Politischer Humanismus und »Verspätete Nation«: Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus 9783666369186, 9783525369180

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Politischer Humanismus und »Verspätete Nation«: Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus
 9783666369186, 9783525369180

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 42

Vandenhoeck & Ruprecht

Wolfgang Bialas

Politischer Humanismus und „verspätete Nation“ Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36918-0 Umschlagabbildung: Helmuth Plessner (1925) Foto: Plessner-Archiv in Groningen (Niederlande) © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt I.

Einleitung

II.

Die philosophische Interpretation des Nationalsozialismus

1. 2.

Philosophische Erklärungsversuche des Nationalsozialismus Reichweite und Grenzen philosophischer Interpretation von Geschichte

7

19 19 27

III. Imaginationen deutscher Eigenart

45

1. 2. 3. 4. 5.

Säkulare Weltfrömmigkeit und Politik Deutschland als „philosophische Nation“ Die Kapitulation der Philosophie vor der Politik Zum Problem eines „Nationalcharakters“ der Deutschen Entwicklung in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“

45 52 61 70 85

IV.

Völkische Politik

1.

Romantischer Volksbegriff, völkischer Vernunftstaat und Deutsches Reich Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg : Der geistige Kampf um Europa Die anthropologische Neugründung des politischen Humanismus Grenzen der Gemeinschaft – die Kritik des politischen Radikalismus Die Weimarer Republik : Deutungskämpfe der Politik am Vorabend des Nationalsozialismus

2. 3. 4. 5.

101

101 116 133 139 146

V.

Ideologie

157

1. 2.

Ideologie als kulturelles Ausdrucksphänomen Die Maske und das wahre Gesicht des Menschen

157 163

Inhalt

6 3. 4. 5.

Zur lebensweltlichen Funktionalität der Selbsttäuschung Politik und Moral : Moralisches Handeln unter Ideologieverdacht Anthropomorphismus und „kopernikanische Wenden“ : Historische Zerreißproben der menschlichen Subjektposition

VI. Politischer Humanismus und philosophische Anthropologie 1. 2. 3.

Lebensführung in exzentrischer Positionalität. Helmuth Plessners Grundlegung philosophischer Anthropologie Das Konzept des politischen Humanismus Politische Anthropologie und humanistisches Ethos

166 175 180

197

197 203 209

VII. Nationalsozialismus

217

1. 2. 3.

217 224

4. 5.

Moderne und Nationalsozialismus „Philosophische Politik“ und „wahrer Nationalsozialismus“ Die „Verspätete Nation“ : Plessners geschichtsphilosophische Analyse des Nationalsozialismus Nationalsozialismus und deutsche Kultur : Was ist deutsch ? Rasse und Geschichte : Zum biopolitischen Rassismus des Nationalsozialismus

VIII. Plessners politische Philosophie – Anregungen und Kontroversen 1. 2.

Perspektiven einer Kritik des Totalitarismus Wertdemokratische Gleichstellung der Kulturen als Alternative zu eurozentrischer Hegemonie

235 245 252

259 259 270

IX. Anhang

277

1. 2. 3.

277 290 293

Literaturverzeichnis Sachwortregister Personenregister

I.

Einleitung

Was ist das Besondere an Helmuth Plessner ? Worin gründet die wachsende Faszination seines Werkes ? Zunächst versteht es Plessner, Alltagserfahrung und die ewigen Probleme der Philosophie mit zeitgeschichtlichen und politischen Fragen auf eine Weise zu verbinden, die an scheinbar bereits erschöpfend behandelten Themen immer wieder neue Sichtweisen aufmacht. Fasziniert von ihrer Vielschichtigkeit, wendet er sich ihnen zu, ohne sich dabei durch disziplinäre oder methodische Schulbildungen einschränken zu lassen. Die Reichweite der von ihm in seinem Werk behandelten Themen verblüfft und zeigt doch nur das bis an sein Lebensende wache Interesse eines vielseitig gebildeten Intellektuellen und sensiblen Zeitgenossen, der nicht nur aufmerksam neue Entwicklungen in den Natur -, Geistes - und Sozialwissenschaften verfolgte, sondern auch immer bereit war, sich mit anregenden Beiträgen in politische oder kulturelle Debatten einzuschalten. Lachen und Weinen, Mensch und Tier, die Sinne und Leidenschaften der Menschen, ihre Urteilskraft und Verführbarkeit, Menschenwürde und Menschenverachtung, die Ambivalenz menschlicher Täuschungen und Selbsttäuschungen stehen neben den großen Themen wie Sprache, Ideologie und Utopie, Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leben und Tod, Fortschritt und Regression, Krieg und Frieden. Bei aller Vielfalt der Themen ist dabei doch auch ein übergreifendes Motiv erkennbar. So wandte sich Plessner in immer neuen Akzentuierungen, methodischen Ansätzen und disziplinären Verschränkungen den Äußerungen kreativen Menschseins in der überwältigenden Vielfalt ihrer Variationen zu. Von dem sich durch alle „Entzauberung“ immer wieder neu entwerfenden, in seinen unerschöpf lichen Möglichkeiten nicht domestizierbaren Menschen, seiner „Unergründlichkeit“ und „offenen Unbestimmtheit“ war er überzeugt. Er war sich sicher, dass die Welt im pragmatischen Vollzug elementarer Lebensfunktionen nicht aufgehe, sondern in ihr ein Geheimnis liege, das als „Zauber des Lebens“ heilig sei und gegen seine Entzauberung zum strategisch kalkulierbaren, wissenschaftlich durchschaubaren und in allen seinen Schichten Zugänglichen geschützt werden müsse. Plessner war geprägt vom liberalen Ethos der Fähigkeit des Menschen zu Selbstbestimmung in verantwortlicher Lebensführung, aber auch seiner Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit. Pluralität und Toleranz, das Bestehen auf fairen Regeln des Zusammenlebens zwischen Menschen und Kulturen waren Motive, die Plessners Werk bestimmten. In seinen Versuchen der theoretischen Begründung, aber auch thematischen Auffächerung einer zugleich biologischen, philosophischen und politischen Anthropologie reagierte er auf die Gefährdung von Bürgerlichkeit und Humanität durch die völkisch - rassisch wie internationalistisch klassentheoretisch begründete selektive Vereinseitigung und totalitäre Unterdrückung universellen Menschseins und der elitären Ermächtigung zur Gestaltung

