und Landkreise in der Hand eines Polizeidirektors - auf das unbedeutende Format einer »lokalen Kommunal- und Schulaufsichtsbehörde verkleinert« sahen,160 betrachteten die Städte den drohenden Machtzuwachs des Landrats, dessen Kontrolle sie durch die Auskreisung gerade erst entwachsen waren, als massiven Affront. Schwerer als die zahlreichen Einzeleinwände, die gegen den »Landrat im Nebenamt« vorgebracht wurden, von der zu erwartenden Bevorzugung des Umlandes vor der Stadt bis hin zum Hinweis auf persönliche Animositäten zwischen den Beteiligten, wog wohl auf Seiten der 98

städtischen Repräsentanten der Eindruck, die Stadt solle unter die Vormundschaft des Landes gestellt werden.161 Sicher spielten bei dieser Auseinandersetzung auch gekränkte Eitelkeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle - im Kern deckten sich die Absichten der Staatsbehörden jedoch durchaus mit den Befürchtungen der Kommunen. Nach langem Tauziehen wurde gegen die Städte Bochum und Gelsenkirchen die für sie ungünstigste Lösung durchgesetzt. Die jeweiligen Direktionsbezirke erstreckten sich zunächst nur auf die Stadtkreise, in Bochum unter Einschluß der Stadt Herne, während die polizeilichen Verhältnisse der Landkreise unverändert blieben. Die Landräte Gerstein in Bochum und Zur Nieden in Gelsenkirchen übernahmen neben ihrem alten Amt den Posten des Polizeidirektors.162 Die zerbröckelnde Machtbasis der Landräte wurde so auf höherem Niveau restauriert und sie stiegen erneut zu Schlüsselfiguren der Staatsverwaltung im Industriegebiet auf. Den Städten konnte selbst ein Abstimmungssieg im preußischen Abgeordnetenhaus nicht helfen, durch den der Regierung die Trennung von Landrats- und Polizeidirektorenposten aufgegeben wurde. Mit der Drohung, andernfalls in einer dritten Stadt eine Direktion einzurichten, von der aus die Polizei in Bochum und Gelsenkirchen verwaltet würde, konnte das Innenministerium schließlich eine Unterwerfungserklärung der Kommunen erzwingen.163 Als Ausgleich war den Städten die Wohlfahrtspolizei geblieben. Es spricht einiges dafür, daß die Androhung der Verstaatlichung dieses Teils der Polizei vor allem taktisch gemeint war, um über ein »Kompensationsobjekt«164 zu verfugen, das man den Kommunen als Entschädigung für die demütigende politische Entmündigung durch den landrätlichen Polizeidirektor überlassen konnte. Im wesentlichen waren die staatlichen Behörden nämlich am eigentlichen Kern der Polizei interessiert, auf den sich die königlichen Polizeiverwaltungen seit dem Polizeikostengesetz von 1892 konzentriert hatten. Indem sie die bisherige »breite« Polizei in eine staatliche Sicherheitspolizei und eine kommunale Wohlfahrtspolizei aufspaltete, markierte die Polizeireform im Ruhrgebiet eine wichtige Zäsur im Prozeß institutioneller Differenzierung. Erst jetzt, mehr als ein Jahrhundert nach der berühmten Formel des Allgemeinen Landrechts, war die Polizei der großen Ruhrstädte tatsächlich eine Behörde, deren Funktion sich auf die gewaltbewehrte Ordnungssicherung und Gefahrenabwehr beschränkte. Was bislang als »Wohlfahrtspolizei« gefaßt worden war, ging nach und nach in der allgemeinen Kommunal- und Sozialverwaltung auf oder bildete den Tätigkeitsbereich eigenständiger Behörden. Zum 1. Juli 1909 gingen die uniformierte Exekutive einschließlich des Nachtdienstes, die politische Polizei, die Sitten- und Fremdenpolizei sowie einige weitere Zweige auf die königlichen Direktionen der drei Städte über. Im Gegensatz zu den Bezirken Bochum und Gelsenkirchen, die nur die 99

jeweiligen Stadtkreise sowie die Stadt Herne abdeckten, hatte man für Essen sofort die große Lösung gewählt. Die rheinische Direktion umfaßte neben der Stadt auch den Landkreis Essen sowie zusätzlich den Stadtkreis Oberhausen. Insgesamt unterstanden den königlichen Polizeibehörden rd. 800.000 Einwohner des rheinisch-westfälischen Industriegebiets.165 Mit einer Polizeidichte von etwa 140 Exekutivbeamten pro 100.000 Einwohner hoben sich die staatlichen Polizeidirektionen zwar deutlich von den umliegenden Städten ab, deren Dichte in den Jahren vor Ausbruch des Weltkriegs zwischen 100 und 120 schwankte, lagen aber unter dem Durchschnitt aller königlichen Schutzmannschaften im Jahr 1908, der unter Ausschluß der Stadt Berlin 167 betrug (vgl. Tab. 3 im Anhang).166 Unmittelbar nach Abschluß dieser ersten Verstaatlichungswelle liefen die Vorbereitungen zur Arrondierung der westfälischen Direktionsbezirke an. Nachdem durch ein Spezialgesetz über die »Polizeiverwaltung in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg und Münster« vom 19. Juli 1911 auch die Verstaatlichung der Ortspolizei in Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern legalisiert und damit die Hürde des § 2 des Polizeiverwaltungsgesetzes von 1850 beseitigt worden war, der kleinere Orte von der Verstaatlichungsoption ausschloß, ging man daran, die Bochumer und Gelsenkirchener Bezirke zu einem geschlossenen Gebiet auszubauen, »dessen Zusammenhang nicht durch im Gemenge liegende Gemeindegebilde mit abweichender polizeilicher Organisation durchbrochen« werden sollte.167 Durch ihre sukzessive Ausdehnung auf die umliegenden Orte sollten die Bochumer und Gelsenkirchener Polizeidirektionen bis 1916 die jeweiligen Landkreise vollständig integrieren. Mittelfristig war damit die Totalverstaatlichung der Ruhrgebietspolizei abzusehen. Dieses Ziel wurde im Kaiserreich nicht mehr erreicht. Nachdem 1912 dem Bochumer Direktionsbezirk drei und dem Gelsenkirchener zwei Landgemeinden zugeschlagen worden waren, scheiterten weitere »Polizeieingemeindungen« am Veto des Finanzministers.168 Erst während der Weimarer Republik kam es zur vollständigen Verstaatlichung der Ruhrgebietspolizei - jetzt mitgetragen von der Sozialdemokratie, gegen die die Strukturreform zehn Jahre zuvor gerichtet war, die aber unter den veränderten Bedingungen der Republik sehr schnell von ihrer ursprünglichen Forderung nach einer gemeindenahen, kommunal verwalteten und kontrollierten Polizei abrückte.169 Sicher hatte Karl Liebknecht nicht unrecht, als er die Polizeiverstaatlichung anläßlich der parlamentarischen Debatte zu dem Gesetz von 1911 in einer scharfen Polemik als »Mißtrauensvotum« gegen die Arbeiterklasse und »Spezialumsturzvorlage« geißelte. Eine »Ruhrpräfektur« solle errichtet werden, um »die Macht der staatlichen Gewalt zu verstärken, das heißt aber nichts anderes, als die Macht der Arbeitgeber, die Macht der Grubenbarone, die Macht der Unternehmer der schweren Industrie in Rheinland-Westfalen zu 100

stärken. «170 Die Instrumentalisierung der Staatsmacht für Unternehmerinteressen war sicher ein Moment der Polizeientwicklung, aber nicht das einzige. Die spezifischen Erscheinungsformen des Klassenkonflikts im schwerindustriellen Ballungsgebiet, die ungeplanten Folgen von Massenimmigration und Urbanisierung, die bornierte Intransigenz der politischen Herrschaftsträger, deren Bild von der Arbeiterschaft sich immer mehr auf die propagandistische Chimäre von den inneren Reichsfeinden verengte, und die spezifisch preußische, staatsorientierte und bürokratische Polizeitradition waren weitere wichtige Rahmenbedingungen der Entwicklung. Die Verstaatlichungen beendeten eine zwanzigjährige Umbruchphase, deren einzelne Stadien trotz ihres diskontinuierlichen und z.T. widersprüchlichen Verlaufs ein Grundmuster institutioneller Modernisierung erkennen lassen, das komplexer war, als es Liebknechts propagandistische Formel von der »Staatsgewalt als Handlanger«171 suggeriert. Der Trend zur Verstaatlichung setzte 1889 mit der eiligen Gendarmerieverstärkung ein und erreichte nach 1909 mit der Errichtung königlicher Polizeidirektionen seinen vorläufigen Höhepunkt. Parallel dazu fand eine schrittweise Zentralisierung strategischer Entscheidungen bei den Regional- und Provinzialbehörden statt, die mit der schleichenden Entmachtung der kommunalen Polizeiverwalter einherging. Die Homogenisierung der verschiedenen Polizeiorganisationen war angesichts der sozialstrukturellen Angleichung von Stadt und Land auf Dauer unvermeidlich und manifestierte sich zunächst im koordinierten Ausbau von Gendarmerie und Ortspolizei, später in der Einheitsorganisation der Schutzmannschaft. Neben diesen institutionellen Aspekten ist auf der inhaltlichen Seite zuallererst die Entmilitarisierung der staatlichen Streikkontrolle hervorzuheben, die in der ersten Phase das zentrale Motiv des Polizeiausbaus bildete, später aber durch die massive Politisierung der Polizei - zumindest was die Intentionen der staatlichen Planer anging überlagert wurde. Nicht mehr nur die geheime politische, sondern die Polizeiexekutive insgesamt galt mehr und mehr als zentraler Faktor in der Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Angesichts dieser Verengung war die institutionelle Ausfällung der Wohlfahrtspolizei ein konsequenter Schritt, der den langwierigen Prozeß funktionaler Differenzierung zu einem vorläufigen Ende brachte. Schließlich nahm die reale Kontrollkapazität der Polizei im Industriegebiet als Resultat des skizzierten quantitativen Ausbaus und qualitativen Wandels erheblich zu und gestattete der Staatsmacht erstmals den permanenten Durchgriff auf den Alltag der Unterschichten.

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4.4. Die regionale Entwicklung im gesamtstaatlichen Kontext Die preußische Polizei im Längsschnitt Die Bestandsaufnahme der regionalen Polizei hat gezeigt, daß zwischen den Absichten der Planer und der tatsächlichen Entwicklung der Institution z.T. erhebliche Unterschiede bestanden. Auch wenn in der Rückschau die Konturen einer funktional spezialisierten und staatlich dominierten Polizei erkennbar werden, ist hervorzuheben, daß die so konzipierte Exekutive erst ganz am Ende des Untersuchungszeitraums und auch nur aufsehr beschränktem Raum Realität wurde, nachdem frühere Reform- und Ausbauversuche an der Dynamik des sozialstrukturellen Wandels in der Region gescheitert waren. Am Ende des chronologischen Überblicks soll der Versuch gemacht werden, die Befunde aus dem westfälischen Industrierevier in die gesamtpreußische Polizeientwicklung einzuordnen. Dabei geht es einmal um die Beantwortung der Frage, ob die Ruhrgebietspolizei im Trend lag oder eher einen Sonderfall darstellte. Zum zweiten soll noch einmal die These aufgegriffen und empirisch überprüft werden, wonach die Gendarmerie seit den neunziger Jahren von der Polizei des platten Landes zu einem »semi-militärischen Polizeikorps für die Industriezentren« mutierte und die staatlichen Schutzmannschaften in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs zur dominierenden, quantitativ überwiegenden und qualitativ stilbildenden Polizeiformation Preußens wurden.172 Zunächst zur Gendarmerie. Der zuverlässigste Indikator für eine erfolgreiche konzeptionelle Neuorientierung dieser Elitepolizei im oben umschriebenen Sinne wäre eine überproportionale Verdichtung der Landgendarmerie in den preußischen Industriezentren. Eine derartige Verdichtung fand nicht statt. Wohl trifft es zu, daß im Jahre 1913 rund 45% der Gendarmeriemannschaften in den Provinzen Brandenburg, Schlesien, Westfalen und der Rheinprovinz, also im Berliner Umland und den industriellen Kernregionen Preußens stationiert waren - berücksichtigt man jedoch, daß in diesen vier Provinzen auch 51% der in Landkreisen wohnenden preußischen Bevölkerung angesiedelt waren, kommt man zu dem Schluß, daß die Gendarmerie hier eher unter- als überrepräsentiert war.173 Ein Längsschnitt durch dreißig Jahre preußischer Gendarmeriegeschichte in der Industrialisierung von 1882 bis 1913 läßt deutlich erkennen, daß die landrätliche Polizei zu keinem Zeitpunkt, weder vor noch nach der Weichenstellung zur Verpolizeilichung der Streikbekämpfung, ihren Schwerpunkt in den Industrieregionen hatte. Tab. 5 (Anhang) weist aus, daß die Gendarmeriedichte in den am meisten industriell geprägten Provinzen, in Schlesien, Sachsen, Westfalen und im Rheinland, in allen drei Stichjahren - 1882, 1892 und 1913 - nicht nur 102

signifikant unter dem gesamtpreußischen Durchschnitt lag, sondern von allen zwölf Provinzen stets die niedrigsten Werte aufwies. Westfalen konnte 1882 und 1892 unter diesen vier Provinzen mit der schwächsten Gendarmerie noch den besten Platz behaupten,fielaber 1913 auf den zweitschlechtesten Rang von allen. Die Rheinprovinz bildete während des ganzen Zeitraums mit 11,8,13,3 und 16,2 Gendarmen pro 100.000 Einwohner der Landkreise das Schlußlicht. Die jeweiligen Spitzenreiter übertrafen diese Werte fast um das Doppelte: so Hannover mit 23,0 (1882) und 24,0 (1892) oder Ostpreußen mit einer Dichteziffer von 33,5 im Jahre 1913. Durchweg handelte es sich bei den Provinzen mit der aus Sicht der Polizei günstigsten Relation zwischen Bevölkerungs- und Mannschaftszahl um agrarisch dominierte Regionen. In wechselnder Reihenfolge finden sich Ostpreußen, Posen, Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau unter den drei Provinzen, die die Rangfolge der Gendarmeriedichte anfuhren. Gemessen an der Verteilung ihrer Verdichtungszonen blieb die Gendarmerie die Polizei des platten Landes, als die sie gegründet worden war. Diesem Befund steht der erklärte politische Wille der Regierung gegenüber, die Gendarmerie nach 1889 bevorzugt im Stadtumland und in den Industriegebieten auszubauen. Zerlegt man die Dichteziffer in ihre Bestandteile, stellt sich heraus, daß die Gendarmerie zwischen 1882 und 1913 tatsächlich den größten Zuwachs ihrer Mannschaftsstärke in den Gewerberegionen verzeichen konnte. Da diesem absoluten Zuwachs der Mannschaften jedoch ein weit überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum gegenüberstand, reichten die Anstrengungen der Polizeiführung gerade aus, einer Verschlechterung der relativen Polizeistärke zu entgehen und eine moderate Verbesserung der Dichte herbeizufuhren. Die extremsten Formen nahm dieser Wettlauf zwischen Bevölkerungsentwicklung und Polizeiausbau in der Provinz Westfalen an. Obwohl sich die Zahl der Gendarmen zwischen 1882 und 1913 verdoppelte, wuchs die Dichte nur um 28% - die beispiellose Bevölkerungsvermehrung in den Kreisen des Industriegebiets hatte das Polizeiwachstum zum größten Teil ausgeglichen. Umgekehrt profitierte die ländliche Polizei in einigen ostelbischen Agrargebieten von den demographischen Verschiebungen innerhalb des Staates. Während die Gendarmerie in den industriellen Landkreisen im Westen der Monarchie durch die Zuwanderung unter permanenten Druck gesetzt wurde, bewirkten die Wanderungsverluste z.B. in Ostpreußen und Pommern, daß sich die Gendarmerie mehr verdichtete, als es allein ihrem Personalwachstum entsprochen hätte. Wenn sich die Anstrengungen zur Gendarmerievermehrung in den industriellen Ballungsgebieten auch kaum in einer verbesserten Relation zwischen Polizei- und Bevölkerungsziffern auszahlten, weist ein anderer Indikator 103

daraufhin, daß sie doch nicht ganz vergebens waren. Bezieht man nämlich die Gendarmeriestärke auf die Fläche des zu überwachenden Gebietes, bildeten das Rheinland und Westfalen die Regionen mit der intensivsten räumlichen Verdichtung. Wieweit eine erhöhte räumliche Konzentration das ungünstige Verhältnis zwischen Bevölkerung und Mannschaftsstärke zum Teil ausgleichen konnte, läßt sich schwer entscheiden. Generell wird man davon ausgehen müssen, daß die Relation zwischen Polizeistärke und Bevölkerung den zuverlässigeren Maßstab für die Entwicklung der polizeilichen Kontrollkapazitäten bildete.174 Wie im westfälischen Ruhrgebiet, so stand die Gendarmerie auch im gesamtpreußischen Maßstab nicht nur unter dem Druck der demographischen Entwicklung, sondern spürte auch die Folgen des Urbanisierungsprozesses. Lebten 1880 nur 13,6% der Bevölkerung in Stadtkreisen, waren es 1910 31,4%.175 Ein Gutteil des globalen Dichtezuwachses, den die ländliche Polizei in den dreißig Jahren verzeichnen konnte, ging auf das Konto dieser Verschiebung zwischen Stadt und Land. Insgesamt bestätigt die gesamtstaatliche Gendarmerieentwicklung die Ergebnisse der Regionalstudie. Die politisch begründete Neuorientierung der Gendarmerie konnte nach 1890 keine bleibenden Erfolge erzielen, da es nicht gelang, die personellen Kapazitäten an die Bevölkerungsentwicklung anzupassen, und darüber hinaus der Verstädterungsprozeß die ländliche Polizei immer mehr an den Rand drängte. Da die industrielle Gesellschaft auch eine urbane Gesellschaft wurde, mußte die Gendarmerie an ihren traditionellen rechtlichen Beschränkungen scheitern. In den sechziger Jahren wurde die Exekutive in den Städten mit staatlichen Polizeidirektoren nach dem Muster der Berliner Schutzmannschaft umgestaltet, d.h. ein staatlich finanziertes, militärisch organisiertes und militärnah rekrutiertes Unterbeamtenkorps aufgebaut.176 Zunächst wirkte sich diese Refom vor allem auf die Qualität der Beamtenschaft aus, denn die durchschnittliche Polizeidichte unterschied sich auch jetzt noch kaum von der der Kommunalpolizei in Orten mit vergleichbarer Einwohnerzahl (vgl. Tab. 3 im Anhang). Der Umschwung kam erst mit der Neuregelung der Polizeifinanzierung im Jahre 1892 und der damit zusammenhängenden Verstaatlichung des Nachtwachdienstes. Zwischen 1888 und 1896 stieg die durchschnittliche Polizeidichte um über 80% und lag von nun an deutlich über der der kommunalen Polizei. Die Daten für Berlin zeigen dasselbe Grundmuster auf deutlich höherem Niveau. Bereits zum Zeitpunkt ihrer Gründung im Jahre 1848 hatte die Schutzmannschaft hier eine Rate von 305 Beamten pro 100.000 Einwohner erreicht; auf derselben Höhe bewegte sie sich auch Anfang der achtziger Jahre. Bis 1888 - also während der Laufzeit des Sozialistengesetzes - fiel die Dichteziffer jedoch und erreichte erst nach 1892 erneut einen Wert von über 104

300, der sich in den folgenden zwanzig Jahren schrittweise verbesserte.177 Bei allen Schwankungen blieb die exzeptionelle Stellung der Berliner Polizei unangefochten. Während des gesamten Kaiserreichs band sie mehr als die Hälfte aller staatlichen Schutzmänner - nach einem Höhepunkt zum Ausgang der achtziger Jahre allerdings mit fallender Tendenz.178 Diese hochgradige räumliche Zentralisierung der staatlichen Polizei drückte sich in einer alles überragenden Polizeiverdichtung in der Hauptstadt aus. Zu jedem Zeitpunkt war die Berliner Polizeidichte wenigstens doppelt so hoch wie in den übrigen Städten mit staatlichen Schutzmannschaften und drei- bis sechsmal so hoch wie in den Orten mit kommunaler Polizei (vgl. Tab. 3 im Anhang). In den neunziger Jahren, nach dem Ende des Sozialistengesetzes und nach Verabschiedung des Polizeikostengesetzes von 1892, gewann das Modell der Berliner Schutzmannschaft deutliche Breitenwirkung und profilierten sich die königlichen Polizeidirektionen zu regionalen Stützpunkten einer staatlichen Ortspolizei, die sich jetzt auch in Hinblick auf ihre personellen Kapazitäten sehr deutlich von den kommunalen Mannschaften abhoben. Das Problem der Schutzmannschaften bestand darin, daß sie zwar ihren Apparat und ihr Personal in den Städten ausbauten, in denen die Polizei verstaatlicht worden war, daß sich aber die Zahl dieser Städte bis zum Ende des Kaiserreichs kaum vermehrte. Nach dem Zuwachs in den sechziger Jahren durch die Annexionen des Krieges von 1866 kam es - sieht man von der Ausdehnung des Polizeibezirks Berlin auf seine Umlandgemeinden einmal ab - nur in Kiel, Saarbrücken, Bochum, Gelsenkirchen und Essen sowie in den schlesischen Amtsbezirken Zabrze und Zaborze zu Verstaatlichungsmaßnahmen.179 Der Einflußbereich der staatlichen Ortspolizei blieb im wesentlichen auf die großen Städte beschränkt, während die im Zuge des Urbanisierungsprozesses rasch wachsende Zahl der mittleren Städte bis zu einer Einwohnerzahl von 100.000 zum Gutteil unter der Regie der kommunalen Polizei stand. 1909 hatten von den achtundzwanzig preußischen Städten mit 50 bis 100.000 Einwohnern dreiundzwanzig eine kommunale und fünf eine staatliche Polizei. In der Gruppe mit einer Einwohnerschaft von 100 bis 200.000 war das Verhältnis sieben zu zehn und in der Spitzengruppe der Großstädte mit über 200.000 Einwohnern dominierte klar die Schutzmannschaft: einer Stadt mit kommunaler Polizei standen zehn mit staatlichen Verbänden gegenüber.180 Zusammengenommen hatten 44% aller preußischen Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern eine staatlich finanzierte und geleitete Polizei. Dieser Wert wich nicht wesentlich von dem der gleich großen Städte in den anderen deutschen Staaten ab, der bei 41% lag.181 Angesichts dieser Konzentration auf die Großstädte erscheint es trotz der massiven personellen Expansion der königlichen Schutzmannschaften und trotz der Tatsache, daß sich ihre inneren Organisations- und Leitungsstrukturen immer mehr zum Vorbild auch der kommunalen Polizei entwickelten, 105

problematisch, von einer vorherrschenden Position der Staatspolizei nach der Jahrhundertwende auszugehen. Gegen diese Einschätzung spricht vor allem der relative Bedeutungsverlust, den die Schutzmannschaften zwischen 1880 und dem Ende des Untersuchungszeitraums aufgrund des Urbanisierungsprozesses hinnehmen mußten. Nimmt man die Bevölkerung der selbständigen Stadtkreise als Maßstab, die der Aufsicht des Landrats und dem Zugriff der Gendarmerie entzogen waren, standen 1880/82 rund 71%, 1900/0162% und 1908/10 nur noch 49% der Stadtkreisbevölkerung Preußens unter der Kontrolle einer staatlichen Polizeidirektion.182 Die Entwicklung von Gendarmerie und staatlicher Ortspoüzei verlief daher insgesamt widersprüchlich. Obwohl sich die Hoffnungen der Polizeiplaner in Berlin und in den Provinzen angesichts wachsender Klassenkonflikte immer mehr auf die staatlichen Polizeiformationen konzentrierten und obwohl ihr Personalbestand nach 1890 deutlich aufgestockt wurde, gelang es den Verantwortlichen bis zum Beginn des Krieges nicht, der relativen Verringerung ihrer Einflußsphäre und Reichweite wirksam gegenzusteuern. Vor dem Hintergrund dieses Gesamtbilds erscheinen die Verstaatlichungsmaßnahmen im Ruhrgebiet nach 1909 als Versuch, in einer der wichtigsten Industrieregionen Preußens, wo die kumulative Wirkung beschleunigter Urbanisierung und zunehmender Klassenspannungen nach Ansicht der Staatsverwaltung eine straffe Polizeiaufsicht am dringlichsten machte, eine Trendumkehr einzuleiten. Bochum, Gelsenkirchen und Essen wurden so mit ihren neuen Polizeidirektionen auch im gesamtstaatlichen Maßstab zu Pionieren eines neuen Polizeikonzepts, das »im Zeichen städtischer und industrieller Schnellentwicklung«183 darauf gerichtet war, die Strukturen des öffentlichen Gewaltapparates den Ergebnissen des sozialstrukturellen Wandels anzupassen. Bis 1913 konnte dieser Strukturwandel nur bescheidene Erfolge vorweisen. Die einzige überlieferte Totalaufnahme aller preußischen Polizeikräfte im Kaiserreich bezieht sich glücklicherweise auf dieses Stichjahr und gestattet daher eine genaue Endbilanz der oben umrissenen Entwicklungen.184 Der gesamtstaatliche Durchschnitt weist bei einer Polizeidichte von 98,7 ein nahezu ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlichen und kommunalen Exekutivmannschaften in den Städten aus: 43% aller preußischen Polizeibeamten standen in städtischen Diensten, 42,4% waren als staatliche Schutzmänner angestellt und 14,5% entfielen auf die Gendarmerie. Schlüsselt man diese Globalzahlen nach Provinzen auf, zeigen sich indes erhebliche Differenzen. Typisierend lassen sich drei Gebiete mit deutlich abweichender Polizeistruktur und -dichte unterscheiden. Als erstes hebt sich Berlin durch seine Größe und seine außerordentliche Verdichtungsrate von allen übrigen Städten und Regionen ab und läßt es sinnvoll erscheinen, die Stadt als Sonderfall zu behandeln. Über 22% aller preußischen Polizisten und allein 53% aller staatlichen Schutzmänner waren 106

hier stationiert, obwohl die Einwohnerschaft der Stadt nur knapp 8% der Staatsbevölkerung umfaßte. Die besondere Stellung der Berliner Polizei macht es einerseits verständlich, daß sich das Forschungsinteresse und auch die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen hauptsächlich auf sie konzentrierten, unterstreicht andererseits aber, daß die polizeilichen Verhältnisse in der Provinz mit denen der Hauptstadt nicht viel gemein hatten. Unter den Provinzen zeichnet sich eine recht deutliche Ost-West-Differenzierung ab, die sich zwar nicht vollständig, aber doch in ihren Grundzügen mit der Unterscheidung zwischen agrarisch-ländlichen und industriell-städtischen Regionen deckt. Stellt man beide Gruppen unter Ausschluß Berlins einander gegenüber, treten die abweichenden Polizeistrukturen klar hervor. So war die Polizeidichte im industriell-städtischen Westen mit 9 9 Beamten pro 1 0 0 . 0 0 0 Einwohner fast doppelt so hoch wie in den Agrarregionen des Ostens, wo die Dichteziffer im Durchschnitt bei 56 lag. Mit dieser quantitativen Differenz gingen strukturelle Unterschiede einher. Während die kommunalen Polizeikräfte in den östlichen Provinzen einen Anteil von 42,7% hatten, die Gendarmerie 30,8% und die königlichen Schutzmannschaften 26,5% aller Polizisten stellten, lagen die entsprechenden Werte in den Westprovinzen bei 61,4%, 13,3% und 25,2%. 1 8 5 Die Relation zwischen staatlichen und kommunalen Exekutivkräften betrug also im Osten sechzig zu vierzig, im Westen vierzig zu sechzig. Die unterschiedliche Binnenstruktur der Polizei im Osten und Westen der Monarchie erklärt sich vor allem aus den differierenden Anteilen von Gendarmerie und Kommunalpolizei, denn die staatlichen Schutzmannschaften stellten in beiden Fällen gut ein Viertel der Mannschaften. Dabei spiegelt die dominierende Rolle der Kommunalpolizei in den westlichen Provinzen vor allem den höheren Urbanisierungsgrad der Region, durch den die Gendarmerie der Landkreise marginalisiert wurde. Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte die seit den neunziger Jahren vorangetriebene Verpolizeilichung innerstaatlicher Konfliktregulierung zu einer erkennbaren Schwerpunktbildung der Polizei in den Hauptspannungsgebieten des Kaiserreichs gefuhrt. Da sich die polizeiliche Binnenstruktur nur sehr zögernd der schubartigen Umschichtung der Bevölkerung und der schnellen Urbanisierung anpaßte, verlief dieser Ausbau des innerstaatlichen Gewaltapparates allerdings außerhalb der politisch präferierten Bahnen. Zugespitzt gesagt, blieben die königlichen Schutzmannschaften aus der Perspektive einer einheitlichen staatlichen Polizei Inseln der Modernisierung, deren relative Bedeutung um so geringer war, je ausgeprägter der industriellurbane Charakter der Region war - Berlin selbstverständlich ausgenommen. In der Provinz Westfalen, dem Untersuchungsschwerpunkt dieser Studie, war dieses Muster am deutlichsten ausgeprägt. Nach Berlin bestand hier die höchste Polizeidichte der ganzen Monarchie und wurde die Polizei zugleich mehr als anderswo durch die kommunalen Kräfte dominiert. Mehr als 77% 107

aller westfälischen Polizisten waren Kommunalbeamte, während Gendarmerie und Schutzmannschaften jeweils auf gut 11% kamen. Allen Reformanstößen und Verstaatlichungsmaßnahmen zum Trotz war die kommunale Ortspolizei die eigentliche Polizei der industriellen Ballungsgebiete im preußischen Westen. Die chronologische Übersicht auf mehr als sechzig Jahre Polizeigeschichte im westfälischen Industriegebiet bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zeigt einen seit den siebziger Jahren zunächst punktuell und diskontinuierlich, später flächendeckend und stetig verlaufenden Zuwachs polizeilicher Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Der Prozeß institutionellen Wandels bezog seine Schubkraft in einzelnen Phasen aus unterschiedlichen Motiven und wurde von wechselnden Akteuren vorangetrieben, ohne allerdings seinen grundsätzlichen Bezug zu den gleichzeitig ablaufenden gesellschaftlich-politischen Umbrüchen je zu verlieren. In der Periode des anrollenden Industrialisierungsprozesses bis zu den siebziger Jahren blieben die Ansätze des Polizeiausbaus und institutioneller Modernisierung trotz wachsenden Problemdrucks begrenzt. Lokale Verbesserungen hatten ihren Ausgangspunkt in einzelnen Städten und wurden wesentlich von den Ordnungsinteressen des ansässigen Bürgertums und der Ortsverwaltung angestoßen. Die Polizeiverstärkung stand dabei sicherlich im Zusammenhang einer allgemeinen Expansion der öffentlichen Verwaltung,186 wurde allerdings darüber hinaus wesentlich durch die zunehmenden sozialen Spannungen in der Industrieregion motiviert. Als restriktiver Faktor erwies sich in dieser Zeit neben den chronischen Finanzproblemen der Kommunen vor allem das schwache Engagement des Staates für die Ortspolizei, der bis zum Ende der achziger Jahre auf deren koordinierten Ausbau glaubte verzichten zu können. Erst das Ende des Sozialistengesetzes und stärker noch die Erfahrung des Kohlenarbeiterstreiks im Jahre 1889 leiteten eine Umorientierung der staatlichen Polizeipolitik ein. Aus der Perspektive der preußischen Staatsregierung verwiesen beide Ereignisse auf entscheidende Defizite ihrer bisherigen Politik gegenüber Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung. Der Fehlschlag des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie demonstrierte, wie wenig Vereinsverbote in der Tradition restaurativer Abwehrpolitik einschließlich ihrer geheimpolizeilichen Überwachung im Sinne der alten Staatspolizei gegen die massenwirksamen sozialen Bewegungen des Industriezeitalters auszurichten vermochten. Und das breite Unbehagen, auf das der Militäreinsatz gegen ausständische Bergleute in Armee und Zivilgesellschaft stieß, ließ die Legitimitätsgrenzen dieser hergebrachten Form gewaltsamer Konfliktunterdrükkung klar hervortreten. Was sich seit Jahren in den Klagen und Beschwerden auf lokaler Ebene abzeichnete, -wurde jetzt überdeutlich. Die bisherigen Träger sozialer Disziplinierung und Repression - von der informellen Sozialkontrolle in der Gesellschaft über die politische Geheimpolizei bis zum 108

Militär als letztem Garanten des staatlichen Herrschaftsanspruchs - wurden den Anforderungen der industriellen Klassengesellschaft immer weniger gerecht. In wenigen Jahren wurden die Weichen für eine durchgreifende Polizeireform gestellt, die über die Stationen der Gendarmerievermehrung und des koordinierten Ausbaus der Kommunalpolizei mit einer gewissen Folgerichtigkeit zur Einrichtung staatlicher Exekutivorgane in den großen Städten der Region führte. Mißt man den Gang der Polizeientwicklung im westfälischen Industriegebiet an den oben entwickelten Überlegungen zur Neubestimmung der Polizeifunktion in der entstehenden Klassengesellschaft, werden Übereinstimmungen, aber auch Abweichungen zu diesen mehr typisierenden Thesen erkennbar. Übereinstimmung ist zunächst generell darin zu finden, daß die Polizeientwicklung einen entscheidenden Stimulus in spezifisch klassengesellschaftlichen Spannungen fand. Es können wenig Zweifel bestehen, daß es vor allem soziale und politische Konflikte längs der Klassenlinie waren, die Staat und Kommunen zur Verbesserung der Polizei veranlaßten. Andere Gründe und Motive - etwa wachsende Anforderungen auf den Gebieten der Verbrechensbekämpfung, der kommunalen Sozialpolitik oder bei der Wahrnehmung klassenunspezifischer Ordnungsaufgaben - spielten sicherlich auch eine Rolle, blieben aber eher sekundär. Eine gewisse Relativierung der oben vorgetragenen fünktionalistischen Argumentation ergibt sich vor allem aus einer stärkeren Gewichtung des politischen Faktors. Auch wenn die ersten Modernisierungsschritte von den betroffenen Städten eingeleitet wurden, waren entscheidende Zäsuren der Intervention und Koordination staatlicher Instanzen zu verdanken. Gerade weil die preußische Polizei seit der Reformphase als staatliche, den Kommunen nur im Wege der Auftragsverwaltung überlassene Angelegenheit definiert wurde, folgte ihre Entwicklung nur in Brechungen und mit Verzögerungen den gewandelten gesellschaftlichen Konfliktlagen. Es gab keinen automatischen Gleichlauf von gesellschaftlicher und institutioneller Entwicklung. Hieraus erklärt sich auch der relativ späte Beginn einer koordinierten staatlichen Polizeipolitik in der Industrieprovinz. Erst als die Klassenspannungen eine solche Intensität erreicht hatten, daß sie als politische Herrschaftskonflikte wahrgenommen wurden, war der Handlungsbedarf für die Zentralbehörden dringend genug geworden, um das wenig effektive Nebeneinander von formal staatlicher Polizeihoheit und faktischer kommunaler Dominanz zugunsten straffer staatlicher Lenkung zu durchbrechen.

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5. Strukturen und Strategien Während die Polizei am Anfang des Untersuchungszeitraums in allen Städten der Region noch weitgehend mit der allgemeinen Stadtverwaltung verquickt war und ihre wenigen Mannschaften sich in Ausrüstung, Ausbildung und praktischer Tätigkeit kaum von den Gemeindedienern und Nachtwächtern der ersten Jahrhunderthälfte unterschieden, präsentierte sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den größeren Städten als kopfstarke, hierarchisch organisierte und nach speziellen Funktionen abteilungsmäßig differenzierte Behörde, die an sich den Anspruch stellte, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Stadt präsent zu sein, um ordnend und regulierend einzugreifen. Zur Bestimmung der polizeilichen Kapazitäten war bisher hauptsächlich auf den handlichen Indikator der Polizeidichte zurückgegriffen worden, der sich nicht nur für die Beschreibung langfristiger Veränderungen anbietet, sondern auch einen brauchbaren Maßstab für den interlokalen und interregionalen Vergleich abgibt. So nützlich dieser relativ grobe Indikator zur Identifizierung von Entwicklungstrends und für Vergleichszwecke ist, so blaß bleibt die Relation zwischen Polizeistärke und Bevölkerung, wenn es um die Detailanalyse polizeilicher Kontrollstrukturen vor Ort und um die Rekonstruktion obrigkeitlicher Disziplinierung gegenüber der Arbeiterklasse in der Praxis geht. In den folgenden Abschnitten soll daher vertiefend und systematisch auf drei Aspekte der institutionellen Entwicklung eingegangen werden, die fur das Verhältnis zwischen Polizei und Arbeiterschaft von besonderer Bedeutung waren. Der Abschnitt zur Infrastruktur alltäglicher Sozialdisziplinierung fragt nach dem Ausmaß und den Formen polizeilicher Präsenz in der Öffentlichkeit. Das schwierige Wort Alltag läßt sich hier aus Sicht der Polizei am besten mit Routine übersetzen, meint also die institutionellen Arrangements, Organisationsstrukturen und die Kräfteverteilung, die den Rahmen des täglichen Dienstes im Industrierevier bildeten. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei zum einen der Herausbildung eines Netzes von Revieren und Patrouillenbezirken geschenkt, das erst die Voraussetzung für den aktiven, permanenten Zugriff der Obrigkeit bot. Zum anderen wird noch einmal die heikle Frage nach der Scheidelinie zwischen öffentlicher und privater Gewalt aufgegriffen, die mit dem Verfall ständischer Herrschaft nicht endgültig erledigt war, sondern sich unter industriellen Bedingungen in Gestalt vielfältiger Kooperationsbeziehungen zwischen Privatunternehmen und Polizei neu stellte. 110

Das Verhältnis zwischen Privatinteressen und öffentlicher Gewalt prägt selbstverständlich auch den Abschnitt zu den Feinstrukturen polizeilicher Streikkontrolle. Mehr noch als auf dem Feld alltäglicher Disziplinierung gab es bei den Maßnahmen und Vorkehrungen zur Kontrolle größerer Arbeitskämpfe eine enge Kooperation und Koordination zwischen der Polizei und den großen Unternehmen der Region. Ihren institutionellen Niederschlag fand diese Zusammenarbeit in den »Zechenschutzwehren«, deren Entstehung und Entwicklung gesondert untersucht wird. In Bezug auf die politische Polizei steht die Entstehung ihres regionalen Apparates sowie die Frage nach der Abgrenzung zwischen der »normalen« exekutivpolizeilichen Arbeit und der politisch-polizeilichen Kontrolle der Arbeiterbewegung im Vordergrund des Interesses. Vor dem Hintergrund der seit den neunziger Jahren von den staatlichen Aufsichtsinstanzen vorangetriebenen Politisierung der Polizeifrage wäre dabei zu klären, wieweit sich diese Akzentverlagerung bis in die institutionelle Entwicklung der Ortspolizei fortsetzte.

5.1. Die Infrastruktur alltäglicher Sozialdisziplinierung 5.1.1. Die Vernetzung der Stadt

Die »sociale Aufgabe der Polizei«, d.h. die ihr mehr und mehr zuwachsende Funktion einer allzuständigen und permanent verfügbaren Ordnungs- und Disziplinierungsinstanz, erforderte nicht nur mehr Polizeibeamte, sondern auch eine neue Verteilung dieser Ordnungsagenten in der Gesellschaft. War die alte Polizei schwach, eher passiv, räumlich zentralisiert und vorwiegend punktuell an besonderen Orten oder bei besonderen Anlässen tätig, schuf die personelle Expansion der Mannschaften im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Grundlagen für eine ständige Anwesenheit der Polizei in der Öffentlichkeit. Je stärker die Exekutive wuchs, desto mehr diffundierte sie die Stadt als vertikal hierarchisierter und horizontal vernetzter Apparat und führte die Obrigkeit näher als jemals zuvor an den Bürger heran.1 Ursprünglich war das Rathaus der alleinige Stützpunkt einer undifferenzierten und zentralisierten Polizeiverwaltung. Dort saß der Bürgermeister als Chef und in den größeren Städten ein Kommissar oder vielleicht ein Inspektor als unmittelbarer Leiter des gesamten Sicherheitsapparates. Die Polizeidiener und Nachtwächter holten sich in der Zentrale ihre Instruktionen und die Einwohner mußten das Polizeibüro im Rathaus aufsuchen, mochte es um die Meldung eines Umzugs oder die Anzeige eines Verbrechens gehen. Um die mit der zunehmenden Ausdehnung der Städte wachsende Kluft zwischen der Zentrale und den entstehenden Stadtteilen und -vierteln zu überbrücken, 111

setzte etwa gleichzeitig mit der Reform der Unterbeamtenschaft eine schrittweise Dezentralisierung des Apparates ein. In den Stadtvierteln entstanden Bezirksbüros, die nicht nur die polizeiliche Überwachung der Viertel koordinierten, sondern auch gewisse Verwaltungsaufgaben übernahmen. Gewöhnlich unter Leitung eines Kommissars war den Bezirken eine Anzahl von Wachtmeistern, Sergeanten und Schutzleuten zugeordnet. Die Bezirksbüros nahmen Anzeigen entgegen, wickelten einen Teil des Meldewesens ab und bearbeiteten kleinere Strafsachen. Umgekehrt konzentrierten sich bestimmte Aufgaben bei spezialisierten Abteilungen der Zentrale: Die Kriminalpolizei, die politische Polizei und die Gewerbeaufsicht gehörten typischerweise dazu.2 Indem die dezentralisierte, aber hierarchisch gestaffelte und geleitete Polizei Dienstleistungen und Kontrollkapazitäten in die Stadteile delegierte und an den Bürger heranführte, wurde sie zu einer der Pionierinstitutionen beim Ausbau von »Verwaltungsnetzwerken«, die die entstehende Großstadt integrierten.3 Noch deutlicher als beim Ausbau der Stadtbezirksbüros trat der Netzwerkcharakter der Polizei auf der untersten Ebene hervor, auf der die Exekutive unmittelbar an die Öffentlichkeit trat. Zum Teil schon vor den städtischen Polizeireformen, mit Sicherheit aber nach deren Abschluß war das Territorium der Städte vollständig in einzelne Polizeireviere parzelliert worden, die eine permanente, flächendeckende, aufsuchende und tendenziell präventiv orientierte Disziplinierungsstrategie erst möglich machten. Die Reviere waren festgelegte Räume, einige Häuserblocks oder Straßenzüge zumeist, denen j eweils ein Polizeisergeant für den Tagesdienst und ein Schutzmann für den Nachtdienst fest zugewiesen waren. Üblicherweise herrschte für die Beamten Residenzpflicht, d.h. sie mußten in ihrem Revier oder doch zumindest im zugehörigen Bezirk wohnen.4 Diese Ortsbindung sollte den Revierbeamten nicht etwa in sein Quartier integrieren, sondern eine lückenlose Aufsichtsführung erleichtern, denn: »Der Polizeibeamte muß mit sämtlichen Orts- und Personenverhältnissen seines Dienstbezirkes auf das Genaueste vertraut sein und Ubelstände, die zu seiner Kenntnis gelangen, namentlich auch Unfälle, Hilfsbedüftigkeit, Konkubinate usw. sofort seiner vorgesetzten Behörde melden.«5

In der Kasuistik der Polizeilehrbücher und Handbücher für den praktischen Dienst schwollen die Pflichten des Revierbeamten zu einem umfassenden Leistungskatalog an, der von der Überwachung der Meldepflicht über die Revision der Gastwirtschaften und Gewerbebetriebe und die Kontrolle des Sicherheitszustandes von Gebäuden bis hin zur Registrierung und Anzeige von Gesetzesverstößen aller Art reichte. Neben der Ausführung bestimmter Einzelaufträge bestand die Haupttätigkeit des Revierbeamten im Patrouillendienst, d.h. er ging sein Revier nach einem bestimmten, vorgeschriebenen Schema ab. »Der Reviersergeant ist in erster Linie für die Ordnung und 112

Sicherheit in seinem Revier verantwortlich«, hieß es in einem der einschlägigen Kompendien, und er habe daher die Pflicht, auch außerhalb der festgesetzten Stunden das ihm zugewiesene Terrain zu durchstreifen, »damit die Eingesessenen das Empfinden erhalten, der Reviersergeant ist immer auf den Beinen.«6 Im Revierbeamten personifizierte sich die Polizei für die Mehrheit der Stadtbevölkerung am sichtbarsten. Er war es, der Verstöße anzeigte, Betrunkene und Ruhestörer sistierte, Konkubinate anzeigte, das Kostgängerwesen überwachte oder Obdachlose anhielt. Seine öffentliche Präsenz diente der Entdeckung und Aufklärung von Verstößen, war aber zugleich andauernde Demonstration des staatlichen Ordnungsanspruchs gegenüber den Untertanen. Wie bei der Einfuhrung des hauptamtlichen Nachtdienstes lassen sich bei der Ausbildung des Kontrollnetzwerkes Pioniere und Nachzügler unterscheiden, wobei Beginn und Verlauf des Dezentralisierungsprozesses offenbar stark vom jeweiligen Entwicklungsstand der Stadt, von ihrer Größe, aber auch von der Initiative und dem Engagement der lokalen Polizeifuhrer abhingen. Eine zentrale Koordination durch die Aufsichtsinstanzen läßt sich dagegen nirgends beobachten. Die Stadt Dortmund machte 1876 mit der Schaffung von zwei Polizeibezirken den Anfang, gefolgt von Hagen im Jahre 1891.7 In beiden Fällen schloß sich diesem ersten Schritt ein kontinuierlicher, dem Wachstum der Stadt und ihrer Bevölkerung angepaßter Ausbau des Bezirksnetzes an, so daß in Dortmund zum Ende des Untersuchungszeitraums acht, in Hagen fünf Bezirkswachen bestanden, denen jeweils eine gewisse Anzahl von Revieren zugeordnet war.8 Im Gegensatz zu diesem schrittweisen Ausbau verlief die Entwicklung in Bochum und Gelsenkirchen sprunghaft. Während Dortmund und Hagen zwar schnell, aber mit einer gewissen Stetigkeit um einen vorhandenen Urbanen Kern zu Großstädten heranwuchsen, waren die beiden anderen Städte stark von den Eingemeindungswellen nach der Jahrhundertwende betroffen, durch die die Bevölkerung der Stadt ruckartig anstieg und eine schnelle Anpassung des Polizeiwesens unausweichlich wurde. Im Zusammenhang mit großflächigen Eingemeindungen wurden 1903 in Gelsenkirchen sieben und ein Jahr später in Bochum sechs Bezirksbüros eröffnet, nachdem bis dahin die Geschäfte der Exekutive ausschließlich von der Zentrale geleitet worden waren. Hier wie dort war die Dezentralisierung Teil einer umfassenden Reform, durch die u.a. auch der Unterschied zwischen den Tag- und Nachtbeamten aufgehoben wurde.9 Die Größe der Bezirkseinheiten schwankte von Stadt zu Stadt und scheint mehr von lokalspezifischen Erfordernissen, wie etwa der Besiedlungsstruktur und der flächenmäßigen Ausdehnung des Stadtgebiets, und von Detailabweichungen in der Polizeiorganisation abhängig gewesen zu sein, als von dem Bemühen, die Maschen des Netzes immer dichter zu ziehen. Die acht 113

Dortmunder Polizeibezirke hatten 1908 eine durchschnittliche Einwohnerzahl von 25.000, in Recklinghausen gab es im selben Jahr zwei Bezirke mit 26.000 Einwohnern, Gelsenkirchen und Bochum hatten 1903 bzw. 1904 sieben und acht Polizeibezirke mit einer Durchschnittsgröße von 19.000 und Hagen im Jahr 1907 fünf Bezirke mit je 16.000 Einwohnern.10 Sowohl in Dortmund als auch in Hagen, den beiden Fällen, in denen sich die Entwicklung des Bezirksnetzes über eine längere Zeit verfolgen läßt, folgte die Erweiterung der Polizeibezirke vor allem der Bevölkerungsentwicklung. Weder in der einen noch in der anderen Stadt läßt sich eine fortschreitende Verdichtung des Bezirksnetzes erkennen, die auf eine kontinuierliche Intensivierung der polizeilichen Präsenz auf dieser Ebene hindeuten würde. Es hat eher den Anschein, als hätte sich jeweils eine lokale Standardgröße herausgebildet, die in Dortmund etwa bei 25.000 und in Hagen um die 15.000 Einwohner pro Bezirk lag.11 Herausragende Gebiete polizeilicher Präsenz und Aufmerksamkeit zeichnen sich in den untersuchten Städten vor allem unter zwei Gesichtspunkten ab. Einmal handelte es sich um Viertel, in denen sich die Ar beiterbevölkerung überwiegend konzentrierte und die daher aus Sicht der Polizeifuhrung bevorzugter Ausgangspunkt von Unruhe und Unordnung waren. So richtete z.B. die Recklinghausener Polizei in der Bergarbeiterkolonie »Blumenthal« nach der Jahrhundertwende zusätzlich zu den vorhandenen Bezirkswachen eine Polizeistation ein.12 Als man in Dortmund zu Beginn der siebziger Jahre über die Notwendigkeit einer Polizeireform debattierte und Vorbereitungen für die Einrichtung dezentraler Bezirksstationen traf, sah man das größte Bedürfnis für einen derartigen Außenposten in den Arbeitervierteln vor dem Westentor.13 In der Stadt Hagen trat seit der Jahrhundertwende der IV Polizeibezirk im Nordwesten der Stadt als notorischer Unruheherd hervor, für den immer wieder zusätzliche Planstellen gefordert wurden. Der IV Bezirk erstreckte sich längs der nach Norden führenden Bahnlinie und dem anliegenden Güterbahnhof und umfaßte die Ortsteile Altenhagen und Eckesey. Lagerplätze, Fabriken und Arbeiterwohnungen lagen hier im Gemenge und gaben dem Bezirk das typische Gepräge eines proletarisch dominierten Vororts, der sich von der eigentlichen Kernstadt, die mehr die Funktionen eines Verkehrs- und Geschäftsmittelpunktes anzunehmen begann, oder von den relativ dünn besiedelten östlichen Randgebieten unterschied.14 Alljährlich berichtete der zuständige Bezirkskommissar über die Errichtung neuer Arbeiterwohnungen und Mietskasernen, die den Dienst der Revierbeamten noch beschwerlicher machten, als er ohnehin schon sei. Kohlediebstähle auf dem Güterbahnhofund nächtliche Ruhestörungen gehörten zur Tagesordnung und forderten den ununterbrochenen Einsatz der Beamten. Zusätzliche Belastungen hätten einige Großbaustellen gebracht: 114

»Die am Bahnhofsumbau im Stadtteil >Altenhagen-Eckesey< beschäftigten Arbeiter erfordern eine besondere Aufsicht. Des Abends werden die Passanten in AltenhagenEckesey ... von den ausländischen Arbeitern angerempelt und sogar mißhandelt. Es ist schon häufig vorgekommen, daß nicht allein die Bürgerschaft, sondern auch Schutzleute, die allein patrouillierten, mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen worden sind. ... Ich halte es für notwendig, daß für Eckesey pp. außer den bisher eingeteilten Revierund Nachtpatrouillen, eine ständige Patrouille von zwei Mann für den Tages- und Nachtdienst eingerichtet wird.«15

Darüber hinaus wäre die Zahl der Reviere zu erhöhen und sollten den Schutzleuten bei ihren Rundgängen Polizeihunde mitgegeben werden, »da die Nachtbeamten im diesseitigen Bezirk vorwiegend nur mit einer rohen Arbeiterbevölkerung zu tun haben.«16 Beschwerden aus dem Bürgertum und von ansässigen Unternehmern sekundierten dem Kommissar. »Dem Herrn Oberbürgermeister«, hieß es im November 1907 in einem Brief, der in der Tagespresse veröffentlicht wurde, »werden gewiß Viele dankbar sein, daß er sich so sehr mit sozialpolitischen Fragen befaßt. Wir Eckeseyer würden ihm dankbarer sein, wenn er angesichts der vielen ausländischen Arbeiter, die hier beschäftigt sind, dafür sorgen wollte, daß mehr Polizeibeamte, besonders nachts, angestellt würden. Wir meinen: >Schutz dem Bürger< in erster Linie. Mehrere Eckeseyer Bürger«.17

Die wiederholte Forderung nach »Schutz für den Bürger« vor proletarischer Roheit und Unruhe blieb nicht ohne Erfolg. Außer der zentralen Polizeiwache im Rathaus war nur die Station im IV. Bezirk rund um die Uhr besetzt; zunächst nur an Sonn- und Feiertagen, also dann, wenn die Freizeit der Arbeiter besonderer Überwachung bedurfte, spätestens seit 1907 durchgängig während der ganzen Woche.18 Anders als in den ruhigeren Revieren der übrigen Bezirke fanden in denen des IV Bezirks sowohl vor- als auch nachmittags »der Fabrikarbeiterbevölkerung wegen« Patrouillengänge statt.19 Um mehr Beamte für Streifengänge zu mobilisieren, wurde der Außendienst in der verkehrsreichen City sowie im proletarischen IV und dem ähnlich strukturierten II. Bezirk im Jahre 1908 dahingehend reorganisiert, daß der Wachdienst in der Polizeistation von besonderen Beamten wahrgenommen und nicht mehr - wie weiterhin in den anderen Bezirken - von den Revierbeamten nebenher erledigt wurde.20 Schließlich wies der unruhige IV Bezirk am Stichtag der einzigen überlieferten bezirksmäßigen Aufschlüsselung der Polizeidichte im Jahr 1906 die kleinsten und damit am intensivsten überwachten Reviere der ganzen Stadt auf.21 Auch wenn die Revierdichte nur geringfugig vom Durchschnitt abwich, ist dies doch ein zusätzliches Indiz fiir eine sozial selektive Verteilung der Polizeikräfte, die im Arbeiterquartier mehr als anderswo als ständige Ordnungsmacht präsent waren. Die Argumente, die von der Polizeiführung wie von besorgten Bürgern für eine gestärkte Exekutive ins Feld geführt wurden, bestätigen die andauernde 115

Bedeutung des polizeilichen Disziplinierungsauftrags und zeigen, daß zwischen der hochpolitisierten Feindsicht in den Arnsberger und Berliner Führungsstäben und den praktischen Prioritäten polizeilicher Arbeit vor Ort erhebliche Unterschiede bestanden. Andere Schwerpunkte der Außendiensttätigkeit hingen weniger mit der Ausbildung sozial segregierter Wohnviertel als mit der wachsenden funktionalen Differenzierung einzelner Stadträume und der Entstehung großstadtspezifischer, aber nicht unbedingt klassenspezifischer Unruheherde zusammen. Vor allem der zunehmende Verkehr band seit dem Ende des Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Polizisten. Immer mehr gingen die Verwaltungen dazu über, an wichtigen Brücken, Kreuzungen und ähnlichen Verkehrsknotenpunkten ständige Posten zu stationieren, die für einen reibungslosen Verkehrsfluß sorgen sollten. In Hagen, der Stadt, in der sich diese Entwicklung am besten verfolgen läßt, war dieser Dienst seit den neunziger Jahren eine Aufgabe der Schutzleute, die neben ihren nächtlichen Patrouillen noch einige Stunden Posten stehen mußten.22 Die fortschreitende Differenzierung des Apparates und andauernde Klagen über eine Überlastung der Revierbeamten führte jedoch nach der Jahrhundertwende zur Aufstellung einer eigenen Postengruppe von zehn Beamten, die den dezentralen Revierdienst entlastete.23 Zu einem weiteren Brennpunkt polizeilicher Aufmerksamkeit entwickelte sich der Bahnhof, der nicht nur einen der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt bildete, sondern als exponierter öffentlicher Raum, der täglich von zahlreichen Menschen frequentiert wurde, ein potentieller Herd von Unordnung und Unruhe war. In Hagen jedenfalls wurde die Polizei von der Bahnverwaltung mehrfach zur Intensivierung ihrer Aufsicht im Gebiet des Hauptbahnhofs aufgefordert, und die Einrichtung einer gesonderten Bahnhofswache scheiterte weniger am mangelnden polizeilichen Interesse als an finanziellen Engpässen.24 Andere Problemzonen der Stadt kamen hinzu. Zur Aufsicht über den Stadtpark waren in Hagen zwei ständige Schutzmänner abkommandiert, die Stadt Dortmund beschäftigte seit 1894 in Zusammenarbeit mit den Schulträgern zwei Beamten ausschließlich damit, schulschwänzende Kinder zwangsweise der Volksschule zuzuführen, und unterhielt einen Posten auf dem städtischen Schlachthof.25 In Dortmund, der größten Stadt des westfälischen Industriereviers, läßt sich zudem seit den neunziger Jahren eine besondere Variante großstädtischer Viertelbildung und stadträumlicher Differenzierung beobachten, die hier wie in vergleichbaren Städten die polizeiliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Nachdem in der Vergangenheit alle Versuche gescheitert waren, die Prostitution durch scharfe Diskriminierung der betroffenen Frauen einzudämmen oder zumindest in die umliegenden Gemeinden abzudrängen, tolerierte die Polizei seit den neunziger Jahren die räumliche Konzentration der Prostituierten in der Stadt. Schnell bildete sich eine Bordellstraße unter polizeilicher 116

Aufsicht heraus. Eigens zur Überwachung dieser Straße installierte die Dortmunder Polizei eine mit bis zu drei Beamten besetzte Wache.26 Die überdurchschnittliche Aufmerksamkeit fur proletarische Wohnviertel bestätigt die Hypothese von der klassenspezifischen Disziplinierungsfunktion der Polizei, wohingegen die zunehmende Beanspruchung der Sicherheitskräfte durch klassenunspezifische Ordnungsprobleme in der Großstadt eher eine tendenzielle Entschärfung des sozial selektiven Zugriffs auf die Lebenswelt der Arbeiterschaft vermuten läßt. Hinzu kommt, daß durch die fortschreitende innere Bürokratisierung und abteilungsmäßige Spezialisierung der Polizeiverwaltung immer mehr Kräfte gebunden wurden, die dem offen agierenden, beobachtenden, kontrollierenden, zugreifenden Außendienst nicht mehr zur Verfugung standen.27 Wenn man davon ausgeht, daß die Intensität der Kontrolle zum Gutteil von der Zahl der im Revier patrouillierenden Schutzleute und Sergeanten abhing, ist angesichts dieser sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums abzeichnenden Diversifizierung zu erwarten, daß der Druck auf das Arbeitermilieu kaum mehr wuchs, vielleicht sogar sank. Tab. 7 (Anhang) bestätigt diese Vermutung nur zum Teil. Einerseits zeigt sich, daß die Zahl der Hagener Beamten, die nicht im Außendienst standen, in den erfaßten zwanzig Jahren überproportional wuchs und der prozentuale Anteil der Reviersergeanten und Schutzleute von 80% auf 66% aller Exekutivkräfte sank. Die außerordentlich starke Expansion des Mannschaftsbestandes - von zwanzig Beamten 1887 auf dreiundneunzig Beamte im Jahre 1907 - kam immer weniger dem Außendienst zugute; nimmt man die in den Revieren stationierten Ordnungskräfte als Maßstab, verlief das Polizeiwachstum vor und nach der Jahrhundertwende mit erkennbar sinkendem Grenznutzen. Andererseits war das Gesamtwachstum des Apparates stark genug, um trotz dieser relativen Verschlechterung der Außenrepräsentanz die Polizeidichte in den Revieren langsam aber stetig zu steigern. Im letzten hier erfaßten Jahr, 1907, waren die Reviere der Hagener Polizei kleiner und die Relation zwischen Revierbeamten und Bevölkerung aus Sicht der Behörde günstiger als jemals zuvor. Die Hagener Entwicklung war in diesem Punkt vermutlich typisch28 und sollte im Kontext der hier vorgetragenen Argumentation als Relativierung der eindrucksvollen Wachstumsraten verstanden werden, die Schaubild 1 für die fünf untersuchten Städte präsentiert. Die Zunahme der Polizeidichte setzte sich nicht geradlinig in steigende Präsenz in den Stadtvierteln um; manches versickerte im bürokratischen Getriebe oder stärkte die Kapazitäten der Exekutive auf anderen Gebieten. Interne Spezialisierung und Verfeinerung der Hierarchie gingen jedoch nicht nur zu Lasten des Dienstes in den Revieren, sondern trugen ebensogut dazu bei, polizeiliche Arbeit effektiver zu gestalten. Je mehr bestimmte 117

Aufgaben besonderen Beamten oder Abteilungen übertragen wurden, wie die Verfolgung schwerer Delikte der Kriminalpolizei oder die Revision der Fabriken einem Gewerbepolizeibeamten, desto mehr konnten sich die Unterbeamten im Außendienst auf die Beaufsichtigung ihres Reviers konzentrieren. Nachdem 1908 in Hagen eine besondere Postengruppe geschaffen und die Reviersergeanten von dieser Zusatzaufgabe weitgehend endastet worden waren, standen sie während ihrer gesamten neun- bis elfstündigen Arbeitszeit für den Revier- und Patrouillendienst zur Verfügung.29 Andere qualitative Verbesserungen kamen hinzu. Um die Tätigkeit der Außendienstbeamten zu intensivieren und besser überwachen zu können, entwarf man für jedes Revier minutiöse Begehungspläne, deren Einhaltung von den Wachtmeistern und Kommissaren überprüft wurde. So verhaßt den Revierbeamten dieses »Gehen an der Schnur« auch war - eine schärfere innere Disziplinierung und Leistungskontrolle dürfte Folgen für die Außenwirkung der Polizei gehabt haben.30 Schließlich ist der Entlastungseffekt durch den Ausbau der nicht uniformierten Kriminalpolizei nicht zu unterschätzen, die sich nicht nur schwerer Delikte annahm, sondern Tätigkeitsfelder einschloß, die man als Kontrolle abweichenden Verhaltens rubrizieren würde. Eine Sonderinstruktion für den Hagener Kriminalschutzmann Klein aus dem Jahre 1901 übertrug diesem nicht nur die Überwachung der Prostituierten, sondern auch »der Trunkenbolde und solcher Personen, die durch Müßiggang und sonstiges lüderliches Leben außer Stande sind, für ihre Familien zu sorgen und derjenigen Familien, welche die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigen, sie nicht zum Besuche der Schule anhalten oder in anderer Weise schädlich auf die Erziehung ihrer Kinder einwirken.«31

Obwohl die Entwicklung der polizeilichen Infrastruktur in den untersuchten Städten nicht ganz geradlinig verlief, muß ein Resümee vor allem den Zuwachs obrigkeitlicher Eingriffsmöglichkeiten herausstreichen. Auch wenn die Zahl der uniformierten Beamten im Quartier nicht im selben Maße stieg, wie es die hohen Dichteziffern suggerieren, werden bürokratische Reibungsverluste und die Bindimg von Kräften durch technische Ordnungsaufgaben bis zum Ende des Untersuchungszeitraums durch die Effektivierung der Dienstorganisation, Verschärfung der internen Kontrolle und Entlastung der Revierpolizisten aufgewogen worden sein. Die städtische Polizei glich zum Ende des Jahrhunderts mit ihrer flächendeckenden, dezentralen Revierorganisation ähnlich vernetzten Institutionen auf dem Feld fürsorgerischer Intervention - beispielsweise dem bekannten »Elberfelder System« der Armenpflege. Die Parallelität beschränkte sich nicht auf das formale Organisationsmodell. Hier wie dort bestimmte eine aggressiv aufsuchende, proaktive Strategie das Verhältnis der Institution zu ihrer Klientel. Dort der »Armenbesucher«, der die Bedürftigen seines Viertels in ihren Wohnungen aufsuchte, ihren Lebenswandel kontrollierte und sie zur Arbeit anhielt, hier der Reviersergeant, der seinen Distrikt durchstreifte, nach 118

Mißständen und Gesetzesverstößen Ausschau hielt, normabweichendes Verhalten registrierte und anzeigte. Beide handelten als Agenten eines als allgemeinverbindlich definierten, dabei jedoch klassenspezifisch geprägten Verhaltenskodex, beide waren mit nicht zu unterschätzenden Sanktionsmitteln ausgestattet, und beide agierten typischerweise in sozial asymmetrischer Konstellation als Vertreter eines bürgerlichen Wertekanons gegenüber einer Unterschichtenklientel. 32 Der Streifenpolizist wurde nicht zu Unrecht zur Symbolfigur der modernen Polizei. Durch ihn war die Staatsmacht unabhängig von aktuellen Eingriffsanlässen ständig in der Öffentlichkeit vertreten. Als die Berliner Schutzmannschaft dieses Modell 1848 erstmals erprobte, stieß die ungewohnte prophylaktische Dauerpräsenz staatlicher Ordnungsagenten bei etlichen Bürgern auf Verständnislosigkeit und Ablehnung: »große Empörung« herrsche gegen die neuen Polizeibeamten, berichtete der scharfsichtige Kritiker der preußischen Reaktion - Varnhagen von Ense - im Juli 1848 aus Berlin; »der große Müßiggang reizt sie zu solchem Heißhunger nach Tätigkeit, und so machen sie die kleinsten Dinge zu großen Sachen, die unschuldigsten zu strafbaren. « 33 Ein halbes Jahrhundert später hatte sich die Öffentlichkeit an die »zahlreichen Bummler« (Varnhagen von Ense) gewöhnt und gehörte der sprichwörtliche Schutzmann an der Ecke zum selbstverständlichen Alltagsbild der Städte.

5.1.2.

Die Zechen-

und

Hüttenpolizisten

Bei der Verteilung der Ordnungskräfte hatte sich im Industrierevier schon früh eine Besonderheit herausgebildet, die es wert ist, etwas eingehender behandelt zu werden. Gemeint ist die Stationierung öffentlich bestallter, mit allen Rechten und Pflichten des Beamten ausgestatteter Polizisten in den großen Unternehmen der Region. Eindringlicher als auf anderen Ebenen der institutionellen Entwicklung treten bei dieser Verbindung öffentlicher Gewalt und privater Interessen vier Aspekte hervor. Erstens läßt sich an den Zechen- und Hüttenpolizeibeamten das Ausmaß der sozial selektiven Plazierung der Ordnungskräfte erkennen. Zweitens unterstreicht die Anwesenheit der Sergeanten, Schutzleute und Gendarmen auf dem Zechengelände und in der Arbeiterkolonie die Bedeutung routinemäßiger polizeilicher Verhaltenskontrolle im proletarischen Alltag. Drittens stellt sich an diesem Beispiel zugespitzt die Frage, bis zu welchem Grad der Gemeinwohlanspruch der Polizei in der Praxis zugunsten einer offenen Parteinahme für Unternehmerinteressen zurücktreten mußte, und viertens wird das Problem aktualisiert, wo konkret die Grenze zwischen dem staatlichen Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit und der privaten Verfugung über Gewaltressourcen verlief. 119

Ende der sechziger Jahre klagten Unternehmer in den westfälischen Industriekreisen über mangelnde polizeiliche Hilfe, »wenn der Gendarm bei den vielen Dienstleistungen, zu denen er hier verlangt wird, sich nicht auch stets in den Fabriken und möglichst in allen Arbeitsräumen sehen läßt.«34 Um die Gendarmen zu innerbetrieblichen Sonderpatrouillen zu bewegen, begannen sie, die staatlichen Polizisten durch Zuwendungen und Privilegien an sich zu binden. In Haspe, Bochum, Langendreer und Gelsenkirchen, so berichtete der Brigadier Franckenberg in seiner Denkschrift von 1869, würden den Gendarmen von den Fabrikbesitzern stark verbilligte Wohnungen in den Arbeiterquartieren oder sogar ganze Häuser zur Verfugung gestellt. Andere verschafften den Kindern der Gendarmen gut dotierte Stellen in der Fabrik, um sich der besonderen Aufmerksamkeit des Beamten zu vergewissern.35 In einer Reihe von Fällen beschränkte sich die Betriebsbindung nicht auf derartige Vergünstigungen und Gefälligkeiten. Große Unternehmen gingen dazu über, die feste Stationierung von Gendarmen in ihren Betriebsstätten zu fordern und boten als Gegenleistung die Übernahme aller Personal- und Sachkosten an, so daß dem Staat keine zusätzlichen Aufwendungen entstehen würden. Vor allem in den siebziger Jahren nahmen die Gendarmerieführung und das Berliner Innenministerium diese kostengünstige Möglichkeit einer verbesserten Überwachung der Arbeiterbevölkerung bereitwillig an. 1875 waren auf den Kruppschen Anlagen in Essen bis zu sechs Gendarmen stationiert, deren »Pensionsbeiträge, Besoldungen, Schreibmaterial-Entschädigungen und Montierungsgelder« von der Firma getragen wurden.36 Im Kreis Dortmund waren bis 1877 je ein Gendarm mit der »polizeilichen Beaufsichtigung der auf den Zechen Hansa und Erin beschäftigten Arbeiter« betraut, auf dem Werksgelände stationiert und von der Gesellschaft finanziert.37 Ahnliche Verträge bestanden seit Anfang der siebziger Jahre zur Überwachung der Bergarbeiterkolonie »Kaiserau« im Kreis Hamm und der Prosperzeche in Borbeck.38 Über die Privatfinanzierung und -beschäftigung aktiver Gendarmen hinaus stellten die Firmen in Einzelfällen pensionierte Gendarmen als Aufseher ein. Das auf die in Privatdiensten reaktivierten Pensionisten gemünzte Urteil Franckenbergs wird gleichermaßen für ihre offiziell amtierenden Kollegen gegolten haben: »Der Gendarm überwacht die Arbeiter, als wäre die Fabrik sein Eigenthum. ... In der Fabrik oder Zeche recognoszirt er mit untrüglichem Blicke jeden neu hinzugekommenen, was so gefurchtet wird, daß keiner mit schlechtem Gewissen sich dahin wagt. Obwohl der auf der Zeche zu Schalke zur Aufsicht angestellte pensionirte Gendarm ein[en] bedeutenden Zuschuß von monatlich 30 Sg. bekommt, dabei freie Wohnung und einen sehr bequemen Dienst hat, so hörte ich doch, daß die Direction durch die Ordnung, die seitdem unter den Arbeitern herrscht, die Ausgaben reichlich ersetzt findet.«39

Die private Finanzierung und der unternehmensinterne Einsatz preußischer Landgendarmen hätte wahrscheinlich noch weitere Verbreitung gefunden, 120

wenn die brisante Durchmischung privater und staatlicher Interessen nicht 1883 im preußischen Abgeordnetenhaus aufgedeckt worden wäre. Ironischerweise führte gerade die Weigerung der Grube »Wohlfahrt« im Kreis Schleiden (Reg. Bez. Aachen), die vollen Kosten des beantragten Zechengendarmen zu übernehmen, zur Aufdeckung der langjährigen Kooperationspraxis. Als der Restbetrag in den ordentlichen Gendarmeriehaushalt eingestellt und den Parlamentariern zur Genehmigung vorgelegt wurde, äußerte der Abgeordnete Berger aus Witten massive Bedenken: »Ich wünsche zu vermeiden, daß auch andere Bergwerks- und ähnliche Direktionen dazu übergehen, sich von der Staatsbehörde zur speziellen Beaufsichtigung ihrer Arbeiter Gendarmen zu erbitten. Ein solches Vorgehen würde böses Blut unter der betreffenden Arbeiterbevölkerung machen, und ich denke,... wir haben doch wahrlich Grund genug, alles zu tun, um etwa vorhandene böse Stimmung unter den Arbeitern zu beseitigen, nicht aber durch derartige Maßnahmen, die unter Umständen einen direkt provokatorischen Charakter tragen könnten, noch zu verschlechtern.«40

Der Vorstoß zeigte Wirkung. Schon zwei Monate nach Bergers Rede lehnte der Innenminister einen entsprechenden Antrag des Düsseldorfer Regierungspräsidenten mit der Begründung ab, »daß dauernde Einstellungen von Gendarmen für Rechnung von Privaten aus prinzipiellen Bedenken nicht mehr genehmigt werden können.«41 Mit dieser Floskel wurden von nun an alle vergleichbaren Forderungen aus dem Kreis der Großindustrie zurückgewiesen. Selbst als die Firma Krupp 1886 einen weiteren Gendarmen erbat, um die »Villa Hügel«, »welche häufig hohen Besuch beherbergt, einer ständigen, eingehenden Bewachung zu unterziehen und der in unmittelbarer Nähe wohnenden Arbeiterbevölkerung eine ausgiebige Beaufsichtigung angedeihen zu lassen,« überwogen in Berlin die »prinzipiellen Bedenken.«42 Die alten Kooperationsverträge blieben freilich gültig. Bei Krupp endete die Zeit privat finanzierter Gendarmeriebewachung erst nach 1910, als die alten Amtsinhaber pensioniert und die Stellen nicht wieder besetzt wurden, da die Unternehmensverwaltung »die für den Bezirk der Gußstahlfabrik angestellten Gendarmen unter den heutigen Verhältnissen für gänzlich überflüssig« hielt.43 Die restriktive Politik des Innenministeriums beendete zwar die private Besoldung staatlicher Gendarmen, hielt aber die interessierten Unternehmen nicht von Versuchen ab, sich weiterhin der Autorität und der hoheitlichen Befugnisse der landrätlichen Polizeibeamten zu versichern. Anders als die Berliner Zentrale begegneten die lokale und regionale Verwaltung diesen Bestrebungen mit Sympathie und Kooperationsbereitschaft. Nicht nur, daß die Regierungspräsidenten in Düsseldorf und Münster weiterhin Anträge auf Bewilligung privat finanzierter Gendarmen unterstützten.44 Wichtiger war ihre Bereitschaft, eine ausufernde Praxis indirekter Zuwendungen zu tolerieren, die sich nach dem ministeriellen Veto von 1883 herausbildete. Besonders 121

in den nördlichen Randkreisen des westfälischen Ruhrgebiets, in Gelsenkirchen und Recklinghausen, entwickelte sich seit den achtziger Jahren eine rege Kooperation zwischen den verantwortlichen Zivilvorgesetzten der Gendarmen und den ansässigen Zechengesellschaften. Exemplarisch ist ein Vorgang aus dem Jahre 1889. In einem Schreiben der Zeche »Graf Bismarck« an den Landrat in Recklinghausen hieß es: »In Anbetracht des stetigen Wachsens unserer Arbeiterkolonie vom Schacht Π in Erle b. Buer und bei der notorischen Anwesenheit verschiedener unruhiger Elemente unter der dort lebenden Bevölkerung halten wir es für dringend wünschenswert^ und sehr zweckmäßig, wenn ein Gendarm in der Kolonie selbst permanent stationiert wird.«

Freie Wohnung solle dem Gendarmen von der Zechenverwaltung gestellt werden.45 Der Regierungspräsident in Münster befürwortete den Antrag ebenso wie einen gleichlautenden von der Direktion der Zeche »Nordstern«, den er ein Jahr zuvor noch zurückgewiesen hatte, da sich die Zechengesellschaft damals weigerte, dem beantragten Gendarmen eine kostenlose Wohnung zu beschaffen.46 Die verdeckte Mischfinanzierung der Polizeipräsenz auf den großen Recklinghausener Zechen war also nicht nur ein Angebot der Industrie, um ihre Anlagen und Arbeitersiedlungen unter dauernde polizeiliche Aufsicht zu stellen, sondern wurde von der staatlichen Verwaltung offen gefordert. Das Stationierungsmuster der Recklinghausener Gendarmerie begünstigte diese Verflechtung, denn es gehörte zu ihren Grundprinzipien, die Ordnungskräfte möglichst nahe an die proletarischen Wohnviertel heranzuführen. Als das Innenministerium 1898 anregte, »in den Industriebezirken mit dichter, zu Ausschreitungen geneigter Arbeiterbevölkerung« doppelt besetzte Gendarmeriestationen einzurichten und die beiden Gendarmen gemeinsam in einem Haus unterzubringen, sprach sich der Münsteraner Regierungspräsident zwar für Doppelpatrouillen, aber gegen das gemeinsame Wohnen der Gendarmen aus.47 Wohl hätten Doppelstationen in Spannungssituationen ihre Vorzüge, argumentierte der Verwaltungschef, als Nachteil dieser räumlichen Konzentration könne sich jedoch die zwangsläufig wachsende Distanz der Sicherheitskräfte zu den verstreut liegenden Brennpunkten ihrer Aufmerksamkeit und Tätigkeit erweisen: »Der Gendarm wird, soweit angängig, da zu wohnen haben, wo er sein Hauptarbeitsfeld hat, also möglichst in der Nähe der großen industriellen Werke. Diese liegen an einem Stationsorte oft an entgegengesetzten Ortstheilen. Hier würde dann zweckmäßig je einer der beiden Gendarmen in einem Ortstheil wohnen. Hierdurch allein schon lernt er viele der Arbeiter des Werkes durch die tägliche Begegnung persönlich kennen.«48

Da aus dieser Sicht genaue Orts- und Personenkenntnis des Beamten und seine dauernde Anwesenheit im vermuteten Unruheherd die wichtigsten Voraussetzungen wirksamer Kontrolle waren, deckten sich die Interessen der 122

Verwaltung weitgehend mit denen der Zechendirektionen. Wenn ohnehin jedem Gendarmen eine Zeche zur speziellen Beaufsichtigung zugewiesen wurde, wie dies im Kreis Recklinghausen spätestens nach dem Streik von 1889 üblich war, kam eine freie Wohnung in der Zechenkolonie dem sehr entgegen.49 Folgerichtig bauten die landrätliche Polizei und das ansässige Kohlekapital ihre engen Beziehungen in den neunziger Jahren weiter aus. Im Jahre 1904 läßt sich für dreizehn der vierundvierzig Recklinghausener Gendarmen, also für rund 30%, eine direkte materielle Abhängigkeit von den Zechengesellschaften im Kreis nachweisen. Sei es, daß der Gendarm Schöne eine freie Wohnung von der Gewerkschaft »König Ludwig« erhielt, der Gendarm Coczanki von der Zeche »Ewald« einen Mietzuschuß in Höhe von 250 Mark bezog oder Gendarm Theel, dessen Station die Menage der Zeche »Prosper Π« in Bottrop war, von der Arenbergschen Aktiengesellschaft durch freies Wohnen und eine Zuwendung von 150 Mark an die Zeche gebunden wurde - hier wie in allen anderen Fällen unterliefen Kreisbehörde und Bergwerksverwaltung die ministerielle Politik der Trennung von Polizei und Privatkapital.50 Wenn das Ausmaß der Privatalimentation der Gendarmen in Recklinghausen auch besonders groß war, stand der Kreis doch nicht allein. Im Landkreis Gelsenkirchen waren im selben Jahr 17% und im Landkreis Hamm 21% aller Gendarmen auf Zechen stationiert oder bewohnten Zechenwohnungen. In den anderen Kohlekreisen kamen derartige Verbindungen seltener vor. Nur in den Landkreisen Dortmund und Bochum hatte jeweils ein Gendarm seinen Stationierungsort in einer Kohlenzeche.51 Bei den kommunalen Ortspolizeiverwaltungen lagen die Verhältnisse nicht viel anders als bei der staatlichen Gendarmerie. Eher waren die Kooperationsbeziehungen noch stärker entwickelt, denn die direkte private Besoldung der Beamten, die bei der Gendarmerie 1883 aus Opportunitätsgründen unterbunden und ins Halbdunkel indirekter Zuwendungen abgedrängt wurde, war bei der Kommunalpolizei bis 1914 ständige Praxis. Die Privatisierung von Polizeikosten und die Unterstellung öffentlicher Sicherheitskräfte unter die Verfugung großer Industrieunternehmen wurde dabei sowohl von Seiten der Industrie wie von Seiten der Kommunen betrieben. Bei zwei exemplarischen Fällen in Bochum und Dortmund Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre lag die Initiative bei den Unternehmen: »Auf Antrag des Bochumer Vereins und mit Genehmigung der Königlichen Regierung zu Arnsberg wurde den beiden Controleuren des Vereins, Glocke und Hackert, die Qualifikation für öffentliche Polizeibeamte beigelegt,«

meldete der Bochumer Verwaltungsbericht für 1879/80, und in der Nachbarstadt Dortmund beantragte das Eisen- und Stahlwerk Hoesch ein Jahr später »die Stationierung eines besonderen Polizeibeamten in den bei dem Etablis123

sement belegenen Arbeiterhäusern« und erklärte sich zur Übernahme der Kosten bereit.52 Wie häufig es bei solchen Abmachungen zu einer derart eklatanten Instrumentalisierung des Beamtenstatus wie beim Bochumer Verein gekommen ist, wo die privaten Aufseher des Unternehmens zu Polizeibeamten erhoben wurden, läßt sich nicht sagen; unzweifelhaft ist jedoch, daß die Firmen die Beamten nicht nur bezahlten, sondern auch über sie verfugten. So hieß es 1875 in einer Vereinbarung zwischen dem Amt Bochum und der Verwaltung der Zechen »Prinz von Preußen« und »Caroline« der Harpener Bergbau AG, daß das Unternehmen die Einstellung eines eigenen Polizeidieners beschlossen habe, »welcher in Ausnahmefällen auch im Interesse der allgemeinen Sicherheit zu verwenden ist und deshalb dem Unterzeichneten [d.h. dem Amtmann, R.J.] untergeordnet sein soll.«53 (Hervorhebungen von mir, R.J.) Auch der Arnsberger Regierungspräsident erhob in einem einschlägigen Erlaß aus dem Jahr 1877 keine grundsätzlichen Einwände gegen die unternehmensinterne Verwendung von Polizeibeamten, trug der Ortsbehörde jedoch auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Zechenpolizisten nicht zu Botengängen und anderen dienstfremden Tätigkeiten mißbraucht würden, da darunter ihr Ansehen als Organe der Polizei leiden würde. 54 Der umgekehrte Verlauf der Polizeikostenprivatisierung läßt sich in kleineren Gemeinden des nördlichen Ruhrgebiets beobachten, die sich bemühten, die Bergbaugesellschaften nach Art des Verursacherprinzips für die infrastrukturellen Folgelasten der Zechenansiedlungen haftbar zu machen. So forderte die Gemeinde Baukau 1883 anläßlich des Baues einer neuen Arbeiterkolonie von der Zeche »Barrillon« nicht nur die Errichtung eines Schulgebäudes und die Finanzierung des Lehrers, sondern auch die Übernahme der Gehaltskosten für einen neuen Polizeisergeanten.55 Als die Harpener Bergbau AG um die Jahrhundertwende in Hochlarmark bei Recklinghausen eine Zechensiedlung projektierte, stellte die Gemeindevertretung ihr zur Bedingung, in der Kolonie eine Polizeistation mit drei Arrestzellen einzurichten und die Gehaltskosten für den Sergeanten zu übernehmen. Nach zähen Verhandlungen konnte die Gemeinde diese Forderung durchsetzen.56 Auch wenn bei den zuletzt angeführten Fällen eher die desolate Lage der Gemeindefinanzen und weniger das Interesse der Unternehmen das treibende Moment war, blieb das Ergebnis dasselbe: Die öffentliche Gewalt geriet in unmittelbare Abhängigkeit von privaten Kapitalinteressen und polizeiliche Ressourcen wurden an die Arbeiterbevölkerung herangeführt. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums blieb die geschilderte Verflechtung von Kommunalpolizei und Industrie gängige Praxis, ohne daß sich aufgrund der bruchstückhaften Quellenüberlieferung ihr genaues Ausmaß bestimmen ließe. Einzelbeispiele zeigen jedoch, daß die Bedeutung der Hütten- und Zechenpolizisten auch in quantitativer Hinsicht nicht zu unter124

schätzen ist. In Dortmund waren im Eisen- und Stahlwerk Union, bei Hoesch und auf der Zeche Kaiserstuhl Π Sergeanten stationiert; um die Jahrhundertwende insgesamt 6 Mann oder rd. 5% des Unterbeamtenkorps der Dortmunder Polizei.57 In Hamborn beschäftigte die dort ansässige Thyssen-Hütte 1912 acht Polizeibeamte auf eigene Kosten.58 Aus Sicht der Unternehmer hatten die amtlich bestallten Hüttenpolizisten gegenüber dem privatvertraglich angestellten Aufsichts - und Überwachungspersonal den Vorzug, daß sie die Ordnungsziele des Unternehmens mit der Autorität, den Sanktionsmitteln und den besonderen Privilegien des Staatsbeamten verfolgten. Mit weit größerer Legitimität als jeder Wächter oder Werkschützer konnten die Polizeibeamten Vergehen und Übertretungen ahnden, die Meldepapiere der Beschäftigten überprüfen, die Wohnungen in der Arbeiterkolonie revidieren oder bei gravierenden Verstößen Festnahmen und Verhaftungen vornehmen.59 Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen der Gendarmen, Sergeanten oder Schutzleute war kein bloß privatrechtlich relevanter Verstoß gegen den Arbeitsvertrag, sondern »Widerstand gegen die Staatsgewalt«. Da jede Anweisung des Polizeibeamten mit dem Anspruch auf unbedingte Folgebereitschaft ausgesprochen wurde, konnte ein Verstoß gegen die Fabrikordnung praktisch zum Offizialdelikt erhoben werden. Die gekaufte Autorität des Hütten- oder Zechenpolizisten beruhte daher weniger auf der respekteinflößenden Uniform, als vielmehr darauf, daß durch seine Tätigkeit die innere Ordnung des Privatbetriebs zur öffentlichen Angelegenheit, die Fabrikordnung zur Polizeiordnung transformiert wurde. 1909 sanktionierte das Kammergericht ausdrücklich diesen Zusammenhang, indem es - wie schon der Arnsberger Regierungspräsident in seinem Erlaß von 1877 - energisch auf den offiziellen Charakter des betriebsinternen Einsatzes insistierte und bestätigte, daß Auflehnung gegen diese Polizisten stets Widerstand gegen die Staatsgewalt sei, denn: »Polizeibeamte, die ... innerhalb der Zechen und auch innerhalb umfriedeter Räume des Zecheneigentümers Dienst tun ... befinden sich in rechtmäßiger Ausübung ihres Amtes. Es kann keine Rede davon sein, daß die Beamten nur für Privatzwecke beurlaubt werden. Die Beamten haben die Stellung von Polizeibeamten, nicht die von Privatwächtern der Zechenverwaltung.«60

Auch wenn für dieses Feld polizeilicher Tätigkeit wie für kaum ein anderes das Liebknechtsche Diktum von der Polizei als Handlanger des Großkapitals zuzutreffen scheint, kommt eine genauere Analyse nicht umhin, auf Ambivalenzen hinzuweisen. Einerseits bleibt selbstverständlich die private Alimentation staatlicher und kommunaler Beamter und ihre faktische Unterstellung unter die Verfügungsgewalt mächtiger Privatinteressen ein Beispiel für die Konvergenz der Ordnungsziele von Bourgeoisie und Staat. Andererseits erweist sich das, was auf den ersten Blick ausschließlich als Instrumentalisierung der Polizei für private Interessen erscheint, bei näherem 125

Hinsehen auch als Indiz für den Legitimationsverfall außerstaatlicher Gewalt und als Hinweis auf die fortschreitende Verpolizeilichung von Disziplinierungsleistungen. Indem die schwerindustriellen Unternehmer, selbst der Erzpatriarch Krupp, darauf drängten, den Binnenraum der Fabrik der polizeilich überwachten Öffentlichkeit anzugleichen und ihre Aufseher mit dem einzig legitimen, weil staatlich verliehenen Mandat gewaltsamen Zugriffs auszustatten, erkannten sie implizit an, wie eng die Grenzen der Unternehmerautokratie mittlerweile gezogen waren. Auch wenn zwischen den Polen traditionaler, ständischer Herrengewalt und dem modernen staatlichen Gewaltmonopol eine Grauzone innerbetrieblicher Herrschaft bestehen blieb, waren Vertragsfreiheit und Eigentumsrecht offenbar keine ausreichend tragfähige Legitimationsgrundlage einer privaten Polizei. Anders als in den USA, wo sich die Unternehmer der »Company Towns« lange Zeit erfolgreich auf private Polizeiverbände wie die »Pinkerton Agency« stützen konnten, die ja nicht nur eine Detektivagentur, sondern auch eine schlagkräftige Truppe zur Unterdrückung von Streiks war,61 wurde in Preußen auch für die Kohlemagnaten an der Ruhr das staatliche Polizeimonopol zum eigentlichen Fixpunkt der Ordnungssicherung. Insofern stehen die Zechen- und Hüttenpolizeibeamten nicht nur für die Kooperationsbereitschaft einer gegenüber Kapitalinteressen willfährigen Polizei, sondern ebenso für die Durchsetzungsprobleme innerbetrieblicher Herrschaft und den Bedeutungsgewinn der öffentlichen Gewalt.