8

Einleitung

vermeintlich höherwertiger und der Vernichtung als minderwertig stigmatisierter Gruppen und Individuen. Ihren ersten kreativen Höhepunkt hatte Plessners intellektuelle Biographie in der deutschen Zwischenkriegszeit. Sowohl in den thematischen Schwerpunkten der von ihm in dieser Zeit verfassten Texte als auch in seinem persönlichen Schicksal spiegeln sich die geistigen und politischen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts auf eindrückliche Weise wider. Im Durchgang durch sein Werk erschließen sich die Gefährdungen der Zeit in ihrer Brechung durch Versuche, sie geistig zu durchdringen. Der nationalsozialistischen Aufkündigung menschengemäßer Verhältnisse für alle durch selektive Mechanismen von Zugehörigkeit und Ausschluss im Zeichen totalitärer Politik setzte er sein prinzipielles Bestehen auf einem unbedingten Humanismus qua Menschsein entgegen. In seinem umfangreichen, disziplinär breit gefächerten Werk reagierte Plessner auf Infragestellungen des selbstverständlich in Anspruch genommenen Anthropozentrismus, nach denen der Mensch tief verunsichert nicht mehr davon ausgehen konnte, im Mittelpunkt der für sein Leben relevanten Welten zu stehen. Die vielfältigen Relativierungen seiner Zentralposition durch naturwissenschaftliche wie geschichtliche Entwicklungen zwangen zu einer Neubestimmung dessen, was Menschsein in Würde und Freiheit ausmachte. In diesem Problemfeld bewegte sich Plessner als Grenzgänger zwischen den Disziplinen der Sozial - und Humanwissenschaften. Dabei können philosophische Anthropologie und Geschichtsphilosophie im Ensemble der am Menschen orientierten Disziplinen als konzeptionsbildende Leitdisziplinen seines Werkes gelten. 1892 als Sohn eines Arztes geboren, studierte Helmuth Plessner parallel Medizin und Zoologie in Freiburg / Br. und Heidelberg. Inspiriert von der Phänomenologie Schelers und dem Neukantianismus Rickerts wechselte er schließlich zum Studium der Philosophie in Göttingen und Erlangen. Als Teilnehmer am sonntäglichen Jour fixe bei Max Weber lernte Plessner neben dem Hausherrn auch Georg Lukács, Ernst Bloch und Ernst Troeltsch kennen.1 Sein philosophisches Werk entwickelte sich in produktiver Auseinandersetzung mit den führenden deutschen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit, so mit Max Scheler, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Georg Misch, der Wissenssoziologie Karl Mannheims und der politischen Theorie Carl Schmitts. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehörten der Neukantianer Wilhelm Windelbrand sowie der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, dessen „Rehabilitierung der natürlichen Weltansicht durch eine Methode offener Forschung“2 Plessner beeindruckte. Angeregt wurde er weiterhin durch die Geschichts - und Sozialphilosophie Wilhelm Diltheys und die zeitgenössische Lebensphilosophie. Seine 1916 eingereichte philosophische Dissertation setzte sich mit Kants Transzendentalphilosophie auseinander, seine Habilarbeit von 1920 war der „Kritik der philosophischen Urteilskraft“ gewidmet. 1 2

Vgl. Plessner, Selbstdarstellung, S. 305. Ebd., S. 309.

Einleitung

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Mit seiner 1928 erschienenen Schrift „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ leistete Plessner neben Max Scheler und Arnold Gehlen einen eigenständigen Beitrag zur Begründung einer philosophischen Anthropologie, der jedoch erst spät als solcher anerkannt wurde. Neben den „Stufen des Organischen“ waren vor allem Plessners Schriften „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) und „Macht und menschliche Natur“ (1931) wirkungsmächtig. Mit ihnen griff er polemisch in die geistigen und politischen Debatten der Weimarer Republik ein. Zugleich nahm sein Konzept philosophischer Anthropologie in ihnen Konturen einer politischen Anthropologie an. Seine „Grenzen der Gemeinschaft“ richteten sich nach eigener Aussage nicht gegen den Gemeinschaftsgedanken, sondern gegen seine Politisierung, aus der sich nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg die völkische Bewegung und der Nazismus entwickelt hatten.3 Plessners Philosophie des Ausgleichs und der Vermittlung unterschiedlicher Weltsichten und Lebensentwürfe war gleichermaßen gerichtet gegen die Heilsversprechen linker und rechter Gemeinschaftsideologien. So wurde Plessner nach der Machtergreifung der Nazis in einer viel versprechenden Phase seiner akademischen Karriere aus Deutschland vertrieben, da er nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen wegen der jüdischen Abstammung seines getauften Vaters als „Nichtarier“ galt. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entzog ihm für das Sommersemester 1933 gleich vielen anderen aus rassenpolitischen Gründen von deutschen Universitäten entfernten Wissenschaftlern und Hochschullehrern die Venia Legendi. Daran änderte nichts, dass Plessner weder seinem Selbstverständnis nach noch nach den jüdischen Religionsgesetzen Jude war.4 Über den Umweg Istanbul ging er schließlich ins niederländische Exil. Als assimilierter Jude sah Plessner keinen Grund, sich mit seinem Verhältnis zum Judentum auseinanderzusetzen. Sein Judentum wurde ihm tatsächlich erst durch die nationalsozialistischen Rassengesetze aufgezwungen. Das Judentum war für ihn weder Rasse noch Volk, sondern eine Religionsgemeinschaft. Die vollständige Assimilation der Juden war für ihn Voraussetzung ihrer erfolgreichen Integration in die deutsche Gesellschaft. An Josef König schrieb er unmissverständlich : „Ich stehe zur geistigen, politischen und biologischen Assimilation unter Befürwortung selbst rigoroser Einwanderungsbeschränkung und Aussiedlungsgesetze.“5 Noch angesichts des Holocaust, dem die Familie seines Vaters ausnahmslos zum Opfer gefallen war, vermochte er nicht den „blinden Hass [...] gegen das deutsche Volk“6 zu teilen, den viele jüdische Emigranten empfanden, sondern sah sich weiterhin vor allem als Deutscher.

3 4 5 6

Ebd., S. 323. Vgl. Dietze, „Kein Jud’ und kein Goi“. Plessner an König vom 31. 12. 1934. Zit. in Dietze, Leben, S. 115. Aus einem Brief Plessners von Ende 1946. Zit. in Dietze, „Kein Jud’ und kein Goi“, S. 235.

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Einleitung

Nachdem ihn in Istanbul, wo er vergeblich auf eine Stelle an der Universität gehofft hatte, das Angebot aus den Niederlanden erreichte, finanziert durch das Stipendium eines „Hilfskomitees zur Unterstützung jüdischer Intellektueller“, an der Universität Groningen zu arbeiten, sah sich Plessner genötigt zu begründen, weshalb er für ein solches Stipendium in Frage kam : „Ich habe meine Stellung auf Grund des Arierparagraphen verloren, weil mein Vater als Jude geboren ist. Von Mutters Seite bin ich Arier. Mein Vater ließ sich als junger Arzt taufen, bevor er heiratete.“7 Nach der deutschen Besetzung der Niederlande blieb Plessner als „Halbjude“ zunächst relativ unbehelligt. Bis Anfang 1943 konnte er weiter an der Universität Groningen unterrichten. Im Februar 1943, nachdem das „Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz“ in einem Brief an den Rektor der Universität Groningen Plessner als „nach seiner Abstammung, Halbjude, und nach seiner gesamten Einstellung für das Amt eines Professors nicht mehr tragbar“8 bezeichnete, wurde er schließlich entlassen. 1943 tauchte er in Utrecht unter, wo er sich zunächst noch, bei häufig wechselnden Adressen, offiziell polizeilich anmeldete, bevor er im Juni 1944 eine falsche Identität annahm. Während dieser Zeit schrieb er für Untergrundzeitungen Artikel u. a. zum „Problem Deutschland“, dem „totalen Staat“ sowie der notwendigen „Umerziehung der deutschen Jugend nach dem Krieg“.9 Angebote zur Rückkehr auf seine alte Professur an die Kölner Universität unmittelbar nach dem Krieg lehnte er zunächst mit dem Ver weis auf die aus Vertrauen und Freundschaft in den Jahren des niederländischen Exils erwachsenen Verpflichtungen ab. Diese, so seine Begründung der Ablehnung, würden für ihn solange mehr zählen, als die Heimat nicht zu erkennen gebe, dass sie ihn wirklich brauche.10 Stattdessen übernahm er den ihm angebotenen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Groningen. 1951 kehrte er schließlich nach Deutschland auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen zurück. Nach seiner Emeritierung wurde er erster Theodor - Heuss - Stiftungsprofessor an der New School of Social Research in New York. 1985 starb Plessner in Göttingen. Dank der Aktivitäten der 1999 gegründeten Helmuth Plessner Gesellschaft, der umfassenden Edition seiner Werke, zahlreicher Konferenzen sowie einer immer umfangreicher werdenden Sekundärliteratur, die sowohl seiner Biographie und seinem Gesamtwerk als auch Detailaspekten seines disziplinär breit gefächerten Werkes gilt, hat die Beschäftigung mit Helmuth Plessner nach Jahrzehnten, in denen sein Werk in Vergessenheit zu geraten drohte, in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren. Der Schwerpunkt dieses Interesses liegt dabei auf seiner philosophischen Anthropologie, die zu Recht als

7 8 9 10

Plessner an Buytendijk vom 1. 12. 1933. Zit. in Dietze, Leben, S. 97. Zit. ebd., S. 209. Genauere Angaben ebd., S. 214 f. Zit. ebd., S. 256.