5.2. Kapazitäten und Strategien der Streikkontrolle Obwohl die Gewerbeordnung von 1869 Gewerkschaften und Streiks legalisiert hatte, und trotz der Tatsache, daß die Arbeitskämpfe immer mehr ihre eruptiv spontanen und in Einzelfällen gewaltsamen Formen aus der Frühphase der Industrialisierung verloren und sich sukzessive zu kalkulierten, organisierten und tendenziell ritualisierten Verteilungskämpfen entwickelten, blieb die Kontrolle von Streikbewegungen bis 1914 die wohl spektakulärste Aufgabe der preußischen Polizei.62 Besonders weitreichende Folgen hatte die obrigkeitliche Streikpolitik im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Im Bergbau entwickelten sich die Auseinandersetzungen vor und nach der Jahrhundertwende aufgrund ihres Umfangs, der strategischen Bedeutung der Kohle und der Monostruktur des Montangebiets, in dem nicht eine einzelne Stadt, sondern die ganze Region vom Arbeitskampf betroffen war, sehr schnell zu weit ausstrahlenden Machtproben zwischen Arbeiterbewegung und Kapital. Zugleich eskalierten sie zu Symbolkonflikten zwischen Arbeiter126

schaft und Staat, die durch querlaufende nationale Spannungen, die befürchtete, wenn auch nie eingetretene sozialdemokratische Instrumentalisierung des Massenstreiks und die politische wie konfessionelle Fraktionierung der Bergarbeiterbewegung zusätzliche Schärfe und eine über den eigentlichen Anlaß hinausgehende Bedeutung erlangten. Die Ereignisgeschichte der Bergarbeiterstreiks von 1889,1899,1905 und 1912 ist recht gut erforscht und soll hier nur soweit herangezogen werden, wie sie zum Verständnis der grundsätzlichen Rolle der Polizei von Interesse ist.63 Schon bei der chronologischen Darstellung ist betont worden, daß der Streik von 1889 für den Polizeiausbau im Revier eine Schlüsselrolle gespielt hat; an dieser Stelle soll mehr systematisch nach zwei Elementen der Polizeimodernisierung gefragt werden, die bei der Problematik der Streikkontrolle besonders scharf hervortraten. Erstens danach, wieweit es der preußischen Regierung in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende gelang, das seit 1889 immer wieder betonte Ziel der Entmilitarisierung institutionell und polizeipraktisch umzusetzen und damit die Verpolizeilichung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Zweitens aktualisiert die Stellung der Polizeibehörden zu den Arbeitskampfparteien nicht nur die Frage nach dem Ausmaß ihrer Parteilichkeit in Klassenauseinandersetzungen, sondern auch die nach der Reichweite des staatlichen Anspruchs auf das Monopol legitimer Gewaltsamkeit.

5.2.1. Tendenzen und Grenzen der

Entmilitarisierung

Daß sich militärische und zivile Stellen nach dem Bergarbeiterstreik von 1889 so schnell über die Unzulänglichkeit der bisherigen staatlichen Reaktionen auf größere Arbeitskämpfe einig waren, war weniger ihrer Einsicht in die grundsätzliche Antiquiertheit innerer Militäreinsätze zu verdanken, als vielmehr der Verknüpfung verschiedener taktischer Erwägungen. Die Militärs beunruhigte die Vorstellung, die Autorität der bewaffneten Macht könne durch wiederholte Streikeinsätze verschlissen und dadurch die Legitimität ihrer inneren Ordnungseingriffe generell in Frage gestellt werden. Aus Sicht der regionalen Verwaltungsbehörden sprachen vor allem die mangelnde Flexibilität geschlossener militärischer Verbände und ihre Unfähigkeit zu situationsangepaßten Reaktionen für eine Entmilitarisierung der Streikkontrolle. Der drohenden Verkürzung der Handlungsoptionen auf die wenig befriedigende Alternative, gar nicht oder unter Aufbietung des Militärs gegen streikende Bergleute vorzugehen, wollte man durch Bereitstellung eines abgestuften Instrumentariums entgehen. Die Berliner Regierung schließlich fürchtete die politischen Kosten der im In- und Ausland kritisierten Militäreinsätze und war gleichzeitig daran interessiert, ihr sozialpolitisches Reform127

programm, das die Stellung des Staates zwischen den Klassen im Sinne eines »sozialen Königtums« neu bestimmen sollte, durch einen zivilisierten und zugleich leistungsfähigeren Gewaltapparat zu flankieren.64 Der hohe Stellenwert, den die staatlichen Führungsinstanzen nach 1889 der Formulierung einer leistungsfähigen polizeilichen Streikkontrollstrategie zumaßen, erklärt sich aber nicht nur aus dem Bestreben, die Einsatzschwelle des Militärs spürbar anzuheben. Im Laufe der neunziger Jahre wurde dieses Motiv zunehmend von einer klarer gefaßten Aufgabenbestimmung für die Polizei überlagert, die die Rolle der Ordnungskräfte im Arbeitskampf aufwertete. Schon bevor 1899 die Ablehnung der »Zuchthausvorlage« alle Versuche zunichte machte, das Streikrecht auf legislatorischem Wege einzuschränken, fiel der Polizei mehr und mehr die Aufgabe zu, Ausstände auf exekutivem Wege einzudämmen.65 Zum Leitmotiv der polizeilichen Reglementierung des Arbeitskampfes wurde die Formel vom »Schutz der Arbeitswilligen« gegen den »Streikterrorismus« der Gewerkschaften. Weil die Chancen jedes Streiks wesentlich von der Geschlossenheit der Ausständischen abhingen, waren diese stets bemüht, durch Solidaritätsappelle, Streikposten und mehr oder weniger sanften Druck auf die Arbeitswilligen die Zahl der Streikbrecher möglichst klein zu halten, während umgekehrt die Kapitalseite ein massives Interesse an der Aufrechterhaltung der Produktion hatte. Zweifellos lag in der Abwehr bzw. dem Schutz der Streikbrecher das größte und eskalationsträchtigste Reibungspotential eines jeden Arbeitskampfes und genau daraus zogen die polizeilichen Eingriffe ins Streikgeschehen ihre Legitimation. Entscheidend für die unübersehbare Parteilichkeit der Polizei war allerdings weniger ihr Anspruch, gewaltsame Übergriffe der Streikenden zu ahnden, als ihr Bemühen, jeden Versuch der Einflußnahme auf die nicht am Ausstand Beteiligten zu unterbinden oder wenn möglich präventiv alle Möglichkeiten dazu abzuschneiden. In einer seiner »generellen Verfugungen, betr. das Einschreiten der Polizeibehörden gegen Ausschreitungen im Ausstande befindlicher Arbeiter« wies das Innenministerium im Jahre 1897 die unteren Instanzen unmißverständlich an, ihren Eingriff nicht von der Begehung einer gesetzwidrigen Handlung abhängig zu machen, »sondern sie werden zum Schutze der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit auch in den Fällen einschreiten müssen, wo von streikenden Arbeitern zum Zwecke der Beeinflussung arbeitswilliger Elemente Handlungen verübt werden, welche gegen strafandrohende Bestimmungen zwar nicht verstoßen, aber die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit gefährden.«64

Ein Jahr später schärfte das Ministerium der Polizei diesen präventiven Ordnungsauftrag erneut ein und übersetzte ihn in polizeitaktische Anweisungen:

128

»Die Polizeibehörden werden ... bei Ausbruch von Arbeiterausständen die hiervon betroffenen Arbeitsstellen unter stete Beobachtung zu nehmen, dieselben, soweit erforderlich, polizeilich zu schützen und unter allen Umständen dafür zu sorgen haben, daß diejenigen Arbeiter, ... welche arbeiten wollen, hierin nicht gestört und beunruhigt werden.« 67

Wenn bereits die »Beunruhigung« von Streikbrechern »unter allen Umständen« polizeilich ausgeschlossen werden sollte, war dem Streikeinsatz der Ordnungskräfte keine bestimmbare Grenze mehr gesetzt. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe konnte sich die Polizei nicht nur auf die dehnbare Generalklausel des A L R berufen, die ihr die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zur Pflicht machte, sondern spezielle Polizeiverordnungen ins Feld fuhren, die es ihr praktisch freistellten, Streikposten nach Belieben fortzuweisen und bei Nichtbefolgen der polizeilichen Anweisung festzunehmen. Während der neunziger Jahre stützte sich die westfälische Polizei auf eine ausschließlich zur Unterdrückung des Streikpostenwesens erlassene Oberpräsidialverordnung, die es unter Strafe stellte, sich entgegen der Anordnung eines Polizeibeamten in der Umgebung eines Bergwerks oder einer vergleichbaren industriellen Anlage aufzuhalten.68 Als die Rechtmäßigkeit derartiger Bestimmungen 1905 vom Berliner Kammergericht bestritten wurde, griffen die Polizeibehörden auf eine noch weitergehende Ermächtigung zurück, die seit der Jahrhundertwende auf Anweisung des Innenministeriums in die lokalen und regionalen Straßenpolizeiverordnungen eingearbeitet worden war und allen Passanten aufgab, »den zur Erhaltung der Sicherheit und Bequemlichkeit auf der öffentlichen Straße ergangenen Aufforderungen der Aufsichtsbeamten ... unbedingt Folge zu leisten«.69 Da die Entscheidung darüber, ob die Bequemlichkeit des Straßenverkehrs gefährdet war, allein der Beurteilung des Polizisten unterlag und auch gerichtlicher Nachprüfung entzogen war, stellten Streikposten von nun an selbst auf menschenleerer Straße ein polizeilich zu beseitigendes Verkehrshindernis dar.70 Flankiert wurde diese Ausdehnimg polizeilicher Eingriffsanlässe und kompetenzen durch eine Judikatur, die in ihren Streikpostenurteilen mit Recht die Bezeichnung der Klassenjustiz verdient. Das Gros der Richter folgte der unternehmerischen Agitation gegen den »Streikterrorismus« und schreckte auch vor grotesken Auslegungen des Streikpostenparagraphen der Gewerbeordnung nicht zurück, der denjenigen mit einer bis zu dreimonatigen Gefängnisstrafe bedrohte, der einen Arbeitswilligen durch Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung zum Anschluß an den Ausstand zu bewegen versuchte. Als ehrverletzend oder bedrohlich galten nicht nur der Zuruf »Streikbrecher« oder das einfache Wort »Pfui«, sondern auch demonstratives Ausspucken oder die Warnung an Arbeitswillige, sie würden aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. 71 In einer vertraulichen Denkschrift zur 129

»Rechtsprechung und Rechtsbildung im gewerblichen Arbeitsverhältnis« konnte der Kölner Arbeitgeberverband 1912 befriedigt feststellen, »daß die Rechtsprechung auf diesem Gebiet bereits große Fortschritte gemacht hat«, wenn auch der § 153 GO seines Erachtens noch weitergehende Interpretationsmöglichkeiten biete, die bis zur Strafbarkeit der physischen Anwesenheit der Ausständischen reichten, denn: »Das stillschweigende Beobachten der Arbeitswilligen erfüllt vollkommen den Zweck, in den Arbeitswilligen das Gefühl zu erwecken, daß sie auf Schritt und Tritt von der Schar streikender Arbeitergenossen bedroht sind ,..«72 Es hätte nicht der Initiative des Arbeitgeberverbandes bedurft, die Ordnungsbehörden »durch geeignete Publikationen in Polizei-Fachzeitschriften daraufhinzuweisen,... welche Mittel ihnen zu Gebote stehen«, um energisch gegen Streikposten vorzugehen. Auch so registrierten Aufsichtsbehörden und einschlägige Fachorgane jede Wendung der Rechtsprechung und reichten sie als Handlungsanweisung an die unteren Behörden weiter.73 Die Bedeutung dieser Entwicklung lag weniger darin, daß sie die Parteilichkeit des Staates demonstrierte, als vielmehr darin, daß durch sie diese Parteilichkeit seit den neunziger Jahren in ein operatives Konzept umgesetzt wurde, das dem aktiven Eingriff der Exekutive ins Streikgeschehen immer größeres Gewicht zumaß. An die Stelle eines relativ grobschlächtigen, auf die Unterdrückung von Tumulten und Unruhen gerichteten Polizeikonzepts, dessen Lageanalyse - wenn man von solcher überhaupt sprechen kann - eher am Bild des eruptiven sozialen Protests orientiert war, trat eine systematische, zentral angeleitete, durch Verordnungen und eine fein ziselierte Streikjudikatur rechtlich abgesicherte Kontrollstrategie. Beide Anliegen, die angestrebte Entmilitarisierung wie die neue, aktive Rolle der Sicherheitskräfte im Streik, erforderten eine erhebliche Aufstokkung des Mannschaftsbestandes, die durch die Personalvermehrung bei Kommunalpolizei und Gendarmerie nur zum Teil gewährleistet war. Selbst nach der Vermehrung der Ortspolizei und der Verdoppelung der Gendarmen im Gefolge des Streiks von 1889 standen im ganzen westfälischen Ruhrgebiet zu Beginn der neunziger Jahre weniger als fünfhundert Polizeibeamte für eventuelle Streikeinsätze zur Verfügung.74 Da auch den Planern in der Verwaltung klar war, daß eine alle Eventualitäten abdeckende ständige Polizeimacht weder gegenüber den Kommunen durchzusetzen noch zu finanzieren war, legten sie bereits Ende des Jahres 1889 einen Mobilisierungsplan vor, nach dem im Falle eines größeren Streiks auswärtige Polizeikräfte herangeführt werden sollten.75 In einer »Nachweisung A« wurden alle Angehörigen der westfälischen Gendarmeriebrigade erfaßt, die außerhalb des Reviers stationiert waren und bei Bedarf ins Ausstandsgebiet kommandiert werden sollten. Die Gendarmen waren einzelnen Kreisen fest zugewiesen und hatten sich nach telegraphischer 130

Requisition des Landrats auf dem schnellsten Wege in ihr Zielgebiet zu begeben. Darüber hinaus stand dem Regierungspräsidenten eine Art letztes gendarmeristisches Aufgebot zur Verfugung, das in einer »Nachweisung B« aufgelistet war und diejenigen westfälischen Gendarmen umfaßte, die »bei größeren Arbeiterbewegungen im Nothfalle herangezogen werden können.« Beide »Designationslisten« enthielten 1892 zusammen einhundertvier Gendarmen.76 Damit war das Kräftereservoir in der Umgebung der potentiellen Streikzone weitgehend ausgeschöpft. Zusätzlich zu den Gendarmen der Nachweisungen Α und B, die ausschließlich für den individuellen Polizeieinsatz vorgesehen waren, verfügten die Regierungspräsidenten der preußischen Bergbaugebiete seit April 1890 über sogenannte »Gendarmerie-Detachements«. Dies waren geschlossene Trupps von Gendarmen, die nur zu diesem Zweck aus den Kräften unbeteiligter Provinzen zusammengestellt wurden und im Streikgebiet unter Führung eines Gendarmerieoffiziers als Verband operieren sollten. Nur in Ausnahmefällen war die Auflösung des Detachements und der dezentrale Einsatz der Gendarmen vorgesehen.77 Aus ursprünglich zwei geplanten Detachements für die westfälischen Ruhrgebietskreise waren bis 1893 fünf geworden, die in Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen, Hörde und Recklinghausen stationiert werden sollten und zusammen einhunderteinundfunfzig Mann umfaßten.78 Die geschlossenen Gendarmerieverbände lassen erkennen, wie stark die behördlichen Überlegungen Anfang der neunziger Jahre trotz der schlechten Erfahrungen im zurückliegenden Streik noch von militärischen Einsatzkonzepten geprägt waren. Die Detachements imitierten die Struktur der Infanterie- und Kavallerietruppen und waren fur Konfliktformen ausgelegt, bei denen es galt, größere Menschenmassen zu zerstreuen. Wie ihre militärischen Vorbilder gingen auch die Gendarmeriedetachements damit an der Realität des dezentralen Streiks in der Montanregion vorbei, bei dem sich die Ausständischen eben nicht auf einem zentralen Platz versammelten, von dem sie leicht durch einige Dutzende berittener Gendarmen vertrieben werden konnten, sondern der sich auf vielen Einzelschauplätzen, in Werkssiedlungen, vor den Schächten und auf den Zechenplätzen abspielte. Schon bei den kleineren Arbeitsniederlegungen in den Jahren 1891 und 1893 rächten sich diese militärischen Reminiszenzen. Nur einmal kam es im Verlauf dieser Streiks zum geschlossenen Einsatz, als am 12. Januar 1893 »eine aus 11 Gendarmen bestehende Patrouille einen von Gelsenkirchen kommenden Trupp von etwa 200 Ausständigen nach vorhergehender Verwarnung angegriffen und auseinander gesprengt hat.«79 Im übrigen blieb den Offizieren nichts anderes übrig, als von ihren Ausnahmerechten ausgiebig Gebrauch zu machen, und die einzelnen Beamten nach Bedarf zu verteilen. Auch diese Verlegenheitslösung konnte die pseudomilitärischen Detachements nicht 131

effektiver machen, so daß sie 1899 endgültig aufgelöst und ihre Kräfte den Landräten zugewiesen wurden. Das polizeiliche Einzeldienstprinzip hatte sich - vorläufig - auch in der Streikkontrolle durchgesetzt.80 Obwohl der politisch gewollte und immer wieder betonte Vorrang polizeilicher vor militärischer Streikkontrolle seit den frühen neunziger Jahren durch die Polizeiverstärkung im Revier, die Designationslisten und die Gendarmeriedetachements erkennbaren institutionellen Niederschlag gefunden hatte, kann eine Gesamtbilanz allenfalls einen Teilerfolg, wenn nicht das Scheitern der Demilitarisierungsstrategie konstatieren. Von den drei großen Bergarbeiterausständen, die zwischen 1890 und 1914 das Ruhrgebiet erschütterten, verlief allein der Ausstand von 1905 ohne Militärrequisition, während bei den »Herner Krawallen« von 1899 und - wichtiger noch - bei dem Massenstreik von 1912 militärische Verbände eingesetzt wurden. Wie läßt sich dieser Fehlschlag erklären? Sicherlich entfaltete jeder Arbeitskampf seine eigene Dynamik und zweifellos bestanden zwischen der Herner »Polenrevolte«, die nach sozialer Trägerschaft, Entstehung und Verlauf mehr dem traditionellen sozialen Protest als einem modernen Arbeitskampf glich, und dem disziplinierten, gewerkschaftlich organisierten und initiierten Flächenstreik von 1912 ein großer Unterschied, der auch die behördlichen Reaktion nicht unbeeinflußt gelassen hat. Trotz dieser Differenzen im einzelnen lassen sich im typisierenden Uberblick drei Hauptursachen für den Mißerfolg der immer wieder beschworenen Verpolizeilichung der Streikkontrolle ausmachen. Einmal stießen die Verantwortlichen in der Bezirks- und Provinzialverwaltung mit ihren Demilitarisierungsbemühungen bei den Lokalbehörden, der konservativen Presse und besonders bei den Zechenunternehmen auf offene oder versteckte Opposition und Obstruktion. Mit aufgebauschten und zum Teil erfundenen Schreckensmeldungen über angebliche Ausschreitungen der Ausständischen versuchten die Zechenverwaltungen die Lokalbehörden unter Druck zu setzen und sie dazu zu bewegen, um militärische Hilfe nachzusuchen. Ihnen lag vor allem daran, den Arbeitskampf rasch durch die Staatsmacht niederschlagen zu lassen, ungeachtet der politischen Kosten und möglicher polizeitaktischer Erwägungen. »Bei dem letzten Bergarbeiterausstand im Beginn des vorigen Jahres,« resümierte der Provinzchef mit Blick auf den Streik von 1905, »haben verschiedene Polizeiverwalter des Industriegebietes, wohl unter dem Druck der Zechenverwaltungen und besonders ängstlicher Bürger große Neigung gezeigt, das Militär früher als notwendig zur Hilfe zu rufen, und es hat wiederholt des persönlichen Eingreifens der vorgesetzten Staatsbeamten bedurft, sie davon abzuhalten.«81

Die Bestimmungen über die Truppenmobilisierung im Unruhefall kamen diesen Versuchen, die amtliche Polizeistrategie durch interessenpolitischen Druck von unten zu durchkreuzen, gleich doppelt entgegen. Erstens war die 132

Militärrequisition nicht an die Zustimmung der zentralen Aufsichtsinstanzen gebunden, sondern stand grundsätzlich auch den leicht beeinflußbaren Ortspolizeibehörden zu, die sich direkt an das zuständige Generalkommando wenden konnten. Im Streik von 1905 machte diese unkontrollierbare Requisitionsermächtigung den Bezirksregierungen die meisten Sorgen. Zweitens ging mit der Truppenmobilisierung die Leitung sämtlicher Maßnahmen auf die Militärbefehlshaber über, die sich wenig um eventuelle zivile Bedenken kümmerten und den Hilfeersuchen der Zechenverwaltungen bereitwillig folgten.82 Als 1899 der Herner Streik auf den Kreis Recklinghausen überzugreifen drohte und es auf einer Zeche zu Arbeitsniederlegungen kam, wandten sich die Verwaltungen der Zechen »König Ludwig« und »Recklinghausen I« direkt an den Kommandanten der nach Herne entsandten Truppen und verlangten militärischen Schutz. Ohne daß der zuständige Landrat auch nur informiert worden wäre, marschierten daraufhin Soldaten in den Kreis Recklinghausen ein. Verbittert beschwerte sich der Münsteraner Regierungspräsident über diese Praxis industriell-militärischer Direktkontakte: »Wenn den Wünschen der Zechen militärischerseits ohne weiteres und über den Kopf der verantwortlichen Zivilbehörden hinweg entsprochen wird, dann liegt die Gefahr nahe, daß der Einfluß der letzteren ganz untergraben wird.«83 Der Chef der Bezirksregierung forderte vor allem deshalb so energisch das Mitbestimmungsrecht der Zivilverwaltung, weil er die eskalierende Wirkung des militärischen Aufmarsches fürchtete und darauf beharrte, daß das Hinzuziehen von Militär nur als >Ultima ratioFelddienstübungen in entfernter Gegend, weit (H.i.O.) ab von Zechen und Bergarbeitern zu vollführen. < «85

Im Requisitionsrecht der Unterbehörden lag eine andauernde Gefahr für die Verpolizeilichungsbemühungen der staatlichen Stellen. Diese wurde erst im Herbst 1906 nach jahrelangen Interventionen der Mittelbehörden und den Erfahrungen des Streiks von 1905 dadurch gemildert, daß den Lokalverwaltungen die Truppenanforderung nur noch in »Fällen der dringendsten Art« gestattet war und ansonsten den Regierungspräsidenten vorbehalten blieb.86 Eine zweite, mehr grundsätzliche Ursache fur die begrenzten Erfolge der Demilitarisierung ist in der unangefochtenen Sonderstellung der Armee im wilhelminischen Herrschaftssystem zu suchen. Auch die immer wiederkehrende Rede vom Militär als Ultima ratio innerstaatlicher Ordnungs- und Herrschaftssicherung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Möglich133

keit eines inneren Einsatzes gegen streikende Arbeiter stets real und nie bloß hypothetisch war. Parallel zum Aufbau polizeilicher Kapazitäten zur Unruhebekämpfung verfeinerte auch das Militär seine Notstandsplanungen. Die regionalen Armeekorps ließen sich von den Zivilbehörden über die »Druckereien und Redaktionen, deren Unschädlichmachung im Falle innerer Unruhen usw. geboten ist« informieren und führten Listen über diejenigen Personen, die im Falle der Erklärung des Belagerungszustandes aus Anlaß eines Generalstreiks zu verhaften wären.87 Die Einsatzszenarien, die die militärische Führung am grünen Tisch für den Kampf gegen den inneren Feind entwarf- die berüchtigte Generalstabsstudie »Der Kampf in insurgierten Städten« aus dem Jahre 1907 etwa oder der Geheimerlaß des Kriegsministers vom 8. Februar 1912 zur »Verwendung von Truppen zur Unterdrükkung innerer Unruhen«88 - nahmen immer mehr den Charakter von Bürgerkriegsplanungen an. Das »Heer als Kampfinstrument nach Innen«89 blieb bis 1914 als dauernde Drohung gegen die organisierte Arbeiterschaft präsent. Auch wenn an der Entschlossenheit der Innenbehörden, den Primat der Polizei bei der Streikkontrolle zu sichern, nicht zu zweifeln ist, lag in der Militarisierung der wilhelminischen Gesellschaft und der Verfügbarkeit des wohl präparierten Heeres eine nicht zu unterschätzende Schwächung dieser Strategie und zugleich eine Versuchung, bei auftretenden Schwierigkeiten schnell auf den sicheren Rückhalt der bewaffneten Macht zurückzugreifen. Ein weiterer wichtiger Grund für die Mißerfolge der polizeilichen Streikkontrolle ist schließlich bei den Innenbehörden und der Polizei selbst zu suchen. Am Beispiel der beiden großen Ausstände von 1905 und 1912 läßt sich recht gut verfolgen, wie sie aufgrund ihrer selbstgesetzten Anforderungen immer mehr das Ziel der Demilitarisierung gefährdeten. Zu Beginn des Bergarbeiterstreiks von 1905 waren für die westfälischen Teile des Ruhrreviers 255 auswärtige Gendarmen designiert - etwa ebensoviele wie bereits zehn Jahre zuvor. Allein die Vermehrung des städtischen Polizeipersonals hatte dafür gesorgt, daß die Entwicklung der verfugbaren Kräfte mit der Zunahme der Bergarbeiterschaft Schritt hielt, so daß die Relation zwischen der Zahl der potentiellen Streikteilnehmer und der der Sicherheitskräfte etwa dieselbe wie zu Beginn der neunziger Jahre blieb.90 Was man damals noch fur ausreichend erachtet hatte, erwies sich nun als völlig unzureichend, vor allem deshalb, weil die aktive Eindämmung des Streiks zum Hauptzweck des Polizeieinsatzes geworden war: »Für die Frage, ob der Ausstand sich noch weiter als bisher ausdehnen wird, und namentlich ob es den Bergarbeiterorganisationen gelingen wird, einen allgemeinen Streik durchzusetzen, kommt es wesentlich darauf an, inwieweit die Behörden im Stande sind, die in nicht geringer Zahl vorhandenen arbeitswilligen Arbeiter gegen die Belästigungen der Ausständischen zu schützen.«91

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Vier Tage nach dieser Einschätzung des Oberpräsidenten richtete der Arnsberger Regierungspräsident eine dringende Verstärkungsforderung an die vorgesetzte Behörde, deren Begründung erkennen läßt, daß das Ziel, die Streikbrecher zu decken, den ursprünglichen Polizeiauftrag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, immer mehr überlagert hatte: »Landrat Bochum berichtet, daß Ansammlungen der streikenden Bergleute sehr bedeutend und daß das Bestreben, die Arbeitswilligen unter allen Umständen zu schützen, gelegentlich zu Zusammenstößen fuhren muß. Er bittet daher um Verstärkung der Gendarmerie, um die Autorität weiter hochzuhalten.« 92

Während des ganzen Streiks gingen ähnliche Alarmmeldungen ein. Die polizeiliche Streikeindämmung hatte in der Praxis einen inflationären Kräftebedarf ausgelöst, den das Innenministerium nur mit größter Mühe decken konnte. U m einen »dauernden, zuverläßigen Schutz der Arbeitswilligen«93 zu garantieren, verteilte die Einsatzleitung die Polizeibeamten auf die verstreut liegenden Zechen. Zehn bis zwölf Polizisten auf jeder Zeche sollten den ungestörten Betrieb der Anlagen sichern, Versammlungen der Ausständischen verhindern und Streikposten vertreiben. Dieser kräftezehrende, dezentrale Einsatz ließ sich aber weder mit den einheimischen noch mit den vorab designierten Polizeimannschaften bestreiten, so daß während des Ausstands immer neue Beamte aus allen Teilen Preußens herangeführt wurden. Als das Reservoir der Landgendarmerie ausgeschöpft war, griff das Innenministerium auf die Beamten der staatlichen Schutzmannschaften zurück, und auch Angehörige kommunaler Polizeiverwaltungen wurden ins Streikgebiet mobilisiert. Bis zum Ende des Ausstands kamen auf diese Weise zusätzlich zu den 1135 einheimischen Polizisten und 255 designierten Gendarmen 704 ad hoc aufgebotene auswärtige Beamte in der westfälischen Streikzone zum Einsatz. Bei rund 150.000 Ausständischen im westfälischen Teil des Reviers entfiel auf etwa siebzig streikende Bergarbeiter ein Polizeibeamter.94 Durch diese Konzentration der Sicherheitskräfte, aber auch durch die in diesem Fall eher zur Mäßigung statt zur Eskalation neigende Haltung der preußischen Regierung und das durchgängig disziplinierte Auftreten der Streikenden, die von den Gewerkschaften immer wieder zur Ordnung angehalten wurden, waren die Behörden in der Lage, dem steten Drängen der Zechenherren auf schleunigsten Militäreinsatz zu widerstehen. Unmittelbare Konsequenz der Streikerfahrung war eine gründliche Uberarbeitung und Aufstockung der Designationslisten. Die schon während des Streiks erkennbare Tendenz zur Ausschöpfung aller Reserven wurde fortgesetzt. Neben der Gendarmerie bezog man die Schutzmannschaften ins Designationsverfahren ein und forderte die Kommunen auf, mit anderen Städten Abkommen über die wechselseitige Unterstützung im Falle von Arbeitskämpfen zu treffen. Ein Jahr nach dem Streik hatte sich die Menge der 135

designierten Kräfte vervierfacht.95 Die massive Vermehrung war aus Sicht der Behörden nicht nur aufgrund der jüngsten Erfahrungen geboten, sondern reflektierte eine Lageeinschätzung, die immer mehr den schlimmsten denkbaren Fall zum Ausgangspunkt der Planung machte. In der Nachbereitung des Bergarbeiterstreiks von 1905 tauchte erstmals die Befürchtung auf, bei zukünftigen Arbeitsniederlegungen könnten sich die Metallarbeiter der Region mit den Bergleuten solidarisieren, wodurch der Ausstand zum Generalstreik eskalieren würde. Zwar waren sich die beteiligten Stellen einig, daß diese Entwicklung nicht mehr polizeilich, sondern nur noch militärisch zu beherrschen sei, hielten aber trotzdem eine Vermehrung der Ordnungsmannschaften für dringend geraten, damit »durch die Furcht vor den vorhandenen zahlreichen Polizeikräften die Neigung zum Ausstande und zu Unruhen bei den Eisenarbeitern zurückgedrängt werden kann.«96 Bis 1905 lag das Wachstum der für Streikeinsätze vorgesehenen Sicherheitskräfte annähernd gleichauf mit der Zunahme der Bergarbeiterschaft: Beide Größen hatten sich seit 1890 reichlich verdoppelt. Nach der knapp bestandenen Belastungsprobe von 1905 liefen die Wachstumspfade der polizeilichen Kontrollkapazitäten und des angenommenen Unruhepotentials scherenförmig auseinander. Während der Index der Zechenbelegschaft in den sechs Jahren von 1905 bis 1911 von 209 auf 276 Punkte stieg, schnellte die Indexzahl der polizeilichen Streikmannschaften von 216 auf 516 (1890=100). Gemessen an der Stärke der bereitgehaltenen Einsatzkräfte hatte sich die Relation zwischen Polizei und Bergleuten deutlich zugunsten der Sicherheitsorgane verschoben.97 Die quantitative Zunahme ergänzend, bemühte man sich intensiv um verbesserte Koordination und vorausschauende Einsatzplanung. 1910 formulierten die rheinischen und westfälischen Behörden einen ausgefeilten Notstandsplan für den Fall eines neuen Bergarbeiterstreiks, der nicht nur alle organisatorischen und logistischen Fragen der Polizeimobilisierung vorab zu lösen und verbindliche Einsatzregeln festzulegen versuchte, sondern auch noch einmal bekräftigte, »daß Militär nur im äußerstenNotfalle herangezogen werden soll.«98 Fünfzehn Monate nach dieser Beteuerung rückten rund fünftausend Soldaten, darunter Kavallerie und Maschinengewehrabteilungen, ins westfälische Kohlengebiet ein und warfen innerhalb von fünf Tagen den letzten großen Bergarbeiterausstand vor dem Krieg nieder. Obwohl sich die Polizei so gut wie noch nie hatte vorbereiten können, mehr Männer als jemals zuvor mobilisierte und die designierten Reserven schon fast eine Woche vor Streikbeginn einberufen hatte, forderte sie schon am dritten Streiktag Militär an. Zweifellos war das Unruhepotential bei diesem Streik größer als bei den vorangegangenen, da die Bergarbeiterschaft längs der politischen Fraktionierung ihrer Gewerkschaften in Arbeitswillige und Streikende gespalten war; entscheidend sollte jedoch die kompromißlose Entschlossenheit von Staat 136

und Kapital sein, diesen Streik mit allen Mitteln zu brechen und dem sozialdemokratisch orientierten Bergarbeiterverband eine exemplarische Niederlage beizubringen. Mehr als bei allen zurückliegenden Arbeitskämpfen wurde der »Schutz der Arbeitswilligen« zum streikentscheidenden Faktor.99 Bereits am zweiten Streiktag erklärte der Innenminister, daß die polizeilichen Reserven erschöpft und weitere Verstärkung nicht zu erwarten sei. Gleichzeitig setzte er die Polizeikräfte unter massiven Leistungsdruck und machte klar, wo der Ausweg liegen müsse, falls sie versagen sollten: »Dabei bemerke ich, daß neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Schutz der Arbeitswilligen an erster Stelle steht und mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung, die ihm aus mehrfachen Gründen gerade bei dem jetztigen Bergarbeiterstreik innewohnt, unbedingt in vollem Umfang [H.i.O.] durchgeführt werden muß. Sollte dies nicht möglich sein, so würde äußerstenfalls die Heranziehung von Militär erfolgen müssen.« 100

Mit ihrem entschiedenen Willen, den Streik zu brechen, setzte die Polizeibehörde einen Eskalationsprozeß in Gang, dem sie am Ende nicht mehr gewachsen war. Die weiträumige Absperrung der Zechenanlagen, die Besetzung ganzer Wohnsiedlungen und Straßenzüge, die Vertreibung von Streikposten und die Auflösung öffentlicher Versammlungen erschöpfte die Polizeikräfte nach kurzer Zeit und trug zur wachsenden Verbitterung der Ausständischen bei. »Ob sich die Erregung wieder legen wird, hängt wohl lediglich davon ab, ob die Zechen zum Stillstand gebracht werden,«101 konstatierte der Arnsberger Regierungspräsident am 12. März und bestätigte damit indirekt die spannungstreibende Rolle der Ordnungskräfte. Aber auf die Vermeidung von Unruhen kam es der Polizei bei diesem Arbeitskampf nicht vordringlich an. Von Anfang an war es »die Hauptaufgabe der Behörden, die Arbeitswilligen zu schützen,« dann kam die Sicherung des Zechengeländes und endlich »die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung.«102 Am 14. März war die Polizei durch ihre selbstgestellte Aufgabe überfordert: »Da im Kreise Hamm der Schutz der Arbeitswilligen durch die zivilen Polizeikräfte nicht mehr durchzufuhren ist,« telegraphierte der Regierungspräsident nach Münster, habe er militärische Hilfe erbeten.103 Der Arbeitskampf von 1912 markiert die Grenzen, die einer Verpoüzeilichung der Staatsgewalt im Vorkriegspreußen gezogen waren. Er erscheint als Kulminationspunkt einer sich selbst konterkarierenden Polizeipolitik, denn die beiden Motive, die seit den ausgehenden achtziger Jahren den Aufbau polizeilicher Streikkontrollkapazitäten getragen hatten - der Wunsch nach Entmilitarisierung und das Ziel der Streikeindämmung- widersprachen sich. Der Zielkonflikt wurde im Zweifelsfall zuungunsten der zivilen Gewalt gelöst.

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5.2.2. Die Grenzen des staatlichen Gezvaltmonopols Die

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Zechenschutzwehren

Da sie tendenziell die Selbstüberforderung der Polizei nach sich zog und den Militäreinsatz wahrscheinlich machte, stellte die Parteilichkeit der Ordnungsmacht im Massenstreik aus der Perspektive einer fortschreitenden Zivilisierung der öffentlichen Gewalt ein erhebliches retardierendes Moment dar. Doch nicht allein die nur begrenzte Demilitarisierung der Streikkontrolle erwies sich als Modernisierungshindernis. Auch die Versuche des Staates, den Zielkonflikt zwischen der effektiven Eindämmung von Arbeitskämpfen und der angestrebten Demilitarisierung durch die Mobilisierung zusätzlicher Ordnungskräfte zu lösen, führten zu Abweichungen vom idealtypisch gedachten Modernisierungspfad. Dem Säkulartrend zur Monopolisierung aller legitimen Gewalt in der Hand des Staates stand nämlich die Bereitschaft der Exekutive entgegen, zur Sicherung der bestehenden Verhältnisse Gewaltressourcen an gesellschaftliche Herrschaftsträger zu delegieren. Wie sehr das staatliche Gewaltmonopol zugunsten einer bis zur institutionellen Verschmelzung reichenden Kooperation zwischen Polizei und Großkapital aufgeweicht wurde, zeigt die Geschichte der Zechenschutzwehren im westfälischen Ruhrkohlerevier. Bereits kurz nach der Reichsgründung diskutierten die zuständigen Ministerien und Regionalbehörden Vorschläge aus Kreisen der schlesischen Bergwerksverwaltung, aus den »zuverlässigsten Arbeitern« der fiskalischen Gruben »König« und »Königin-Louise« im Kreis Beuthen eine Zechenwehr mit polizeilichen Befugnissen zu rekrutieren. Dieser Truppe sollte die Aufgabe zufallen, Bergarbeiterausstände ohne den Einsatz militärischer Macht niederzuschlagen, der noch ein Jahr zuvor bei einem Streik in Königshütte unvermeidlich gewesen war.104 Vergleicht man diese Überlegungen mit der wenige Jahre zuvor im Westfälischen vorgetragenen Anregung, ein »bergmännisches Sicherheitskorps« gegen unruhige Fabrikarbeiter zu formieren, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennbar. Die entscheidende Differenz zu den Plänen des Bergmeisters Schmid lag darin, daß dieser die ständischen Bergmänner gegen die freien Fabrikarbeiter mobilisieren wollte, während hier die Bergleute selbst zum Disziplinierungsobjekt wurden.105 Obwohl sich die oberschlesischen Bergbehörden damit den realen Konfliktlinien in der Klassengesellschaft genähert hatten, krankte ihr Plan an denselben traditionalistischen Vorstellungen von bergmännischer Loyalität, die schon Schmids Sicherheitskorps scheitern ließen. Hier wie dort sollten Arbeiter gegen Arbeiter stehen - eine Konstellation, die nur solange Aussicht auf Erfolg hatte, wie überkommene Staatstreue und ständische Identifikation mit Bergherren und Bergverwaltung stärker waren als Klassensolidarität nach innen und Klassenabgrenzung nach außen. Diese Voraussetzungen waren 138

1872 selbst auf den oberschlesischen Staatsgruben nicht mehr gegeben. Die unmittelbaren Vorgesetzten der Bergleute rieten jedenfalls von diesen Plänen ab, da sie nicht fur die Loyalität ihrer Untergebenen bürgen konnten, berichtete der Landrat aus Beuthen und fuhr fort: »Daß dies nicht der Fall ist, beweist, wie tief die Kluft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geworden ist, denn ich erinnere mich sehr wohl der Zeit, wo jeder Grubenbeamte unbedingt eine Anzahl von Bergleuten zu stellen vermochte, auf welche er sich unbedingt verlassen konnte.« 106

Dieses Urteil machte sich der Breslauer Oberpräsident in seinem ablehnenden Gutachten zu eigen. Da der ganze Plan »auf dem Zutrauen beruhen [muß], welches die Zuverläßigkeit der besseren Klasse der Bergarbeiter einflößt,« dieses Vertrauen aber bei den schlesischen Bergleuten nicht mehr gerechtfertigt sei, müsse die projektierte Arbeitermiliz verworfen werden. Man könne kaum erwarten, daß die Bergleute genügend »Charakterfestigkeit« aufbringen, um bei Streiks, »bei denen es sich vielleicht um die Besserung der materiellen Lage aller Bergleute, also auch mit ihrer eigenen Lage handelt,« standhaft die Interessen des Bergwerks zu verteidigen. Auszuschließen sei auch nicht, daß schlimmstenfalls »die Opposition an diesem organisierten Korps sogar einen gewissen Halt würde finden können.« 107 Die Pläne aus Schlesien hatten sich damit zerschlagen. Dieser frühe Vorläufer einer betriebsinternen Hilfspolizei scheiterte an dem Widerspruch, einerseits die Artikulation von Klasseninteressen der Bergleute unterdrücken zu wollen, andererseits auf ständische Loyalitäten eben dieser Bergleute zu rekurrieren. Fast zwanzig Jahre nach diesem Vorstoß stand die Frage der Grubenwehren plötzlich wieder auf der Tagesordnung. Während des Streiks von 1889 und erneut bei den kleineren Ausständen der Jahre 1891 und 1893 waren im Landkreis Essen auf Initiative des Landrats und mit Rückendeckung der Bezirksregierung ad hoc einige hundert Hilfspolizisten bestellt worden. Die Kandidaten für dieses Amt waren von den Zechenverwaltungen vorgeschlagen worden, die auch alle Auslagen für Besoldung, Ausstattung und Bewaffnung übernahmen. Aufgabe dieser Mannschaften sollte der Schutz von Zechen und anderer gewerblicher Anlagen gegen mögliche Ausschreitungen der Streikenden sein.108 Da sich diese Einrichtung nach Einschätzung der Düsseldorfer Regierung »bestens bewährt« und sie die »ordentlichen Polizeiorgane wesentlich entlastet« hatte,109 wurde die Idee in Berlin, Arnsberg und Münster aufgegriffen und in die Vorkehrungen zur Verpolizeilichung der Streikkontrolle einbezogen. Im Februar 1893 begannen die Mittelbehörden, die Zechenverwaltungen systematisch zur Errichtung bewaffneter Wehren zu drängen. Schon in ruhigen Zeiten insgeheim aus vertrauenswürdigen Zechenangehörigen rekrutiert, sollten diese Gruppen im Streikfall aktiviert und zum Schutz des Zechengeländes und der Arbeitswilligen eingesetzt werden.110 Sowohl bei 139

den betroffenen Kommunen als auch bei den Zechen stieß der Vorschlag sofort auf Bedenken. Die Gemeinden des Kreises Recklinghausen waren zunächst dem Mißverständnis aufgesessen, sie selbst sollten aus dem Kreis ihrer Einwohner eine Bürgerwehr gegen streikende Bergleute ausheben. Dies traf auf einhellige Ablehnung. Typisch waren die Einwände, die der Amtmann des Amtes Horst vortrug: »Die hiesige Gemeinde besteht zum größten Teil aus Berg- und Fabrikarbeitern. Bei der Bildung der Wehr könnten nur in Betracht kommen die Geschäftsleute, Handwerker und Zechenbeamten. Geschäftsleute und Handwerker heranzuziehen erscheint aber nicht angängig, weil diese von der Arbeiterbevölkerung leben müssen, tagtäglich mit derselben verkehren und sich wohl hüten, derselben entgegenzutreten.«111

Die Zechenbeamten würden zudem in die »mißliche Lage« geraten, sich der Verfolgung und Rache der Arbeiter auszusetzen, denen sie im Streik bewaffnet gegenüberstünden, auf deren Kooperationsbereitschaft sie aber anderntags schon wieder angewiesen seien. Auch würde es dieser Bürgerwehr kaum gelingen, in der Erregung des Streiks die nötige Autorität zur Geltung zu bringen: »Hier ist nur eine starke, ganz energisch einschreitende Polizeimacht im Stande, sich die erforderliche Achtung zu verschaffen.«112 Sowohl der Hinweis auf die Abhängigkeit des örtlichen Bürgertums von der Arbeiterschaft als auch das Eingeständnis mangelnder Autorität illustrieren, wie unentbehrlich und wie selbstverständlich die Existenz einer gewaltbewehrten, aus der Gesellschaft herausgehobenen Spezialinstitution mit staatlicher Legitimation inzwischen geworden war und wie anachronistisch der Rückgriff auf die Bürgerwehridee der Revolutionszeit anmutete. Auch bei den Zechenverwaltungen überwog zunächst die Skepsis. Drei Gründe sprachen aus ihrer Sicht gegen die Zechenwehren. Erstens argumentierten sie mit dem Grundsatz der staatlichen Polizeihoheit und des staatlichen Gewaltmonopols. Versuche des Arnsberger Regierungspräsidenten, Anfang der neunziger Jahre die Zechen seines Bezirks nach dem Essener Beispiel zur Einrichtung von Wehren zu animieren, scheiterten, »da die Zechenverwaltungen die Auffassung vertraten, daß der Schutz der Zechenanlagen ebenso wie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung überhaupt lediglich Sache des Staates sei.«113 Auch sein Düsseldorfer Amtskollege berichtete von Schwierigkeiten, da es nach Ansicht der Zechen- und Fabrikbesitzer allein Aufgabe der Polizei sei, für ausreichenden Schutz zu sorgen, und da sie außerdem fürchteten, »daß die Behörde bei Anstellung von Hülfspolizeibeamten zur Requisition des den Interessenten vielfach erwünschteren Militairs weniger geneigt sein würden.«114 Mit diesen grundsätzlichen Bedenken gegen die Reprivatisierung von Polizeifunktionen hingen zweitens Befürchtungen zusammen, durch die Bewaffnung und Uniformierung der Zechenbeamten würden auf Dauer unüberbrückbare 140

Spannungen in den Betrieb hineingetragen. Man fürchtete die provozierende Wirkung und vertrat die Ansicht, »daß eine Zechenwehr, die aus Vorgesetzten und Kameraden der Bergleute bestehe, keine Beruhigung oder Einschüchterung, sondern Trotz und Erbitterung hervorrufen werde.«115 Sobald im Betrieb bekannt würde, wer sich zur Mitarbeit bereit gefunden hätte, drohten diesen Angestellten Rache und Schikanen seitens der Arbeiter.116 Die öffentliche Ordnungsmacht, so der Kern dieses Arguments, war unverzichtbar, da sie die Externalisierung von Konflikten ermöglichte. Obwohl Reibungen und Spannungen bei Streiks ihre Ursache im Interessengegensatz zwischen Arbeiterschaft und Kapital hatten, wurde durch das Dazwischentreten der Staatsgewalt ein Gutteil des Konfliktpotentials auf den Gegensatz zwischen Polizei und Arbeitern umgelenkt und die Unternehmer von den Risiken eigener Gewaltanwendung entlastet. Drittens sahen die Zechenverwaltungen ihre Handlungsautonomie gefährdet und mutmaßten, »daß die Zechenwehren bei einem Streik in erster Linie als Hülfspolizeidiener des Amtmannes und erst in zweiter Linie als Schutzwehren des Zecheneigenthums verwandt werden sollen.«117 Obwohl einzelne Betriebe diese Einwände in den folgenden Jahren immer wieder vortrugen, gelang es den staatlichen Behörden zur Mitte der neunziger Jahre, die Zechenwehren mit einer Kombination aus Druck, Lockungen und Zugeständnissen gegen die Widerstände aus dem Unternehmerlager durchzusetzen. Mal offen, wie der Landrat in Recklinghausen, der der widerspenstigen Harpener Bergbau AG androhte, daß sie die Risiken ihrer Weigerung selbst zu verantworten und bei einem zukünftigen Streik kaum auf »ein besonderes Entgegenkommen seitens der Staatsbehörden« zu rechnen habe, mal versteckt, wie der Arnsberger Regierungspräsident, der den Zechenunternehmern signalisierte, daß die Polizei mit ihrer Streikkontrolle nur dann Erfolge haben könne, »wenn sie in ihren Bemühungen von den Zechenverwaltungen thatkräftig unterstützt« werde, gaben die Behörden den Unternehmen zu verstehen, daß eine Blockadepolitik nur zu ihren Lasten gehen würde.118 Zudem war das Angebot der Verwaltung, vertrauenswürdige Zechenangehörige während eines Streiks zu Hilfspolizisten zu erheben, für die Betriebe aus denselben Gründen attraktiv, aus denen sie sich um die Dauerbeschäftigung der Zechenpolizisten und -gendarmen bemühten. Ohne diesen offiziellen Status konnten sie sich bei innerbetrieblichen Ordnungseinsätzen nur auf das Hausrecht berufen; als amtlich bestätigte Zechenwehrmänner besaßen sie alle Rechte des Polizeibeamten. Wenn die Werkmeister und Zechenbeamten im Streik ohnehin zum Schutz des Grubengeländes und der Streikbrecher herangezogen wurden, warum sollten sie dann auf diese Privilegien verzichten?119 Schließlich kamen die Behörden den Bedenken der Bergwerksgesellschaften mit der Versicherung entgegen, daß die Zechenwehren in erster Linie zum Schutz des unmittelbaren Betriebsgeländes 141

eingesetzt würden und ihre Aufstellung keinesfalls zur Folge hätte, daß die Behörden die Bereitstellung von Polizeikräften versäumten.120 Grundlage der Zechenschutzwehren wurde so ein Kompromiß, bei dem sich staatliche Legitimation von und private Verfügung über Gewaltressourcen unentwirrbar verquickten. Der staatlichen Polizeihoheit wurde insofern Genüge getan, als die durch die Grubenverwaltung vorgeschlagenen Männer von der Gemeindevertretung für die Dauer ihres auf die Streikzeit beschränkten Einsatzes zu Hilfspolizeibeamten gewählt und vom Landrat bestätigt wurden. Amtmann, Bürgermeister und in höherer Instanz der Landrat waren ihre polizeilichen Vorgesetzten; den amtlichen Status dokumentierten eine Armbinde mit dem Polizeiabzeichen oder eine Polizeisergeantenmütze.121 Mit seiner offiziellen Ernennung fielen dem Zechenwehrmann alle Rechte und Pflichten des Polizeibeamten zu. Er genoß dessen privilegierten Schutz vor Widerstandshandlungen, durfte Festnahmen und Beschlagnahmungen vornehmen, trug eine Waffe - meistens einen Revolver, z.T. auch ein Seitengewehr - und war berechtigt, diese zur Selbstverteidigung, bei Widerstand oder dann einzusetzen, »wenn auf andere Weise ein dem Schutzbeamten angewiesener Posten nicht behauptet... werden kann.«122 Obwohl die Angehörigen der Zechenschutzwehr durch Wahl, Vereidigung und formale Unterstellung unter die Ortspolizeiverwaltung zu offiziellen Vertretern der Staatsmacht erhoben wurden, waren ihre Einsatzziele und ihre praktische Tätigkeit ganz auf die Interessen des Unternehmens abgestellt. So bestimmte die vom Bochumer Landrat erlassene Dienstanweisung noch deutlicher als die entsprechenden Instruktionen für die regulären Polizeikräfte den Streikbruch zur Hauptfunktion der Wehren: »Die Aufgabe des Schutzbeamten und der Zweck seiner Anstellung besteht darin, die Zechenanlagen zu schützen und den ordnungsmäßigen Betrieb durch Schutz der Weiterarbeitenden gegen die Ausständigen zu sichern, überhaupt die Zechendirektion in der Wahrnehmung ihres Hausrechts zu unterstützen.«123

Zudem waren die Unternehmer durch Vetorechte und Zustimmungsklauseln davor geschützt, daß die Polizeiverwaltung zu weit in ihre Interessensphäre eingriff und etwa die Wehrmänner zu polizeilichen Aufgaben heranzog, die nicht unmittelbar mit der Sicherung des Zechenbetriebs zusammenhingen. Allein die von der Zechenverwaltung ausgewählten Männer wurden von der Gemeinde ernannt und eine Ausdehnung ihres Einsatzgebietes über das Zechengelände hinaus durfte von der Ortspolizei nur nach Zustimmung der Bergwerksdirektion angeordnet werden.124 Ungeachtet des formalen Unterstellungsverhältnisses unter die Polizeiverwaltung blieb die Unternehmensführung die eigentlich leitende und vorgesetzte Stelle. Zechendirektoren, Betriebsleiter oder Obersteiger, nicht Ortsbürgermeister und Amtmänner gaben den Wehrmännern in der Praxis ihre Anweisungen.125 Alle Berichte und 142

Anzeigen der Schutzwehrangehörigen liefen durch die Hand der Zechendirektion und wurden erst von dieser an die Ortspolizeibehörde weitergereicht.126 Schließlich finanzierten und beschafften die beteiligten Betriebe die Ausrüstung und Bewaffnung der Wehrtruppe und sicherten sich damit auch von dieser Seite ihren bestimmenden Einfluß. Vor allem die Bereitschaft der staatlichen Verwaltung, den Bergwerksgesellschaften weitgehend freie Verfugung über die Zechenschutzwehren zu konzedieren und sich faktisch darauf zu beschränken, einer privat rekrutierten, ausgerüsteten und geleiteten Werkschutztruppe den Status einer offiziellen Polizeiformation zu verleihen, trug dazu bei, der Idee der Zechenwehren im westfälischen Kohlegebiet zum Durchbruch zu verhelfen. Obwohl der Vorstand des »Vereins für die bergbaulichen Interessen«, der sich auf Antrag der Arenbergschen Bergbau AG mit dieser Frage befaßt hatte, Mitte der neunziger Jahre eine ablehnende Haltung einnahm, bröckelte angesichts der staatlichen Konzessionsbereitschaft die Verweigerungsfront der Zechen. 127 1894/ 95 waren auf mehr als vierzig westfälischen Gruben entsprechende Trupps formiert worden, zehn Jahre später, am Vorabend des zweiten großen Bergarbeiterstreiks, waren es dreiundfunfzig, die zusammen mehr als eintausend Mann unter Waffen hatten. Im Ausstand von 1905 kam es zum ersten größeren Einsatz und gleichzeitig zu einem massiven Ausbau der Zechenschutzwehren. Viele Betriebe, die sich bis dahin bedeckt gehalten und um des Betriebsfriedens willen auf die Aufstellung einer Wehr verzichtet hatten, gaben nun ihre Bedenken auf. Nachdem die Arbeit wieder aufgenommen worden war, zählte man mehr als doppelt soviele Zechenwehren wie vor dem Streik: Auf 117 Zechen waren 2562 Mann als Hilfspolizisten vereidigt worden. Damit lagen diese halb privaten, halb öffentlichen Ordnungsverbände rein quantitativ deutlich vor den im Ausstand mobilisierten ordentlichen Polizeikräften, die einschließlich aller Verstärkungsmannschaften gerade auf 2094 Beamte kamen.128 Auch wenn dieser Höchststand in den folgenden streikfreien Jahren nicht gehalten werden konnte, blieben die Zechenwehren weiterhin integraler Bestandteil des polizeilichen Konzepts zur Streikkontrolle. Anläßlich der Essener Planungskonferenz vom 21.12.1910 hoben die westfälischen Behörden den Wert dieser Hilfstruppen hervor und fand sich auch die Düsseldorfer Bezirksregierung bereit, die Bildung von Zechenschutzwehren zu forcieren. Obwohl die ersten praktischen Versuche mit betrieblichen Polizeiverstärkungen 1889 im rheinischen Teil des Reviers gemacht wurden, war die Düsseldorfer Behörde in den folgenden Jahren auf Distanz zu den Zechenwehren gegangen, so daß man erst ab 1910 von einer einheitlichen Haltung der Ruhrgebietsbehörden in dieser Frage sprechen kann.129 Für die letzten Jahre liegen keine zusammenfassenden Zahlen vor. Aufgrund von Einzeldaten läßt sich jedoch sicher sagen, daß die Zechenwehren bis zum Kriegsbeginn weiter 143

ausgebaut wurden. So verfügten die Bergwerksgesellschaften auf dem Gebiet des Altkreises Recklinghausen im Jahr 1907 über 554, 1910 über 823 und 1913 über 1247 Zechenwehrmänner, die z.T. eine heimliche Schießausbildung durch ördiche Polizeibeamte erhielten.130 Angesichts dieser allgemeinen Aufrüstungsbereitschaft fielen die wenigen Unternehmen nicht ins Gewicht, die sich - wie etwa die Harpener Bergbau AG - bis zuletzt konsequent weigerten, genuin staatliche Repressionsaufgaben zu übernehmen. 131 Daß die Zechengesellschaften in der Lage waren, ein derart umfangreiches semipolizeiliches Sicherheitskorps gegen die eigene Arbeiterschaft zu mobilisieren und - soweit erkennbar - ohne Loyalitätskonflikte gegen streikende Belegschaften einzusetzen, beruhte nur zum Teil auf der delegierten Autorität der Polizeibehörde und dem Beamtenstatus der Hilfspolizisten. Ein wichtiger Grund dafür, daß sich vor und nach der Jahrhundertwende die eingangs geschilderte Debatte um die Zuverlässigkeit der Wehrmänner nicht wiederholte, lag in der gewandelten Binnenstruktur der Bergarbeiterschaft. An die Stelle der fein stratifizierten, insgesamt aber nach oben hin durchlässigen Belegschaftshierarchie der ständischen Zeit, in der zwischen Bergmännern und Aufsichtspersonal zwar Unterschiede, aber keine unüberbrückbaren Gegensätze bestanden, war in den Großbetrieben zum Ende des Jahrhunderts eine scharfe Dichotomisierung zwischen der sich homogenisierenden Masse der Bergarbeiter und den Zechenbeamten getreten. Je geringer die Aufstiegschancen vom Hauer zum Steiger wurden, je deutlicher sich das Aufsichtspersonal als eigene Interessengruppe separierte, seine besondere Nähe zu den Unternehmern und gleichzeitig seine Distanz zur Arbeiterschaft akzentuierte, je schärfer mit anderen Worten auch im Bergbau der Arbeiter-Angestellten-Unterschied durchgezeichnet wurde, desto eher konnten die Zechenunternehmer auf die besondere Loyalität ihrer »Beamten« rechnen. Sowohl im Selbstverständnis der Angestellten, als auch bei der funktionalen Definition der Angestelltentätigkeit spielt die Wahrnehmung delegierter Herrschaftsfunktionen eine zentrale Rolle - an diese strukturelle Voraussetzung konnten die Zechenwehren anknüpfen.132 Bei den ersten Experimenten mit betrieblichen Wehrverbänden war es 1889 im Kreis Essen »mitunter schwierig gewesen, die Arbeiter zur Übernahme der polizeilichen Funktionen willig zu machen,«133 so daß man fortan darauf verzichtete, unter Arbeitern nach geeigneten Kandidaten zu suchen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen auch »besonders zuverlässige Arbeiter« herangezogen wurden, setzten sich die Schutzwehren aus den »Zechenbeamten« zusammen, daß heißt den Betriebsfuhrern, Obersteigern, Fahrsteigern, Reviersteigern sowie den verschiedenen Meistern, die übertage arbeiteten.134 Innerbetriebliche Herrschafsstrukturen und obrigkeitliche Polizeifunktionen griffen im Streikfall nahtlos ineinander, ergänzten sich auf nahezu optimale Weise, indem betrieblichen Herrschaftsträgern das hoheit144

liehe Gewaltprivileg beigelegt und der Polizei - zumindest auf dem Papier das unternehmensinterne Kontrollpersonal inkorporiert wurde. In der Praxis blieben die Ziechenwehren freilich hinter den Möglichkeiten zurück, die sich aus einer derartigen Symbiose privater und öffentlicher Gewalt ergeben mochten. Zwar konnten die Behörden von einer spürbaren Entlastung der Polizeikräfte berichten, insbesondere was die Überwachung des unmittelbaren Zechengeländes anging, ebensooft klagten sie aber auch über Friktionen zwischen Unternehmens- und Polizeiinteressen. Aus Sicht der Polizei erwiesen sich vor allem die Autonomierechte als Hindernis, die sich die Zechenverwaltungen als Voraussetzung ihrer Mitarbeit aus bedungen hatten. Wie der Bochumer Landrat 1900 bemerkte, »maßten sich die Zechenleitungen gar die alleinige Verfügung« über die Wehren an, und beim Streik von 1905 machte der Oberbürgermeister der Stadt die Erfahrung, daß »die Zechenverwaltungen ... unabhängig bleiben und sich auch der Ortspolizei oder deren Beamten in bezug auf die Wahrnehmung des Dienstes nicht unterstellen« wollen.135 Die Unternehmer insistierten vor allem deshalb auf ihr Alleinverfügungsrecht, weil sie bei der prekären Balance zwischen dem Ziel einer raschen Beendigung des Ausstandes und dem längerfristigen Interesse, eine unerträgliche Belastung der Beziehungen zwischen Arbeitern und Leitungspersonal zu vermeiden, nicht von den Polizeibehörden abhängig sein wollten. Die drohende Totalität inner- und außerbetrieblicher Gewalt fand ihr Widerlager in der Ambivalenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die stets Herrschafts-wnd Austauschbeziehungen umfassen und deshalb nicht auf ein Minimum an freiwilliger Kooperation zwischen Arbeitern und Unternehmern verzichten können, das auch durch noch so scharfe innerbetriebliche Repression nicht zu ersetzen ist. Im Zweifelsfall war den Bergbauunternehmen ein harter Militäreinsatz, bei dem der Staat die Verantwortung trug, allemal lieber als ein innerbetrieblicher Bürgerkrieg zwischen Arbeitern und Zechenwehr. Daher der anhaltende Widerwille gegen die Zechenwehren und daher auch der laute Ruf nach rascher Militärunterstützimg. Beispielhaft zeigte sich dieser Interessenkonflikt zwischen Polizei und Unternehmern 1899 bei der Ausweitung des Herner Streiks auf den Recklinghausener Raum. Sobald es zu ersten Arbeitsniederlegungen auf der Zeche »König Ludwig« gekommen war, gab der Landrat öffentlich die Aktivierung der Zechenschutzwehr bekannt. Obwohl keinerlei Ausschreitungen vorkamen und sich die Ausständischen vollkommen ruhig verhielten, weigerte sich die Zechenverwaltung, die Wehr einzusetzen und forderte statt dessen umgehend Militär an. Der offiziell vorgeschobene Grund, die Steiger und Betriebsmeister würden zur Aufrechterhaltung der Produktion benötigt, erschien dem Regierungspräsidenten höchst unglaubwürdig, denn: »Nach den mir von einzelnen Zechenleitungs beam ten persönlich gemachten Äußerungen ist diesen namentlich deshalb überaus unerwünscht, daß die Zechenwehren in

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Thätigkeit treten, weil sich dadurch ein Gegensatz zwischen den Mitgliedern der Zechenwehren und den übrigen Arbeitern entspinne. Nur in plötzlich eintretenden äußersten Notfällen sei zum Schutze von Personen und Eigentum zweckmäßigerweise von der Maßregel Gebrauch zu machen.« (H.i.O.)136

Kam es trotzdem - wie anläßlich des Streiks von 1905 - zur Mobilisierung der Zechenwehren, wirkten sie eher eskalierend, als daß sie zur Unterdrückung von Konflikten beitrugen - ganz wie es die Zechenverwaltungen befurchtet hatten. Neben der Erbitterung der Ausständischen und ihrem Wunsch, »einen nicht für voll angesehenen und besonders verhaßten Gegner die Übermacht fühlen zu lassen,«137 wirkte das provokative Auftreten der Zechenwehrleute und ihre Bereitschaft, ihre polizeilichen Kompetenzen weidlich zu nutzen, spannungstreibend. Eher peinlich als bedenklich waren dabei Amtsanmaßungen der Art, wie sie sich ein Zechenwehrmann 1905 im Kreis Hörde leistete, als er sich in einer Gastwirtschaft als Polizeibeamter aufspielte und dem Wirt die Einhaltung der Polizeistunde untersagte.138 Gravierender waren gewalttätige Übergriffe der Zechenwehren gegen Streikposten, die im Kreis Hörde während des Ausstandes von 1905 derart gehäuft auftraten, daß der Landrat von einer zukünftigen Verwendung der Zechenwehren abriet. Noch während des Streiks mahnte der Arnsberger Regierungspräsident die Zechenwehren in einer Eilverfugung zu »größte [r] Zurückhaltung« und betonte, daß sie nur zum Schutz des unmittelbaren Zechengeländes gegen Ausschreitungen, nicht aber zur Entfernung von Streikposten eingesetzt werden dürften.139 Die Übergriffe, aber auch die mangelnde Erfahrung und die aus beiden resultierende geringe Effizienz der Hilfspolizisten ließen die Behörden in ihrer Streiknachbereitung zu einem gemischten Urteil kommen. Aber auch wenn die unteren Polizeibehörden vom Auftreten der Zechenwehren eher enttäuscht waren und - wie der Amtmann in Werne - den Streikenden lieber zwei Gendarmen als zwanzig Wehrmänner entgegenstellten, wollten die staatlichen Führungsstäbe auf die kostenlose Hilfstruppe nicht verzichten. Ihrer Meinung nach hatten sich die Zechenwehren grundsätzlich bewährt und verdienten weitere Förderung. Allerdings sollte mehr auf die Auswahl des Personals gesehen und versucht werden, die Wehren durch eine engere Kooperation mit den Polizeikräften besser zu kontrollieren.140 Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums sollte dies die Position der preußischen Polizeibehörden bleiben; eine Position, die sich freilich immer mehr von den Realitäten des modernen, organisierten Arbeitskampfes entfernte. »Je mehr Arbeiter organisiert und diszipliniert sind, um so weniger sind tätliche Angriffe auf die Schachtanlagen zu befürchten,« meinte 1914 die staatliche Bergwerksverwaltung im schlesischen Zabrze und fuhr fort: »Dem Streikterrorismus sind die Arbeitswilligen in ihren Wohnungen und auf den teilweise recht langen Anfahrwegen von den Wohnungen zum Schacht ausgesetzt. Ein wirksamer Schutz der Arbeitswilligen wird also weniger im Ausbau der Zechenschutz-

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wehren, deren Tätigkeit auf die Anlagen beschränkt ist, als vielmehr in der Verstärkung des Polizeiaufgebots in Ausstandszeiten zu suchen sein.«141

Die Modernisierung des Arbeitskampfes und die weit ins Vorfeld möglicher gewaltsamer Auseinandersetzungen greifende, präventive Streikbruchstrategie der Staatsmacht ließen die zecheninternen Kampfverbände obsolet erscheinen und verwiesen die Behörden erneut auf die Institution, zu deren Entlastung die Zechenwehren gegründet worden waren - auf die Polizei. Wie lassen sich die Zechenschutzwehren im westfälischen Kohlegebiet, wo sie im gesamtpreußischen Maßstab mit Abstand am weitesten entwickelt waren, abschließend bewerten?142 Waren dies die »deutschen Pinkertons«, als die sie von der sozialdemokratischen Presse apostrophiert wurden, kaum daß die ersten Gerüchte über ihre Gründung an die Öffentlichkeit sickerten?143 Der Vergleich mit der US-amerikanischen Privatpolizei sticht zweifellos, soweit damit die Privatisierung von Repressionskapazitäten zugunsten von Unternehmerinteressen gemeint ist. Auf den zweiten Blick werden aber schnell die Unterschiede erkennbar. Die Besonderheit der preußischen Zechenwehren bestand gerade nicht darin, daß sich eine machtbewußte und selbstherrliche Bourgeoisie aus eigenem Recht und nur gestützt auf ihren Eigentumstitel gegen die Ansprüche der Arbeiterschaft armierte oder private Hilfstruppen rekrutierte, sondern umgekehrt darin, daß der Staat die Unternehmer nötigte, repressive Funktionen zu übernehmen. Die Zechenwehren waren weniger Ausfluß der Unternehmerautokratie als vielmehr Amdruck einer engen Verzahnung privater und staatlicher Herrschaft, bei der allerdings nicht das Großkapital, wie es ein mechanistisches Bild vom »staatsmonopolistischen Kapitalismus« nahelegen würde, sondern der Staat die Initiative ergriff. Wenn die Zechenschutzwehren das staatliche Gewaltmonopol, das sich idealtypisch in einer eigenständigen staatlichen Trägerinstitution materialisiert, in Frage stellten, dann nicht, weil Unternehmen Gewaltressourcen usurpierten, sondern weil der Staat Strukturen privater Herrschaft de jure verpolizeilichte, de facto aber in privater Verfugung beließ. Gewiß spielte bei dieser Symbiose die Tradition des fiskalischen Bergbaus und der nach der Privatisierung anhaltende, durch die Existenz einer öffentlichen Bergbehörde und eines eigenen Bergrechts hervorgehobene Sonderstatus des Montansektors eine nicht zu unterschätzende Rolle.144 Auch angesichts der eklatanten Privatisierung polizeilicher Kompetenzen bleibt daher ein traditionalistischer, staatsorientierter Grundzug in der ganzen Debatte über die Zechenschutzwehren spürbar. Indem die Ruhrgebietsunternehmer darauf hinwiesen, daß es - nach einer Formulierung von Friedrich Engels einer »besondrefn] Repressionsgewalt« bedürfe, »um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten,«145 zeigten sie mehr Sinn für die staatliche Monopolisierung aller 147

legitimen Gewalt als der Staat selbst. Formuliert man es einmal pointiert in den Begriffen einer langandauernden Debatte unter marxistischen Staatstheoretikern, traten Staat und Kapital in der Frage der Zechenwehren in vertauschten Rollen auf: hier eine öffentliche Verwaltung, die ganz im Sinne der »Stamokap«-Theorie auf die Verbindung von Staats- und Unternehmermacht hinarbeitete, dort das Großkapital, das den Staat an seine Verantwortung als »ideeller Gesamtkapitalist« erinnerte. Auch wenn die Zechenwehren keinen bestimmenden Einfluß auf den Ausgang der Arbeitskämpfe im Ruhrkohlegebiet hatten, dürfte ihre Existenz nicht zu unterschätzende Folgen für Klassenbildung und Klassenkämpfe im Revier gehabt haben. Die soziale Profilierung und Außenabgrenzung der Arbeiterschaft wird durch die schroffe Betonung des Arbeiter-AngestelltenUnterschieds an Schärfe gewonnen haben, denn bei kaum einer anderen Gelegenheit war die Kluft zwischen beiden Gruppen intensiver erfahrbar, als dann, wenn Angestellte den Arbeitern als bewaffnete Hilfspolizei entgegentraten. Noch wichtiger war zweifellos der Eindruck der Parteilichkeit des Staates im Arbeitskampf, der sich nicht scheute, die Unternehmer zur Sicherung ihrer Interessen mit hoheitlichen Befugnissen auszustatten und gleichzeitig alle Ansätze eines gewerkschaftlichen Ordnungsdienstes unter Verweis auf sein Gewaltmonopol rigoros zu unterdrücken.146

5.3. Die Entstehung einer regionalen politischen Polizei Bezirkskommissare und Polenüberwachungsstelle Nachdem das politische Überwachungssystem der Hinckeldey-Ära Ende der fünfziger Jahre verfallen war, schloß sich eine Stagnationsphase an, die erst zum Ausgang der siebziger Jahre endete. Die zeitliche Lücke markiert auch ein inhaltliche Zäsur, da die politische Polizei, die jetzt wiederbelebt und ausgebaut wurde, im Unterschied zu ihren Vorläufern nicht mehr den Staat gegen die Politisierungstendenzen in der Gesellschaft abschirmen sollte, was sich in der Praxis vor allem gegen die politischen Partizipationsansprüche des Bürgertums gerichtet hatte, sondern allein der Ausforschung und Überwachung der Arbeiterbewegung diente.147 Äußerer Anlaß für den Aufbau eines besonderen, dem Berliner Polizeipräsidium angegliederten politisch-polizeilichen Kontrollapparates waren 1878 die Attentate auf den Kaiser und der Erlaß des Sozialistengesetzes, durch das die sozialdemokratische Arbeiterbewegung weitgehend in die Illegalität gedrängt wurde. Die politische Polizei sollte den Erfolg dieser Verbotspolitik überwachen, den Untergrundaktivitäten der Sozialisten nachspüren und die nötigen Informationen für eine effektive gerichtliche Bekämpfung liefern. 148

Aus den häufig autobiographisch gefärbten Berichten sozialdemokratischer Aktivisten und Führer dieser Zeit gewinnt man den Eindruck, ein ausgedehntes Agenten- und Spitzelnetz sei gegen die verbotenen, aber insgeheim weiterarbeitenden Vereine und Verbindungen der Sozialisten aufgeboten worden. 148 Diese Berichte entsprachen sicher den persönlichen Erfahrungen besonders der prominenten Parteiaktivisten, die auf Schritt und Tritt von Polizeiagenten beschattet wurden. 149 Im Hinblick auf die Massenbasis der Sozialdemokratie wird man sie allerdings kaum verallgemeinern dürfen, denn trotz erheblicher Personalvermehrung bei der politischen Abteilung der Berliner Polizei und einer schwer abzuschätzenden Zahl angeworbener Spitzel war der geheime Informationsdienst des preußischen Staates selbst in diesen Jahren schärfster antisozialistischer Repression nicht besonders eindrucksvoll. 1881 waren in Berlin 138 und bei den übrigen staatlichen Polizeidirektionen zusammen zwischen zwanzig und dreißig Beamte ausschließlich mit Aufgaben der politischen Überwachung betraut: »Insgesamt war also auch in den Zeiten des Sozialistengesetzes das Netz der politischen Polizei nicht allzu dicht gestrickt, selbst in Berlin nicht.«150 Für die westfälische Industrieprovinz gilt dieses Urteil in noch weit stärkerem Maße, denn während der Laufzeit des Sozialistengesetzes existierte dort überhaupt keine eigenständige politische Polizei. Seitdem 1850 die Bestrebungen der Regionalbehörden, in der Stadt Iserlohn einen staatlichen Polizeidirektor mit dem Auftrag zu stationieren, »in dem ganzen FabrikDistricte der Grafschaft Mark die dem Staate und der öffentlichen Sicherheit feindseligen Bestrebungen zu überwachen,« 151 gescheitert waren, hatte es keine neuen Versuche in dieser Richtung gegeben. Das Berichtswesen über die Aktivitäten der Arbeiterbewegung lag in der Hand der Verwaltung, der Bürgermeister, Landräte und Regierungspräsidenten, die sich fallweise auf die Mitwirkung der ordentlichen Polizeikräfte stützen mußten. Deren Engagement und Zuverlässigkeit galt den staatlichen Sozialistenverfolgern allerdings nicht viel und gab des öftern Anlaß zu Klagen. 152 Wie berechtigt diese Beschwerden waren, zeigte sich 1889. Der überraschende Ausbruch des Massenausstands mußte den Behörden auch als Zeichen mangelnder Leistungsfähigkeit des eigenen Informationswesens erscheinen. U m »den Gründen, welche die Massenarbeitseinstellung veranlaßt haben, nachzuforschen, namentlich auch soweit die Socialdemokratie hierbei in Betracht kommt,« waren zwar während des Streiks einige Spezialisten der Berliner politischen Polizei ins Ausstandsgebiet entsandt worden. Auf Dauer konnte dadurch die offenbar gewordene Kontrollücke aber nicht geschlossen werden, vor allem dann nicht, wenn man zukünftigen Streiks wohl vorbereitet begegnen wollte.153 Die Effektivierung des politisch-polizeilichen Überwachungsapparates durch den Einsatz entsprechend spezialisierter Kräfte wurde jedoch zunächst durch 149

die dualistische Polizeistruktur gehemmt. Solange keine königlichen Polizeipräsidien eingerichtet worden waren, blieb die staatliche Verwaltung auf die Kooperationsbereitschaft der Kommunalbehörden angewiesen. Die war in Fragen der politischen Überwachung noch weit geringer als bei der regulären Polizei. Die ersten Vorschläge der Provinzialbehörden gingen kurz nach Ende des Ausstandes dahin, in Bochum und Dortmund als den bedeutendsten Städten des westfälischen Montanreviers politische Polizeiabteilungen einzurichten, die mit je einem Kommissar und einigen Hilfskräften ausgestattet werden sollten und die Aktivitäten der Sozialdemokratie sowie allgemein die Presse und das Vereins- und Versammlungswesen zu überwachen hätten. Einstellung und Bezahlung sollten bei den Kommunen liegen.154 Während sich die Dortmunder Behörde kooperationswillig zeigte und noch im selben Jahr als erste westfälische Stadt eine Abteilung für Fragen der politischen Polizei einrichtete, lehnte Bochum das Ansinnen ab, da es nicht einzusehen sei, »daß die Stadt ... neben den hohen Kosten für die Lokalpolizei noch besondere Opfer für die den ganzen Bezirk berührenden politischen Interessen bringen soll.« Dies sei Aufgabe einer staatlichen Behörde.155 In der Regionalverwaltung bestärkte diese Reaktion ohnehin bestehende Vorbehalte gegenüber den politisch nicht voll kalkulierbaren Ortspolizeibehörden und gab den Anstoß zur Formulierung eines völlig neuen Konzepts zur institutionellen Verankerung des politischen Überwachungswesen. Um die »staatsgefährlichen, auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen,« in denen man irrigerweise das »treibende Element« des vergangenen Streiks vermutete, unter Kontrolle zu bekommen, sollten wenigstens zwei staatliche Kommissare eingesetzt werden, die unmittelbar dem Regierungspräsidenten unterstellt und für die Überwachung des ganzen Bezirks zuständig sein sollten. Für eine derartige Regelung sprach nach Auffassung der Provinzialverwaltung erstens die flächige Struktur des Industriegebiets, in dem sozialdemokratische Aktivitäten von städtischen Kräften mit eng begrenzten örtlichen Zuständigkeiten nicht ausreichend zu erfassen wären, zweitens die notorische Unfähigkeit der lokalen Exekutivkräfte auf diesem sensiblen Feld und drittens die Notwendigkeit, die Staatsbehörden »von jeder Abhängigkeit gegenüber der kommunalen Polizeiverwaltung zu befreien.« Da die Bezirksregierung dem Gesetz nach nicht über eigene Polizeikräfte verfügen durfte, sollten sich die Kommissare auf »eine beobachtende und forschende Thätigkeit« beschränken und keine exekutiven Befugnisse besitzen.156 Die vorgeschlagene Trennung zwischen nachrichtendienstlichen und exekutiven Funktionen war für den Innenminister der Hauptgrund, dieses Modell abzulehnen. Von einem reinen Nachrichtendienst konnte er sich keine Vorteile versprechen.157 Aufgrund des ministeriellen Vetos mußten sich die Regionalbehörden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit den vorhandenen Kräften beschei150

den - eine Aufgabe, die ihnen vor dem Hintergrund ihrer Fixierung auf die »Umsturzpartei«, angesichts der Konsolidierung der Bergarbeiterbewegung und zunehmender Aktivitäten einer legalisierten Sozialdemokratie immer schwerer fiel. Zwar konnten sie sich auf die politischen Abteilungen der Dortmunder und Bochumer Polizei stützen - letztere war 1891 angesichts des staatlichen Drucks doch noch eingerichtet worden - und auch die erheblich verstärkte Gendarmerie wurde für politische Uberwachungsaufgaben eingesetzt; die eigenen Aktivitäten der als Landespolizeibehörde fungierenden Bezirksregierung mußten sich aber auf die Auswertung der einschlägigen Zeitungen, Broschüren und Flugblätter sowie auf die Durchsicht der Versammlungsüberwachungsberichte der Ortbehörden beschränken.158 Das aus Sicht der Staatsverwaltung entscheidende Manko der bisherigen Regelung, die Abhängigkeit von den Aktivitäten einer bald desinteressierten, bald unfähigen, schlecht zu steuernden Lokalbehörde, die zudem nur Ausschnitte erfassende Informationen ohne Kenntnis übergreifender Zusammenhänge lieferte, blieb damit bestehen. Zwar glaubte die Bezirksregierung, daß sie auch unter diesen Umständen in der Lage sei, die Entwicklung von Sozialdemokratie und Bergarbeiterbewegung »in ihren großen Zügen zuverlässig zu verfolgen,« sie hielt dies aber nicht für ausreichend, denn: »Mangelhafter war .. der Erfolg bei dem Bestreben, auch die kleinere Agitation, die heimliche Minierarbeit und ihre Ergebnisse im Einzelnen näher zu erfassen und zu ermitteln, bei welchen Personen bzw. an welchen Orten bedrohlichere Neigungen und Zustände, aus denen unter gegebenen Umständen leicht gemeingefährliche Verbrechen hervorgehen können, bestehen.« 159

Die unzureichende Detailschärfe und Einheitlichkeit der politisch-polizeilichen Recherchen konnte auch nicht durch punktuelle überörtliche Aktivitäten der Bochumer, Dortmunder und Hagener Ortspolizeikommissare ausgeglichen werden, wie sie z.B. 1892/93 bei den Ermittlungen anläßlich einiger Dynamitanschläge entwickelt wurden, die man anarchistischen Kreisen zurechnete.160 Diese Ermittlungen in der Grauzone unklarer Zuständigkeiten und Kompetenzen boten den Mittelbehörden jedoch einen willkommenen Anlaß, erneut auf die grundlegende Reorganisation der regionalen politischen Polizei zu drängen. Unter starker Akzentuierung einer angeblichen anarchistischen Radikalisierung in der Ruhrbergarbeiterschaft forderten 1894 die Arnsberger und die Düsseldorfer Regierung eine staatliche Organisation und Koordination der politischen Polizei im Industriegebiet. 161 Ihr Vorstoß zur Einrichtung einer staatlichen, bei der Bezirksregierung ressortierenden politischen Polizei löste diesmal eine positive Reaktion in Berlin aus. Sicherlich haben die dramatisierenden Bedrohungsszenarien der Mittelbehörden zu diesem Kurswechsel beigetragen. Mit seinen staatlichen politischen Kommissaren imitierte Preußen bewußt die französischen »Spezialkommissare«, die schon 1855 unter Napoleon ΠΙ. als landesweit agieren151

de Sonderpolizei für Aufgaben »rein politisch polizeilicher Natur« eingerichtet worden waren. Um 1900 unterhielt der französische Staat rund einhundertvierzig dieser »Spezialkommissare«, die direkt der jeweiligen Präfektur unterstanden und ebenso zur Überwachung der politischen Opposition wie zur Kontrolle der untergeordneten Verwaltungsbehörden dienten.162 Sowohl die Düsseldorfer Regierung als auch die westfälische Provinzialverwaltung empfahlen dem Innenminister dringend, »dem bewährten Muster der Spezialkommissare« zu folgen.163 Durch diese Einrichtung gewönne der Staat nicht nur die erforderliche Unabhängigkeit von der kommunalen Polizei, sondern wäre gleichzeitig in der Lage, sich vom Odium geheimpolizeilicher Spitzelwirtschaft zu befreien. Die Kommissare sollten nicht durch »Verstärkung der geheimen Fonds« finanziert, sondern als etatmäßige Staatsbeamte »ganz offen als Organe der Landespolizei installiert werden. Hierdurch würde man ... jedem Gerede wegen Anstellung von geheimen Agenten, wie agents provocateurs pp. von vornherein aus dem Wege gehen.«164 Am 1. Oktober 1896 traten sechs »Königliche Polizei-Bezirks-Kommissare« im rheinisch-westfälischen Industrierevier ihren Dienst an. Sie waren in Elberfeld, Düsseldorf, Essen, Dortmund, Bochum und Gelsenkirchen stationiert und teilten die Region unter sich auf. Als Organe der Landespolizeibehörde unterstanden sie direkt dem jeweiligen Regierungspräsidenten. Obwohl sich ihre Tätigkeit auf Beobachtungen und Nachrichtensammlung konzentrieren sollte, hatten sie als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft das Recht, »bei Gefahr im Verzuge« selbständig Beschlagnahmungen und Durchsuchungen anzuordnen. Um Kompetenzkonflikte zu vermeiden, waren die Bezirkskommissare gehalten, zu derartigen Maßnahmen die jeweils zuständige Ortspolizei heranzuziehen.165 Inhaltlich bestand die Hauptaufgabe der Bezirkspolizeikommissare in der umfassenden Uberwachving aller sozialdemokratischen und anarchistischen Bestrebungen, Vereine, Versammlungen oder Publikationen sowie der Gewerkschaftsbewegung, besonders unter den Bergarbeitern. Daneben sollten sie in Ausnahmefällen auch bei der Aufklärung gewöhnlicher Kriminalfälle mitwirken. Durch Aufträge dieser Art durfte »die politische Thätigkeit der Polizei-Bezirks-Kommissare indessen nicht beeinträchtigt werden.«166 Schließlich oblag ihnen die Überwachung verdächtiger Ausländer innerhalb ihres Zuständigkeitsgebiets.167 Wie die zwischen Staatsgewalt und Unternehmerherrschaft angesiedelten Zechenschutzwehren blieben auch die Bezirkskommissare der politischen Polizei eine Spezialität des rheinisch-westfälischen Industriegebiets. Anders als in Frankreich wurde die neue Institution nie zu einem flächendeckenden Netz ausgebaut, sondern blieb eine Sonderlösung für die spezifischen Überwachungsprobleme der Region. Hoben sich die preußischen Bezirkskommissare durch diese Beschränkung deutlich vom französischen Überwachungsnetz ab, teilten sie mit ihrem 152

Vorbild in der Praxis die doppelte Stoßrichtung gegen die politische Oppositionsbewegung in der Arbeiterschaft und gegen Indifferenz und Indolenz in den unteren Verwaltungsinstanzen. Bei den örtlichen Polizeibehörden waren die Bezirkskommissare alles andere als beliebt: »Im Gegenteil glauben die meisten in uns eine Art Controleure zu erblicken,« berichtete -1898 der Essener Bezirkskommissar, »weshalb man uns auch vielfach >Obercontroleure< nennt und uns mehr Mißtrauen als Liebe entgegenbringt.«168 Aus Sicht der Regierung war dies ein durchaus erwünschter Effekt der neuen Institution, die sich nach Auffassung des Arnsberger Regierungspräsidenten schon nach einem Jahr außerordentlich bewährt hatte. »Unentbehrlich« war sie dem Verwaltungschef nicht nur deshalb, weil sie ihn über die Entwicklung der Arbeiterbewegung stets »schnell und gut unterrichtet« hatte, sondern auch, weil durch sie eine »wirksame Kontrolle der unteren Behörden ausgeübt« wurde. Unter dem Druck staatlicher Aufsicht hätten die Ortsbehörden insbesondere bei der Überwachung des Vereins-und Versammlungswesens sichtlich »größere Regsamkeit« bewiesen.169 Das Hauptaugenmerk der Bezirkskommissare galt der sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen und nationalpolnischen Arbeiterbewegung in der Region und im benachbarten Ausland.170 Sie nahmen Aufgaben der Versammlungsüberwachung wahr, sammelten systematisch alle einschlägigen Informationen und bereiteten sie in Berichten an die Bezirksregierung auf, koordinierten ihre Arbeit in regelmäßigen Konferenzen und etablierten so nach kurzer Zeit einen politischen Informationskanal, der parallel zum regulären Berichtsverkehr in der Verwaltung lief und zu dem allein die Mittelund Zentralbehörden privilegierten Zugang hatten.171 Aufgrund ihrer genauen Kenntnis entwickelten sich einige Bezirkskommissare nach kurzer Zeit zu Spezialisten fur einzelne Bereiche der Arbeiterbewegung, deren Urteil auch bei den Zentralinstanzen geschätzt wurde. So beauftragte das Innenministerium im März 1905 den Bochumer Bezirkskommissar Bernhardt als avisgewiesenen Experten für Fragen der Bergarbeiterbewegung mit der Beobachtung des nach Berlin einberufenen Bergarbeiterkongresses.172 Sein Dortmunder Kollege Goehrke profilierte sich besonders bei der Ausforschung und Bekämpfung der Polenbewegung im Ruhrgebiet. Als 1906 bekannt wurde, daß polnische Vereine vor der Repressionspolitik der preußischen Behörden ins benachbarte Holland auswichen, erhielt er die Befugnis, seine Recherchen auch jenseits der westlichen Landesgrenzen fortzusetzen, und noch im selben Jahr trat er eine längere Informationsreise ins schlesische Industriegebiet an, um sich über die dortigen Erfahrungen bei der Unterdrückung der polnischen Bewegung zu unterrichten.173 Die Verstaatlichung der Ortspolizei in Bochum, Gelsenkirchen und Essen veränderte 1909 die Rahmenbedingungen politischer Überwachung. Ein wichtiges Motiv für die Einrichtung der dezentralen Bezirkskommissariate, 153

die Abhängigkeit staatlicher Instanzen von der Zuarbeit kommmunaler Behörden, war damit bedeutungslos geworden. Ursprünglich sollten die Sonderbeamten der Regierungspräsidenten durch eine »Zentralstelle für die politische Polizei des gesamten Industriegebiets« in Bochum ersetzt werden.174 Mit dieser Zentrale wäre eine neue, übergreifende politische Kontrollinstanz entstanden, deren Zuständigkeitsbereich alle herkömmlichen Verwaltungsgrenzen überschritten und den Grundstein für eine einheitliche, das ganze Ruhrrevier umfassende Polizeibehörde gelegt hätte. Dazu kam es nicht. Zum einen vertraten die Regionalbehörden übereinstimmend die Auffassung, daß von den vier hauptsächlichen Beobachtungsobjekten der politischen Polizei, der Polenbewegung, den anarchistischen Gruppen, der Sozialdemokratie und der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, allein das polnische Vereins- und Pressewesen hinreichend zentral organisiert sei, um eine Überwachung von einer Stelle aus zu rechtfertigen. Die Anarchisten wären ohnehin nur im rheinischen Teil des Reviers vertreten und Sozialdemokratie wie Gewerkschaften böten mit ihren dezentralen Orts- und Regionalverbänden keinen sinnvollen Ansatzpunkt für eine Zentralstelle.175 Zum anderen lag eine Zentralbehörde auf dieser Ebene quer zur vertikal versäulten Verwaltungsstruktur. Sie hätte in den Zuständigkeitsbereich von wenigstens drei Regierungspräsidenten und zwei Oberpräsidenten eingegriffen; mächtige Verwaltungschefs, die eifersüchtig ihre räumlichen Zuständigkeiten und sachlichen Kompetenzen verteidigten und wohl letztlich auch die Existenz einer parallel agierenden, ihnen nicht direkt unterstellten, politisch- polizeilichen Instanz fürchteten. Nur zu leicht wären sie in eine vergleichbare Situation geraten wie die Ortspolizeibehörden, die die Bezirkskommissare als »Oberkontrolleure« kennengelernt hatten. Sehr deutlich wird diese Angst in der ablehnenden Stellungnahme des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, der es für bedenklich hielt, einer Behörde Kompetenzen im Zuständigkeitsbereich einer anderen, gleichartigen Behörde einzuräumen: »Es ist unausbleiblich, daß die Polizei in Bochum bei der Verarbeitung ihrer Beobachtungen, wenn auch unbeabsichtigt, an der Überwachungstätigkeit der Beamten der Polizeidirektion Essen, an den Anordnungen des Polizeipräsidenten zu Essen und an den meinigen hin und wieder Kritik üben und zu ihnen Stellung nehmen muß, obwohl ihr deren Gründe in letzter Linie nicht immer bekannt sein können.«176

Die Furcht vor der ambivalenten Wirkung jeder geheimen Polizei, die neben Informationen über den politischen Gegner immer auch Herrschaftswissen über Angehörige des Staatsapparates sammelt, blockierte diesen Zentralisierungsschritt. Daß sich die Interessen der Regionalbehörden durchsetzen konnten, verweist auf das retardierende Moment der traditionellen Verwaltungsstruktur, die der Entwicklung einer rein effizienzorientierten, aber immer unkontrollierbareren Polizei im Wege stand. Statt zu einer Zentralisierung der gesamten politischen Polizei kam es nur 154

zur Zusammenfassung der Polenüberwachung. Die ehemaligen Bezirkskommissare wurden den Polizeipräsidenten in Bochum, Essen und Gelsenkirchen zugeordnet, wo sie an führender Stelle beim Aufbau der politischen Abteilungen mitwirkten. Schon 1908 hatten die westfälischen Behörden unter der Regie des Bezirkskommissars Goehrke mit der Herausgabe eines internen Informationsdienstes begonnen, der polizeilich relevant erscheinende Beiträge aus polnischen Zeitungen in deutscher Ubersetzung zugänglich machte. Als Leiter der »Zentralstelle für Überwachung der Polenbewegung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet« konnte Goehrke an diese Arbeit anknüpfen.177 Als besonderes Problem der Überwachungstätigkeit stellte sich der notorische Mangel an ausreichend sprachkundigen und politisch zuverlässigen Hilfskräften heraus. Schon in ihren Anfängen litt die politischpolizeiliche Überwachung der Polenbewegung darunter, daß kaum ein Polizeibeamter die polnische Sprache beherrschte. Im Landkreis Dortmund mußte die Polizei um 1890 sogar auf die Dienste eines polnischsprechenden Weichenstellers zurückgreifen.178 Auch die Zentralstelle hatte mit dieser Personalknappheit zu kämpfen, die nicht zuletzt dadurch verursacht wurde, daß gebürtigen Polen pauschal die erforderliche »Zuverlässigkeit in deutschnationaler Hinsicht« bestritten •wurde.179 Trotz dieser Hindernisse entfaltete die Bochumer Stelle schon bald rege Aktivitäten. Innerhalb eines Jahres hatte sie mehr als 2100 Aktivisten polnischer Organisationen karteimäßig erfaßt, 841 Vereine der verschiedensten Art standen auf ihrer Überwachungsliste und sechzehn polnischsprachige Zeitungen wurden regelmäßig ausgewertet. Die auf Basis dieser Lektüre wöchentlich herausgegebenen »Übersetzungen aus westfälischen und anderen polnischen Zeitungen« erschienen in einer Auflage von einhundertsiebzig Exemplaren und gingen an über hundert staatliche Dienststellen.180 Zwischen 1890 und 1909 entstand in der Region ein politisch-polizeilicher Apparat, der zwar nie ganz den Zusammenhang zur regulären Polizei verlor, sich insgesamt aber markant von ihr abhob. Mehr als bei jedem anderen Zweig der Polizei trat hier der Staat als Motor der Entwicklung auf, und auch die Zentralisierungstendenzen sind hier am meisten ausgeprägt. Zugleich machen der relativ späte Beginn der Entwicklung, die recht bescheidenen Dimensionen der politischen Abteilungen und auch ihre Konzentration auf die Sammlung und Auswertung von Informationen deutlich, daß nicht sie es waren, die die Alltagkontakte zwischen Polizei und Arbeiterschaft bestimmten, sondern in aller Regel die offen agierenden Straßenbeamten. Ob die verborgenen Beobachter der Arbeiterbewegung mit ihren Listen, Karteien und Spitzelberichten zur Stabilisierung des preußischen Obrigkeitsstaats und zur Effektivierung von Herrschaft beitrugen, und sei es nur durch die Bereitstellung verläßlicher Informationen über den inneren »Gegner«, ist mehr als fraglich. Eine charakteristische Episode im Vorfeld des zweiten 155

großen Bergarbeiterstreiks von 1905 illustriert, daß die preußischen Behörden kaum bereit oder in der Lage waren, ihren verbesserten Informationsstand über die Arbeiterbewegung im Revier im Sinne einer präventiven Konfliktvermeidungsstrategie zu nutzen, obwohl sie die Möglichkeiten dazu hatten und obwohl das Debakel des überraschenden Streikausbruchs von 1889 der eigentliche Anlaß zur Reorganisation der politischen Polizei gewesen war. Der Essener Bezirkskommissar Nausester, der sich bereits beim Herner Ausstand von 1899 durch eine nüchterne und vorurteilslose Analyse der Vorgänge hervorgetan hatte,181 warnte seit Beginn des Jahres 1904 vor einer bedrohlichen Verschärfung der Spannungen zwischen Bergarbeiterschaft und Grubenunternehmern. Er machte darauf aufmerksam, daß die Zechen sukzessive die Arbeitszeiten erhöhten und dadurch die Lage der Arbeiter verschlechterten, was diese nicht klaglos hinnehmen würden. Mit dieser realistischen Einschätzung der tatsächlichen Konfliktursachen, die weitab vom üblichen, ressentimentgeladenen Gerede über die sozialdemokratisch verhetzten Bergleute lag, stieß Nausester jedoch bei seinen Vorgesetzten eher auf Ablehnung als auf Interesse. Seine wiederholten Warnungen vor einem drohenden Streik wurden ignoriert. Im August 1904 versetzte man den unbequemen Mahner nach Elberfeld und berief an seine Stelle den unerfahrenen Polizeisekretär Hansch aus Posen, der die Bezirksregierung bis zum Ende des Jahres mit beruhigenden Nachrichten versorgte, die einen bevorstehenden Ausstand ausschlossen. Am 7. Januar 1905 legte die Belegschaft der Zeche Bruchstraße bei Bochum wegen einer willkürlichen Arbeitszeitverlängerung die Arbeit nieder; wenige Tage später standen zweihunderttausend Bergleute im Streik.182 Die Haltung der Behörden läßt erkennen, wie sehr sie zu Gefangenen ihrer eigenen Vorurteile geworden waren. Ihre Ignoranz gegenüber den Erkenntnissen des eigenen Nachrichtendienstes bestätigt die Befunde zur obrigkeitlichen Streikbekämpfung. Bis 1914 trug die gestärkte und verbesserte Polizei nicht zur Dämpfung gesellschaftlicher Konflikte oder zur Pazifizierung ihrer Austragungsformen bei, sondern wirkte mit ihrer starren, politisierten und realitätsblinden Feindsicht spannungsverschärfend und konflikteskalierend.

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6. Strukturwandel, Krise und Binnenmodernisierung der kommunalen Polizei 6.1. Die Rekrutierung der Exekutivbeamten Die Entstehung einer modernen Polizei und ihre Profilierung als dominierendes innerstaatliches Herrschaftsinstrument war in Preußen - dies sollte die bisherige Darstellung gezeigt haben - eng mit den sozialen Konflikten in der Klassengesellschaft verbunden. Wollte die Polizei ihrer neuen, aktiven Rolle gerecht werden, den Niedergang traditioneller gesellschaftlicher Disziplinierungsinstanzen kompensieren und die Strukturen sozialer Ungleichheit und politischer Herrschaft gegen die Ansprüche der unteren Gesellschaftsschichten abschirmen, war es allerdings unerläßlich, daß gesellschaftliche Konflikte nicht auf die Institution selbst übergriffen. Die Loyalität des Herrschaftsstabes war - und ist - eine notwendige Voraussetzung seiner Wirksamkeit. Zweifellos boten der Beamtenstatus mit seiner besonderen Treueverpflichtung und das interne Disziplinarrecht zahlreiche Handhaben, um unzuverlässige Personen im Einzelfall zu entfernen; 1 gleichwohl mochte sich der preußische Staat zu keinem Zeitpunkt allein auf diese Sicherung verlassen. Je mehr sich nämlich die politischen Konfliktlinien mit dem Muster gesellschaftlicher Ungleichheit deckten, desto größer schien die Gefahr, Klassensolidarität könnte Staatsloyalität paralysieren und den Damm des Beamtenrechts überspülen. Seit dem ersten Aufflackern moderner Klassenkämpfe blieb die aus der sozialen Nähe zwischen den Agenten und den Klienten der Ordnungsmacht resultierende Möglichkeit der Illoyalität der Exekutivmannschaft eine heimliche Furcht der Staatsführung. 2 U m diesen Loyalitätsproblemen zu begegnen, hatte die preußische Bürokratie schon früh ein spezifisches Rekrutierungsmuster ausgebildet, das im Grundsatz für alle Ränge der Hierarchie galt und dessen Kernelement die Sicherung politischer Loyalität durch soziale Selektivität der Personalauswahl war. Die Führungselite der akademisch qualifizierten Beamtenschaft stellte sich so nach Durchlaufen eines gestaffelten, hochgradig sozial selektiv wirkenden Filters als Gruppe von hoher sozialer Homogenität und ausgeprägter politischer Loyalität dar. Das Juristenmonopol, der faktische Vermögenszensus eines langjährigen, unbezahlten Referendardienstes, während dessen der Anwärter zur »standesgemäßen« Lebensführung verpflichtet war, und eine scharfe konfessionelle Diskriminierung, die Katholiken und Juden keine 157

Chancen einräumte, sorgten für die Geschlossenheit der höheren Beamtenschaft, noch bevor politische Gesinnungskontrolle und informelle Selektionskriterien wie die Mitgliedschaft in der »richtigen« Studentenverbindung und das ReserveofHzierspatent des »richtigen« Garderegiments wirksam wurden.3 Dem »Assessorismus« der leitenden entsprach nach einer Bemerkung von Otto Hintze der »Militarismus« der unteren und mittleren Ränge.4 Die Institution der »Zivilversorgung« war ursprünglich geschaffen worden, um den Heeresdienst für potentielle Kapitulanten attraktiver zu gestalten und ihnen nach Ableistung der Militärzeit ein Unterkommen in der zivilen Verwaltung zu sichern - eine Funktion, die sie bis zuletzt behielt. Nach ersten Anfängen im 18. Jahrhundert wurde die Zivilversorgung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Bedürfhisse der Wehrpflichtigenarmee umgestellt und seit den siebziger Jahren zunehmend perfektioniert. Sieht man einmal von Feinheiten und Ausnahmeregelungen ab, bedeutete das System der Zivilversorgung im Grundsatz, daß sämtliche Unterbeamtenstellen und die Hälfte aller mittleren Beamtenstellen in der kommunalen und staatlichen Verwaltung den Inhabern des »Zivilversorgungsscheins«, den sogenannten »Militäranwärtern«, vorbehalten waren, d.h. in aller Regel Unteroffizieren, die sich dieses Privileg durch eine zwölfjährige Militärdienstzeit erworben hatten. Wurde eine entsprechende Stelle frei, mußte sie in einschlägigen »Vakanzenlisten« für Militäranwärter ausgeschrieben werden und durfte nur dann mit einem »Zivilanwärter« ohne Militärhintergrund besetzt werden, wenn sich unter den Bewerbern mit Anstellungsvorrang kein geeigneter Aspirant fand.5 Neben dem ursprünglichen Ziel einer kostengünstigen Versorgung der ausgedienten Unteroffiziere erreichte der preußische Staat durch die militärische Rekrutierung seiner unteren Beamtenschaft einen doppelten Zweck: Einmal konnte er auf die in zwölfjähriger militärischer Sozialisation eingeschliffene unbedingte Staatsloyalität und die lange auch für die Beamtentätigkeit funktionalen und eine formelle Ausbildung weitgehend ersetzenden Sekundärtugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Gehorsam, Einordnung in hierarchische Beziehungen bauen. Zum anderen brachten die Militäranwärter als ortsfern rekrutierter, dem lokalen Milieu weitgehend fremder und befehlsgewohnter Beamtennachwuchs die nötige soziale Distanz zu ihrer Umwelt und die autoritäre Schroffheit in ihren Außenkontakten mit, die der Obrigkeitsstaat von seinen Dienern erwartete. Kurz gesagt, war das Zivilversorgungssystem neben dem Institut des Einjährigenfreiwilligen der entscheidende Transmissionsriemen zur sozialen Militarisierung der preußischen Gesellschaft, »ein außerordentlich wichtiger Knoten, der auf unterer Ebene Armee und zivile Ordnung in diesem Miltär-Beamten-Staat zusammenband.«6 158

Dies alles galt besonders fur die Polizei. Nach den Vorgaben der Zivilversorgungsbestimmungen und den Forderungen der Aufsichtsbehörden waren alle Exekutivbeamtenstellen unterhalb der Kommissarebene, d.h. sämtliche Schutzmann-, Sergeanten-und Wachtmeisterposten durch Militäranwärter zu besetzen.7 Sowohl in der zeitgenössischen Sicht, wie in dem Bild, das die Polizeihistoriographie gezeichnet hat, spielt die militärfixierte Rekrutierung der preußischen Polizeibeamten eine Schlüsselrolle. Ein sozialdemokratisches Blatt faßte dieses Urteil 1910 in einer prägnanten Polemik zusammen: »Junge Burschen aus der Kassubei oder anderen durch negative Kultur ausgezeichnete Gegenden kommen ... in die Kaserne. Ihnen, die in der Regel nichts gesehen, als das heimische Dorf oder den Gutshof, auf dem ihre Eltern fronten, behagt die regelmäßige Kasernenfütterung, und wenn sie auch gehörig gedrillt und geplagt werden, so tröstet sie der Gedanke aller engen Gehirne, daß sie nach zwei oder drei Jahren die Unbill, die sie wehrlos ertragen mußten, an anderen Wehrlosen rächen könnten; so werden sie Unteroffiziere. ... Nach sechs, neun oder zwölf Jahren ist das Ziel erreicht; ohne etwas von der bürgerlichen Welt zu kennen, gehen diese Leute mit dem Zivilversorgungsschein in eine staatliche oder kommunale Stellung - mit Vorliebe als >SchutzmännerOrdnung< betätigen zu können.« 8

Der militaristische Habitus des preußischen Schutzmanns, sein vielzitierter »Kasernenhofton« gegenüber dem Publikum, seine dünkelhafte Distanz zur Umwelt und insbesondere zur Arbeiterschaft oder den unteren Schichten allgemein, seine Neigung, bei Konflikten rücksichtslos Gewalt anzuwenden und seine unbedingte Autoritätshörigkeit gegenüber Vorgesetzten und sozial Höherstehenden waren Konsequenzen seiner militärischen Herkunft und machten ihn zum krassen Gegenbild des betont zivilen britischen »Bobby«.9 Die preußische Lösung des geschilderten Loyalitätsproblems sowie gleichzeitig der Probleme innerer Disziplinierung und beruflicher Qualifizierung läßt sich demnach in einem Satz umschreiben: »Der Schutzmann war ein verbeamteter Soldat.«10 Aus der Perspektive institutioneller Modernisierung stellte das Rekrutierungsmonopol der Armee gleich aus zwei Gründen einen nicht zu unterschätzenden Bremsfaktor dar. Einmal sicherte die Abhängigkeit der Polizei vom soldatischen Personalreservoir die Dominanz der militärischen gegenüber der zivilen Macht und blockierte damit eine fortschreitende funktionale Differenzierung beider Bereiche. Neben der oben geschilderten Rolle der Armee bei der Streik- und Unruhebekämpfung lag hier die zweite, womöglich wichtigere Grenze einer wirksamen Demilitarisierung der Staatsgewalt 159

im Vorkriegspreußen. Zum anderen blockierte das Institut der Zivilversorgung die Ausbildung eines spezifisch polizeilichen Berufsbildes und damit wenn man so will - die innere Verpolizeilichung der Polizei. Ein militärisch aufgeladenes Rollenverständnis hemmte die Entwicklung ziviler Verhaltensstandards im alltäglichen Verkehr mit dem Publikum, und weil der Militärstatus eine Art askriptiver Zugangsvoraussetzung zur Polizeiarbeit darstellte, konnten Leistungs- und Qualitätskriterien bei der Personalauswahl nur eine zweitrangige Rolle spielen. Hinzu kam, daß die Polizei wenig Veranlassung hatte, ein fachspezifisches Ausbildungswesen zu entwickeln, solange der größte Teil der beruflichen Qualifikation und Sozialisation externalisiert und der Armee zugewiesen werden konnte.11 Die geschilderte Verflechtung zwischen Militär und Polizei gibt die Grundlinie der bisherigen Forschungsmeinung wieder, die sich hauptsächlich auf die Verhältnisse bei der Gendarmerie und der staatlichen Schutzmannschaft in Berlin bezieht, von der aus Schlüsse auf die preußische Polizei insgesamt gezogen werden.12 Eine Überprüfung der Rekrutierungspraxis bei der im rheinisch-westfälischen Industriegebiet dominierenden kommunalen Polizei zeigt jedoch, daß derartig verallgemeinernde Aussagen unhaltbar sind. Vieles deutet daraufhin, daß das geschilderte Rekrutierungsmodell in den Ruhrgebietsstädten während der Expansionsphase der Polizei vollständig zusammenbrach und die sozialstrukturelle Militarisierung der Beamten durch eine rasch fortschreitende Proletarisierung ihres Rekrutierungsfeldes abgelöst wurde. Schon vor dem großen Polizeiboom nach 1890 kam es vor, daß die Ortspolizeiverwaltungen vom staatlichen Gebot militärnaher Rekrutierung abwichen und die Stellen der Polizeisergeanten, öfter aber noch die der Nachtschutzleute mit Bewerbern ohne Zivilversorgungsschein besetzten. Bis zum Ende der siebziger Jahre wurden derartige Eigenmächtigkeiten der Kommunen offenbar von den staatlichen Aufsichtsinstanzen toleriert oder ignoriert. Anfang der achtziger Jahre änderte sich diese laisser-faire Politik. Auf Anweisung des Innenministeriums überprüften die Bezirksregierungen, die als Kommunalaufsichtsbehörde die Personalpolitik der Städte zu überwachen und die definitive Einstellung der Kommunalbeamten zu genehmigen hatten, den Militärstatus aller städtischen Polizisten.13 Waren Polizeibeamtenstellen regelwidrig mit Zivilpersonen besetzt, wurden die Kommunen gezwungen, diese zu entlassen und an ihrer Stelle versorgungsberechtigte Militäranwärter zu beschäftigen. In Bochum mußte die Stadtverwaltung 1880 einen Polizeisekretär und drei Polizeisergeanten entlassen und durch ausgediente Unteroffiziere ersetzen, obwohl die betreffenden Beamten allesamt länger als zehn Jahre in städtischen Diensten gestanden hatten.14 In der Nachbarstadt Dortmund war vor allem die 1874 gegründete Truppe der Nachtschutzleute stark von zivilen Kräften geprägt. Fünf Schutzmänner 160

mußten 1882 auf Druck der Bezirksregierung gegen »anstellungsberechtigte Militärpersonen« ausgetauscht werden; bei zwanzig weiteren Beamten, die ebenfalls nicht dem staatlichen Rekrutierungskriterium entsprachen, kam die Arnsberger Regierung nicht umhin, ihre weitere Beschäftigung zu genehmigen, »weil sich nach öffentlicher Ausschreibung der Stellen keine qualificirten civilversorgungsberechtigten Bewerber gemeldet hatten.«15 Obwohl die Aufsichtsbehörden von nun an regelmäßiger und konsequenter als zuvor die Einstellungspraxis der Städte kontrollierten und Verstöße monierten, konnten sie den zunächst schleichenden, dann immer schneller ablaufenden Verfall militärnaher Rekrutierung nicht verhindern.16 Seit den neunziger Jahren, beschleunigt seit der staatlich koordinierten und initiierten Ausweitung der Kommunalpolizei um die Jahrhundertwende, häuften sich die Klagen über die Verschlechterung des »Menschenmaterials« bei der städtischen Polizei, was in der Praxis nichts anderes hieß, als das kaum noch Militäranwärter zur Anstellung kamen.17 Immer öfter mußte die Bezirksregierung bei ihrer routinemäßigen Überprüfung des Militärstatus neu einzustellender Ortspolizisten zur Kenntnis nehmen, daß die Stelle erfolglos in den Vakanzenlisten für Militäranwärter ausgeschrieben worden war, und nur zivile Kandidaten zur Verfugung standen.18 Im Jahre 1898 war der Militarisierungsgrad der Ortspolizei in den wichtigen rheinischen und westfälischen Großstädten bereits auf ein recht niedriges Niveau gesunken. Statt 100%, wie nach den Anstellungsgrundsätzen zu erwarten, betrug der Anteil der Militäranwärter unter den Wachtmeistern, Sergeanten und Schutzleuten in Dortmund 48%, Duisburg 39%, Krefeld 34%, Düsseldorf 28%, Barmen 23%, Essen 19%, Hagen 16% und in Oberhausen gerade 5 %.19 Neun Jahre später hatten sich die Relationen weiter zugunsten des Zivilpersonals verschoben: Hagen konnte nur noch rund 10% militärisch qualifizierter Unterbeamten vorweisen, Gelsenkirchen 11% und selbst der Spitzenreiter Dortmund hatte sich auf 31% verschlechtert.20 Daß es sich bei diesen Zahlen nicht um ortsspezifische Ausreißer, sondern um repräsentative Werte handelt, belegt eine umfassende, wenn auch nicht vollständige Statistik über den Anteil der Militäranwärter unter den Kommunalbeamten der Rheinprovinz aus dem Jahre 1913. Im Durchschnitt lag der Anteil der Militäranwärter unter den Polizeiunterbeamten der 211 erfaßten Städte und Gemeinden der fünf rheinischen Regierungsbezirke bei 19%; im industriereichen Bezirk Düsseldorf sogar nur bei 14%.21 Eine genauere Analyse der sozialen Demilitarisierung der städtischen Polizeimannschaften im Industriegebiet zeigt, daß das Eindringen ziviler Beamtenanwärter sukzessive von unten nach oben durch die kleine Hierarchie der Exekutivmannschaften verlief. Am frühesten wurden die seit den siebziger Jahren eingerichteten Nachtschutzmannschaften zivilisiert. Schon zweieinhalb Jahre nach Gründung des neuen Nachtkorps in Hagen klagte 161

Polizeiinspektor Meyer 1889, »daß die Stelleninhaber sich meistens aus dem Arbeiterstande rekrutieren. Civilversorgungsberechtigte, durch eine längere Militärdienstzeit disziplinierte Personen melden sich nur in ganz seltenen Fällen.«22 Dasselbe Bild zeigte sich in den anderen großen Städten der Region. Im besten Fall gelang es der örtlichen Polizeifiihrung, die Exekutivmannschaften entsprechend ihrem Militärstatus zu differenzieren und wenigstens die für wichtiger erachteten Tagessergeanten aus dem versorgungsberechtigten Unteroffizierskorps zu ergänzen, während die Schutzleute ausschließlich ziviler Herkunft waren. Dies war beispielsweise bis zur Jahrhundertwende die Politik der Dortmunder Polizei, wo die zwischen 1881 und 1900 eingestellten Schutzleute zu 97% ziviler Herkunft waren, die Sergeanten jedoch zu etwa 80% dem Lager der Militäranwärter entstammten.23 Je mehr jedoch die Grenze zwischen beiden Gruppen verschwamm, desto mehr wurde auch die Kerngruppe der Sergeanten vom Trend zur Demilitarisierung erfaßt. Die zwischen 1905 und 1908 in Bochum eintretenden Sergeanten besaßen zu 26% den Versorgungsschein, 29% waren Zivilkandidaten von außen und rund 45% waren beförderte Schutzmänner und damit ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne vorgeschriebenen Militärstatus.24 Allein die oberste Kategorie der Mannschaften, die Wachtmeister, deren Funktion am ehesten mit der der Unteroffiziere beim Militär zu vergleichen ist, bewahrte trotz zunehmender Selbstrekrutierung aus der Gruppe der Sergeanten weitgehend ihre Militärnähe; in der Rheinprovinz waren 1913 immerhin noch 71% aller Wachtmeister Militäranwärter.25 Der weiträumige Vergleich zeigt, daß die Demilitarisierung der kommunalen Polizei in Preußen vor allem ein Phänomen der Industrieregionen und der großen Städte war. Eine Stichprobe fur das Jahr 1901, die 136 preußische Städte erfaßt, belegt eine Polarisierung längs der Scheidelinie zwischen agrarischen und industriellen Provinzen. In den Agrarprovinzen konnte mehr als die Hälfte der erfaßten Städte einen Militarisierungsgrad von über 50% vorweisen, während in den industriellen Regionen Schlesien, Sachsen, Westfalen und Rheinland gerade 30,6% dieser Kategorie angehörten, mehr als 36% aber in der untersten Gruppe rangierten, in der der Anteil der Militäranwärter maximal fünfundzwanzig von Hundert betrug.26 Die Vorreiterfunktion der Großstädte erweist sich eindrucksvoll anhand der Erhebung aus dem Rheinland von 1913. Der Militarisierungsgrad der Polizei - gemessen am Prozentsatz der Unterbeamten mit dem Status des Militäranwärters - verhielt sich genau umgekehrt proportional zur Größe der Stadt: Gemeinden mit bis zu zwanzigtausend Einwohnern hatten fast 30% militärisch vorgeprägte Polizisten, Großstädte mit mehr als einhunderttausend Einwohnern kamen im Durchschnitt auf gerade 13%.27 Wenn die »Zwölfender« aus den Kasernen ausblieben, wer trat dann an ihre Stelle als Polizisten im Industrierevier? Nach allen vorliegenden Daten waren 162

es die Arbeiter der Region, die sich als neue Rekrutierungsgruppe anboten. Für die Phase vor der Jahrhundertwende lassen sich konkrete Aussagen lediglich über den sozialen Hintergrund der Dortmunder Nachtschutzleute machen. 44% der Schutzleute waren vor ihrem Eintritt in die Polizei als gelernte oder ungelernte Arbeiter beschäftigt. Die zweitgrößte Gruppe stellten untere Angehörige des öffentlichen Dienstes: Mehr als 34% hatte eine Vergangenheit als Straßenbahnschaffner oder -fahrer, Rangierer und dergleichen. Gemeinsames Merkmal aller Polizeibeamten mit zivilem Hintergrund war ihre Herkunft aus der unmittelbaren Umgebung ihres zukünftigen polizeilichen Tätigkeitsfeldes. Fast 70% der Dortmunder Schutzleute aus der Zeit vor 1900 stammte aus der Stadt selbst, weitere 16,6% aus der näheren Umgebung. In scharfem Kontrast dazu stand die Fernrekrutierung der Sergeanten mit Zivilversorgungsschein: Nahezu 87% wechselten übergangslos aus fernen Garnisonsorten in den Polizeidienst der Ruhrgebietsstadt.28 Die Teilnehmerlisten der im Jahr 1905 gegründeten Polizeischule für den Regierungsbezirk Arnsberg gestatten es, die Frage nach der sozialen Rekrutierung der Polizeibeamten für die Spätphase des Untersuchungszeitraums mit größerer Genauigkeit und Repräsentativität zu beantworten, denn die Absolventen stellten nach Einführung der Polizeischulpflicht ganz überwiegend den Beamtennachwuchs der Region. Die Daten über den früheren Beruf von 487 Aspiranten der Schuljahrgänge 1906 bis 1911/12 belegen die weiter fortschreitende Proletarisierung der Mannschaften. Ein Drittel der Polizeischüler gab an, zuvor einen Handwerksberuf ausgeübt zu haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit in abhängiger Beschäftigung und nicht als selbständiger Meister. Mit 31,6% fast gleichauf folgte die Bergarbeiterschaft als zweitwichtigste Rekrutierungsgruppe, der sich die Fabrikarbeiter mit 15,6% anschloßen. Andere Herkunftsgruppen spielten gegenüber diesen drei Arbeiterkategorien nur eine untergeordnete Rolle. Die aktiven Soldaten waren mit gerade 1,2% vertreten und auch der niedrige öffentliche Dienst, dem in Dortmund vor der Jahrhundertwende noch jeder dritte Schutzmann entstammte, hatte jetzt mit 4,9% nur noch marginale Bedeutung. Der Anteil der Schulbesucher mit dem Status eines Militäranwärters überschritt nur im ersten Jahr die Marke von 10% und schwankte im folgenden zwischen 6% und 9%. Die Schüler mit proletarischem Hintergrund kamen zum Großteil von der Werkbank oder aus dem Bergwerk zur Polizei. Bei einem Durchschnittsalter von etwa achtundzwanzig Jahren war es ausgeschlossen, daß sie unmittelbar nach Ableistung ihrer Wehrpflicht direkt in den kommunalen Dienst wechselten, ohne jemals wieder im Zivilberuf gearbeitet zu haben. Hier traten Arbeiter in den Dienst der Ordnungsmacht, die einige Erfahrung im proletarischen Milieu mitbrachten.29 Die Befunde zur sozialen Rekrutierung kommunaler Polizeibeamten im rheinisch-westfälischen Industrierevier vor 1914 lassen sich verallgemei163

nernd als signifikanter Typenwandel zusammenfassen. Der polirisch präferierte Militäranwärter mit langjähriger Sozialisation in der totalen Institution der preußischen Armee, bevorzugt mit agrarischem Hintergrund und ohne Ubergangsphase direktvomMilitär aus einer weit entfernten Garnison in den Polizeidienst der Industriestadt gewechselt, verschwand weitgehend zugunsten eines neuen Rekrutierungstyps mit scharf kontrastierendem Sozialprofil. Dessen militärische Prägung beschränkte sich üblicherweise auf die drei- bzw. seit 1893 zweijährige Dienstpflicht, die für alle jungen Männer galt, aber zum Zeitpunkt seines Eintritts in die Polizei schon einige Jahre zurücklag. Dominant dürfte für ihn eher die Berufserfahrung als Fabrikarbeiter, Maurer oder Bergmann gewesen sein. Er war zudem nicht nur mit der proletarischen Lebenswelt, sondern auch - wie die Dortmunder Daten nahelegen - mit der Region vertraut, in der er in Zukunft die Obrigkeit repräsentieren sollte. Mit der rapiden Veränderung der sozialen Herkunft der Kommunalpolizisten ist nur noch die Entwicklung in den unteren Rängen von Post und Eisenbahn vergleichbar, wo es gleichfalls zu einer »drastischen Entmilitarisierung« kam.30 Die Parallelität in beiden Bereichen läßt die breitere Dimension der sozialstrukturellen Umschichtungen erkennen. Die Expansion der öffentlichen Verwaltung förderte überall dort einen neuen Beamtentyp, wo an der Basis der Amtshierarchie ein bislang unbekannter Massenbedarf an ausfuhrenden Bediensteten entstand. Daß nicht nur die herrschaftsferne Leistungsverwaltung im Transport- und Kommunikationswesen, sondern auch die Polizei mit ihrem rasch wachsenden Heer exekutiver Unterbeamten aus dem traditionellen Rekrutierungsmuster ausscherte, das die preußische Bürokratie fur ihre unteren Ränge vorsah, zeigt, daß hier strukturelle Modernisierungsprozesse auf breiter Front und bis in den Kernbereich staatlicher Herrschaftssicherung reichend eingesetzt hatten. Was die Seite der Polizei angeht, lassen sich für den geschilderten Wandel vor allem vier Ursachen ausmachen, die sich zum Teil gegenseitig verstärkten. Die erste lag darin, daß die Nachfrage nach militärisch qualifizierten Polizeianwärtern das Angebot überstieg. Indizien für das Auseinanderdriften von Angebot und Nachfrage liefert nicht nur der Vergleich mit der Berliner Schutzmannschaft, die den Anfang der neunziger Jahre durch die Verstaatlichung des Nachtwachwesens ausgelösten Personalbedarf nur durch die Einstellung »minderjähriger« Unteroffiziere mit einer Dienstzeit von sechs statt neun Jahren decken konnte.31 Auch eine genauere Analyse der schon angeführten Daten zum Militärstatus der Unterbeamten aus 136 preußischen Städten macht wahrscheinlich, daß der Anteil der Militäranwärter in den Orten besonders niedrig lag, wo die Polizei in den zurückliegenden fünf Jahren überdurchschnittlich gewachsen war. Zumindest läßt sich zwischen dem prozentualen Wachstum der Mannschaften in der Zeit zwischen 1896 und 1901 und dem Anteil der Militäranwärter eine - wenn auch schwache 164

negative Korrelation feststellen (r= -0,29). 32 Zudem deutet der Schwerpunkt der Demilitarisierung in den westlichen Industriegroßstädten auf einen Zusammenhang zwischen Wachstum und sozialstrukturellem Wandel hin, denn gerade in diesen expandierenden Orten wuchs die Polizei besonders schnell und entwickelte einen überdurchschnittlichen Personalbedarf. Der politisch motivierte und staatlich vorangetriebene Polizeiausbau überforderte in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende das Potential der Unteroffiziere und hatte damit unverkennbar selbstdestruktive Züge. Indem der quantitative Ausbau des obrigkeitlichen Repressionsapparates auf der qualitativen Seite die soziale Exklusivität seines Personals in Frages stellte, gab die staatliche Polizeipolitik selbst den Anstoß zur Verschiebung und Modernisierung des polizeilichen Rekrutierungsfeldes, was aus Gründen der Loyalitätssicherung höchst unerwünscht waren. Quantitativer Ausbau schlug nolens volens in qualitativen Wandel um. 33 Der zweite Grund für die soziale Demilitarisierung der Kommunalpolizei lag im Karriereverhalten der langgedienten Unteroffiziere. Zugespitzt formuliert, war die Stelle eines kommunalen Schutzmanns in Bochum oder Gelsenkirchen der letzte Posten, um den sich ein Unteroffizier nach zwölf Dienstjahren in der Armee bewarb. Drei Gründe lassen sich fur dieses Vermeidungsverhalten anführen. Einmal lag die Präferenz der Militäranwärter eindeutig bei den mittleren Beamtenrängen, die ihnen zwar nur zu 50% reserviert waren, die dafür aber durchweg ein besseres Einkommen und mehr Aufstiegsmöglichkeiten boten als die Stellen im Polizeidienst, die unterhalb der Leitungsebene der Inspektoren und Kommissare ausschließlich der Kategorie der Unterbeamten zugeordnet waren. Bei der Dortmunder Polizei gab es z.B. im Jahr 1905 einhundertsechsundfünfeig Unterbeamtenstellen und gerade zwölf Inspektoren- und Kommissarsposten, bei deren Besetzung neben dem Militärstatus Berufserfahrung und Qualifikation eine wichtige Rolle spielten.34 Tab. 10 (Anhang) dokumentiert, daß das »fast tumultartige Drängen der Kapitulanten zu mittleren Stellen« außerhalb der Polizei recht erfolgreich war.35 In Hagen, Gelsenkirchen und Dortmund gelang es ihnen 1907, ihre 50%-Reservierung in der allgemeinen Verwaltung fast vollständig auszuschöpfen. Auch die Gesamtentwicklung im Deutschen Reich dokumentiert den Drang der Militäranwärter in die mittleren Ränge des öffentlichen Dienstes: 1913 wurden 70,4% der Militäranwärter im mittleren und nur 29,6% im unteren Staats- und Gemeindedienst angestellt.36 Soweit sich die Militäranwärter mit einer unteren Beamtenstelle zufriedengaben, mieden sie die Polizei. Die Arbeit dort galt als anstrengend und aufreibend, wurde zudem schlecht bezahlt und bot kaum Aufstiegschancen. Hinzu kam die harte interne Disziplinierung der Beamten. Empfindliche Geld- und sogar Arreststrafen wurden schon bei relativ geringfügigen Verstößen gegen die Dienstordnung ausgesprochen. Auch der besonders bei den 165

staatlichen Schutzmannschaften, z.T. aber auch bei den kommunalen Polizeiverbänden zwischen Vorgesetzten und Mannschaften herrschende militärische Kommandoton wird für viel ehemalige Unteroffiziere eine unerwünschte Fortsetzung langjähriger Erniedrigung bedeutet haben, der man sich nach Möglichkeit nicht aussetzte.37 Die Tab. 10 (Anhang) belegt diese Flucht vor dem Polizeidienst. Um 1913 waren in der allgemeinen Kommunalverwaltung der Rheinprovinz fast 40% der Unferbeamtenstellen mit Militäranwärtern besetzt, bei der Polizei waren es nur 19%. In Hagen betrug die Relation sechs Jahre zuvor 47,5% zu 9,9%, in Gelsenkirchen 92,1% zu 11,2% und nur in Dortmund herrschte ein annähernd ausgewogenes Verhältnis von 38,0% zu 31,3%. Wenn ein Militäranwärter ausnahmsweise nicht in den mittleren Dienst strebte und auf eine Unterbeamtenstelle bei der Polizei reflektierte, bemühte er sich nach Kräften, nicht im unruhigen Industriegebiet eingesetzt zu werden. Sogar die Elitetruppe der Gendarmerie, die sonst aufgrund ihres hohen Prestiges für Militäranwärter weit attraktiver als die kommunale Polizei war, spürte die Folgen dieser Abneigung. Bei den Gendarmeriebrigaden in Schlesien, Westfalen und im Rheinland herrschte um die Jahrhundertwende notorischer Nachwuchsmangel, dessen Wirkungen dadurch verschärft wurden, daß viele Gendarmen versuchten, einer einmal erfolgten Stationierung im Industrierevier durch Versetzungsanträge oder Kündigungen wieder zu entgehen.38 Die Regierungspräsidenten berichteten übereinstimmend, daß neben den hohen Lebenshaltungskosten in den Industriestädten vor allem die geringe Achtung, die der Gendarm in der Arbeiterbevölkerung genieße, sowie der anstrengende Dienst, bei dem gewaltsame Auseinandersetzungen, Beleidigungen und Denunziationen zur Tagesordnung gehörten, die entscheidenden Ursachen des Anwärtermangels wären.39 Besonders hart wurden die 1909 neu gegründeten staatlichen Schutzmannschaften in Essen, Bochum und Gelsenkirchen von der Aversion der Militäranwärter gegen das Kohlegebiet getroffen. Auf 265 ausgeschriebene Stellen meldete sich kein einziger Anwärter mit der für die Schutzmannschaften vorgeschriebenen neunjährigen Dienstzeit, so daß die Behörden gezwungen waren, ihre Anforderungen auf vier bis sechs Militärjahre zu senken und in großem Umfang ehemalige Angehörige der kommunalen Polizei zu übernehmen.40 Hinzu kam, daß viele Kommunalverwaltungen eine bewußte Abwehrpolitik gegenüber den Militäranwärtern praktizierten. Dies war der dritte wichtige Grund für die Demilitarisierung der städtischen Polizei. Schon 1878 bemerkte ein mit den Interessen der versorgungsberechtigten Militärs sympathisierender Autor, daß die Unteroffiziere »wegen ihrer Roheit und mangelnden Bildung in den Beamtenkreisen als ein Krebsschaden angesehen sind, welchen man sich nur gezwungener Weise gefallen läßt.«41 Wie ein roter Faden zieht sich durch die interessenpolitische Agitation der Militäranwärter, 166

ihrer Verbände und Sachwalter das Argument, die Stadtverwaltungen würden mit allerlei Tricks und vorgeschobenen Gründen versuchen, die anstellungsberechtigten Unteroffiziere um ihre Privilegien zu bringen und statt dessen zivile Bewerber bevorzugen. Von der Gewährung einer höheren Eingangsbesoldung fur Zivilisten über die Festsetzung von Altersgrenzen, die von Militäranwärtern leicht überschritten wurden, bis hin zur Abhaltung schikanös schwieriger Eingangsprüfungen ließen etliche Kommunen kein Mittel aus, um die unerwünschten Exsoldaten fernzuhalten und statt ihrer nach Leistung ausgewählte Kandidaten oder auch die Proteges der Stadtverordneten einzustellen.42 Selbst wenn hier manche propagandistische Übertreibung dem interessenpolitischen Ziel gedient haben mag, ist doch unverkennbar, daß die Rekrutierungspräferenzen der Stadtverwaltungen die Zivilisierung der Polizei förderten. Es spricht einiges dafür, daß sich unter den Leitungsbeamten der Ortspolizei, den Inspektoren, die faktisch über die Auswahl der Bewerber entschieden, mehr und mehr leistungs- und berufsbezogene Standards für die Personalauswahl durchsetzten, die quer zu der schematischen Militärorientierung der politischen Instanzen lagen. Schon lange vor der Jahrhundertwende hatte es immer wieder kritische Stimmen von Polizeipraktikern und -theoretikern gegeben, die in der militärischen Sozialisation der Beamten eher ein Hindernis als eine Voraussetzung für eine effektive, breit akzeptierte Polizeiarbeit erblickten. Je mehr die Polizei von dem »berufsfachlichen Anforderungsschub« erfaßt wurde, der das Qualifikationsprofil der öffentlich Bediensteten im Zuge der allgemeinen Verwaltungsexpansion und -differenzierung zum Ausgang des 19. Jahrhunderts neu konturierte, desto spürbarer überwogen die Defizite der militärischen Vorbildung gegenüber den funktionalen Vorteilen kasernierter Sozialisation.43 Die in den neunziger Jahren einsetzende Polizeikritik - zum Gutteil eine Kritik des polizeilichen Militarismus - gab diesen Stimmen Auftrieb und Rückhalt.44 Indem sie »vergaßen«, die Vakanzen für Militäranwärter auszuschreiben, indem sie sich meldende Unteroffiziere scharf nach möglichen Vorstrafen durchleuchteten oder auch dadurch, daß sie bestimmte Gruppen, wie etwa die Kriminalpolizeibeamten, ganz aus der Schicht der Unterbeamten herauszudefinieren versuchten, verschafften die lokalen Polizeiexperten Leistungskriterien vermehrt Geltung.45 Nachdem die Nachtschutzleute - vor allem durch das völlige Desinteresse der Militäranwärter an diesen niedrigsten Polizeistellen - bereits frühzeitig und vollständig zivilisiert waren, bestand nach der Jahrhundertwende mit der Homogenisierung des Unterbeamtenkorps die Chance, die gegen die Militäranwärter gerichtete Abwehrpolitik auf eine systematische Grundlage zu stellen. Nach Auffassung des Hagener Polizeiinspektors hatte die Einführung einer einheitlichen, in zwei Gehaltsklassen unterteilten Mannschaft, bei der sich die obere stets durch Aufstieg aus der unteren ergänzte, unter anderem den Vorteil, »daß der Zwang, vorab etwaige 167

Militär-Anwärter zu berücksichtigen, in Wegfall käme.«46 Die Beförderung mußte nämlich nicht vom Regierungspräsidenten bestätig werden und auf der untersten Stufe, der der bisherigen Schutzleute, war die Dominanz der Zivilisten ohnehin unangefochten. Die vierte Ursache für die Verdrängung der Militäranwärter aus dem kommunalen Exekutivbeamtenkorps stellte bereits eine Reaktion auf die fortschreitende Zivilisierung des Rekrutierungsfeldes dar. Weiter unten wird noch ausführlicher auf die Entstehung des regionalen Polizeischulwesens einzugehen sein - hier sei nur darauf hingewiesen, daß die westfälischen Polizeischulen dadurch, daß sie alle geeigneten Interessenten ungeachtet ihres Militärstatus und unabhängig davon, ob sie bereits bei der Polizei beschäftigt waren oder nicht, annahmen und ausbildeten, den Demilitarisierungsprozeß in seiner letzten Phase vor 1914 wesentlich unterstützten.47 Die Polizeischulen wurden für einige Jahre zu einem weit geöffneten Eintrittstor für den unteren Polizeidienst, das besonders von der regionalen Arbeiterschaft rege genutzt wurde. Aus der Zusammensetzung und Entwicklung der Polizeischüler lassen sich auch am ehesten Rückschlüsse auf die Eintrittsmotive derjenigen Gruppen ziehen, die an die Stelle der versorgungsberechtigten Soldaten traten. Verschiedene Anzeichen deuten daraufhin, daß der Polizeidienst von Arbeitern im Industrierevier als Chance sozialer Aufwärtsmobilität begriffen und gezielt angestrebt wurde. Ursprünglich hatten die Aufsichtsbehörden beabsichtigt, nur solche Aspiranten an der 1905 eröffneten Polizeischule im Regierungsbezirk Arnsberg aufzunehmen, die bereits bei der städtischen Polizei angestellt waren und die Probedienstzeit erfolgreich absolviert hatten.48 Tatsächlich spielten diese fest angestellten Beamten aber nur in den ersten Schuljahrgängen eine bestimmende Rolle. Nachdem die vorhandenen Beamten nachgeschult worden waren, gingen die Kommunen dazu über, Anwärter erst einzustellen, wenn sie das Abschlußzertifikat der Schule vorweisen konnten. Dieses Verfahren, das für die Städte den Vorzug der Kostenneutralität hatte, da jetzt nicht sie, sondern die interessierten, aber bisher stellungslosen Anwärter das Schulgeld zu entrichten hatten, führte dazu, daß die Polizeischule zum zentralen Anlaufpunkt für all diejenigen wurde, die in den Polizeidienst der Ruhrgebietsstädte strebten. Die Fabrikarbeiter, Bergleute oder Handwerker, die sich unter diesen Bedingungen um einen Polizeischulplatz bewarben, taten dies auf eigene Kosten und ohne Anstellungsgarantie. Sie mußten nicht nur das Schulgeld von zunächst fünfündsiebzig Mark, später einhundert Mark aus eigener Tasche bezahlen - ein Betrag, der etwa in der Größenordnung des durchschnittlichen Monatsverdienstes eines Arbeiters lag - , sondern während der zweimonatigen Vollzeitausbildung auch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Hatten sie den Lehrgang erfolgreich abgeschlossen, wurden sie nicht automatisch in den Polizeidienst übernommen, sondern mußten sich wie jeder 168

andere Interessent bei den Kommunen bewerben; freilich mit erhöhten Anstellungschancen.49 Trotz dieser nicht unerheblichen Kosten und Risiken setzte nach Öffnung der Schule ein Run auf die Polizeiausbildung ein. Stellten die selbstzahlenden, stellungslosen Schüler im Jahr 1907 nur 22% und ein Jahr später rund 40% der Auszubildenden, stieg ihr Anteil in den drei folgenden Jahrgängen auf über 80%. 50 Damit war das Interessentenpotential noch lange nicht ausgeschöpft, wohl aber die Ausbildungskapazitäten der Schule und die Aufnahmefähigkeit des Polizeidienstes. Mehrfach wird in den Kursberichten der Schulleitung geklagt, daß sich externe Interessenten »in so großer Zahl um ihre Zulassung zum Unterricht beworben hatten, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil der Anmeldungen berücksichtigt werden konnte.«51 Trotz dieser Beschränkung führte der Drang proletarischer Bewerber in die Polizeiausbildung nach 1910 zu einem Absolventenüberschuß. Zum Teil fanden mehr als ein Drittel der »freien« Schüler nach Abschluß ihrer Ausbildung keine Stelle.52 Als sich die Klagen über arbeitslose Absolventen seit 1910 häuften, kehrte auch die Polizeischule des Regierungsbezirks Arnsberg 1912 unter ministeriellem Druck zu dem ursprünglich beabsichtigten Verfahren zurück, nur bereits angestellte Polizisten auszubilden, und paßte sich damit der Praxis der übrigen preußischen Polizeischulen an.53 Die Bereitschaft, nicht unerhebliche Bildungsinvestitionen auf eigenes Risiko zu erbringen, deutet ebenso wie die starke Nachfrage nach Ausbildungsplätzen darauf hin, daß Arbeiter in der kommunalen Polizei eine ernstzunehmende berufliche Alternative erblickten. Die Expansion des Apparates und der gleichzeitige Rückzug der an attraktiveren Stellen auf dem Teilarbeitsmarkt des öffentlichen Dienstes interessierten Militäranwärter öffnete den Arbeitern der Region einen jener »Kanäle der sozialen Mobilität«, die bei globalen Urteilen über die geringen Mobilitätschancen von Arbeitern im Kaiserreich leicht übersehen werden.54 Uber die konkreten Erwartungen, die Bergleute oder Fabrikarbeiter mit der Orientierung auf den Polizeiberuf verbanden, läßt sich mangels geeigneter Quellen nur spekulieren. Am ehesten dürfte die materielle Sicherheit des Kommunalbeamten den Ausschlag gegeben haben, wohl kaum dagegen die Hoffnung, durch diesen Schritt in den Genuß jenes Prestiges zu gelangen, das den preußischen Beamten gemeinhin nachgesagt wird - wie noch zu belegen sein wird, gehörten die Polizeibeamten im Industriegebiet zu den Berufsgruppen mit dem geringsten öffentlichen Ansehen.55 Auch sollte man nicht unterschätzen, daß die sichere Anstellung im körperlich wenig belastenden Polizeidienst für Arbeiter um so attraktiver erscheinen mußte, je näher sie der altersbedingten Niedrigverdienstphase im proletarischen Lebenszyklus kamen. Mit Ende zwanzig, Anfang dreißig dem gewöhnlichen Eintrittsalter der Polizeianwärter - war dieser schleichende Abstieg in die Altersverarmung durchaus absehbar. 169

Auf jeden Fall stellt die Proletarisierung der Polizeimannschaften im Industrierevier einen unerwarteten und bemerkenswerten Befund dar. Wenn der Anteil der Militäranwärter ein Indiz für den Militarisierungsgrad einer zivilen Institution ist, war die städtische Polizei des rheinisch-westfälischen Industriegebiets einer der am meisten zivil geprägten Teile der öffentlichen Verwaltung in Preußen und in dieser Hinsicht nur mit den staatlichen Dienstleistungsbetrieben Bahn oder Post vergleichbar. Dies relativiert nicht nur die gängige These von der rigiden Militarisierung der preußischen Polizeibeamtenschaft, sondern beleuchtet auch einen Aspekt im Verhältnis zwischen Polizei und Arbeiterschaft, der im Widerspruch zu den sonst überaus spannungsreichen Beziehungen zwischen beiden Gruppen steht. Resümiert man die geschilderte Entwicklung aus dem Blickwinkel institutioneller Modernisierung, läßt sich die Demilitarisierung und Proletarisierung der kommunalen Polizei als Element struktureller Modernisierung fassen: Die zivile Gewalt geriet in größere Distanz zur militärischen, askriptive Zugangsvoraussetzungen wurden zugunsten individueller Leistungskriterien zurückgedrängt und es verbesserten sich die Bedingungen für eine Verberuflichung der Polizeitätigkeit.56 Festzuhalten ist aber auch, daß diese Entwicklung eine unintendierte Nebenfolge des Polizeiwachstums war, das der obrigkeitlichen Kontrolle der Klasse dienen sollte, aus der nun immer mehr Polizisten stammten. Für die politische Führung war die Proletarisierung der Exekutive daher gleichbedeutend mit dem Verlust der militärischen Grundqualifikation und der Gefährdung der bisher durch die soziale Selektivität der Rekrutierung gesicherten Staatsloyalität. Welche Folgen sich aus diesen Widersprüchen ergaben, ist unter anderem Gegenstand der folgenden Abschnitte.

6.2. Die Doppelkrise der Polizei um die Jahrhundertwende 6.2.1. Die innere Krise der Exekutive: und Statusinkonsistenz

Instabilität

Wenn sich die soziale Herkunft der Exekutivmannschaften in den rheinischen und westfälischen Industriestädten immer mehr proletarisierte, wie sind dann die Polizeibeamten selbst in den Strukturen sozialer Ungleichheit zu verorten? Erfüllten sich die Aufstiegsaspirationen der Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Bergleute, die in die Polizeischulen drängten, so daß man von erfolgreicher Aufwärtsmobilität sprechen kann? Oder wäre es richtiger, von der Proletarisierung der Rekrutierung auf die Proletarisierung der unteren Polizeibeamtenschaft als Gruppe zu schließen, auf die soziale Annäherung zwischen Arbeitern und Polizisten aufgrund ähnlicher ökonomischer Lage, 170

gemeinsamer Berufs- und Arbeitserfahrung und vergleichbar geringer individueller Karrierechancen? Heinz-Gerhard Haupt hat einige dieser Fragen mit Blick auf die Verhältnisse in Preußen und Bremen zuerst gestellt und ist zu dem Schluß gekommen, daß ungeachtet ähnlicher Lebensbedingungen die Distanz zwischen Polizeibediensteten und Arbeitern erhalten blieb. Die militärische Prägung der Beamten, ihre Einbindung in rigide Befehlsstrukturen, mangelnde Vertrautheit mit dem sie umgebenden Milieu und eine scharfe interne Gesinnungskontrolle blockierten jeden Ansatz zu Vertrautheit oder gar Solidarisierung. Sein Resümee ist eindeutig: »Die Schutzmänner waren deshalb eher ein besonderer >Stand< in der Gesellschaft als Teil der Arbeiterklasse.« 57 Formal waren die Polizisten Teil der unteren, nicht akademisch vorgebildeten Beamtenschaft. Will man den sozialen Standort der Polizeimannschaften näher eingrenzen, wird man in diesen unteren Segmenten des öffentlichen Dienstes sowohl die nach objektiven Kriterien nächstliegende Vergleichsgruppe als auch die nach subjektiven Kriterien maßgebliche Referenzgruppe der Polizisten zu sehen haben.58 Was seine soziale Herkunft anging, war das untere Beamtentum traditionellerweise eine Domäne des »Mittelstandes« und zeichnete sich u.a. durch einen hohen Grad der Selbstrekrutierung aus. Noch vor den Landwirten und den selbständigen Handwerkern stellten die unteren Ränge des öffentlichen Dienstes selbst dessen wichtigste Herkunftsgruppe: Zwischen 1890 und 1914 stammte ein gutes Drittel der nicht akademisch gebildeten Staatsdiener aus Familien, die denselben sozialen Hintergrund aufwiesen. Im Rheinland und in Westfalen erreichten die kleinen Beamten eine Selbstrekrutierungsrate von etwa 40% .59 Die lebenslange Anstellung als Kalkulator, Sekretär oder Kanzleibeamter wurde wegen der materiellen Sicherheit angestrebt, aber auch wegen der Möglichkeit, sich als privilegierter und öffentlich geachteter Staatsdiener von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzusetzen, von denen man sich - gemessen an der Einkommenshöhe - eigentlich nicht weit entfernt hatte. Ein erheblicher Teil der Attraktion auch der unteren Beamtenränge lag in der »spezifisch gehobene[n], >ständische[n]< soziale[n] Schätzung«, 60 in jenem Amtsprestige, das die Beamten in ihrem dienstlichen wie privaten Verkehr beanspruchten und das ihnen gewöhnlich von ihrer Umwelt zugestanden wurde. U m ihren Anspruch auf soziale Achtung zu unterstreichen und sich gleichzeitig nach unten abzugrenzen, bemühten sich die Unterbeamten trotz materieller Knappheit darum, eine besondere, »standesgemäße« Lebensführung zu kultivieren, zu der z.B. neben einer sozial selektiven Begrenzung des gesellschaftlichen Verkehrs etwa durch die Präferierung »besserer« Vereine typischerweise das Bemühen gehörte, den eigenen Söhnen durch eine gute schulische Ausbildung die Chance auf weiteren sozialen Aufstieg, möglichst in eine höhere Stufe der Beamtenhierarchie, zu eröffnen. Mit ihrer marktfernen, lebensläng171

liehen Anstellung und ihrem starken Bedürfnis, sich nach unten abzugrenzen, vor allem aber aufgrund der hochgradigen Kongruenz der verschiedenen Statusdimensionen - eigenes Recht, besonderes Prestige, standesgemäße Lebensführung, selektive Sozialbeziehungen und Homogenität der sozialen Herkunft wirkten im Idealfall zusammen und verstärkten sich gegenseitig war die untere Beamtenschaft lange Zeit eine weitgehend ständisch geprägte und nach ständischen Mustern integrierte Gruppe.61 Die reale Entsprechung dieses Idealbüdes wurdefreilichgegen Ende des 19. Jahrhunderts immer blasser, denn eine fortschreitende Dichotomisierung des Verwaltungspersonals in eine herrschende Elite akademisch gebildeter Spitzenbeamter und eine breite, sich intern homogenisierende Basis mittlerer und unterer Beamter ließ die Vorstellung ständischer Einheit und Geschlossenheit immer mehr zur Fiktion werden, der freilich nach wie vor viele kleine Verwaltungsbedienstete nachhingen. Auch als der Einkommensabstand zur Arbeiterschaft schrumpfte, die Tätigkeit vieler unterer Beamter kaum mehr als Ausübung von Herrschaft identifizierbar war und die klassische Mittelschichtrekrutierung aufzuweichen begann, stilisierte man sich doch in der Mehrheit als durch Staatsnähe privilegierte und durch besondere soziale Schätzung ausgezeichnete Gruppe des Mittelstandes. Sonderstellung und -status der kleinen Beamten wurden zum Ausgang des 19. Jahrhunderts immer prekärer, blieben aber als Zielnormen weitgehend handlungs- und bewußtseinsleitend.62 Auch für die unteren Polizeibediensteten galt, daß sie sich durch ihren rechtlichen Sonderstatus und die gesicherte Dauerstellung signifikant von freien Lohnarbeitern abhoben, deren Lebenschancen durch Markt und freien Vertrag bestimmt wurden. Auch für sie bestand - de jure - soziale Exklusivität des Berufszugangs, die durch das Kriterium der Militärdienstzeit gewährleistet werden sollte und auch von ihnen wurden standesgemäße Lebensführung und Einsatz der ganzen Person ohne Trennung von Berufs- und Privatleben gefordert. Unterhalb dieser normativen Ebene hatte sich der reale Status der kommunalen Polizeibeamten allerdings mehr und mehr vom Idealtypus des ständischen Beamten entfernt. Die Dekomposition ständischer Einheit, die sich für große Teile der unteren und mittleren Beamtenschaft: als Tendenz beobachten läßt, traf diese Sondergruppe des öffentlichen Dienstes im Zuge ihrer schubartigen Expansion besonders hart. Von der Entmilitarisierung und Proletarisierung der sozialen Herkunft städtischer Polizisten, die im Kontrast zur klassischen Mittelschichtrekrutierung der unteren und mittleren Beamtenschaft stand, war oben schon die Rede. Anderes kam hinzu. So spielte, um zunächst bei der Herkunft der Mannschaften zu bleiben, die Selbstrekrutierung aus der unteren Beamtenschaft auf der Ebene der intragenerationellen Mobilität, und auf der Ebene der intergenerationellen Berufsvererbung nur eine geringe Rolle. Zwar weisen die Rekrutierungsdaten zur Dortmunder 172

Polizei vor 1900 mit 34% eine starke Gruppe von Berufswechslern aus anderen Teil des öffentlichen Dienstes aus; bei den ein größeres Einzugsgebiet repräsentierenden Polizeischülern im Regierungsbezirk Arnsberg war diese nach 1905 mit 4,9% jedoch eine zu vernachlässigende Größe.63 Zur Weitergabe des Status vom Vater auf den Sohn liegen nur bruchstückhafte Informationen für eine Stichprobe Berliner Schutzleute der fünfziger und sechziger Jahre vor. Danach stammten 18,3% der in den fünfziger Jahren zur Schutzmannschaft gestoßenen Männer aus unteren Beamtenfamilien - eine Berufsvererbungsquote, die deutlich unter dem Durchschnitt von 30-40% lag, der für die Unterbeamtenschaft insgesamt galt.64 Vielleicht noch aufschlußreicher ist die außerordentlich niedrige Vererbungsquote von der zweiten auf die dritte Generation. Die Söhne der Berliner Schutzleute gelangten nur zu rund 10% in den unteren öffentlichen Dienst, während 22,2% zur Arbeiterschaft stießen.65 Wenn das Ausmaß der Vererbung eines Berufs etwas über die Homogenität, den Status und die Berufszufriedenheit seines sozialen Trägerkreises aussagt, dann war die Gruppe der Polizeibeamten eher durch Inhomogenität, Instabilität und niedrigen Status gekennzeichnet. Auf die Instabilität des Polizeibeamtenkorps weist auch die hohe Fluktuation hin. Immer wieder klagten die lokalen Polizeichefs über den häufigen Personalwechsel, der die Arbeit vor Ort zu lähmen drohte.66 1907 empörte sich das »Hörder Volksblatt«, daß in der Stadt »seit längerer Zeit ein außerordentlicher Wechsel der Polizeibeamten [stattfindet], durch den der Sicherheits- und Ordnungsdienst zweifellos in arger Weise beeinträchtigt wird....Kaum war ein neues Gesicht aufgetaucht, so verschwand es wieder und manche haben es nicht einmal bis zum Auftauchen gebracht.«67 Für die Polizei würden sich hauptsächlich ungeeignete Kandidaten melden, beschwerte sich im selben Jahr ein Bürgermeister auf dem Brandenburgischen Städtetag, von denen auch nur wenige mit längerfristiger Perspektive in den städtischen Dienst treten würden, denn: »die meisten haben noch irgendwelche Nebenabsichten, wollen z.B. den Polizeidienst nur als Sprungbrett für höhere Stellen benutzen usw.«68 Nur selten wird die Fluktuation der Unterbeamten derart extreme Formen angenommen haben, wie bei der Hagener Polizei zum Ende der achtziger Jahre, wo in nicht einmal drei Jahren vierundvierzig Männer auf den neun Stellen der Schutzleutegruppe beschäftigt waren, was einer jährlichen Fluktuation von weit über 100% des Personalbestandes entsprach.69 Normal war allerdings ein Abgang von 1020% der Schutzleute und Sergeanten pro Jahr. Bei nicht unerheblichen Schwankungen lag beispielsweise die durchschnittliche jährliche Abgangsrate dieser beiden Beamtengruppen in der Dortmunder Polizei 1886-90 bei 9,9%, 1891-95 bei 6,8%, 1896-1900 bei 14,3% und 1901-05 bei 10,1%.70 In Bochum belief sich der jährliche Verlust zwischen 1900 und 1908 auf durchschnittlich 12% bei einem Maximum von 21,5% im Jahr 1908.71 173

Wie die Rekonstruktion der Personalbewegungen der Dortmunder Exekutivbeamten zwischen 1882 und 1906 ergibt, schieden die Sergeanten und Schutzleute überwiegend freiwillig aus dem Dienst. Dienstentlassungen kamen in beiden Gruppen nur vereinzelt vor und auch der Anteil der Todesfälle und Pensionierungen entsprach mit 38,0% bzw. 18,1% aller Abgänge nicht der Rate, die man mit dem Bild des Lebenszeitbeamten verbinden würde. Dagegen gingen bei den Sergeanten rund 60% und bei den Schutzleuten über 77% aller Ausscheidenden aufgrund einer eigenen Kündigung.72 Um die Konsequenzen der hohen Kündigungsbereitschaft richtig einordnen zu können, sollte man sich noch einmal die kontrastierende soziale Rekrutierung beider Subgruppen vor Augen fuhren. In Dortmund waren die Sergeanten überwiegend Militäranwärter mit langjähriger Dienstzeit in der preußischen Armee, die Schutzleute dagegen fast ausschließlich ehemalige Handwerker, Arbeiter, Straßenbahnfahrer u.ä. Dieser unterschiedliche Hintergrund bestimmte Karriereverhalten und Berufsbindung der Kommunalpolizisten entscheidend. Die mit 45,4% größte Gruppe der ausscheidenden Sergeanten wechselte nämlich in andere Zweige des öffentlichen Dienstes, ein knappes Viertel wanderte in S teilen der privaten Wirtschaft und rund 18 % der Exsoldaten strebte zurück zum Militär. Nur etwa 13% suchte sich durch den Wechsel in den Polizeidienst einer anderen Stadt zu verbessern. Während die Sergeanten die Chancen des Zivilversorgungsscheins gezielt für außerpolizeiliche Karrieren nutzten, war ihren Kollegen aus der Schutzmannsgruppe dieser Karrierepfad versperrt. Zu 56% war bei ihnen der Weggang aus der Dortmunder Polizei mit dem Wechsel in den Polizeidienst einer anderen Stadt verbunden; ein Ubertritt, der üblicherweise den Aufstieg von der Schutzmanns- in die Sergeantenposition bedeutete. Im nichtpolizeilichen öffentlichen Dienst kamen dagegen nur knapp 8% der Schutzleute unter, die restlichen Abgänge führten in die Privatwirtschaft.73 Pointiert formuliert, war die Polizei vor allem für die politisch präferierten Militäranwärter ein »Übergangsberuf«74, ein »Sprungbrett für höhere Stellen«, während der staatlicherseits unerwünschte Polizeinachwuchs aus der Arbeiterklasse trotz hoher Fluktuationsraten mehr Berufstreue bewies. Die Abwanderung aus dieser Gruppe wird sich vor allem als Resultat blockierter Aufstiegschancen in der Dortmunder Polizei erklären lassen, während bei den Militäranwärtern im Sergeantenrang das bekannte Vermeidungsverhalten seine Fortsetzung fand. In der Proletarisierung der Herkunft kommunaler Polizisten, die vorderhand die traditionelle soziale Homogenität der niederen Beamtenschaft schwächte, lag somit auf der anderen Seite ein berufsstabilisierendes Moment. Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten, daß die Berufsbindung der Exekutivmannschaften labil war. Nicht die lebenslange Verbundenheit mit 174

dem »Amt«, daß Sicherheit, Status und öffentliche Achtung versprach, war hier vorherrschend, sondern Mobilität und Instabilität, der Wunsch und die Bereitschaft, der Polizeitätigkeit möglichst schnell den Rücken zu kehren und - soweit man dazu die Möglichkeit hatte - in andere, als »besser« angesehene Posten der öffentlichen Verwaltung zu wechseln. Berufsvererbung spielte nach den vorliegenden, spärlichen Hinweisen keine nennenswerte Rolle signifikant war eher die Berufsflucht. Wie lassen sich diese Anzeichen sozialer Destabilisierung erklären? Instabilität, Fluktuation und Veränderungsbereitschaft waren typische Merkmale der Arbeiterexistenz in der Hochindustrialisierungsperiode - kann man hier also Anzeichen einer fortschreitenden Angleichving an marktorientiertes, klassenspezifisches Verhalten erkennen? Es spricht einiges dafür, daß die genannten Erscheinungen mehr Symptome einer chronischen Krise des ständischen Status der Polizeibeamten waren, als Indizien fur eine Angleichung an klassengesellschaftliche Muster. Während Kongruenz und Kristallisation der verschiedenen Statusdimensionen typische Anzeichen ständischer Lage waren, zeichneten sich die Bediensteten der Polizei durch eine starke Tendenz zur Statusinkonsistenz aus, die sowohl den allgemeinen Umbruch der niedrigen Beamtenschaft in diesen Jahrzehnten widerspiegelte, als auch mit der grundsätzlichen Stellung der Polizei in der preußischen Gesellschaft zusammenhing und durch die besonderen Bedingungen in den Industriestädten verschärft wurde.75 Auf wenigstens drei Ebenen läßt sich feststellen, daß Lage und Status der unteren Polizeibeamten mit den Idealen ständisch geprägter Beamtenexistenz, die den Betroffenen gleichwohl als Orientierungsmaßstab diente, in Konflikt geriet. Erstens waren die Polizeibeamten im Industriegebiet wie andere Unterbeamten schwer oder kaum in der Lage, die von den öffentlichen Bediensteten erwartete und von ihnen selbst als sichtbares Symbol sozialer Distanzierung nach unten angestrebte »standesgemäße« Lebensführung zu finanzieren. Die Gendarmen und Schutzmänner gehörten zu den am niedrigsten besoldeten Staats- bzw. Kommunalbeamten.70 Wie die Gegenüberstellung in Tab. 14 (Anhang) zeigt, lag der Jahresverdienst der Exekutivkräfte zwar zu jedem Zeitpunkt über dem durchschnittlichen jährlichen Arbeitnehmereinkommen.77 Vergleicht man aber die Polizistenbesoldung mit dem Einkommen der Bergleute, lagen beide etwa gleichauf. Angesichts der Tatsache, daß nur wenige Beamte in den Genuß des erst nach langen Dienstjahren gewährten Höchstgehalts kamen, war es nicht ungewöhnlich, daß ein Bergmann einen Polizeibeamten einkommensmäßig überrundete. Diese Annäherung wurde von den distanzierungswilligen Polizeibeamten - insbesondere von denen mit Zivilversorgungsschein - sehr aufmerksam registriert und wird ein wichtiger Grund fur die Vermeidungs- und Abwanderungstendenzen gewesen sein. Mehr als einmal findet sich in zeitgenössischen Klagen der Hinweis, daß die Polizeibeamten kaum dasselbe Einkommen wie Arbeiter erzielten, dabei aber 175

zu weit höheren Ausgaben fur ihre Lebensführung gezwungen seien. Exemplarisch faßt dieses Argument ein Bericht des Regierungspräsidenten in Arnsberg zusammen, der die Gründe fur den Anwärtermangel bei der Gendarmerie im Industriegebiet diskutiert: »Sehr viele in der Industrie beschäftigte Arbeiter ... haben ein weit höheres Einkommen als die Gendarmen. Und dabei werden an diese Arbeiter in pekuniärer Beziehung bei weitem nicht die Anforderungen gestellt, wie an die Gendarmen, die wegen ihrer dienstlichen Stellung eine angemessene, mit höheren Kosten verbundene Lebenshaltung fuhren müssen, und die wegen Aufrechterhaltung ihrer sozialen Stellung das berechtigte Streben haben, ihre Frauen und Kinder wenigstens nicht schlechter zu kleiden und ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu geben, als dieses in den Arbeiter-Familien um sie herum der Fall ist.«78

»Die schlechte wirtschaftliche Lage der Polizeibeamten hält viele tüchtige Leute ab,« griff1908 ein Ortsbürgermeister das Statusargument auf und fuhr fort: »Vergleicht man z.B. das Durchschnittseinkommen eines Schutzmannes mit dem eines freien Arbeiters, so ergibt sich, daß beide ein durchschnittliches Monatseinkommen von 90 Mk. haben ... Berücksichtigt man nun noch, daß der Beamte standesgemäße Mehrausgaben an Kindererziehung usw. hat,... so kommt man zu der Ansicht, daß der Schutzmann wirtschaftlich schlechter dasteht wie ein Arbeiter.«79

Weniger die absolute Einkommenshöhe wurde zum Problem, als vielmehr die Unmöglichkeit, den Abstand nach unten zu wahren, »die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Stellung« zu sichern, der nachfolgenden Generation die »standesgemäße« Bildung zu ermöglichen. Aufstiegsaspirationen und die Möglichkeit, diesen in einer standesgemäßen Lebensführung symbolischen Ausdruck zu geben, klafften auseinander.80 Zweitens waren die Exekutivbeamten der Polizei weniger als andere Beamtengruppen im Stande, jene »spezifisch gehobene, >ständische< soziale Schätzung«, jenes Amtsprestige zur Geltung zu bringen, das materielle Dürftigkeit kompensieren mochte. Im Gegenteil: sowohl in polizeikritischen als auch in sympathisierenden zeitgenössischen Äußerungen gehörte die Klage über den verhaßten, gefürchteten und verachteten Polizisten zum Standardrepertoire.81 Besonders ausgeprägt waren diese Aversionen bei Arbeitern und anderen Unterschichtgruppen, die von polizeilichem Argwohn besonders betroffen waren, aber sie blieben nicht auf diese beschränkt. Mochte man den »Blaukoller« der Arbeiter noch als unvermeidliche Folge der Auseinandersetzung mit den »unziviüsierten« oder »staatsfeindlichen« Elementen akzeptieren, so traf die Polizisten um so mehr, »daß selbst der ordnungsliebende Teil der Bevölkerung keine Sympathie für die Polizei hegt.« Auch ehrenwerte Leute empfänden es als Beleidigung, »wenn sich ihnen ein Polizist auch nur nähert, geschweige denn sie anspricht oder gar unabsichtlich berührt.«82 Der hier durchklingende, fast physische Widerwille gegenüber 176

den Beamten der Polizei hatte sicherlich seine Hauptursache in ihrer außerordentlichen Machtstellung und ihren weitreichenden Befugnissen, ins alltägliche Leben der Bevölkerung einzugreifen.83 Zum Problem der Polizeibeamten wurde diese Abneigung aber vor allem dadurch, daß ihre formale Machtposition in Kontrast zu ihrer gesellschaftlichen Inferiorität geriet, daß man ihren amtlichen Befehlen vielleicht gehorchte, die dieser Autorität entsprechende soziale Achtung aber verweigerte.84 Der »Hohn und Spott« über eine ungeschickt erteilte Anweisung,85 die Arroganz derer, »die infolge ihrer Stellung, ihres Amtes, ihres Reichtums wähnen, außerhalb der Gesetze zu stehen«,86 der Dünkel einer »>animierten< Gesellschaft von >feinen< Herren«, die den zur Ruhe mahnenden Schutzmann ihre soziale Überlegenheit spüren ließ,87 stellten sein Amtsprestige mehr in Frage als die offene Auflehnung eines festgenommenen Arbeiters. In der ständisch überformten Prestigerangordnung der wilhelminischen Gesellschaft konnte der Polizeibeamte nicht den Platz erreichen, den er aufgrund seiner staatstragenden Funktion und seiner Beamtenstellung glaubte beanspruchen zu können. Dies traf nicht nur den Sergeanten auf der Straße, sondern auch den Militäranwärter, der in die Führungsfunktion eines Inspektors aufgestiegen war. Über ihn bemerkte der Schwelmer PolizeichefLaufer in einer internen Denkschrift von 1903: »Auch seine gesellschaftliche Stellung ist für die Führerstellung hinderlich. Selbst wenn er über ein Beamtenheer von Hunderten von Köpfen gebietet, wird er gesellschaftlich nicht als ebenbürtig betrachtet. Wie erklärt es sich z.B., daß die Polizei und Gendarmerie so wenig Fühlung miteinander haben? ... Die Ursache liegt offenbar darin, daß die Gendarmerie-Offiziere als ehemalige Offiziere der Armee in dem Polizeioberbeamten nur den ehemaligen Unteroffizier sehen und jeden amtlichen und außeramtlichen Verkehr mit ihm meiden.«88

Der Beruf des Polizeibeamten sei »der bestgehaßte aller Berufe« stellte einer der Leserbriefschreiber resigniert fest, die sich zu diesem Problem in der Zeitschrift »Die Polizei« zu Wort meldeten.89 Viele zogen daraus die Konsequenz und wandten sich ab: »Der Schutzmann wird verbittert; denn er ist sich bewußt, nur seine Pflicht getan zu haben; der Schutzmannsdienst wird ihm verleidet, und sein ganzes Streben geht dahin, von der Schutzmannschaft fortzukommen, den Unterbeamten, den >GreiferBlauen< abzustreifen.«90

Das geringe Prestige des Polizeibeamten wird einiges dazu beigetragen haben, daß Militäranwärter und Leute mit Mittelschichthintergrund den Beruf mieden und Arbeitern überließen, deren Aufstiegsaspirationen vielleicht eher durch ökonomische Gratifikationen wie ein sicheres Einkommen, Unkündbarkeit und Pensionsberechtigung zu befriedigen waren. Drittens zwang ein totales, die ganze Person forderndes, kaum eine Trennung zwischen Beruf und Privatleben zulassendes Dienstverständnis die 177

Polizeibeamten in eine eigentümliche soziale Abseitsposition.91 Die emphatische Phrase, der Polizeibeamte sei »immer im Dienst« hatte durchaus ihren realen Kern. Nicht nur, weil die überlangen und ungeregelten Dienstzeiten kaum Raum für Freizeit ließen, sondern vor allem, weil der Polizist sein ganzes Privatleben auf die Berufsanforderungen auszurichten hatte. »Der Polizeibeamte soll mit dem besseren Teile der Einwohner seines Dienstbezirkes in gutem Einvernehmen stehen,« forderte die Dienstinstruktion für die Polizisten im Regierungsbezirk Arnsberg, und gebot ihm gleichzeitig: »Er darf sich jedoch nicht in vertraute Verbindungen einlassen.«92 Die Mitgliedschaft in Vereinen war nur nach Genehmigung durch den Vorgesetzten gestattet und der Besuch von Wirtshäusern im Dienst ganz untersagt und in der Freizeit »möglichst einzuschränken«.93 Die Verpflichtung, auch außer Dienst die Uniform zu tragen, diente vor allem dazu, die Distanz zwischen den Vertretern der Staatsmacht und der Bevölkerung in der Freizeit nicht schrumpfen zu lassen.94 Auch wenn die Absonderung der Polizisten in der Praxis kaum so ausgeprägt gewesen sein wird, wie es die Dienstinstruktionen forderten, provozierte das Distanzgebot doch vielfach Konflikte und Reibungen. Ein nicht geringer Teil der Verfehlungen, wegen derer Sergeanten und Schutzleute mit Geldstrafen belegt wurden, war auf die Verletzung dieser Distanzierungspflicht zurückzuführen. Etwa wenn der Polizeibeamte im Laufe seines Streifengangs eine Gastwirtschaft aufsuchte oder während des Postendienstes mit einem Bekannten sprach.95 Zur förmlichen sozialen Achtung des Polizisten kam es schließlich in Extremfällen, in denen sich öffentliche Geringschätzung mit politischen Motiven verband und die amtlich geforderte soziale Distanzierung auf die Spitze trieb. In Kiel und Braunschweig etwa setzten Sozialdemokraten angeblich Hauswirte erfolgreich mit der Drohung unter Druck, ihre Wohnungen zu boykottieren, wenn sie nicht den ebenfalls dort zur Miete wohnenden Schutzleuten kündigten, da sie »mit einem Schutzmann nicht unter einem Dach wohnen können.«96 Die für die Beamtenposition typische enge Verzahnung von öffentlicher Berufsrolle und Privatleben galt fur die Polizeibeamten in besonderer, die Betroffenen mehr belastender als auszeichnender Weise. In Verbindung mit dem verbreiteten Mißtrauen gegen die Polizisten konnte die Uniform zum Stigma und die befohlene Distanz zur Umwelt zur bedrängenden Isolation werden.97 Während ihr Beamtenstatus und die damit verknüpfte Marktferne es ausschließen, die Polizeimannschaften trotz ihrer bescheidenen materiellen Lage als Teil der Arbeiterklasse anzusehen, zeigen die genannten Krisensymptome, wie weit sie sich vom Idealbild der Beamtenschaft als ständisch integrierter sozialer Gruppe entfernt hatten. Bereits die Proletarisierung des Rekrutierungsfeldes signalisiert, daß die Polizeitätigkeit sozial degradiert wurde.98 Dieser Degradierungsprozeß war selbst Resultat einer in der Expan178

sionsphase des Apparates eher zu- als abnehmenden Statusinkonsistenz der Polizeibediensteten. Der Anspruch standesgemäßer Lebensführung und die Realität semiproletarischer Lage rieben sich um so schmerzlicher, je geringer der Abstand zur Lebenslage der umgebenden Arbeiterbevölkerung wurde. Wichtiger noch waren vielleicht die beiden anderen genannten Disparitäten: der Kontrast zwischen der hoheitlichen Macht und Autorität, die man repräsentierte und der sozialen Mißachtung, der Verweigerung des so begehrten und hochgeschätzten, typisch ständischen Amtsprestiges sowie der durch diese Ächtung weiter verstärkten sozialen Isolation. Die Polizisten um 1900 waren eine Randgruppe des kleinen Beamtentums mit gebrochener ständischer Identität.