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konzeptioneller Kern seines theoretischen Werks gilt. Nicht nur hatte Plessner mit seinen „Stufen des Organischen“ einen originären Beitrag zur Entwicklung einer philosophischen Anthropologie geleistet. Fragen der philosophischen Anthropologie spielten vielmehr Zeit seines Lebens eine prominente Rolle in seinem Werk. Schon früh versuchte Plessner biologische und philosophische Fragestellungen in einem eigenen Forschungsansatz zu integrieren. Ein solcher integrativer Ansatz blieb für sein philosophisches Werk und insbesondere seine philosophische Anthropologie bestimmend. Eine Grundthese seiner philosophischen Anthropologie war, dass der Mensch durch seine exzentrische Position geprägt sei. Im Unterschied zum Tier müsse der weltoffene Mensch seinen Standort in der Welt und seine Identität selbst bestimmen. Sein im Prinzip unergründliches Selbst könne er nur durch seine Lebensführung im gleichzeitigen Bezug auf Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt ergründen. Immer wieder ging es Plessner dabei um die Stellung des Menschen in der Welt und zu sich selbst in der Auseinandersetzung mit den ihn prägenden Weltbezügen. Im Versuch der Selbstfindung und - bestimmung greife der Mensch im Raster dieser Weltbezüge immer schon über sich hinaus auf der Suche nach einer lebbaren Balance des Selbst, die sich nicht festhalten, sondern nur anstreben lasse. Zu dem, was er immer schon sei, müsse sich der Mensch zugleich auch immer erst machen. Um die Welt nach ihren Vorstellungen gestalten zu können, müssten sich die Menschen zur Welt hin öffnen. Plessners Anthropologie entwickelte aus der konstitutiven Unergründlichkeit des Menschen die Notwendigkeit des Politischen. Trotz aller Festlegungen und Vergegenständlichungen, Entzauberungen und Ernüchterungen bleibe der Mensch offen für immer neue Möglichkeiten des Menschseins. Das expressive Spiel von Nähe und Distanz erlaube ihm durch die Möglichkeit, in verschiedenen Rollen und Masken aufzutreten, eine flexible und authentische Lebensführung. Plessners „Stufen des Organischen“ erschienen zu einem Zeitpunkt, als Martin Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) die zeitgenössische Aufmerksamkeit absorbierte. Heideggers Existenzontologie, so Plessner, die zwar ausdrücklich keine philosophische Anthropologie sein wollte, habe dennoch durch ihre daseinsanalytische Behandlung des Themas Mensch die Anthropologie zugleich blockiert und verengt. Zudem erschien ebenfalls 1928 Max Schelers Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Diese zeitliche Koinzidenz war entscheidend für die faktische Rezeptionsver weigerung der „Stufen des Organischen“, die zunächst weniger als eigenständige Leistung denn als Konkurrenzschrift zu Heideggers und Schelers philosophischen und zeitgeistkritischen Bestimmungsversuchen des Menschen wahrgenommen wurden. Hinzu kam der Plagiatsvorwurf von Seiten Schelers, den dieser zwar wieder fallen ließ, nicht ohne jedoch Plessner dazu zu veranlassen, den Untertitel „Grundlegung einer philosophischen Anthropologie“, die Scheler für sich selbst beanspruchte, durch den weniger ambitionierten einer „Einleitung in die philosophische Anthropo-