6.2.2. Die äußere Krise der Exekutive: Legitimationsverfall und Autoritätsprobleme Zur selben Zeit, als die wachsenden Beamtenkorps der Städte unter hohen Fluktuationsraten, Veränderungen ihres Rekrutierungsfeldes und Statusproblemen der Mannschaften zu leiden hatten, geriet die preußische Polizei auch immer mehr ins Blickfeld öffentlicher Kritik. Seit Mitte der neunziger Jahre häuften sich Pressemeldungen und Parlamentsklagen über brutal Übergriffe gegenüber der Bevölkerung und wurde die Losung »Schutz vor Schutzleuten« zum geflügelten Wort einer zunehmend polizeikritischen Berichterstattung liberaler und sozialdemokratischer Blätter.99 Angeprangert wurden Gewalttaten bei Vernehmungen ebenso wie Fälle, in denen die Beamten bei Ordnungseinsätzen auf der Straße mit rücksichtsloser Härte und ohne jegliche Verhältnismäßigkeitserwägungen vorgingen. Bis vor das Forum des Reichstags gelangte beispielsweise ein Fall aus Mengede bei Dortmund, wo im Jahre 1902 ein Sergeant zwei polnische Arbeiter zunächst mißhandelte und dann gefesselt zum Gefängnis führte, da sie gegen eine örtliche Verordnung verstoßen hatten, die »jedes plan- und zwecklose Umherstehen oder Umhertreiben auf den Straßen« untersagte.100 Nicht zuletzt dieser Fall - bzw. dessen öffentliche Diskussion - veranlaßten den Arnsberger Regierungspräsidenten, vorhandene Mißstände einzugestehen und auf die strikte Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen durch die Beamten zu drängen: »In letzter Zeit ist es im hiesigen Regierungsbezirk wiederholt vorgekommen, daß Polizeibeamte Personen, welche von ihnen festgenommen waren, körperlich mißhandelt haben. Diese Mißhandlungen sind unter Anwendung von Stöcken, Riemen, Gummischläuchen oder durch Treten mit den Füßen, Schlagen mit den Fäusten oder in anderer roher Weise ausgeführt worden.«

Dies beweise, fuhr der Regierungspräsident fort, »daß sich unter den Polizeibeamten Personen befinden, welchen das erforderliche Pflichtbewußtsein 179

und das richtige Verständnis für die ihnen obliegenden Aufgaben gänzlich mangelt.« Bei der Personalauswahl solle daher in Zukunft mit größerer Sorgfalt verfahren werden und den Beamten müßten noch einmal die Grenzen ihrer Amtsbefugnisse eingeschärft werden.101 Albrecht Funk hat diese auffällige Häufung von Polizeiskandalen in seiner Studie zur preußischen Polizeigeschichte zur Sprache gebracht. Seine Interpretation läßt sich in den beiden Begriffen Legitimationsverfall obrigkeitlicher Herrschaft und polizeilicher Militarismus zusammenfassen. Demzufolge spiegeln die zahlreichen »MißgrifFs«-AfFären um die Jahrhundertwende keine reale Zunahme polizeilicher Exzesse, sondern reflektieren ein geschärftes öffentliches Rechtsbewußtsein, das nicht mehr bereit war, die rücksichtslose Gewaltpraxis der Polizisten klaglos hinzunehmen, und statt dessen Bürgerrechte gegen Polizeiwillkür einforderte.102 Die Welle der Übergriffe wäre demnach in Wirklichkeit eine Welle der Kritik gewesen, die das Dunkelfeld der zahlreichen Grenzüberschreitungen durch Polizeiorgane aufhellte.103 Die eigentliche Ursache der immer schon hohen Gewaltbereitschaft preußischer Polizisten - so der zweite Teil der These - wäre in der hochgradigen Militarisierung der zivilen Exekutive zu suchen. Wie schon zahlreiche zeitgenössische Kritiker geht auch Funk davon aus, daß das rüde Auftreten der Beamten und ihre Neigung zu brutalem Durchgreifen der notwendige Ausdruck von »Handlungs- und Verhaltensweisen [waren], die den Polizisten nach neunjähriger Militärdienstzeit und einem militärisch ausgerichteten Dienst in der Schutzmannschaft in Fleisch und Blut übergegangen waren: Befehlen, Stärke zeigen, die [eigene] Autorität wahren und Gehorsam erzwingen.«104 Das Argument, daß angesichts wachsender Rechtsbindung des Polizeihandelns und angesichts zunehmenden Selbstbewußtseins der Arbeiterschaft die Sensibilität für die Grenzen des der Polizei Erlaubten zunahm und rücksichtslose Gewalteinsätze an Akzeptanz verloren, trifft sicherlich zu. Damit ist allerdings noch nicht ausgeschlossen, daß die vieldiskutierte Mißgriffswelle um die Jahrhundertwende nicht nur ein Perzeptions- sondern auch ein Realphänomen war. Die problematische Quellenlage erschwert es, diese Frage empirisch schlüssig zu beantworten. Zudem dürfte es nicht leicht sein, trennscharf zwischen dem jeweils tolerierten »Normalmaß« polizeilicher Gewalt und den als »Ubergriff« oder »Mißgriff« definierten und kritisierten Grenzüberschreitungen zu unterscheiden. Aber auch wenn man diese Definitions- und Datenprobleme berücksichtigt, fällt auf, daß die öffentliche Diskussion über die »Mißgriffe« zu dem Zeitpunkt einsetzte, als sich die preußische Polizei in einer Phase schneller Expansion befand. Die Polizei war mehr als jemals zuvor im Alltag der Bevölkerung präsent und diese erhöhte Präsenz schuf vermehrte Reibungsflächen. Wenn man den Ausbau der Kontrollkapazitäten und die Intensivierung alltäglicher Überwachung, wie 180

sie die steigenden Dichteziffern belegen, als fortschreitende staatliche Durchdringung der Gesellschaft auffaßt, sind die Gewaltexzesse der Unterbeamten Indizien fur das Konfliktpotential, das mit diesem Vorgang verbunden war. Die Welle der »Ubergriffe« - so ist zu vermuten - weist nicht nur auf die Legitimationsprobleme polizeilicher Gewalt aufgrund gewachsenen Rechtsbewußtseins hin, sondern darüber hinaus auf die Friktionen und Widerstände, die das forcierte Ausgreifen des Staates in die Gesellschaft begleiteten.105 Die wenigen verfugbaren Daten über die regionale Verteilung polizeilicher Amtsüberschreitungen scheinen diese Überlegungen zu stützen. Auch wenn man gerade bei diesem Delikttyp von einer hohen Dunkelziffer und von vielfältigen Versuchen der Behörden ausgehen muß, bekanntgewordene Fälle zu vertuschen, gibt die Häufigkeitsverteilung der einschlägigen Strafverfahren gegen Beamte doch zumindest Hinweise auf Schwerpunkte. In den sieben Jahren von 1899-1905 lagen diese eindeutig in den preußischen Industrieprovinzen: 52,2% aller Verfahren fanden im Bereich der Oberlandesgerichtsbezirke Breslau, Köln und Hamm statt, also in Schlesien, der Rheinprovinz und Westfalen, mithin in den Landesteilen, in denen die Polizei seit Beginn der neunziger Jahre massiv ausgebaut wurde.106 Zugleich sagt diese Häufung auch einiges darüber, wer die bevorzugten Opfer der Prügeleien in den Wächstuben oder der Säbelattacken auf der Straße waren. Die Konzentration der Fälle in den industriellen Provinzen bestätigt den Eindruck, den man aufgrund der internen Berichterstattung über Einzelfälle erhält, daß nämlich vielfach Arbeiter die Leidtragenden polizeilichen Ubereifers waren.107 Während sich der Legitimationsverfall illegaler Gewaltanwendung durch staatliche Organe und die Konflikthaftigkeit der institutionellen Expansion noch schlüssig miteinander verbinden lassen, steht die zitierte Kausalhypothese, die den polizeilichen Militarismus in den Mittelpunkt rückt, in auffälligem Widerspruch zu der Tatsache, daß zumindest die kommunalen Mannschaften in dieser Zeit von einer fortschreitenden Entmilitarisierung ihres Rekrutierungsfeldes erfaßt worden waren. Wenn die Ubergriffe der Schutzleute und Sergeanten ihrer militärischen Sozialisation zu verdanken waren, warum kam es zu dieser Häufung, als die Bedeutung der sozialstrukturellen Militarisierung nachließ? Sollte die Militarismusthese zutreffen, müßte sich zumindest in den Grundzügen eine Schwerpunktbildung der Fälle bei den sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung als auch hinsichtlich ihrer inneren Organisation am meisten militarisierten Polizeiformation Preußens, den staatlichen Schutzmannschaften in Berlin und anderswo, nachweisen lassen. Die tendenziell zivilen Kommunalpolizeimannschaften müßten dagegen unterrepräsentiert sein. Die verfugbaren Hinweise sprechen gegen eine derartige Verteilung und deuten vielmehr auf eine Überrepräsentanz der städtischen Kräfte hin. Als das skandalöse Verhalten der Sicherheitsorgane 1898 wieder einmal im preußi181

sehen Abgeordnetenhaus thematisiert wurde, verwahrte sich Innenminister von der Recke gegen die Behauptung, »daß die Zahl von Übergriffen bei den staatlichen Polizeibeamten größer sei als bei den kommunalen Polizeibeamten.«108 Der empirische Befund gibt ihm recht. Von insgesamt 425 wegen Mißhandlungen und ähnlicher Delikte verurteilten Polizeibeamten, die zwischen 1896 und 1905 in Gnadengesuchen um Strafmilderung oder -aufhebung baten, stammten 113 oder 26,6% aus königlichen Schutzmannschaften, während 73,4% aus Städten mit kommunaler Polizei kamen. Blickt man auf den Entwicklungstrend innerhalb dieser zehn Jahre, zeigt sich eine stetig wachsende Rolle der städtischen Verbände. Bei insgesamt abnehmenden Fallzahlen stieg ihr Anteil von 66,7% im Jahre 1896 auf 83,3% im Jahre 1905.109 Eine entsprechend gegliederte Verurteiltenstatistik für die Jahre 1900 bis 1902 bestätigt dieses Ergebnis. Der Anteil der staatlichen Exekutivbeamten schwankte zwischen 21,6% (1900) und 28,9% (1902).110 Auch wenn man die Deliktzahlen mit dem Umfang der jeweiligen Polizeiformationen in Beziehung bringt - mangels besserer Daten muß hierbei auf die Stärkeverhältnisse von 1913 zurückgegriffen werden - lag die Verurteilungsrate unter den kommunalen Sergeanten und Nachtschutzleuten dreimal höher als unter den Kollegen von den staatlichen Schutzmannschaften.111 Einzelhinweise aus Publizistik und Akten deuten in dieselbe Richtung. Neben Stimmen, die auf das barsche Unteroffiziersgehabe als Ursache der »Mißgriffe« verweisen, findet sich auch die Meinung, daß die »Verschlechterung des Menschenmaterials«, die Abschreckung der disziplinierten Militäranwärter durch niedrige Gehälter sowie allgemein die niedrige Bildung der Anwärter in den Kommunen für die kritisierten Erscheinungen verantwortlich seien.112 Als sich die Düsseldorfer Bezirksregierung 1884 gegenüber dem Innenministerium für einen Mißhandlungsfall in Krefeld rechtfertigen mußte, hob sie ausdrücklich hervor, »daß die genannten beiden Beamten keine anstellungsberechtigten Militäranwärter waren und zur Categorie der in Crefeld existierenden sogenannten Polizeidiener gehörten, welche ein niedrigeres Gehalt als die eigentlichen Polizeisergeanten beziehen.«113

Diese Bemerkungen, vor allem aber das Ungleichgewicht zwischen staatlichen und kommunalen Mannschaften, das in dieser Deutlichkeit kaum allein auf quellenbedingte Verzerrungen zurückzuführen ist, lassen die Überlegung bedenkenswert erscheinen, daß weniger der rigide Militarismus der preußischen Schutzmänner, als vielmehr die fortschreitende Demilitarisierung des Herkunftsbereichs kommunaler Polizeibeamten für die Häufung der Gewalttätigkeiten verantwortlich war. Damit soll selbstverständlich nicht bestritten werden, daß die Nähe zwischen ziviler und militärischer Macht erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten der Schutzleute gehabt hat und daß sich die militärische Sozialisation in autoritärem Auftreten und auch in einer hohen 182

Gewaltbereitschaft niederschlug. Keinesfalls wird hier in das Hohelied der soldatischen Disziplin eingestimmt, die nach Meinung der preußischen Staatsregierung und vieler Führungsbeamter in den königlichen Polizeipräsidien aus einem haltlosen Untertanen erst einen brauchbaren Schutzmann machte. 114 Es soll allerdings vor der naiven Annahme gewarnt werden, die soziale Entmilitarisierung und die sozialstrukturelle Annäherung zwischen Polizei und Arbeiterschaft böten von vornherein bessere Voraussetzungen für ein konfliktfreieres Verhältnis zwischen beiden Parteien; eher das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein. Vor allem zwei Argumente können dazu beitragen, den zunächst paradox erscheinenden Zusammenhang zwischen der Proletarisierung der Polizei und steigenden Spannungen zwischen ihr und der Arbeiterschaft aufzuklären. Das erste Argument hängt mit der Aufstiegsorientierung der zur Polizei stoßenden Anwärter aus der Arbeiterklasse zusammen. Arbeiter, die in die kommunale Polizei eintraten, verließen ihre bisherige soziale Umwelt, unterwarfen sich einer scharfen Disziplinierung, mußten sich erheblichen Verhaltenszumutungen und sozialer Isolation aussetzen und sahen sich zudem mit der Verachtung ihrer ehemaligen Klassengenossen konfrontiert - die Einzelheiten sind im vorangegangenen Abschnitt beschrieben worden. Komplementär zu dieser teils erzwungenen, teils durch die Orientierung auf den neuen Beruf freiwillig betriebenen Distanzierung zum Herkunftsmilieu nahm die Anpassung an die spezifischen Standards des Berufs bzw. des angestrebten Status zu. Als soziale Aufsteiger waren die Polizeibeamten besonders rigide auf den Wertehaushalt ihrer Referenzgruppe, d.h. der unteren Beamtenschaft, des Kleinbürgertums, fixiert und neigten dazu, deren Normen vorbehaltslos zu übernehmen und nach außen zu vertreten.115 Auch und gerade weil der ehemalige Arbeiter kein »geborener« Beamter war und vielleicht zusätzlich, weil ihm außer der Polizei kaum eine andere Eintrittspforte in den öffentlichen Dienst offenstand, wird er versucht haben, den Anforderungen seiner Vorgesetzten und Kollegen mit besonderem Engagement nachzukommen. Rigorismus nach außen war die Folge. 116 Auch das zweite Argument hängt damit zusammen, daß die Polizisten autoritär sein sollten, ohne soziale Autorität zu besitzen und verweist zurück auf die oben erörterten Statusprobleme der unteren Exekutivbeamten. Als Polizisten repräsentierten sie die staatliche Macht. Solange sie dabei auf langjährige Militärerfahrung zurückgreifen konnten, stand ihnen ein Minimum an habitueller Autorität zur Verfügung, das den Mangel an berufsbezogener Amtsautorität und polizeispezifischer Verhaltensmuster kompensieren konnte. Man muß nicht zum Befürworter der sozialen Militarisierung der preußischen Gesellschaft werden, wenn man konzediert, daß der vielkritisierte Unteroffiziersduktus die Durchsetzungschancen der Beamten gegenüber einer Bevölkerung erhöhte, für die die Einordnung in strenge Hierarchien 183

aufgrund eigener Militärerfahrung oder aufgrund autoritärer innerbetrieblicher Strukturen nicht ungewöhnlich war. Anders läßt sich auch kaum die legendäre, von interessierten Berichterstattern sicherlich übertriebene, an sich aber kaum zu bezweifelnde Autorität der militarisierten Gendarmen erklären, der stets die Durchsetzungsschwäche der kommunalen Kräfte gegenübergestellt wurde. Schon der Franckenbergbericht von 1869 kommt mehrfach auf die besondere Autorität des Gendarmen zu sprechen: »Von der Wirkung seines bloßen Auftretens im Vergleich zu Polizeidienern erzählte man überall.. Auffallendes: der Tumultant, der sich dem Publikum und jeder anderen Polizei mit Messer und Revolver drohend entgegenstellt,... wird ersichtlich ängstlich und giebt jeden Widerstand auf, sobald er hört, daß der Gendarm kommt.« Und aus Herne berichtet der Brigadier: »Der Gendarm allein hält das Amt in Ordnung, die Polizeidiener, wenn sie Polizeistunde gebieten wollen, werden mit blutigen Köpfen abgewiesen, wenn dann aber der Gendarm ins Wirthshaus tritt, so finden es die Arbeiter von ihm noch rücksichtsvoll, wenn er ihnen eben noch Zeit läßt, zum Fenster hinauszuspringen.«117

Da es außer einem dürftigen, unstrukturierten »training on the job« keine Polizeiausbildung gab und von einem situationsbezogenen Set von Handlungsregeln, wie sie später die sog. »Polizeiverwendungslehre«118 bereitzustellen versuchte, zu dieser Zeit nicht die Rede sein kann, waren militärische Formen und auf sie gegründete Autorität der einzige Rückhalt einer gewissen Verhaltenssicherheit in Konfliktsituationen. Fehlte dieser Rückhalt, wie dies bei den immer öfter aus der lokalen Arbeiterklasse rekrutierten Polizeibeamten der Ruhrgebietsstädte der Fall war, bekam der Beamte zudem die Geringschätzung seiner Umgebung zu spüren und wurde gleichzeitig von seinen Vorgesetzten die kompromißlose Durchsetzung seiner Anordnungen gefordert, lag der Zugriff zum letzten Mittel nahe: der Zugriff zur brutalen Gewalt als einziger Chance, dem drohenden Gesichtsverlust zu entgehen und die Fassade prätendierter Autorität aufrechtzuerhalten.119 Ein Gutteil der »Übergriffe« und »Mißgriffe«, die die Öffentlichkeit um die Jahrhundertwende erregten, wird eher der »Unsicherheit im Auftreten und Unbeholfenheit im Entschlußfassen«, der »Hilflosigkeit« der Gesetzeshüter,120 als der unbekümmerten Übertragung des berüchtigten Kasernenhofstils ins zivile Leben zuzuschreiben sein. Als der Erste Staatsanwalt in Oppeln 1889 in einem ausführlichen Gutachten die Gründe für die steigende Kriminalität im Schlesischen analysierte, kam er zu Schlüssen, die den Zusammenhang zwischen dem Autoritätsverfall der Ordnungsagenten und der zunehmenden Gewaltsamkeit ihres Verhältnisses zur Bevölkerung bestätigen.121 An den zahlreichen Konflikten zwischen beiden Seiten und auch an den häufigen Widerstandsleistungen trügen zumeist die Polizeibeamten Schuld, meinte der Anklagevertreter. Diese seien vielfach ungeeignet und leistungsschwach, da sich brauchbare Kandidaten für die schlechtdotierten Stellen kaum interessierten. 184

»Es ist daher nicht zu verwundern, daß jede Äußerung einer beanspruchten amtlichen Autorität auf Widerspruch oder mindestens Nichtachtung stößt und daher Konflikte um so unvermeidlicher sind, als die Beamten ihre mangelnde Befähigung durch eine um so größere Empfindlichkeit ersetzen zu müssen glauben.«122

Man könnte argumentieren, daß das individuelle Fehlverhalten eines Beamten angesichts der Gefahren, die in dem systematischen Mißbrauch der Monopolinstitution innerer Gewalt durch die politischen Herrschaftsträger liegen, nur von untergeordneter Bedeutung sein kann. Weniger die illegale als die legale Machtausübung und ihre Grenzen sind das zentrale Problem einer kritischen Annäherung an die Polizei und ihre Geschichte. Insofern wäre auch die Welle der »Mißgriffe« allenfalls ein Randproblem. Was sie darüber hinaushebt und allein ihre noch zu diskutierenden Auswirkungen auf die innere Entwicklung der Polizei erklärt, ist die Tatsache, daß in der Häufung der Gewaltexzesse und in der öffentlichen Diskussion darüber in verdichteter Form die krisenhaften Begleiterscheinungen der institutionellen Expansion, der neuen, aktiveren Rolle der Polizei in der Gesellschaft und des inneren Strukturwandels der Beamtenschaft ihren Niederschlag fanden. 123 Sie war exemplarisch für die Legitimationsschwierigkeiten staatlicher Gewalt nach innen, da große Teile der Öffentlichkeit nicht mehr bereit waren, die vorkonstitutionelle, allein dem Staat an sich und letztlich dem Monarchen verpflichtete Sonderstellung der Ordnungsmacht zu akzeptieren und statt dessen ihre strikte Rechtsbindung und Orientierung an den Interessen der Bürger forderten. Sie war ein Indiz für die hohen sozialen Kosten, die der beschleunigte, breitflächige Ausbau der Sicherheitskräfte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts forderte. Gleichsam als Spitze des Eisbergs verweisen die aktenkundig gewordenen Übergriffe auf das Reibungs- und Konfliktpotential, das mit dem Aufbau einer modernen, permanent präsenten Polizei verbunden war. Schließlich spiegeln die Mißhandlungen die Autoritätsprobleme einer Polizeibeamtenschaft im Umbruch, die nicht mehr auf die früher selbstverständlichen Autoritätsressourcen einer militärischen Erziehung bauen konnte, die aber auch noch nicht über die stabilisierenden Kenntnisse und Fertigkeiten verfügte, die später eine elaborierte Polizeitaktik und eine formalisierte, verhaltensorientierte Ausbildung zu vermitteln versuchten.

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6.3. Ansätze zur inneren Modernisierung Die Verberuflichung der Polizei 6.3.1. Homogenisierung, Protest und Verbandsbildung Stabilisierungstendenzen in der Unterbeamtenschaft Es ist darauf hingewiesen worden, daß sich hinter der sozialstrukturellen Umschichtung des polizeilichen Rekrutierungsfeldes und den hohen Fluktuationsraten der städtischen Mannschaften Anzeichen für eine Stabilisierung des Exekutivpersonals auf neuer Basis verbargen. Der Zustrom der Zivilanwärter aus der Arbeiterschaft erwies sich als weit beständiger als der aus der Gruppe der Militäranwärter und überstieg sogar den Bedarf. Zugleich zeigte sich, daß die hohen Fluktuationsraten der erstgenannten Gruppe nicht im selben Ausmaß wie bei den Inhabern des Zivilversorgungsscheins Indiz einer Berufsflucht, sondern eher einer Art Chancenwanderung innerhalb der Polizei waren, die allerdings kaum den Städten zugute kamen, von denen sich die Schutzleute abwandten. Mehr als einmal findet sich die Klage, daß die großen Städte den Beamtennachwuchs heranzögen, daß aber die kleineren Gemeinden, auf deren Sergeantenposten die Schutzleute abwanderten, davon profitieren würden.124 Die endgültige Homogenisierung der Unterbeamtenschaft war eine direkte Reaktion auf die geschilderten Krisensymptome und stellte den Versuch dar, Abwanderungstendenzen durch die Eröffnung verbesserter Aufstiegsmöglichkeiten zu dämpfen und gleichzeitig die Abhängigkeit von der Rekrutierungsgruppe der Militäranwärter zu senken. Am Beispiel der Stadt Hagen läßt sich dieser Zusammenhang gut nachvollziehen. Nur durch eine gleichmäßige Verteilung des belastenden Nachtdienstes auf alle Beamten und die Beseitigung der unterschiedlichen Dienstbezeichnungen war nach Ansicht des Hagener Polizeichefs die lähmende Fluktuation in den unteren Diensträngen zu senken.125 Die starre Unterscheidung zwischen Schutzleuten und Sergeanten, zwischen denen Aufstiegsvorgänge eher die Ausnahme als die Regel waren, sollte durch zwei Gehaltsstufen mit den Bezeichnungen Schutzleute der Klassen a und b aufgehoben werden. Der Eintritt ins Unterbeamtenkorps erfolgte nun grundsätzlich in der Klasse a - den ehemaligen Nachtschutzleuten - während sich die Klasse b - die ehemaligen Sergeanten ausschließlich durch Aufsteiger aus der Eingangsstufe ergänzte. Da der Aufstieg zwischen den Gehaltsklassen weder vom Militärstatus noch von Anciennitätsgesichtspunkten, sondern nur von Leistungskriterien abhängen sollte, hatte jeder Neuling eine realistische Chance auf Verbesserung seiner Position und verfügte die Führung zugleich über ein bequemes Mittel, um Wohlverhalten und Diensteifer zu honorieren, Verfehlungen dagegen mit Beförderungsverweigerung zu ahnden.126 186

Ahnlich wie die Abschaffung der nebenamtlichen Nachtwache in den siebziger und achtziger Jahren imitierte auch bei dieser Reform eine Stadt das Beispiel der anderen, ohne daß die Aufsichtsbehörden Einfluß genommen hätten. In der Untersuchungsregion wurde so 1903 in Gelsenkirchen, 1904 in Bochum und 1905 in Hagen das Unterbeamtenkorps homogenisiert.127 In Dortmund behielt man zwar bis 1913 die unterschiedlichen Dienstbezeichnungen bei, praktizierte jedoch ebenfalls das leistungsbezogene Beförderungssystem von der Schutzmannschaft in die Sergeantengruppe.128 Der Stabilisierungserfolg der Strukturreform wurde in Dortmund ab der Jahrhundertwende spürbar. Von den 68 Schutzleuten der Ruhrgebietsstadt, die zwischen 1885 und 1900 aus dieser Position ausschieden, wurden nur 20 (29%) zum Sergeanten befördert, 21 (31%) gelang der Aufstieg, nachdem sie in den Dienst einer anderen Stadt traten, und die mit 27 Mann (40%) größte Gruppe kehrte der Polizei ganz den Rücken. In den folgenden sechs Jahren - danach reißen die Informationen ab - hatte sich das Fluktuationsmuster der untersten Beamtenkategorie verändert. 33 von 73 Ausgeschiedenen (45%) kamen in den Genuß einer internen Beförderung zum Sergeanten, 28 (38%) mußten für diese Verbesserung in eine andere Stadt wechseln und lediglich 12 Schutzleute (16%) verließen ganz die Polizei. Insgesamt lassen die Zahlen auf eine steigende Berufsbindung der Schutzleute schließen, die nach der Erweiterung des schmalen Aufstiegskanals in die Sergeantengruppe auch immer mehr der Dortmunder Polizei zugute kam, nachdem zuvor Aufstiegsambitionen eher durch Abwanderung als durch Beförderung realisiert werden konnten.129 Was aus der Perspektive der Führung mehr Stabilität und Effizienz verbürgen sollte und aus Sicht der ehemaligen Nachtbeamten eine spürbare Verbesserung ihrer Lage bedeutete, stellte sich für die Gruppe der Sergeanten als empfindlicher Verlust dar. Vor allem die Verpflichtung zum Nachtdienst, aber auch der Verzicht auf ihre alte Dienstbezeichnung wurden als Einschnitt in »erworbene Rechte« angesehen. In Hagen wehrten sich die Sergeanten in mehreren Eingaben gegen diese »Degradation« und richteten schließlich unter Umgehung des ordentlichen Dienstweges eine Kollektivbeschwerde an den Regierungspräsidenten.130 Auch wenn dieser Protest vergeblich war und hauptsächlich der Verteidigung von Privilegien diente, ist er doch ein Hinweis auf erste Versuche der unteren Polizeibeamten, als kollektiv auftretende Interessengruppe zu agieren. Noch deutlicher wurde dies im rheinischen Barmen, wo sich 1908 um dasselbe Problem ein erbitterter Konflikt zwischen Sergeanten und Ortpolizeibehörde entspann. Als interne Eingaben nicht zum Erfolg führten, waren dort 29 Polizeisergeanten vor Gericht gezogen und hatten gegen die Stadtverwaltung auf Einhaltung ihres Vertrages geklagt, der die Ableistung von Nachtdienst nicht vorsah. Diese »Revolution bei der Polizei«131 war für die sozialdemokratische Regionalpresse Anlaß, mit war187

mer Sympathie fur die Rechte der Polizeibeamten zu werben. Zwar ist ein Schuß Ironie nicht zu verkennen, doch zeigt die Kommentierung der »Freien Presse« auch einen neuen Akzent im Verhältnis zwischen Arbeitern und Polizeibeamten. Als die Wuppertaler Sergeanten ihren Prozeß verloren hatten, bemerkte das Blatt: »Arbeiter können sich durch ihre Organisationen vor unbilliger Ausbeutung schützen. Polizeibeamte aber sind der Willkür ihrer Vorgesetzten vollständig preisgegeben. Kein Gericht nimmt sich ihrer an und wenn sie sich selbst helfen, fliegen sie auf die Straße, wo sie und ihre Familie das Hungergespenst angrinst. Arme Proletarier! Klassengenossen ihrer arbeitenden Brüder!« 132

Das klassenkämpferische Pathos dieses Kommentars wird kaum die Bewußtseinslage der biederen, um ihre Dienstrangprivilegien kämpfenden Sergeanten getroffen haben; trotzdem sprach die Betonung der sozialen Interessen einen immer wichtiger werdenden Punkt im Selbstverständnis der Polizisten an. Je mehr die kommunalen Polizeibeamten durch proletarische Herkunftsgruppen geprägt wurden, je mehr sich die Unterbeamtenschaft homogenisierte, je stärker sich ihre materielle Lage an die der Lohnarbeiterschaft annäherte, je sichtbarer die Verhandlungserfolge anderer, organisierter Arbeitnehmergruppen wurden und je illusorischer eigene Aufstiegshoffnungen erschienen, desto eher tendierten auch die Polizisten dazu, sich als Arbeitnehmer mit spezifischen Interessen zu begreifen. Sicher wäre es verfehlt, von einer Art Klassenbewußtsein unter den Polizeimannschaften zu sprechen. Eher handelte es sich um Ansätze eines noch stark an Diensträngen orientierten, sich mehr auf verbriefte Rechte als auf ökonomische Interessen berufenden, die oberen Beamtenchargen allerdings meist ausgrenzenden Gruppenbewußtseins der Unterbeamten, das sich sowohl aus der Unzufriedenheit mit der sozialen Lage und dem Widerwillen gegen die innerdienstliche Entmündigimg wie auch aus einer zunehmenden Berufsidentifikation speiste und die wohl zukunftsträchtigste Alternative zur immer brüchiger werdenden ständischen Identität dieser Beamtenkategorie darstellte. Der beste Indikator für diese Entwicklung dürften die Ansätze zur Verbandsbildung unter den Polizeibediensteten vor 1914 sein. Erste Versuche, die Polizeiunterbeamten in einem eigenen Interessenverband zu organisieren, fanden nicht in Preußen, sondern im thüringischen Rudolstadt statt. Im Februar 1903 konstituierte sich dort eine »Vereinigung Thüringer Polizeibeamten«, die sich dank der liberaleren Haltung der Behörden in den Kleinstaaten konsolidieren und über mehrere Jahre eine eigene Monatszeitschrift herausgeben konnte. Folgt man den wenigen Informationen über die Arbeit dieser Organisation, konzentrierte sie sich primär auf die Interessen der unteren Polizeiränge und ging zu den Vorgesetzten auf Distanz. 133 Das Vorbild der thüringischen Sergeanten fand schon ein Jahr später in Preußen Resonanz; bezeichnenderweise bei den kommunalen 188

Polizeibeamten in den Industrieprovinzen Schlesien und Westfalen.134 In der westlichen Industrieregion schlossen sich 1904 zuerst die unteren Beamten der Kommunalpolizei im Kreis Schwelm zu einem »Polizei-Beamten-Verein« zusammen, im Jahre 1905 folgten ihre Kollegen im Kreis Hattingen. 135 Drei Jahre nach diesen ersten Gründungen formierten sich 1908 die Sergeanten des Kreises Lüdinghausen im Regierungsbezirk Münster zu einem Unterbeamtenverein, der im Juli 1911 zu einer Art Regionalverband für das Münsterland ausgebaut wurde.136 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die wenig bekannte Frühgeschichte der polizeilichen Interessenverbände im Detail zu rekonstruieren. Aus notgedrungen kryptischen Anfängen in lokalen und regionalen Nischen führten diese schon 1909 und 1911 zu ersten Versuchen, mit dem »Bund kommunaler Polizeibeamten Preußens« und dem »Zentralverband der Polizeisergeanten Preußens« überregionale Zusammenschlüsse ins Leben zu rufen.137 Im Zusammenhang mit der hier vorgetragenen Argumentation sind an diesen Ansätzen vor allem drei Aspekte hervorzuheben. Einmal die Tatsache, daß die ersten vorsichtigen Versuche zur Formierung von Verbänden in Preußen von den kommunalen Polizeibeamten der Industrieregionen ausgingen, während sich bei der traditionsreichen Berliner Schutzmannschaft: erst fast zehn Jahre später vergleichbare Organisationsbestrebungen regten.138 Sicher spielte dabei die schärfere Disziplinierung in den königlichen Polizeipräsidien eine Rolle, wo jeder Organisationsversuch als Insubordination bestraft wurde, während in den Kommunen viel von der Haltung einzelner Vorgesetzter abhing, die die Vereine tolerieren, oder, wie in Schwelm, sogar fordern mochten.139 Nicht von der Hand zu weisen ist aber auch die Vermutung, daß in diesem deutlichen zeitlichen Abstand die sozialstrukturellen Differenzen zwischen kommunaler und staatlicher Polizei ihren Niederschlag fanden, die oben erörtert worden sind. Polizeibeamte, die aus der regionalen Arbeiterklasse stammten, waren vermutlich eher dazu geneigt, die Idee des Interessenverbandes für ihre eigenen Belange zu übernehmen als die stärker militarisierten Schutzmänner in Berlin und anderswo. Zweitens fällt die »Arbeitnehmerorientierung« dieser frühen Vereine auf. Diese ist einmal an den statuarischen Zielen ablesbar, die die Aufgabe des Verbandes darin sahen, »die Interessen des Kommunal-Polizeibeamtenstandes nach allen Richtungen hin zu heben, zu fördern und zu vertreten«.140 Hinzu kam die Tendenz, exklusive Unterbeamtenorganisaüonen zu schaffen. Hier vereinigten sich die Polizisten auf der untersten Stufe der Hierarchie, die am wenigsten am Prestige der Beamten teilhatten und die ihre Vorgesetzten weniger als Kollegen denn als Gegenseite wahrnahmen. Darauf deuten die Einzelhinweise zur Mitgliedschaft und Politik dieser Vereine ebenso hin wie die spiegelbildliche Distanzierung der westfälischen Oberbeamtenkonferenz. 189

Als der Recklinghausener Polizeischulleiter Retzlaff in diesem Gremium vorschlug, eine dienstgradübergreifende Vereinigung ins Leben zu rufen, um dem drohenden Antagonismus zwischen der Masse der Unterbeamten und ihren dienstlichen Vorgesetzten entgegenzuwirken, wiesen ihn seine Kollegen unter Verweis auf die militärähnliche Binnenstruktur und die strikten Unterordnungsverhältnisse zwischen den einzelnen Chargen entschieden zurück.141 Wo die Verbandsbildung der Polizisten in einem liberaleren Umfeld größere Breitenwirkung als in Preußen entfalten konnte, zeigte sich die scharfe Abgrenzung nach oben noch weit klarer. In den 324 Ortsgruppen der »Sächsischen Polizeibeamten-Vereinigung« waren 1909 insgesamt 1537 Mitglieder organisiert, von denen nur zwei den Rang eines Kommissars oder Inspektors bekleideten.142 Obwohl es nur vereinzelte und wenig spektakuläre Ansätze waren, zeigen diese Tendenzen doch, daß der zerbröckelnden Identifikation mit dem »Beamtenstand« eine mehr am Bild des Arbeitnehmers ausgerichtete Orientierung entgegengestellt wurde. Mit dem »Schritt zur Interessenpolitik« und zur Rangklassenorientierung begannen sich die kommunalen Polizisten nach der Jahrhundertwende in die Beamtenbewegung einzureihen, die seit dem Beginn der neunziger Jahre besonders bei den Beamten der Betriebsverwaltungen von Post und Bahn zur Abkehr von den interessenpolitisch enthaltsamen, nur am Modell der Selbsthilfe ausgerichteten Beamtenvereinigungen der Vergangenheit gefuhrt hatte. Hier wie dort begünstigte die sozialstrukturelle Umschichtung der unteren Beamtenränge, die oben als soziale Entmilitarisierung und Proletarisierung beschrieben wurde, die Ausbildung neuer Organisations- und Handlungsmuster.143 Die Artikulation allgemeiner Arbeitnehmerinteressen durch Polizeibeamte ermöglichte es zudem Arbeitern und ihren Organisationen, zwischen Funktion und Person des Polizisten stärker zu differenzieren. Selbst wenn er im Arbeitskampf auf der anderen Seite stand, gaben seine Lage und seine Organisationsversuche den Polizeibeamten doch als »Klassengenossen« zu erkennen. Nachdem noch 1910 in einem Ort bei Berlin die Zustimmung sozialdemokratischer Gemeinderatsmitglieder zur Anschaffung einer neuen Diensthose für den örtlichen Polizeidiener - dem »Organ des Klassenstaats« - zu innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt hatte, 144 focht vier Jahre später Karl Liebknecht für die sozialen Belange der Berliner Schutzleute. Im preußischen Abgeordnetenhaus nahm er die Unterdrückung ihrer Organisationsbestrebungen zum Anlaß, die entwürdigende Behandlung der Beamten als »abhängige, unmündige, in einer halben Sklaverei befindliche Kulis« zu geißeln und für sie Koalitionsrecht und eine bessere soziale Absicherung zu fordern. Viele Schutzleute würden sich mit Klagen an die SPD wenden, behauptete Liebknecht und warnte den Innenminister vor den Folgen seiner kurzsichtigen Verbotspolitik: 190

»Es ist in den Berliner Schutzleuten durch diese Art der Behandlung ihrer Vertrauensleute und ihrer Organisation eine Art proletarischen Selbstbewußtseins hervorgerufen worden, das dem Herrn Polizeipräsidenten und dem Herrn Minister noch einmal recht unangenehm werden kann.« Eine Entwicklung, die, so merkte er an, »von unserem Standpunkte aus natürlich sehr erfreulich [ist].«145

In einem gewissen Widerspruch zu dem zweiten Punkt steht drittens die Berufsorientierung der frühen Polizeivereine. Deutlich wird diese etwa in dem Begriindungsgesuch, mit dem die Schwelmer Beamten den Landrat um Genehmigung ihrer Vereinigung baten. Neben der »geistigen Hebung des Standes«, die durch Bildungskurse, Halten von Fachzeitschriften und Einrichtung einer Bibliothek erreicht werden sollte, setzte es sich der Verein zum Ziel, »Charakterschule« für seine Mitglieder zu sein, da »der Polizeibeamte keinen üblen Eigenschaften fröhncn darf, wie Haß, Neid, Gewinnsucht usw., sondern stets taktvoll, höflich und bescheiden sich benehmen und sich befleißigen, feinere Umgangsformen anzunehmen. Er soll dem Bürger gegenüber nicht als Häscher, sondern als Helfer und Berather beistehen.«14Rechte< und namentlich >Pflichten des Polizeibeamten< und >Das Gesetz, betreffend die persönliche Freiheit·«. Uber die Rechte des Publikums müßten die Leute recht gründlich unterrichtet werden«.216

Auch Otto Gerland, einer der engagierten Polizeireformer, beklagte das »Uberwuchern der Theorie« und mahnte einen stärkeren Praxisbezug an.217 Angesichts dieser Kritik, und in Anbetracht der konkreten Unterrichtserfahrung, die zeigte, daß die Schüler durch den trockenen Unterricht völlig überfordert waren, zeichnete sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums eine zunehmende Praxisorientierung ab.218 1909 begann etwa die Schule im Regierungsbezirk Arnsberg damit, ihre Kurse durch praktische Demonstrationen zu ergänzen. Zur Übung der Gewerberevision besichtigte man Betriebe und Baustellen, man stellte das Auffinden einer Leiche nach oder trainierte die Absperrung eines Platzes.219 205

Im selben Jahr wurde auch ein erster Anlaufunternommen, das Stadium der unkoordinierten lokalen und regionalen Experimente abzuschließen und Organisation wie Lehrinhalte der preußischen Polizeischulen zu vereinheitlichen. Am 23.6.1909 diskutierten Regierungsstellen und die Vertreter der einzelnen Anstalten eine »Ordnung für preußische Polizeischulen«, deren Entwurf der Dortmunder Dezernent Kienitz vorgelegt hatte, und die im wesentlichen mit der Lehrpraxis der westfälischen Schulen identisch war.220 Zunächst wurden Schulordnung und Musterlehrplan jedoch nur von den beiden westfälischen Instituten in Recklinghausen und im Arnsberger Regierungsbezirk sowie von der Polizeischule des Kreises Teltow anerkannt. Die Übernahme durch die rheinische Einrichtung scheiterte an den bekannten Differenzen hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen.221 Erst nachdem 1912/13 das Düsseldorfer Modell auf alle preußischen Polizeischulen übertragen worden war, galt die Polizeischulordnung für alle Anstalten, so daß man ab 1913 von einem organisatorisch und inhaltlich vereinheitlichten, staatlich beaufsichtigten aber kommunal getragenen Ausbildungssystem für die städtischen Polizeibeamten Preußens sprechen kann, das seine hauptsächlichen Stützpunkte im rheinisch-westfälischen Industrierevier hatte.222 Wenn man die Einführung einer institutionalisierten, formalisierten Berufsausbildung als Antwort auf die verschiedenen, aus schnellem Wachstum, sich wandelnder Binnenstruktur und äußerem Legitimationsverfall resultierenden Probleme der Institution auffaßt, stellt sich die Frage, wieweit und mit welchen Mitteln die Polizeischulen diesen Erwartungen gerecht geworden sind. Drei Punkte sind hervorzuheben: Erstens zeichnen sich trotz aller Theorielastigkeit Grundzüge eines polizeispezifischen Verhaltensmodells ab, das zwar nach wie vor autoritär und obrigkeitsstaatlich war, sich aber nicht mehr allein auf den Anspruch bedingungsloser Befehlsgewalt gegenüber dem Untertan gründete. Vor allem auf der Ebene der Verkehrsformen zwischen »Polizei und Publikum« versuchten Instruktionen und Lehrbücher neue Maßstäbe zu setzen. »Höflichkeit und Zuvorkommenheit gegen jedermann« seien die »vornehmsten Pflichten des Polizeibeamten gegenüber dem Publikum«, forderte eine verbreitete Dienstanweisung223 und vergleichbare Verhaltensrichtlinien finden sich seit der Welle der Polizeiskandale immer wieder.224 Meist blieben die Anweisungen auf einer sehr allgemeinen Ebene. Sie gaben dem Beamten auf, daß er sich selbstbeherrscht, höflich usw. zu benehmen habe, enthielten aber meist keine situationsbezogenen Richtlinien. Derartig operationalisierte Handlungsregeln existierten erst in Ansätzen, so beispielsweise in der offiziellen Dienstanweisung für die unteren Polizeibeamten des Regierungsbezirks Arnsberg von 1910:

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»Bei dem dienstlichen Einschreiten gegen angetrunkene oder betrunkene Personen ist besondere Vorsicht zu beobachten, damit nicht durch unzweckmäßige Maßregeln Anreiz zur Widersetzlichkeit gegeben wird. Unmittelbares Handanlegen hat der Polizeibeamte dabei möglichst zu vermeiden.«225

Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums blieben solch differenzierte, alltagspraktische Regeln für die Exekutivbeamten eher die Ausnahme; gleichwohl wurden mit dem Ausbau des Schul- und Instruktionswesens Grundlagen fur ein kontrollierteres, an zivile Standards gebundenes Polizeiverhalten gelegt, das nicht mehr in jeder Konfliktsituation aus Unsicherheit oder aufgrund militaristischer Regression den Ausweg im brutalen Durchgreifen suchte.22* Fragt man zweitens danach, wieweit die Polizeischulen das Defizit soldatischer Sozialisation ausglichen, das sich bei dem neuen Polizistentypus ohne langjährige Militärerfahrung zeigte, kommt man zu keinem eindeutigen Befund. Einerseits forderte und honorierte vor allem der »heimliche Lehrplan« der Kurse strikte Unterordnung unter Befehle, widerspruchslose Disziplin und soldatischen Habitus. Der Unterricht lief »in streng militärischen Formen« ab, die Schulleiter fungierten zugleich als Dienstvorgesetzte der Schüler und das Verhältnis zwischen beiden Seiten wird große Ähnlichkeit mit dem zwischen Rekruten und Offizieren bei der Armee gehabt haben.227 Die Schulordnungen forderten »stramme Haltung« sowie »vorschriftsmäßigen, tadellos sauberen Anzug« und verlangten die genaue Einhaltung der dem Militär entlehnten Gruß- und Melderituale. Die Düsseldorfer Schule knüpfte schließlich mit ihrer Kasernierung direkt an das militärische Vorbild an.228 Andererseits gab es offenbar keine Bestrebungen, die zivilen Polizeianwärter einem expliziten Drillreglement zu unterwerfen oder auf andere Weise zu versuchen, ihre - gemessen am traditionellen Maßstab der Militäranwärter defizitäre Sozialisation durch die Einübung militärischer Standards abzugleichen. Zum Teil lag dies sicherlich daran, daß die hauptsächlichen Rückstände und Probleme der Schüler trotz zivilen Hintergrunds weniger auf dem Gebiet militärischer Umgangsformen lagen, als darin, dem verschulten Unterricht überhaupt zu folgen. Bezeichnend hierzu das Urteil des Schulleiters Gaißert über die Teilnehmer des ersten Kurses im Arnsberger Bezirk: »Das Verhalten der Schüler war in moralischer Hinsicht musterhaft, deren militärische Haltung, auf welche von dem Unterzeichneten auch u. A. besonders Wert gelegt wurde, tadellos und Fleiß und Eifer durchweg lobenswert. Dagegen war Begabung, Auffassungsgabe und Fähigkeit, das dargebotene für sich zu verwenden, sehr verschieden und nur der kleinere Teil der Schüler kann als gut veranlagt bezeichnet werden. Bei den meisten fehlte leichte Auffassungsgabe und Gewandheit in Wiedergabe des Gelernten.«229

Wichtiger war aber, daß die Schulen ihre Hauptaufgabe in der fachlichen Qualifizierung der Beamten sahen und daß diese Fachschulung aller soldati207

sehen Reminiszenzen im Äußeren zum Trotz immer weniger mit rein militärischen Qualitätskriterien in Deckung zu bringen war. Soweit die Anwärter noch stark militärisch geprägt waren, wiesen die Polizeischulpropagandisten der neuen Institution sogar die Aufgabe zu, ihnen den leidigen »Unteroffizierston« auszutreiben.230 Diese Wendung war nicht nur der zeitgenössischen Kritik am polizeilichen Militarismus zu verdanken, sondern auch der Notwendigkeit, die Beamten für einen immer komplizierteren Großstadtdienst zu befähigen, der von ihnen ein hohes Maß an Selbständigkeit und Entscheidungskompetenz verlangte, das durch schlichten Gehorsam im militärischen Sinne nicht zu ersetzen war.231 Dies galt in besonderem Maße für die relativ kleinen kommunalen Polizeiverbände, die noch nicht ein so hohes Maß an innerer Differenzierung und Arbeitsteilung erreicht hatten, wie die großen, tiefer gestaffelten staatlichen Schutzmannschaften, die sich bemühten, die einfachen Exekutivbeamten auf ihre Rolle als Befehlsempfänger mit minimaler Eigenverantwortung zu reduzieren. Was die Verhältnisse bei der kommunalen Polizei anging, versuchten die Polizeischulen, die mit der zivilen Herkunft der Anwärter verbundenen Probleme weniger durch eine Art sekundärer Militarisierung zu lösen, als durch die vorsichtige Formulierung und Vermittlung eines gefestigten, eigenständigen Berufsbildes.232 Drittens entwickelten und kultivierten Lehrbücher, Instruktionen und Polizeischulen ein Dienstethos, das zwischen der heroisierenden Stilisierung des von allen angefeindeten Hüters des monarchischen Staates und dem Leitbild eines bürgernahen Schutzmanns changierte. Stellvertretend für die Richtung des klassisch obrigkeitsstaatlichen Identifikationsangebots kann die Äußerung Wilhelms II. anläßlich des 50jährigen Bestehens der Berliner Schutzmannschaft angeführt werden, die den Polizisten zum privilegierten Werkzeug des souveränen Monarchen erhob: »Den Bürgern Berather, Helfer, Retter, den Verbrechern ein Schrecken, seid Ihr der Arm, den Ich brauche, Gehorsam zu erzwingen, wenn es nothwendig ist.«2"

Im »Krieg gegen die Feinde im Innern« diene der Beamte allein dem Wohl des Staates, sekundierte zur selben Zeit ein bekannter Polizeischriftsteller, und dies gebe seinem Beruf Sinn und Legitimation, auch wenn sich der Polizist nicht »der Gunst der Staatsgenossen« erfreuen könne.234 Je mehr die Polizei ins Kreuzfeuer öffentlicher Auseinandersetzungen geriet, desto mehr zeigten sich aber auch Tendenzen, den »Geist der Polizei« eher bürgernah und weniger staatsorientiert zu definieren. Die Losung, daß »nicht das Publikum für den Polizeibeamten, sondern der letztere für das Publikum da ist,«235 war ein Topos der öffentlichen und internen Debatten um die Reform der Polizei. Beide Seiten der polizeilichen Berufsideologie - Dienst am Staatund Dienst am Bürger - fanden ihren Niederschlag in ausufernden Tugendkatalogen, mit denen Lehrbücher und Instruktionen die Eigenschaften des idealen Polizisten 208

charakterisierten. Von ihm wurden erwartet »Ehrgefühl, Treue, Ehrlichkeit, Nüchternheit, Unbescholtenheit, Unbestechlichkeit, Wahrheitsliebe, Unparteilichkeit, Gerechtigkeit, Mut, Entschlossenheit, Tatkraft, ruhiges, ernstes, gesetztes Wesen, Zuvorkommenheit, Takt und Höflichkeit« - um nur die Uberschriften des Tugendkatalogs in einem der einschlägigen Lehrbücher zu zitieren.236 Diese Liste hervorragender Charaktereigenschaften war normative Vorgabe und Identifikationsangebot in einem. Sie zeigte dem Anwärter, welche hohen Erwartungen an ihn gestellt wurden, erlaubte es ihm aber auch, sich als Angehöriger einer moralischen Elite zu verstehen. Als allgemeine Leitnormen überbrückten die postulierten Polizistentugenden die Lücke zwischen praxisfernem theoretischen Wissen und konkreten Verhaltensanforderungen im Alltag; der Mangel an operationalisierten Handlungsregeln sollte durch internalisierte Tugenden ausgeglichen werden. Als Kernelement der Berufsideologie boten diese die Chance zur Stilisierung der eigenen Rolle und gaben dem Beamten die Möglichkeit, den Widerspruch zwischen angemaßter Autorität und öffentlicher Mißachtung zu glätten, der seinen Status so prekär machte. Ob sich die verbesserte Berufsausbildung der Polizeibeamten vor 1914 merklich auf ihr Verhalten auswirkte, läßt sich schwer entscheiden. Polizeiliche und damit parteiische Erfahrungsberichte urteilten positiv und hoben beispielsweise hervor, »daß das Auftreten der Polizeiexekutivbeamten dem Publikum gegenüber im Industriebezirk korrekter und taktvoller geworden ist und daß sich die Beamten ihrer schweren Pflicht und ihrer Befugnisse in höherem Maße bewußt geworden sind.«237 Unabhängig von solchen kaum nachprüfbaren, kurzfristigen Außenwirkungen lag die Bedeutung des Polizeischulwesens und des begleitenden Lehr- und Instruktionsmaterials darin, daß durch die Formalisierung der Ausbildung und die Formulierung eines spezifischen Dienstethos die innere Modernisierung der Polizeitätigkeit und ihre Distanzierung vom militärischen Vorbild gefördert wurden.238

6.4. Zusammenfassung Die Wandlungsprozesse, die die kommunale Polizei des Industriereviers in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende durchlief, lassen sich als Beispiel erzwungener Anpassung und Modernisierung einer Institution fassen, deren traditionelle Formen und Stabilitätsvoraussetzungen durch ihr Wachstum und ihre gewandelte Rolle in der Gesellschaft in Frage gestellt wurden. Nichtintendierte Wachstumsfolgen gefährdeten innere Stabilität und äußere Legitimität, boten zugleich aber auch Ansätze für eine Stabilisierung auf neuer Basis. 209

Die schleichende Demilitarisierung und komplementäre Proletarisierung der sozialen Herkunft preußischer Kommunalpolizisten entwertete die bisher als Basis politischer Loyalität, polizeilicher Autorität und innerer Disziplin für unerläßlich erachtete militärische Sozialisation der Beamtenanwärter. Das Vermeidungsverhalten der langgedienten Unteroffiziere war dabei sowohl Indikator wie Verstärker einer sozialen Degradierung der Polizeitätigkeit, deren weitere Anzeichen die ausgeprägte Statusinkonsistenz der Unterbeamten, hohe Fluktuationsraten und ein im Vergleich zu anderen Beamtengruppen niedriges Sozialprestige waren. Diese inneren Probleme verschärften die gleichzeitig sichtbar werdenden äußeren Schwierigkeiten. Wie am Beispiel der »Mißgriffswelle« um die Jahrhundertwende gezeigt werden konnte, geriet die preußische Polizei aufgrund ihres schnellen Wachstums und der damit verbundenen Spannungen und Reibungen, aufgrund zunehmender öffentlicher Sensibilität für die Grenzen der Staatsgewalt und die Rechte des Bürgers sowie aufgrund ihres inneren Strukturwandels in eine komplexe Krisensituation. Gegenüber diesen Momenten von Instabilität machten sich die stabilisierenden Wirkungen strukturellen Wandels vor allem in zwei Bereichen bemerkbar. Einmal bewiesen die Polizisten ziviler Herkunft eine deutlich höhere Bindung an ihre Tätigkeit als ihre militärnah rekrutierten Kollegen und schufen damit Voraussetzungen für die Konsolidierung der Institution. Zum anderen traten die lokalen Fachbeamten als treibende Kraft bei der Entwicklung eines spezifischen Berufsverständnisses hervor, das die Polizei sowohl von ihrem militärischen Vorbild als auch von der Leitwissenschaft der Jurisprudenz absetzte und ihr mehr eigenständiges Profil verlieh. Das Ergebnis von Strukturwandel, Krise und gewandeltem Selbstverständnis der Experten war die beginnende Verberuflichung der Polizei. Die sogenannte »Reform der Polizei« um die Jahrhundertwende war ein entscheidender Schritt zur Berufskonstruktion - freilich Berufskonstruktion im bürokratischen Gehäuse, wie mit Blick auf die Beamteneigenschaften der Polizisten zu ergänzen wäre.239 Nachdem der Bedeutungsverlust leistungsfremder Zugangsvoraussetzungen und die Homogenisierung der Mannschaften ständische Privilegierung zugunsten von Qualifikations- und Leistungskriterien zurückgedrängt hatten, unternahmen es in der Folgezeit Instruktionen, Lehrbücher und Dienstanweisungen, das geforderte Qualifikationsprofil zumindest in seinen Grundzügen zu definieren und damit gleichzeitig einen vorläufigen Kanon der Berufspflichten und Berufsinhalte zu fixieren. Die Befähigung zur Polizeiarbeit wurde von jetzt an in einem formalisierten Ausbildungsgang erworben, dessen Form und Inhalt spätestens seit der Vereinheitlichung des preußischen Polizeischulwesens 1909/12 staatlich definiert wurden und der mit einer Prüfung abgeschlossen wurde, die allein die Möglichkeit des Berufszugangs 210

eröffnete. Bei der Ausgestaltung der Berufsinhalte spielten zwar die Experten der unteren Ebene eine tragende Rolle, handelten dabei aber nicht im Sinne autonomer Professionals, sondern als Repräsentanten der Institution, von deren Anforderungen und Normen sie sich nicht emanzipieren konnten. Die bei Unterbeamten und noch stärker bei den Fachbeamten zunehmende Berufsidentifikation flankierte diesen Formierungsprozeß, zumal sie durch das offiziell propagierte Dienst- und Berufsethos gestützt und bestärkt wurde. Je mehr sich die Umrisse des Polizeiberw/s abzeichneten, desto mehr näherte sich auch das Personal an der Basis der Polizeihierarchie dem Typus des modernen Beamten an. Fachschulung, Bindung an allgemeine, fixierte Regeln und Ausbildung eines spezifischen »Standesehrgefühls« - hier am ehesten in der Identifizierung mit dem Beruf zu finden - sind konstitutive Merkmale des Beamten, die die Polizisten erst in dieser Umbruchphase erwarben.240 Die Verberuflichung löste letztlich auch »ein besonders delikates Problem«,241 nämlich das der Sicherung der Loyalität des Personals, das sich immer mehr aus den Bevölkerungskreisen ergänzte, zu deren Kontrolle und Disziplinierung es vorwiegend eingesetzt wurde. Auch wenn Fragen der politischen Loyalitätssicherung bei der Reformdebatte kaum offen diskutiert wurden, kann man vermuten, daß derartige Erwägungen eine Rolle spielten und eine verbesserte Ausbildung, berufsorientierte Fachvereine und ein den Dienst für den Staat und den Schutz für den Bürger verbindendes und verklärendes Amtsethos zur Festigung der Staatsloyalität beitrugen. Versucht man die Reichweite dieser Modernisierungstendenzen zu bestimmen, wird vor allem auf Grenzen hinzuweisen sein. Im wesentlichen handelte es sich um Veränderungen innerhalb der kommunalen Polizeikräfte, von denen die Verbände unter staatlicher Verwaltung in Berlin und anderswo nicht direkt betroffen waren. Zwar blieben auch Gendarmerie und Schutzmannschaften nicht von Krisensymptomen verschont, doch waren sie dort weniger ausgeprägt. Weil diese Verbände gegenüber den meisten kommunalen Verwaltungen einen gewissen Vorsprung hinsichtlich Personalausstattung, innerer Differenzierung und Bürokratisierung hatten und weil die staatliche Leitung kaum Abweichungen von militärischen Formen und militärnaher Rekrutierung akzeptierte und dies auch stärker als bei der kommunalen Polizei durchsetzen konnte, gingen die geschilderten Entwicklungen weitgehend an ihnen vorbei. Nur in den Städten des Industriegebiets war der Problemdruck genügend groß und ließ die Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat und Gemeinden in der Praxis ausreichende Freiräume, so daß es hier zu innovativen Ansätzen kam, die den Weg zu einer weniger militarisierten Großstadtpolizei mit qualifizierten Berufsbeamten hätten erleichtern können. Begrenzt blieb die innere Modernisierung der Polizei aber auch im Hinblick auf die Polizeientwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. Nach der Revolution 211

sah die preußische Regierung in einer paramilitärischen, im geschlossenen Verband handlungsfähigen, kasernierten Polizei die einzige Chance, sich im latenten Bürgerkrieg zu behaupten. Es liegt eine bittere Ironie in der Tatsache, daß sozialdemokratische Politiker, die im Kaiserreich zu den schärfsten Kritikern des polizeilichen Militarismus gehörten, die Ansätze einer demilitarisierten Polizei nach 1918 nicht aufgriffen und fortentwickelten, sondern statt dessen die Formierung einer Schutzpolizei zu verantworten hatten, die noch weit mehr als die königliche Schutzmannschaft dem militärischen Modell entsprach.242

212

7. Ruhe und Ordnung Zur Praxis polizeilicher Disziplinierung Ein Ausgangspunkt der bisherigen Erörterungen war die These, daß die Neubestimmung der Polizeifunktion in der Klassengesellschaft ein treibendes Motiv beim Ausbau und der Modernisierung des innerstaatlichen Gewaltapparates war. Seinen sichtbarsten Niederschlag fand dieser Paradigmenwechsel im Übergang von der dem Anspruch nach allzuständigen, tatsächlich aber schwachen Exekutive des »Polizeystaates«, die gegenüber Militär und gesellschaftlichen Gewalten bloß subsidiär agierte, zur personalstarken und im Alltag stets präsenten, potentielle Herde von Unruhe und Unordnung gezielt aufsuchenden Berufspolizei, die sich tendenziell auf die repressiven Funktionen von Ordnungssicherung und Gefahrenabwehr beschränkte und den wohlfahrtspolizeilichen Ballast abstreifte. Der diesem Formwandel zugrundeliegende Funktionswandel des innerstaatlichen Gewaltapparates hing auf doppelte Weise mit der Transformation von der Stände- zur Klassengesellschaft zusammen. Einerseits wurden einer expandierenden Spezialinstitution Ordnungs- und Disziplinierungsfunktionen zugewiesen, die vormals in den Kontext ständischer Herrschaft eingelagert waren. Dem Zuwachs an individueller Freiheit, den der Zerfall ständischer Bindungen, die Aufhebung der Mobilitätsschranken und die Anonymisierung des Lebens in der Großstadt mit sich brachten, stand der Bedeutungsgewinn staatlicher Kontrolle und Reglementierung entgegen, der sich in der modernen Polizei materialisierte. Andererseits zog der Polizeiausbau Schubkraft und Legitimation aus den neuen Konflikten in der Klassengesellschaft. Je mehr Verteilungskämpfe als politische Herrschaftskonflikte perzipiert wurden und je mehr sich die Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit mit dem Frontverlauf politischer Fundamentalkonflikte deckten, je mehr mit anderen Worten der Klassenbildungsprozeß von der ökonomischen und sozialen in die politische Dimension überging, desto mehr wuchs die Bedeutung eines leistungsfähigen Instruments, das die bestehenden Muster politischer Herrschaft und gesellschaftlicher Ungleichheit abschirmen konnte, ohne daß es gleich zum äußersten, zum Militäreinsatz kommen mußte. Der hier resümierte Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und institutioneller Expansion bzw. Modernisierung führt zu Hypothesen über die Schwerpunkte polizeilicher Praxis. Die Abschnitte zur Entwicklung der obrigkeitlichen Streikbekämpfung und zur Entstehung der Zechenweh213

ren ließen bereits erkennen, in welchem Ausmaß die Polizei Partei nahm und versuchte, die Austragung von Interessengegensätzen repressiv stillzulegen. Mehr offene und vor dem Hintergrund des Forschungsstandes auch spannendere Fragen ergeben sich aus der alltäglichen Disziplinierungsfunktion der Polizei. Wenn die Polizei die Lücken füllte, die der Niedergang ständischer Herrschaft hinterlassen hatte, mußte sich dieser Funktionszuwachs in ihrer praktischen Tätigkeit niederschlagen. Läßt sich dies nachweisen? Kann man von steigendem polizeilichen Disziplinierungsdruck gegenüber den Unterschichten allgemein und der Arbeiterschaft insbesondere sprechen? Welche Bereiche proletarischer Lebenswelt waren bevorzugter Gegenstand obrigkeitlichen Argwohns und mit welchen Maßnahmen griff die Polizei ein? Herrschte auf Seiten der Betroffenen Anpassungsbereitschaft gegenüber den obrigkeitlichen Verhaltenszumutungen oder erwies sich das proletarische Milieu eher als resistent oder gar widerspenstig gegenüber dem Ordnungsanspruch des Staates? Waren überhaupt Arbeiter als Klasse besonders intensiven Sanktionsmaßnahmen ausgesetzt oder traf der polizeiliche Zugriff »ordentliche« Arbeiter und »Lumpenproletarier«, polnische und deutsche Ruhrbergleute in unterschiedlichem Maße, so daß er mehr differenzierte als homogenisierte? Bevor versucht wird, Antworten auf diese Fragen zu geben, sind einige Voraussetzungen zu klären. So muß die polizeiliche Handlungsebene bestimmt werden, die Rückschlüsse auf die Disziplinierungspraxis der Institution zuläßt. Im Idealfall sind fünf Bedingungen zu erfüllen: Erstens muß es sich um Maßnahmen handeln, die eine gewisse Massenwirksamkeit hatten. Zweitens müssen sich die Eingriffe auf klassenspezifisches Verhalten beziehen, denn andernfalls ließe sich die spezifische Betroffenheit von Arbeitern kaum überprüfen. Drittens ist zu fordern, daß der Alltag im Verhältnis zwischen Polizei und Arbeitern erfaßt wird, die Routine im Revier und aufder Wache. Viertens muß die Polizei eine Schlüsselstellung im Sanktionsprozeß einnehmen und nicht bloß als Hilfsinstanz anderer Institutionen, etwa der Gerichte, auftreten. Fünftens muß die Aktivität der Polizei selbstverständlich in den Quellen ihren Niederschlag gefunden haben, so daß informelle Sanktionen, Schikanen oder Mahnungen weitgehend aus der Betrachtung ausscheiden. Die genannten Kriterien kreisen um den Bereich alltäglicher Ordnungssicherung. Das schwierige Wort »Alltag« soll hier ganz pragmatisch etwa im Sinne von Routine verstanden werden und setzt den interessierenden Gegenstandsbereich sowohl von der Verfolgung sozialdemokratischer Aktivisten als auch von den spektakulären, aber seltenen Streikeinsätzen der Polizei wie von der Bearbeitung schwerer Kriminalfälle ab. Damit soll nicht die Relevanz politisch-polizeilicher Eingriffe in die Klassenauseinandersetzungen im Kaiserreich bestritten werden. Aber abgesehen davon, daß von diesen Aspekten 214

polizeilicher Tätigkeit noch am meisten bekannt ist, geben sie immer nur einen kleinen, scharf umrissenen Ausschnitt aus dem Verhältnis zwischen Polizei und Arbeitern wieder - gewissermaßen die »Festtage«, falls dieser Ausdruck als Gegenbegriff zur modischen Alltagsmetapher erlaubt ist.

7.1. Die polizeiliche Strafgewalt 7.1.1. Reichweite

und rechtlicher

Rahmen

Die folgenden Abschnitte analysieren die Voraussetzungen, die Praxis und die Folgen routinemäßiger Kontrolle und Disziplinierung von Arbeitern in den Städten des westfälischen Ruhrgebiets überwiegend am Beispiel der unspektakulären, aber massenhaften Bagatelldelinquenz, die die zeitgenössische Rechtssprache als »Übertretung« bezeichnete. Wenn hiervon Übertretungen die Rede ist, dann nicht im Sinne einer beliebigen Normverletzung, sondern im Sinne einer klar definierten Kategorie von Rechtsverstößen. Formal bildeten die Übertretungen die niedrigste von drei Deliktkategorien, die das Reichsstrafgesetzbuch kannte, und umfaßten alle Verstöße, die mit Haft oder einer Geldstrafe bis zu einhunderfünfeig Mark bedroht waren. Schwerere Delikte wurden als »Vergehen« und »Verbrechen« bezeichnet.1 Die weitaus meisten Übertretungen wurden in Preußen nicht durch den Richter abgeurteilt, sondern im polizeilichen Strafverfahren geahndet. Daß die Polizei Gesetzesverletzungen nicht nur registrierte und verfolgte, sondern auch bestrafte, war schon im Vormärz auf grundsätzliche Kritik gestoßen. Niemals könne man erwarten, bemerkte 1848 ein Autor zu dieser Verschmelzung judikativer und exekutiver Funktionen, »daß da Vertrauen begründet ist, wenn der nämliche Beamte, der zuvor eine Anordnung erließ, dem die Vollziehung derselben obliegt, der in persönliche Berührung mit den Uebertretern kommt, auch seine Verordnung auslegt und dabei dreht und wendet, wie es ihm beliebt, wenn er über das Daseyn der Schuld entscheidet.«2 Diese am Modell der Gewaltenteilung orientierte Fundamentalkritik führte 1849 in Preußen zur vollständigen Aufhebung des polizeilichen Strafrechts, so daß nun selbst kleinste Verstöße von einem ordentlichen Gericht abgeurteilt werden mußten. 3 Wie andere Revolutionserrungenschaften fiel jedoch auch dieser Zuwachs an Rechtsstaatlichkeit der Restauration zum Opfer. Drei Jahre nach der Revolutionsverordnung verabschiedete das preußische Abgeordnetenhaus am 14.5.1852 ein Gesetz über die vorläufige Straffestsetzung bei Übertretungen, das die frühere Macht der Exekutive wiederherstellte.4 Die Aufhebung ihrer Strafbefugnis, so wurde zur Begründung der Restauration angeführt, habe »die zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung so nothwendige Autorität der Polizei-Behörden in ihrem Innersten 215

erschüttert.«5 Bloß in der durch französische Rechtstraditionen geprägten Rheinprovinz blieb es bis zum Beginn der achtziger Jahre bei der scharfen institutionellen Trennung zwischen exekutiven und judikativen Funktionen. Erst das »Gesetz betreffend den Erlaß polizeilicher Strafverfügungen wegen Übertretungen« vom 23. April 1883 beseitigte das rheinische Sonderrecht und schuf einen gesamtpreußischen Rechtszustand, der bis zum Ende des Untersuchungszeitraums Bestand hatte.6 Von den Befürwortern der polizeilichen Strafgewalt ist vor allem die Vereinfachung des Geschäftsgangs, die Entlastung der Gerichte und die Beschleunigung des Verfahrens zur Begründung herangezogen worden;7 tatsächlich gehen aber diese Effizienzargumente am Kern des Problems vorbei. Denn auch als die Befugnisse der Exekutive immer mehr an positive gesetzliche Grundlagen gebunden wurden, repräsentierte das polizeiliche Strafrecht vor allem die ungeteilte staatliche Macht gegenüber dem Untertan. Daß sich die exekutive Strafmacht auf eher unbedeutende Verfehlungen beschränken mußte, minderte ihre Bedeutung nicht. Gerade weil die Polizei bei den kleinen Verstößen und Regelverletzungen des täglichen Lebens als »strafende Obrigkeit« auftrat,8 entfaltete ihr Ordnungsanspruch außerordentliche Breitenwirkung.9 Das Recht der Polizei, Geld- oder Haftstrafen festzusetzen, erstreckte sich grundsätzlich auf alle Übertretungen. Allerdings war sie nicht berechtigt, das maximale Strafmaß dieser Deliktkategorie voll auszuschöpfen, sondern mußte sich auf Strafen bis zu einer Höhe von dreißig Mark bzw. drei Tagen Haft beschränken. Hielt der Polizeiverwalter eine härtere Bestrafung für angebracht, oder war die Sachlage unklar, mußte er den Fall an die Gerichte abgeben.10 Gewöhnlich verhängte er eine Geldstrafe, die im Falle der Zahlungsunfähigkeit in Haft umgewandelt wurde. Wenn man davon ausgeht, daß selbst eine kurzfristige Freiheitsentziehung eine weit stärker stigmatisierende Wirkung als eine Geldstrafe hat, lag in dem substitutiven Charakter der Haftstrafe eine sozial selektiv wirkende Strafverschärfüng, da nur derjenige ins Polizeigefängnis wanderte, der die Geldstrafe nicht aufbringen konnte. Die maximale Höhe der Polizeistrafe konnte für einen Arbeiter zu empfindlichen Einkommenseinbußen führen. Um 1900 entsprachen dreißig Mark immerhin dem halben Monatslohn eines durchschnittlichen Arbeitnehmers.11 Der Bestrafte konnte innerhalb einer Woche nach Bekanntmachung der Polizeiverfügung beim Amtsgericht die gerichtliche Entscheidung seines Falles beantragen. Dieses Recht band das Verfahren formal an den ordentlichen Gerichtsgang - gleichwohl blieb der Widerspruch vor Gericht die Ausnahme und der »kurze Prozeß« des polizeilichen Strafverfahrens die Regel. Hatte der Beschuldigte eine gerichtliche Überprüfung beantragt, konnte die Polizeibehörde - falls sie sich ihrer Sache nicht sicher war - den 216

Strafbefehl zurücknehmen und damit die Angelegenheit niederschlagen, so daß ihr die Blamage einer richterlichen Strafaufhebung erspart blieb.12 Von den quasirichterlichen Strafkompetenzen der Polizeibehörde sind ihre genuin exekutiven Eingriffsrechte zu unterscheiden. In unserem Zusammenhang ist das Recht zur polizeilichen Festnahme hervorzuheben, das die Beamten berechtigte, Bürger zu sistieren und für maximal vierundzwanzig Stunden festzuhalten, »wenn der eigene Schutz dieser Personen oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe diese Maßregel dringend erfordern.«13 Arrestierung und vorläufige Straffestsetzung waren die wichtigsten Mittel, mit denen die Polizei kontinuierlich regulierend, strafend und disziplinierend in das Leben der Bevölkerung eingriff. Bei der Analyse der polizeilichen Alltagspraxis sind zwei Faktoren zu berücksichtigen, die die Handhabung dieser Rechte entscheidend beeinflußten. Zum einen der unbedingte Strafverfolgungszwang, den das Legalitätsprinzip den Polizeibehörden auferlegte, und zum anderen die Schlüsselstellung, die die unteren Polizeibeamten »auf der Straße« im Sanktionsprozeß einnahmen. Das Legalitätsprinzip verpflichtete die preußische Polizei, jede bekanntgewordene Gesetzesverletzung zu verfolgen und zu bestrafen.14 Dieser auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinende Grundsatz war solange unproblematisch, wie es sich um schwere Delikte, etwa einen Diebstahl oder einen Mord handelte: Üblicherweise wurde die Tat von einer geschädigten Person angezeigt, die Polizei ermittelte den Täter und übergab den Fall an die Staatsanwaltschaft. Das Legalitätsprinzip wirkte hier im Idealfall als Garantie für Rechtsgleichheit, da die Polizei ihre Maßnahmen ungeachtet der Person von Täter oder Opfer treffen mußte. Brisant wurde der Grundsatz der bedingungslosen Strafverfolgungspflicht auf dem Feld polizeilicher Ordnungssicherung. Formal war jede Ordnungswidrigkeit, jeder Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung wie jede Überschreitung der Polizeistunde ein kriminelles Delikt, dem keine andere Rechtsqualität als etwa einem Diebstahl zukam. Aufgrund des Legalitätsprinzips hatte die Polizei auch in diesen Fällen die Pflicht, rigoros strafend einzuschreiten, ohne die Zweckmäßigkeit ihrer Maßnahmen im Einzelfall zu überprüfen. Das Alternativmodell zu dieser schematischen Gesetzesexekution wäre das »Opportunitätsprinzip« gewesen, das die Verfolgung der Ordnungsverstöße von den Umständen des Einzelfalles, der polizeitaktisch definierten Nützlichkeit der Maßnahme und anderen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig macht. Da das preußische Strafrecht derartige Opportunitätserwägungen auch bei der kleinsten Bagatelle ausschloß, wirkte das Legalitätsprinzip tendenziell in Richtung einer Maximierung des Sanktionsdrucks. In latenter Spannung zur Verfolgungspflicht des Legalitätsprinzips stand die zweite Determinante polizeilicher Ordnungsmaßnahmen, die Schlüssel217

rolle der exekutiven Beamten. Ordnungsverstöße gehörten überwiegend zur Kategorie von Normverletzungen, die in der angelsächsischen Polizei- und Kriminalsoziologie als »on-view«-Delikte bezeichnet werden, d.h. sie wurden nur dann registriert und bestraft, wenn ein Polizeibeamter sie selbst wahrnahm und verfolgte.15 Dies galt sowohl für die eher klassenunspezifischen Delikte als auch fur diejenigen Verstöße, die im Spannungsfeld klassenspezifisch divergierender Verhaltensnormen zu verorten sind. Ob ein Fuhrwerk zu schwer beladen war oder ob eine Gruppe von Arbeitern am Lohntag betrunken aus der Kneipe schwankte - fast immer ergriff der Sergeant oder Schutzmann von sich aus die Initiative. Weit mehr als bei jeder anderen Deliktkategorie geriet der Polizeibeamte damit in eine aktive Rolle. Die Zahl der registrierten und bestraften Übertretungen wird eng mit der Zahl der Beamten auf der Straße, mit der Häufigkeit ihrer Patrouillengänge und der Aufmerksamkeit zusammenhängen, mit der bestimmte Formen abweichenden Verhaltens beachtet wurden. Aller schematischen Gesetzesbindung zum Trotz verfügten die Schutzleute vor Ort über erhebliche Ermessensspielräume: Ob sie eine Normverletzung durch Wegschauen ignorierten oder mit aller Härte sanktionierten, hing von vielen, auch situativen Momenten ab, die im Einzelfall nur schwer zu rekonstruieren sind. Einen Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Deckungsgrad zwischen der durch das Legalitätsprinzip geforderten Totalverfolgung aller Verstöße und der real praktizierten Verfolgungsintensität geben die Instruktionen und Anweisungen, mit denen die Polizeibehörden versuchten, die Ermessenshandlungen ihrer untergeordneten Beamten zu steuern.16 Faßt man die verstreuten Belege zu dieser Frage zusammen, wird erkennbar, daß sich die preußischen Behörden lange Zeit vor allem darum bemühten, ihre Polizeibeamten zu intensiver Verfolgung aller Verstöße zu stimulieren. Die Arnsberger Regierung hielt die untergeordneten Behörden in den fünfziger Jahren mehrfach und unter Drohung mit Disziplinarmaßnahmen dazu an, ihre erweiterten Kompetenzen aus dem Gesetz von 1852 in vollem Umfang wahrzunehmen und die Übertretungen nicht etwa an die Gerichte abzuschieben, um selbst vom »Odium der Straffestsetzung« verschont zu bleiben.17 Sowohl bei der Ortspolizei als auch bei der Gendarmerie diente die Zahl der vorgelegten Anzeigen wegen Übertretungen zudem als Leistungsnachweis der Beamten. Da sie keine direkte Möglichkeit hatten, die allein agierenden Beamten zu überwachen, schlossen Polizeiinspektoren und Gendarmerieoffiziere aus der Zahl der Anzeigen auf deren Diensteifer. Ein Sergeant oder Schutzmann, der viele Anzeigen vorlegte, galt als guter Polizist. So verwies der Hagener Polizeichef vor allem auf die Vervielfachung der Anzeigen und Arrestierungen, als er den Leistungsunterschied zwischen dem neuen Schutzmannkorps und der bisherigen nebenamtlichen Nachtwache herausstreichen wollte.18 218

Auch mußten die Polizisten in vielen Städten sogenannte »Tätigkeitsbücher« fuhren, in denen sie ihre Denunziationen zu vermerken und damit Engagement oder Passivität zu dokumentieren hatten. Ein weiteres Verfahren zur Aktivierung der Straßenbeamten bestand darin, diesen tage- oder wochenweise die besonders aufmerksame Verfolgung bestimmter Delikte aufzugeben. 19 Zudem hatte die Kommune ein sehr handfestes Eigeninteresse an einer hohen Zahl von Strafverfolgungen. Als Trägerin der Ortspolizei standen ihr nämlich die »Früchte der Polizeiverwaltung« zu, wie ein Ministerialerlaß von 1 8 7 6 die Strafgelder blumig titulierte.20 Das ganze institutionelle und normative Arrangement polizeilicher Alltagskontrolle war auf zunehmenden Sanktionsdruck gegen abweichendes Verhalten angelegt. James Q. Wilson hat dieses Grundmuster in seiner anregenden Studie zu den Bedingungen polizeilichen Sanktionshandelns als »legalistic style« bezeichnet: 21 Je mehr die Polizeifuhrung sich bemüht, die Ermessensund Entscheidungsspielräume der Beamten zugunsten einer strengen Handhabung des Legalitätsprinzips einzuengen, desto weniger Spielraum wird für informelle Reaktionen auf Normabweichungen und für Sanktionsformen unterhalb der Schwelle von Strafe und Festnahme bleiben. Mit diesem Rigorismus hängt zusammen, daß der legalistische Sanktionsstil bei Ordnungsverstößen mit ihren oft schwammigen Deliktdefinitionen außerordentlich unflexibel und intolerant auf Verhaltensformen reagiert, die von den zum Normalmaß hypostasierten Standards »guten Benehmens« abweichen.22 Das Strafverfügungsrecht und das Recht zur Arrestierung gaben der preußischen Polizei weitreichende Macht, um in alle Lebensbereiche einzugreifen. Eine inhärente Tendenz zu unnachsichtiger Härte resultierte dabei weniger aus unkontrollierter polizeilicher Willkür als aus einem zum Schematismus geronnen Legalitätsprinzip.

7.1.2. Die 7.1.2.1. Polizeiverordnungsrecht

und

Strafnormen Deliktgruppen

Anders als das Recht zur kurzfristigen polizeilichen Festnahme, das durch eine schwammige Generalklausel weniger begrenzt als in unbestimmte Breite ausgedehnt wurde, war die Ausübung des Polizeistrafrechts an die Voraussetzung bestimmter Ge- oder Verbotsnormen gebunden. Wie im übrigen Strafrecht galt auch hier der Grundsatz »nulla poena sine lege«.23 Ein Teil der Ubertretungstatbestände wurde durch das Reichstrafgesetzbuch von 1871 festgelegt, dessen Paragraphen 360 bis 370 über siebzig Einzeldelikte definierten. 24 Daneben galt der Verstoß gegen eine Anzahl weiterer Reichs- und Landesgesetze als Übertretung. Schließlich griff das Strafrecht der Exekutive 219

bei jeder Mißachtung einer »Polizeiverordnung«. Anders als die süddeutschen Staaten, die den Kanon der nicht durch besondere Reichs-und Landesgesetze definierten Delikte in eigenen, als ordentliche Landesgesetze verabschiedeten »Polizeistrafgesetzbüchern« verbindlich kodifiziert hatten, gestand Preußen seiner Polizei das Recht zu, ihre Eingriffsanlässe selbst zu definieren.25 Der § 6 des Polizeigesetzes vom 11.3.1850 ermächtige die Ortspolizeibehörden zum Erlaß allgemeingültiger Bestimmungen, deren Übertretung generell in den Kompetenzbereich des polizeilichen Strafverfügungsrechts fiel. Analoge Befugnisse hatten Kreis-, Bezirks- und Provinzialverwaltungen.26 Das Polizeigesetz versuchte zwar, den Inhalt der Verordnungen durch die Aufzählung einzelner Gegenstandsbereiche - Verkehr, Marktordnung, Bausicherheit, Feld- und Forstschutz u.a. - einzugrenzen, gestand den Poüzeiverwaltern aber in einer offenen Generalklausel zu, auch »alles andere, was im besonderen Interesse der Gemeinden und ihrer Angehörigen polizeilich geordnet werden muß«, in entsprechende Verordnungen zu gießen.27 Wenn die eigenständige Strafbefugnis der Polizei in die Domäne der Judikative einbrach, bedeutete das Polizeiverordnungsrecht eine Delegation legislativer Kompetenzen an die unteren und mittleren Verwaltungsbehörden. Denn auch wenn sie nicht so bezeichnet wurde, war die Polizeiverordnung »materiell, d.h. ihrem Inhalt nach, Gesetz.«28 In der Praxis führte diese Rechtsetzungsbefugnis dazu, daß jede größere Gemeinde und jeder Regierungsbezirk über eigene Gesetzbücher mit oft hunderten von Verordnungen verfügte.29 Unterhalb des Reichs- und Landesrechts blühte eine bunte Vielfalt lokalen und regionalen Sonderrechts, über das oft nicht einmal die Polizeiverwalter einen vollständigen Uberblick hatten. Laufend wurden neue Verordnungen erlassen, selten machte man sich die Mühe, eine veraltete Bestimmung wieder aufzuheben, denn: »Es regiert sich hundertmal angenehmer, wenn man immer ein paar alte Verordnungen in petto hat, die man je nach Bedürfnis bald hervorholen, bald schlummern lassen kann! Wer ist geneigt, eine solche Waffe aus der Hand zu geben? Die preußische Bürokratie anscheinend nicht.«30

Die rastlose Produktion neuer Verordnungen ließ beispielsweise in Bochum zwischen 1864 und 1905 die Liste der durch Strafverfügung geahndeten Übertretungen von 20 auf 141 Delikte anschwellen. Die Zahl der innerhalb eines Jahres bestraften Bürger wuchs von 332 auf 13.412.31 Um Ordnung in die unüberschaubare Kasuistik der Straflisten zu bringen und ein Minimum an Vergleichbarkeit sowohl in der diachronen wie synchronen Dimension zu gewährleisten, werden die in den städtischen Verwaltungsberichten überlieferten Deliktlisten, in denen angegeben ist, wieviele Leute wegen welcher Übertretungen pro Jahr bestraft wurden, hier in drei 220

Gruppen unterteilt. Die Bezeichnungen »Ordnungs-«, »Melde-« und »Wohlfahrtsdelikte« sind weder dem Wort nach noch hinsichtlich der durch sie gruppierten Tatbestände zeitgenössisch, sondern hier eingeführt, um handhabbare Großkategorien zu gewinnen. Die erste und für die Untersuchung bei weitem interessanteste Gruppe bilden die Ordnungsdelikte.32 Ihr werden alle Tatbestände zugeschlagen, die sich auf »gutes« und »schlechtes« Benehmen in der Öffentlichkeit bezogen oder Materien zu regeln beanspruchten, die eng mit der Lebensweise und Lebenswelt von Arbeitern verbunden waren. Vor allem gehört in diese Gruppe das Delikt des »groben Unfugs«, das weiter unten noch etwas eingehender erläutert werden soll. Weiter werden hier Verstöße rubriziert wie: »In der Öffentlichkeit gebadet«, »verbotenen Stock getragen«, »Urinieren auf der Straße«, »Störung auf der Straße in betrunkenem Zustand«, »Belästigung von Passanten« oder »Konkubinat«. Außer diesen Verhaltensdelikten eifaßt die erste Gruppe alle Verstöße, die mit dem Kost-und Quartiergängerwesen, mit Alkoholkonsum und Gastwirtschaften sowie dem Besuch der Fortbildungsschule zusammenhingen. Schließlich gehören hierzu noch die kleinen, als Übertretung geahndeten Eigentumsdelikte, besonders aus dem Bereich der Forst- und Feldschutzbestimmungen. 33 Die zweite Gruppe sind die Meldedelikte, d.h. alle Verstöße gegen Bestimmungen, die die polizeiliche Meldung von Zu- und Abzügen sowie innerstädtischer Umzüge regelten. Die Meldedelikte werden vor allem wegen ihrer außerordentlichen Häufigkeit in einer eigenen Gruppe zusammengefaßt. Oft stellten sie mehr als ein Drittel aller polizeilichen Strafverfolgungen. Zugleich hängen diese Verstöße aufs engste mit der großen Mobilität der zuwandernden oder fluktuierenden Arbeiterschaft zusammen und markieren eine Ebene, auf der Arbeiter massenhaft mit der strafenden Polizei in Berührung kamen, ohne daß man Verstoß und Strafe schon als Ausdruck eines klassenspezifischen Wertkonflikts ansehen könnte. Die in der dritten Gruppe zusammengefaßten Übertretungen sollen hier mangels einer besseren Alternative als Wohlfahrtsdelikte bezeichnet werden. Formal ist damit eine Residualkategorie gemeint, unter die alle Verstöße subsumiert werden, die weder zur ersten noch zur zweiten Gruppe gehören. Inhaltlich umreißt sie eine Fülle von Tatbeständen, die man dem Bereich der »Wohlfahrtspolizei« im weiteren Sinne zuordnen muß: Bestimmungen, die den Marktverkehr ordneten oder Handel und Gewerbe regelten, Hygieneund Baupolizeiverordnungen oder Richtlinien zur Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit, etwa beim Brandschutz. Eine umfangreiche Teilgruppe stellten die zahlreichen Straßenverkehrsverstöße. Der Bochumer Verwaltungsbericht von 1905 weist hierzu allein 36 Einzeltatbestände aus. Etliche Wohlfahrtsdelikte hatten insofern scharfe klassenmäßige Konturen, als die Deliktfähigkeit an den Betrieb eines selbständigen Gewerbes gebunden war. 221

Der größte Teil der Markt- und Gewerbeverordnungen gehörte hierzu.34 Soweit möglich, sollen diese Verstöße der Selbständigen, die gewissermaßen ein Gegenstück zu den spezifisch proletarischen Ordnungsdelikten bildeten, gesondert betrachtet werden, um die klassenspezifische Belastung durch polizeiliche Regulierungs- und Sanktionsmaßnahmen auch von der anderen Seite her überprüfen zu können. Der größte Teil der in der dritten Gruppe zusammengefaßten Übertretungen blieb aber - wie z.B. die Straßenverkehrsbestimmungen - sozial indifferent.35 Die langfristige Übersicht über die Entwicklung des Spektrums polizeilich verfolgter und bestrafter Handlungen, wie ihn Tab. 1 am Beispiel der Stadt Bochum bietet, zeigt, daß sich die Zahl derartiger Delikte im Laufe des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses und parallel zum Polizeiausbau vervielfachte. Tab. 1: Die Zunahme der polizeilich bestraften Delikte am Beispiel der Stadt Bochum (1860-1908)36 Jahr

1860 1866 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1908

Ordnungsdelikte 6 7 10 7 18 12 10 12 24 38 26

Meldedelikte

1 1 2 3 3 2 3 4 5 3 2

Wohlfahrtsdelikte 10 14 17 32 34 36 36 47 60 99 50

Zusammen

17 22 29 42 55 50 49 63 89 140 78

Die Gesetzgebung und die Verordnungspraxis der Lokalverwaltung schufen immer neue und feiner spezifizierte Eingriffsanlässe für die Polizei. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß die Vermehrung der Delikte nicht automatisch eine entsprechende Vermehrung der Bestrafungen nach sich zog. Nicht selten handelte es sich um hochspezialisierte Tatbestände, die die Polizei nur selten registrierte: 1905 führte der Bochumer Verwaltungsbericht allein 65 Übertretungsdelikte auf, die weniger als zehnmal bestraft wurden.37 Den größten Zuwachs konnte die Gruppe der Wohlfahrtsdelikte verzeichnen, die sich zwischen 1860 und 1905 gut verzehnfachte. Die Vermehrung dieser Delikte ging vor allem auf das Konto der Straßenverkehrsbestimmungen, die zwischen 1870 und 1905 von 6 auf 36 Einzeldelikte anstiegen, gefolgt von Verordnungen zur Regulierung von Markt, Handel und Gewerbe (1870:4222

1905:21) und solchen, die dem Schutz von Gesundheit und Hygiene dienten (1870:0-1905:13). 38 Verkehrsregelung, Lebensmittelüberwachung, Regulierung des Gewerbebetriebes und Sicherung öffentlicher Hygiene waren Tätigkeitsfelder der öffentlichen Verwaltung, die im Zuge der Verstädterung immer mehr Bedeutung gewannen. Die anschwellende Zahl der entsprechenden Polizeibestimmungen und -strafen bildete das ordnungspolizeiliche Pendant zur expandierenden kommunalen Leistungsverwaltung.39 Sie verweist auf die ungebrochene Bedeutung polizeilicher Ordnungs- und Regulierungsmaßnahmen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu den politischen und sozialen Konflikte in der Klassengesellschaft standen.

7.1.2.2. »Grober Unfug« und die »Standesauffassungen von guter Sitte« »Mit Geldstrafe bis zu einhunderfiinfzig Mark oder mit Haft wird bestraft, wer ungebührlicher Weise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt«, forderte § 360, Absatz 11 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871. Nach dieser Bestimmung wurden im Jahre 1900, das hier als beliebiges Beispiel herausgegriffen sei, in der Stadt Hagen 601, in Bochum 997, in Gelsenkirchen 713 und in Dortmund 3190 Leute polizeilich bestraft. Außerdem wurden im selben Jahr in Gelsenkirchen 508 und in Dortmund 2266 Personen unter Berufung auf diesen Paragraphen vorläufig festgenommen. 40 Die Verübung von Unfug war der häufigste Grund zur polizeilichen Arrestierung und wurde nur manchmal von den Meldedelikten und den Schulversäumnisstrafen übertroffen. Unfug war das Massendelikt im Industrierevier und stellte den mit Abstand größten Teil der polizeilich registrierten Ordnungsverstöße - Grund genug, diesen auf den ersten Blick so unscheinbaren und belanglos wirkenden Tatbestand etwas genauer zu betrachten. Die Regelung des Strafgesetzbuches ging auf preußische Strafbestimmungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zurück, die das Delikt noch enger gefaßt hatten. Das Allgemeine Landrecht bedrohte in seinem Tl. H, Tit. 20, § 183 »mutwillige Buben, welche auf den Straßen, oder sonst, Unruhe erregen oder grobe Unsittlichkeiten verüben« mit körperlicher Züchtigung oder Haftstrafe. 41 Daß mit dieser Regelung nicht nur die Erregung öffentlicher Straßenunruhe belangt werden sollte, machte die vier Jahre später ergangene »Tumultverordnung« vom 30.11.1798 sehr klar. »Unruhe« und »Unsittlichkeit« der »mutwilligen Buben« wurden dort vor allem als Keim möglicher Volksaufläufe, als Anknüpfungspunkt für Protest und Tumult gesehen und unterdrückt. Eine Verordnung zur »Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der dem Gesetze schuldigen Achtung« vom 17.8.1835 griff direkt auf diese stark politisierte Konnotation der Straßenunruhe zurück und führte erstmals den Begriff des »Unfugs« ein.42 Im 223

Landrecht und den nachfolgenden Verordnungen wurde somit »der Unfug lediglich als prophylactische Maßnahme gegen Aufruhr und Tumult behandelt und darum unter die Verbrechen gegen die innere Ruhe und Sicherheit des Staates gestellt.«43 Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 gab diese enge Deliktdefinition, die unter Unfug Straßenunruhen und ihre potentiellen, die Sicherheit des Staates tangierenden Weiterungen verstand, zugunsten eines sehr unbestimmten, mehr auf die »Störung der Gesellschaftsordnung«44 als die Gefährdung der Staatssicherheit rekurrierenden Delikts auf, dessen ursprünglich politische Implikationen nur noch aus seiner Zuordnung zu den »Übertretungen in Beziehung auf die Sicherheit des Staates und die öffentliche Ordnung« zu erschließen waren.45 Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ließ auch diese Begrenzung fallen, so daß am Ende »nur noch der vieldeutige Ausdruck >Unfug< ohne jede Beziehung und Beschränkung« blieb und damit »die Möglichkeit einer ganz vagen Auslegung« gegeben wurde.44 Als »grober Unfug« galt fortan jede »relativ intensive Störung, Belästigung, Gefährdung des Publikums, welche als ein der Sitte und den Regeln des Verkehrs widersprechendes Gebahren der Allgemeinheit als Verletzung der öffentlichen Ordnung erscheinen.«47 Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben in den folgenden Jahren versucht, dem § 360,11 RStGB das »Kautschukartige«48 zu nehmen und ihm durch die Formulierung verbindlicher Auslegungsregeln faßbare Konturen zu geben. Auch wenn sie damit wenig Erfolg hatten und Richtern wie Polizei bei seiner Anwendung bis zuletzt ein »fast schrankenloses Ermessen«49 zugestanden wurde, läßt der Juristendiskurs zum Unfugproblem doch erkennen, warum ausgerechnet dieses Delikt wie kaum ein anderes geeignet war, der Polizei als nahezu universelle Legitimation einer sozial selektiven Disziplinierungspolitik zu dienen. Erstens verstand man unter Unfug stets ein öffentliches Fehlverhalten, das sich - so die einhellige Meinung aller Interpreten - nicht gegen ein bestimmtes Individuum und dessen Interessen richtete, sondern das »Publikum« insgesamt störte, belästigte oder bedrohte. Die »öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung« zu sichern, war aber Amt der Polizei, die hier ex officio einzuschreiten hatte. Sein doppelter Bezug auf die Öffentlichkeit machte den Unfug zum klassischen Polizeidelikt, denn die Polizei überwachte die Öffentlichkeit und vertrat nach ihrem Verständnis das öffentliche Interesse.50 Zweitens sahen viele Praktiker in Justiz und Polizei im § 360,11 ein »subsidiäres Strafgesetz«,51 das immer dann zum Zuge kam, wenn man eine Handlung zwar fur verwerflich und strafwürdig hielt, diese aber durch keinen Spezialtatbestand pönalisiert war. Besonders den unteren Polizeibehörden war ein solcher »Aushilfsparagraph«52 sehr willkommen, da er ihnen die Möglichkeit bot, auch dann strafend einzugreifen, wenn das betreffende 224

Verhalten als solches nicht verboten war. Nicht nur die Polizei, auch viele Gerichte folgten in der Praxis der alten Juristenweisheit: »Was man nicht subsumieren kann, sieht man als groben Unfug an.«53 Drittens haben Rechtsprechung und -auslegung der Deliktdefinition einen stark präventiven Charakter gegeben. Der durch die Unfughandlung ausgelöste Schaden war mit Begriffen wie »Störung« oder »Beunruhigung« ohnehin schon außergewöhnlich nebulös umschrieben. Diese Unscharfe steigerte sich jedoch dadurch bis zur Beliebigkeit, daß es nach stehender Rechtsprechung »zur Annahme des groben Unfugs nicht erforderlich sei, daß durch die Tat die öffentliche Ordnung bereits wirklich gestört worden sei, daß dazu vielmehr eine Handlung genüge, die zu einer solchen Störung geeignet sei.«54 Da schon die Möglichkeit der Beunruhigung eines unbestimmten »Publikums« durch eine nicht explizit verbotene Handlung ausreichte, um eine polizeiliche oder gerichtliche Bestrafung auszulösen, ließ sich als grober Unfug praktisch jedes öffentliche Verhalten sanktionieren, das dem Polizeibeamten aus welchen Gründen auch immer als abweichend oder ungebührlich erschien. Es war gerade diese völlige Unbestimmtheit und der daraus resultierende »ganz abnorm weite« Ermessensspielraum,55 die den Unfugparagraphen zum »catch-all«-Delikt und idealen Instrument polizeilicher Ordnungssicherung machten. Zugleich lag in der inhaltlichen Unbestimmtheit ein inhärenter Druck in Richtung einer sozial selektiven Disziplinierung öffentlichen Verhaltens. Wo sich nämlich die Strafbarkeit einer Handlung nicht aus einer positiven, inhaltlich faßbaren Rechtsnorm herleiten läßt, rekurriert sie ausschließlich auf variable »Sozialnormen«.56 In einer Gesellschaft, die immer mehr von der Existenz divergierender, sich tendenziell um Klassenpositionen kristallisierender Wertmuster geprägt war, wäre es aber eine Fiktion, von allgemeingültigen Sozialnormen auszugehen, über deren Verbindlichkeit Konsens herrscht - im Gegenteil. Wie die endlosen bürgerlichen Klagen über die »Sittenlosigkeit« des Proletariats zeigen, manifestierten sich die Spannungen in der Klassengesellschaft schon früh in polarisierten Wertsystemen. Auf welcher Seite die Polizei die Referenzebene ihrer Ordnungseingriffe fand, kann man sich unschwer vorstellen. Zwar gab es gegen Ende des Untersuchungszeitraums vereinzelte Stimmen, die forderten, bei der Bestimmung dessen, was strafbarer Unfug und was Normalität sei, wäre »in den Fabrikstädten und im Arbeiterviertel.. bisweilen ein Sondermaßstab anzulegen«57 - den Regelfall beschrieben sie aber nicht. Dieser wurde weit treffender durch das Wörterbuch des Verwaltungsrechts charakterisiert, das zum »dehnbaren Begriff des groben Unfugs« anmerkte: »Das richtcrliche Beamtentum hat dadurch in Deutschland eine ganz außerordentliche, anderswo kaum wiederzufindende Gewalt bekommen, um seine Standesauffassungen von guter Sitte auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens zwangsweise zur Geltung zu bringen.«58

225

Dieser Satz formuliert die Quintessenz des Unfugproblems - mit einer Einschränkung. Die überwältigende Zahl aller Strafsachen, die auf den § 360,11 RStGB Bezug nahmen, gelangte nie vor den Stuhl des Richters. Es war vor allem die Polizei, die ihre »Standesauffassungen von guter Sitte« mit dem Mittel der Strafverfügung exekutierte. Der unbestimmte Rahmen des Delikts hatte zur Folge, daß in der Praxis die verschiedensten Verhaltensformen unter das Verdikt des Unfugparagraphen fielen. In der bunten Kasuistik der Einzelfälle zeichnen sich vor allem zwei Tendenzen ab. Einmal nutzte der Staat den § 360,11 RStGB nach 1890 immer häufiger zur politischen Verfolgung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Da sich Polizei und Justiz nach dem Scheitern des Sozialistengesetzes nicht mehr auf eine antisozialdemokratische Sondergesetzgebung berufen konnten, zogen sie den Unfugparagraphen als subsidiäres politisches Strafgesetz heran und definierten kurzerhand so gut wie jede öffentliche Aktivität der Sozialdemokraten als strafbaren Unfug. Ob es sich um das Aushängen einer roten Fahne oder die Verwendung roter Kranzschleifen bei der Beerdigung eines Parteimitgliedes handelte, ob die Teilnehmer einer Versammlung ein Hoch auf die internationale Sozialdemokratie ausbrachten oder ob man zum Boykott eines Unternehmens aufrief - in allen Fällen konnte wegen Unfugs bestraft werden. Auch gegen Streikposten brachte man den Universalparagraphen in Stellung und selbst die bloße Beteiligung an einer sozialdemokratischen Kundgebung konnte in Preußen mit einer Bestrafung wegen groben Unfugs enden.59 Während diese hochpolitische Auslegung des § 360,11 vorwiegend Sache der Gerichte war, da sozialdemokratische Aktivisten gegen eine polizeiliche Strafverfugung wohl in allen Fällen Widerspruch erhoben, spielte sich die zweite hauptsächliche Nutzung auf der eher unauffälligen Ebene der Polizeireviere und Strafbüros ab. Hier nahm das Delikt Massencharakter an, so daß pro Jahr in einer Stadt wie Dortmund einige Tausend Leute von entsprechenden Strafmaßnahmen betroffen waren. Wegen Unfugs wurde gestraft, wenn einige Arbeiter laut sprechend oder singend durch die Straßen gingen, wenn sich ein Bergmann vor seinem Haus wusch oder badete, wenn sich jemand auf einer Parkbank niederlegte, wenn mit einer Peitsche geknallt oder einem Polizisten die erbetene Hilfe verweigert wurde. Die Belästigung »anständiger Frauen« wurde als Unfug rubriziert, ebenso wie das Fußballspielen auf der Straße. Auch kam es vor, daß sich ein Kutscher eine Strafe wegen Unfugs einhandelte, weil er am Sonntag nach dem Pferdefüttern »die Straße in auffällig zerrissener Kleidung passirt und dadurch Anstand und Sitte verletzt« haben sollte.60 Besonders intensiv nutzte die Polizei das Delikt, wenn es galt, den Konsum von Alkohol zu reglementieren. Alkoholmißbrauch galt vielen Beobachtern als eine der entscheidenden Ursachen individuellen Elends wie gesellschaftlicher Mißstände, und wurde gerade im westfälischen Industrie226

bezirk als typisch proletarisches Verhalten angesehen, dem die Polizei gegensteuern sollte. Obwohl weder der Konsum von Bier und Schnaps noch die Trunkenheit selbst strafbar waren, war es im westfälischen Industriegebiet gängige Polizeipraxis, Leute, die sich »in einem Zustande der Trunkenheit öffentlich zeigen«, vorläufig festzunehmen und nach ihrer Entlassung wegen groben Unfugs zu bestrafen.61 Die Liste der Beispiele ist nicht vollständig und kann es angesichts der flüssigen Deliktdefinition auch nicht sein. Worum es geht, sollte aber durch diese wenigen Hinweise deutlich geworden sein: In der Polizeipraxis des Industriereviers war Unfug ein Schibboleth für alles, was der bürgerliche und bürokratische Diskurs als proletarische Unordnung, Sittenlosigkeit, Roheit und Aufsässigkeit perhorreszierte. Durch keine verläßliche Tatbestandsdefinition beschränkt und durch keine verbindlichen Auslegungsregeln diszipliniert, schlugen die nur scheinbar selbstverständlichen, tatsächlich aber eng mit klassen- und schichtenspezifischen Wertmustern verwobenen informellen Ordnungsnormen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Gruppen handlungsleitend auf das Strafverhalten der Polizei durch. Die Ordnungsstandards von Gruppen wohlgemerkt, die sich durch die Fremdheit und Unruhe der neuen Klasse zutiefst verunsichert und bedroht sahen. Im »groben Unfug« so wie ihn die Polizei verstand - manifestierte sich die polizeiliche Bearbeitung dieses klassenspezifischen Wertkonflikts deutlicher als anderswo - gerade weil dieser Verstoß auf den ersten Blick so undeutliche Konturen hatte.

7.2. Exkurs zur Methode: Deliktstatistiken und Polizei Im Jahre 1870 nahm die Dortmunder Polizei 389 Leute wegen »Verübung groben Unfugs, Straßenlärms, Trunkenheit, Subsistenz-, Arbeits- und Obdachlosigkeit« fest. Bei einer Bevölkerung von 39.385 Personen entsprach dies einer Rate von 9,88 Festnahmen pro 1000 Einwohner. Sechs Jahre später, im Jahre 1876, hatte sich die absolute Zahl der Festnahmen in dieser Kategorie auf 1752 und die Rate auf einen Wert von 30,98 erhöht.62 Wie läßt sich die spektakuläre Vervierfachung der absoluten und Verdreifachung der relativen Delikthäufigkeit erklären? Man könnte in dieser Zunahme die soziale Bugwelle von Gründerhausse und Gründerkrach sehen; die desintegrierenden und destabilisierenden Folgen von Boom und Krise, von schubartiger Wanderung und rasantem Städtewachstum. Die Bevölkerung der Stadt wuchs zwischen beiden Eckdaten um mehr als 43% und allein im Jahre 1873 durchzog Dortmund ein Wandererstrom in der Größenordnung von 40% der Einwohnerschaft.63 Der Bürgermeister der nicht weit entfernten Stadt Oberhausen notierte in diesen Jahren: »vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein Sang und Soff an 227

allen Ecken und Enden.... Man sah nicht nur trunkene und singende Männer und Frauen, sondern auch trunkene Kinder auf den Straßen.«64 Man könnte die Polizeistatistik als nüchterne Bestätigung dieses Urteils lesen. Aber auch eine andere Interpretation kann Plausibilität für sich beanspruchen. Daß sich die Unruhe auf den Straßen, Reibungen und Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in diesen Jahren verstärkt haben, ist gut möglich, würde man aus dieser Sicht argumentieren. Unmöglich ist es allerdings, diese Veränderung aus der polizeilichen Arreststatistik abzulesen, da diese immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit präsentiert, dessen Umfang vor allem von den Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden bestimmt wird. Nicht ökonomische oder demographische Umbrüche hätten aus dieser Sicht als entscheidende Determinanten der Häufigkeit registrierter Delikte zu gelten, sondern die Strukturreform der Dortmunder Polizei zur Mitte der siebziger Jahre. Die Abschaffung der nebenamtlichen Nachtwache und die Einfuhrung einer flächendeckenden, vierundzwanzigstündigen Polizeiüberwachung durch Berufsbeamte im Jahre 1874 verbesserte schlagartig die Möglichkeit des Apparats, gegen den proletarischen »Unfug« vorzugehen - die Statistik legt davon Zeugnis ab.65 Soll die Wahl zwischen den angedeuteten Interpretationsalternativen nicht willkürlich sein, wird man Erkenntnisinteresse, theoretische Voraussetzungen und methodische Implikationen beider Positionen prüfen müssen. Daß eine theoretisch-methodologische Klärung als Voraussetzung einer stichhaltigen Analyse historischer Kriminalstatistiken unumgänglich ist, ergibt sich aus der Möglichkeit zweier widersprüchlicher, aber in sich stimmiger Deutungen desselben Phänomens. Die meisten kriminalitätshistorischen Untersuchungen, die die überlieferten Statistiken von Polizei und Gerichten nutzen, sind an der Verbreitung und den Ursachen kriminellen Verhaltens interessiert.66 Das Erkenntnisinteresse der ätiologischen Fragestellung ist aufdie Täterseite gerichtet. Die Häufigkeit registrierter Delikte gilt als Indikator für die Häufigkeit eines entsprechenden Verhaltens, dessen Ursachen man durch den Vergleich mit einem variierenden Set unabhängiger Variablen auf die Spur zu kommen hofft. Ob dabei die Bewegung der Diebstahlshäufigkeit mit den Ausschlägen der Getreidepreise korreliert wird, der Einfluß von Migration und Urbanisierung auf die Entwicklung der Gewaltkriminalität überprüft oder der Industrialisierungsgrad von Regionen mit ihrer spezifischen Delinquenzbelastung verglichen wird - Ausgangspunkt ist stets die Annahme, daß die überlieferten Gerichtsoder Polizeidaten ein prinzipiell zutreffendes Bild von der Häufigkeit eines bestimmten Verhaltens geben, da andernfalls jede quantifizierende Analyse unter dieser Fragestellung nutzlos wäre. Diese scheinbar selbstverständliche Voraussetzung wird sofort problematisch, wenn man berücksichtigt, daß jede Kriminalstatistik nur die Menge der bekanntgewordenen, registrierten Normverletzungen nachweist, der ein 228

»Dunkelfeld« unentdeckter Verstöße gegenübersteht. Wie sich beide Größen zueinander verhalten, wird zur Krux aller täterorientierten Interpretationen von Kriminalstatistiken. Denn nur wer angeben kann, bis zu welchem Grad die registrierte Delinquenz mit der realen Kriminalitätsbelastung der Gesellschaft übereinstimmt, kann aus den Ausschlägen der Delikthäufigkeit begründete Schlüsse hinsichtlich des Verhaltens der Täter ziehen.67 Altere Arbeiten glaubten dieses Problem dadurch zu lösen, daß sie eine konstante Relation zwischen beiden Größen annahmen, die sich über die Zeit nicht nennenswert ändere, so daß ein Anstieg oder Fall der erfaßten Delikte mit einer gleichgerichteten und gleichstarken Veränderung des Dunkelfeldes verbunden wäre und vice versa. Es hätte nicht erst der modernen Dunkelfeldforschung bedurft, um diese These vom konstanten Verhältnis in den Bereich kriminologischen Wunschdenkens zu verweisen. Auch einfache Plausibilitätsüberlegungen lassen schnell erkennen, daß von einem festen Verhältnis zwischen erkannter und unerkannter Kriminalität nicht die Rede sein kann. So werden beispielsweise schwere und seltene Verbrechen - etwa Tötungsdelikte - weitaus vollständiger angezeigt und registriert als leichte und häufige Verstöße - etwa ein Holzdiebstahl. Das deliktspezifische Dunkelfeld wird in beiden Fällen erheblich differieren. Die Zahl der registrierten Tötungen liegt viel näher an der Menge der realen Fälle, als dies bei den Holzdiebstählen der Fall ist. Vollends unkalkulierbar wird die Repräsentativität von Kriminalstatistiken bei Delikten »ohne Opfer«, insbesondere bei Verstößen gegen strafrechtlich geschützte Normen »guten«, »sittsamen« oder »moralischen« Verhaltens. Niemand wird vernünftigerweise behaupten, die Zahl der wegen Homosexualität verurteilten Männer hätte in einem kalkulierbaren Verhältnis zur Häufigkeit homosexueller Beziehungen gestanden, die Menge der wegen Trunkenheit Bestraften böte einen verläßlichen Hinweis auf das Ausmaß des Alkoholkonsums in einer Gesellschaft oder die Zahl der Hexenverbrennungen hätte etwas mit der Verbreitung von Hexerei zu tun gehabt. Weit eher als über die Häufigkeit nonkonformen Sexualverhaltens, exzessiven Trinkens oder magischer Praktiken werden die entsprechenden Zahlen Hinweise auf das Sanktionsverhalten der Strafverfolgungsinstanzen oder auch die Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung geben. Man könnte die Kritik an der bei der Kriminalstatistik besonders verhängnisvollen Gleichsetzung des statistischen Abbilds mit der Realität noch weiter verfeinern. Am Beispiel des Dunkelfeldproblems läßt sich aber bereits erkennen, daß vor jeder Interpretation einer Verbrechensstatistik sehr genau geklärt werden muß, was die vorgefundenen Zahlen wirklich aussagen können. Die Vertreter eines radikalen »labeling approach« haben aus dieser Kritik die Schlußfolgerung gezogen, daß die Kriminalstatistik niemals verläßliche Rückschlüsse auf die Häufigkeit normabweichenden Verhaltens zuläßt, sondern 229

allenfalls die Zuschreibungsleistungen der Strafverfolgungsbehörden dokumentiert.68 Ohne diesen kriminalsoziologischen Methodenstreit weiter zu verfolgen, soll hier von der pragmatischen Grundannahme ausgegangen werden, daß Kriminalstatistiken wenigstens von drei Faktoren beeinflußt werden: erstens vom Inhalt der strafrechtlich geschützten Normen, zweitens von den Kapazitäten und Strategien der Strafverfolgungsinstanzen und drittens von der realen Entwicklung delinquenten Verhaltens.69 Setzt man voraus, daß die Strafrechtsnormen unverändert bleiben, bilden das Verhalten der Täter auf der einen und das von Polizei und Gerichten auf der anderen Seite die entscheidenden Determinanten der Häufigkeit registrierter Gesetzesverletzungen. Welcher der beiden Faktoren zum Explanandum historischer Forschung wird, hängt vom jeweiligen Erkenntnisinteresse ab. Methodenbewußte Kriminalitätshistoriker haben daraus Konsequenzen gezogen und versucht, Väliditätskriterien für eine täterorientierte Deutung der Kriminalstatistiken zu formulieren. Diese sollen die Bedingungen klären, unter denen man mit hinreichender Sicherheit von der Zahl der statistisch erfaßten auf die Zahl der tatsächlichen Delikte schließen kann.70 Vereinfacht lassen sich sechs Kriterien benennen: Erstens dürfen sich die Strafrechtsnormen und Erhebungsverfahren nicht verändern bzw. müssen eventuelle Änderungen in der Analyse berücksichtigt werden. Zweitens sollte es sich um Verstöße mit einer klaren Deliktdefinition handeln, die den Strafverfolgungsbehörden wenig Ermessens- und Deutungsspielraum gewährt. Drittens muß die Registrierung des Delikts unabhängig von aktiven Eingriffen der Polizei geschehen, d.h. daß es sich üblicherweise um Gesetzesbrüche mit einem konkreten Geschädigten handelt, nicht aber um Verhaltensdelikte der oben skizzierten Art. Auch ist zu fordern, daß die Verstöße einen gewissen Schweregrad aufweisen, so daß sie mit hoher Wahrscheinlichkeit angezeigt werden. Viertens ist zu prüfen, ob sich im Anzeigeverhalten der Bevölkerung gravierende Veränderungen nachweisen lassen. Die Verbreitung informeller Sanktionsformen, mangelndes Vertrauen in Polizei und Justiz oder ein eigenes Kostenrisiko für den Klagenden können die Neigung zur Anzeige von Verbrechen dämpfen. Fünftens sollten die herangezogenen Daten möglichst wenige institutionelle Filterungsstufen durchlaufen haben. Je tatnäher der Datentyp ist, desto eher dürften die erfaßten Werte der Zahl der tatsächlichen Verstöße entsprechen. Die Menge der angezeigten Delikte ist der Zahl der Verhaftungen vorzuziehen, diese wiederum hat einen höheren Aussagewert als die Zahl der Angeklagten oder gar der vom Gericht Verurteilten. Um ortsspezifische Unterschiede auf Seiten der Kontrollinstanzen abzugleichen, sind sechstens möglichst hochaggregierte Daten heranzuziehen. Große Zahlen ebnen lokale und regionale Kontingenzen ein und lassen am ehesten Rückschlüsse auf die Veränderung kriminellen Verhaltens zu. Dieser Katalog formuliert Kriterien der Quellenkritik, denen Kriminalstatistiken genügen 230

müssen, wenn die durch sie überlieferten Daten mit hinreichender Sicherheit als repräsentativ für die Häufigkeit realen Verhaltens angesehen werden sollen. Er ist für täterzentrierte Fragestellungen optimiert und darauf angelegt, möglichst alle Faktoren auszuschalten, die die Beziehung zwischen der Menge der registrierten Delinquenz und dem Dunkelfeld verzerren könnten. Ist das Erkenntnisinteresse nicht auf die Täterseite, sondern auf die Seite der Institutionen gerichtet, gilt ein spiegelbildlicher Kriterienkatalog, der alles, was oben unter die störenden Randbedingungen subsumiert wurde, ins Zentrum rückt.71 Setzt man auch hier voraus, daß die Strafhormen und die Methoden wie Kriterien der Datenerfassung konstant bleiben, müssen kriminalstatistische Daten folgenden Bedingungen genügen, wenn aus ihnen auf die Handlungspräferenzen der offiziellen Kontrollinstanzen geschlossen werden soll: Erstens braucht das Delikt nicht scharf definiert zu sein, sondern sollte vielmehr der Polizei und den Gerichten einen weiten Ermessensspielraum gewähren. Zweitens sollte es sich typischerweise um Delikte »ohne Opfer« handeln, deren Registrierung weitgehend vom aktiven Eingriff der Polizei abhängt. Es handelt sich um Massendelikte geringen Schweregrades, die aus der ätiologischen Perspektive ein unüberschaubar großes Dunkelfeld aufweisen.72 Drittens spielt das Anzeigeverhalten der Bevölkerung für die Häufigkeit der Registrierung keine oder eine zu vernachlässigende Rolle. Nicht ein individuelles Opfer, sondern die Polizei löst den Sanktionsprozeß aus. Viertens sollten die benutzten Daten bereits das Ergebnis dieses Sanktionsprozesses reflektieren. Nicht die Zahl der angezeigten Übertretungen, sondern die Menge der von Polizei und Gerichten verhängten Strafen geben Auskunft über obrigkeitliche Sanktionsschwerpunkte. Da hochaggregierte Daten auf nationaler Ebene lokale Unterschiede im Handeln der Institutionen tendenziell nivellieren, sollte fünftens möglichst auf lokale Daten zurückgegriffen werden. Weniger auf der Ebene der langfristigen nationalen Trends, als vielmehr in den kurzfristigen Schwankungen auf der Mikroebene von Stadt und Gemeinde wird sich der Einfluß der Verfolgungsinstanzen auf die Häufigkeit registrierter Delikte rekonstruieren lassen.73 Wenn vor dem Hintergrund dieser methodischen Überlegungen der zweiten der eingangs vorgestellten Interpretationsalternativen der Vorzug gegeben wird, heißt dies weder, daß erst die Polizei ein Delikt »macht«, noch, daß es nicht etwa eine spürbare Vermehrung von Unruhe und Konflikten in der Gesellschaft gegeben haben mag. Es bleibt ebenso legitim wie spannend, nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und normabweichendem Verhalten zu fragen. Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß die hier herangezogenen Daten darüber kaum Auskunft geben. Sie spiegeln nicht die Häufigkeit realen Verhaltens wider, sondern dokumentieren die Auswahl, die die Polizei aus dieser Menge getroffen hat. Daß dieser Selektionsprozeß selbst im Zusammenhang mit der Entwicklung der realen 231

Verhaltenshäufigkeit zu sehen ist, ist mehr als wahrscheinlich; nur wird sich diese Beziehung auf der Ebene der verfugbaren statistischen Daten nicht rekonstruieren lassen.

7.3. Empirische Befunde zur alltäglichen Ordnungssicherung 7.3.1. Polizeiliche Strafpraxis und soziale Ungleichheit Eine Fallanalyse für die Stadt Recklinghausen im Jahre 1897 Recklinghausen gehört zu jenen Gemeinden, die erst in der letzten Phase der Nordwanderung des Ruhrbergbaus ins Montangebiet integriert wurden. Alle Strukturmerkmale der industriellen »latecomer« der Region galten auch für diese Stadt: hohes Wachstumstempo, bergbauliche Monostruktur, Dominanz der Großzechen, starke Arbeitskräftezuwanderung, die sich zum Gutteil aus den ostelbischen Agrargebieten speiste und sehr viele Polen umfaßte, sowie eine völlig unterentwickelte Urbanität.74 Seit den ausgehenden achtziger Jahren war Recklinghausen von einer starken Zuwanderungswelle erfaßt worden, die das jährliche Bevölkerungswachstum selten unter 6% sinken ließ. 1897, im Stichjahr dieser Fallstudie, registrierte die Stadtverwaltung 24.694 Einwohner - doppelt soviele wie noch neun Jahre zuvor.75 Der Höhepunkt des Immigrationsschubs fiel in die zweite Hälfte der neunziger Jahre: In den vier Jahren von 1897 bis 1900 wuchs die Einwohnerschaft um mehr als 10% pro Jahr.76 Den Hauptteil der Neuankömmlinge stellten Arbeiter der in der Stadt und ihrer näheren Umgebung liegenden Großzechen, deren Gründung und Expansion Motor dieses rasanten Wachstums war. Allein die im Stadtgebiet von Recklinghausen angesiedelten Bergbauunternehmen vermehrten ihre Belegschaft zwischen 1889 und 1899 von 1671 auf 4264 Mann um das eineinhalbfache.77 Der Boom der neunziger Jahre prägte nachhaltig die lokale Sozialstruktur. Mehr als 80% der erwerbstätigen Bevölkerung des Jahres 1898 waren zur Arbeiterschaft zu zählen; über 40% stellten die Bergarbeiter allein. Besonders extrem fiel deren Übergewicht im Ortsteil Bruch aus, der mit einem Bergarbeiteranteil von rund 63% und einem Arbeiteranteil von 86% den Charakter eines rein proletarischen Viertels hatte.78 Unter den Recklinghausener Bergleuten spielten die Zuwanderer aus den polnischen Landesteilen Preußens eine größere Rolle als in anderen Städte: Im Jahre 1900 zählte der Ort 18,8% Einwohner polnischer Nationalität und war damit die Stadt mit dem höchsten Polenanteil im Ruhrgebiet.79 Die stürmischen Wachstumsjahre der neunziger begleitete ein ruckartiger Anstieg der Kriminalität. »Mit der steten Zunahme der industriellen Bevölkerung hat sich auch die Zahl der Verbrechen, Vergehen und Übertretungen erheblich vermehrt,« konstatierte 1889 der Verwaltungsbericht und einige 232

Jahre später klagte der Bürgermeister, daß »auch 1896/97 die zwischen Arbeitern und Bergleuten vorkommenden Streitigkeiten, Schlägereien, Körperverletzungen und Mißhandlungen einen Hauptteil der polizeilichen und gerichtlichen Thätigkeit« bilden würden.80 Tatsächlich verzeichnete die lokale Kriminalstatistik in den neunziger Jahren eine merkliche Zunahme der angezeigten Verbrechen und Vergehen, die das allein aufgrund der Bevölkerungsvermehrung zu erwartende Wachstum weit überflügelte: 1889 kamen auf 1000 Einwohner 19,40 angezeigte Verbrechen und Vergehen, 1897 - auf dem Höhepunkt der Welle - waren es 46,44.81 Im Spektrum der Gesamtkriminalität ragten in dieser Phase besonders die Gewaltdelikte hervor. Uberträgt man das von Howard Zehr vorgeschlagene Meßverfahren zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gewalt-und Eigentumskriminalität auf Recklinghausen, ergibt sich zwischen 1893 und 1897 ein Übergewicht der Gewaltdelinquenz, das in dieser Deutlichkeit alle von Zehr vorgestellten Beispielfälle übertrifft.82 Recklinghausen war in den neunziger Jahren zweifellos eine unruhige, im Umbruch befindliche Stadt, in der Zuwanderung, nationale Gegensätze, verzerrte Alters- und Geschlechterstrukturen und die quantitative Dominanz der Arbeiterschaft täglich neue Spannungen und Konflikte zwischen der proletarischen Lebenswelt und dem Ordnungsmodell der bürgerlichen Gesellschaft schürten, die den regulierenden und disziplinierenden Eingriff der Polizei provozierten. Diese befand sich zu Anfang der neunziger Jahre noch auf dem denkbar niedrigsten Niveau. Vor 1885 beschäftigte die Stadt gerade einen Polizeidiener, 1886 wurde die kommunale Exekutive auf einen Kommissar und drei Polizeidiener vermehrt und im Jahre 1892 sorgten ein Kommissar, sechs Polizeidiener und drei nebenamtliche Nachtwächter für Ruhe und Ordnung.83 Wegen »der Zunahme der Bevölkerung, dem andauernden Zugang zweifelhafter Elemente und der hierdurch bedingten zunehmenden Roheit und Unsicherheit« kam es 1893 zur ersten größeren Reorganisation der örtlichen Polizei. Man schaffte die Nachtwache ab, verstärkte die Mannschaften auf einen Kommissar, einen Wachtmeister und zehn Sergeanten und teilte die Gemeinde in zunächst acht, ein Jahr später zehn Reviere, die jeweils von einem Sergeanten betreut wurden.84 Als 1897/98 die hier ausgewertete Strafliste entstand, beschäftigte die Stadt vierzehn hauptamtliche Exekutivbeamte und drei nebenamtliche Feldhüter.85 Außer den städtischen Kräften patrouillierten vor der Auskreisung im Jahre 1901 bis zu sechs Landgendarmen durch die Straßen der Stadt; ein ungewöhnlich hoher Anteil, der bei der Einschätzung der örtlichen Polizeikapazitäten nicht außer acht gelassen werden darf. Klammert man die Gendarmen aus, belief sich die relative Polizeistärke 1897/98 auf rund 57 Beamte pro 100.000 Einwohner, rechnet man die landrätlichen Polizisten hinzu, steigt die Rate auf 81.86 Die vierzehn städtischen Polizisten und die sechs Gendarmen zeigten 233

zwischen April 1897 und März 1898 insgesamt 4144 Übertretungen an, die mit einer Strafverfugung geahndet wurden. Diese 4144 Polizeistrafen wurden wie jedes Jahr und in jeder preußischen Stadt in einer »Strafliste« verzeichnet. Diese Liste liegt der folgenden Darstellung zugrunde. Das chronologisch geordnete Register verzeichnet für jeden Straffall Beruf, Delikt und Wohnort des Delinquenten sowie die Höhe der ausgesprochenen Strafe. Außerdem registriert es, ob der Betreffende sein Strafgeld gezahlt, statt dessen die ersatzweise angedrohte Haft abgesessen oder vor Gericht Protest eingelegt hatte.87 Die Liste von 1897/98 dokumentiert ein Maximum polizeilicher Straftätigkeit. Ihre 4144 Fälle entsprachen bei 24.694 Einwohnern einer Rate von 168 Strafen pro 1000 Einwohner. Jeder sechste Recklinghausener kam in diesem Jahr mit der strafenden Polizei in Berührung. Fünfjahre zuvor, im Jahre 1892, hatte die Rate mit rund 85 zu 1000 gerade die Hälfte dieses Wertes erreicht und auch nach 1897/98 lag die relative Strafhäufigkeit deutlich niedriger. Zehn Jahre nach dem Spitzenjahr war der Wert mit 84 zu 1000 wieder auf dieselbe Dimension wie Anfang der neunziger Jahre zurückgefallen.88 Nicht nur der 1897 erreichte Stand der städtischen und sozialstrukturellen Entwicklung, sondern auch diese außerordentliche Strafdichte machen es sehr wahrscheinlich, daß die Strafliste in gewisser Weise einen Extremfall dokumentiert. Dem Zufall der Quellenüberlieferung ist es zu verdanken, daß die polizeiliche Strafpraxis in einer Stadt und zu einer Zeit rekonstruiert werden kann, die das Grundmuster sozialer Probleme und Spannungen im rheinischwestfälischen Montanrevier der Hochindustrialisierung in schärfster Konturierung präsentierte. Aussagen über die soziale Position der Delinquenten müssen sich allein auf die Berufsangaben in der Strafliste stützen. Die insgesamt 226 vertretenen Berufe werden einem Schichtungsmodell zugeordnet, in dem Unter-, Mittelund Oberschicht in zwölfUntergruppen gegliedert sind.89 Klammert man die Gruppe der Beamten und Angestellten einmal aus, die entsprechend ihrer jeweiligen Position in der Amtshierarchie den drei Schichten zugewiesen werden, bildet das Merkmal wirtschaftlicher Selbständigkeit bzw. Unselbständigkeit das Trennkriterium zwischen der Unterschicht auf der einen und der Mittel- und Oberschicht auf der anderen Seite. Berufe, die keine eindeutigen Schlüsse auf lohnabhängige oder selbständige Tätigkeit zulassen - vor allem handelt es sich dabei um Handwerks berufe ohne klärende Statusangabe wie Meister, Geselle oder Lehrling - werden der Residualkategorie der »Indifferenten« zugeordnet, die zunächst gesondert betrachtet werden soll. Das hier gewählte Modell hat den Vorzug, auf wechselndem Aggregationsniveau unterschiedliche Aspekte sozialer Ungleichheit zu repräsentieren, deren Zusammenhang mit der registrierten Delinquenz bzw. der polizeilichen Straftätigkeit überprüft: werden kann. Die Ebene der dreizehn Unter234

gruppen ermöglicht eine differenzierte Sicht beispielsweise auf die speziellen Belastungen der Bergleute oder der selbständigen Handwerker, die ganz überwiegend die Gruppe des gewerblichen Bürgertums stellten. Das Dreischichtenmodell gestattet den Vergleich von Großgruppen, die durch Lage und - in Grenzen - gemeinsamen Status verbunden sind. Auf höchstem Aggregationsniveau bildet das Strukturmodell schließlich eine dichotomische Besitzklassengesellschaft: ab, in der nur zwischen Lohnabhängigen und Selbständigen unterschieden wird. 90 Tab. 2:

Sozialstruktur der erwerbstätigen Bevölkerung und der polizeilich Bestraften 91 Polizeilich Bestrafte Totalauszählung Prozent Abs.

1. 2. 3. 4. 5.

Bergleute Ungelernte Arbeiter Gelernte Arbeiter Kleine Beamte/Angestellte Sonstige Unterschicht

Summe Unterschicht

Gesamtbevölkerung (20%-Stichprobe) (Abs.) Prozent

1,1 9,9

(927) (265) (253) (56) (229)

43,0 12,3 11,7 2,6 10,6

2516

64,4

(1730)

80,2

1243 351 491 43 388

31,8 9,0 12,6

6.

Indifferente

349

8,9

(174)

8,1

7. 8. 9. 10.

Gewerbliches Kleinbürgertum Kaufm. Kleinbürgertum Mittlere Beamte/Angestellte Sonstige Mittelschicht

325 486 35 110

8,3 12,4 0,9 2,8

(70) (64) (43) (34)

3,2 2,9 2,0 1,6

956

24,5

(211)

9,8

11. Bourgeoisie 12. Höhere Beamte/Angestellte 13. Sonstige Oberschicht

64 19 0

1,6 0,5 0

(9) (28) (4)

0,4 1,3 0,2

Summe Oberschicht

83

2,1

(41)

1,9

3904

100,0

(2156)

100,0

Summe Mittelschicht

Zusammen

Die Sozialstruktur der Delinquentenpopulation zeigt im ersten Uberblick einen merklichen Schwerpunkt bei den Unterschichten (vgl. Tab. 2). 2516 oder fast zwei Drittel der Strafen gingen an Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter, Bergleute oder Fuhrknechte, in weit geringerem Maße an kleine Angestelite oder Beamte. Die Mittelschichten waren am Strafaufkommen nur zu 24,5% beteiligt, wobei hier das gewerbliche und kaufmännische Kleinbür235

gertum, also Handwerksmeister, Händler, Kaufleute oder Gastwirte mit 8,3% bzw. 12,4% klar in Führung lag. Im Vergleich zu den massenhaften Strafen gegen Unterschichtangehörige und auch noch gegen die Vertreter der selbständigen Mittelschicht nimmt sich die Zahl der Fälle, in denen höhere Beamte oder Unternehmer betroffen waren, nahezu bedeutungslos aus. Die 83 Fälle, die der Oberschicht zuzuordnen sind, entsprechen gerade 2,1% des Gesamtvolumens aller Strafen.92 Diese bei erstem Hinsehen eindeutige schichtenspezifische Ungleichverteilung der Strafhäufigkeit wird jedoch problematisch, wenn man überprüft, bis zu welchem Grad die verschiedenen Berufsgruppen und Schichten entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung repräsentiert sind. Von überdurchschnittlicher Strafbelastung kann nämlich nur dann gesprochen werden, wenn der Anteil einer Gruppe in der Strafliste über ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung liegt. Die Sozialstruktur der polizeilich Bestraften wird zu diesem Zweck mit der Sozialstruktur der erwerbstätigen Bevölkerung Recklinghausens im Jahr 1898 verglichen, die auf Basis einer zwanzigprozentigen Zufallsstichprobe aus dem Adreßbuch der Stadt ermittelt wurde.93 Diese Gegenüberstellung fuhrt zu deutlich anderen Ergebnissen, als die isolierte Betrachtung der Strafliste. Wie der Vergleich der beiden Prozentspalten in Tab. 2 zeigt, sind vor allem die Mittelschichten und hier besonders das gewerbliche und kaufmännische Kleinbürgertum in der Strafliste überrepräsentiert. Einem Bevölkerungsanteil von 3,2% steht bei den Handwerksmeistern und anderen kleinen Gewerbetreibenden ein Anteil von 8,3% in der Delinquentenpopulation gegenüber. Bei den Kaufleuten, Händlern und Gastwirten, die vor allem die Gruppe des kaufmännischen Kleinbürgertums bilden, ist die Uberrepräsentanz noch krasser: Mit einem Verhältnis von 2,9% zu 12,4% sind sie unter den Bestraften rund viermal häufiger vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Auch die Überrepräsentanz der Bourgeoisie bewegt sich in ähnlichen Größenordnungen, wobei allerdings nicht auszuschließen ist, daß diese quantitativ unbedeutende Gruppe in der Adreßbuchstichprobe etwas unterbelichtet erscheint. Unterrepräsentiert sind dagegen die Unterschichtengruppen. Besonders die Bergleute, deren Bevölkerungsanteil von 43% ein Bestraftenanteil von 31,8% gegenübersteht, und die ungelernten Arbeiter mit einem Verhältnis von 12,3% zu 9,0% tragen hierzu bei, während die gelernten Facharbeiter und Handwerksgesellen sowie die heterogene Gruppe der sonstigen Unterschichten etwa gleichgewichtig vertreten sind. Unterrepräsentiert zeigen sich ebenfalls die Beamten und Angestellten und zwar unabhängig von ihrer Stellung in der Hierarchie. Kleine, mittlere und höhere Staatsdiener und Privatangestellte hatten seltener mit der Polizei zu tun als andere Bevölkerungskreise. Entgegen der Ausgangshypothese, daß die Unterschicht, deren Wachstum und abweichendes Verhalten auch in Recklinghausen als zentrale Argumente 236

des Polizeiausbaus dienten, von polizeilichen Strafmaßnahmen und Ordnungseingriffen überproportional belastet waren, erweisen sich offenbar die Selbständigen und Besitzenden in Mittel- und Oberschicht als die am relativ stärksten betroffene Gruppe. Auch wenn die verschiedenen Unterschichtsegmente fast zwei Drittel aller Strafverfügungen erhielten, waren sie damit gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil von 80% unter den Bestraften schwächer vertreten, als zu erwarten war. Ein Teil der Überrepräsentanz unter den Handwerkern und Kaufleuten läßt sich durch Mehrfachbestrafungen ein und derselben Person erklären, die im Kleinbürgertum allen Anschein nach wesentlich häufiger als bei anderen Gruppen vorkamen. Beispielsweise konzentrierten sich die 243 Strafen für Leute mit der Berufsangabe »Händler« auf 162 Individuen - auf einen Händler kamen im Jahr durchschnittlich 1,5 Strafen. In anderen Berufen waren Mehrfachbestrafungen noch häufiger. Bei den Wirten hatten 55 Leute 105 Straffälle zu verantworten, bei den Bäckermeistern war das Verhältnis 26 zu 53 und auch die Metzgermeister erweisen sich als notorische Übertreter. Die 81 Polizeistrafen für diese Gruppe verteilten sich auf bloß 24 Personen, was einer durchschnittlichen Häufigkeit von 3,4 Strafen pro Person entspricht. In Einzelfällen wurden diese Durchschnittswerte erheblich überschritten. Metzgermeister Winkelmann mußte etwa innerhalb eines Jahres nicht weniger als zwölf Polizeistrafen zahlen. Demgegenüber blieben Mehrfachbestrafungen in der Unterschicht eher die Ausnahme. Die 219 Strafen gegen Leute mit der Berufsbezeichnung »Arbeiter« entfielen auf 186 Individuen - auf eine Person kamen 1,17 Straffalle. Der schichtenspezifisch differierende Anteil der Mehrfachbestrafungen erhöht die relative Bedeutung der selbständigen Mittelschicht in der Delinquentenpopulation, ohne daß daraus direkt auf eine entsprechend hohe Zahl bestrafter Personen zu schließen wäre. Auch wenn damit das Ausmaß der Überrepräsentanz dieser Gruppe gemindert wird, bleibt das Phänomen ihrer unerwartet starken Betroffenheit weiter bestehen, ja es wird sogar noch schärfer akzentuiert. Denn Handel und Gewerbe waren nicht nur - relativ häufiger Gegenstand strafender Polizeieingriffe, sondern diese Eingriffe trafen den Einzelnen durch ihre Wiederholung auch intensiver. Arbeiter, Kleinbürger und Bürger hatten nicht nur unterschiedliche Chancen, mit der Polizei in Kontakt zu geraten, sondern waren dem strafenden Zugriff der Obrigkeit auch aus sehr unterschiedlichen Gründen ausgesetzt. Bei der Durchsicht der Tab. 3, die die einhundertzehn Einzeldelikte der Strafliste zu vierzehn Gruppen komprimiert und die schichtenspezifische Verteilung der einzelnen Deliktkategorien dokumentiert, lassen sich charakteristische Häufungen feststellen. Bergleute etwa, die größte Arbeitergruppe und umfangreichste Einzelkategorie überhaupt, weisen eine z.T. massive Überrepräsentanz beim Unfug, bei der Sammelgruppe »Unord237

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CS gut preußisch* erzogen, daß die Anordnungen bestimmt befolgt werden... Bürgermeister: Und wer übernimmt die Verantwortung dafür, daß keine Störung der Ordnung vorkommt? Genösse Ernst: Die übernehme ich als Vorsitzender der Organisation der Berliner Sozialdemokratie.... Wir sind .. von der Disziplin unserer Parteigenossen so fest überzeugt, daß wir die Verantwortung ruhig übernehmen.«172

Ruhe, Ordnung, Disziplin - unter jeweils anderen Vorzeichen waren diese Sekundärtugenden Leitwerte sowohl der preußischen Sozialisten wie der preußischen Polizisten. Mit dem Unterschied allerdings, daß der Disziplinforderung der Arbeiterbewegung von Seiten der Adressaten weit mehr Legitimität zugesprochen wurde, als den Anordnungen der Polizisten. Zugespitzt läßt sich die These vertreten, daß die Polizei und ihr Disziplinierungsprogramm erst durch den Katalysator der Arbeiterbewegung einen Wirkungsgrad erreichte, den sie als eigenständige Disziplinierungsinstanz aufgrund ihrer geringen Akzeptanz und ihrer großen Distanz zur Gesellschaft nie erlangen konnte. Man wird die direkt spannungstreibenden und die indirekt pazifizierenden Effekte der polizeilichen Alltagspraxis nicht gegeneinander verrechnen können. Beides bestand gleichzeitig nebeneinander, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung in unterschiedlichen lokalen Milieus. Bei der politisch aktiven Facharbeiterklientel der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung wird sicherlich die Anpassungsbereitschaft größer gewesen sein als im subproletarischen Milieu des Hamburger Gängeviertels oder des Berliner Scheunenviertels aber auch als in den hastig errichteten Bergarbeiterkolonien des Ruhrreviers, in denen Solidarstrukturen ganz eigener Art lange Zeit vor sozialistischer Parteidisziplin rangierten.173 Aus der Perspektive der sozialen Klassenbildung betrachtet, sind von beiden Wirkungsdimensionen abweichende, ja gegensätzliche Folgen zu erwarten. Wo der Polizeiausbau und der wachsende Sanktionsdruck auf die Lebenswelt der Arbeiterschaft vor allem konfliktverschärfend die Kluft zwischen Staat und Arbeitern vertiefte, wird das obrigkeitliche Ordnungsprogramm eher den Zusammenhalt, die Solidarität und die Homogenität in der Arbeiterschaft gefestigt haben. Wo dagegen eher die Neigung überwog, sich anzupassen und Selbstbeherrschung zu üben, um die eigene politische Identität zu wahren, vergrößerte sich der Abstand zwischen der respektablen Arbeiterschaft und denen, die man selbst als »Lumpenproletariat« oder »Pöbel« verachtete. Die soziale Fraktionierung der Arbeiterschaft nahm zu. In der Untersuchungsregion dieser Studie, dem Montangebiet im Westen der preußischen Monarchie, überwogen vorerst die spannungstreibenden Faktoren.174 Hier bündelten sich die Erfahrungen alltäglicher polizeilicher Reglementierung, ungeschminkter Parteilichkeit der 272

Staatsgewalt im Arbeitskampf und schikanöser Bespitzelung aller politischen Regungen mit besonderer Intensität.

7.4.2. Die Grenzen der Sozialdisziplinierung Ende des Jahres 1 8 5 7 berichtete der preußische Justizminister seinem Kollegen im Innenministerium, daß die Zahl der Urteile in Polizeisachen in der Rheinprovinz besorgniserregend zugenommen habe. Nach Auffassung der Justizbehörden lag die Hauptursache bei den örtlichen Polizeibehörden. Einmal nämlich hätten diese von ihrem Verordnungsrecht nach dem Gesetz vom März 1 8 5 0 »einen maßlosen Gebrauch« gemacht und die Einwohnerschaft ihrer Sprengel mit einer Flut neuer Ge- und Verbote überschüttet, andererseits hätten die in den letzten Jahren »namentlich in den Städten mitunter um das drei- und vierfache des früheren Bestandes« vermehrten Polizeikräfte einen außerordentlichen Verfolgungseifer bewiesen, der dringend gedämpft werden müsse: »Daß von den unteren Polizeibeamten das Recht und die Verpflichtung zur Einreichung von Denunziationen nicht als Chikane gemißbraucht werde, ist nur durch strenge Aufsicht über dieselben zu verhüten.« 175 Die Mittelbehörden relativierten zwar dieses harte Pauschalurteil und sahen in der allgemeinen Teuerung und den nachklingenden Wirkungen der 48er Revolution zusätzliche Ursachen der gestiegenen Strafhäufigkeit, mußten dem Justizminister aber im Grundsatz recht geben. Die ausufernde Verordnungstätigkeit der Lokalverwaltung habe dazu gefuhrt, daß »ein von Ort zu Ort fortgesponnenes buntes Netz der verschiedenartigsten polizeilichen Bestimmungen ohne Noth die freie Bewegung der Eingesessenen hemmt«, 176 und die Verfolgungs- und Anzeigepraxis der subalternen Exekutivkräfte habe zur Folge, daß »theils durch übertriebenen Diensteifer, theils durch Willkühr und Härte vielfache Uebelstände hervorgerufen werden.« 177 Unter dem Eindruck dieser allgemeinen Bedenken gegen die polizeiliche Strafpraxis ordnete der Innenminister durch Erlaß vom 2 8 . 7 . 1 8 5 9 eine schärfere Kontrolle des lokalen Verordnungswesens sowie die Überprüfung und Revision der geltenden Regierungsverordnungen an, um so das Gewirr der Strafbestimmungen ein wenig zu lichten. Noch wichtiger war der Auftrag an die örtlichen Polizeiverwalter, »den von ihren Untergebenen durch zu häufige Denunciationen etwa bewiesenen übertriebenen Diensteifer« zu bremsen und ihnen zu empfehlen, es bei Übertretungen zunächst mit einer Verwarnung bewenden zu lassen.178 Der letzte Passus, der die faktische Aufhebung des Legalitätsprinzips bei Übertretungen bedeutet hätte, stieß sofort auf gravierende Rechtsbedenken der Provinzialverwaltung. Den Polizeidienern werde hierdurch eine »diskretionäre Gewalt« gegeben, die keine 273

gesetzliche Grundlage hätte und die leicht zu Willkür und Begünstigungen fuhren könne.179 Das Argument des Koblenzer Oberpräsidenten blieb in Berlin nicht ohne Wirkung. Im März 1860 widerrief der Innenminister die Neuregelung zum Vorrang der Verwarnung vor Strafe, ließ aber die übrigen Anweisungen zur Dämpfung des polizeilichen Verfolgungseifers in Kraft.180 Nach Beobachtungen des Oberprokurators in Trier hatten diese schon nach kurzer Zeit Erfolg: »Dem bis zum Extrem gelangten und hier und da zur Quälerei gegen das Publikum gewordenen Bestreben des zahlreichen Polizeipersonals, seinen Fleiß und seine Tüchtigkeit durch möglichst viele Polizei-Protokolle zu bethätigen, ist mit heilsamem Erfolg... entgegengetreten worden.«181

Diese Episode am Beginn unseres Untersuchungszeitraums nahm in nuce alle wichtigen Argumente einer Auseinandersetzung vorweg, die ihren Höhepunkt erst einige Jahrzehnte später erreichen sollte. Es war kein Zufall, sondern eine mittelbare Reaktion auf den Ausbau der Sicherheitskräfte und die damit einhergehende Extensivierung polizeilicher Eingriffe, daß die besorgten Debatten über Praxis und Wirkung des Polizeistrafrechts vor und nach der Jahrhundertwende erneut aufflammten. Sicherlich gewannen diese Erörterungen, fur die auch juristische Fachzeitschriften ihre Spalten öffneten, zusätzliche Schubkraft aus der polizeikritischen Grundstimmung der neunziger Jahre, die sich aus den Mißgriffskandalen speiste. Ihr Anliegen ging jedoch über die Anprangerung punktueller Mißstände hinaus. Tatsächlich thematisierten sie die dysfunktionalen Folgen polizeilicher Sozialdisziplinierung. Bei der Ahndung alltäglicher Bagatellverstöße, so eröffnete einer der Debattenteilnehmer seinen Frontalangriff aufdie gängige Praxis, hätten »sich durch Uberspannung der staatlichen Strafandrohung, Strafverfolgung und Strafvollstreckung allmählich Zustände herausgebildet, die man nur als unvernünftig und widersinnig bezeichnen kann.«182 Die Anzahl der strafandrohenden Gesetze und Verordnungen sei »bis ins Ungeheure gewachsen« und habe damit den Kreis der strafbaren Handlungen »unendlich weit« gezogen; selbst beim besten Willen wisse der Bürger kaum mehr, was verboten und was erlaubt sei.183 Die meisten Kritiker waren sich einig, daß der Polizei bei der »Uberspannung der Strafgewalt« eine Schlüsselrolle zukam. Mit ihrem Verordnungsrecht trage sie wesentlich zur beklagten Inflation der Ge- und Verbote bei, und durch ihre rigide, am Legalitätsprinzip orientierte Anzeigen- und Strafpraxis pervertiere die staatliche Verfolgung von Normverletzungen zur Schikane.184 Zusammengefaßt bildeten drei Befürchtungen Motiv und Fluchtpunkt dieser Vorwürfe, die wohlgemerkt nicht von sozialdemokratischen Fundamentalkritikern des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates vorgetragen wurden, sondern hauptsächlich von dessen loyalen Stützen im Justizapparat. 274

Erstens erwartete man von der exzessiven Nutzung staatlicher Zwangsmittel, »wo immer wir an einem bestimmten menschlichen Verhalten Interesse haben,« einen Verfall des Rechtsbewußtseins.185 Da der formalen Verbotsdrohung des Gesetzes bei vielen Verordnungen oder klassenspezifischen Verhaltensdelikten wie dem Unfug kein Unrechtsbewußtsein der Betroffenen und ihrer Umwelt entsprach, bestand die Gefahr, daß die Autorität des gesetzlichen Verbots generell leiden könnte. Die generalpräventive, abschreckende Wirkung der Strafe geht verloren, wenn diese zur Selbstverständlichkeit wird.186 »Ein moralisch gesundes Volk wird hierauf in der Art reagieren, daß es eine Person, die nur im Rechtssinne, aber nicht im moralischen schuldig ist, der Strafe zu entziehen sucht. Das Publikum schlägt der Justiz ein Schnippchen und freut sich, Polizei und Staatsanwaltschaft zu düpieren.«187

Wie sehr diese Befürchtungen zutrafen, belegen nicht zuletzt die oben geschilderten Solidarisierungsprozesse in der Arbeiterschaft gegen die Polizei. Zweitens schlugen die Auswirkungen ihres Strafschematismus verhängnisvoll auf die Ordnungskräfte zurück. Da die Polizei nach Schätzung eines zeitgenössischen Praktikers »zu 85% als >Anzeiger< tätig sein wird und nur zu 15% etwa sich als >Schützer< erweisen darf,«188 da sich die Anzeige in den allermeisten Fällen allein auf die Aussage des Schutzmanns oder Sergeanten stützte und da schließlich die Polizei bei den massenhaften Ubertretungsfällen nicht nur als registrierende, sondern auch als normsetzende und strafende Instanz auftrat, konzentrierten sich aller Widerwille und alle Aversionen der Betroffenen auf sie. Die trotzige Verklärung, mit der manche Polizeivertreter dieser Isolation zu begegnen suchten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die weitverbreiteten Spannungen zwischen Polizei und Publikum die Einlösung zentraler Zwecke der Institution erheblich behinderten. Daß Ordnungseingriffe im proletarischen Quartier oder provokatorische Streikeinsätze Ruhe und Ordnung eher gefährdeten als festigten, mochte aus Sicht der Polizeiführung vielleicht noch ein akzeptabler Preis für die Erreichung höherrangiger politischer Ziele erscheinen. Daß aber ihre alltäglichen Disziplinierungseingriffe zwischen großen Teilen der Bevölkerung und der Polizei ein permanentes Spannungsverhältnis schufen, »das der letzteren auch in ernsteren Fällen die unbedingt erforderliche Unterstützung des Publikums entzieht und die Erfüllung wichtiger Aufgaben erschwert,« konnte sich auf Dauer nur verhängnisvoll auswirken.189 Selbst bei unverfänglichen technischen Ordnungsaufgaben, etwa im Straßenverkehr, oder bei der Aufklärung krimineller Delikte stießen die Beamten auf eine verbreitete Kooperationsverweigerung. »Wenn nur das liebe Publikum nicht so indifferent wäre!«190 dieser Stoßseufzer dürfte so manchem Beamten bei seiner täglichen Arbeit über die Lippen gekommen sein. Vor allem bei der Ermittlung in Kriminalfällen, einem Tätigkeitsgebiet, das immer mehr Bedeutung gewann, waren 275

Polizisten auf die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung angewiesen. Da die rigorose Wahrnehmung ihrer Ordnungsfunktionen die Sicherungsfunktionen der Polizei gefährdete, enthielt die Polizeipraxis erhebliche selbstdestruktive Elemente.191 Drittens war die Debatte über Nutzen und Schaden des polizeilichen Strafund Verordnungsrechts von der Angst überschattet, gekränktes Rechtsempfinden und Indifferenz gegenüber den Vertretern der staatlichen Autorität könnten in bewußte politische Opposition übergehen. Bis in die Kreise der lokalen Polizeiverwaltung hatten sich um die Jahrhundertwende Bedenken verbreitet, ob es denn tatsächlich ratsam sei, durch die maßlose Exekution ordnungspolizeilicher Bestimmungen »den Socialdemokraten neues Material für ihre Zwecke zu schaffen, um ihnen das Aufwiegeln der Bevölkerung durch ein solches Vorgehen zu erleichtern.«192 Hier lagen offenbar die größten Befürchtungen hinsichtlich der dysfunktionalen »Uberspannung der Strafgewalt«. Kaum einer der in dieser Frage engagierten Autoren aus Verwaltung und Justiz versäumte es, darauf hinzuweisen, daß auch bisher loyale Bürger »keine Strafe mit größerem Widerwillen ertragen« als die kleinen Polizeistrafen und die Erfahrung schikanöser Behandlung leicht mit der Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels quittiert werden könne.193 Die Befürchtung, eine fatale Nebenwirkung der gestärkten Polizei könne im »Züchten von Staatsgegnern«194 bestehen, war weit verbreitet und nahm mit dem gleichzeitigen Erstarken von Polizei und Sozialdemokratie eher zu.195 Natürlich lag hierin weder die einzige noch die zentrale Ursache für den sozialdemokratischen Aufschwung nach 1890 - gleichwohl haben die Erfahrungen, die Arbeiter mit ressentimentgeladenen Ordnungsmaßnahmen, mit diskriminierenden und entwürdigenden Haftstrafen für lächerliche Bagatellverstöße, mit unverhüllter Parteilichkeit der Sicherheitskräfte im Streik oder mit unbarmherziger Härte bei Demonstrationseinsätzen machen mußten, einiges dazu beigetragen. Repressionserfahrungen wirkten unter den Bedingungen des Kaiserreichs vielfach politisierend.196 Dieser vermutete Zusammenhang war ein wichtiger Antrieb der im Prinzip loyalen Polizeikritik. Alle drei Argumente kreisten um das Grundproblem, daß in Preußen Form und Inhalt polizeilicher Disziplinierung der Einlösung ihrer intendierten Ziele im Wege standen und statt dessen kontraproduktive Effekte begünstigten. Je mehr eine gestärkte Exekutive in der Lage war, ihre Machtfülle tatsächlich einzusetzen, statt sie bloß punktuell zu demonstrieren, desto schärfer brach dieser Widerspruch auf. Statt größere Folgebereitschaft gegenüber staatlichen Normen zu erreichen, unterhöhlte man das Vertrauen in den Rechtsstaat. Statt die Verbrechensbekämpfung zu effektivieren, zerstörte die Polizei durch die Wahrnehmung ihrer Ordnungsfunktionen die Vertrauensbasis in der Bevölkerung. Statt politische Stabilität im Sinne der Herrschen276

den zu gewährleisten, trug sie zur Zuspitzung und Politisierung gesellschaftlicher Konflikte bei und beschleunigte politische Polarisierungsprozesse. Auf einen Begriff gebracht, läßt sich dieses Dilemma als eine »Überkriminalisierungskrise« bezeichnen. Dieser von S.H. Kadish in die kriminalsoziologische Debatte eingeführte Begriff meint ursprünglich eine Situation, in der sich die Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle durch die inflationäre Vermehrung von Straftatbeständen, denen keine entsprechenden Sanktionskapazitäten gegenüberstehen, selbst um Glaubwürdigkeit und Legitimität bringen. Bezeichnenderweise exemplifiziert Kadish seine These anhand der chronischen Durchsetzungsprobleme bei typischen Verhaltensdelikten und Verstößen gegen strafrechtliche sanktionierte Moralvorstellungen.197 An diese These anknüpfend und sie gleichzeitig erweiternd, meint Überkriminalisierung im preußischen Fall, daß ein aufgeblähter Normenkatalog und eine modernisierte Polizei, die einen unflexiblen, legalistischen Sanktionsstil pflegte, immer größere Teile der Bevölkerung für Verhaltensäußerungen kriminalisierten, die die Betroffenen und ihr näheres soziales Umfeld weder als verwerflich noch als sozialschädlich einstuften und deren Bestrafung daher als illegitimen Übergriff ansahen. Zwei Faktoren wirkten problemverschärfend. Einmal gewann die ausufernde Kriminalisierung dadurch Brisanz, daß sie die Strukturen sozialer Ungleichheit an neuralgischen Punkten akzentuierte. Zum anderen rückte die überholte Verquickung legislativer, exekutiver und judikativer Funktionen vor allem die Polizei in den Brennpunkt der Kritik. Je mehr staatliche Herrschaft ihre Legitimation aus der Loyalität und Folgebereitschaft der Bevölkerung zog,198 desto schmerzlicher machten sich die kontraproduktiven Effekte dieser polizeistaatlichen Zusammenballung von Herrschaftsmitteln bemerkbar. Vor einem weiter gespannten Zeithorizont stellen sich die diskutierten Probleme zudem als Symptome einer speziellen Ausprägung der Modernisierungskrise dar. Die Polizeiexpansion führte den Staat näher als jemals zuvor an die Bevölkerung heran und eine bürokratische Ordnungsbehörde bekam Disziplinierungsfunktdonen zugewiesen, die vormals von informellen gesellschaftlichen Instanzen wahrgenommen wurden. Viele Begleiterscheinungen dieses Prozesses, von kurzfristig zunehmenden Gerichtswidersprüchen gegen polizeiliche Strafmaßnahmen über die vielbeklagte Indifferenz des Publikums bis hin zu den spektakulären Fällen kollektiven gewaltsamen Protests verweisen auf das Konfliktpotential einer fortschreitenden staatlichen Durchdringung der Gesellschaft und lassen sich als Elemente einer bald offenen, bald latenten Penetrationskrise interpretieren.199 Die Debatte um die Krise der Polizeipraxis blieb nicht ohne Konsequenzen. Genau besehen wird man zwischen projektierten, aber gescheiterten Reformen unterscheiden müssen, die Inhalt und Grenzen der polizeilichen Strafund Disziplinargewalt neu bestimmen sollten, und weniger spektakulären, 277

dafür aber realisierten Modifikationen der Polizeitätigkeit. Der spannungstreibende Uberschuß obrigkeitlicher Strafmaßnahmen entsprang sowohl der schrankenlosen Vermehrung pönalisierter Tatbestände als auch der zur Maximierung der Strafeingriffe tendierenden Sanktionsstrategie der Polizei. An beiden Punkten setzte die Reformdebatte nach 1900 ein. Auf der Ebene der Strafnormen gingen die weitestgehenden Vorschläge dahin, die Übertretungen ganz aus dem Zusammenhang des Strafrechts zu lösen und ihnen als Gegenstand eines »Verwaltungsstrafrechts« eine eigene, von den kriminellen Delikten deutlich abgesetzte, weniger gravierende Deliktqualität zu verleihen. Damit wäre mit einem Schlag die große Gruppe der Bagatellverstöße entkriminalisiert worden und hätte etwa das Niveau der heutigen Ordnungswidrigkeiten gehabt.200 Diese grundsätzliche Neuordnung des Strafrechts konnte sich in den Erörterungen zur Strafrechtsnovellierung nicht durchsetzen, so daß auch der 1913 vorgelegte Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches die Übertretung als Straftat definierte.201 Im Detail finden sich freilich Spuren der kritischen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre. So wurde beispielsweise der Unfugparagraph, der sich mit seiner schrankenlosen Unbestimmtheit sowohl zur Verfolgung politisch Andersdenkender wie zur massenhaften Reglementierung abweichenden Verhaltens eignete, enger gefaßt. An die Stelle des nebulösen groben Unfugs sollten vier abgegrenzte Einzeltatbestände treten, von denen allerdings derjenige, der die alte Konnotation von Unfug im Sinne proletarischer Unordnung aufnahm, immer noch reichlich Raum für Interpretationen bot.202 Größere Bedeutung als diese vorerst folgenlosen Entwürfe hatten Versuche, das Gestrüpp der zahllosen lokalen und regionalen Polizeiverordnungen zu durchforsten. Nachdem im preußischen Abgeordnetenhaus zum wiederholten Mal die ausufernde Verordnungspraxis der Exekutive kritisiert worden war, erließ der Innenminister im Februar 1912 neue Richtlinien für die lokale Gesetzgebung. Innerhalb von zwei Jahren mußten die Bezirksregierungen alle Polizeiverordnungen der Unterbehörden auf Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit überprüfen und ggf. außer Kraft setzen. Bevor eine Stadtverwaltung eine neue Bestimmung erließ, sollte sie der Mittelbehörde zur Begutachtung vorgelegt werden.203 Wie erfolgreich diese Generalrevision in der Praxis war, läßt sich schwer abschätzen. In Recklinghausen zumindest wurden bis zum Ende des Jahres allein neun Lokalpolizeiverordnungen suspendiert.204 Die meiste Aufmerksamkeit der Reformer fand das Problem, wie das Anzeige- und Sanktionsverhalten der Polizisten auf der Straße zu rationalisieren wäre. Die um die Jahrhundertwende einsetzenden Erörterungen über die Frage, ob die Polizei bei der Ahndung von Bagatellverstöße weiterhin an das Legalitätsprinzip mit seinem totalen Verfolgungszwang gebunden sein sollte, oder nach dem Opportunitätsprinzip Nutzen und Schaden des Eingriffs nach 278

Lage des Einzelfalls abwägen dürfe, wurde überwiegend von diesem Motiv getragen.205 Im Prinzip waren sich Polizeipraktiker und juristische Theoretiker einig, daß eine rigorose Praktizierung des Legalitätsprinzips gegen jede noch so kleine Normverletzung nicht möglich, geschweige denn angesichts der beklagten negativen Folgen überhaupt sinnvoll war.206 Das entscheidende Problem war jedoch, daß der § 346 RStGB jeden Polizeibeamten, der die Anzeige einer strafbaren Handlung unterließ, mit einer Zuchthausstrafe bis zu fünfJahren bedrohte.207 Das Reichsgericht hatte diesen Grundsatz in seiner Rechtsprechung stets betont. Während ein Teil der Debattenteilnehmer der Auffassung war, interne Instruktionen zur Mäßigung des Anzeigeverhaltens würden als Korrektiv dieser dogmatischen Haltung ausreichen, beharrten andere auf der Notwendigkeit einer Gesetzesrevision, da eine Dienstanweisung nicht das Strafgesetzbuch außer Kraft setzen könne.208 Der letzten Position schlossen sich die preußischen Zentralbehörden an: »Man kann es den Polizeibeamten nicht verübeln,« bemerkte dazu das Innenministerium, »wenn sie in zweifelhaften Fällen lieber eine Strafe festsetzen, um sich nicht selbst einer strafrechtlichen Verantwortung auszusetzen.«209 Angesichts dieser Unsicherheiten, die durch die lebhafte Erörterung der Frage eher vergrößert wurden und den vom Innenminister vermuteten Effekt nur verstärkten,210 war eine grundsätzliche Abkehr vom legalistischen Sanktionsstil nur auf gesetzgeberischem Weg möglich. Die Weichen dazu wurden mit dem Entwurf zur Novelle der Strafprozeßordnung gestellt. In der Begründung der Vorlage hieß es, daß die »starre Durchführung« des Legalitätsprinzips »zu vielfachen Klagen Veranlassung gegeben« und u.a. zur Folge gehabt habe, »daß gegen unbemittelte Personen wegen unbedeutender Verfehlungen kurzzeitige, für die Zwecke der Strafrechtspflege wertlose, dem Verurteilten aber in seinem Fortkommen schädliche Freiheitsstrafen vollstreckt werden müssen.« Der bisherigen »Uberspannung« solle durch »Milderung des strengen Prinzips« entgegengewirkt werden.211 Dies sollte dadurch erreicht werden, daß Übertretungen nur noch verfolgt werden sollten, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Bei der Bestrafung Jugendlicher sollte die Bindung ans öffentliche Interesse - und das hieß letztlich auch an die Legitimationsinteressen des Staates - auch für die Verbrechen und Vergehen gelten.212 Praktisch wäre damit für den gesamten Bereich der Bagatelldelinquenz das Opportunitätsprinzip eingeführt worden. Wie die Überlegungen zur Revision des materiellen Strafrechts blieb auch dieser Reformansatz vor 1914 im Beratungsstadium stecken, so daß der rechtliche Rahmen polizeilicher Massenbestrafung bis zuletzt unverändert blieb. Trotz der Trägheit der Legislative sprechen einige Anzeichen dafür, daß schon vor 1914 die Erkenntnis der dysfunktionalen, destabilisierenden Effekte des herkömmlichen Strafsystems auf die Polizeipraxis zurückwirkten. Man 279

wird die vorsichtigen Tendenzen zur Milderung des Sanktionsdrucks, die oben am Beispiel der rückläufigen Festnahmen bei Ordnungsverstößen und der Milderung der Strafvollstreckung in Dortmund diskutiert wurden, auch im Lichte dieser Entwicklung sehen müssen. An drei Beispielen lassen sich weitere Entspannungstendenzen auf dem Feld alltäglicher Sozialdisziplinierung illustrieren. Erstens erließen etliche Ortspolizeiverwaltungen aller juristischen Probleme zum Trotz interne Dienstanweisungen an die Exekutivbeamten, die diese zu einem moderaten Anzeigeverhalten anhielten. Beispielhaft dürfte die Instruktion für die Berliner Schutzleute vom 11.1.1902 sein, in der es u.a. hieß: »Der Begriff »Übertretungen« läßt erkennen, daß es sich nur um geringfügige Verstöße gegen die bestehenden gesetzlichen Verordnungen handelt. Es ist daher durchaus nicht erforderlich, daß aufjede Übertretung eine Strafanzeige folgt. Der Schutzmann muß sich vielmehr über seinen Beruf... insofern im klaren sein, als es vor allen Dingen seine Pflicht ist, das Publikum möglichst vor Übertretungen zu warnen und davon zurückzuhalten. Nur, wenn durch die Übertretung eine Gefährdung oder Belästigung des Publikums oder ein öffentliches Ärgernis entstanden ist oder wenn die Warnung unbeachtet gelassen oder derselben offenbare Böswilligkeit, Grobheit oder Widerspenstigkeit entgegengesetzt wird, hat der Schutzmann ... unbedingt den Übertreter zur Bestrafung anzuzeigen.«213

Im selben Tenor waren die wichtigsten Lehrbücher und Musterinstruktionen gehalten, die nach der Jahrhundertwende auf den Markt kamen, so daß man annehmen kann, daß die Praxis vor Ort nicht unbeeinflußt geblieben ist.214 Wieweit die proletarischen Ordnungsverstöße von dieser Entlastung profitierten, bleibt zweifelhaft. »Grober Unfug« beispielsweise galt per se als »Belästigung des Publikums«, die nach der Berliner Instruktion aufjeden Fall zur Anzeige führen mußte und nicht mit einer Verwarnung abgetan war.215 Auch sollte nicht übersehen werden, daß die vielfach vertretene Forderung nach einem präventiven Eingreifen der Polizei zur Verhinderung strafbarer Handlungen zwar dazu beitragen konnte, die Zahl der Strafanzeigen zu senken, praktisch aber den disziplinierenden Polizeizugriff ins Vorfeld einer Normverletzung verlegte und dadurch sogar zur Ausweitung obrigkeitlicher Kontrolle führen mußte. Zweitens wurden seit der Jahrhundertwende Maßnahmen diskutiert und zum Teil realisiert, um die Eskalationsgefahr in Verhaftungssituationen zu mindern. Die öffentliche Festnahme und der Transport des Delinquenten durch die Straßen der Stadt waren die häufigsten Anknüpfungspunkte für Widerstand und Solidarität. So empfahlen besonnene Stimmen, provozierend wirkende Schritte gegen betrunkene Ruhestörer möglichst zu vermeiden, da dies typische Anläße für Widerstandshandlungen wären.216 Die Vermeidung von Konflikten war auch ein ausschlaggebendes Motiv bei der Einführung von Gefangenentransportwagen. Sowohl die Dortmunder als 280

auch die Hagener Polizei, die 1902 bzw. 1906 einen Transportwagen anschafften, begründeten diesen Schritt damit, daß der verdeckte Abtransport eines Festgenommenen Aufsehen vermeide und die Gefahr eines Auflaufs mindere.217 Die Wirkungen dieser polizeitechnischen Innovation waren ambivalent. Einerseits blieb dem Festgenommenen die entwürdigende Degradierungszeremonie erspart, die mit dem Fußtransport in Begleitung des Polizisten unweigerlich verbunden war. Andererseits entzog die Reduktion von Öffentlichkeit Solidarisierungsprozessen die Grundlage, wie sie oben geschildert worden sind. Ein hochbrisanter sozialer Interaktionszusammenhang wurde anonymisiert und entschärft. Drittens ist zum Ende des Untersuchungszeitraums ein gewisser Trend zur Entpolizeilichung einzelner Disziplinierungsleistungen unverkennbar, der vor allem mit der Entstehung sozialstaatlicher Institutionen und der Etablierung eines eigenständigen Tätigkeitsbereichs sozialer Fürsorge zusammenhing. Die Anfänge der Wohnungsaufsicht etwa waren im Industriegebiet eindeutig ordnungs- und sittenpolizeilich motiviert und zielten darauf, die angeblich unmoralischen Erscheinungsformen des proletarischen Quartiergängerwesens unter Kontrolle zu bringen. Die disziplinarische Stoßrichtung schwächte sich in dem Maße ab, in dem sich der Aufgabenkatalog der Institution sozialpolitisch erweiterte und Fragen der Wohnungsqualität immer größere Bedeutung bekamen. Signifikant wurde dieser Ubergang spätestens in dem Augenblick, als die Kommunen eigenständige Wohnungsinspektionen ins Leben riefen, die explizit mit dem Anspruch auftraten, »keine polizeiliche Maßnahme, sondern eine kommunale Wohlfahrtseinrichtung« zu sein.218 Ein anderes Beispiel für die Abschichtung polizeilicher Disziplinierungsfunktionen liefert die amtliche Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs. Seit dem Beginn der Industrialisierung galt übermäßiger Alkoholkonsum im bürgerlich-bürokratischen Diskurs als klassisches Beispiel proletarischer Unmoral. Die Polizei spielte bei seiner administrativen Reglementierung eine Schlüsselrolle.219 Manche Polizeiverwaltung entwickelte geradezu missionarischen Eifer bei der Beschränkung des Gaststättenwesens oder der Verfolgung öffentlicher Trunkenheit.220 Ahnlich wie bei der Wöhnungsinspektion zeichnet sich aber nach der Jahrhundertwende auch hier eine Trendwende in Richtung sozialfürsorgerischer Intervention ab. Alkoholmißbrauch wurde nicht mehr nur als individuelle moralische Verfehlung, sondern auch als Mißstand mit sozialen Ursachen wahrgenommen und wie bei der Wohnungsfursorge etablierten sich - beispielsweise mit der »Gemeindegasthaus-Bewegung«, die besonders im westfälischen Industriegebiet aktiv war - nichtpolizeiliche, halböffentliche Institutionen, die sich der Bearbeitung dieser Probleme widmeten.221 Vergleichbare Entwicklungen lassen sich bei den administrativen Reaktio281

nen auf die klassischen Formen der Unterschichten- und Elendsdelinquenz wie Bettelei, Landstreicherei oder Vagabondage beobachten. Die repressive Kontrolle der vagierenden Unterschichten gehörte seit jeher zu den typischen Polizeiaufgaben, besonders auf dem Lande. Je mehr sich auch hier die Erkenntnis durchsetzte, daß es sich mehr um Symptome sozialer Verelendung als um Indizien moralischen Fehlverhaltens handelte, desto größere Bedeutung erlangten zumindest in Großstädten wie Berlin sozialpflegerische Konzepte. Die Profilierung einer eigenständigen sozialdemokratischen Sozialpolitik spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.222 Wieweit diese unterschiedlichen Ansätze schon vor 1914 die Außenwirkung und -Wahrnehmung der Polizei merklich beeinflußten, ist schwer zu beurteilen. Vermutlich waren die realen Veränderungen eher gering. Welch große Bedeutung einer im Sinne der Stabilisierungsinteressen der herrschenden Eliten rationalisierten Disziplinierungspraxis des staatlichen Gewaltapparates zukam, zeigte sich allerdings zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Wenige Tage nach Kriegsbeginn gab die Zeitschrift »Die Polizei« in einem programmatischen Artikel Leitlinien für die »Aufgaben der Inlandspolizei im Kriege«, die in gewisser Weise den Kulminationspunkt der geschilderten Trendwende markierten. »Mit einem Schlage« habe der Kriegszustand die Tätigkeit der Polizei verändert, meinte das Fachblatt. Bei kleineren kriminellen Delikten wie Schlägereien, Sachbeschädigungen oder Diebstahl solle die Polizei mehr »eine Art schiedsrichterlicher Tätigkeit ausüben« statt Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten. Bei den Übertretungen kam nun endlich das Opportunitätsprinzip voll zur Geltung. Gegenüber vielen Übertretungen »wird der Polizeibeamte nicht ein, sondern beide Augen zudrücken können, ohne daß die engere örtliche Gemeinschaft Schaden zu erleiden brauchte.«223 Sollte das imperialistische Kalkül aufgehen und die Energien der nach innen pazifizierten »Klassengesellschaft im Krieg«224 auf den äußeren Gegner fokussiert werden, durfte der proklamierte »Burgfrieden« nicht durch provokative Ordnungsmaßnahmen der Staatsgewalt in Frage gestellt werden. Die Grenze polizeilicher Sozialdisziplinierung lag dort, wo ihre kontraproduktiven, destabilisierenden und spannungsverschärfenden Effekte größer waren als der mutmaßliche Zugewinn an Ruhe, Ordnung und Folgebereitschaft gegenüber staatlichen Autoritäten. Obwohl die Rollen zwischen Polizei und Arbeiterschaft auf der Bühne des preußischen Obrigkeitsstaats sehr ungleich verteilt waren, blieben beide Seiten in subtiler Dialektik miteinander verbunden. So wie das obrigkeitliche Disziplinierungsprogramm seine größte Tiefenwirkung dort verzeichnen konnte, wo es den Katalysator der Arbeiterbewegung durchlief, so leitete der Widerstand gegen den anmaßenden Zugriff der Staatsgewalt Anpassungsprozesse der Institution ein, die dem staatlichen Monopol physischer Gewaltsamkeit die unverzichtbare Legitimität und Loyalität sichern sollten.225 282