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logie“ zu ersetzen.11 Gehlens Buch „Der Mensch“ von 1940 schließlich enthielt zwar eine Polemik gegen Scheler, ignorierte jedoch Plessners „Stufen“ völlig.12 Im niederländischen Exil schrieb Plessner die Deutschlandstudie „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ (1935). Das Buch entstand, wie von ihm selbst im Vorwort angemerkt, „aus Vorträgen zur Einführung in die gegenwärtigen geistigen Kämpfe Deutschlands und seiner Philosophie“13, die er im Winter 1934 und 1935 vor Studenten aller Fakultäten in Groningen gehalten hatte. Schon in diesen Vorträgen spielten Themen eine Rolle, die das spätere Buch prägen sollten : die „Fragwürdigkeit der geistigen und gesellschaftlichen Überlieferung“, das „spezifisch deutsche Vertrauen in die Philosophie“, Glaubensspaltung, Zwangsstaatskirche, die Tradition des Reichs sowie die späte Nationalstaatsgründung.14 Carola Dietze hat in ihrer umfassenden Biographie Plessners zu Recht darauf hingewiesen, dass die seinem Buch zugrunde liegenden Vorlesungen das niederländische Publikum zunächst in die deutsche Philosophie der Gegenwart einführen wollten. Darauf ver wies auch der Arbeitstitel von 1934 „Deutsche Philosophie der Gegenwart“, in dessen Mittelpunkt das Nihilismusproblem und die Entstehungsbedingungen der Existenzphilosophie standen.15 Andere Titelvarianten, die Plessner zunächst in Betracht zog, waren „Deutsche Ideologie. Einführung in den Weltanschauungskampf der Gegenwart“ sowie „Voraussetzungen für“ bzw. „Quellen des Weltanschauungskampfs“.16 Zunächst konnte das in der Schweiz erschienene Buch sogar noch in Deutschland verkauft werden. Nach einer Kritik in der national - konser vativen Zeitschrift „Germania“ sah sich der Verlag jedoch genötigt, die in Deutschland verbliebenen Exemplare in die Schweiz zurückzubeordern. Für deutsche Leser war das Buch damit nicht mehr verfügbar. Es geriet in Vergessenheit und war auch zeitgenössischen Autoren wie etwa Hermann Rauschning, der in seiner 1938 erschienenen „Revolution des Nihilismus“ ähnliche Grundgedanken verfolgte, offensichtlich nicht bekannt. Auch noch nach seiner leicht veränderten Wiederveröffentlichung 1959 unter dem Titel „Die verspätete Nation“ galt Plessners Buch als zeitgeschichtlich zwar bemerkenswerte Meinungsäußerung eines aus rassischen Gründen ins Exil getriebenen deutsch - jüdischen Intellektuellen, das darüber hinaus jedoch für die geistige Selbstfindung der Bundesrepublik ohne Bedeutung sei. Insbesondere für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus schien dieses Buch, in dem in beeindruckender bildungsbürgerlicher Manier ein facettenreiches Panorama der geistigen Ermöglichungsbedingungen des Nationalso11 Plessner, Selbstdarstellung, S. 329. 12 Zu Gehlens Buch „Der Mensch“ vgl. Fischer, Anthropologie, S. 165–182; zur Übernahme Plessnerscher Motive und Denkfiguren durch Gehlen insbes. S. 177 f. 13 Plessner, Nation, S. 35. 14 Vgl. Dietze, Leben, S. 134. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 150.

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zialismus entworfen wurde, unbrauchbar. Rassismus, Antisemitismus und die Verfolgung politischer Gegner kamen in ihm nicht vor. Weder die Führer des Nationalsozialismus noch seine Institutionen wurden auch nur erwähnt. Terror, Konzentrationslager und Judenverfolgung, aber auch politische Gleichschaltung und Propaganda spielten in ihm keine Rolle.17 Anstatt die politischen Konturen des Nationalsozialismus oder Elemente seiner Ideologie und Weltanschauung analytisch darzustellen, rückte Plessner den Nationalsozialismus in die Tradition deutscher Geschichte in der Absicht, daraus Gründe seines nationalgeschichtlich stimmigen politischen Erfolges zu rekonstruieren. In seinem „Deutschlandbuch“ argumentierte Plessner vor allem geschichts und religionsphilosophisch, anthropologisch und geistesgeschichtlich. Auf subtile Weise rekonstruierte er die Gründe für den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung, die er, ähnlich wie später Georg Lukács, durch eine ideologiekritische Selbstzerstörung bürgerlicher Vernunft vorbereitet sah. Auf Politik und Ideologie des Nationalsozialismus bezog er sich darin nur in verklausulierten Formulierungen : die nationalsozialistische Rassenpolitik erschien als „Glauben an die Macht des Blutes“, als „volksbiologischer Aufbruch“ oder „autoritäre Biologie“, die nationalsozialistische Ideologie als „weltanschaulicher Dezisionismus“ oder „politische Ideologie der normlosen Entscheidung“. Bei anderen Gelegenheiten bezog sich Plessner dann allerdings eindeutig auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. So schrieb er in einem Beitrag für eine niederländische Untergrundzeitung Ende 1944 „vom langsamen zu Tode Hungern Zehntausender in Konzentrationslagern und dem Erhängen unschuldiger Bürger“ ebenso wie vom „Vergasen von Frauen, Kindern und Alten zu Tausenden jeden Tag“.18 Zwar sei das deutsche Volk „selbst systematisch terrorisiert, belogen und betrogen worden“.19 Dennoch sei es schuldig insofern, als es, ob aus Befehl oder aus eigenem Antrieb, die abscheulichsten Grausamkeiten begangen und dabei die Grenze des Menschseins überschritten habe. In seiner „Verspäteten Nation“ versuchte Plessner mit Hilfe des Konzeptes der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ die historische Spezifik und explosive Dynamik deutscher Entwicklungen als „deutschen Sonderweg“ einer „verspäteten Nation“ zu begreifen. Das nun war allerdings weder 1935 noch 1959 eine Botschaft, die von den zeitgenössischen Versuchen, den Nationalsozialismus in seinen weltanschaulich - ideologischen Grundlagen und seinen politischen und sozioökonomischen Bedingungen zu verstehen, als sonderlich hilfreich wahrgenommen wurde. So hatten schon Max Horkheimer und Herbert Marcuse in zeitgenössischen Besprechungen bezweifelt, dass der geistesgeschicht17

Diese auffällige Abwesenheit beklagte auch von Krockow in seiner Besprechung der „Verspäteten Nation“ : In Plessners Buch finde sich „kein Wort über Hitler, kaum eines über den Nationalsozialismus, nichts zum politischen Geschehen, zum Verfall der Weimarer Republik und zur Machtergreifung, allenfalls indirekt etwas zum Antisemitismus“. Diagnose, S. 136. 18 Zit. bei Dietze, Leben, S. 227. 19 Ebd., S. 228.