8. Zusammenfassung Ein Resümee der vorliegenden Analysen zur Entwicklung und Praxis der Polizei in der preußischen Gesellschaft vor 1914 muß widersprüchlich bleiben. Weder läßt sich die Geschichte der Ordnungskräfte nur als Prozeß institutioneller Modernisierung buchstabieren, noch geht sie im Bild eines durchmilitarisierten Werkzeugs obrigkeitsstaatlicher Herrschaft auf. Und auch der Leitbegriff der Sozialdisziplinierung, der den Form- und Funktionswandel des staatlichen Gewaltapparates mit gesellschaftlichen Umbrüchen zu verbinden sucht, fuhrt zu keiner eindeutigen Bilanz. Was aus regionaler Perspektive hervorsticht, sind eher die Brüche und Gegensätze, die sich aus institutioneller Vielfalt, aus den nicht immer deckungsgleichen Interessen der beteiligten Instanzen in Kommunen, Industrie und staatlicher Verwaltung, aus der Ungleichzeitigkeit von institutionellem und sozialstrukturellem Wandel und aus den unvorhergesehenen Folgen von Wachstum und Modernisierung ergaben. Auf der Habenseite des Modernisierungsprozesses ist der langfristige Trend zur Verstaatlichung der Polizei und die damit zusammenhängende Abschichtung traditioneller Wohlfahrtsfunktionen aus ihrem Aufgabenspektrum zu verbuchen. Der Einfluß des Staates auf die Ausgestaltung der Ortspolizei nahm spürbar zu und erreichte mit der Verstaatlichung wesentlicher Teile der Ruhrgebietspolizei im Jahre 1909 seinen Höhepunkt. Die Einrichtung königlicher Polizeidirektionen Schloß eine mehr als einhundertjährige Übergangsperiode ab, die mit der Definition eines engen Polizeibegriffs im Allgemeinen Landrecht und der Proklamation einer grundsätzlich staatlichen, den Städten nur auf dem Wege der Auftragsverwaltung überlassenen Exekutive durch die Städteordnung begonnen hatte. Innerhalb dieser langen Zeitspanne lag die eigentliche Beschleunigungsphase am Ende des 19. Jahrhunderts. Erst als sich die Klassenspannungen im Montanrevier unübersehbar im Massenstreik manifestierten und die Verfolgung der Sozialdemokratie durch das Sondergesetz von 1878 gescheitert war, entwarf die preußische Regierung ein zentral koordiniertes Polizeikonzept, das schließlich in die institutionelle Trennung von staatlicher Sicherheitspolizei und kommunaler Wohlfahrtspolizei mündete. Im gesamtstaatlichen Maßstab reichten diese Initiativen allerdings nicht aus, um die Gewichte zwischen Staat und Kommune grundsätzlich zu verschieben. Im Wettlauf mit dem Urbanisierungsprozeß, der die Landgen283

darmerie marginalisierte, hatte die Staatspolizei vorläufig das Nachsehen. In den Urbanisierungszentren im Westen blieb die Kommunalpolizei der dominierende Faktor. Die institutionelle Gemengelage und die trotz zunehmenden Staatseinflusses fortbestehende relative Eigenständigkeit der städtischen Polizeiverwaltung widersprach einerseits dem Kriterium der Staatlichkeit des Gewaltapparates, schuf aber andererseits wichtige Voraussetzungen für die Binnenmodernisierung der Polizei. Hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Staat und Kommunen kann man argumentieren, daß es sich lediglich um graduelle Unterschiede in der Intensität und Reichweite staatlichen Einflusses handelte, die das Grundprinzip der öffentlichen Polizei unberührt ließen. Durch die eigentümliche Gewaltenteilving, die sich zwischen Zechenunternehmen und Obrigkeit in Gestalt der Zechengendarmen und vor allem der Zechenwehren etablierte, wurde dieses Prinzip hingegen klar durchbrochen. Obwohl die private Verfügung über Polizeikräfte das staatliche Gewaltmonopol einschränkte, handelte es sich um ein spezifisch modernes Phänomen: Die Zechenwehren waren weder Ausdruck der traditionellen Herrengewalt ständischen Zuschnitts noch der eigentumsrechtlich hergeleiteten Untemehmerautokratie. Ihre Besonderheit lag darin, daß innerbetriebliche Herrschaftsorgane mit dem staatlich legitimierten Gewaltprivileg ausgestattet wurden. Was auf den ersten Blick als institutioneller Ausdruck des Macht- und Interessenkartells von Kapital und Staat erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung als wenig zukunftsträchtiger Notbehelf, der nicht zuletzt wegen seiner inneren Widersprüche ohne strukturbildende Wirkung blieb. Aus Sicht des Staates lag ein grundsätzliches Dilemma dieser Konstruktion darin, daß die Zechenwehren zwar die Einsatzschwelle für das Militär anheben und dadurch drohende Legitimationsprobleme mindern mochten, daß sich aber durch die faktische Privatisierung staatlich konzessionierter Gewalt dieselben Legitimationsprobleme auf einer anderen Ebene erneut stellten. Die reservierte bis ablehnende Haltung, die etliche Unternehmen den Zechenwehren anfänglich entgegenbrachten, illustriert zudem, daß hier eine wichtige Funktion der Polizei in Frage gestellt wurde. Die Existenz eines staatlichen Gewaltapparates garantiert nicht nur allgemein die Bestandsbedingungen des Kapitalismus, sondern entlastet die Unternehmer sehr konkret von Repressionsaufgaben. Die Zechenwehren drohten die erreichte Trennung zwischen ökonomischer und außerökonomischer Herrschaft zu verwischen und die Unternehmen mit Konflikten zu belasten, die im Interesse eines reibungslosen Betriebsablaufs dysfunktional waren. Erfolgreich externalisierte Repressionsleistungen sollten wieder internaiisiert werden. Insofern waren die Zechenwehren trotz ihrer modernen Legitimationsgrundlage ein Anachronismus und eine gravierende Abweichung vom idealtypischen Pfad institutioneller Modernisierung. Nach der Ausdifferenzierung und staatlichen Monopolisierung eines be284

sonderen Gewaltapparates stellte dessen Trennung vom Militär das dritte Richtungskriterium der Polizeimodernisierung dar. Soweit damit die Rolle der Armee als innere Ordnungsmacht gemeint ist, lassen sich in der Untersuchungsregion nach 1889 erhebliche Fortschritte, aber auch massive Rückschläge verzeichnen. Das tragende Motiv der Ausbaukampagne vor und nach der Jahrhundertwende lag in der angestrebten Demilitarisierung der Streikkontrolle. Im Ansatz lag in dieser Neuorientierung ein doppelter Modernisierungsschritt. Einmal drängte die Bereitstellung einer leistungsfähigen zivilen Exekutive das Militär in den Hintergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Andererseits erkannte die Formulierung einer spezifisch polizeilichen Antwort auf die Interessenkämpfe in der Klassengesellschaft implizit deren Normalität an. Indem die staatliche Reaktion von der Ebene des militärischen Ausnahmezustandes auf die Ebene polizeilicher Routine verschoben wurde, eröffnete sich die Chance einer Deeskalation und Rationalisierung der Austragungsformen gesellschaftlicher Konflikte sowie einer Absenkung ihres Gewaltniveaus. Da allerdings die preußische Regierung den einen Schritt ohne den anderen tun wollte, mußte ihr Demilitarisierungskonzept scheitern. Die angestrebte Verpolizeilichung der Streikkontrolle hätte nur dann erfolgreich umgesetzt werden können, wenn die Herrschenden in Staat und Wirtschaft die grundsätzliche Berechtigung von Interessenkämpfen in der Klassengesellschaft anerkannt hätten. Dies war nicht der Fall. Statt dessen wies man der Polizei die Aufgabe zu, Arbeitskämpfe aktiv einzudämmen. Im rheinisch-westfälischen Kohlerevier mußte diese Haltung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Selbstüberforderung der zivilen Macht fuhren: 1912 geriet der Triumph der Streikkontrolle zum Desaster der Entmilitarisierung. Die Zechenwehren und die gescheiterte Zivilisierung der Streikkontrolle verweisen auf die Grenzen der Polizeimodernisierung im Ruhrgebiet. Bezeichnenderweise ergaben sich diese Grenzen aus der Parteinahme des Staates in Klassenauseinandersetzungen. Der Zusammenhang zwischen der Neuverteilung von Herrschaftsfunktionen und der institutionellen Modernisierung der Polizei blieb ambivalent. Auf der einen Seite trieben die neuen Ordnungsprobleme in der entstehenden Klassengesellschaft und der gleichzeitige Verfall traditional-ständischer Bindungen den Polizeiausbau voran, auf der anderen Seite blockierten die Versuche des Staates, Klassenkonflikte zu unterdrücken, den Modernisierungsprozeß an entscheidenden Stellen. Der preußische Staat war Klassenstaat und sein Gewaltapparat nicht zuletzt ein Instrument zur Sicherung der bestehenden Strukturen sozialer und politischer Ungleichheit. Aus der Perspektive der Polizeimodernisierung erwies sich dies als retardierendes Moment. Daß die institutionelle Entwicklung komplexer verlief, als es schnelle Pauschalurteile über den militarisierten preußischen Obrigkeitsstaat vermuten lassen, zeigt sich besonders deutlich an der inneren Veränderung der 285

Kommunalpolizei in den Industriestädten. Die als Herrschaftskalkül betriebene Militarisierung ziviler Institutionen ließ sich bei diesen um so weniger durchhalten, je mehr sie zum realen Machtfaktor heranwuchsen: Die Expansion der städtischen Mannschaften war nicht mehr durch den Nachwuchs aus der politisch präferierten Gruppe der Militäranwärter zu speisen, so daß sich die Institution zivilen Interessenten öffnen mußte. Hinzu kam, daß die eingeschliffenen Soldatentugenden um so weniger als Grundqualifikationen des angehenden Polizeibeamten ausreichten, je differenzierter und komplizierter der Dienst wurde. Die sich überlappenden und gegenseitig verstärkenden Krisenerscheinungen stimulierten Reformen, die - wie beispielsweise die westfälischen Polizeischulen - ihrerseits die Entmilitarisierung der Polizei förderten. Letztlich handelte es sich bei diesen Vorgängen um nichtintendierte Folgen der institutionellen Expansion. Die sozialstrukturelle Zivilisierung der Beamtenschaft und die Verberuflichung der Polizeitätigkeit sind Beispiele für die schwer überschaubare Eigendynamik, die Modernisierungsprozesse selbst in der festgefügten preußischen Bürokratie annahmen. Zu den Ausgangsüberlegungen dieser Untersuchung gehörte die Annahme, daß der Wandel des staatlichen Gewaltapparates ursächlich mit dem Übergang von der ständischen Gesellschaft zur Klassengesellschaft zusammenhing. Die bürokratische Institution der Polizei übernahm Kontroll- und Disziplinierungsfunktionen, die vormals in den Kontext ständischer Herrschaftsstrukturen eingebettet waren und mehr auf dem Wege traditional legitimierter, personaler Kontrolle als durch spezialisierte Verwaltungen wahrgenommen wurden. Sozialdisziplinierung in der Klassengesellschaft wurde, so die Vermutung, aber auch immer mehr zur öffentlichen Aufgabe, weil informelle Mechanismen die neuen, sich entlang der Klassenlinie kristallisierenden Spannungen und Wertkonflikte nicht mehr auffangen konnten. Indem sich die Stoßrichtung ihres Disziplinierungsprogramms primär gegen klassenspezifische Verhaltensmuster in der Arbeiterschaft richtete, anvancierte sie zur universell zuständigen Ordnungsinstanz, die für das Funktionieren der Markt- und Klassengesellschaft unentbehrlich war. Die Entwicklung im westfälischen Industrierevier bestätigt diese Überlegungen in ihren Grundzügen, zwingt aber auch zur Relativierung und zu Modifikationen. Die größte Sensibilität für die neuen gesellschaftlichen Konflikte bewiesen die lokalen und regionalen Verwaltungsvertreter. Es war sowohl Ausdruck ihrer direkten Konfrontation mit den Spannungen im Revier als auch Beleg für die staatsferne, dezentrale Arbeit der frühen Polizei, daß Landräte und Bürgermeister weit eher als die politischen Köpfe in der Berliner Zentrale die Notwendigkeit von Reformen erkannten. Für die preußische Regierung stand die Polizeifrage erst nach 1889 auf der Tagesordnung. Bis zuletzt bezogen sich die Motive des Polizeiausbaus um so mehr auf Fragen der politischen Herrschaftssicherung, je näher man den Zentralin286

stanzen kam, und dominierten umgekehrt Argumente, die um Fragen der alltäglichen Verhaltenskontrolle kreisten, je weiter man sich der lokalen Ebene näherte. Bei der Abwägung der die Polizeientwicklung vorantreibenden Faktoren wird die Schlußbilanz die Gewichte anders als die Eingangshypothese verteilen müssen. Das funktionalistische Argument, das einen engen Kausalzusammenhang zwischen Polizeiausbau und gesellschaftlicher Entwicklung vermutete, ist insoweit einzuschränken, als im konkreten Fall Umfang, Details und Zeitpunkt der institutionellen Modernisierung stark von Entscheidungen der politischen Zentralinstanzen abhingen. Als Schlüsselfaktoren erweisen sich das Maß, in dem soziale Spannungen zu Herrschaftskonflikten eskalierten oder zumindest als solche wahrgenommen wurden, und der Legitimationsverlust nichtpolizeilicher Ordnungskräfte insbesondere des Militärs. Uber Praxis und Wirkung polizeilicher Sozialdisziplinierung entschieden aber letztlich nicht die Motive des Ausbaus, sondern die Schwerpunkte der täglichen Arbeit. Auch nach 1889 bedeuteten Vermehrung und Verbesserung von Gendarmerie und Ortspolizei in erster Linie, daß Stadt und Land mit einem immer engmaschiger geknüpften Netz uniformierter Beamten überzogen wurden, durch das die kontinuierliche Präsenz der Staatsmacht im Alltag der Bevölkerung sichergestellt werden sollte. Gleich ob die Entwicklung der Sicherheitskräfte aus Gründen der politischen Herrschaftssicherung oder zur Verbesserung der öffentlichen Ordnung vorangetrieben wurde: Der unmittelbare Effekt war stets eine Vergrößerung staatlicher Eingriffs- und Disziplinierungskapazitäten, deren überwiegendes Objekt die Verhaltensverstöße und Normverletzungen des Alltags waren. Mit dieser fortschreitenden polizeilichen Durchdringung der Gesellschaft ging eine unkoordinierte Vermehrung strafbewehrter Normen einher. Formal gesehen resultierte die Normeninflation aus der kaum beschränkten Rechtsetzungsbefugnis der preußischen Polizei, deren exekutiven Kompetenzen durch Verordnungs- und Strafrecht legislative und judikative Funktionen angelagert waren. Die lokalen und regionalen Verordnungen richteten sich allerdings nicht nur gegen die spezifisch proletarischen Verhaltensmuster, die in Bürgertum und Verwaltung als Ausdruck von Unordnung und Sittenverfall gefurchtet wurden. Der obrigkeitliche Regulierungsanspruch griff weit in die Interessen der besitzenden bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten ein und unterwarf Handel, Gewerbe und Verkehr einem immer feiner spezifizierten Normenraster. Die Tradition des breiten Polizeibegriffs, die Anfänge des modernen Sozialstaats und die Aktivitäten einer wachsenden kommunalen Leistungsverwaltung führten dazu, daß immer weitere Lebensbereiche rechtlicher Normierung und bürokratischer Kontrolle unterworfen wurden. Der Uberhang aus den Zeiten der wohlfahrtsstaatlichen »Polizey« und moderne interventionsstaatliche Tendenzen bildeten ein Gegengewicht zu klassenspe287

zifischen Disziplinierungsfunktionen. Zu keinem Zeitpunkt ließ sich die Polizei ausschließlich im Spannungsfeld von Klasseninteressen und Klassenkonflikten verorten; stets blieb die querlaufende Konfliktdimension StaatGesellschaft virulent, aus der der Gemeinwohlanspruch der Exekutive letztlich seine Legitimation zog. Im Zuge fortschreitender Differenzierung des Staatsapparates nahm der Stellenwert dieser wohlfahrtspolizeilichen Aktivitäten jedoch ab. Die Judikatur engte den Polizeibegriff auf seinen Gewaltkern ein und der expandierende Sozialstaat schuf sich eigenständige Spezialinstitutionen, die bald nicht mehr auf die Hilfe der Polizei angewiesen waren. Trotz dieser Einschränkungen muß ein zusammenfassendes Urteil die besondere Belastung der proletarischen Lebenswelt durch polizeiliche Ordnungseingriffe hervorheben. Anders als bei den kleinbürgerlichen Besitzenden, bei denen Polizeikontakte hauptsächlich eine unangenehme Begleiterscheinung des Geschäftslebens darstellten, zielte der obrigkeitliche Ordnungsanspruch im proletarischen Milieu gegen Besonderheiten der Lebensweise. Hier wurden Verhaltensverstöße bestraft und zwar durchweg härter und stigmatisierender, als dies bei Strafen gegen kleinbürgerliche Delikte der Fall war. Die enge Beziehung zwischen Polizeiausbau und der Vermehrung der Ordnungseingriffe bestätigt überdies, daß die Maßnahmen der Exekutive um so mehr der »Zivilisierung« der Unterschichten galten, je stärker sie wurde und je feiner ihr Kontrollnetz gewoben war. Soweit sich plausible Aussagen über die schwer faßbare Wirkung der polizeilichen Praxis in der Arbeiterschaft machen lassen, zwingen diese zu weiteren Differenzierungen und Modifikationen der Ausgangsüberlegungen. Gerade weil die Polizei der Arbeiterschaft als Zwangsinstanz entgegentrat, die bürgerliche Ordnungsnormen gegen Verhaltensformen durchsetzen wollte, die in deren Milieu akzeptiert oder zumindest toleriert wurden, fehlte ihrem Zugriff die erforderliche Legitimität. Der Polizist blieb im proletarischen Quartier eine fremde Macht, Agent einer Bürokratie und einer Gesellschaft, durch die man sich ausgegrenzt und diskriminiert fühlte. Auch wenn es sicher viele Fälle widerspruchsloser Anpassung und Folgebereitschaft gegeben hat, spricht einiges dafür, daß der strafende Zugriff der Polizei unter Arbeitern eher Ablehnung, Verbitterung, Distanz zum Staat oder sogar Solidarisierungsprozesse bis hin zum kollektiven Widerstand förderte. Erfolgreich war das polizeiliche Disziplinierungsprogramm eher auf indirektem Wege. Unter dem doppelten Druck politischer und moralischer Ausgrenzung adaptierte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ein Gutteil der auch von den Ordnungskräften geforderten Verhaltensnormen, um zumindest das politische Profil zu wahren. Die Fixierung auf den Aufbau und den Erhalt der eigenen Organisation, ein Kulturverständnis, daß sich kaum von bürgerlichen Vorbildern löste und eine hochrationalisierte, mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Parteiideologie trugen das ihre dazu bei, 288

daß sich die Sozialdemokratie als effektivere und glaubwürdigere Diszipünierungsinstanz etablieren konnte. Besonders die größere Glaubwürdigkeit ihrer Verhaltensanforderungen muß hervorgehoben werden. Wenn Sozialdemokraten oder Gewerkschafter von ihrer Klientel Selbstbeherrschung und Ordnung bei Streiks und Demonstrationen oder auch im persönlichen Verhalten forderten, traten sie als anerkannte Interessenvertreter der Arbeiterschaft auf und nicht wie die Polizisten als Agenten eines Staates, der den Arbeitern politische Partizipationsrechte verweigerte und dem Unternehmerlager den Rücken stärkte, aber gleichzeitig widerspruchslose Folgebereitschaft verlangte. Die Betonung indirekter, vermittelter Wirkungszusammenhänge relativiert die auf den ersten Blick überragende Bedeutung bürokratisch organisierter Disziplinierungsprozesse. Es wäre eingehenderer Untersuchungen wert, wieweit neben den formalisierten und bürokratisierten, aber mit dauernden Legitimationsproblemen kämpfenden Disziplinierungsagenturen neue Formen informeller sozialer Kontrolle entstanden, die Verhaltensregulierung effektiver und mit weit höherer Legitimität leisteten. Nicht nur die politischen und kulturellen Vereine der Arbeiterbewegung, sondern auch die vielfältigen informellen Strukturen, die sich im Zuge sozialer Klassenbildung festigten, waren in Grenzen ein funktionales Äquivalent zu den zerfallenden Kontrollstrukturen der ständischen Gesellschaft. Wieweit sie diese tatsächlich ersetzen konnten, bliebe zu prüfen. Hier verweist die Analyse der Polizeimodernisierung zurück auf den Bereich gesellschaftlich eingebundener sozialer Kontrolle, deren nachlassende Leistungsfähigkeit im Ubergang von der Stände- zur Klassengesellschaft die institutionelle Entwicklung stimuliert hatte. Daß polizeiliche Ordnungseingriffe nicht auf ein nacktes Gewaltverhältnis zu reduzieren sind, sondern als Element rationaler bürokratischer Herrschaft ohne ein Minimum an Legitimität - und das heißt auch Akzeptanz durch die Betroffenen - nicht auskommen, beweisen die dysfunktionalen Wirkungen einer ausufernden Strafpraxis. Der systemgefährdende, weil die Legitimität von Herrschaft in Frage stellende Überschuß strafender Polizeieingriffe resultierte aus der so typisch deutschen Überlagerung traditionaler und moderner Elemente. In dem Augenblick, als die Polizei mit gestärkten Mannschaften und einem modernen Überwachungsnetzwerk daranging, ihre traditionelle, normsetzende, verfolgende und strafende Funktionen umspannende Machtfülle zur Geltung zu bringen, häuften sich Kritik und Widerspruch. Die Strafpraxis zerstörte das Vertrauen in der Bevölkerung und drohte deren politische Loyalität zu untergraben. Die Polizei geriet in die Krise, weil sie zu effektiv arbeitete. Dieser Widerspruch konnte bis 1914 nur gemildert, nicht aufgelöst werden. Daß er als Problem erkannt und seine Lösung in Angriff genommen wurde, ist ein Indiz für die Flexibilität des 289

Systems. So wie die institutionelle Expansion ungewollt innere Modernisierungsmaßnahmen auslöste, setzten die unintendierten Nebenfolgen des überschießenden Verfolgungseifers dem polizeilichen Disziplinierungszugriff Grenzen. Wenn sich angesichts dieser komplexen Entwicklung ein Fazit ziehen läßt, dann am ehesten eines, das bei allem Zuwachs an staatlicher Macht deren innere Widersprüche und Grenzen betont. Die Entstehung einer modernen Polizei im westfälischen Industriegebiet läßt sich nicht als geradliniger Ausbau eines immer perfekteren bürokratischen Zwangsapparates bilanzieren. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmten nicht das Foucaultsche Panoptikum oder die Allmachtsphantasien zeitgenössischer Utopisten der total formierten Gesellschaft die Realität, sondern ein nicht selten widersprüchliches und die Erfolgsbedingungen der Institution gefährdendes Nebeneinander von traditionalen und modernen Strukturen, von Expansion und Krise.

290

Abkürzungsverzeichnis

AfS ALR BM DGZ Die Polizei DVJs GG GS GSTA HZ IWK JbWG KZfS LR Mdl Mdjustiz Ais. NPL OB OP PI PP PVB Reg. RP RStGB SABo SAH SAR STAM VB VSWG ZfG ZPV ZSTAM ZStW

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Anmerkungen

1. Einleitung 1 Wehler, Kaiserreich, S. 63. 2 Haupt u. Nan, Forschungsbericht, S. 201. 3 Mehr als dies im einzelnen deutlich wird, profitiert diese Untersuchung von Anregungen aus der britischen und amerikanischen Polizeihistoriographie. Einblicke in den Stand der Forschung geben: Robinson, Ideology as History; ders., Criminal Justice History Research; Monkkonen, Cop history; ders., History of Crime; Sonderlund. Als wichtige und anregende Arbeiten sind hervorzuheben: Emsley; Smith-, Bailey; Hairing, Policing; Levett; DiBacco; Monkkonen, Police in Urban America; ders., Disorderly People; Donajgrodzki, Social Police; Storch, Blue Locusts; ders., Street Prostitution; ders.. Policeman; Ferdinand-, Tilly u.a., Visibility of Crime; Lane; Miller. 4 Zur Entwicklung des Polizeibegriffs in den deutschen Staaten siehe z.B. die Studien von: Bauschinger-, Jungel; Mayer; Schäfer; Müller-Blattau; Scupin. Umfassend zur Geistes- und Theoriegeschichte der »Polizeiwissenschaft« und ihrem Ubergang zu den modernen akademischen Disziplinen: Maier. Einen gedrängten Überblick zur Begriffsgeschichte bietet Knemeyer. 5 Aus dem Genre der offiziellen und offiziösen Polizeihistoriographie seien hier pars pro toto erwähnt: Raible; Melcher; Kötzschke u. Thiele; Blankenstein; Hundertfünfüg Jahre Hamburger Polizei; Kraus; Stolz, Geschichte der Polizei; ders., Die Schutzpolizei in Altona. Trotz ambitiösen Titels sehr enttäuschend und völlig unkritisch auch die jüngste Schrift: Harnischmacher u. Semerak. Zu den Bemühungen der Polizei um ihre eigene Geschichte: Zaika, Die polizeigeschichtliche Sammlung sowie das Bestandsverzeichnis dieser Institution: Polizei-Institut Hiltrup. 6 Lüdtke, Gemeinwohl; ders., Praxis und Funktion staatlicher Repression; ders., Theoriegeschichte. 7 Siemann, Deutschlands Ruhe; ders., Polizeiverein; ders., Polizei in Deutschland. 8 Huber; Pöls. 9 Thotnason, Prussian Police State; ders., Uniformed Police; ders., Criminal Division. 10 Funk, Polizei und Rechtsstaat. Aus dem Zusammenhang dieses Forschungsprojekts stammen auch die wichtigen Arbeiten zur Entwicklung der Polizei in der BRD: Werken tin; Busch u.a.; Fwnfcu.a., Verrechdichung und Verdrängung. 11 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 18. 12 Spencer, Police-Military Relations. 13 Dies., Police in the Düsseldorf District. 14 Zur Tätigkeit der »höheren Polizei« im Vormärz und in der 48er Revolution der Quellenband von Adler, Geheimberichte und der Beitrag von Rupieper. Stellvertretend für die sozialdemokratische Erinnerungsliteratur, die sich vor allem auf die Zeit des Sozialistengesetzes konzentriert: Frohme; Ernst; Auer. Zur Entwicklung der politischen Polizei seit dem Sozialistengesetz: Fricke, Bismarcks Prätorianer. Vom selben Autor auch die Neuedirion der geheimen Lageberichte: Fricke u. Knaack. Aspekte der politisch-polizeilichen Verfolgung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Kaiserreich behandeln: Bergmann, Sozialistengesetz; Saul, Der Staat und die Mächte des Umsturzes; Lidtke; Hall; Jensen; Dertinger. 15 Als Beispiele für die Chancen einer fruchtbaren sozialgeschichtlichen Nutzung geheimpolizeilicher Akten siehe Thümmler sowie Evans, Kneipengespräche.

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Anmerkungen zu S.

17-23

16 Zum vormärzlichen Sozialprotest siehe: Wirtz, Widersetzlichkeiten; Husung, Protest und Repression; Tilly u.a., The Rebellious Century sowie die Beiträge in: Volkmann u. Bergmann. Einen Überblick über die neuere Forschung gibt Giesselmann. Zur Kontinuität gewaltsamen Sozialprocests bis weit in die Zeit des Kaiserreichs siehe z.B. die Beiträge in: Gailus, Pöbelexzesse und Volkstumulte in Berlin und die Fallstudie von Evans, Red Wednesday. 17 Zur Strcikforschung der Sammelband von Tenfelde u. Volkmann. Einzelfälle gewaltsamer Streikunruhen untersuchen z.B.: Tenfelde, Krawalle von Herne und Bleiber. 18 Die Offenheit des Protestbegriffs und die damit verbundenen Gefahren der Unscharfe und Beliebigkeit werden in der Einleitung zu Volkmann u. Bergmann, S. 9-18 diskutiert. 19 Der Wandel in Strategie und Taktik der Ordnungskräfte sollte natürlich nicht nach Art einer historischen Manöverkritik rekonstruiert werden, wie sie Zaika in affirmativer Absicht in Hinblick auf die polizeiliche Unruhebekämpfung in der Weimarer Republik betreibt. Vgl. Zaika, Polizeigeschichtc. 20 Neben den Pionierarbeiten von Blasius ist auf die Sammelbände von Rei/und Evans hinzuweisen, die das Spektrum einer sozialgeschichtlich orientierten historischen Kriminologie in Deutschland umreißen. Blasius, Gesellschaft und Kriminalität; ders., Kriminalität und Alltag; Reif, Räuber, Volk und Obrigkeit; Evans, German Underworld. Zum gegenwärtigen Forschungsstand vgl. Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. 21 Vgl. z.B. die Aufsätze von Johnsem, der die Instanzen strafrechdicher Sanktionierung völlig ausblendet: Johnson, Roots; ders., Women as Victims; ders. u. McHale, Socioeconomic Aspects. 22 Haupt, Bürokratie und Arbeiterbewegung. 23 Die angedeutete Kontroverse ist natürlich Teil der inzwischen abgeflauten Debatte über Wert oder Unwert der »Alltagsgeschichte«. Positionen und weiterfuhrende Hinweise lassen sich leicht erschließen über: Wehler, Alltagsgeschichte; Kocka, Klassen oder Kultur?; Borscheid sowie über die Beiträge in Süssmuth und in: GG, Jg. 10,1984, Heft 3. Zur Modernisierungstheorie grundlegend: Wehler, Modernisierungstheorien. 24 Eine Verabsolutierung der Modernisierung zur reinen Verlustgeschichte durchzieht z.B. das fur das Thema einschlägige Werk von Foucault. Zur fachwissenschaftlichen Kritik an der mangelnden historischen Stimmigkeit seines Konzepts siehe: Blasius, Michel Foucaults denkende Betrachtung der Geschichte. 25 So z.B.: Gailus, Volkstumulte im Berliner Vormärz. 26 Sehr anregend: Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. 27 Oestreich. Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang seiner Thesen: Breuer und Schulze. 28 Vgl. z.B. Eichler. 29 Münch, S. 14 f. 30 Vgl. Thompson; Pollard; Flohr; Sauer. 31 Vgl. Machtan und Lädtke, Arbeitsbeginn. 32 Siehe die Beiträge in dem Sammelband: Sachfle u. Tennstedt, Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Zum Gesundheitswesen: Frevert, Arbeiterkrankheit; dies., Fürsorgliche Belagerung. Zur Armenpflege: Weisbrod, Wohltätigkeit und symbolische Gewalt. Zum Arbeiterwohnungsbau: Fähr u. Stemmrich; Stemmrich. Zur Einhegung der Freizeit: Reulecke, Veredelung der Volkserholung. 33 Dies vor allem bei Foucault, aber auch z.B. bei Dreßen. 34 Oestreich selbst hat auf das »Nichtabsolutistische im Absolutismus« ausdrücklich hingewiesen. Oestreich, S. 183. Siehe auch Scribner und Baumgart. 35 Kritik an der »inflationären Ausbreitung« des Begriffs »social control« in der englischen Sozialgeschichtsschreibung übt z.B. Weisbrod, Visiting, S. 181 f; vgl. auch Stedman Jones. Von einem einheitlichen Begriff der sozialen Kontrolle wird man kaum sprechen können. Die soziologische Theoriebildung hat unter Social Control vor allem die informellen, nicht gewaltsamen, nichtintentionalen Mechanismen zu fassen versucht, die gesellschaftliche Stabilität gewährleisten. Je mehr repressives Handeln unter diesen Begriff subsumiert wird, desto unschärfer werden seine Grenzen. Siehe zur Theoriegeschichte: Donajgrodzki, Social Control, S. 9-26 und Janowitz. 36 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 822. Vgl. Narr, S. 563-566 und allgemein: Wehler,

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Anmerkungen zu S. 24 - 30 Modernisierungstheorien. Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Modernisierung und der Modernisierung des staadichen Gewaltapparates vgl. auch: Silver und Spitzer. 37 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 821 f. Weber betont zugleich: »Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates - davon ist keine Rede - , wohl aber: das ihm spezifische.« Ebd., S. 822. 38 Tenfelde, Polizei und Klassenverhältnisse, S. 255. Vgl. zach Haupt u. Narr, Forschungsbericht. In breiter angelegter Sicht auf die allgemeine Entwicklung der staatlichen Verwaltung verfolgt die Differenzierung zwischen traditioneller, hoheidicher Ordnungsverwaltung und der neuen interventionsstaatlichen Leistungsverwaltung Sille, Preußische Bürokratietradition, S. 19 ff, besonders S. 2534. 39 Die Entstehung der Marktgesellschaft, die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols und die zunehmende Rechtsbindung des Gewalteinsatzes zusammenfassend, bemerkt Weber zu dieser Frage: »Mit zunehmender Befriedung und Erweiterung des Markts parallel geht daher auch 1. jene Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit durch den politischen Verband, welche in dem modernen Begriff des Staats als der letzten Quelle jeglicher Legitimität physischer Gewalt, und zugleich 2. jener Rationalisierung der Regeln fiir deren Anwendung, welche in dem Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluß finden.« Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 519. Zur problematischen Grenzziehung zwischen ziviler und militärischer Gewalt siehe: Narr, S. 570-573. 40 Der Aspekt der Verrechtlichung wird hier nur punktuell angesprochen. Siehe hierzu die systematischen Darlegungen in: Funk, Polizei und Rechtsstaat.

2. Staat, Gesellschaft und Disziplinierung zwischen Ständeund Klassengesellschaft 1 Generell zur Verwaltungsreform: Koselleck, S. 163-216; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 445-463. 2 »Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizei.« Allgemeines landrecht, S. 620. Zur praktischen Wirkungslosigkeit dieser engen Definition und zur Kontinuität der breiten, Wohlfahrt, Verwaltung und Repression umfassenden »Polizey« im 19. Jahrhundert vgl.: Knemeyer, S. 889-893; Scupin, S. 194-196. 3 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 457. Ausfuhr lieh zum Gendarmerieedikt vom 30.7.1812: Koselleck, S. 195 ff, 448-464. Konzentriert auf die Polizeientwickung: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 26-33. 4 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 28; Schinkel; Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 141 f. 5 Koselleck, S. 460-463. 6 Siehe Tab. la (Anhang). Die Zahlen zur Gendarmeriestärke der Jahre 1819/20 nach: KoseUeck, S. 460, Anm. 39 und S. 461. Bis 1848 blieb der Personalstand der Gendarmerie fast unverändert. Von 1336 Gendarmen im Jahre 1820 erhöhte sich die Stärke des Korps auf gerade 1356 im Jahre 1848. Der Rückgang der Gendarmeriedichte von 13 auf 8 Gendarmen pro 100.000 Einwohner resultierte aus dem gleichzeitigen Bevölkerungswachstum. Rupieper, S. 332. Funk nennt fur 1848 eine Gesamtzahl von 1328 Gendarmen. Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 59. 7 Koselleck, S. 540-554. Zum teilweisen Desinteresse der Polizeiherren an einer harten Praxis vgl. den Bericht des Breslauer Regierungspräsidenten von 1845, in: Bergius. Vgl. auch Lüdtke, Gemeinwohl, S. 209 ff. 8 Blasius, Kriminalität und Alltag, S. 32. 9 Koselleck, S. 544. 10 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 28. Vgl. auch Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 295-298. 11 »In den größeren Städten lagen die Polizeibehörden fest in der Hand des städtischen

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Anmerkungen zu S. 30 -36 Establishments.« Blasius, Kriminalität und Alltag, S. 30. Vgl. Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 148 sowie Gerland, Die dienstlichen Beziehungen zwischen der städtischen Polizeiverwaltung und dem Magistrat, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 403 und den Berichtsverkehr in: STAM, Reg. Arnsberg Β 67. 12 Siehe Tab. l c (Anhang). Zum Entwickungsstand einer durchschnittlichen Lokalpolizeiverwaltung im Westfalen der ersten Jahrhunderthälfte vgl. Bausch, S. 80-84 und Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 147 ff. 13 In einem Reskript von 1840 sah der Innenminister den Nebenverdienst der Unterbeamten als selbstverständlich an und begründete damit die kärgliche Besoldung von 100 Talern. Siemann, Polizei in Deutschland, S. 73. Zu den Klagen über die Untauglichkeit zahlreicher Polizeidiener und Sergeanten: Lüdtke, Gemeinwohl, S. 149-152 und Obenaus, S. 3 1 , 4 6 , 56. 14 »Von einer wirksamen staatlichen Polizeikontrolle des Alltags konnte keine Rede sein.« Koselleck, S. 462. 15 Vgl. Obermann; Rösen. 16 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 61 f. Ausführlich zur Vorgeschichte und den näheren Umständen der Gründung der Schutzmannschaft: Thomason, Prussian Police State, S. 93-141. Die Schutzmannschaft wurde durch Kabinettsordre vom 23.6.1848 konstituiert. Ebd., S. 114. 17 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 65. Zur Militarisierung: Thomason, Prussian Police State, S. 122 ff. 18 Zu den idealtypischen Merkmalen von Stände- und Klassengesellschaft vgl.: Kocka, StandKlasse-Organisation, S. 138 f. 19 Zu den dynamischen Faktoren im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft: Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung, S. 51 ff. 20 Zur Heterogenität der Unterschichten siehe den Überblick in: ebd., S. 71-123. 21 So ein Reskript des preußischen Justizministers vom 7.11.1802, zitiert nach: Tenfelde, Gesinde, S. 203. Dieser Aufsatz gibt einen sehr guten Überblick über die Entwicklung des preußischen Gesinderechts. 22 Ebd, S . 2 0 7 . 23 Zur Vorgeschichte und den Motiven des Gesetzes von 1854 Flemming und Tenfelde, Gesinde, S. 206. 24 Umfassend hierzu: Mooser, Ländliche Klassengesellschaft. 25 Zu diesem Verein, der 1841 als »Klassenorganisation der Bauern« in Heepen bei Bielefeld gegründet, aber von der Verwaltung nicht anerkannt wurde, siehe: ebd., S. 276 ff. Angesichts der Tatsache, daß in dem betreffenden Amtsbezirk auf rd. 9000 Einwohner gerade ein Polizeibeamter kam, kann der geplante Verein durchaus als eine Art privater Ersatzpolizei angesehen werden. Zur ländlichen Sozialkriminalität und der bäuerlichen Selbstjustiz: Mooser, Holzdiebstahl, S. 76 ff; Blasius, Gesellschaft und Kriminalität, S. 23-65 und ders., Kriminalität und Alltag, S. 46 ff. 26 Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 87 ff. 27 Ebd., S. 93. 28 Ebd., S. 163-191. 29 Zur Einfuhrung der Gewerbefreiheit in Preußen: Standi; Vogel, S. 165 ff, 179 ff, 186 ff. Zum »polyfunktionalen Charakter« des ständischen Handwerks, zur sozialen Kontrolle des Meisters über seine Gesellen und zu den juristischen Funktionen der Zünfte: Bergmann, Berliner Handwerk, S. 534. Auch im bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zünftigen Hannoveraner Handwerk waren die Strafkompetenzen der Zunft gegenüber den Gesellen schon früh auf Polizei und allgemeine Verwaltung übergegangen. Vgl.Jeschke, S. 147-153. 30 Vgl. Grießinger, S. 255-285 und Eisenberg, S. 98-109. 31 Vgl. Husung, Eisenbahnarbeiter und Wortmann. 32 Zu der Verordnung von 1846, die sich insgesamt durch eine typisch patriarchalische Mischung aus Repression und Fürsorge auszeichnete, siehe die ausfuhrliche Darstellung bei Wortmann, S. 187222. Zur grundsätzlichen Bewertung vgl. Koselleck, S. 635-637. 33 Vgl. Flohr; Machtan; Ditt, Arbeitsverhältnisse.

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Anmerkungen zu S.

36-39

34 Auf die zum Teil geringe Effizienz der Fabrikordnungen bei der betriebsinternen Disziplinierung weisen Machtan und Lüdtke hin. Machtan, S. 2 0 7 ff; Liidtke, Arbeitsbeginn. 35 Kocka, Unternehmer, S. 76-80 betont für die frühe Industrialisierung die starke Bedeutung paternalistischer Herrschaftstechniken. Dieser »ungeplante Patriarchalismus« der Frühphase wurde in der Hochindustrialisierung z.T. durch gezielt eingesetzte Techniken der Loyalitätssicherung und Betriebsbindung abgelöst. Prominente Beispiele des Betriebspatriarchalismus wie Krupp und Stumm dürften aber kaum verallgemeinerbar sein. Flohrs Analyse von Fabrikordnungen zeigt eine deutliche Konzentration auf die funktional betriebsbezogene Verhaltensregulierung. Flohr, S. 33 ff, 53 ff. 36 Vgl. Küther, S. 31, 36. Sachße u. Tennstedt, Sicherheit und Disziplin, S. 27. Zur Praxis der Landesvisitationen in Preußen: Beiträge, Teil I., S. 267-295. Dort heißt es mit Blick auf das 18. und frühe 19. Jahrhundert: »Die Abwehr legitimationsloser Ausländer und fremdländischer Vagabunden erschien thatsächlich fest überall als sehr überwiegender Theil der polizeilichen Obliegenheiten.« Ebd., S. 275. Zur Kontinuität polizeilicher Repression gegenüber diesen Gruppen, aber auch zum Bedeutungsgewinn fursorgerischer Maßnahmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Scheffler. 37 Vgl. Nipperdey, S. 320-337; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 322 ff. 38 Die folgende Skizze basiert im wesendichen auf der umfassenden Studie von Siemann, Deutschlands Ruhe. Zu Preußen siehe besonders: S. 61-71, 174-196, 242-304. Einen gerafften Überblick bietet: ders., Polizei in Deutschland. 39 Zur Kriminalisierung politischer Verbindungen während der Restauration und im Vormärz: Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität, S. 26-46 und Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 175. 4 0 Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 192 f. 4 1 Ebd., S. 76 ff, 93 ff. Neben diesen offen arbeitenden Kommissionen bestand in Mainz seit 1833 ein geheimes Informationsbüro der österreichischen Regierung. Diese von Metternich initiierte »Mainzer Central-Policei« war »auf deutschem Boden der erste institutionell selbständige, als Behörde organisierte, zentralisierte politisch-polizeiliche geheime Nachrichtendienst mit einem Operationsfeld innerhalb der deutschen Bundesstaaten und in das benachbarte Ausland hinein.« Ebd., S. 139 ff. Die Arbeit dieses Büros dokumentiert die Quellenedition von Adler, Geheimberichte. Zur Geschichte und Tätigkeit der Mainzer Geheimpolizei siehe auch: Adler, Staatsschutz. 4 2 Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 242-304. Zur Rolle der Polizei in der 48er Revolution siehe Rupieper, der die polizeilichen Verfolgtenlisten für eine genaue Sozialstrukturanalyse der Revolutionsteilnehmer nutzt. Über die Tätigkeit des »Polizeivereins« informiert eine Auswahl aus den Wochenberichten, die unter den beteiligten Staaten ausgetauscht wurden. Siemann, Polizeiverein. 43 So der Mindener Polizeidirektor 1853. Zitiert nach Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 392. Zu den innerstaatlichen Rückwirkungen des »Polizeivereins«: ebd., S. 261, 389 ff. 4 4 Ebd., S. 346. Zum Aufstieg Hinckeldeys zum »heimlichen Polizeiminister« und den daraus resultierenden innerbürokratischen Reibungen: ebd., S. 345 ff. 45 Ebd., S. 384, 399. 46 Vgl. Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität, S. 12 ff. 4 7 Wie stark die Tätigkeit der geheimen politischen Polizei trotz aller Institutionalisierungstendenzen unmittelbar an die Herrschaftsinteressen des - hier fast noch absoluten - Monarchen gebunden und wie wenig sie auch nach 1850 bürokratisch kanalisiert war, zeigt die anachronistische Symbiose zwischen Hinckeldey und Friedrich Wilhelm IV., die gegen alle bürokratischen Gepflogenheiten mündlich und durch persönliche Handschreiben kommunizierten. Auch scheute sich der preußische König nicht, präzise Dctailanweisungen für geheimpolizeiliche Recherchen zu geben. Vgl. Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 345-355. 4 8 Ebd., S. 72 ff, 2 6 1 ff. Die verdeckte Existenz beider Seiten, der kriminalisierten Opposition wie der geheimen Polizei, konnte leicht einer wechselseitigen Fehlwahrnehmung Vorschub leisten. Nicht nur die Behörde neigte zur dramatischen Überzeichnung und hysterischen Fixierung auf die »traumatische Konstellation von Konspiration, internationaler Revolution und Fürstenmord.« Ebd., S. 239. Auch in Kreisen der verfolgten Demokraten wurde die politische Polizei zum »Spioniersystem der raffiniertesten Art« und »gewaltige[n] Rüstzeuge der Macht mit ihren Tausenden von Hilfemitteln

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Anmerkungen zu S. 40-44 und Hilfsbütteln« überhöht. So z.B. im Urteil des badischen Revolutionärs Friedrich Hecker in seinem autobiographischen Fragment von 1869, zitiert nach der Dokumentation in: Muhs, S. 323. 49 Einen gerafften Längsschnitt durch die Entwicklung im Kaiserreich gibt: Langewiesche, Staatsschutz, der die politisch-polizeiliche Verfolgung in den Kontext herrschaftsstabilisierender Maßnahmen einordnet. 50 »Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.« Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. Siehe auch: Oestreich, S. 190 f, 194. Im selben Sinne: Foucault, S. 173 ff 51 Ausfuhrlich zum gesamten Komplex der politischen Instrumentalisierung der Armee als Sozialisationsagentur des preußischen Untertanen: Höhn, S. 56-76, 86-91, 146-152. 52 Messerschmidt, Preußens Militär, S. 54 f. Zur Einführung der Wehrpflicht auch: ders., Die politische Geschichte, S. 59-66. 53 Messerschmidt, Preußens Militär, S. 59. 54 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 383-387. 55 Klilckmann, S. 10 f beleuchtet ausführlich die Rechtsgrundlagen des innerstaatlichen Militäreingriffs und gibt einen Überblick über Einzelfälle seit 1800. Zum praktischen Primat des Militärs als innerer Ordnungsmacht im Vormärz siehe: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 47 f; Lildtke, Gemeinwohl, S. 283 ff; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 358 f; Koselleck, S. 460-463. 56 Die ausgezeichnete Dokumentation dieses Falles spiegelt alle Stufen des Protests und der polizeilich-militärischen Reaktion wider. Rösen, S. 34. 57 So hieß es in einer Anweisung des Königs an das Staatsministerium vom 21.11.1840 anläßlich eines Tumults in Iserlohn, bei dem Militär erst mit einiger Verzögerung eingesetzt worden war: »Ich veranlasse Sie deshalb, die Polizei-Behörden darauf aufmerksam zu machen, daß bei entstehenden Aufläufen stets die militärische Hilfe zeitig und gleich in zureichender Mannschaft nachzusuchen ist, um dieselben nicht zu größerem Umfange anwachsen zu lassen, sondern im Keime ersticken zu können.« STAM, OP 6095, f 3. Vgl. auch die Einzelfälle militärischer Eingriffe in: STAM, OP 685. 58 Tilly u. Hohorst, S. 252, Tab 7. Im Gegensatz zu Preußen hat beispielsweise in Baden der Militäreinsatz bei der Unterdrückung kollektiver Unruhen zunächst eine eher untergeordnete Rolle gespielt und wurde erst im Vorfeld der 48er Revolution dominant. Wiriz, Widersetzlichkeiten, S. 215 ff. 59 Lüdtke, Gemeinwohl, S. 238-282. Zusammenfassend: ders., Praxis und Funktion staatlicher Repression. 60 lüdtke, Gemeinwohl, S. 238. 61 Ebd., S. 250-256, 263 f. Zu den Festungen: ebd., S. 272-282. 62 Ebd., S. 335-338. 63 Zur Zivilversorgung: Messerschmidt, Die preußische Armee, S. 198 ff.

3. Polizeifunktionen im gesellschaftlichen Wandel 1 So beispielsweise der RP Düsseldorf in einem Bericht an denMdl vom 6.7.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343, FI Fasz ad. Nr. 3, Bd. 4, f 151 v. Der Amerikatopos findet sich etwa auch bei Hue, S. 239. 2 Aus der umfangreichen Literatur zur Ruhrgebietsgeschichte sei hier nur auf die wichtigsten neueren Studien zur Geschichte der Bcrgarbeiterschaft hingewiesen: Tenfelde, Bergarbeiterschaft, dort S. 33-59 ein umfassender Überblick über die gewerbestrukturelle Entwicklung; Brüggemeier, Leben vor Ort; Kleßmann. Aus der Perspektive einzelner Städte: Crew, Bochum; Zimmermann, Schachtanlage und Zcchenkolonie; Reif, Industrialisierung. 3 Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 603; Kleßmann, S. 263 f.

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Anmerkungen zu S. 45- 47 4 Zu den Wanderungsphasen: Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 230-245 und Jackson. Einwanderer aus den preußischen Ostprovinzen stellten 1893 rund ein Viertel, 1913 mehr als ein Drittel der Zechenbelegschaften. Kleßmann, S. 265. Zur Zuwanderung dieser Gruppe: ebd., S. 37-43 und Murzynowska, S. 21-32 sowie: Wehler, Polen. 5 Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 327. 6 Brüggemeier u. Niethammer. Zur hochgradig defizitären Urbanisierung im Ruhrgebiet siehe: Reulecke, Urbanisierung, S. 44 ff. 7 Zur Fluktuation als typischem Phänomen der Hochindustrialisierungsperiode siehe: Langewiesche, Wanderungsbewegungen und ders., Mobilität. Zur Region siehe auch: Crew, Regionale Mobilität. Nahezu alle genannten Facetten proletarischer Existenz im Ruhrrevier spiegeln sich exemplarisch in der Autobiographie des Bergmanns Marchwitza. 8 Vgl. Mooser, Arbeiterleben, S. 14 f. 9 Mascher, S. 39. 10 Ebd., S. 38. 11 VB der Stadt Oberhausen, zitiert nach: DGZ, Jg. 16,1877, Nr. 2, S. 8. 12 Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Naumburg an Mdjustiz vom 28.10.1887, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8196, f 248 v. Man könnte die Reihe der Zitate fast beliebig verlängern. Die Verwaltungsberichte der Ruhrgebietsstädte sind besonders in den siebziger Jahren, als die rasante Industrialisierung noch als schockierende Neuheit erfahren wurde, eine ergiebige Quelle zur Analyse der Wahrnehmungsstereotypen des lokalen Bürgertums gegenüber der Arbeiterschaft. Vgl. z.B. VB Gelsenkirchen fur 1877/78, S. 14. Siehe auch den Abschnitt: »In betreff der moralischen Versorgung«, in: Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 153-161. 13 Weder waren diese Schreckensbilder in den siebziger und achtziger Jahren völlig neu, noch blieben sie auf die Verhältnisse im rheinisch-westfälischen Industriegebiet beschränkt. Schon seit der Pauperismuskrise des Vormärz gerann die Vorstellung vom bindungs- und sittenlosen Proletariat zu einem Topos des offiziellen Diskurses über das Arbeiterleben. Vgl. Jantke u. Hilger. Zur Bündelung dieser Problemperzeption durch die Diskussion über die vormärzliche Sozialkriminalität Blasius, Gesellschaft und Kriminalität, S. 52-65. Zur Ausstrahlungskraft dieser Sichtweise bis hin zur literarischen Reflexion des Klassengegensatzes: Bogdal. Vgl. auch die Anthologie zeitgenössischer Reportagen, die zeigen, wie die Faszination und der gleichzeitige Schrecken über die fremden Sitten der Unterschichten ein ganzes literarisches Sujet prägten: Bergmann, Schwarze Reportagen. 14 Tenfelde betont eher die desorientierenden und desintegrierenden Aspekte, während Brüggemeier den Akzent auf die Integrationsleistungen der entstehenden Arbeitersubkultur legt. Zum Teil hängt dieser Bcwcrtungsunterschied mit der Konzentration auf die frühere bzw. spätere Phase der Ruhrgebietsentwicklung zusammen. Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 321-333; ders., Gewalt und Konfliktregelung, S. 192 ff; Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 253 ff. 15 Vgl. Niethammer u. Brüggemeier, Wie wohnten Arbeiter; Brüggemeier u. Niethammer, Schlafgänger. Vgl. auch: Jackson, S. 233 f, der die desintegrierende Wirkung der extremen Fluktuation in der Ruhrgebietsagglomeration stark relativiert. 16 Roberts, Drink; ders., Alkoholkonsum; ders., Wirtshaus; Abrams, die konstatiert: »The tavern was a symbol of stability in an otherwise unstable life.« Ebd., S. 10. Zu Roberts siehe auch die kritischen Anmerkungen von Vogt und Wunderer, die stärker als dieser im Sinne der hier vertretenen These auf die Bedeutung gewandelter Perzeptionsmuster im Bürgertum und in der Bürokratie verweisen, die proletarisches Trinken als gefahrliche Abweichung stigmatisierten, während sie chronischen Alkoholmißbrauch in den östlichen Agrargebieten eher gleichgültig registrierten. Was dort traditional legitimiert und gutsherrschaftlich eingehegt war, wurde hier als unkontrollierter, zudem unter industriellen Bedingungen dysfunktionaler Mißbrauch gewertet. Zu einer weiteren Ebene bürgerlicher Angstprojektionen, der angeblichen sexuellen Freizügigkeit unter Arbeitern, siehe Neumann, der eher moderate, langfristige Wandlungsprozesse sexuellen Verhaltens als den perhorreszierten Sittenverfall betont. 17 So die These von Brüggemeier, der stark auf die Prozesse informeller Selbstorganisation und

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Anmerkungen zu S.

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Strakturierung rekurriert, die formalen Organisationsprozessen vorgelagert waren und deren Verlauf nicht unwesentlich beeinflußten. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 68-74,253-258. Vgl. Zwahr, S. 115203 und Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung, S. 125-162. 18 Niethammer, Erläuterung, S. 52. 19 Als Beispiel für die Glorifizierung einer angeblich authentischen Unterschichtenkultur siehe die Eloge auf die »Wilden im eigenen Land« bei Gailus, Volkstumulte im Berliner Vormärz, S. 38. Vgl. auch: Peukert, Glanz und Elend der Bartwichserei. 20 Siehe die Beiträge in Sachße u. Tennstedt, Soziale Sicherheit. Zur »Zivilisierung« der Bergarbeiterschaft: Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 142-161. 21 Koselleck, S. 463. 22 Exemplarisch hierzu die verwaltungsinternen Erklärungsmuster bei der Suche nach den Ursachen zunehmender Kriminalität in den Industrieregionen. Vgl.: Bericht des Ersten Staatsanwalts in Oppeln an den Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Breslau vom 11.12.1889, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8195, f 32-69, hier: f 34 v, 40-41. 23 »Es will mir wenigstens nicht einleuchten, wie das Fabrikproletariat auf irgend eine Weise nachhaltig gefestet und der kommunistischen Luft entzogen werden könne, außer indem man die Fabrik nach Art der alten Werkstätten zu einer großen patriarchalischen Familie durchbilde, damit der proletarische Arbeiter in dem beschränkten Kreise dieser Familie das finde, was er in dem Phantasiebild der sozialistischen Familie der Menschheit vergeblich sucht.« Riehl, S. 244. 24 RP Arnsberg an OP Münster v. 17.5.1850, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pr 56. 25 Der Regierungspräsident forderte wegen der Unfähigkeit der örtlichen Polizeiverwalter sowohl für Hagen als auch für Iserlohn einen staatlichen Polizeidirektor - übrigens vergeblich. Um zukünftigen revolutionären Unruhen begegnen zu können, schlug er außerdem vor, in Iserlohn Militär zu stationieren. Ebd. Zu den revolutionären Ereignissen im Raum Hagen-Iserlohn siehe: Stöcker, S. 20-31. 26 Zur Biographie Naumanns, der seit 1832 in verschiedenen Funktionen in der preußischen Verwaltung tätig war und zum Zeitpunkt seiner kommissarischen Amtsführung in Arnsberg Regierungsvizepräsident bei der Münsteraner Bezirksregierung war, siehe: Wegmann, S. 309 f. Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung gehörte er der Fraktion »Cafe Milani« an, die die äußerste Rechte des Parlaments repräsentierte. Schwarz, S. 11 f, 83. 27 Zur Gewerbestruktur des Hagener Raums siehe: Hohorst und Herzig, S. 253-280. Vgl. auch zur strukturell ähnlich gelagerten Nachbarregion um Solingen: Boch, S. 28-31. Ausführlich zu den Besonderheiten der »plebejischen Kultur« der protoindustriellen Heimarbeiter: Kriedte u.a., S. 137154. Die auch aus Sicht des Verlegers prekären Kontrollproblcme der dezentralen Produktionsform waren eines der Motive zur Zentralisierung der Fertigung in der Manufaktur und später der Fabrik. Ebd., S. 228,233. 28 Vgl. Lüdtke, Gemeinwohl, S. 192. Zu der ganz ähnlich verlaufenden Debatte im England der dreißiger und vierziger Jahre siehe: Donajgrodzki, Social Police, S. 59. 29 Fabrikinspektor Mannstaedt an RP Arnsberg v. 30.1.1855, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 51, Bd. 1. 30 Brigadier der 7. Gendarmeriebrigade v. Franckenberg an das kgl. Kommando der Landgendarmerie v. 28.4.1869, in: STAM, OP 2689, f 4-85, hier: f 39. 31 Ravensberger Spinnerei an den Magistrat der Stadt Bielefeld v. 29.9.1864, zitiert nach: Ditt, Industrialisierung, S. 110. Dort auch eine eingehende Darstellung und Analyse der außergewöhnlich scharfen Fabrikdisziplinierung in den Bielefelder Spinnereien. Ebd., S. 108-111. Die dort beschäftigten Arbeiter hatten freilich ihre eigene Ansicht über diesen Unternehmerdespotismus. Sie gaben der Ravensberger Spinnerei den Beinamen »Zuchthaus«. Ebd., S. 111. 32 LR Gelsenkirchcn an RP Arnsberg v. 4.3.1893, in: STAM, Reg. Arnsberg I 48. Zur Sonderrolle des Kruppschen Betriebspatriarchalismus siehe Flohr, S. 53 ff. Welcher Geist in den Werkstätten und Wohnsiedlungen des Kruppschen Unternehmens herrschte, zeigt ein Brief Alfred Krupps »über die Entfernung unverträglicher Elemente aus den Kolonien der Gußstahlfabrik«: »Alles

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Anmerkungen zu S. 52 - 56 faule, widerstrebende, zänkische, unordentlich lebende und liderliche Gesindel muß mit aller Strenge entfernt werden - zunächst aus den Wohnungen und dann aus dem Dienst. - Die eigene Polizei und andere Privat Controlle, die Auskunft der Ortspolizei und der Gerichte... werden uns zeigen, wo und wann Eingreifen nothwendig ist. ... Ohne das werden wir nicht fertig - sonst werden wir einmal überrascht mit der Ueberzeugung, daß wir ein Uebermaß von schlechtem Gesindel väterlich beherbergen und daß wir in unserem eigenen Kreise Menschen pflegen und ernähren, die dagegen an unserem Verderben arbeiten.« Brief Alfred Krupps an die Prokura v. 30.1.1876, zitiert nach der Dokumentation in: Führ u. Stemmrich, S. 325-326. 33 Brigadier der 7. Gendarmericbrigade v. Franckenberg an OP Münster v. 19.7.1869,in: STAM, OP 2689, f 3. 34 Ebd., f 3, f 17-18, f 32 ff. 35 RP Münster an OP Münster v. 18.9.1899, in: STAM, Reg. Münster VII - 57, Bd. 1. 36 LR Recklinghausen an RP Münster v. 17.8.1886, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 7, f 118-124. 37 Ebd., f 122 ν - 123. Mit ähnlichem Akzent der Begründungsbericht zur Vermehrung der Gendarmerie im Kreis Dortmund: RP Arnsberg an Mdl v. 3.4.1866, in: ebd., Bd. 7. 38 Vgl. Ditt, Industrialisierung, S. 111. 39 »Die Freisetzung aus den ständischen Rechts- und Sicherheitskautelen entließ die Arbeiterschaft in einen bereits durch die Veränderungen zur industriellen Umwelt eingeleiteten Lern- und Anpassungsprozeß an die nunmehr bestimmenden Existenzbedingungen kapitalistischer Produktion: an die Gesetze des Markts und die großbetriebliche Produktionsform, an die innerbetriebliche und gesellschaftliche Unterdrückung.« Tenfelde, Bergarbciterschaft, S. 188. Zum Verlauf der Liberalisierung des preußischen Bergrechts: ebd., S. 177-191. Zur Persistenz ständischer Formen des Konfliktaustrags und ihrer Mischung mit modernen Kampfformen und -zielen: ebd., S. 593-597. Vgl. auch Brüggemeier, Leben vor Ort, s. 186-190. 40 Vor allem Brüggemeier hat die »relative Autonomie« der Arbeiter unter Tage betont. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 180,128-132,253 ff. 41 Zimmermann, Schachtanlage, S. 81 ff; Brüggemeier u. Niethammer, Schlafgänger, S. 174; Niethammer u. Brüggemeier, Wie wohnten Arbeiter, S. 75-78. 42 Wehler, Polen, S. 438. 43 Die Sicherung der sozialen Infrastruktur kapitalistischer Produktion, so die These von Steven Spitzer, ist eine der zentralen Funktionen der modernen Polizei und einer der wichtigsten Antriebe zu ihrer Etablierung. »As the superfluous population grows in size, and the web of social intercourse becomes ever weaker, more tangled, and more fragile, it becomes more and more important for policing to provide the glue to hold together the remnants of a 'civilized' world.« Spitzer, S. 334. Zum Zusammenhang der »rationalization of social relations and the development of policing« siehe die an amerikanischen und britischen Beispielen entwickelte, jedoch systematisch angelegte Argumentation in: ebd., S. 324-328. Vgl. auch Silver. Vgl. zum Zusammenhang zwischen bürgerlichen Bedrohungsgefühlen, Grenzen der Fabrikdisziplinierung und Polizeiausbau auch Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 304-307. 44 Die sociale Aufgabe der Polizei, S. 221. 45 Ebd., S. 222 f. 46 Ebd., S. 226. 47 Ebd., S. 227.

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Anmerkungen zu S. 57 - 60

4. Stadien der regionalen Polizeientwicklung 1 Siehe Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 61-67; Thomason, Prussian Police State, S. 93-141,340399 und Kapitel 2 dieser Arbeit. 2 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 56. 3 Mdl an OP Münster v. 9.5.1848, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 15, f 9-12 v. 4 Ebd. Dieser Schätzung liegt eine Mannschaftsstärke von 1350 Gendarmen zugrunde. Rupieper, S. 332, nennt für 1848 1356, Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 5 9 , 1 3 2 8 Gendarmen. 5 Mdl an OP Münster v. 9.5.1848, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 15, f 9-12 v. 6 Der Oberpräsident votierte einmal wegen der hohen Kosten gegen die Kreisschutzmannschaften, vor allem aber, »weil solche besoldete Mannschaften in der Regel nicht hinreichende Achtung genießen werden, um bei Ruhestörungen jenen gewichtigen moralischen Eindruck zu machen, welcher die Wirksamkeit der Bürgerwehren vorzugsweise bedingt.« OP Münster an Mdl v. 12.5.1848, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 15, f 3-4 v. 7 L R Bochum an RP Arnsberg v. 21.6.1848, in: ebd., f 72-86. 8 So die Qualifikationsanforderungen an die Kreisschutzmänner im Erlaß des Innenministers vom 9.5.1848, in: ebd., f 9-12 v. 9 Verzeichnis der Schutzmänner im Kreise Bochum v. 15.6.1848, in: ebd., f 79-81 v. Insgesamt war die Einstellung von 24 Kreisschutzmännern im Landkreis Bochum geplant. Von den Anwärtern waren 12 Bergleute, 7 übten Handwerksberufe, 2 ungelernte Tätigkeiten aus und bei den übrigen ist der Beruf ungenannt. Von den 24 Aspiranten hatten 18 beim Militär gedient, 20 waren verheiratet. Das Durchsschnittsalter betrug rund 34 Jahre. 10 »It was believed in Berlin that tough and disciplined miners would make excellent policemen in a context of revolution.« Thomason, Prussian Police State, S. 119. 11 OP Münster an R P Arnsberg v. 7.7.1848, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 15. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kreisschutzmannschaften in 8 von 14 Kreisen des Reg. Bez. Arnsberg eingerichtet. RP Arnsberg an OP Münster v. 5.10.1848, in: ebd., f 271-273. Die Widerstande werden kaum aus den westfälischen Industriekreisen gekommen sein. Noch im November bat der Landrat in Hagen dringend darum, die Dienstzeit der Kreisschutzmänner zu verlängern, da »mit dem laufenden Monate die Arbeiten auf der Bergisch-Märkischen Eisenbahn aufhören und dann über 2000 Arbeiter im hiesigen Kreise brodlos werden.« L R Hagen an RP Arnsberg v. 3.11.1848, in: ebd. f 292. 12 Die Bürgerwehren waren 1848 einerseits eine revolutionäre Errungenschaft, da sie als innere Ordnungsmacht an die Stelle des Militärs traten und insofern den Sieg der bürgerlichen Gesellschaft über das vorkonstitutionelle Gewaltmonopol des Monarchen repräsentierten. Andererseits spiegelten sie vom ersten Tag ihres Bestehens an auch die zweite große Konfliktlinie der Revolution - die zwischen dem Bürgertum als sozialer Klasse und den Unterschichten. Diese doppelte Konnotation von Bürgerlichkeit prägt auch einen Ausspruch Camphausens vom 20. März 1848: »Die Bewaffnung der Bürger wird mit Eifer und in großer Ausdehnung betrieben, gebe Gott, daß sie vollendet sei, bevor die Masse das Gelüste ergreift, sich ebenfalls Waffen auszubitten.« Zitiert nach Obermann, S. 144. In Dortmund wurde am 20.3. auf Anregung von Landrat und Magistrat eine Bürgerwehr gegründet, die schon am folgenden Tag beim Generalkommando in Münster um Waffen bat, »da ihre 800 Mitglieder 4000 Fabrik- und Bergarbeiter in Schach halten müßten.« Bausch, S. 85. Zur Bürgerwehr in Hagen: Stöcker, S. 20. Vgl. auch Goebe! u. Wichelhaus, S. 149-154; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 720 ff; Messerschmidt, Politische Geschichte, S. 145. 13 Durch Erlaß vom 7.4.1850 forderte das Innenministerium Bericht darüber, wo die Verstaatlichungsoptionen des Gesetzes vom 11.3.1850 umgesetzt werden sollten. Bei den Vorschlägen sei aber von vornherein auf die knappen staatlichen Mittel Rücksicht zu nehmen. Mdl an OP Münster v. 7.4.1850, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 606, Nr. 2, f 1-2 v. Siehe auch OP Münster an RP Arnsberg v. 13.4.1850, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pr 56. 14 RP Arnsberg an OP Münster v. 17.5.1850, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pr 56. 15 Ebd.

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Anmerkungen zuS.60-

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16 Ebd.. Vgl. Lüdtke, Gemeinwohl, S. 192 f. 17 OP Münster an RP Arnsberg v. 16.7.1850, in: STAM, Reg. Arnsberg, I Pr. 56. 18 AuchzurMilitärstationierungkamesnicht. Der Oberpräsident hatte außerdem die Einsetzung eines staatlichen Polizeidirektors in Münster angeregt, dort freilich nicht wegen aufbrechender Klassenspannungen, sondern wegen der konfessionellen Distanz der katholischen Bevölkerung zum protestantisch-preußischen Regime. Nach der Wahl eines loyalen Oberbürgermeisters hatte sich das Problem in Münster jedoch bald von selbst erledigt. OP Münster an Mdl v. 22.6.1850, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 606, Nr. 2 , f 3 - 6 v; OP Münster an Mdl v. 18.11.1850, in: ebd., f 12-14 v. Zu Münster: Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 149. 19 Bericht des Staatsministeriums vom 28.6.1917, in: ZSTAM, 2.2.1., Nr. 14917, f 195-199, hier: f 196-197 v. ZuMinden: Mdl an denMinister der Finanzen v. 31.7.1851, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 344, Nr. 9, Bd. 1, f40-48. In diesem Band auch der übrige Schriftwechsel zwischen den Ministerien zur Frage der Verstaatlichung, aus dem die Bremserrolle des Finanzministers deutlich hervorgeht. 20 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 57. Als Richtschnur fur die anzustrebende Polizeistarke in den Städten mit einer staatlichen Polizeiführung gab das Innenministerium Anfang der fünfziger Jahre einen Kommissar und drei bis vier Sergeanten für je 10.000 Einwohner an. Das entspricht einer Dichte von 40 bis 50 Polizeibeamten pro 100.000 Einwohner. Damit lagen die Orte mit staadicher Polizei nicht nennenswert über dem Niveau der kommunalen Polizeiverwaltungen. ZSTAM, Rep. 77, Tit. 344, Nr. 9, Bd. I , f 5 9 . 21 Zum Spruch des Obertribunals vom 8.4.1861 und seinen Konsequenzen für die Finanzierung der staatlichen Polizei siehe: Mdl an das Staatsministerium v. 27.10.1880, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3725, f l 58-167 v. Zur Rekommunalisierungswelle Anfang der sechziger Jahre auch die Berichterstattung in: DGZ, Jg. 1,1862, S. 501,587,597u.ö. ZumTeilmußte die Polizei den Kommunen geradezu aufgezwungen werden. So z.B. in Trier, wo es die Stadt wegen der neuen Finanzierungsregelung gern bei einer staadichen Polizei belassen hätte. Ebd., S. 384, 586. 22 Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 301 f. Bericht des Staatsministeriums v. 28.6.1917, in: ZSTAM, 2.2.1., Nr. 14917, f 195-199, hier: f 197. 23 Ebd., f 197 v. Lemke, Osnabrücker Polizei, S. 125; Die Entstaatlichungspolitik zerstörte auch die Hoffnungen mancher Kommunen, sich der kostspieligen Polizei durch ihre Übertragung an den Staat zu endedigen. Zu entsprechenden Bemühungen: Stolz, Schutzpolizei in Altona, S. 36 f; Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 149. 24 Zu Naumann vgl.: Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 149. 25 Zum Ringen der Bürgermeister um neue Planstellen: Bausch, S. 86 ff. Vgl. auch den Konflikt zwischen Bürgermeister und Stadtverordnetenversammlung über die Personalausstattung der Hagener Polizei Anfang der achtziger Jahre in: SAH, 3176. 26 Bei der Berechnung der Polizeidichte werden alle uniformierten Kräfte und die Kriminalpolizei berücksichtigt. Die Bürobeamten sind ausgeschlossen. Die Polizeistärkeangaben beruhen auf den Kommunaletats und den jährlichen Verwaltungsberichten. Bei Abweichungen zwischen beiden Quellen werden die Angaben der Verwaltungsberichte vorgezogen. Die zugrundegelegten Bevölkerungsdaten basieren auf den Mitteilungen der Verwaltungsberichte. Überlieferungslücken von ein oder zwei Jahren wurden durch Schätzwerte geschlossen. Dortmund: Polizeidaten: VB fur 1857,1873, 1876-77,1890,1892,1899,1901-08; Haushaltsetats Dortmund für 1858-72,1874,1878-89,1891, 1893-98; Denkschrift Dortmund. Bevölkerungsdaten: VB Dortmundfür 1876-80,1882-1900; Denkschrift Dortmund. Bochum: Polizeidaten: VB Bochum für 1860,1873-75; Haushaltsetats Bochum für 1862,1866,1869,1871-72,1876-1900,1901-08. Bevölkerungsdaten: VB Bochum fur 1860-1908. Hagen: Polizeidaten: Bericht PI Meyer an BM Hagen v. 31.10.1890, in: SAH, 3176; VB Hagen für 1904-1913; Haushaltsetats Hagen für 1889-1903. Bevölkerungsdaten: VB Hagen für 1876-88,18901913. Gelsenkirchen: Polizeidaten: VB Gelsenkirchen für 1877; Haushaltsetats Gelsenkirchen für 1887-1903/04; RP Arnsberg an OP Münster v. 9.7.1904, in: STAM, OP 6086. Bevölkerungsdaten: VB Gelsenkirchen für 1877/78,1880-1902/03. Recklinghausen: Polizei- und Bevölkerungsdaten: VB Recklinghausen für 1893-1913.

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Anmerkungen zu S. 62 - 69 27 STAM, Reg. Arnsberg I Pr. 56. Zum Vergleich sei an die Berliner Schutzmannschaft nach 1848 erinnert. Die Polizeidichte lag hier bei über 300 Beamten pro 100.000 Einwohner. 28 Siehe die Quellenangaben zu Schaubild 1. Daß die vorliegenden Langzeitreihen aus fünf Städten ein korrektes Bild ergeben, zeigt eine Momentaufnahme der Polizeidichte in 13 westfälischen Städten für das Jahr 1872. Auf je 100.000 Einwohner kamen rechnerisch: in Dortmund 27, Bielefeld 32, Minden 42, Hamm 18, Witten 33, Hörde 24, Herford 27, Lüdenscheid 13, Unna 29, Hattingen 16, Bocholt 33, Warendorf 40 und in Herdecke 27 Polizeibeamte. Errechnet nach Mascher, S. 13-18. 29 VB Gelsenkirchen für 1878 und 1888; Haushaltsetat Gelsenkirchen für 1888. Zu Dortmund siehe Tab. 17 (Anhang). 30 Zur Kompetenzabgrenzung: Seidel, Das dienstliche Verhältnis der Gendarmen zu den (städtischen und ländlichen) Ortspolizciverwaltungen in der preußischen Monarchie, in: ZPV, Jg. 4, 1896,S. 193-195. Vgl. OP Münster an RPArnsbergv.28.10.1862,in: STAM,Reg. Arnsbergl 1469, wo der Oberpräsident daran erinnert, in größeren Städten die Gendarmen durch städtische Polizeidiener zu ersetzen. Noch 1890 bezogen allerdings die Gendarmen die kreisangehörigen Städte routinemäßig in ihre Patrouillcnbezirkc ein. RP Arnsberg an OP Münster v. 30.7.1890,in: STAM, OP2832, Bd. 3. Vgl. auch LR Dortmund an RP Arnsberg v. 24.10.1883, in: STAM, Reg. Arnsberg 11471. 31 Siehe Tab. 2 (Anhang) und die dort angegebenen Quellen. 32 Kgl. Bergmeister Schmid, Sprockhövel an RP Arnsberg v. 18.6.1866, in: STAM, Reg. Arnsberg Β 62, f 221. 33 Oberbergamt Dortmund an RP Arnsberg v. 28.6.1866, in: ebd., f 229. 34 LR Bochum an RP Arnsberg v. 29.6.1866, in: ebd., f 231-232 v. Der Aktenvorgang bricht nach dem Schreiben des Landrats ab. Offensichtlich war der Plan damit gescheitert, zumal sich der RP Arnsberg schon in einer Notiz vom 20.6.1866 äußerst skeptisch zu dem Vorschlag Schmids äußerte. Vgl. ebd., f 2 2 3 . 35 Kommando der 7. Gendarmerie-Brigade in Münster an das königliche Kommando der Landgendarmerie v. 28.4.1869, in: STAM, 2689, f 4-85. 36 Ebd., f 16. Zum Vergleich der Gendarmeriestärke in den verschiedenen Teilen der Provinz: f 4-18, 29-56. 37 Ebd., f 12-14, 19-23, 30-32 u.ö. Der Hinweis auf die WafFengeschäfte in Bochum: f 22 v. 38 Vgl. Kap. 3.2. dieser Arbeit und ebd., f 12 v, 8 v, 13. 39 Ebd., f 24 v-26,49 v, 56 v, 68. 40 Ebd., f 4-5, 32 ff. Zur Kritik an der Ortspolizei: f 48, 80 v, 82-84. 41 RP Arnsberg an OP Münster v. 7.1.1870, in: STAM, OP 2689, f 87-96 v, hier: 90 v. 42 Mdl an RP Minden und RP Arnsberg v. 27.1.1873, in: STAM, OP 2689, f 225. 43 Held, S. 1. 44 Ebd., S. 31-58. Zu Heids Reorganisationsvorschlägen: S. 59-76. 45 Errechnet nach den Einwohnerzahlen der Verwaltungsberichte. Vgl. Tab. 17 (Anhang). 46 VB Bochum für 1862, in: DGZ, Jg. 3,1864, S. 453-455, hier: S. 454. 47 VB Dortmund für 1871, S. 9. 48 Vgl. VB Gelsenkirchen für 1877/78 und 1880; Mascher, S. 26 ff; Bausch, S. 114 f. 49 Z.B. VB Dortmund für 1871, S. 8; ausfuhrlich und mit zahlreichen Einzelbelegen aus westfälischen Städten: Mascher, S. 12-20. 50 PI Meyer an BM Hagen v. 7.2.1887, in: SAH, 3182. Komplettiert wurde der desolate Zustand der Nachtwache durch ihre kümmerliche Ausstattung:»Für die Nachtwächter konnten nur die abgelegten Sachen zur Verwendung gelangen, wodurch es denn auch gekommen, daß die zeitige Ausrüstung der Wächter eine absolut unbrauchbare ist, da die Mäntel zerrissen, Mützen und Koppel überhaupt nicht vorhanden und an den 9 Säbeln ... mehrere Klingen abgebrochen und sämdiche Scheiden unbrauchbar sind.« PI Meyer an BM Hagen v. 10.2.1887, in: SAH, 3181. Vgl. auch die Kritik an den Nachtwachen in: VB Dortmund für 1871, S. 8 und VB Gelsenkirchen für 1877/78, S. 30. Held, S. 7, verdächtigte die nebenberuflichen Nachtwächter sogar, während ihres Dienstes an der Verbreitung sozialdemokratischer Schriften beteiligt zu sein. Nach einer Zählung von 1882 waren in

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Anmerkungen zu S. 69 - 71 210 erfaßten preußischen Städten und Gemeinden mit kommunaler Polizei 921 hauptamtliche Polizeiexekutivbeamte beschäftigt, denen rd. 1390 nebenamtliche Nachtwächter, Feldhüter etc. gegenüberstanden. Bei starken Schwankungen von Ort zu Ort belief sich das Durchschnittseinkommen der unteren Polizeibeamten (Sergeanten) auf895 Mark p.a., das der Nachtwächter auf325 Mark p.a. Errechnet nach: Statistik der Anstellungs- und Gehalts-Verhältnisse Deutscher GemeindeBeamten im Jahre 1882, Beilage zur DGZ, Jg. 21,1882. 51 »Wenn nicht 2 Fuß-Gensd'armen und ... 1 berittener Gensd'arm zur Verfugung wären, so würden längst die größten Unzuträglichkeiten entstanden sein.« VB Dortmund für 1871, S. 8.1885 beantragte z.B. der Landrat in Hattingen für das Amt Königssteele einen weiteren Gendarmen, da die Amtsverwaltung aus finanziellen Gründen außerstande war, einen zusätzlichen Polizeidiener einzustellen. LR Hattingen an RP Arnsberg v. 12.9.1885, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 7, f 64-66 v. Aufgrund ihres hohen Personalkostenanteils band die Polizei einen erheblichen Teil des kommunalen Budgets. So mußte die Stadt Dortmund 1891 45,8% ihres Verwaltungsetats fur die Polizei aufwenden. Bausch, S. 95. Vgl. auch zur Gendarmerie in den Städten: VB Gelsenkirchen fur 1882, S. 30 und VB Recklinghausen für 1890. 52 RP Arnsberg an Mdl v. 11.10.1881, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 6. Zum Elitebewußtsein der Gendarmerie sehr anschaulich der Franckenbergbericht von 1869 in: STAM, OP 2689, f 82 f. Er schildert auch den heimlichen Haß der lokalen Polizeidiener auf die Gendarmen und Fälle, in denen es zu gegenseitigen Denunziationen kam. Ebd., f 81 f. 53 Chef der Landgendarmerie an Mdl v. 11.11.1881,in: ZSTAM,Rep. 77, Tit 299a, Nr. 35,Bd. 6, f 165-166 v, hier: 166. 54 Mdl an Chef der Landgendarmerie v. 25.12.1881, in: ebd. 55 RP Arnsberg an Mdl v. 16.1.1875, in: ebd. 56 PI Meyer verwies zur Begründung der Polizeireform in Hagen ausdrücklich auf den drohenden Verlust der Gendarmerie. PI Meyer an BM Hagen v. 7.2.1887, in: SAH, 3181 sowie der »Begründungs bcricht zum Reorganisationsplan des hiesigen Polizeiwesens« v. PI Meyer an BM Hagen v. 31.10.1890, in: SAH, 3176. Zum Rückzug der Gendarmerie aus den Städten siehe auch: VB Dortmund für 1876, S. 75 und Geschichte der Gelsenkirchener Polizei (von 1905-1936), Ms., o.O. o.J. (Gelsenkirchen 1936), S. 9. Zu analogen Reformschritten in den rheinischen Industriestädten siehe Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 304-307. 57 VB Dortmund für 1871, S. 8 und für 1872/73, S. 8 f. 58 PI Meyer an BM Hagen v. 7.2.1887, in: SAH, 3182. Trotz der Namensgleichheit dürfen die »Schutzmänner« der kommunalen Polizeiverwaltungen nicht mit den königlichen Schutzmännern in Berlin und den anderen Städten mit staatlicher Polizei verwechselt werden. In den westfälischen Städten bildeten die Schutzmänner bis zur Aufhebung der Differenz zwischen Tages- und Nachtdienst den untersten Rang der Berufspolizeibeamten. Zum Prozeß der schrittweisen Homogenisierung des Unterbeamtenkorps und der Bezeichungen siehe STAM, Reg. Arnsberg I 2090 und STAM, Reg. Arnsberg I Pa 754. 59 VB Dortmund für 1872/73, S. 9. Wie die Sergeanten sollten die Schutzmänner vorzugsweise aus den langjährig gedienten Militäranwärtern rekrutiert werden. Von Anfang an bestanden jedoch erhebliche Probleme, diesem Rekrutierungskriterium zu genügen. Siehe SAH, 3182. Zum Gesamtproblem der Rekrutierung siehe Kap. 6.1. 60 Auskreisungsdaten nach: Hubatsch, S. 202 ff. Reformdaten nach: Bochum: Haushaltsetat für 1872/73 und für 1893/94. Dortmund: VB Dortmund für 1872/73, Haushaltsetat fur 1875/76; Bausch, S. 116. Hagen: SAH, 3181. Gelsenkirchen: VB Gelsenkirchen für 1892/93. Recklinghausen: VB Recklinghausen für 1893/94. 61 In den einschlägigen Vorgängen zur Reorganisation der lokalen Polizei finden sich keine Hinweise auf zentrale Anleitung oder Koordination der Reformen. Statt dessen wird in den Begründungsberichten verschiedentlich auf das Beispiel anderer Städte verwiesen und die eigene Polizeiorganisation und -stärke mit dem Entwicklungsstand an anderen Orten verglichen. Vgl. SAH, 3176 und 3182. Zur Institutionalisierung des interlokalen Erfahrungsaustausche zwischen den

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Anmerkungen zu S. 71 - 78 Polizeichefs der Städte siehe unten Abschnitt 6.3.2.. Schriften wie die von Held oder Mascher und auch Fachzeitschriften wie die Deutsche Gemeindezeitung mit ihrer oft ausführlichen Berichterstattung zur Polizei trugen ebenfalls zur horizontalen Verbreitung der Reformansätze bei. 62 Z.B. V B Dortmund für 1877/78. 63 PI Meyer an B M Hagen v. 3.12.1889, in: SAH, 3182. 64 Vgl. Schaubild 1 und Tab. 17 (Anhang). 65 V B Dortmund fur 1878/79. Dies, obwohl ein Jahr zuvor über die Probleme des nächdichen Sicherheitsdienstes geklagt wurde, »welcher hier wegen der vielen vorkommenden Exzesse und bei der großen Ausdehnung der einzelnen Patrouillenbezirke überaus schwierig ist.« V B Dortmund für 1877/ 78, S. 46. 66 Vgl. Tab. 17 (Anhang). Auch in Hagen kämpfte der Polizeiinspektor zwei Jahre nach Einführung der Schutzmänner vergeblich darum, den Mannschaftsbestand gleitend an die wachsende Bevölkerung anzupassen. Die Stadtverordnetenversammlung lehnte seinen Antrag auf Stellenvermehrung trotz der guten Erfahrungen mit den Nachtschutzleuten ab. PI Meyer an BM Hagen v. 3.12.1889 und Protokoll der Stadtverordnetenversammlung Hagen v. 26.3.1890, in: SAH, 3182. 6 7 Vgl. die folgenden Abschnitte. 68 In den Ämtern des Kreises Bochum war das Verhältnis zwischen den Gendarmen des Landrats und den Polizeidienern der Ämter 1881 wie 1:3. Nimmt man Ortspolizei und Gendarmen zusammen, belief sich die Polizeidichte im Landkreis Bochum auf rd. 50 Beamte pro 100.000 Einwohner. Dabei ist jedoch die niedrige Qualität der ländlichen Polizisten zu berücksichtigen, die oft bessere Gemeindeboten gewesen sind. Zahlen nach der Anlage zu RP Arnsberg an Mdl v. 11.10.1881, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 6. 6 9 W. Hammacher an Mdl v. 24.2.1866, in: ZSTAM,Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35,Bd. 5 , f 3 6 - 3 7 . 70 L R Bochum an R P Arnsberg v. 30.12.1882, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 6. 71 Bericht der 7. Gendarmeriebrigade v. 19.3.1883, in: ebd., f222-224, hier: f 2 2 2 v, 223 v. Mit ganz ähnlichen Argumenten die Verstärkungsforderungen für das neue Zechengebiet bei Recklinghausen. Amtmann des Amtes Recklinghausen an L R Recklinghausen v.20.3.1884,in: ebd., f 2 7 9 - 2 7 9 v. 72 Errechnet nach den Daten der Tab. 2 (Anhang). Der Kreis Recklinghausen ist in dieser Berechnung nicht enthalten. 73 Vgl. die Gegenüberstellung der Gendarmeriedichte in den industriellen und agrarischen Kreisen des Regierungsbezirks Arnsberg in Tab. 2 (Anhang). 74 Aus der umfangreichen Literatur zum Bergarbeiterstreik von 1889 seien hier nur genannt: Claden, Streiks der Bergarbeiter, S. 111-148; Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 182-202; Tenfelde, Bergarbeiterschaft, S. 573-597; Saul, Zwischen Repression und Integration; Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf. 75 Gladen, Ruhrbergarbeiterstreik 1889. 76 Saul, Zwischen Repression und Integration, S. 215; Tenfelde, Gewalt und Konfliktregelung, S. 215. 77 Vgl. Tenfelde, Gewalt und Konfliktregelung, S. 215, Anm. 64. Insoweit ist Henning zuzustimmen, der zum Militäreinsatz von 1889 anmerkt: »Keine Bürgerkriegsarmee, sondern Truppen mit Zeichen deutlicher Schwäche und demzufolge hohem Risiko wurden den Zivilbehörden zur Verfügung gestellt.« Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf, S. 145. 78 Saul, Zwischen Repression und Integration, S. 215. 79 OP Münster an Mdl v. 10.5.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 1-2 v. Brigadier der 7. Gendarmeriebrigade an OP Münster v. 3.6.1889, in: ebd. 80 Immediatbericht des General-Kommandeurs des 7. Armee-Korps, Münster d. 1. Juni 1889, in: ebd., f 34-35. Der Bericht war dem Oberpräsidenten am 4.6.1889 vom Innenminister mit der Aufforderung übersandt worden, eine Stellungnahme und eine detaillierte Nachweisung der vorhandenen Polizeikräfte vorzulegen. Ebd. Der Aktenzusammenhang und die Chronologie des Schriftverkehrs legen nahe, daß dieses Veto der Armee den Anlaß für die nun einsetzende Debatte über Rolle

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Anmerkungen zu S. 78 -81 und Stärke der Polizei im westfälischen Industriegebiet bildete. Zu Bedenken aus Kreisen des Militärs gegen die militärische Niederschlagung des Streiks siehe auch Deist, S. 319 f. 81 »In jedem Falle wird die Verwendung militärischer Hilfe schon des bedenklichen Eindrucks im In- und Auslande wegen nur als der äußerste Notbehelf zu betrachten sein.« So der OP in seiner Stellungnahme zum Immediatbericht des Kommandeurs d. 7. Armeekorps. OP Münster an Mdl v. 25.9.1889, in: ebd., f 199-208v. 82 Brigadier der 7. Gendarmerie-Brigade an OP Münster v. 5.11.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. Der Bericht fäßt die genannten drei Punkte prägnant zusammen. 83 Ebd. ZudcnMoavenfurdieDemilitarisiemngderStreikbekämpfungvgl. auch: Funk,Polizei und Rechtsstaat, S. 306-311. 84 Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf, S. 167. Henning hebt zurecht die Emanzipationsbemühungen der Zivilverwaltung gegenüber dem Militär hervor und betont die Schlüsselrolle der Streikerfahrung 1889 fur die konzeptionelle Neuorientierung der Ordnungsmacht. Nicht zu folgen ist allerdings seiner weitgehend unkritischen Einschätzung der angeblichen Neutralität der Ordnungsbehörden im Arbeitskampf und seiner verständnisvollen Kommentierung des militärischen Eingreifens. Vgl. ebd., S. 141 ff, 172 f. Unzutreffend auch die Vermutung, die Polizei habe in der Bevölkerung »ein beträchtliches Vertrauen besessen.« Ebd., S. 172. 85 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 309. 86 Vgl. den Bericht des kommandierenden Generals v. 1.6.1889 und OP Münster an Mdl v. 25.9.1889, in: STAM, OP 2832, Bd.l, f199-208 v. Daß das Militär als Ultima ratio staatlicher Gewalt weiterhin im Hintergrund stand, wurde bei allen Verpolizeilichungsdebatten nie in Zweifel gezogen. Tatsächlich kam es 1899 und 1912 zu Militärrequisitionen gegen streikende Bergarbeiter. 87 RP Arnsberg an OP Münster v. 25.6.1889, in: ebd., f 95-107 v. 88 Vgl. Tenfelde, Krawalle von Herne. 89 OP Münster an Mdl v. 18.7.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 145-153 v. Siehe auch OP Münster an Mdl v. 25.9.1889, in: ebd., f 199-208 v. Wenn die Gendarmerie kräftig vermehrt würde, so hieß es dort, wären die kommunalen Polizeikräfte ausreichend. 90 Mdl an Finanzminister v. 29.6.1889, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299b, Nr. 68 neu, Bd. 11. 91 Saul, Zwischen Repression und Integration, S. 219. »Die Erbitterung, welche sich der Bergarbeicerbevölkerung mehr und mehr bemächtigt hat, läßt nach der übereinstimmenden Meinung ... vermuthen, daß die Bewegung bei erneutem Ausbruch eines Ausstandes einen weit schlechteren Charakter annehmen wird, als dies im Frühjahr der Fall war.« OP Münster an Mdl v. 14.12.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. 92 OP Münster an Mdl v. 18.11.1889, in: ebd. Der Mdl billigte den Plan am 17.12.1889 und bemerkte, mit diesen Maßnahmen scheine »die Grenze desjenigen erreicht zu sein, was ohne eine Inanspruchnahme der aktiven Armee zur Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung gethan werden kann.« Mdl an OP Münster v. 17.12.1889, in: ebd. Siehe auch die Dienstanweisung für die Führer der Detachements v. Dezember 1889, in: ebd. Zur Stellenvermehrung: Mdl an OP Münster v. 18.10.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f266-267. 93 Zur Entwicklung der Politischen Polizei während des Sozialistengesetzes siehe: Fricke, Bismarcks Prätorianer. 94 Mdl an OP Münster v. 9.5.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3. 95 OP Münster an Mdl v. 10.6.1890, in: ebd. »Abgesehen von der Thätigkeit der Kirche und Schule und dem Zusammenwirken tüchtiger Kräfte, der Einzelnen wie der Vereine ist die stets vor Augen tretende Kraftentwicklung staatlicher Gewalt zur Aufrechterhaltung der Ordnung von weittragender entscheidender Bedeutung. Es ist nicht hoch genug in Anschlag zu bringen, welch günstigen Eindruck in dieser Hinsicht das Auftreten der Gendarmerie in starker Zahl auf die Arbeiterkreise und die Bevölkerung überhaupt ausübt.« RP Arnsberg an OP Münster v. 3.6.1890, in: ebd. 96 OP Magdeburg an Mdl v. 11.6.1890, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299b, Nr. 68 neu, Bd. 11. 97 Mdl an Finanzminister v. 21.6.1890, in: ebd. Die Provinz Westfalen erhielt letztlich eine Verstärkung von 18 Gendarmen. Mdl an OP Münster v. 26.7.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3.

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Anmerkungen zu S. 81 -86 98 Hierzu und zum folgenden: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 216-226. Vgl. auch den Berichtsverkehr zum Polizeikostengesetz in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3726. 9 9 Mdl an OP Münster v. 24.6.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3. 100 Votum des Mdl und des Finanzministers v. 18.9.1890, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3727, f 19 v, hier: f 4-4 v. Vgl. auch: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 227. 101 Mdl an OP Münster v. 24.6.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3. 102 R P Arnsberg an OP Münster v. 30.7.1890, in: STAM, Reg. Arnsberg 1 1472. 103 Votum des Mdl und des Finanzministers v. 31.8.1891, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3727, f 2225, hier: f 23. 104 Ebd. Vgl. auch den Immediatbericht des Mdl v. Januar 1892 in: ebd. Gesetz betr. die Kosten königlicher Polizeiverwaltungen in Stadtgemeinden v. 20.4.1892, § 1, in: ebd. 105 Nachweisung über die beabsichtigte Vermehrung der Gendarmen in Folge des PolizeiKosten-Gesetzes v. 20.4.1892, v. 29.10.1892, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299b, Nr. 68 neu, Bd. 11. 106 Verzeichnis der aus Anlaß des Polizeikostengesetzes vom 20. April 1892 durch den Staatshaushalts-Etat für 1893/94 neu zu schaffenden Stellen für Gendarmen, in: ebd. Die übrigen Stellen verteilten sich auf die Provinzen wie folgt: Ostpreußen 6, Westpreußen 4, Pommern 5, Brandenburg 10, Sachsen 12, Posen 5, Schlesien 12, Schleswig Holstein 5, Hannover 6, HessenNassau 4. Weitere Details der Verstärkungsmaßnahmen in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299b, Nr. 68 neu, Bd. 12 und ebd., Fase. 8 ad Nr. 68 neu. Vgl. auch Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 234, der den realen Effekt der Mannschaftsverstärkung durch das Polizeikostengesetz deudich überschätzt. 107 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 234. 108 Die Werte basieren auf den Angaben der Tab. 2 im Anhang. 109 Zu den Auskreisungsdaten: Hubatsch, S. 2 0 2 f. Bevölkerungsverteilung errechnet nach den Ergebnissen der jeweiligen Volkszählungen. 1885,1895 und 1905 nach: Reekers u. Schulz, S. 1-10 und Gemeindestatistik, S. 4-7. 1 8 9 0 , 1 9 0 0 und 1910 aus: Statistik des Deutschen Reiches, NF, Bde. 68, 150,240. 110 Zur polirisch motivierten Verweigerung der Stadtrechte im Fall des »Riesendorfes« Altenessenvgl.: RP Düsseldorf an Mdl v. 16.8.1898, dokumentiert in: Niethammer, Erläuterung, S. 83-87. Zur Eingemeindungswelle seit 18 8 5 und zur Heraus bildung der mittelpunktslosen »Konurbation« des Ruhrgebiets siehe: Reulecke, Urbanisierung, S. 81-86. Das rasche Aufsaugen der Land- durch die Stadtkreise läßt die Vermutung zu, daß die Antiurbanisierungspolitik der Berliner Regierung weniger erfolgreich war, als es das vielzitierte Beispiel Altenessen vermuten läßt. Auch Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 232 nimmt darauf Bezug. Angesichts der oben analysierten Zusammenhänge zwischen Gendarmeriedichte und regionalem Strukturwandel wird m.E. deutlich, daß Funk die »Bedeutung der Gendarmerie als Polizei in den Industrieregionen«, ebd. S. 233-236, zwar auf der Ebene der politischen Planung zutreffend rekonstruiert, hinsichtlich ihrer realen Wirkung jedoch überschätzt. 111 Vgl. die Daten in den Tab. 3 und 17 (Anhang). 112 Errechnet nach: Nachweisung der in den Städten beziehungsweise Amtern des Regierungsbezirks Arnsberg und des Kreises Recklinghausen vorhandenen Polizei-Exekutiv-Beamten, sowie der berittenen und Fußgendarmen, Anlage zu OP Münster an Mdl v. 25.9.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 2 0 9 - 2 1 0 . Die Bevölkerungsdaten beziehen sich auf das Jahr 1890. Volkszählung für 1890 in: Statistik des Deutschen Reiches, NF, Bd. 68. 113 Nachweisung über die Polizeistärke der Stadt- und Landkreise des Regierungsbezirks Arnsberg, Anlage zu RP Arnsberg an OP Münster v. 15.8.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3. 114 Mdl an OP Münster v. 29.7.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 169. Wenige Tage zuvor hatte der Oberpräsident noch explizit auf die »politische Unsicherheit der städtischen Behörden« als einen der Gründe verwiesen, die für einen Ausbau der Gendarmerie sprächen. OP Münster an Mdl v. 29.6.1889, in: ebd., f 145-153 v. Vgl. zur Haltung der Provinzialbehörde auch OP Münster an Mdl v. 25.9.1889, in: ebd., f 199-208 v. 115 116

RP Arnsberg an OP Münster v. 21.9.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 243-251 v. RP Arnsberg an OP Münster v. 17.6.1890, in: ebd., Bd. 3.

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Anmerkungen zu S. 86 - 92 117 Mdl an OP Münster v. 20.6.1890, in: ebd. 118 RP Arnsberg an OP Münster v. 6.3.1891,25.4.1892 und 19.5.1893, in: STAM, OP 2832, Bd. 3. Zuvor hatte der OP die Vermehrungsanträge bereits auf 64 Mann gekürzt. OP Münster an Mdl v. 30.8.1892, in: ebd. 119 RP Arnsberg an OP Münster v. 1.4.1891, in: ebd. 120 RP Arnsberg an Mdl v. 20.4.1891; OP Münster an Mdl v. 28.4.1891, in: ebd. 121 Mdl an R F s v. 12.8.1898, in: STAM, OP 6622. 122 Grundsätze, welche bei der am 12. August 1899 in Dortmund stattgefundenen Besprechung über die Regelung des Polizei- und Gendarmeriewesens in den industriellen Bezirken aufgestellt sind, in: STAM, Reg. Arnsberg I 23 Nr. 7. Die Teilnahme von Vertretern des Mdl geht hervor aus: RP Arnsberg an OP Münster v. 17.9.1899, in: STAM, OP 2832, Bd. 4. Leider liegen keine Informationen über Einzelheiten der Konferenz vor, so daß weder über ihre Zusammensetzung noch über die dort vorgetragenen Argumente etwas gesagt werden kann. Auch ist nicht eindeutig, fur welche »industriellen Bezirke« die »Grundsätze« galten. Mit Sicherheit läßt sich die Gültigkeit für die Industriekreise und -Städte des Regierungsbezirks Arnsberg feststellen. Offen ist, wieweit die Rheinprovinz oder sogar alle Industriezentren Preußens darunter subsumiert wurden. Gegen die Annahme, daß es sich um gesamtpreußische Grundsätze handelte, spricht allerdings die signifikante Differenz der Polizeidichte, die 1913 z.B. zwischen Westfalen und Schlesien herrschte. Vgl. Tab. 6 (Anhang). 123 Diese Dichtevorgabe wurde im Regierungsbezirk Arnsberg nie erreicht. Die höchste Gendarmeriedichte in den Ruhrkreisen lag 1908 knapp unter 25 pro 100.000. Vgl. Tab. 2 (Anhang). 124 Möglicherweise ging die Anregung einer Kasernierung von Gendarmen auf eine Idee des OP Münster zurück, der dies bei der internen Nachbereitung der »Herner Krawalle« vom Juni 1899 vorgeschlagen hatte. Vgl. OP Münster an RP Arnsberg v. 14.7.1899, in: STAM, Reg. Arnsberg I 1465. Der Herner Streik dürfte die Polizeiplanung u.U. beschleunigt haben, verursacht hat er sie trotz des zeitlichen Zusammentreffens beider Ereignisse nicht, da die Vorbereitungen zur Reform schon ein Jahr zuvor anliefen. 125 So mußte die Stadt Hagen 1877 und 1881 auf Druck der Arnsberger Regierung je einen zusätzlichen Polizeibeamten einstellen. BM Hagen an RP Arnsberg v. 6.4.1883, in: SAH, 3176. 126 RP Arnsberg an LR's und OB's v. 9.2.1900, in: STAM, Reg. Arnsberg I Κ 401. 127 Uberliefert, wenn auch z.T. unvollständig, sind folgende Nachweisungen über die Zahl und die Verhältnisse der Gemeinde-Polizei Exekutivbeamten in den Städten und Landgemeinden des Regierungsbezirks Arnsberg: fur 1900 und 1901, in: STAM, Reg. Arnsberg 123 Nr. 7; für 1903, in: ebd., 12090; fur 1904 und 1905, in: ebd., 12091; für 1906 und 1907, in: ebd., 12093. Der jährliche Berichtsverkehr zur kommunalen Polizeistärke brach erst mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ab. Vgl. die Berichtsanforderungen und die Aufhebung der Berichtspflicht durch Erlaß d. RP Arnsberg v. 2.9.1914, in: SAH, 3171. Die Hagener Jahresberichte an den RPfindensich vollständig in: SAH, 3178. 128 RP Arnsberg an Mdl v. 11.3.1901, in: STAM, Reg. Arnsberg 123 Nr. 7. 129 RP Arnsberg an Mdl v. 8.3.1902, in: STAM, OP 6622. 130 RP Arnsberg an Mdl v. 31.7.1903, in: ebd. Siehe auch: RP Arnsberg an OP Münster v. 25.11.1904, in: STAM, OP 6086 und: Geschichte der Gelsenkirchener Polizei, S. 6. 131 VB Bochum fur 1905, S. 40. 132 PI Meyer an OB Hagen v. 1.11.1904, in: SAH, 3177. 133 Polizeidaten aus: STAM, OP 2832, Bd. 1 (für 1889); STAM, Reg. Arnsberg 12091 (für 1904); ZSTAM, Rep. 77,Tit. 2513,Nr. 1, Beiheft 15 (für 1913). Bevölkerungsdaten: Volkszählung fur 1890 und 1910, in: Statistik des Deutschen Reiches, NF, Bde. 68 u. 240; für 1904 wie Polizeidaten. 134 Diese Äußerungfielnoch vor dem großen Streik. Abg. Tramm im Haus der Abgeordneten, 46. Sitzung v. 30.3.1889, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1889, S. 1388 ff. 135 Gemeinsames Votum des Mdl und des Finanzministers v. 18.9.1890, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3727, f 8 v-9 v.

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Anmerkungen zu S. 92 - 96 136 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 237. Darüber hinaus kam es 1902 in Saarbrücken zur Bildung einer staatlichen Polizeidirektion. Ebd. sowie die Vorgänge in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3728 und ZSTAM, Rep. 77, Tit 437a, Nr. 28, Bd. 1. 137 Zum Streikverlauf 1905: Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 211-217; Gladen, Die Streiks der Bergarbeiter. Zu den Polizeimaßnahmen: STAM, OP 2832, Bd. 4. 138 RP Arnsberg an Mdl v. 1.5.1905, in: STAM, OP 5915. Vgl. auch Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 312. 139 RP Arnsberg an Mdl v. 7.6.1906, in: ebd. 140 Ebd. 141 Ebd. Der »Vielgestaltigkeit der Polizeiverwaltung« stünden »geschlossene, mit Zielbewußtsein arbeitende Organisationen gegenüber.« Mdl an Finanzminister v. 23.8.1909, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1588, f 3-10, hier f 5. 142 RP Arnsberg an Mdl v. 7.6.1909, in: STAM, OP 5915. Der Streik von 1905 und die erste russische Revolution im selben Jahr hatten die Diskussion in der SPD über den »Massenstreik« als »wirksamstes Kampfmittel« der Arbeiterbewegung erneut stimuliert und zu einem vorübergehenden Konsens zwischen Linken, Zentristen und Reformisten auf dem Parteitag im Herbst 1905 gefuhrt. Auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 dominierte dagegen eher das Bemühen, zu einem Ausgleich mit der Gewerkschaftsfiihrung zu kommen, die eine Politisierung von Arbeits kämpfen scharf ablehnte. Lehnert, S. 101-103. 143 Meines Erachtens überwog der taktische Aspekt. Der Vergleich der beiden schon zitierten Arnsberger Berichte vom 1.5.1905 und 7.6.1906 zeigt eine merkwürdige Schwerpunktverlagerung. Während 1905 die zukünftige Streikgefahr nüchtern konstatiert wird und das Hauptargument bei der politischen Unkontrollierbarkeit der Lokalpolizci liegt, werden die angeblichen Gefahren durch die sozialistische Bewegung 1906 breit und detailreich ausgemalt. Der Verdacht liegt nahe, daß hier dem Anliegen der Regionalverwaltung zusätzliches Gewicht verliehen werden sollte. 144 »Der sozialdemokratischen Gefahr steht die polnische Gefahr ebenbürtig zur Seite.« RP Arnsberg an Mdl v. 7.6.1906, in: STAM, OP 5915. Vgl. auch Kleßmann, S. 62-68. 145 Mdl an Finanzminister v. 23.8.1906, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1588, f 5. Vgl. auch das Schreiben des Enten Staatsanwalts in Essen an Oberstaatsanwalt Hamm v. 20.5.1906, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3728, der eine Polizeiverstaatlichung dringend befürwortete, »weil die Polizeibehörden gerade in den größeren Orten häufig völlig versagen, so beispielsweise im diesseitigen Landgerichtsbezirk in Gelsenkirchen.« 146 Siehe die o.a. Stellungnahmen des RP Arnsberg und des Mdl sowie den reichhaltigen Berichtverkehr in: STAM, OP 5915; ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fase, ad Nr. 3, Bd. 4; ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1559,1588,1595/1. 147 Vgl. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung, S. 309 ff, 322 ff; ders., Arbeiterschutz-Anstalten; Reulecke, Urbanisierung, S. 117-131; Schücking, S. 90. 148 RP Arnsberg an Mdl v. 7.6.1906, in: STAM, OP 5915. 149 »In mehreren Städten ist es nur mit Mühe gelungen, den Ruf nach militärischer Hilfe, den die städtischen Polizeiverwaltungen, dem Drängen der Bergwerksbesitzer folgend, sogar schon vor Beginn des Ausstandes laut werden ließen, zu unterdrücken.« RP Arnsberg an Mdl v. 1.5.1905, in: ebd. Vgl. auch: Mdl an Finanzminister v. 23.8.1906, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1588, f 4 v. Schon während des Streiks hatte der Düsseldorfer Regierungspräsident dagegen protestiert, daß die Zechengesellschaften versuchten, durch gezielte Falschinformationen einen Militäreinsatz gegen die Ausständischen zu provozieren. RP Düsseldorf an Mdl v. 22.1.1905, in: STAM, OP 2832, Bd. 5. 150 LR Bochum an RP Arnsberg v. 2.6.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 185-192, hier: f 187-187 v. Hier diente der Hinweis auf die erdrückende Macht des Zechenkapitals dem Landrat allerdings als Argument, sich selbst und den Amtmännern die Polizeikompetenz zu erhalten, da sie sonst in völlige Abhängigkeit von den ansässigen Unternehmern gerieten. 151 Zum Beispiel war die Baupolizei ein bevorzugtes Feld der Interessenpolitik örtlicher

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Anmerkungen zu S. 96 - 99 Unternehmer - einer der Gründe, weshalb man mit dem Gedanken spielte, auch diesen Zweig der Polizei zu verstaatlichen. RP Arnsberg an Minister der öffentlichen Arbeiten v. 20.10.1906, in: STAM, OP 5915. Zum Klassenwahlrecht siehe: Reulecke, Urbanisierung, S. 131-139. Zur Verflechtung der örtlichen Verwaltung mit dem Unternchmerlager siehe den Geheimbericht über die Nebeneinkünfte der Oberbürgermeister: RP Arnsberg an Mdl v. 26.6.1905, in: STAM, Reg. Arnsberg I Κ 402. Die Klagen über die Abhängigkeit der kommunalen Polizei von mächtigen Interessengruppen war durchaus nicht auf den Kreis der staatlichen Verwaltung beschränkt. So bemerkte beispielsweise der Schwelmer Kommissar Laufer in einer Denkschrift von 1903: »Vielfach steht der energischen Durchführung bestimmter Gesetze auch der Einfluß kommunaler Größen ... entgegen. Diese zumal haben meistens erheblichen Einfluß in den kommunalen Körperschaften, mit denen der Bürgermeister und nicht minder auch die Exekutivpolizei rechnen muß, denn ihre materielle Existenz liegt mit in ihrer Hand.« laufer, Die preußische Kommunalpolizei. Vorschläge zu ihrer zeitgemäßen Umgestaltung, Schwelm o.J. (1903), S. 10. Vgl. auch: ders., Unser Polizeiwesen, S. 18 f sowie die gleichlautende Kritik in: Hebung der kommunalen Polizei, in: Die Polizei, Jg. 9,1912/13, S. 305 f; Zur Reorganisation der preußischen Polizei, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/07, S. 218. Die Absicht, die Handlungsspielräume der Staatsgewalt nach allen Seiten zu erhöhen, zeigt sich auch in der Äußerung des designierten Polizeidirektors von Gelsenkirchen, Landrat Zur Nieden: »Je konzentrierter die Befugnisse der allgemeinen Staatsverwaltung der Industrie und den Arbeiterparteien gegenübertreten, desto besser.« LR Gelsenkirchen an RP Arnsberg v. 5.6.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 193-218 v, hier: f 218. 152 So die Vermutung von Funk, die vor dem Hintergrund der internen Debatten zur Verstaatlichung im Ruhrrevier nicht zu halten ist. Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 237. Anders verhielt es sich einige Jahre später in Schlesien, wo von Seiten der schwerindustriellen Interessenverbände massiv zugunsten einer staadichen Ortspolizei interveniert wurde. Siehe ebd., Anm. 508 und Oberschlesischer Berg- und Hüttenmännischer Verein an Finanzminister v. 15.1.1913, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1493. 153 Zu den Auskreisungsdaten: Hubatsch, S. 202 f. Bevölkerungsverteilung errechnet nach den Ergebnissen der jeweiligen Volkszählungen. 1885,1895 und 1905 nach: Reekers u.Sditt/z,S.l-10und Gemeindestatistik, S. 4-7.1890,1900 und 1910 aus: Statistik des Deutschen Reiches, NF, Bde. 68, 150, 240. 154 Mdl an Finanzminister v. 23.8.1906, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1588, f 4. 155 LR Gelsenkirchen an RP Arnsberg v. 5.6.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 201. 156 RP Arnsberg an Mdl v. 7.6.1906, in: STAM, OP 5915. Siehe auch Krabbe, Polizeiverwaltung, S. 156 f. 157 So vom RP Arnsberg in seinem Bericht v. 1.5.1905, in dem er ausführlich die Argumente der sozialdemokratischen Presse zitierte, die gegen die gerüchteweise bekanntgewordenen Verstaatlichungspläne für Essen vorgebracht worden waren. Die Sozialdemokraten hoben die kommunalen Bindungen der Polizei und die Kontrollmöglichkeiten durch die Stadtverordneten hervor und befürchteten von der staatlichen Polizei eine intensivierte politische Kontrolle - alles Argumente, die nach Ansicht des Regierungspräsidenten für eine Verstaatlichung sprachen. 158 Handschreiben des Vorsitzenden des Direktoriums der Firma Fried. Krupp A.G., Landrat a.D. Rötger, an Mdl v. 11.6.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 111-114. Weitere Äußerungen aus Unternehmerkreisen sind in den herangezogenen Quellen nicht überliefert. 159 Zur Haltung der Kommunen exemplarisch: OB Essen an Mdl v. 12.9.1906, in: ZSTAM, Rep. 151 IC,Nr. 1588, der die Leistungen der Städte aufdem Gebiet der Wohlfahrtspflege ausführlich darstellt und OB Gelsenkirchen an RP Arnsberg v. 10.10.1906, in ebd., Nr. 1595/1. Zum Essener »Munizipalsozialismus« vgl auch Bajohr, S. 116-166. 160 LR Gelsenkirchen an RP Arnsberg v. 5.6.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 197 v. 161 Die Aktenbände STAM, OP 5915 und OP 6396 enthalten den umfangreichen Schriftwech-

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Anmerkungen zu S.

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sei zum »Landrat im Nebenamt«. Auch die Mittelbehörden hatten ursprünglich einen von Stadt und Land unabhängigen Polizeidirektor befürwortet, sich dann aber der Haltung des Innenministeriums und den Forderungen der Landräte angepaßt. 162 Mdl an R P Arnsberg v. 17.12.1908, in: STAM, OP 5915. In Essen übernahm der Landrat des Kreises Mülheim Ruhr, von Bcmbcrg-Flamersheim, die Polizeidirektion, ohne allerdings wie seine westfälischen Kollegen den Landratsposten zu behalten. Alle drei führten den Titel »Polizeipräsident«. Anstellungsdekrete in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 345 a, Nr. G 15, Ν 4, Β 22. 163 Anläßlich der Etatberatungen für das Jahr 1909 fand ein Zentrumsantrag im Abgeordnetenhaus die Mehrheit, indem die Regierung verpflichtet wurde, bis zum 1.4.1911 die Direktionsbezirke Bochum und Gelsenkirchen auf die Landkreise auszudehnen und die Amter des Landrats und des Polizeidirektors zu trennen. Nachdem das Innenministerium gezielt das Gerücht ausgestreut hatte, in diesem Fall würden beide Polizeidirektionen an einem dritten Ort zusammengefaßt und die Polizei der Städte damit gewissermaßen von außen gesteuert, kapitulierten die Kommunalvertretungen und beugten sich dem Landrat im Nebenamt. ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 5 und STAM, OP 6396. 164 R P Arnsberg an Minister der öffentlichen Arbeiten v. 20.10.1906, in: STAM, OP 5915. Vgl. auch RP Arnsberg an OP Münster v. 15.11.1906, in: ebd. 165 Die Zuständigkeitsverteilung zwischen staatlicher Schutzmannschaft und kommunaler Restpolizei folgte dem Vorbild der Stadt Kiel, wo die Polizei 1898 verstaatlicht worden war. Siehe Mdl an OP Münster v. 15.6.1906, in: STAM, OP 5915. Regulativ über die Zuständigkeit der königlichen Polizeiverwaltung Bochum v. 15.6.1909, in: ebd. Die gleichlautenden Regulative vom selben Tage für Gelsenkirchen in: ebd.; für Essen in: Chronik der Essener Polizei, S. 6 f. Zur exakten territorialen Ausdehnung der drei Polizeidirektionen siehe das Verzeichnis in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 2 5 5 - 2 5 6 . Im westfälischen Teil erfaßten die beiden Direktionsbezirke 1910 19% der Gesamtbevölkerung der Ruhrkohlekreise einschließlich des Kreises Recklinghausen, allerdings rund 4 5 % der Einwohner der selbständigen Stadtkreise. Errechnet nach den Daten der Volkszählung für 1910, in: Statistik des Deutschen Reiches, NF, Bd. 240. 166 Einschließlich der Kriminalpolizei umfaßten die neuen Schutzmannschaft in Essen 664 Exekutivbeamte (Dichte: 137 pro 100.000 Einw.), in Bochum/Herne 223 (Dichte: 144) und in Gelsenkirchen 213 (Dichte: 141). Chronik der Essener Polizei, S. 8. Etatentwurf für die königliche Polizeiverwaltung in Bochum und Umgebung für das Etatjahr 1909/1911, in: ZSTAM, Rep. 1 5 1 I C , Nr. 1559; desgleichen für Gelsenkirchen in: ebd., Nr. 1595/1. Bevölkerungsdaten für die Direktionsbezirke (Essen: 483.342, Bochum und Herne: 154.158, Gelsenkirchen: 151.195) nach Mdl an Finanzminister v. September 1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad Nr. 3, Bd. 4, f 163164. 167 Begründung zum Gesetz v. 19.7.1911, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3729. Siehe auch: Gesetz über die Polizeiverwaltung in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg und Münster v. 19. Juli 1911, in: GS, 1911, S. 147 f. 168 Zur mittelfristig geplanten Ausdehnung der Polizeidirektionen Bochum und Gelsenkirchen siehe das Konferenzprotokoll v. 24.6.1911, in: ZSTAM, Rep. 151 IC, Nr. 1559. Zur Integration der Landgemeinden Hordel, Riemke und Bergen in den Bochumer sowie der Gemeinden Röhlinghausen und Günnigfeld in den Gelsenkirchener Bezirk: Mdl an Finanzminister v. 10.8.1911, in: ebd. D o n auch der Schriftverkehr zwischen den beiden Ministerien über die gescheiterte weitere Ausdehnung der Ruhrgebietsdirektionen. 169 Buder, 382 ff. Zur Haltung der SPD: ebd., S. 16. Vgl. auch Boeckenhoff. 170 Liebknecht im Haus der Abgeordneten, 17. Sitzung v. 1. Februar 1911, in: Stenographische Berichte, 1911, S. 1122-1129. 171 Ebd. 172 So Tunk, Polizei und Rechtsstaat, S. 210-228, 234 ff. 173 Vgl. Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 234, der denfünfundvierzigprozentigen Anteil der vier Provinzen als Beleg für die Konzentration der Gendarmerie in den Industrieregionen anführt.

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Anmerkungen zu S.

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Bevölkerung bezogen auf das Jahr 1910, nach: Statistik des Deutschen Reiches, N.F., Bd. 240. Gendarmeriestärke nach Tab. 6 (Anhang). 174 Siehe Tab. 5 (Anhang), Spalte c. Da die Fläche der Verwaltungseinheiten gleich blieb, folgte die Flächendichte der Polizei genau dem Wachstum der absoluten Polizeistärke. Da die sonst herangezogene Dichterate die Mannschaftsstärke mit der veränderlichen Größe der Bevölkerung kombiniert und dadurch die potentielle Leistungsfähigkeit der Institution mit dem Umfang ihrer Klientel in Beziehung setzt, ist ihr Informationsgehalt wesentlich höher als der der Flächendichte einzuschätzen. 175 Errechnet nach den Bevölkerungsdaten der Volkszählungen. Statistik des Deutschen Reiches, AF, Bd. 57, NF, Bd. 240. 176 Vgl. Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 211 ff. 177 Vgl. Tab. lc und Tab. 3c (Anhang). 178 Prozentualer Anteil der Berliner Polizeimannschaften an der Gesamtzahl aller staatlichen Schutzmänner Preußens: 1870 1878/79 1888/89 1900 1910 1913 65% 68% 71% 61% 56% 54% Errechnet nach der Tabelle Π, in: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 213. 179 Siehe ebd., S. 236 ff und Kap. 4.3.3. dieser Arbeit. 180 Statistisches Jahrbuch Deutscher Städte, Jg. 17,1910, S. 255. Nur in Saarbrücken, Hanau und Fulda bestanden zu diesem Zeitpunkt staatliche Polizeidirektionen in Städten unter 50.000 Einwohner. 181 Ebd. 182 Bevölkerungsdaten nach den Volkszählungen, in: Statistik des Deutschen Reiches, AF, Bd. 57, NF, Bde. 150-151,240. Polizeidaten wie Tab. 3 (Anhang). 183 Bericht des Staatsministeriums vom 28.6.1917, in: ZSTAM, 2.2.1., Nr. 14917, f 195-199, hier: f 197 v. 184 Vgl. Tab. 6 (Anhang). Die hier ausgewertete Gesamtaufstellung kam nach Ende des Ersten Weltkriegs aufgrund einer entsprechenden Forderung der interalliierten Kontrollkommission der Entente zustande, die einen genauen Nachweis aller Polizei-und Gendarmeriekräfte in den Jahren 1913 und 1919 verlangte. Siehe Reichsminister des Innern an die Regierungen der Länder, hier an: Mdl Preußen v. 24.11.1919, in: ZSTAM, Tit. 344, Nr. 1, Bd. 3,f61 ff. Buder, S. 7 fuhrt auf Basis einer anderen Quelle, die sich vermutlich ebenfalls auf die Erhebung der Entente stützt, die Zahl von 20.575 kommunalen Polizeibeamten in Preußen für das Jahr 1913 an. Wahrscheinlich sind in Buders Zahl die Bürobeamten der Polizei enthalten, die ich bei dieser wie bei allen anderen hier vorgestellten Statistiken zur Stärke der Exekutive ausgeklammert habe. Würde man sie einbeziehen, ergäbe sich nach der von mir herangezogenen Quelle eine Zahl von 20.273 kommunalen Polizeibeamten. In jedem Fall übertraf die Stärke der Kommunalpolizei bei weitem den von Furtkfiir 1913 auf der Grundlage von Einzelfällen hochgerechneten Wert von 8200 Mann. Funk, Polizei und Rechtsstaat, Tabelle II, S. 213. 185 Die Zahlen basieren auf Tab. 6 (Anhang). Die Berliner Schutzmannschaft ist bei dieser Gegenüberstellung ausgeschlossen. Als östliche Provinzen wurden hier zusammengefaßt: Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Posen, Brandenburg, Schlesien. Als westliche Provinzen: Sachsen, Schleswig-Holstein, Hannover, Westfalen, Hessen-Nassau und die Rheinprovinz. 186 Vgl. Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 25 ff, der daraufhinweist, daß die Ausdehnung der staatlichen Verwaltung seit den achtziger Jahren »geradezu >dramatische< Formen« annahm. Ebd., S. 31.

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Anmerkungen zu S.

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5. Strukturen und Strategien 1 Zum Zusammenhang zwischen sozialer Segregation, funktionaler Differenzierung der Stadt und Dislokation der Sicherheitskräfte vgl. die Studie von Schneider. Einen hier nicht weiter verfolgten Aspekt der materiellen Infrastruktur polizeilicher Alltagskontrolle thematisiert Wolfgang Schivelbusch in seinem erhellenden Essay: Straßenlaternen und Polizei. 2 Zur Aufgabenverteilung zwischen Zentrale und Bezirken siehe: Bausch, S. 120 ff; VB Bochum fur 1904; VB Recklinghausen fur 1899-01; Entwurf eines Plans zur Reorganisation des Polizeiwesens in der Stadt Hagen i.W., PI Meyer an OB Hagen v. 31.10.1890, in: SAH, 3176. 3 Reif, Industrialisierung, S. 373 ff. 4 Die Anstellungsbedingungen für die Schutzmänner der Stadt Essen aus den achtziger Jahren schrieben den Beamten vor, im zuständigen Polizeibezirk zu wohnen. SAH, 3182. Auch die für alle Unterbeamten im Arnsberger Regierungsbezirk gültige Dienstanweisung sah die Residenzpflicht vor. Dienstanweisung Arnsberg 1910, S. 4. In Hagen bestand um die Jahrhundertwende die strengere Regelung, im Revier selbst zu wohnen. Zirkular des PI Meyer v. 11.12.1899, in: SAH, 3207. Eine Auszählung fur das Jahr 1906 ergibt jedoch, daß nur 42 von 61 namentlich identifizierbaren Hagener Polizeibeamten im jeweiligen Polizeibezirk wohnten - die Zuordnung zu den Revieren ließ sich nicht prüfen. Die geringste Bedeutung hatte die Residenzpflicht für die Beamten des innerstadtischen I. Bezirks, in dem nur rd. 50.% der Bezirksbeamten wohnten. Im proletarischen IV. Bezirk entsprach die Ortsbindung dem Durchschnitt von 69%. Namensliste der Polizeibeamten in: SAH, 3177. Wohnorte ermittelt nach: Adressbuch Hagen für 1906 und 1907. 5 Dienstanweisung Arnsberg 1910, S. 6. 6 Geyger, S. 298 ff. Vgl. auch Gaißert, S. 21-33; Weiß, S. 43-52. Das Revier- und Einzeldienstprinzip war ein durchgängiges Charakteristikum der preußischen Vorkriegspolizei. Insofern erscheint Lucas' Hinweis auf eine »Polizeikaserne« in Hamborn unglaubwürdig, auch wenn hier der Einzelfall nicht überprüft werden kann. Lucas, Radikalismus, S. 115. 7 Stein, S. 20; Bekanntmachung des OB Hagenv. 1.5.1891, in: SAH, 3176. Ein erster Antrag des Hagener Polizeiinspektors auf Dezentralisierung der Polizei war 1889 am Veto der städtischen Finanzkommission gescheitert. Ebd. Zur Parallelentwicklung in Essen siehe: Chronik der Essener Polizei. 8 Stein, Dortmunder Polizei, S. 20-31; Diensteinteilung für die Schutzleute der Stadt Hagen i.W. v. 15. April 1907, in: SAH, 3177. 9 VB Bochum fur 1904, S. 60-68; Geschichte der Gelsenkirchener Polizei, S. 9; VB Gelsenkirchen fur 1903-1919, S. 51 ff. 10 Wie Anm. 8 u. 9; VB Recklinghausen für 1908, S. 151. Bevölkerungsdaten nach den Verwaltungs berichten. 11 Stein, S. 20-25; SAH, 3176,3177,3182; Bevölkerungsangaben nach den Verwaltungsberichten. 12 VB Recklinghausen fürl908,S.151. Auch in Oberhausen richtete sich die Größe eines Reviers einerseits nach der Einwohnerzahl, andererseits »nach dem Ausmaß erwarteten abweichenden, gesetzund ordnungswidrigen Verhaltens dieser Bevölkerung«, Reif, Industrialisierung, S. 376. 13 VB Dortmund für 1872/73, S. 10 f, und Bausch, S. 118. 14 Zur Abgrenzung und Lage der fünf Hagener Polizeibezirke und zur Struktur des IV. Bezirks der umfassende Berichts verkehr in: SAH, 3177. 15 Kommissar des IV. Bezirks an PI Meyer v. 11.07.1904, in: SAH, 3177. Mit ganz ähnlichem Tenor auch der Bericht v. 12.11.1907, in: ebd. 16 Kommissar des IV. Bezirks an PI Meyer v. 6.11.1905, in: ebd. 17 Westfälisches Tageblatt v. 11.11.1907, Ausschnitt in: SAH, 3177. Unter den anonymen Lcserbriefschreibern befand sich vermutlich der einflußreiche Hagener Unternehmer Carl Funcke, der schon zwei Jahre zuvor in einem Schreiben an die Polizeiverwaltung einen verbesserten Polizeischutz für seinen Stadtteil geforden hatte, da die Nebenstraßen nicht ausreichend überwacht und es »Dieben

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Anmerkungen zu S. 115-120 und Räubern«.leicht gemacht würde. Auch sein BriefSchloß mit der Phrase: »Schutz den Bürgern aber vor allen Dingen.« Carl Funcke an Polizeiverwaltung Hagen v. 21.12.1905, in: ebd. Vgl. ähnliche Bürgerbeschwerden aus dem Jahre 1906 in: SAH, 3208. 18 Verfügung des PI Meyer v. 11.4.1903, in: SAH, 3212; PIMcyer an OB Hagen v. 1.12.1907, in: SAH, 3177. 19 Kommissar des IV. Bezirks an PI Meyer v. 6.11.1905, in: ebd. 20 PI Meyer an OB Hagen v. 27.1.1908, in: ebd. 21 Die durchschnittliche Einwohnerzahl pro Revier betrug 1906 in den fünf Bezirken der Hagener Polizei: I. Bezirk: 3166; Π. Bezirk: 4203; ΙΠ. Bezirk: 3316; IV. Bezirk: 3012; V. Bezirk 3201. Vgl. Liste der Bezirke und Reviere vom 19.11.1906, in: ebd. 22 Bericht des PI Meyer über das Polizeiwesen der Stadt Hagen v. 9.4.1900, in: SAH, 3178. 23 PI Meyer an OB Hagen v. 1.12.1907, in: SAH, 3177. 24 Vorstand der Kgl. Eisenbahn-Betriebsinspektion Hagen an Polizeiverwaltung Hagen v. 10.6.1909 undv. 26.6.1909, sowie die Marginalverfügung von PIMeyerv. 23.6.1909, in: SAH, 3208. Zur geplanten Errichtung einer Bahnhofs wache in Hagen: PI Meyer an OB Hagen v. 11.11.1911, in: SAH, 3572. 25 Diensteinteilung für die Schutzleute der Stadt Hagen v. 1.4.1907, in: SAH, 3177; Stän,S. 14 f; Bausch, S. 117 f. 26 Stein, S. 92. 27 Von der Bürokratisicrung waren zuerst die leitenden Beamten betroffen, die hauptsächlich Innendienst verrichteten. Sodann entzog die Gründung eigenständiger Kriminalpolizeiabteilungen dem Außendienst einige Kräfte, bevor andere Abteilungen wie etwa die Gewerbepolizei hinzukamen. Zur Entwicklung der abteilungsmäßigen Binnendifferenzierung des Apparates vgl. Stein, S. 14-18; Bausch, S. 94-114. Als Antwort auf die häufigen Klagen aus der Öffentlichkeit über fehlende Polizeibeamte verwies der Hagener Polizeichefin einem Bericht vom 1.11.1904 darauf, daß zu viele Beamte durch Spczialaufgaben im Innendienst dem Aufsichtsdienst entzogen würden, in: SAH, 3177. Auch der Kommissar des V. Bezirks klagte darüber, daß durch die vielen Nebenarbeiten, z.B. für das Meldeamt der Stadt, der »wirkliche Polizeidienst« leide. Bericht an PI Meyer v. 25.6.1904, in: ebd. 28 In Hagen waren 1907 19,5%, in Dortmund ein Jahr später 19,0% aller Sergeanten und Schutzleute dem Revierdienst durch andere Aufgaben entzogen. Errechnet nach der Tab. 7 und Stein, S. 16. 29 Der Dienst der Tagschicht begann im Sommer um 7.00, im Winter um 7.30 Uhr und dauerte unter Einschluß von insgesamt drei Stunden Pause bis 20.00 Uhr. Abgesehen von zwei Rapportterminen, bei denen Berichte abgeliefert und Instruktionen entgegengenommen wurden, sollte der Beamten im Idealfall die ganze Zeit im Revier zubringen. Gleiches galt für den Nachtdienst, der von 22.00 bis 6.00 Uhr dauerte. 30 Zur Aversion der Außendienstbeamten gegen das »Gehen an der Schnur«, d.h. gegen detaillierte Begehungspläne, siehe den Artikel: Patrouillendienst, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/07, S. 3 7. Die Polizeiführung verwandte viel Mühe auf die Ausarbeitung möglichst sicherer Kontrollmaßnahmen gegenüber den einzeln arbeitenden Außendienstbeamten. Üblich waren die genauen Begehungsvorgaben und die gezielte Überwachung ihrer Einhaltung durch die Wachtmeister. Zu den Patrouillenplänen der Hagener Sergeanten und Schutzleute siehe: SAH, 3207,3177und 3178. Zur Kontrolle der Beamten: SAH, 3573 sowie die Sammlung von Dienstverstößen in SAH, 3179 und 3213. 31 Verfugung des OB Hagen v. 29.9.1901, in: SAH, 3207. 32 Vgl. Dießenbacher; Weisbrod, Visiting; Tennstedt, S. 95-100, S. 212-217; Reif, Industrialisierung, S. 376. 33 Tagebucheintragung v. 28. Juli 1848, zitiert nach: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 63. 34 Brigadier der 7. Gendarmeriebrigade v. Franckenberg an d. kgl. Kommando der Landgendarmeric v. 28.4.1869, in: STAM, OP 2689, f 4-85, hier: f 12. 35 Ebd., f23 v-25 v. 36 Chef der Landgendarmerie an Mdl v. 1.3.1875; Mdl an RP Düsseldorf v. 10.3.1875, in:

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Anmerkungen zu S. 120 - 1 2 9 ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 72, Bd. 2. Weitere Fälle aus dem Reg. Bez. Düsseldorf erwähnt Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 304. 37 R P Arnsberg anMdlv. 18.2.1877, in: ebd.; RP Arnsberg an Mdlv. 12.7.1877, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 35, Bd. 6. 38 RP Arnsberg an Mdl v. 12.12.1877, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 72, Bd. 2. Chef der Landgendarmerie an Mdl v. 7.4.1883, in: ebd. 39 Brigadier der 7. Gendarmeriebrigade v. Franckenberg an d. kgi. Kommando der Landgendarmerie v. 28.4.1869, in: STAM, OP 2689, f 4-85, hier f 79 v. 4 0 17. Sitzung v. 17.12.1883, in: Stenographische Berichte, 1883, S. 495-497. Zum Antrag der Grube: R P Aachen an Mdl v. 10.12.1882, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 72, Bd. 2. 4 1 Mdl an RP Düsseldorf v. 18.2.1884, in: ebd. 42 R P Düsseldorf an Mdl v. 22.4.1886; Mdl an RP Düsseldorf v. 17.5.1886, in: ebd. 43 R P Düsseldorf an Mdl v. 21.1.1910 und 19.3.1910, in: ebd. 44 So R P Münster an Mdl v. 12.2.1884; RP Düsseldorf an Mdl v. 22.3.1911, in: ebd. 45 Zeche Graf Bismarck in Schalke an L R Recklinghausen, in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 131. 46 R P Münster an OP Münster v. 5.7.1889, in: ebd., f 124-128 v. 4 7 Mdl an OP Münster v. 5.4.1898, in: STAM, OP 2688; R P Münster an OP Münster v. 15.6.1898, in: ebd. 4 8 R P Münster an OP Münster v. 15.6.1898, in: ebd. 4 9 Dislozierungsplan fur die Gendarmerie im Kreis Recklinghausen für 1889, in: ebd., f 143-144 V. 50 Nachweisung über die Nebeneinnahmen der Oberwachtmeister und Gendarmen des industriellen Teiles des Kreises Recklinghausen v. 6.6.1904, in: STAM, OP 2688. 51 Nachweisung der in den Industriekreisen des Regierungsbezirks Arnsberg vorhandenen Gendarmeriestellen v. 24.7.1904, in: ebd. 52 V B Bochum für 1879/80, S. 14; V B Dortmund für 1880/81, S. 61. 53 Amtmann des Amtes Bochum an L R Bochum v. 29.6.1875, in: SABo, LA 193. 54 R P Arnsberg an LR's v. 22.9.1877, in: SAH, 3171. 55 Reulecke, Dorfcchule, S. 257. 56 Zimmermann, Schachtanlage, S. 19 f. 57 Stein, S. 15; Bausch, S. 115; V B Dortmund für 1901/02. 58 Lucas, Radikalismus, S. 113. 59 So der Aufgabenkatalog der Polizisten auf der Thyssenhütte in Hamborn, für die es eine spezielle Dienstanweisung gab. Ebd., S. 113. 60 Entscheidung des V. Strafsenats des Kammergerichts v. 16. März 1909, zitiert nach: Die Polizei, Jg. 6 , 1 9 0 9 / 1 0 , S. 55 f. 61 Vgl. Johnson, Taking Care of Labor,S. 95 f. 62 Zur Streikgeschichte im 19. Jahrhundert informieren die Beiträge in Tenfelde u. Volkmann sowie Schönhoven, S. 84-93. Zur sukzessiven Rationalisierung des Arbeitskampfes: Engelhard, Von der Unruhe zum Strike; ders., Entwicklung der Streikbewegungen. Kritisch zur modernisierungstheoretisch fundierten Rationalisicrungsthese: Milles. 63 Vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Brüggemeier, Leben vor Ort; Tenfelde, Krawalle von Herne; Kleßmann, S. 75-79; Kulczycki; Feige, S.120-152; Gladen, Streiks der Bergarbeiter; Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung, S. 269-282; Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf. 64 Vgl. Saul, Zwischen Repression und Integration, S. 219 f. 65 Zur Debatte um die »Zuchthausvorlage«: Bom, S. 146-165. Die Einschnürung des Koalitionsrechts durch Rechtsprechung und Verwaltung wird ausführlich geschildert von: Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung, S. 188-269. 66 Mdl an R F s v. 22.8.1897, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 1, Beiheft 33, f 5-10. 6 7 Mdl an R F s v. August 1898, in: ebd., f92-94. Hennings These, der preußische Staat habe sich in den Arbeitskämpfen vor und nach der Jahrhundertwende auf eine Art neutraler »Schiedsrichterrol-

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Anmerkungen zu S. 129 - 1 3 2 lc« zwischen den Arbeitskampfparteien beschränkt, berücksichtigt nicht, wie stark der polizeiliche Schutz von Individualrechten zum Vorwand genommen wurde, um die Durchsetzungschancen der Arbeiterorganisarionen zu beschneiden. Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf, S. 164 ff. 68 Oberpräsidialverordnung v. 27.4.1891. Bei den Ausständen zu Beginn der neunziger Jahre hatte sich diese Bestimmung im Kampf gegen die Streikposten gut bewährt. Nur der Oberbürgermeister von Dortmund äußerte Bedenken, weil sie den Polizeibeamten erhebliche, unkontrollierbare Befugnisse gewähre, die zu Mißgriffen fuhren könnten. RP Arnsberg an Mdl v. 1.6.1891, in: STAM, OP 5971. 69 Urteil des Kammcrgerichts v. 23.3.1905, das sich auf eine analoge Verordnung in Schlesien bezog. Die westfälische Verordnung war noch bis 1907 gültig. Ebd. Zur Instrumentalisierung der Straßenpolizeiverordnungen siehe: Mdl an R F s v. 21.1.1900 und RP Arnsberg an LR's und OB's v. 15.3.1900, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 892 sowie Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung, S. 226237. 70 Einzelfälle aus der Praxis bei: Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung, S. 231-235. 71 Ebd., S. 213-226. Hoffmann, § 153. Hierin wie Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf, S. 165 f lediglich die Durchsetzung der »Staatsmacht des Rechtsstaats gegen Verbandsmacht« und den Kampf des Staates gegen eine neue »Feudalstruktur« in Gestalt des gewerkschaftlichen Streikpostenwesens zu sehen, das mit zünftiger Autojurisdiktion zu vergleichen sei, verkennt erstens, daß man soziale Kontrolle von Streikenden gegenüber Arbeitswilligen kaum mit den jurisdiktionellcn Kompetenzen der alten Zünfte vergleichen kann, ignoriert zweitens die unverkennbare Asymmetrie des Staatseingriffs ins Arbeitskampfgeschehen und nimmt drittens nicht zur Kenntnis, daß kollektives, verbandsmäßig organisiertes Handeln ein konstitutives Merkmal sozialer Konflikte im Industriekapitalismus ist. 72 Arbeitgeberverband in Köln, Rechtsprechung und Rechtsbildung im gewerblichen Arbeitsverhältnis, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 1, Adhib. 1, Bd. 20, f 68 ff, hier: f 68 v. 73 Ebd., f 69. Die Streikpostenjudikatur wurde von den Polizeizeitschriften genau registriert. Vgl. z.B.: ZPV, Jg. 12,1904, S. 216; Jg. 14,1906, S. 169; Jg. 17,1909, S. 299 undDie Polizei, Jg. 3,1906/ 07, S. 177; Jg.4, 1907/08, S. 154, 519 u.ö. Der Aufsatz eines Düsseldorfer Polizeikommissars: Mattenklott, Das Streikpostenstehen, seine gegenwärtige und seine wünschenswerte Behandlung durch die Gesetze und Gerichtshöfe, in: Die Polizei, Jg. 9, 1912/13, S. 429-432 liest sich wie eine prompte Antwort auf den Wunsch der Kölner Arbeitgeber nach einer ausfuhrlichen Belehrung der Polizeibeamten über ihre Eingriffskompetenzen gegen Streikende. 74 Vgl. Tab. 8 (Anhang). 75 OP Münster an Mdl v. 18.11.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. Dort auch die Einzelheiten der Verhandlungen über die Reorganisation der Streikkontrolle. Vgl. auch: STAM, Reg. Münster VII57, Bd. 1; Reg. Arnsberg 148 und 11465. 76 Mdl an OP Münster v. 18.4.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. a. Dort auch die entsprechenden Nachweisungslisten. 77 Dienstanweisung fur die bei etwaigem Wiederausbruch eines größeren Arbeiterausstandes zur Führung von Gendarmerie-Abtheilungen nach Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen kommandierten Gendarmerie-Offizieren, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. Zum Umfang und der Dislozierung dieser Detachements siehe Tab. 9 (Anhang). 78 Brigadier der 7. Gendarmerie-Brigade an OP Münster v. 5.11.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 2; Mdl an OP Münster v. 11.3.1893, in: ebd., Bd. a. 79 RP Arnsberg an OP Münster v. 26.4.1893, in: STAM, OP 2832, Bd. 3, der sich sehr skeptisch zur Verwendbarkeit dieser Truppe äußerte. 80 »Die geschlossenen Detachements sind aus nahe liegenden Gründen nicht im Stande, in gleicher Weise nachdrücklich wie Truppenabtheilungen zu wirken und deren Heranziehung bei größeren Unruhen entbehrlich zu machen. Dagegen darf angenommen werden, daß die Tätigkeit der jetzt zur Bildung geschlossener Detachements bestimmter Gendarmerie-Mannschaften wirksamer sein wird, wenn sie von den Landräten im Patrouillendienst bzw. in der Weise verwendet werden

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Anmerkungen zu S. 132 -137 können, wie es die jeweiligen Umstände erfordern.« Mdl an OP Münster v. 4.3.1899, in: STAM, OP 2832, Bd. 4. Die Landräte begrüßten diese Dezentralisierung einhellig, während die Regierungspräsidenten in Arnsberg und Münster ihren Einfluß bei Streikeinsätzen schwinden sahen und sich aus diesem Grund für die Detachements einsetzten. Im Landkreis Essen waren die Trupps schon 1896 nach negativen Erfahrungen aufgelöst worden. Ebd. 81 OP Münster an Mdl v.26.8.1906,in: STAM, OP 6095, f75-76 v. Vgl. RP Düsseldorf an Mdl v. 22.1.1905, in: STAM, OP 2832, Bd. 5. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 215. An der Propaganda für eine militärische Niederschlagung größerer Streiks beteiligte sich auch die »Rheinisch-Westfälische Zeitung«, die nach den Herner Ereignissen 1899 schrieb: »Wir halten mithin in allen Fällen tumultuarischen Massenstreiks die sofortige Heranziehung von Militär für notwendig.« Zitiert nach: Kleßmann, S. 79. 82 Vgl. Zusammenstellung derjenigen Bestimmungen, welche von den Civilbehörden in Betreff der Heranziehung militärischer Hülfe zur Unterdrückung von inneren Unruhen, Aufständen und Tumulten zu beachten sind, in: STAM, OP 6095, f 29-30. 83 RP Münster an OP Münster v. 18.9.1899, in: STAM, Reg. Münster VII-57, Bd. 1. 84 Vermerk des RP Münster v. 26.3.1904 und RP Münster an OP Münster v. 13.11.1904, in: ebd. 85 Vermerk des RP Münster v. 26.3.1904, in: ebd. 86 Mdl an OP Münster v. 28.9.1906, in: STAM, OP 6095, f 78. Dort auch die sich seit 1904 ständig wiederholenden Vorstellungen der Mittelbehörden gegen das eigenständige Requisitionsrecht der Orts- und Kreispolizei. 87 Z.B. RP Arnsberg an OP Münster v. 16.3.1912 und Mdl an OP Münster v. 27.11.1912, in: STAM, OP 6095. 88 Kriegsminister an die kgl. Generalkommandos v. 8.2.1912, in: STAM, OP 6095, f 206-213; Dreetz; Deist, Militär und Innenpolitik, S. XXXV-XXXVIII. 89 Wehler, Kaiserreich, S. 159 f. 90 Tab. 8 (Anhang). 91 OP Münster an Mdl v. 14.1.1905, in: STAM, OP 2832, Bd. 4. 92 Telegramm RP Arnsberg an OP Münster v. 18.11.1905, in: ebd. Hier auch zahlreiche vergleichbare Anforderungen. 93 Beischrift OP Münster zu RP Arnsberg an Mdl v. 19.1.1905, in: ebd. 94 Nachweisung über die Zahl der während des Bergarbeiterausstandes (Januar-Februar 1905) zur dienstlichen Verwendung gelangten Sicherheitsbeamten, in: STAM, OP 2832, Bd. 5. OP Münster an Mdl v. 28.8.1905, in: ebd. Retzlaff, Die Kommunal-Polizei im Bergarbeiter-Streik von 1905, in: Die Polizei, Jg. 2, 1905/06, S. 79. Insgesamt nahmen am Streik rd. 210.000 Bergleute teil. Da im westfälischen Teil etwa 73% der Zechenbelegschaften beschäftigt waren, ergibt sich ein Schätzwert von rund 150.000 Streikenden im westfälischen Ruhrgebiet. Vgl. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 214. 95 Zu den wenig erfolgreichen Versuchen, die kommunalen Ortspolizeiverwaltungen zum Abschluß wechselseitiger Hilfsverträge zu bewegen, die Vorgänge in: STAM, OP 6681. Zur weiteren Verstärkung vgl. den Berichtsverkehr in: STAM, OP 6681 und in: STAM, Reg. Münster VII-57, Bd. 3-4. 96 OP Münster an Mdl v. 28.8.1905, in: STAM, OP 2832, Bd. 5; RP Arnsberg an OP Münster v. 14.4.1905, in: ebd. 97 Vgl. die Indexreihen in Tab. 8 (Anhang). 98 Niederschrift über die Besprechung der beim Ausbruch eines größeren Bergarbeiterstreiks im Ruhrkohlengebiet zu treffenden Maßnahmen, Essen, den 21.12.1910, in: STAM, OP 6095. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 224 referiert die wichtigsten Punkte der Essener Beschlüsse. 99 Eine erschöpfende Schilderung der anläßlich dieses Streiks getroffenen staatlichen Maßnahmen gibt Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung, S. 269-282. Konträr dazu und m.E. unzutreffend die Einschätzung von Henning, Staatsmacht und Arbeitskampf, S. 156, der den Militäreingriff für unvermeidlich hält, damit nicht »geltendes Recht durch Massenaufläufe in Frage gestellt und Hoheitsakte durch Verbandsfunktionäre usurpiert wurden.«

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Anmerkungen zu S. 137 -142 100 Mdl an RP Arnsberg, Münster, Düsseldorf v. 12.3.1912, in: STAM, OP 6889. Anhand dieser Akte läßt sich die Polizeimobilisicrung in ihren einzelnen Stadien minutiös verfolgen. 101 RP Arnsberg an OP Münster v. 12.3.1912, in: ebd. 102 RP Münster anMdl v. 20.5.1912, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 1, Adhib. 1, Bd. 20, f 16-21, hier: f 17. 103 Telegramm RP Arnsberg an OP Münster v. 14.3.1912, in: STAM, OP 6889. 104 Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten an Mdl v. 16.3.1872, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 1-2 v. Zur Streikwelle Anfang der siebziger Jahre: Miltes; Engelhardt, Entwicklung der Streikbewegungen; Tenfelde, Bergarbeitcrschaft, S. 397 ff. 105 Siehe oben Kapitel 4.1. 106 LR Beuthen an RP Oppeln v. 26.5.1872, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 14 f. 107 OP Breslau an Mdl v. 22.7.1872, in: ebd., f 11-12. 108 RP Düsseldorf anMdl v. 6.9.1893, in: ebd., f26-29. RP Arnsberg an Mdl v. 8.9.1894, in: ebd., f 41-43 v. Hinweise auch bei Kirchhoff, S. 54. 109 RP Düsseldorf an Mdl v. 6.9.1893, in: ebd., f26-29. 110 RP Münster an LR Recklinghausen v. 25.2.1893, in: STAM, Reg. Münster V1I-50, Bd. 2. Auslöser der Initiative in Westfalen war ein Erlaß des OP Münster v. 11.2.1893, in: ebd. 111 Amtmann Horst an LR Recklinghausen in: ebd. Vgl. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 156. 112 Ebd. Im selben Sinne: Protokoll der Gemeindevertretung Recklinghausen Land v. 11.3.1893 und zusammenfassend LR Recklinghausen an RP Münster v. 22.3.1893, in: ebd. 113 RP Arnsberg an Mdl v. 8.9.1894, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 41 ff. Zu entsprechenden Vorbehalten von Zechenunternehmen in den Kreisen Mülheim u. Ruhron siehe Spencer, Police in the Düsseldorf District, S. 310. 114 RP Düsseldorf an Mdl v. 6.9.1893, in: ebd. f26-29. 115 LR Schwelm an RP Arnsberg v. 24.8.1897, in: STAM, OP 6562. 116 RP Arnsberg an Mdl v. 28.12.1907, in: ebd. Im selben Sinne: Generaldirektor der Bergwerksgesellschaft Hibernia an LR Bochum v. 22.4.1894, in: SABo, LA 1270, f 6 v-7 ν und LR Bochum an RP Arnsberg v. 7.3.1900, in: ebd., f 79. 117 LR Recklinghausen an RP Münster v. 21.11.1895, in: STAM, OP 6562. 118 LR Recklinghausen an RP Münster v. 23.9.1894, in: STAM, Reg. Münster VU-50, Bd. 1; RP Arnsberg an LR's v. 17.2.1894, in: SABo, LA 1270. 119 Dies strich besonders der RP Arnsberg heraus. RP Arnsberg an LR's v. 17.2.1894, in: SABo, LA 1270. 120 Ebd. 121 Dienstanweisung fur die Beamten der Zechenschutzwehren, Bochum 1905, § 3, in: SABo, LA 1270. Gleichlautende, vom Landrat erlassene Dienstanweisungen galten in den anderen Kreisen. Zum Wahlmodus vgl. auch: RP Arnsberg an RP Düsseldorf v. 14.5.1911, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 754. Dienstanweisung der Zechenwehren im Kreis Recklinghausen in: STAM, OP 6562. 122 Dienstanweisung Bochum, §§1,2,5,9 und: Anweisung für die Ausrüstung der Hilfspolizeibcamten mit dem Revolver und über den Gebrauch desselben, in: ebd. 123 Dienstanweisung Bochum, § 4. 124 Ebd. 125 LR Recklinghausen an RP Münster v.21.11.1895,in: STAM,OP6562.DerLandratsprach sich im Einverständnis mit den Zechendirektionen des Kreises gegen Detailinstruktionen und für möglichst weitgehende Handlungsfreiheit der Zechenverwaltungen aus: »Die Leitung und Beaufsichtigung der Diensttätigkeit liegt der vorgesetzten Zechendirektion ob und wird in deren Auftrage von den Betriebsführern, Ober- oder Fahrsteigern, der einzelnen Schachtanlagen ausgeübt....Als Führer dienen die rangältesten Grubenbeamten, jedoch werden diese als solche von der Polizeibehörde nicht besonders bestellt, sondern es bleibt der Zechenverwaltung überlassen, Bestimmungen zu treffen, wer etwa die Führung übernehmen soll.« Übersicht über das Wesen der Zechenwehren im Kreise BochumStadt, Anlage zu RP Arnsberg an Mdl v. 28.11.1907, in: STAM, OP 6562.

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Anmerkungen zu S. 143 -146 126 Dienstanweisung Bochum, §§10 und 11. 127 Die Haltung der Bergbauinteressenverbände Iäßt sich hier nur aus dem behördeninternen Berichtsverkehr erschließen. Von der Initiative der Arenberg*schen Aktiengesellschaft berichtet: LR Recklinghausen an RP Münster v. 23.9.1894, in: STAM, RP Münster VII-50, Bd. 1. Auf den ablehnenden Beschluß des Vereins für die bergbaulichen Interessen weisen hin: Zcche Siebenplaneten (Langendreer) an LR Bochum v. 19.7.1895; LR Bochum an RP Arnsberg v. 15.10.1895, in: SABo, LA 1270; LR Dortmund an RP Arnsberg v. 11.2.1896, in: STAM, OP 6562. Letzterer meldet: »Das Widerstreben der Bergwerksvertretungen gegen die Einrichtung von Zechenschutzwehren ist dauernd ein erhebliches, die Bedenken gegen dieselben anhaltende. Beides stützt sich auf einen Beschluß des Vorstandes des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund.« 128 Nach den Angaben in STAM, OP 6562; Reg. Münster VII-50, Bd. 1; VII-57, Bd. 3; Nachweisung der während des Streiks von 1905 im westfälischen Kohlegebiet eingesetzten Sicherheitsbeamten, in: STAM, OP 2832, Bd. 5. Die Zahlen erfaßen nicht den Stadtkreis Recklinghausen, für den keine Informationen zum Umfang der Zechenwehren unmittelbar nach dem Streik von 1905 vorliegen. Vgl. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 215. 129 Niederschrift über die Besprechung der beim Ausbruch eines größeren Bergarbeiterstreiks im Ruhrkohlengebiet zu treffenden Maßnahmen, Essen, d. 21.12.1910, in: STAM, OP 6095. Vgl. Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 215. Während des Streiks von 1905 waren im Regierungsbezirk Düsseldorf nur sechs Zechenwehren mit zusammen 84 Mitgliedern gebildet worden. Bis 1910 hatten sich die Behörden geweigert, den Aufbau von Zechenwehren zu fördern, da sich die Bergwerksverwaltungen ablehnend verhielten und weil man von ihnen eher eine Verschärfung der Spannungen als eine effektive Stärkung der Polizei erwartete. RP DüsseldorfanMdl v. 4.2.1908, in: ZSTAM,Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4 und RP Düsseldorf an OP Koblenz v. 22.2.1905, in: STAM, OP 6562. 130 LR Recklinghausen an RP Münster v. 24.6.1913, in: STAM, Reg. Münster VII-57, Bd. 3; Vn-50, Bd. 1; OP 6562. 131 Zur Haltung der Harpener Bergbau AG die zahlreichen Klagen der Kreis- und Ortsbehörden in: STAM, Reg. Münster VII-50, Bd. 1 und 2. 132 Zum Wandel der Belegschaftshierarchie und zur wachsenden Distanz zwischen Arbeiterschaft und Aufsichtspersonal im Bergbau: Tenfelde, Bergarbeitcrschaft, S. 249-261; Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 112-116; Spencer, Between Capital and Labor. Grundsätzlich zur Differenz zwischen Arbeitern und Angestellten: Kocka, Die Angestellten, S. 50, 77, 88 f; siehe auch: Kaelble, S. 57-72. 133 RP Düsseldorf an Mdl v. 6.9.1893, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 26-29. 134 Schon bei seiner ersten Kampagne zur Einrichtung der Zechenwehren empfahl der Arnsberger Regierungspräsident, die Trupps »insbesondere aus der Zahl der Grubenbeamten« zu rekrutieren. RP Arnsberg an LR's v. 17.2.1894, in: SABo, LA 1270. Dort auch entsprechende Listen zur Zusammensetzung einzelner Wehren. Vgl. auch die Berichte in: STAM, OP 6562 und Reg. Münster VII-50, Bd. 2. 135 LR Bochum an LR Aachen v. 7.3.1900, in: SABo, LA 1270. Übersicht über das Wesen der Zechenwehren im Kreise Bochum Stadt, Anlage zu RP Arnsberg an Mdl v. 28.12.1907, in: STAM, OP 6562. In Oberschlesien weigerten sich die Privatgruben grundsätzlich, Zechenwehren mit dem Status der Hilfspolizei aufzustellen, da sie fürchteten, daß im Ernstfall nicht sie, sondern die Polizei über Zeitpunkt und Art des Einsatzes bestimmen würde. Kgl. Bergwerksdirektion in Zabrze an Minister für Handel und Gewerbe v. 13.3.1904, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 235. 136 RP Münster an OP Münster v. 18.9.1899, in: STAM, Reg. Münster VII-57, Bd. 1. Vgl. auch die 1905 erneut vorgetragene Begründung für die Ablehnung der Zechenwehren durch die Unternehmer im Kreis Schwelm, die fürchteten: »Durch das plötzliche Auftreten dieser Beamten als Polizeimannschaften würden wahrscheinlich die Arbeiter eher erbittert als zur Vernunft gebracht werden. Schließlich sei aber auch zu befurchten, daß ein solches Hervortreten der Beamten auf das spätere Zusammenarbeiten mit den Arbeitern üble Folgen haben würde.« RP Arnsberg an OP Münster v. 19.4.1905, in: STAM, OP 6562.

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Anmerkungen zu S. 146

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137 R P Düsseldorf an Mdl v. 4.2.1908, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 1 6 7 - 1 6 9 v, hier: f 169. 138 R P Arnsberg an OP Koblenz v. 26.1.1905, in: STAM, OP 6562. 139 R P Arnsberg an LR's u. OB's v. 24.1.1905; RP Arnsberg an OP Münster v. 19.4.1905; R P Arnsberg an OP Münster v. 27.5.1907, in: ebd. Dort auch Hinweise auf weitere Ausschreitungen der Zechenwehrmänner. 140 Amtmann Werne an LRRecklinghausenv. 15.3.1905,in: STAM,Reg.MünsterVII-50,Bd. 2; R P Arnsberg an OP Münster v. 9.3.1905; OP Münster an OP Koblenz v. 6.5.1905, in: STAM, OP 6562. Im Kreis Recklinghausen war man schon während des Austandes dazu übergegangen, die Zechenwehren nur unter Führung eines erfahrenen Gendarmen oder Polizeisergeanten einzusetzen. L R Recklinghausen an R P Münster v. 28.3.1905, in: ebd. 141 Kgl. Bergwerksdirektion in Zabrze an Minister für Handel und Gewerbe v. 13.3.1914, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 2 3 5 . 142 Sowohl für das Saarrevier als auch für die schlesischen Bergwerksgebiete war die Gründung von Zechenwehren diskutiert worden, aber, soweit aus den herangezogenen Quellen ersichtlich, nur sehr punktuell realisiert worden. Im Saargebiet scheiterten entsprechende Pläne Anfang der neunziger Jahre an politischen Vorbehalten gegenüber den Gemeindevertretungen, die die Zechenwehrmänner zu Hilfspolizisten ernennen mußten. Man fürchtete, daß eventuelle Sympathisanten der Ausständischen die Aufstellung der Wehr vereiteln könnten. Vgl. den Berichtsverkehr in ZSTAM, Rep. 77, Tit. 2513, Nr. 4, f 2 0 - 2 4 , 3 5 - 3 6 . 1 9 0 7 existierten im Saarrevier keine Zechenwehren. RP Aachen an Mdl v. 12.11.1907 und R P Trier anMdl v. 31.12.1907, in: ebd. f 101-102. In Oberschlesicn wurde 1909 mit der Initiierung von Zechenwehren begonnen, ohne daß bis 1914 nennenswerte Erfolge erzielt wurden. Kgl. Bergwerksdirektion in Zabrze an Minister für Handel und Gewerbe v. 3.4.1909 und 13.3.1914, in: ebd., f 199-201 v, 235. 143 Frankfurter Zeitung v. 15.8.1894, die ein sozialdemokratisches Organ aus dem Dortmunder Raum zitiert. 144 Vgl. zur anhaltenden Staatsnähe des Bergbaus Weisbrod, Arbeitgeberpolitik. 145 So die klassische Formulierung von Friedrich Engels im »Anti-Dühring«: »Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.« Engels, S. 260, 262. 146 Vgl. hierzu: Brüggemeier, Leben vor Ort, S. 214; Miltes, S. 81, 177 f, 395. Eine von der offiziellen Linie abweichende Haltung vertrat der Schwelmer Polizeikommissar Laufer, der mit Bezug auf die Bergarbeiterstreiks anerkennend feststellte, »daß sich ohne weiteres auf Betreiben der Streikleitung eine freiwillige Polizei gebildet, welche zu der guten Haltung der Streikenden offenbar viel beigetragen hat. Wir haben alle Veranlassung, dieses Moment mit Freuden zu begrüßen.« Laufer, Unser Polizeiwesen, S. 108. 147 Vgl. Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 2 5 6 ff. Zur Entwicklung der politischen Polizei seit 1878 siehe außerdem: Fricke, Bismarcks Prätorianer und Pöls. Zum Berichtswesen: Fricke u. Knaack. 148 Vgl. z.B. Frohme. 149 Zu dieser Praxis siehe z.B. den minutiösen Observationsbericht über August Bebel in: Fricke, Bismarcks Prätorianer, S. 334 f. 150 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 260. Dort auch die Zahlenangaben. 151 OP Münster an Mdl v. 22.6.1850, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 606, Nr. 2, f 3-4 v. 152 Siehe z.B.: Bergmann, Sozialistengesetz, S. 54-72. 153 OB Dortmund an RP Arnsberg v. 11.6.1889und OB Bochum an RP Arnsberg v. 11.6.1889 in: STAM, OP 2832, Bd. 1, f 52 f. 154 OP Münster an R P Arnsberg v. 20.6.1889, in: ebd., f 50-51. 155 OB Bochum an R P Arnsberg v. 9.12.1889, in: STAM, OP 2832, Bd. 2; OB Dortmund an

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Anmerkungen zu S. 150 -153 RP Arnsberg v. 11.6.1889, in: ebd., Bd. I,f53. Zur Aversion kommunaler Polizeiverwaltungen gegen die Ausübung der polirischen Polizei siehe: Schücking, S. 89 f. 156 OP Münster an Mdl v. 24.1.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. Die erste Anregung zu einer staatlichen Überwachungsbehördc für die ganze Region stammte vom Dortmunder Oberbürgermeister Schmieding, der sie dem Arnsberger Regierungspräsidenten unterbreitete. Trotz rechtlicher Bedenken hinsichtlich der unklaren Abgrenzung zwischen orts- und landespolizeilichen Kompetenzen griffdieser den Vorschlag auf. RP Arnsberg an OP Münster v. 16.9.1889,in: ebd.,Bd. I,f235241 v. 157 Mdl an OP Münster v. 22.2.1890, in: ebd., Bd. 2. »Polizeiliche Machtbefugnisse würden denselben ... neben den verfassungsmäßig berufenen ordentlichen Organen der Ortspolizei nicht übertragen werden können. Der Einrichtung bloßer Beobachtungsstellen aber steht das Bedenken entgegen, daß die betreffenden Personen - abgesehen von anderen, durch die Erfahrung bestätigten Unzuträglichkeiten - bald bekannt werden und damit außer Stande kommen würden, sich nicht zu Tage liegende Nachrichten zu verschaffen.« 158 Zur Praxis und den Schwierigkeiten dieser schlecht koordinierten, zweigleisigen Arbeit von Ortsbehörden und Bezirksregierung siehe die Berichte des RP Arnsberg an OP Münster v. 3.6.1890 und 15.8.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 3 sowie RP Arnsberg an OP Münster v. 2.9.1894, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 1, f 118-129. 159 RP Arnsberg an OP Münster v. 2.9.1894, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 1, f 121. 160 Oberstaatsanwalt Hamm anMdjustizv. 6.5.1892, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. l , f l 5 f f ; R P Arnsberg anMdlv. 21.9.1893,in: ebd.,f37-42;RP Arnsberg anMdlv. 16.11.1893, in: ebd., f 49 ff. 161 RP Düsseldorf an Mdl v. 18.3.1894, in: ebd., f 69 ff; RP Arnsberg an OP Münster v. 2.9.1894, in: ebd., f 118-129. 162 Vgl. Wittwer, S. 51-56. 163 RP Düsseldorf an Mdl v. 18.3.1894, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 1, f 69 ff; OP Münster an Mdl v. 16.10.1894, in: ebd., f 115 v. 164 RP Düsseldorf an Mdl v. 24.4.1894, in: ebd., f 66. Im Vorfeld seiner Entscheidung forderte der Innenminister einen Bericht des Außenministeriums über die französischen Spezialkommissare. Mdl an Md auswärtigen Angelegenheiten v. 5.5.1894, in: ebd., f 65. 165 Dienstanweisung für die Königlichen Polizei-Bezirks-Kommissare im niederrheinischwestfalischen Industriegebiet (1896), in: ebd., Bd. 2, f48-50. Zur Stellenbesetzung und Herkunft der Bezirkskommissare siehe die Vorgänge in: ebd., Bd. 1, f 159 ffsowie OP Münster an Mdl v. 5.10.1896, in: ebd., Bd. 2, f 56 und OP Koblenz an Mdl v. 6.10.1896, in: ebd., Bd. 2, f 57. 166 Mdl anMd auswärtigen Angelegenheiten und Mdjustiz v. 4.7.1895, in: ebd., Bd. 1, f 130144. 167 Genauere Instruktionen erhielten die Bezirkskommissarc aus Geheimhaltungsgründen mündlich durch einen Vertreter des Innenministeriums. Mdl an RP Düsseldorf, Arnsberg und Münster v. 7.2.1897, in: ebd., Bd. 2, f 78. Die auch von Kleßmann, S. 86 übernommene Darstellung von Kirchhoff, S. 138, wonach die Bezirkskommissariate 1898 im Zusammenhang mit der »Zuchthausvorlage« eingerichtet worden seien, ist fälsch. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden die Bezirkskommissare wahrscheinlich erst durch eine Kabinettsordre vom 18.1.1899 bekannt, die die seit 1896 bestehende Praxis bestätigte. Von diesem Zeitpunkt an führten die Beamten übrigens den Titel »Bezirks-Polizeikommissar« statt »Polizei-Bezirks-Kommissar«. ZSTAM, 2.2.1., Nr. 14977. 168 Polizei-Bezirks-Kommissar Essen an Mdl v. 1.5.1898, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 2, f 193-196. Vgl. auch ebd., Bd. 4. Dort finden sich noch ediche Hinweise auf Reibungen zwischen beiden Seiten. In Frankreich fürchteten Ortspolizei und Gendarmerie den Spezialkommissar als »scharfen, unerbittlichen Aufseher«. Vgl.: Die Verstärkung der Polizeigewalt, in: Kölnische Zeitung v. 27.12.1893.

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Anmerkungen zu S. 153 -157 169 RP Arnsberg an OP Münster v. 2.11.1897, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 2, f 134-136. 170 Den Bezirkskommissaren war der direkte Verkehr mit außcrdeutschen Behörden gestattet. Vom Rheinland aus pflegte man so beispielsweise einen »in freundnachbarlichem Einvernehmen sich vollziehende[n] formlose[n] Verkehr« mit der Polizei in Lüttich und Brüssel. Mdl an Md auswärtigen Angelegenheiten v. 22.2.1902, in: ebd., Bd. 4, f 98 f. 171 Der politisch polizeiliche Berichtsverkehr fand z.B. seinen Niederschlag in den routinemäßigen Sammelberichten der Landräte und später auch der Bezirkskommissare »betr. den Stand der sozialdemokratischen Bewegung«, in: STAM, Reg. Arnsberg 192-100. Daneben bemühte man sich seit Anfang der neunziger Jahre um die exakte namentliche Erfassung aller »Führer und Agitatoren der sozialdemokratischen Partei«, in: STAM, Reg. Arnsberg 1159 u. 1162, und forschte das Umfeld der Arbeitervereine aus. Vgl.: STAM, Reg. Arnsberg 1102-103. 172 Mdl an RP Arnsberg v. 16.3.1905, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 4, f 201. 173 Mdl an OP Münster v. 28.4.1906 und Mdl an RP Arnsberg v. 8.8.1906, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 243. Vgl. Kleßmann, S. 86. 174 Mdl an OP Münster v. 26.3.1909, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 5. 175 Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern der Regionalbehörden und des Innenministeriums in Bochum am 24.6.1909, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 29, Bd. 1, f 11-15 v. 176 RP Düsseldorf an Mdl v. 8.7.1909, in: ebd., f20-24. 177 Ausfuhrlich zur Bochumer Polenüberwachungsstelle sowie zur antipolnischen Repression allgemein: Kleßmann, S. 86 ff. Die Bochumer Stelle war eine von drei preußischen Polenüberwachungsstellen und zuständig für das Ruhrrevier, Schleswig-Holstein, Hannover, Bremen, Hessen und Holland. Die analogen Stellen in Posen und Beuthen deckten die preußischen Ostprovinzen und Berlin bzw. Schlesien ab. Ebd. Siehe auch Murzynowska, S. 147-155. 178 RP Arnsberg an OP Münster v. 3.6.1890, in: STAM, OP 2832, Bd. 2. 179 Als die Überwachungsstelle 1912 zwei Büroassistentenstellen ausschrieb, meldeten sich 23 Bewerber, von denen keiner für tauglich befunden wurde. 16 von ihnen allein deshalb nicht, weil sie polnischer Nationalität waren, obschon sie die preußische Staatsbürgerschaft und den Zivilversorgungsschein besaßen. PP Bochum v. 21.5.1912, in: ZSTAM,Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 29, Bd. I,f225228. Zum Mißtrauen gegen polnische Polizeibeamte siehe auch die Vorgänge in der Akte ZSTAM, Rep. 77, Tit. 299a, Nr. 61, Adhib. 1, die sich mit der Versetzung von Gendarmen aus nationalen Gründen befaßt. Schon die katholische Konfession oder die Ehe mit einer Polin reichten fur die Zwangsversetzung eines Gendarmen aus den polnischen Teilen Preußens in ein nur von Deutschen bewohntes Gebiet aus. 180 Bericht PP Bochum an RP Arnsberg v. 26.5.1910, in: STAM, OP 6396. Zu weiteren Details siehe: Kleßmann, S. 87 f, der die regelmäßigen Berichte der Polenüberwachungsstelle im Detail nachweist und auswertet. 181 Vgl. Kleßmann, S. 77. 182 Kirchhoff, S. 139 f. In Elberfeld ersetzte Nausester den wegen Unfähigkeit pensionierten Bezirkskommissar Kammhoff. Mdl an RP Düsseldorf v. 13.8.1904, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 437a, Nr. 28, Bd. 4 , f l 8 3 .