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liche Fokus des Buches auf die deutsche Vorgeschichte des Nationalsozialismus etwas zu dessen Verständnis beitragen könne. Sie warfen Plessner vor, mit seinem Buch letztlich zur Verharmlosung und kulturellen Normalisierung des Nationalsozialismus beizutragen.20 Und auch nach 1945 stand Plessners an Georg Lukács erinnernder Versuch, in einer geistigen Vorgeschichte des Nationalsozialismus deutsche politische, religiöse und soziale Wurzeln nationalsozialistischer Ideologie aufzudecken, auf eigentümliche Weise quer zu den nach der unmittelbaren Nachkriegszeit unternommenen Versuchen, im demokratischen Neuanfang der Bundesrepublik auf Distanz zum Nationalsozialismus zu gehen. In der bundesdeutschen Debatte wurde die „Zerklüftetheit“ der deutschen Gesellschaft auf „Ungleichzeitigkeiten in den Modernisierungsprozessen der deutschen Gesellschaften zwischen Altem und Neuem Reich“21 zurückgeführt. Bei aller Skepsis gegenüber dem diffusen „Bild deutscher Verfrühungen oder Verspätungen“22 wurden in diesen Ungleichzeitigkeiten dennoch der Ausgangspunkt der „tragischen Aspekte des deutschen Weges in die Moderne“23 identifiziert. Nach 1945, so Jürgen Kocka, fragte man „nach Eigenarten der deutschen Geschichte, die verständlich machten, dass sich in der allgemeinen Krise der Zwischenkriegszeit der Faschismus in Deutschland, nicht aber in den anderen hochentwickelten Industrieländern durchgesetzt hatte“.24 Die Tatsache, dass die industrielle Revolution, die Verfassungsfrage und die Nationalstaatsbildung in Deutschland in denselben Jahrzehnten auf der Tagesordnung standen, während diese drei Probleme in den westeuropäischen Ländern zu ganz verschiedenen Zeiten angegangen werden konnten, habe in Deutschland einen Problemdruck geschaffen, den die anderen Länder so nicht kannten.25 Heinrich August Winkler schließlich erklärte die „Frage, ob die Besonderheiten der deutschen Geschichte es rechtfertigen, von einem deutschen Sonderweg oder auch deutschen Sonderwegen zu sprechen“, zum Leitmotiv seiner Abhandlung. In seiner Diskussion der Folgen der doppelten deutschen Verspätung in Nationalstaatsbildung wie Einführung der Demokratie kam er dabei zu folgendem Fazit : „Es gab einen deutschen Sonderweg. Es war der lange Weg eines tief vom Mittelalter geprägten Landes in die Moderne.“26 Die deutsche Tradition des Obrigkeitsstaates sei gegenüber jener der Menschen - und Bürgerrechte stärker gewesen. Schon 1935 und erst recht 1959 hätte es sich gelohnt, sich über die Verkürzung von Plessners Argumentation auf die Schlagworte von „Sonderweg“ und „verspäteter Nation“ hinaus auf seine differenzierte und komplexe Argumentation einzulassen. Es gibt wenige philosophische und literarische Texte, die aus

20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Marcuse, Rezension, S. 185, sowie Horkheimer, Erneuerung, S. 187. Hardtwig, Weg, S. 10. Ebd. Ebd., S. 28. Kocka, „Sonderweg“, S. 368. Ebd., S. 372. Winkler, Weg, Zweiter Band, S. 648.

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überlegener, die üblichen Grenzen der Disziplinen und Schulbildungen souverän aufbrechender Argumentation zum Mitdenken einladen, ohne durch den Umfang des aufgebotenen Wissens oder die Stringenz systematischer Organisation den Leser einzuschüchtern. Plessner operiert in seinem Buch nicht mit einer durchschaubar didaktischen Einbeziehung des Lesers, der dann umso sicherer der Plausibilität der von ihm entwickelten Argumente erliegen soll. Vielmehr gelingt es ihm, sein eigenes geistiges Ringen mit der Habitusform des deutschen Bürgers, dem bürgerlichen Werte - und Gesellschaftssystem und seiner deutschen Spezifik, und eben der im Zentrum seines Buches stehenden Frage, was das alles mit der in deutschen Traditionen gegründeten Plausibilität des Nationalsozialismus zu tun hat, sichtbar zu machen. Die Suggestivkraft dieses Textes, wie vieler anderer Texte Plessners, resultiert auch daraus, dass durchgängig das Ringen mit äußerst vielschichtigen Problemen im Mittelpunkt steht, die sich einfachen und eindeutigen Erklärungen entziehen. Gegen die Versuchung, sich auf vermeintlich plausible Verkürzungen dieser Probleme einzulassen, stellte Plessner deren bleibende intellektuelle Herausforderung heraus, ohne dass er immer schlüssige Antworten parat hatte. Dabei geht es u. a. um folgende Fragen : Worauf beruhte die Faszination des Nationalsozialismus sowohl für bildungsbürgerliche Kreise als auch für Menschen ohne einen vergleichbaren Bildungshintergrund ? Hatte der bürgerliche Humanismus, wie von Plessner nahe gelegt, durch seine politische Zahnlosigkeit zum Erfolg des Nationalsozialismus beigetragen ? Gab es also eine in nationalgeschichtlichen Turbulenzen und Verspätungen gegründete deutsche Spezifik des Sieges der nationalsozialistischen Bewegung ? Was war deutsch am Nationalsozialismus, und was Ausdruck übergreifender Ambivalenzen der westlichen Moderne ? ( Zygmunt Bauman ) Verdankte sich der politische Erfolg Hitlers der Tatsache, dass er demagogisch überzeugender auf die nationale Demütigung durch den Versailler Vertrag reagierte als andere politische Bewegungen und Parteien der Zeit ? Oder gab es tatsächlich, wie auch von Plessner unterstellt, weit in die deutsche Geschichte zurückreichende Gründe für diesen Erfolg ? Schließlich : Wie lässt sich der universelle Geltungsanspruch bürgerlicher Vernunft, wie lassen sich universelle Bürger - und Menschenrechte gegen Konzepte kultureller Hegemonie und den selektiven Universalismus vermeintlich überlegener Rassen, Klassen und Kulturen behaupten ? Und wie lassen sich Differenzen im Verständnis dessen, was Menschsein ausmacht, kommunizieren und akzeptieren, ohne solche Unterschiede am Maßstab eines als überlegen unterstellten Menschenbildes in Richtung einer anthropologischen Leitkultur ausgleichen zu wollen ? Helmuth Plessners „Verspätete Nation“ und andere thematisch relevante Texte Plessners werden im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Es folgt Plessner auf das Terrain der von ihm entwickelten Konzepte und Erklärungsansätze, indem es diese Fragen aus der Distanz des Abstands zu zeitgenössischen Kontroversen und polemischen Akzentuierungen wieder aufnimmt. Im Beziehungsfeld von Philosophie, Politik und Geschichte sind in der geistigen Auseinan-

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Einleitung

dersetzung mit dem Nationalsozialismus dabei insbesondere die folgenden zeitgenössischen Debatten relevant, die entweder als Hintergrund vorausgesetzt oder aber in Beziehung zu Plessners Beitrag zur Debatte eingeführt werden : 1. die Humanismusdebatte, in der die Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus als Reaktion auf seine wahrgenommene Grundlagenkrise diskutiert wurden; 2. die Rationalitätsdebatte, in der der Nationalsozialismus als Bruch mit westlicher Rationalität oder als dessen destruktive Konsequenz gesehen wurde; 3. die Sonderwegsdebatte, in der ausgehend von einer nationalgeschichtlichen Verspätung Deutschlands deutsche Philosophie als symbolischer Ort nationaler Identitätsfindung ausgemacht wurde; 4. die Annahme der geistigen Wegbereitung des Nationalsozialismus durch eine philosophische Parallelgeschichte der „Zerstörung der Vernunft“ ( Lukács ) oder aber die kulturkritische Distanzierung des Nationalsozialismus als radikaler Verneinung jeder Tradition und geistigen Kultur einschließlich der deutschen ( Hannah Arendt )27, in der die Beziehung von deutscher Kultur und Nationalsozialismus thematisiert wurde. Im Mittelpunkt steht das Zusammenspiel von philosophischer Anthropologie und geschichtsphilosophischer Analyse des Nationalsozialismus, in dem Plessner das biologistisch reduzierte und durch das Konzept der Rasse bestimmte nationalsozialistische Menschenbild rekonstruierte. Dabei wird das von Plessner als Synonym des bürgerlichen Wertesystems diskutierte Konzept des politischen Humanismus breiten Raum einnehmen. Hier ist von besonderem Interesse seine Begründung der anthropologischen Funktionalität lebensnotwendiger Illusionen, mit der er gegen eine überzogene Ideologiekritik argumentierte. Diese Kritik habe mit der Zerstörung bürgerlicher Vernunft und der Infragestellung eines am Menschen qua Menschsein ausgelegten Verständnisses menschlicher Würde den Boden für die Durchsetzung des biologischen Konzeptes der Rasse im Nationalsozialismus bereitet. Plessners auf die Analyse des Nationalsozialismus angewendetes Konzept philosophischer Anthropologie als politischer Anthropologie sollte die konzeptionell stimmige wie konflikt -, entscheidungs und durchsetzungsfähige Erneuerung des bürgerlichen Humanismus mit universellem Geltungsanspruch begründen. Vorbereitet wird die Rekonstruktion des Verhältnisses von politischem Humanismus, philosophischer Anthropologie und geschichtsphilosophischer Analyse des Nationalsozialismus in Plessners Ansatz, die in diesem Buch unternommen wird, durch eine Diskussion philosophischer Imaginationen deutscher Eigenart, in denen etwa durch Schillers Metaphorik „deutscher Größe“ und Fichtes Imagination eines „deutschen Urvolkes“ die Deutschen in weltgeschichtlich exemplarischer Universalität aufgebaut wurden. Diskutiert werden auch Heinrich