6. Strukturwandel, Krise und Binnenmodernisierung der kommunalen Polizei 1 Zu den besonderen politischen Loyalitätspflichten der Beamten siehe: Brandt, Treuepflicht. 2 Schon anläßlich der Niederschlagung des Weberaufstandes von 1844 registrierten geheimpolizeiliche Beobachter, daß »man sich der Landwehr zum Einschreiten gegen ruhestörende Volksmassen ... nicht mehr mit vollem Vertrauen bedienen (könne). Sollte sich diese gefährliche Beobachtung ... bestätigen, so wäre freilich nicht abzusehen, welche unseligen Folgen dies Beispiel haben, könnte,

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Anmerkungen zu S. 158 -159 denn die Landwehr besteht aus allen Klassen der Gesellschaft, und ist eben deshalb eine furchtbare Macht.« Agentenbericht aus Mainz v. 24. Juni 1844, in: Adler, Geheimberichte, Bd. Π, S. 39. Zur Diskussion im preußischen Staatsministerium um befürchtete UnZuverlässigkeiten bei den Unterbeamten im Zusammenhang mit dem Erlaß des Sozialistengesetzes siehe die Stellungnahmen in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 10771. Als die Berliner Schutzmannschaft nach der Jahrhundertwende gezwungen war, aufgrund mangelnder Bewerber ihre Rekrutierungskriterien zu lockern, insistierte der Polizeipräsident darauf, Industriearbeiter grundsätzlich auszuschließen, da diese »der Gefahr sozialdemokratischer Verseuchung ausgesetzt waren.« PP Berlin an Mdl v. 8.11.1907, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1216, Nr. 1, Bd. 9,f34 v. SieheauchSa«/,StaatunddieMächtedes Umsturzes, besonders S. 317-331. 3 Vgl.: Säle, Preußische Bürokratietradition, S. 191-204; Wunder, Rekrutierung; Röhl-,Armanski, S. 1 ff; Fischer u. Lundgreen, S. 509-520; Jeserich, S. 645-677. Klassisch, wenn auch in den Wertungen apologetisch, die Analyse von Hintze, besonders S. 48-53. Zur unkritischen Staatsorientierung Hintzes siehe: Kocka, Otto Hintze, Max Weber, S. 81,97. 4 Hintze, S. 53. 5 Die beste Studie zum Problem der Militäranwärter in der Zivilverwaltung ist die von Säle, Militäranwärter. Zu Detailbestimmungen siehe: Geerling, S. 22 ff; Erzberger, S. 9-37; Messerschmidt, Die preußische Armee, S. 198-202; Wunder, Bürokratie, S.58f. Die Bedingung der Eignung darf nicht als Leistungskriterium mißverstanden werden. Vielmehr ist darunter Unbescholtenheit im Sinne von Straffreiheit, politische Zuverlässigkeit sowie ein absolutes Minimum an körperlicher und geistiger Tauglichkeit zu verstehen. Dies zeigen auch die Begründungen, mit denen die Polizeiverwaltung Militäranwärter zurückwies. Von vier Militäranwärtern, die sich 1899 auf zwei Hagener Polizeistellen beworben hatten, wurden drei wegen Vorstrafen und einer wegen Krankheit abgelehnt. OB Hagen an RP Arnsberg v. 23.5.1899, in: SAH, 3182. 6 Messerschmidt, Preußens Militär, S. 60. Verstärkt wurde die soziale Selektivität dieses Rekruticrungsverfahrens durch die Tatsache, daß unter den Unteroffizieren - politisch gewollt - junge Männer mit ländlicher Herkunft überrepräsentiert waren. Ebd., S. 69 und Wehler, Kaiserreichs. 162 sowie Bald, S. 49-54. »This militarily overloaded one-sided recruitment policy of the Prussian bureaucracy ... had a profound impact on relationships between bureaucracy and society.« Fischer u. lundgreen, S. 521. Vgl. auch: Willems, S. 91 ff. 7 In den staadichen Polizeikorps galt die Sonderregelung, daß Anwärter eine neunjährige Militärzeit vorweisen mußten und sich drei Jahre ihrer Polizistentätigkeit anrechnen lassen konnten, um die Zwölfjahresfrist zur Erlangung des Zivilversorgungsscheins abzudecken, durch den der Übertritt in andere Beamtenpositionen möglich wurde. Vgl. Kraker, S. 57,72; Thomason, Uniformed Police, S. 137; Gendarmeriedienst. 8 Volksfreund Braunschweig v. 9.3.1910, der sich auf einen Artikel aus dem Hamburger Echo stützt. Zitiert nach: Als die Deutschen demonstrieren lernten, S. 128. 9 Der Vergleich mit der Londoner Polizei gehörte zu den Standardformeln der zeitgenössischen Polizeikritik. Vgl. als ein Beispiel: Hintze, S. 54 f, der freilich die Militarisierung der Polizei verteidigt. Zum zivilen Image der Londoner Polizisten siehe: Stead, S. 73-84 und Tobias. Die bisher beste Analyse zur sozialen Rekrutierung preußischer Polizisten legte Thomason für die Berliner Schutzmannschaft zwischen 1848 und 1860 vor. Er stellte für diese Phase einen deutlichen Trend zu steigender Militarisierung und zunehmender Fernrekrutierung fest. Ausgediente Soldaten (44%) und ehemalige Handwerker (33%) - Meister (10%) wie Lehrlinge und Gesellen (23%) - stellten die bedeutendsten Herkunftsgruppen, Arbeiter blieben mit 2,7% völlig marginal. Thomason, Prussian Police State, S. 268. Für spätere Phasen heben die durchweg militärische Rekrutierung der preußischen Polizeibeamten hervor: Siggemann, S. 2 ff; Bay ley, S. 338,374; Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 287-292; Fosdick, S. 199 ffund Haupt, Bürokratie und Arbeiterbewegung, S. 241 f, der allerdings für Bremen eher zivile Rekrutierungsmuster konstatiert. Zur Kontinuität einer militärnahen, ländliche Herkunftsgruppen bevorzugenden Fernrekrutierung städtischer Polizeikräfte in der Weimarer Republik siehe: Liang, S. 68 ffund Steinborn, S. 15. ZusammenfassendzumGesamtkomplexderBeziehungenzwischenPolizei

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Anmerkungen zu S. 159 -163 und Militär: Spencer, Police-Military Relations, die ebenfalls auf die Dominanz militärischer Prägung hinweist, aber auch gegenläufige Entwicklungen in der kommunalen Polizei rheinischer Städte anfuhrt. 10 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 291. 11 Süle sieht im Militäranwärter mit Recht den »Repräsentant des Gegenprinzips« zur Qualifikations- und Leistungsorientierung in der Verwaltung. Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 96. 12 Im Grunde gilt dies für alle in Anmerkung 9 genannten Titel, soweit sie sich auf Preußen beziehen. Differenzierter: Spencer, Police-Military Relations. 13 Grundlage war ein Erlaß des Mdl v. 26.6.1880. Vgl. VB Münster für 1880. Nach dem Zuständigkeitsgesetz vom 1.8.1883 hatte der Regierungspräsident das Bestätigungsrecht für die Einstellung aller städtischen Polizeibeamten. Bis zu diesem Zeitpunkt lag die Aufsicht über die Städte mit weniger als 10.000 Einwohnern beim Landrat, über die größeren beim Regierungspräsidenten. Siehe den Berichtsverkehr in: STAM, Reg. Arnsberg I Κ 1 3 1 9 . Vor dieser Zentralisierung dürfte mehr Spielraum für ortsspezifische Abweichungen bestanden haben. Vgl. den Berichtsverkehr zu Praxis der Kommunalaufsicht vor 1860 in: STAM, Reg. Arnsberg Β 67. 14 VB Bochum für 1880/81. 15 VB Dortmund für 1882/83, S. 65. Zu der Militarisierungskampagne der frühen achtziger Jahre, mit der der Staat massiv versuchte, die Anstellungsgrundsätze des Zivilversorgungsreglements vom 20.6.1867, das alle Unterbeamtenstellen für Militäranwärter reservierte, gegen die Kommunen durchzusetzen, siehe auch die Berichterstattung in: PVB, Jg.3, 1881/82, S. 163, 314. Im Falle eines Verstoßes wurde die Gemeinde »ohne weiteres zur Anstellung eines Versorgungsberechtigten gezwungen, während der schuldige Beamten der Gemeinde regreßpflichtig erachtet wird.« Ebd. S. 163. 16 Zur Kontrollpraxis siehe z.B.: RP Arnsberg an Polizeiverwaltung Hagen v. 17.12.1896, in: SAH, 3176, wo die Stellenbesetzung mit einem Zivilanwärter moniert wird. 17 Vgl. Läufer, Unser Polizeiwesen, S. 28 ff; Vamhagen, Die Ausbildung der Polizeibeamten und die Polizeischulen, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 427. Denkschrift des PI Lemke, Osnabrück an Justizminister v. 30.11.1898, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 3727, f 306-325; LR Dortmund an RP Arnsberg v. 31.7.1912, in: STAM, Reg. Arnsbergl Pa 754; PI Meyer an OB Hagen v. 23.5.1899, in: SAH, 3182. 18 Vgl. die Berichterstattung in Bezug auf die Stadt Hagen in: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 1178. 19 Errechnet nach: Nachweisung über die Zahl und die Verhältnisse der Gemeinde-PolizeiExecurivbeamten in den größeren Städten und Landgemeinden der Regierungsbezirke Düsseldorf und Arnsberg, Oktober 1898, in: SAH, 3176. 20 Vgl. Tab. 10 (Anhang). 21 Vgl. Ebd. 22 PI Meyer an OB Hagen v. 3.12.1889, in: SAH, 3182. 23 Vgl. Tab. 12 (Anhang). 24 Errechnet nach VB Bochum für 1905-1908. Die in dieser Zeit eingestellten Schutzmänner besaßen zu 96% (68 von 71) keinen Zivilversorgungsschein. 25 Vgl. Tab. 10 (Anhang). 26 Vgl. Tab. 11 (Anhang). 27 Vgl. Tab. 10 (Anhang). 28 Vgl. Tab. 12 (Anhang). 29 Vgl. Tab. 13 (Anhang). Wie weit sich die kommunalen Polizisten der Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft von ihren militärgeprägten Vorgängern entfernt hatten, zeigt ein Vergleich mit den bevorzugten Rekrutierungsgruppen der bundesrepublikanischen Polizei der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts. Auch hier lag ein deutlicher Schwerpunkt bei der Gruppe der Facharbeiterschaft und Handwerksgesellen. Vgl. Spiegelberg und Hinz.

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Anmerkungen zu S. 164 -167 30 Sille, Militäranwärter, S. 208; ders., Preußische Bürokratietradition, S. 78 ff. 31 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 290 f. 32 Pearsonscher Korrelationskoeffizient errechnet mit SPSS X auf Basis der Daten der Tab. 11 (Anhang). 33 Vgl. auch Spencer, Police-Military Relations, S. 308. 34 Nach Haushaltsetat Dortmund für 1905. 35 Säle, Militäranwärter, S. 206. 36 Schmidt-Richberg, S. 99. Während die Ausschreibung von Polizeisergeanten- und Schutzmannstellen oft ohne Resonanz blieb, drängten sich die interessierten Militäranwärter bei mittleren Verwaltungsstellen derart, daß der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen den Regierungspräsidenten um Genehmigung bat, die Interessenten zu einer dreimonatigen informatorischen Beschäftigung heranzuziehen, bevor er sie auf die Warteliste der Aspiranten für den mittleren Dienst setzte. OB Gelsenkirchen an RP Arnsberg v. 23.10.1905, in: STAM, Reg. Arnsberg I 2216. Vgl. auch entsprechende Berichte in: Die Polizei, Jg. 4, 1907/08, S. 142 f. 37 Eine Auflistung dieser und vergleichbarer Gravamina findet sich in dem Gesuch eines Wachtmeisters aus Frankfurt an den Mdl v. 3.12.1905, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1190, Nr. 2, Bd. 3, f 2327. Vgl. auch die Rede Karl Liebknechts im Haus der Abgeordneten v. 30.4.1912, in: Stenographische Berichte, 1912, S. 4 9 1 3 ff; Gersbach, Mangel an Schutzleuten, in: Die Polizei, Jg. 2 , 1 9 0 5 / 0 6 , S. 227228. Zu den Rekrutierungsproblemen der kgl. Schutzmannschaften siehe die Vorgänge in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1216, Nr. 1, Bd. 8. Zum Disziplinarwesen vgl. SAH, 3179 und 3213. Vgl. auch die Petition des Chefs der Polizeischule Recklinghausen, Retzlaff, v. 31.1.1906, die besonders die schlechten Arbeitsbedingungen der Unterbeamten als Grund für den Bewerbermangel hervorhebt. In: SAH, 3171. 38 Vgl. Mdl an OP Münster v. 17.2.1904, in: STAM, OP 2688; Chef der 7. Gendarmeriebrigade an OP Münster v. 27.2.1904, in: ebd. 39 RP Münster an OP Münster v. 23.3.1904; RP Arnsberg an OP Münster v. 16.4.1904; RP Minden an OP Münster v. 20.4.1904, in: ebd. 40 Obwohl diese »Minderjährigen« verschämt nur als »Hilfsschutzleute« eingestellt wurden, stellten sie praktisch das wichtigste Reservoir der neuen königlichen Polizei. Der Demilitarisierungstrend machte also auch vor der staatlichen Schutzmannschaft nicht halt. Siehe RP Düsseldorf an Mdl v. 15.5.1909, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1216, Nr. l , B d . 9, f 2 4 1 ; R P Arnsberg an Mdl v. 18.5.1909, in: ebd., f 243. Etliche Schutzmänner, die aus anderen Städten hierher versetzt worden waren, baten umgehend um Rückversetzung. Fälle in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 FI, Fasz. ad. Nr. 3, Bd. 5. 41 Lattorff, S. 13; Spencer, Police-Military Relations, S. 307 bemerkt, die Kommunen hätten sich nur mit großem Widerwillen den zivilen Polizeianwärtern geöffnet. M.E. trifft diese Einschätzung nicht zu und verkennt die aktive Rolle der Städte bei der Demilitarisierung der Ortspolizei. Dies bestätigt auch die Untersuchung von Süle, Militäranwärter, S. 203 ff. 42 Vgl. Flügge, S. 1171; Erzberger, S. 88-92; Eingabe des Bundes deutscher Militäranwärter, Zweigverein Wattenscheid, an RP Arnsberg v. 12.2.1913, in: STAM, Reg. Arnsberg I 2172; ZPV, Jg. 15, 1907, S. 331. 43 Süle, Militäranwärter, S. 199 ff, 210. 44 Beispielsweise: Ανέ-Lallemant, S. 20 ff; Held, S. 18; Gerland, Mängel der Polizei, S. 1332. Sehr scharf gegen den Militarismus der Polizei: Laufer, Kommunalpolizei, S. 3 ff; Weidlich, S. 99. Neben diesen Kritikern gab es allerdings auch unter den Polizeipraktikern der unteren Ebene enthusiastische Befürworter einer streng militärischen Rekrutierung. So Lemke, Preußische Exekutiv-Polizei, S. 224 ff; Grantzow, S. 31 ff. 45 Vgl. den Schriftverkehr in SAH, 3176 und 3182. Die heimliche Obstruktionspolitik der Kommunen blieb den Militäranwärtern nicht verborgen. Siehe die anonymen Beschwerden leer ausgegangener Militäranwärter, die sich über die Einstellung ziviler Kandidaten bei der Hagener und Bochumer Polizei beklagten. In: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 1178 und SABo, LA Nr. 193.

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Anmerkungen zu S.

168-173

46 PI Meyer an OB Hagen v. 11.1.1905, in: SAH, 3177. 47 Ursprünglich hatte man erwogen, die Schule des Regierungsbezirks Arnsberg nur für Unteroffiziere mit mindestens sechsjähriger Dienstzeit zu öffnen, hatte dann aber von jeder Militärbindung abgesehen. Vgl. die Vorgänge in: SAH, 3189. 48 RP Arnsberg an LR's und OB's v. 10.12.1903, in: SAH, 3189. 49 Zum Schulgeld: Vereinbarung zwischen den Städten Dortmund, Gelsenkirchen, Bochum und Hagen von 1904, in: SAH, 3189. Seit 1909 betrug die Kursgebühr fur die externen Schüler 100 Mark. Vereinbarung zwischen den Städten Dortmund und Hagen von 1909, in: SAH, 3191. Auch an der Polizeischule des Kreises Recklinghausen mußte ein Schulgeld von 100 Mark entrichtet werden. Rühle v. Lilienstern, Die Ausbildung der Polizeiexekutivbeamten für ihren Beruf, in: ZPV, Jg. 13,1905, S. 497-501, hier: S. 499. Der monatliche Durchschnittsverdienst eines Arbeitnehmers betrug 1910 rund 82 Mark. Vgl. Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 107. 50 Siehe Tab. 13 (Anhang). 51 Bericht des Poüzcischuldirektors Bartels über den Kurs vom Januar bis Februar 1909 in Dortmund in: SAH, 3191. In einem anderen Bericht v. 2.12.1909 klagte Bartels über die »übergroße Zahl der Anmeldungen«. In: ebd. 52 Nachweisung von Polizeischülern der in Hagen abgehaltenen Kurse v. 1907 bis 1911, in: SAH, 3191. OB Dortmund an OB Hagen v. 7.2.1912, der fur die Dortmunder Kurse eine Überproduktion von 16% der Schüler angibt. 53 Mdl an OP Münster v. 3.11.1911, in: SAH, 3191. 54 Vgl. Kaelble, S. 69 sowie Hintze, S. 55. 55 Vgl. den folgenden Abschnitt. Zur zentralen Bedeutung materieller Sicherheit für den Eintritt in den öffentlichen Dienst siehe: Henning, Die nicht-akademisch gebildete Beamtenschaft, S. 300 und Haupt, Bürokratie und Arbeiterbewegung, S. 242. 56 Vgl. Süle, Militäranwärter, S. 211. 57 Haupt, Bürokratie und Arbeiterbewegung, S. 243. Zur Begrifflichkeit von Stand und Klasse vgl. Kocka, Stand-Klasse-Organisation, besonders S. 138-140 und ders., Klassengesellschaft im Krieg, S. 3 ff. 58 Im Gegensatz zur höheren, akademisch gebildeten Beamtenschaft ist die untere Gruppe der Staatsdiener vergleichsweise schlecht erforscht. Einen Überblick gibt: Henning, Die deutsche Beamtenschaft, S. 113-148. Vgl. auch ders., Die nicht-akademisch gebildete Beamtenschaft; Jeserich u.a, S. 653-662; Armanski, S. 51-62. Ausführlich jetzt Säle, Preußische Bürokratietradition, S. 72-126. Klassisch zur Soziologie des Beamtentums: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 551-579 sowie: Hintze, besonders S. 20-27. 59 Säle, Preußische Bürokratietradition, S. 181. 60 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 553. 61 Zur Kongruenz der Ungleichheitsdimensionen als typischem Merkmal ständischer Lage siehe: Kocka, Stand-Klasse-Organisation, S. 150. 62 Zu den Auflösungstendenzen ständischer Geschlossenheit in der Beamtenschaft bei gleichzeitiger Persistenz mittelständischen Selbstbewußtseins und starken Distanzierungswillens gegenüber der Arbeiterschaft ausführlich Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 107-126,166-191. 63 Siehe oben. Henning gibt die nicht direkt mit der hier angeführten intragenerationellcn Mobilität vergleichbare Berufsvererbungsquote für die Periode von 1890-1914 mit 33,7% an. Henning, Die deutsche Beamtenschaft, Tab. 13, S. 114 f. 64 Ebd. Berufsvererbungsdaten nach Thomason, Prussian Police State, S. 268, der die Personaldaten von 781 Berliner Schutzleuten auswertet und für eine Gruppe von 202 den Beruf der Vatergeneration ermitteln und sogar in 81 Fällen den Beruf der Enkelgeneration, d.h. der Kinder aus Polizistenfamilien feststellen konnte, so daß ein 3-Generationenvergleich möglich wird. 65 Ebd. Die durchschnittliche Berufsvererbungsrate der unteren Beamten lag in dieser Phase bei 30,5%. Henning, Die deutsche Beamtenschaft, Tab. 13, S. 114 f. Thomason interpretiert den hohen Arbeiteranteil in der Enkelgeneradon dahin, »that a very cohesive group of policemen in a sense

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Anmerkungen zu S. 173 -176 >bridged< the world of artisan fathers and working-class sons, in a rural to urban shift which occurred over three generations.« Thomason, Prussian Police State, S. 272. 66 Vgl. die Klagen in: VB Bochum fur 1900, S. 44 sowie die entsprechenden Vorgänge in: SAH, 3176, 3177, 3182. 67 Hörder Volksblatt v. 20.12.1907, Ausschnitt in: STAM, Reg. Arnsberg I 2093. 68 Die Polizeischule auf dem Brandenburgischen Städtetag, in: Die Polizei, Jg. 4, 1907/08, S. 150. 69 PI Meyer an OB Hagen v. 3.12.1889, in: SAH, 3182. 70 Errechnet nach den Angaben in: VB Dortmund fur 1886-1905. 71 Errechnet nach den Angaben in: VB Bochum fur 1900-1908. Die hohe Rate von 21,5% im Jahre 1908 dürfte die Unsicherheit der Beamten im Vorfeld der Verstaatlichung von 1909 spiegeln. Bei der Berliner Schutzmannschaft lag der durchschnittliche jährliche Abgang zwischen 1891 und 1897 nach überschlägiger Berechnung bei 7%. Errechnet nach den Angaben bei Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 290. 72 Nach den jährlichen Veränderungsmeldungen in: VB Dortmund für 1882-1906. Bei den Sergeanten schieden in dieser Zeit 92 und bei den Schutzleuten 116 Mann aus. 73 Das Abwanderungsziel ist bei 5 5 Dortmunder Sergeanten und 90 Schutzleuten zwischen 1882 und 1906 zu identifizieren. Von 51 registrierten Abgängen von Schutzleuten zur Polizei einer anderen Stadt waren 49 mit dem Aufstieg zum Sergeanten verbunden. Ebd. 74 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 290. 75 Zum Begriff der Statusinkonsistenz siehe: Zingg u. Zipp, S. 45-55. Das Konzept der Statusinkonsistenz spielt auch in der jüngeren Polizeisoziologie eine wichtige Rolle. So konstatiert eine Studie aus dem Jahre 1971: »Wichtige Faktoren für manche Einstellungen und Verhaltensweisen von Polizeibeamten könnten im Bereich der psychischen Problematik sozialer Aufsteiger in paradoxer Verbindung mit einem kollektiven Deklassierungsbewußtsein liegen.« Hinz, S. 123. 76 Vgl. Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 111 sowie die Tab. 14 im Anhang. 77 Vgl. Henning, Die deutsche Beamtenschaft, S. 133,derfürdieganzeuntereBeamtenschaftdie tendenzielle Angleichung an das Einkommen von Arbeitern konstatiert. 78 RP Arnsberg an OP Münster v. 16.4.1904, in: STAM, OP 2688. Zur gleichen Frage berichtete der Münsteraner Regierungspräsident am 23.3.1904: »Der Gendarm ist vielfach nicht in der Lage, eine gleiche Lebensweise zu fuhren, wie die besser bezahlten industriellen Arbeiter und seine soziale Stellung ist daher eine nicht so angenehme und geachtete wie dies in den östlichen Provinzen der Fall ist.« In: ebd. 79 Aßmann, Einiges über die wirtschaftliche und rechtliche Lage der Polizeibeamten, in: ZPV, Jg. 16, 1908, S. 529-531, hier: S. 531. Charakteristisch auch die Beobachtung eines staatlichen Polizeikommissars: »Kommt ein Polizeikommissar in Uniform in ein Geschäft - in ein besseres kann er nur gehen - um irgend einen Gegenstand zu kaufen, so werden ihm die teuersten Sachen vorgelegt, die er nicht bezahlen kann, und es ist ein beschämendes Gefühl für ihn, der durch seine Uniform kenntlich ist, wenn er das Vorlegen billigerer Sachen beinahe erzwingen und die immer geringschätzigeren Mienen der Verkäufer beobachten muß.« Zur Reorganisation der preußischen Polizei, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/07, S. 286-289, hier: S. 389. Ganz ähnlich: Eiben, Polizeikommissar - Polizeioffizier, in: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 389-391, hier: S. 390. 80 Die Sorge, der soziale Abstand zur Arbeiterklasse könne verlorengehen und das standesgemäße Lebensniveau sei gefährdet, plagte vor und nach der Jahrhundertwende die kleine Beamtenschaft generell. Süie, Preußische Bürokratietradition, S. 118-126. Für die Polizeibeamten, die gegenüber ihrer meist proletarischen Klientel nicht nur delegierte Herrschaft, sondern auch moralische und soziale Superiorität ins Feld fuhren mußten, um ihre Position zu stärken, wird dieser relative Abstieg besonders schmerzlich gewesen sein. 81 Die Ursachen dieser schlechten Beziehungen sollen hier nicht näher diskutiert werden. Vgl. weiter unten Kap. 6.2.2.. Vgl. auch Thomason, Criminal Division, S. 436 ff. Repräsentativ für die

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Anmerkungen zu S.

176-180

zeitgenössische Debatte zum Image der Polizei: Grantzow, S. 74, 84; Ackermann, S. 78 ff; Lemke, Preußische Exekutiv-Polizei, S. 208-213 sowie die aufschlußreiche Diskussion unter dem Titel »Polizei und Publikum«, die als Reaktion auf die öffentliche Polizeikritik um die Jahrhundertwende einsetzte und die Statusprobleme der Polizeibeamten sehr gut widerspiegelt. Siehe: Die Polizei, Jg. 1,1904/05, S. 198 ff, S. 246 ff, S. 291 ff; Jg. 4,1907/ 08, S. 15, S. 196, S. 210 f; Jg. 6,1909/10, S. 50 f u.ö. 82 Beide Zitate: Thielemann, Polizei und Publikum, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 106. 83 Zugleich scheint es fast, als hätten die Polizeibediensteten des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch nicht völlig das Stigma der »unehrlichen« außerständischen Leute abgeschüttelt, das ihre Vorgänger im 18. Jahrhundert zu Außenseitern der Gesellschaft machte. Vgl. Kilther, S. 27 f sowie Ackermann, S. 80, der 1896 konstatiert, daß die Polizei in der öffentlichen Meinung noch zu den »unehrlichen Hantierungen« gehört. 84 Vgl. Fischer-Kcrwalsky u.a., S. 107. 85 Behandlung des Publikums, in: Die Polizei, Jg. 1,1904/05, S. 246 ff, hier: S. 248. 86 Thielemann, Polizei und Publikum, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 107. 87 Polizei und Publikum, in: Die Polizei, Jg. 11, 1914/15, S. 145. Vgl. auch Laufer, Unser Polizeiwesen, S. 108 ff. 88 Laufer, Kommunalpolizei, S. 17. Die Militäranwärter galten allgemein als wenig zivilisiert und kaum gesellschaftsfähig. Säle, Militäranwärter, S. 201. Zur gegenüber den staatlichen Beamten »geringere[n] gesellschaftliche^] Wertschätzung der Kommunalbeamten« siehe: Gidion, Die Stellung der mittleren Kommunalbeamten, in: ZPV, Jg. 19,1911, S. 482-484. 89 Polizei und Publikum, in: Die Polizei, Jg. 11,1914/15, S. 145. 90 Hebung der kommunalen Polizei, in: ZPV, Jg. 20,1912/13, S. 305. 91 Vgl. Haupt u. Narr, Forschungsbericht, S. 197. 92 Dienstanweisung Arnsberg 1910, § 17. Vgl. auch Thiele, S. 8 und Grantzow, S. 63 ff. 93 Dienstanweisung Arnsberg 1910, §§ 7 und 9. 94 Ebd., § 6. Vgl. die Rundverfugung des Mdl v. 18.1.1882, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 404. Der Berliner Polizeipräsident hob diese Bestimmung 1907 auf, da sie von den Beamten als »lästig« empfanden wurde und »Grund zu Unzufriedenheit und Mißstimmung« gab. PP Berlin an Mdl v. 8.11.1907, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1216, Nr. 1, Bd. 9, f 24 ff. 95 Vgl. die Vorgänge in: SAH, 3179 und 3213. 96 Die Polizei, Jg. 7,1910/11, S. 21,195. 97 Das »Isolationsnetz«, das alle kleinen Beamten mehr oder weniger straff umfing und sie von ihrer Umwelt distanzierte, war bei den Polizisten wegen ihrer exponierten, hochgradig konfliktträchtigen Stellung offenbar besonders eng geknüpft. Begriff bei Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 173. 98 Die Proletarisierung der Polizeibediensteten war nicht nur Ausdruck, sondern selbst Verstärker dieses Degradierungsprozesses, da das Sozialprestige eines Berufs nicht nur die Bewertung seiner Funktion, sondern auch die Schichtzugehörigkeit der Berufsinhaber reflektiert. Vgl. Beck, u.a., S. 44. 99 Ausfuhrlich hierzu: Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 286 ff. Vgl. die zahlreichen Pressemeldungen in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8289 und die Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus v. 17.2.1898, in: Stenographische Berichte, 1898, S. 715-735. 100 Der Übergriff war vom sozialdemokratischen Abgeordneten Heine am 22.11.1902 im Reichstag zur Sprache gebracht worden. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. Periode, II. Session, 22.11.1902, S. 6523 ff. Siehe auch Mdl an RP Arnsberg v. 28.11.1902 und RP Arnsberg an Mdl v. 12.12.1902, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 al, Nr. 4, Bd. 3, f 135-138. Zahlreiche weitere Fälle in: ebd., Bd. 2 und Nr. 7, Bd. 1. 101 RP Arnsberg an LR's und OB's v. 3.12.1902, in: STAM, Reg. Arnsberg I Κ 1 3 1 9 . Im selben Tenor die Erlasse des Mdl v. 15.12.1902, in: ebd. und des Justizministers v. 17.12.1902, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8286, die ein schärferes Vorgehen gegen Übergriffe, eine intensivere Kontrolle und vor allem eine bessere Erziehung der Unterbeamten forderten.

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Anmerkungen zu S. 180-183 102 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 286 f. Der drohende Legitimationsvcrfall polizeilicher und das hieß immer auch staatlicher Autorität wurde von der politischen Spitze genau wahrgenommen. Die zitierten Initiativen zur Unterbindung polizeilicher Übergriffe sind Ausdruck dieser Sorge. Im Anschluß an die Rcichstagsdebatte vom 22.11.1902 wies der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident v. Bülow das preußische Innen- und das Justizministerium an, für die Abstellung der Mißstände zu sorgen, da diese Frage »von so großem Einflüsse auf die öffentliche Stimmung [ist], daß ihr Wert auch fur die allgemeinen politischen Interessen nicht unterschätzt werden darf.« v. Bülow an Mdl und Justizminister v. 10.12.1902, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 345, Nr. 17, Bd. 1 f 289-293 v. 103 VgL Ditton, S. 13. 104 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 289. Vgl. auch ebd., S. 293-295,298-301. Zeitgenössische Kritiker wie Laufer bestätigen diese Sicht: »Der Militarismus in der Polizei zeigt sich auch hier, der Unteroffizier schlägt in der Armee ... und er prügelt in seiner neuen Stellung weiter, da er es gewissermaßen so gewohnt ist und eine Erziehung fur die Polizei nicht genossen hat.« Laufer, Kommunalpolizei, S. 7 f. Vgl. auch die Petition des Berliner Rechtsanwalts Kauffinann betreffend die Mißhandlungen von Bürgern durch Polizeibeamte v. 17.12.1883, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 345, Nr. 17, Bd. 1, f 84 ff. 105 Zu den krisenhaften Begleiterscheinungen von Modemisierungsprozessen siehe: Wehler, Modernisierungstheorie, S. 36 f. Ein vergleichbare Häufung von Konfrontationen zwischen Polizei und Bevölkerung parallel zu Polizeiexpansion ist auch in Großbritannien beobachtet worden. Vgl. Philips. 106 Vgl. Tab. 15 (Anhang). Auch nur annähernd brauchbare Angaben darüber, wieviel Prozent der preußischen Polizeibeamten in diesen Jahren in den genannten Provinzen stationiert waren, gibt es nicht. Legt man die Werte für 1913 zugrunde, die in Tab. 6 (Anhang) präsentiert werden, waren in Schlesien, der Rheinprovinz und Westfalen rund 40% aller staatlichen Schutzleute und kommunalen Polizisten beschäftigt. Wenn diese 52,2% aller »Mißgriffifälle« auf sich vereinigten, waren sie überrepräsentiert. Die Gendarmen sind nicht berücksichtigt, da sie dem militärischen Disziplinarrecht unterstanden und daher in der herangezogenen Quelle nicht erfaßt sind. 107 Vgl. die Einzelfälle in GSTA, Rep. 84a, Nr. 8265; ZSTAM, Rep. 77, Tit. 343 al, Nr. 7, Bd. 1 und STAM, Reg. Arnsberg I Pa 1178. 108 Sitzung v. 17.2.1898, in: Stenographische Berichte, 1898, S. 716. 109 Vgl. Tab. 15 (Anhang). Zweifellos gehören die herangezogenen Angaben zur Häufigkeit von Gnadengesuchen zu den - aus kriminologischer Sicht - schlechten Delinquenzdaten, die schon zahlreiche Filterstufen (Registrierung, Anzeige, Gerichtsverhandlung, Verurteilung) durchlaufen haben, in denen jeweils etliche Fälle hängengeblieben sind, so daß die überlieferte Zahl nur noch ein unscharfes Bild von der tatsächlichen Delikthäufigkeit gibt. Vgl. grundsätzlich zu diesem Problem: Kerner. Da jedoch kein anderes Material zur Verfügung steht und in den Jahren zwischen 1899 und 1905 rund 74% aller verurteilten Polizisten auch ein Gnadengesuch einreichten, so daß die herangezogenen Zahlen zumindest die Gruppe der Verurteilten annähernd genau widerspiegeln, läßt sich der Rückgriff auf dieses Material rechtfertigen. Vorsicht bei der Interpretation ist gleichwohl geboten. 110 Nachweisung der gerichtlichen Bestrafung von Beamten der kgl. Schutzmannschaften in den letzten 3 Jahren (1900/01/02) wegen Mißhandlung und widerrechtlicher Festnahme, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 345, Nr. 17, Bd. 1 und die Gesamtstatistik aller verurteilten Polizeibeamtennaus: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8265, die der Tab. 15 (Anhang) zugrundeliegt. 111 Stärke der Kommunalpolizei 1913:17090, der kgl. Schutzmannschaften: 16801. Vgl. Tab. 6 (Anhang). 112 Vgl. Aßmann, in: ZPV, Jg. 16,1908, S. 29; Gerland, Mängel der Polizei, S. 1304 f, 1310 f; Laufer, Unser Polizeiwesen, S. 28 ff. 113 RP Düsseldorf an Mdl v. 28.2.1884, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 345, Nr. 17, Bd. 1, f 67. Im selben Sinne: RP Stettin an Mdl v. 26.2.1884, in: ebd., f 54. 114 Exemplarisch: PP Berlin an Mdl v. 8.11.1907, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1216, Nr. 1, Bd. 9, f 20. Vgl. auch PP Berlin an Mdl v. 18.5.1905, in: ebd., Bd. 8.

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Anmerkungen zu S. 183 -188 115 Vgl. Lautmann, S. 24; Spiegelberg, S. 118; Hinz, S. 123; Harrach, S. 215 ff. 116 Vgl. auch Silk, Preußische Bürokratietradition, S. 182 f, der betont, daß die »Zugehörigkeit zur Bürokratie als Zustand« herkunftsbedingte Loyalitäten und Bindungen schnell entwertete. Die Integration in den Apparat »entfernte den Beamten, der von außen gekommen war, ziemlich wirksam und ziemlich weit von seiner früheren sozialen Identität...« Ebd., S. 183. 117 Brigadier der 7. Gendarmerie-Brigade Franckenberg an das Kommando der Landgendarmerie v. 28.4.1869, in: STAM, OP 2689, f 82 f. Vgl. auch das Votum des Mdl und Finanzministers v. 18.9.1890. Typisch auch die Einsatzschilderung eines Gendarmen beim Herner Streik, dokumentiert in Tenfelde, Krawalle von Herne, S. 94 f. 118 Vgl. Zaika, Polizeigeschichte, S. 37-49. 119 »Es ist psychologisch so leicht zu erklären, daß dies bißehen Machtanteil um so mehr bedeutet, um so eifriger als Prestige zur Schau getragen, um so eifersüchtiger gehütet und verteidigt wird, je gedrückter die Stellung des einzelnen Beamten nach Besoldungsrang und innerdienstlicher Funktion ist.« Geiger, S. 98. »Geringes Berufsprestige und empfindliches Selbstbewußtsein« fuhren dazu, daß sich Polizisten, wenn ihre Autorität bedroht scheint, mit Gewalt Respekt verschaffen: »Die dem Polizisten drohende Frustration, daß einige Leute ihn offen verachten und beleidigen, wird sogleich mit Aggressivität erwidert.« Lautmann, S. 23. Prägnant zu diesem Abwehrmechanismus: Maanen. Vgl. auch Blasius, Kriminalität und Alltag, S. 60. 120 Schwilden, Reform der Polizeischulen, in: Die Polizei, Jg.4,1907/07, S. 288. 121 Erster Staatsanwalt Oppeln an Oberstaatsanwalt Breslau v. 11.12.1889, in: GSTA, Rep. 84a, Nr. 8195, f 32-69, hier: f 44 v. 122 Ebd., f 45 f. 123 Wenn man diese Entwicklung als Modernisierungsprozeß interpretiert, handelt es sich um typische Elemente einer Modernisierungskrise. Vgl. Wehler, Modernisierungstheorie, S. 36 ff. 124 Zum Beispiel PI Meyer an OB Hagen v. 1.11.1904, in: SAH, 3177. 125 Ebd. und PI Meyer an OB Hagen v. 11.1.1905 in: ebd. 126 Ebd. und PI Meyer an OB Hagen v.28.3.1905,in: SAH, 3572. Die Hagener Reform wurde vom RP Arnsberg am 12.4.1905 genehmigt. Wie scharf Leistungsgesichtspunkte bei Beförderungen beachtet wurden, zeigt ein Vorgang von 1906. Sechs Schutzleute, die für ein Aufrücken in Betracht gekommen wären, wurden wegen mangelnder Führung und Leistung übergangen. »Die Überschlagung derselben dürfte ein Sporn für sie werden, sich für die Folge mehr anzustrengen, damit sie bei der nächsten Beförderung nicht noch einmal überschlagen werden.« PI Meyer an OB Hagen v. 7.8.1906, in: SAH, 3177. 127 Haushaltsetat Gelsenkirchen für 1902/03; VB Bochum für 1904, S. 60. Zu Hagen siehe SAH, 3177. In Recklinghausen war man 1893 mit der Ausmusterung der alten Nachtwache gleich zum einheitlichen Tag- und Nachtdienst durch die Sergeanten übergegangen. VB Recklinghausen für 1893/94. Zur horizontalen Imitation siehe: PI Meyer anOB Hagenv. 1.11.1904,in: SAH,3177,der an das Beispiel anderer Großstädte anknüpft, sowie: Polizeiverwaltung Altona an Polizeiverwaltung Hagen v. 18.7.1908, die sich nach den dortigen Erfahrungen mit der vereinheitlichten Schutzmannschaft erkundigt. In: SAH, 3181. 128 Bausch, S. 116; Stein, S. 33. 129 Nach den Angaben in: VB Dortmund 1885-1906. 130 Gesuch der Hagener Polizeisergeanten an PI Meyer v. 5.4.1905 undv. 30.6.1905, in: SAH, 3572. Der Regierungspräsident beschied die Beschwerdeführer abschlägig. RP Arnsberg an OB Hagen v. 24.11.1905, in: ebd. 131 So eine Überschrift in der »Freien Presse« v. 7.11.1908, Ausschnitt in: SAH, 3572. 132 »Freie Presse« v. 21.11.1908, Ausschnitt in: SAH, 3572. 133 Vgl.: Statuten der Vereinigung Thüringer Polizeibeamten, Sitz Rudolstadt, v. 15.2.1903. Exemplar in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 93. Zu den Spannungen zwischen Verein und Oberbeamten siehe: Protokoll der Konferenz der Polizei-Oberbeamten der Abteilung Hagen u. Essen v. 19.2.1907, in: Konferenzen von Polizci-Oberbeamten im Ruhrgebiet, 1903-1913, 2 Bde., in:

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Anmerkungen zu S. 189

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Polizeigeschichtliche Sammlung Hiltrup, hier: Bd. 2. Auf dieser Sitzung wurde sehr besorgt über mögliche Konflikte zwischen Ober- und Unterbeamten diskutiert und allen Vereinsbestrebungen eine scharfe Absage erteilt. Vgl. auch: Die Polizei, Jg. 6, 1909/10, S. 209. 134 Hinweise auf Vereinsaktivitäten in Schlesien, etwa seit 1904, in: Protokoll der Konferenz v. 13.2.1906, in: Konferenzprotokolle, Bd. 1; sowie: Die Polizei, Jg. 3, 1906/07, S. 135. 135 Der thüringische Verein diente dabei als Vorbild. Vgl. das Statut des Polizei-BeamtenVereins des Kreises Schwelm v. 9.2.1904, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt, Nr. 93. L R Hattingen an R P Arnsberg v.31.10.1905, der meldet, daß sich »seit kurzem« fast sämtliche Polizisten des Kreises in einem »Polizeiverein des Kreises Hattingen« zusammengeschlossen hätten. Der Regierungspräsident wies ihn daraufhin an, derartige Bestrebungen nicht zu unterstützen. RP Arnsberg an L R Hattingen v. 27.11.1905, in: STAM, Reg. Arnsberg I Pa 350. 136 Gniesmer, S. 4. 137 Der »Bund kommunaler Polizeibeamten Preußens« hatte 1912 angeblich 3000 Mitglieder. Siehe RP Arnsberg an LR's v. 19.9.1912, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 93. Zu den einzelnen Gründungen, über deren Erfolg und Schicksal nicht viel bekannt ist, vgl. die wenigen Hinweise in: Gniesmer, S. 3-5; Klingelhöller, S. 21-23; Buder, Reorganisation, S. 8 f. Zumindest der »Zentralverband der Polizeisergeanten Preußens«, der vom Münsterland ausging und die oberen Ränge explizit ausschloß, wurde vom Innenminister verboten, da er Disziplin und Kameradschaft untergraben würde. Vgl. ebd. undMdl anRP's v. 23.6.1913, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 93. Siehe generell zur staatlichen Repression gegen die Beam ten verbände vor 1914 den Uberblick bei: Kunz, S. 38 ff. 138 Versuche, im November 1913 in Berlin einen Schutzmannsverband ins Leben zu rufen, stießen bei den angesprochenen Beamten zwar auf große Resonanz, wurden von der Polizeifiihrung jedoch sofort unterdrückt. Aus Solidarität mit dem gemaßregelten Organisator, der nach Zabrze versetzt wurde, kam es am 28.2.1914 zur ersten Schutzmannsdemonstration in der preußischen Geschichte. Klingelhöller, S. 8-18. Außerhalb des besonders restriktiven Preußen machte die Bildung polizeilicher Berufs- und Interessenverbände vor 1914 größere Fortschritte. In Sachsen waren die Polizisten schon 1906 auf Landesebene organisiert. Vgl. Die Polizei, Jg. 3 , 1 9 0 6 / 0 7 , S. 303. 139 Siehe Beischrift des Kommissar Laufer v. 22.3.1914 zu dem Gesuch der Schwelmer Unterbeamten an den Landrat v. 15.3.1904, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 93. 140 Statuten des Polizei-Beamten-Vereins des Kreises Schwelm, § 2,2. 141 RetzlafF trat daraufhin aus der Vereinigung der Oberbeamten aus. Ausfuhrlich zu diesem Konflikt: Protokoll der Konferenz v. 19.2.1907, in: Konferenzprotokolle, Bd. 2. Zu dem Oberbeamtenverein selbst siehe den folgenden Abschnitt. 142 Die Polizei, Jg. 6, 1909/10, S. 73. 143 Vgl. Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 129 f. 144 Der Fall wurde als Beispiel einer starren Verweigerungshaltung im Budgetbewilligungsstreit auf dem Magdeburger Parteitag der SPD v. 1910 geschildert. Siehe: Protokoll des Parteitags 1910, S. 362. 145 Sitzung v. 19.2.1914, in: Stenographische Berichte, 1914, S. 2582-2584. 146 Vorstand des Schwelmer Polizeibeamtenvereins an L R Schwelm v. 15.3.1904, in: STAM, Kreis Schwelm Landratsamt Nr. 93. Der ausgeprägte Berufsbezug wird auch in den Statuten des Schwelmer Vereins erkennbar, die »die Fachausbildung, Hebung des Standesbewußtseins und die Pflege der Kollegialität« als Vereinsziele benennen. Statuten des Polizei-Beamten-Vereins des Kreises Schwelm, § 2,3, in: ebd. Fast gleichlautend § 1,1 der Statuten der thüringischen Vereinigung. In: ebd. 147 Die Forderung, daß der Polizeibeamte Helfer, Schützer, Begleiter usw. des Publikums sein müßte, findet sich in stereotypen Wendungen in fast jedem der Artikel, die sich mit den Spannungen zwischen »Polizei und Publikum« befassen. 148 Auch die stark entwickelten Polizistenverbände in der Weimarer Republik verfolgten durchgängig zwei Ziele: Vertretung der sozialen Interessen ihrer Mitglieder und Imagepflege für die Polizei. Vgl. Liang, S. 77 f.

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Anmerkungen zu S. 192 -195 149 So beispielsweise der Hagener Polizeiinspektor Meyer um die Jahrhundertwende. Zu seinen Aufgaben siehe: Dienstanweisung für den Polizeiinspektor der Stadt Hagen v. 29.12.1908, die ihm ein Schlüsselstellung zuwies und die Rolle des Oberbürgermeisters bzw. des Polizeidezernenten auf Zeichnungsrecht und Letztverantwortung reduzierte. Vgl. auch: Bausch, S. 94-98 und Laufer, Kommunalpolizei, S. 15, 164-167. Vgl. zur Grenzziehung zwischen allgemeiner Verwaltung und Polizei: Gerland, Die dienstlichen Beziehungen zwischen der städtischen Polizeiverwaltung und dem Magistrat, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 403-405. 150 Antrag des PI Richard v. 26.9.1904, zitiert nach: Bausch, S. 96, Anm. 86. Dort auch die näheren Umstände des Konflikts. 151 Laufer, Unser Polizeiwesen, S. 163. 152 »Früher war die Polizei gewissermaßen nur ein Handwerk, heute ist sie eine Wissenschaft geworden.« Laufer, Kommunalpolizei, S. 18. Wenn in diesem Zusammenhang von »Wissenschaftlichkeit« der Polizei geredet wird, ist damit natürlich nicht die alte »Polizeiwissenschaft« der Kameralisten gemeint. 153 Die Darstellung beschränkt sich auf die Kommunalpolizei und versucht, die entsprechenden Tendenzen im Untersuchungsgebiet nachzuzeichnen. Bei den staatlichen Schutzinannschaften werden sich wahrscheinlich vergleichbare Entwicklungen gezeigt haben, wenn auch die Hinweise in diese Richtung eher spärlich sind. Vielleicht bestand in der stärker durchmilitarisierten Schutzmannschaft auch eher die Neigung, ein den militärischen Dienstgradbezeichnungen - dem kommunalen Kommissar entsprach der königliche Polizeileutnant - entsprechendes Selbstverständnis als Offizier zu kultivieren. 154 Laufer, Kommunalpolizei, S. 16 f, 31. Gegen die UnterofEziersrekrurierung für polizeiliche Leitungsfunktionen sprechen sich ebenfalls aus: Held, S. 64 und - mit Einschränkungen - Gerland, Mängel der Polizei, S. 216 fFsowie Lemke, Preußische Exekuriv-Polizei, S. 235 f. 155 Gerland, Mängel der Polizei, S. 218. 156 Vgl. Lemke, Preußische Exekutiv-Polizei, S. 217. Bei der Berliner Schutzmannschaft, deren Oberbeamte sich aus Offizieren rekrutierten, bestand eine dreizehnmonatige Ausbildungszeit, die mit einer Prüfung abgeschlossen wurde. Ebd., S. 215 f. 157 Held,S. 64. 158 Vgl.: Laufer, Kommunalpolizei, S. 62; Lemke, Preußische Exekutiv-Polizei, S. 235; Gerland, Mängel der Polizei, S. 240 ff; Zur Reorganisation der preußischen Polizei, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/ 07, S. 194-197; Die Ausbildung der Polizeikommissare, in: Die Polizei, Jg. 6,1909/10, S. 205-207. 159 Soder AbgeordneteBellam30.4.1912impreußischenAbgeordnetenhaus. Zitiertnach: Die Polizei, Jg. 9,1912/13, S. 129. Vgl. auch Meyer, Zur Reform der Kriminalpolizei, in: ebd., S. 89-91 und Lemke, Ausbildung der Beamten der Exekutivpolizei, in: PVB, Jg. 27,1905/06, S. 535-538, der die Einrichtung einer zentralen »Hochschule« für alle »Polizeioffiziere« der kommunalen und staatlichen Polizei fordert. Zu den Akademisierungsbestrebungen bei anderen Teilen der mittleren Beamtenschaft siehe Säle, Preußische Bürokratietradition, S. 100 f. 160 Hier sei nur pauschal auf die Jahrgänge der Zeitschrift »Die Polizei« verwiesen, die seit ihrer Gründung im Jahre 1904 immer wieder über kriminaltechnische Innovationen berichtete. Auch bei den Konferenzen des westfälischen Oberbeamtenvereins nahm gegen Ende des Untersuchungszeitraums die Beschäftigung mit spezifischen Polizeitechniken erkennbar zu und drängte die bislang dominierende Erörterung polizeirelevanter Rechtsfragen zurück. Vgl. Konferenzprotokolle, Bd. 2. 161 Vgl. die Beilage »Der Diensthund« und später »Der Polizeihund« zur Zeitschrift »Die Polizei«. Bei den Konferenzen der Oberbeamten gehörten Vorführungen von Polizeihunden zum regelmäßigen Programm und erfreuten sich großer Beliebtheit. Vgl. Konferenzprotokolle, Bd. 1 und 2.

162 Eine Jiu-Jitsu Vorführung anläßlich einer Oberbeamtensitzung am 13.2.1913 in Hamborn stieß bei den Anwesenden, wie das Protokoll vermerkt, auf »großes Interesse«. Konferenzprotokolle, Bd. 2. 163 Die angeführten Beispiele sind keinesfalls erschöpfend, geben aber die Richtung an, in die

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Anmerkungen zu S.

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sich das polizeiliche Expertenwissen entwickelte. Beispielsweise wurde von Polizeipraktikern mit viel Phantasie die Entwicklung neuartiger Polizeiwaffen oder Fesselungsinstrumente betrieben. Insgesamt kann man sich nur dem Urteil von Spencer anschließen, die konstatiert: »There was a mania for innovative techniques.« Spencer, Police-Military Relations, S. 311. Den Erkenntnisstandzum Ende des Untersuchungszeitraums präsentiert am besten das umfassende Werk des Hamburger Polizeichefs Rüscher, das zugleich das neue Selbstverständnis des Polizeiexperten widerspiegelt. 164 Vereinigung der Polizei-Oberbeamten für das westliche Industriegebiet, Abteihingen Hagen und Essen an den RP Arnsberg v. 22.1.1901, in: STAM, Reg. Arnsberg 123 Nr. 7; Die Polizei, Jg.9, 1912/13, S. 387 f. 165 Vgl. die Bände der Konfcrenzprotokolle. 1893 gab der Verein zudem ein »VerbrecherAlbum für den westlichen Industriebezirk« heraus. Bausch, S. 108, Anm. 138. Diese Vereinsaufgabe scheint nach der Jahrhundertwende keine Bedeutung mehr gehabt zu haben. Zumindest wird sie in den Protokollbänden, die die Zeit nach 1903 abdecken, nicht erwähnt. 166 Protokoll der Konferenz v. 12.11.1912, in: Die Polizei, Jg. 9,1912/13, S. 387-388. Mit den Verstaatlichungen in Essen, Bochum und Gelsenkirchen waren die Vertreter dieser Städte ausgeschieden, so daß der Verein ein Gremium der Kommunalpolizisten blieb. Protokoll der Sitzung v. 20.2.1909, in: Konferenzprotokolle, Bd. 2. 167 Protokoll der Sitzung v. 20.2.1909, in: Konferenzprotokolle, Bd. 2. 168 Vereinigung Hagen/Essen an RP Arnsberg v. 22.1.1901, in: STAM, Reg. Arnsberg I 23 Nr. 7. 169 Der Dortmunder Oberbürgermeister hielt allenfalls periodische Zusammenkünfte der Inspektoren, also der obersten lokalen Polizeiführer, für vertretbar, keinesfalls aber ein alle Fachbeamten einschließendes Beratungsgremium. »Weitere Vereinigungen in der Ausdehnung auf die unteren Polizei-Organe [d.h. hier die Kommissare, R.J.] könne für Polizeibeamten, für welche eine strenge Unterordnung mehr als in anderen Beamtenstellungen notwendig ist, und für den Polizeidienst im Allgemeinen, schädlich sein.« OB Dortmund an RP Arnsberg v. 22.2.1901, in: ebd. Der RP Arnsberg folgte diesem Votum. RP Arnsberg an RP Düsseldorf v. 12.4.1901, in: ebd. Zu weiteren Versuchen der vorgesetzten Ortsbürgermeister, die Vereinsarbeit der Oberbeamten einzuschränken, siehe: Protokoll v. 20.2.1909, in: Konfcrenzprotokolle, Bd. 2. 170 Dem westfälischen Verein vergleichbare und sich z.T. auf ihm berufende Oberbeamtenzusammenschlüsse gab es seit etwa 1904 in Hessen und 1909 in der Provinz Brandenburg. Vgl. Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 131-134; Jg. 6,1909/10, S. 25-28, 343-347, 359-363. 171 Zum »Weltpolizeiverein« und der strikten Ablehung der Innenbehörden siehe die Vorgänge in: STAM, Reg. Arnsberg I Κ 402 und I Pa 350. Zum »Preußischen Polizeitag« der Statutenentwurf in: Die Polizei, Jg. 6, 1909/10, S. 211-212. 172 Vgl. den Statutenentwurf für den »Preußischen Polizeitag«, in: Die Polizei, Jg. 6,1909/10, S. 211-212. 173 Vgl. Gerland, Mängel der Polizei; Lemke, Preußische Exekutiv-Polizei; Held·, Lauf er, Unser Polizeiwesen; ders., Kommunalpolizei; ders., Zur Polizeireform, in: Die Polizei, Jg. 1, 1904/05, S. 220-222. Diese Fachautoren waren auch die ersten, die sich um verläßliche Statistiken zur Polizeistärke und -organisation bemühten. Vgl. die o.a. Schrift vonHe/d sowie: Laufer, Polizei-Almanach; ders., Das Deutsche Polizeiwesen und Lemke, Zusammenstellung. Vgl. auch die kleineren, häufig anonymen Beitrage, die unter Überschriften wie: »Zur Reorganisation der Polizei« oder »Reform der Polizei« in der Zeitschrift Die Polizei erschienen. 174 Die Schrift trägt auf dem Titelblatt den Vermerk: »Bearbeitet zufolge Auftrags Sr. Exzellenz des Herrn Oberpräsidenten, Staatsministers, Freiherrn von der Recke zu Münster«. Im September 1903 trug Laufer seine Reformvorstellungen auf dessen Aufforderung dem Oberpräsidenten vor. Laufer an LR Schwelm v. 12.9.1903, in: STAM, Kreis Schwelm Landratsamt Nr. 82. 175 Protokoll der Konferenz v. 3.2.1903, in: Konfcrenzprotokolle, Bd. 2. Zu Laufers scharfer Kritik siehe seine o.a. Schriften, besonders die Denkschrift für den Oberpräsidenten. 176 RP Arnsberg an OP Münster v. Dezember 1903, in: STAM, Regierung Arnsberg I 2091.

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Anmerkungen zu S. 197-201 177 Vgl. Beyendorf}·, Gaißert; Gerland, Der Polizei-Dienst; Geyger·, Retzlaff, Dienst-Instruktion; ders., Der Polizeibeamte; Thiele. 178 Einzelbelege im folgenden Abschnitt. Vgl. auch Bartels, Polizeilehrbuch sowie ders., Die preußische Polizeischule am Ende des ersten Dezenniums ihres Bestehens, in: PVB, Jg. 32,1911, S. 791-793. 179 Funk, Polizei und Rechtsstaat, S. 301-304; Spencer, Police-Military Relations, S. 312-313. 180 Auch v. Harrach sieht die antimilitaristische Tendenz als wichtigstes Element der »Polizeiprofessionalisierung«, die sie freilich ohne die Entstehung der modernen Polizei im 19. Jahrhundert auch nur zur Kenntnis zu nehmen, erst nach 1918 beginnen läßt. Harrach, S. 74-76. 181 Zu den theoretischen Grundlagen eines sozialhistorisch verstandenen Professionalisierungskonzepts siehe: Rüschemeyer. Vgl. auch: Huerkamp; Jarausch; Skopp. Eine erschöpfende Definition des Professional isierungs begriff's in: Conze u. Kocka, S. 18 f. 182 Der erste Ausdruck meint das Fingerabdruckverfahren, der zweite die Lehre von der Zucht und Dressur von Diensthunden. 183 Wilson, S. 29 f. Vgl. zum atypisch weiten Ermessensspielraum der Polizeibeamten auch Haupt u. Narr, Forschungsbericht, S. 195, sowie lüdtke, Gemeinwohl, S. 77. 184 Zu vergleichbaren »Professionalisierungsbestrebungen« unter den mitderen Beamten anderer Verwaltungszweige, die zu keinen grundsätzlich anderen Ergebnissen führten, siehe Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 93-107. 185 Die Rubrik »Reform der Polizei«, die in der Zeitschrift »Die Polizei« vom ersten Jahrgang an geführt wurde, befaßte sich fast ausschließlich mit Polizeischulfragen. 186 Mdl an RP Arnsberg v. 15.12.1903, in: STAM, I Κ 1319. 187 Geyger, Die Ausbildung der unteren Polizei-Exekutivbeamten, in: Die Polizei, Jg. 6„ 1909/ 10, S. 486-489, hier: S.487. Den Zusammenhang zwischen »Mißgriffen« und mangelnder Ausbildung betonen gleichfalls: Lemke, Die Vorbildung der Executiv-Polizeibeamten, in: ZPV, Jg. 12, 1904, S. 337 ff; Gerland, Mängel der Polizei, S. 1328 f; Zur Geschichte der Polizeischulen, in: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 179-180, wo als Ziel der Polizeischulen angegeben wird, »daß der deutsche Bürger auf seine Schutzmannschaft ebenso stolz sein kann, wie der Engländer auf seien stets hilfsbereiten Policeman.« Ebd., S. 180. 188 Bartels, Die Polizeischule, in: PVB, Jg. 29,1907, S. 197-199, hier: S. 198. 189 Dieser Zusammenhang findet sich sehr klar bei: Vamhagen, Polizeischule und Gemeinde, sowie Ausbildung der Subalternbeamten, in: ZPV, Jg. 16, 1908, S. 17; Rühle v. Lilienstern, Die Ausbildung der Polizeiexecutivbeamten fur ihren Beruf, in: ZPV, Jg. 13,1905, S. 497 ff; Retzlaff, Über Polizeischulen, in: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 249 ff. 190 Vgl. Lemke, Ausbildung der Beamten der Exekutiv-Polizei, in: PVB,Jg.27,1905/06, S. 535538; Läufer u. Feldhaus, Die erste kommunale Polizei-Fortbildungs-Schule, in: Die Polizei, Jg. 1, 1904/05, S. 266-271; Retzlaff, Über Polizeischulen, in: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 249-252. 191 Lemke, Die Vorbildung der Exekutiv-Polizeibeamten, in: ZPV, Jg. 12, 1904, S. 337-339, hier: S. 338 f. 192 Fast in jeder der genannten Stellungnahmen zur Polizeischulfrage finden sich Hinweise auf dieses geänderte Leistungsprofil der Beamten. 193 Denkschrift Dortmund, S. 64. 194 Die erste kommunale Polizeischule in Düsseldorf wurde auf Initiative des Düsseldorfer Regierungspräsidenten eingerichet. Die Schule im Regierungsbezirk Arnsberg ging auf eine Anregung der dortigen Regierung zurück, die sich auf eine Verfugung des Mdl v. 21.8.1903 stützte. Vgl. Lemke, Die Vorbildung der Exekutiv-Polizeibeamten, S. 337; Zur Geschichte der Polizeischulen, S. 179; Rundcrlaß des RP Arnsberg v. 10.12.1903, in: SAH, 3189. 195 »Der Umstand, daß gerade in den rheinisch-westfälischen und schlesischen Industriestädten die ersten Polizeischulen gegründet sind, fuhrt uns auf den Hauptgrund der Schaffung solcher Institute, nämlich die Schwierigkeit der Beschaffung des nötigen Ersatzes der Polizeimannschaften die dort, wo in den Arbeiterstädten die Tätigkeit der Polizei eine sehr schwierige und gefahrvolle ist, früher

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Anmerkungen zu S. 201 - 205 und in erheblicherem Maße fühlbar wurde als anderswo.« Vamhagen, Polizeischule und Gemeinde, sowie Ausbildung der Subalternbeamten, in: ZPV, Jg. 16, 1908, S. 17-21, hier: S. 17. 196 Vertrag betr. die Errichtung einer gemeinsamen Polizeischule in Düsseldorf v. 10.7.1901, in: SAH, 3189. 197 VB Recklinghausen für 1902; Retzlaff, Die Ausbildung der Polizeibeamten an Polizeischulen, in: PVB, Jg. 29,1907/08, S. 5-6. 198 RP Arnsberg an OB's d. Städte Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen und Hagen v. 25.5.1904 sowie Runderlaß des RP Arnsberg v. 10.12.1904, in: SAH, 3189. Der Gemeinschaftseinrichtung, bei deren Vorbereitung und Organisation die Dortmunder Polizei federführend war,fieleine ursprünglich von der Stadt Hagen im Alleingang geplante Schule zum Opfer. Vorgänge in ebd. 199 Zur Schwelmer Gründung: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 82-85 sowie Läufer u. Feldhaus, Die erste kommunale Polizei-Fortbildungsschule, in: Die Polizei, Jg. 1,1904/05, S. 266 ff 200 Siehe: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 130, 239, 275, 369 und Jg. 9,1912/13, S. 239. 201 Bei der Berliner Schutzmannschaft hatte man 1883 eine Ausbildungsphase eingeführt, die um die Jahrhundertwende etwa einen Monat dauerte und ohne Prüfung abgeschlossen wurde und damit hinter den Anforderungen der kommunalen Schulen lag. Für angehende Gendarmen existierten seit 1899 in Einbeck und Wohlau besondere Gendarmerieschulen, die dreimonatige Kurse abhielten. Thomason, Uniformed Police, S. 110; Grantzow, S. 58 ff; Kraker, S. 65; Der Gendarmeriedienst, S. 11 ff. Zur Einrichtung der Gendarmerieschulen siehe die Vorgänge in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 1712, Nr. 30a, Bd. 1 und Königliche Gendarmerie-Schule, Zum Ausscheiden von Essen, Bochum und Gelsenkirchen aus dem Polizeischulverband siehe: Die rheinische Polizeischule in Düsseldorf, in: Die Polizei, Jg. 7,1910/11, S. 12-13 und die Vorgänge in: SAH, 3191. 202 Verpflichtungserklärung der Polizeiunterbeamten der Stadt Barmen, Abschrift in: SAH, 3189. 203 Zu Düsseldorf: Eine Prüfung für Polizeibeamten, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/07, S. 154.Zur Schule des Regierungsbezirks Arnsberg: RP Arnsberg v. 10.10.1904, in: SAH, 3189. Der obligatorische Schulbesuch galt zunächst nur für die Beamtenschaft größerer Orte und nicht für die Polizisten der Landgemeinden. 204 Siehe z.B. die Übersicht über den Lehrgang in Hagen im Mai 1907, in: SAH, 3189. 205 Vgl.: Zur Geschichte der Polizeischulen, in: DiePolizei, Jg. 2,1905/06, S. 179-180. Näheres zur Unterrichtsorganisation in: SAH, 3189 und in dem Artikel: Die rheinische Polizeischule in Düsseldorf, in: Die Polizei, Jg. 7, 1910/11, S. 12-13. 206 Vgl. v. Harrach, S. 200 f. In der Weimarer Republik wurde das Modell der kasernierten Polizeiausbildung allgemein durchgesetzt. Vgl. Leßmann, S. 226 ff. 207 Als Repräsentant der westfälischen Stadieinteresscn äußerte sich der Hagener Polizeidezernent: Perker, Die künftige Entwicklung der Polizeischulen, in: PVB, Jg. 33, 1912, S. 309-310 und ders., Zulassung zu Polizeischulen, in: ebd., S. 586. Die Gegenposition vertrat Ludwig Bartels, zu diesem Zeitpunkt Chef der rheinischen Schule: Bartels, Die Polizeischule, in: ebd., Jg. 29,1907/08, S. 197199 und ders., Zulassung zu Polizeischulen, in: ebd., Jg. 33, 1912, S. 539-540. Vgl. auch Tab. 13 (Anhang). 208 Erlaß d. Mdl v. 4.4.1912 und Runderlaß des RP Arnsberg v. 10.6.1912, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt, Nr. 84. Vgl. auch die Vorgänge in SAH, 3191. 209 Runderlaß des RP Arnsberg v. 28.7.1913, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 84. Ab 1913 wurde die Polizeischule im Arnsberger Regierungsbezirks von den Städten Dortmund, Hagen, Hamm und Iserlohn sowie den Landkreisen Dortmund, Hamm, Hörde und Iserlohn getragen. Ebd. Die Recklinghausener Schule hatte sich schon im November 1912 den Bedingungen des Mdl gebeugt. Kreisausschuß Recklinghausen an LR's und OB's v. 7.11.1912. 210 Dies zeigen auch spätere Gründungen, die dem rheinischen Vorbild folgten. So beispielsweise die Polizeischule fur die schlesische Kommunalpolizei in Königshütte. Siehe: Der 31. Oberschlesische Städtetag, in: ZPV, Jg. 20,1912, S. 444. 211 Lehrplan der Polizeimannschaftsschule zu Recklinghausen v. 13.2.1903, in: STAM, Reg.

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Anmerkungen zu S. 205- 208 Arnsberg 12090. Lehrplanentwürfe in: SAH, 3189. Lehrplan der Polizeischule Cottbus v. April 1905, in: Die Polizei, Jg. 2,1905/06, S. 514-515. 212 Lehrplan Recklinghausen. 213 So wurde das Verhalten vor Gericht, bei Auflaufen und Aufruhr, bei Versammlungen, bei Durchsuchungen und Beschlagnahmungen besprochen. Vgl. Lehrplan der Polizeischule zu Hagen (1907), in: SAH, 3189. 214 Aus einem Unterrichtsentwurf des Hagener Kriminalkommissars Murmann aus der Planungsphase der Polizcischule geht hervor, daß er in acht Unterrichtsstunden das ganze Reichsstrafgesetzbuch abhandeln wollte. Für die erste Stunde war die Verlesung und Erläuterung der Paragraphen 1 bis 74 vorgesehen. SAH, 3189. Vgl. auch SAH, 3105. 215 Eine Polizeischule, in: Die Polizei, Jg. 3,1906/07, S. 417. Der Artikel zitiert die Meinung eines außenstehenden Kritikers zum Lehrplan der Cottbusser Schule, der besonders reichhaltig ausgefallen war. 216 Ebd. 217 Gerland, Nochmals über die Ausbildung der Exekutivpolizeibeamten, in: ZPV, Jg. 15,1907, S. 385-387. 218 In den Erfahrungsberichten der Schulleiter wurde immer wieder über die mangelnde Auffassungsgabe der Schüler geklagt, die auch durch Fleiß und guten Willen kaum abzugleichen sei. Vgl. die Berichte in SAH, 3189 und 3190. 219 Nach den ersten Erfährungen meldete der Schulleiter Bartels: »Diese Art des Unterrichts hat sich gut bewährt, da sie dem Auffassungsvermögen der Schüler angepaßt ihnen das Verständnis fur den Lehrstoff außerordentlich erleichtert.« Kursbericht Bartels v. 2.12.1909, in: SAH, 3191. Vgl. auch Bericht v. 27.2.1908, in: SAH, 3189. 220 Entwurf in: SAH, 3191; Teilabdruck in: Zaika, Polizeigeschichte, S. 269-270. 221 Vgl. RP Arnsberg an OB Dortmund v. 1.6.1910, in: SAH, 3191. 222 Vgl.: Ausbildung kommunaler Polizeiexekutivbeamten in Polizeischulen, in: ZPV, Jg. 21, 1913, S. 557. 223 Retzlaff, Dienst-Instruktion, S. 17 f. 224 Vgl. Gaißert, S. 16 ff; Geyger, S. 271 ff. 225 Dienstanweisung Arnsberg 1910, § 19. Ein Beispiel für dezidierte Verhaltensorientierung ist das umfassende Lehrbuch von Weiß, das auf über hundert Seiten sehr differenzierte Anweisungen für typische Alltagssituationen des Exekutivbeamten gab. 226 Nach 1918 wurden verhaltensorienterte Dienstanweisungen weiter verfeinert. Vgl. die Artikelserie von Bober, Wie verhalte ich mich ...?, in: Die Polizeipraxis, 1927, S. 179 ff. 227 Der langjährige Leiter Bartels betonte stets die militärischen Formen, in denen der Unterricht ablief. Vgl. z.B.: Bericht über den Kurs v. 2.7.-1.9.1906, in: SAH, 3189. 228 Entwurf einer Schulordnung in: ebd. Haus- und Schulordnung für die Polizeimannschaftsschule des Stadt-und Landkreises Recklinghausen v. 13.2.1903, in: STAM, Reg. Arnsberg I 2090. Zum Erfolg der kasernierten Düsseldorfer Schule bemerkte ein Essener Kommissar: »Hier werden sie [Die Anwärter, R.J.] zunächst wieder an Zucht und Ordnung gewöhnt, sie werden der militärischen Disziplin wieder nahe gebracht und gewöhnen sich dort viel schneller und besser daran, wie dies bei den Verwaltungen möglich ist.« Darmstädter, Erwiderung auf den Artikel »Die erste kommunale Polizei-Fortbildungsschule«, in: Die Polizei, Jg. 1, 1904/05, S. 317-318, hier: S. 318. 229 Bericht des Schulleiters Gaißert über den Kurs v. 7.3.-15.5.1905, in: SAH, 3189. 230 »Aufgabe der Schule müßte es sein, den jungen Beamten diesen, bei dem Militär üblichen, befehlenden Ton abzugewöhnen und ihnen die Verständigungsweise anzugewöhnen, wie solche heute in der bürgerlichen Gesellschaft üblich ist und wie sie jedermann von einem Beamten erwartet.« Lemke, Ausbildung der Beamten der Exekutiv-Polizei, in: PVB, Jg. 27,1905/06, S. 357. 231 »Unbedingt nothwendig ist es, die Beamten zu möglichster Selbständigkeit in der Beurtheilung der ihnen vorkommenden Fälle und in dem daraufhin erforderlichen Handeln zu erziehen.... Man gebe ihnen deshalb möglichst eine selbständige Thätigkeit auf einem bestimmten Gebiet,... lasse sie

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Anmerkungen zu S. 208 -215 möglichst selbständig handeln und suche, soweit es ohne Schädigung der Disziplin und des Dienstes möglich ist, auf ihre selbständigen Gedanken einzugehen.« Gerland, Der Polizei-Dienst, S. 4 f. 232 Im Gegensatz dazu waren die preußischen Polizeischulen in der Weimarer Republik strikt am militärischen Modell orientiert. Leßmann, S. 232 f. 233 Zitiert nach: Grantzow, S. 34, der das Zitat in seinem Abschnitt zur »richtigen Auffassung des Schutzmannsberufs« an zentraler Stelle einflicht. 234 Ackermann, S. 48,78. Derselbe Autor verlangte vom Polizeibeamten, daß er »auf Geheiß der Obrigkeit im Kampfe gegen die inneren Feinde lügen und trügen [werde], denn indem er der Obrigkeit dient, dient er Gott, um des Gewissen willen gehorcht er ihr.« Ebd., S. 76 f. 235 Behandlung des Publikums, in: Die Polizei, Jg. 1,1904/05, S. 198. 236 Weiß, S. 22-28. Vgl. auch Gaißert, S. 16f; Geyger, S. 271 ff; DienstanweisungArnsbergl910, § 3; Thiele, S. 5; Beyendorff, S. 29. 237 Kriminalpolizeikurse in Oberschlesien, in: Die Polizei, Jg. 4,1907/08, S. 164 f. Im gleichen Sinne der Verwaltungsbericht der Stadt Viersen, abgedruckt in : PVB, Jg. 27,1905/06, S. 776 und der ausführliche Erfahrungsbericht von Laufer über die Schwelmer Fortbildungsschule v. 1907, in: STAM, Kreis Schwelm, Landratsamt Nr. 85. 238 Darüber hinaus waren die Polizeischulen Vorbilder für die Verbesserung der Ausbildung auch anderer Gruppen der Kommunalbeamtenschaft. Krabbe, Qualifikation und Ausbildung, S. 255. 239 Wenn hier von Verberuflichung gesprochen wird, dann weniger im Sinne von Beck u.a., wonach sich Berufe aufgrund von »Verkaufs- und Konkurrenzkonflikten der Arbeitskraftanbieter am Arbeitsmarkt« herausbilden. Becku.z., S. 42. Da die Bürokratie Marktprozessen weitgehend entzogen ist, führt dieser Ansatz hier nicht weit. Eher handelt es sich bei den hier untersuchten Prozessen um einen Vorgang der »Berufskonstruktion«, wie er von H.A. Hesse umschrieben worden ist. Hierbei steht die planmäßige, außengesteuerte Definition von Qualifikationsmustern durch berufsfremde Interessen - in diesem Fall durch den Staat - im Vordergrund und nicht die Marktstrategien der Berufsangehörigen oder die Selbstorganisadon von Professionals. Hesse, S. 131. Vgl. auch: Burchardt. 240 Siehe: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 551-578. Vgl. auch Spencer, Police-Military Relations, S. 312 f. 241 »Ein besonders delikates Problem der Polizeiforschung ist darin zufinden,daß die Polizisten in der Regel aus den Unterschichten der Arbeiterklasse neu rekrutiert und in der Regel gegen Unterschichtenkriminalität (im 19. und20. Jahrhundert auch gegen Streiks) eingesetzt werden.... Ein Gutteil des Versuchs, die Polizei als geschlossene Institution aufzubauen, eigene Polizeischulen zu errichten, den Sozialisationsmechanismen der Polizei ein besonderes Augenmerk zu widmen, läßt sich im Sinne einer Loyalitatsverstärkung verstehen.« Haupt u. Narr, Forschungsbericht, S. 208. Die Bemerkung nimmt auf polizeisoziologische Forschungen aus dem angelsächsischen Raum Bezug. 242 Siehe Leßmann, S. 415-419.

7. Ruhe und Ordnung - Zur Praxis polizeilicher Disziplinierung 1 RStGB, § 1, in: Dalcke. Unter »Haft« verstand das Strafgesetzbuch eine Freiheitsentziehung zwischen einem Tag und sechs Wochen. Ebd., § 18. Die »Übertretungen« bildeten die mit Abstand häufigste Deliktkategorie. Im Jahr 1900 wurden beispielsweise in Bochum 6858 Übertretungen registriert, während nur 1307 Verbrechen und Vergehen zur Anzeige kamen; bei 64.702 Einwohnern waren in diesem Jahr also rund 10% der Bevölkerung in Übe rtretungs falle involviert. VB Bochum für 1900. 2 Mittermaier, S. 189 f. 3 Verordnung über die Einfuhrung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen v. 3.1.1849, in: GS, 1849, S. 14-47, §' 161 f. Vgl. auch: Friedel. 4 GS, 1852, S. 245.

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Anmerkungen zu S. 216- 218 5 Bericht der Kommission zur Erwägung des Gesetz-Entwurfs über die vorläufige Straffestsetzung wegen Übertretungen. Drucksachen Nr. 45 der Ersten Kammer des Pr. Abgeordnetenhauses, Π. Legislaturperiode, Zweite Sitzungsperiode, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 349a, Nr. 1, Bd. 8. 6 Gesetz, betr. den Erlaß polizeilicher Strafverfugungen wegen Übertretungen v. 23.4.1883, in: Dalcke, S. 254-256. Zur rheinischen Praxis vgl. auch: Lauing, S. 55. 7 Vgl. den Bericht des Staatsministeriums v. 13.11.1882, der die Gesetzesnovelle v. 1883 begründete, in: ZSTAM, 2.2.1., Nr. 14917. 8 Während des kurzen Intermezzos der Revolutionsverordnung klagten konservative Stimmen: »Das Einschreiten der Polizei-Organe wird immer lässiger betrieben... und das Ansehen der örtlichen Polizeiorgane ist den Contravenienten gegenüber vornehmlich dadurch geschwächt worden, daß Erstere denselben nur als Denunzianten, nicht aber als strafende Obrigkeit gegenüberstehen.« Gutachten des zweiten Ausschusses der zur Wahrnehmung der Provinzial-Vertretung berufenen provinzialständischen Versammlung der Provinz Preußen, 1851, in: ZSTAM, Rep. 77, Tit. 344, Nr. 1, Bd. 2. 9 Als der Amerikaner Raymond R. Fosdick 1915 seine umfassende Studie über die europäischen Polizeisysteme vorlegte, registrierte er »the vast powers of the German police in regulating the conduct of private citizens« als einen der signifikanten Unterschiede zum angelsächsischen Polizeiwesen. Das Strafverfugungsrecht gebe der deutschen Polizei eine außerordentliche Macht, bemerkte Fosdick und durch den »excessive use ofjudicial powers« käme es weit häufiger zur Bestrafung als dies etwa vor den vergleichbaren Gerichtsinstanzen in Großbritannien der Fall wäre. Fosdick, S. 26-36. 10 Gesetz, betr. den Erlaß polizeilicher Strafverfugungen wegen Übertretungen v. 23.4.1883, in: Dalcke, S. 254-256. Siehe zumfolgendenauch die erschöpfende Darstellung von Friedel, S. 3 ff sowie Gerland, Die polizeiliche Strafverfolgung, in: Die Polizei, Jg. 9, 1912/13, S. 257-260; Kuhn, Die Vollstreckung polizeilicher Strafverfugungen, in: ZPV, Jg. 15, 1907, S. 209-212; Delius, Über Zurücknahme, Rechtskraft und Vollstreckung polizeilicher Strafverfügungen, in: ebd., S. 257-260. 11 Bei einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 784 Mark. Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 107. 12 Friedel, S. 75. Vielfach klagten die Polizeiverwalter, daß dierichterlicheAufhebung ihrer Strafe die »Autorität der Polizei« untergrabe. Vgl. ebd., S. 77 f. Zum »kurzen Prozeß« siehe auch Lädtke, Gemeinwohl, S. 196 f. 13 Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit v. 12.2.1850, in: GS, 1850, S. 45-48, § 6. 14 Das Legalitätsprinzip gründete sich auf § 346 RStGB, der einen Beamten, »welcher vermöge seines Amtes bei Ausübung der Strafgewalt oder bei Vollstreckung der Strafe mitzuwirken hat,« mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bedrohte, wenn er »die Verfolgung einer strafbaren Handlung unterläßt.« Dalcke. Zur späteren Debatte zu diesem Problemkreis siehe Abschnitt 7.4.2. dieser Arbeit. 15 Vgl. Wilson, S. 9; Monkkonen, Disorderly People, S. 540; Black, S. 735. 16 Für die Polizeifuhrung bestand das Dilemma, daß sie aufgrund des Legalitätsprinzips jeder von den Exekutivbeamten vorgelegten Anzeige ohne nähere Prüfung folgen und eine Strafe verhängen mußten. Dadurch, daß sie lediglich ein Strafverfahren abschlössen, dessen Einleitung von der Initiative der Polizisten auf der Straße abhing, kehrte sich die hierarchisch gestaffelte Verteilung von Ermessensspielräumen um. Weil die Polizeiverwalter dem »Zwang, der in dem Vorlegen einer Anzeige liegt,« üblicherweise nachgaben, gerieten sie in Abhängigkeit von den Vorentscheidungen der Unterbeamten. Vgl. Friedel, S. 46. Ein Ortspolizeichef sah sich und seine Kollegen aufgrund dieses Bestrafungsautomatismus gar als »Sklaven der Schutzleute«. Vortrag des Bürgermeisters Sutor auf einer Polizeikonferenz in Hessen, in: Die Polizei, Jg. 2, 1905/06, S. 131-134, hier: S. 133. Vgl. auch Lädtke, Theoriegeschichte, S. 228 und ders., Gemeinwohl, S. 143-177. 17 Runderlaß des RP Arnsberg v. 23.6.1853 und v. 6.11.1855, in: SAH, 3571. 18 PI Meyer an OB Hagen v. 3.12.1889, in: SAH, 3182. Zur Praxis der Gendarmerie siehe den Franckenbergbericht von 1869, der einen jungen Gendarmen mit dem an seinen kontrollierenden Vorgesetzten gerichteten Ausspruch zitiert: »Herr Hauptmann, ich hoffe es im nächsten Monat zu mehr Anzeigen zu bringen.« in: STAM, OP 2689, f 47.

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Anmerkungen zu S. 219-224 19 Vgl. Friedel, S. 47 f, der diese Praxis im übrigen kritisiert. 20 Zitiert nach: Friedel, S. 47. 21 Wilson, S. 172 ff. 22 Ebd., S. 172. 23 Vgl. Gesetz v. 23.4.1883, §§ 1 und 4, in: Dalcke, S. 254-257; Friedel, S. 27-35. 24 §§ 360-370 RStGB, in: Dalcke, S. 506-531. 25 Zur süddeutschen Polizeigesetzgebung siehe: Mittermaier sowie: Rosin, S. 82 ff. 26 Gesetz über die Polizei-Verwaltung v. 11.3.1850, §§ 6-16. Zu allen Fragen des Polizeiverordnungsrechts siehe das Standardwerk von Rosin, sowie: Gerland, Polizei-Verordnungen. 27 Gesetz über die Polizei-Verwaltung v. 11.3.1850, § 6, Abs. i. Die einschränkenden Kautelen in Abs. a-h. 28 Rosin, S. 55. Die Polizeiverordnungen »stellen die Ausübung eines den Polizeibehörden delegierten Gesetzgebungsrechts dar.« Ebd., S. 36. 29 Vgl. Schaltenberg·, Meyer-, Aßmann. 30 Frank, Überspannung, S. 44. 31 VB Bochum für 1864 und für 1905. 32 Die angeführten Beispiele sind dem Deliktkatalog der Bochumer Verwaltungsberichte und der Recklinghausener Strafliste von 1897/98 entnommen. Einen Uberblick über das, was sich hinter der Sammelbezeichnung der »Ordnungsdelikte« verbirgt, gibt Tab. 16 im Anhang am Beispiel der sehr differenzierten Übertretungsliste im Bochumer Verwaltungsbcricht von 1905. 33 Die Recklinghausener Strafliste in: SAR, Rep. All, Fach 150, Nr. 454a fuhrt hier z.B. Entwendung von Klee, Gras oder Kartoffeln oder das unbefugte Betreten einer Kohlenhalde auf. Im großen und ganzen gilt für diese Deliktkategorie, was Harring in Bezug auf vergleichbare Tatbestände in den USA anmerkt: »The criminologist's definidon of >public order crimes< comes perilously close to the historian's description of >working-class leisure-time acrivity