27 Vgl. Arendt, Das „deutsche Problem“.

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Heines ironische Beschwörung des im Namen der Philosophie agierenden deutschen Weltanschauungskriegers, der die Welt noch das Fürchten lehren werde, sowie Karl Marx’ Konzept allgemein menschlicher Emanzipation als der historisch beispielhaften Entwicklung der Deutschen zu Menschen, in denen sie als Volk in weltbürgerlicher Mission auftreten. Die deutsche Tradition völkischen Denkens und Politikverständnisses ist angeordnet um den romantischen Volksbegriff, das Konzept eines völkischen Vernunftstaates und die Idee des Reiches als Ausgangspunkt einer an deutschen Interessen ausgerichteten territorialen Neuordnung Europas. In der Berufung auf diese Tradition beanspruchte die nationalsozialistische völkische Revolution, in der Durchsetzung eines radikal Neuen zugleich auch bisher unterdrückte, politisch nicht zum Zuge gekommene völkische Traditionen und vorgeschichtliche mythische Quellen des Deutschen zu mobilisieren. Diskutiert werden in diesem Buch auch zeitgenössische Versuche, einen „wahren, philosophisch gegründeten“ Nationalsozialismus gegen „zeitweilige politische Entgleisungen und Übertreibungen“ der nationalsozialistischen Bewegung in einer Übergangszeit des Kampfes um den politischen Sieg zu behaupten. Die Einbeziehung von Deutungskämpfen der Politik in der Weimarer Republik soll Plessners eigene Position schärfer konturieren. Den deutschen Versuchen, die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg in einen geistigen Sieg umzuinterpretieren, wird dabei im Zusammenhang der aus Plessners Sicht überfälligen Neugründung des politischen Humanismus besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Mit der Herausarbeitung der lebensweltlichen Funktionalität der Selbsttäuschung entwickelte Plessner eine Alternative zur Ideologie als falschem Bewusstsein ebenso wie zu selbstzerstörerischer Vernunftkritik. An die Stelle eines unreflektiert anthropozentrischen Weltbildes setzte er eine die Zentralposition des Menschen bekräftigende reflektierte Anthropologie. Seine kritische Analyse des Nationalsozialismus war auf dessen Ersetzung des universellen Humanismus durch den biopolitisch selektiven Universalismus der Rasse gerichtet. Abschließend werden Perspektiven einer Kritik des Totalitarismus im Anschluss an Plessner und seiner Überlegungen zu einer „wertdemokratischen Gleichstellung der Kulturen“ diskutiert, die er als Alternative zur eurozentrischen Hegemonie einer westlichen Leitkultur entwickelte. Dabei wird argumentiert, dass diese in ganz anderen zeitgeschichtlichen und polemischen Kontexten geführten Auseinandersetzungen noch immer relevant sind. Die Beschäftigung mit Plessners philosophischer Analyse des Nationalsozialismus hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sie ist über alle Maßen anregend und doch auch unbefriedigend, jedenfalls dann, wenn man seine „Verspätete Nation“ als die ultimative Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nimmt. Dazu aber besteht kein Grund. Die mögliche Enttäuschung von diesem Buch beruht so zunächst auf einem Missverständnis. Plessners in dezidiert analytischer Absicht geschriebenes Werk ist selbst ein Beispiel für die Reichweite und Grenzen anthropologischer und geschichtsphilosophischer, politik - und religionsphilosophischer Analyse. Die Auseinandersetzung mit der „Verspäteten

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Einleitung

Nation“ und anderen stringent organisierten Konzepten Plessners verspricht eine intellektuelle Entdeckungsreise ersten Ranges. Sie rückt Dimensionen der zeitgenössischen Faszination des Nationalsozialismus in den Blick, die noch immer irritieren und beunruhigen.

II.

Die philosophische Interpretation des Nationalsozialismus

1. Philosophische Erklärungsversuche des Nationalsozialismus Die These von einem ideengeschichtlichen bzw. philosophischen „Sonderweg“ Deutschlands1 wurde auch von Autoren vertreten, die nationalistischer Überhöhungen des Deutschen unverdächtig waren. Aufgrund verspäteter, unterbliebener oder verfehlter nationalgeschichtlicher wie sozialökonomischer Entwicklungen, so argumentierten sie, sei in Deutschland die Funktion eines geistigen Zentrums zur Vergewisserung der nationalen Eigenart und Identität der Deutschen der Philosophie zugefallen. Philosophische und literarische Imaginationen deutscher Eigenart in weltbürgerlicher Bedeutung behaupteten in der Tradition der deutschen Klassik ein national spezifisches missionarisches Projekt, Schicksal oder Verhängnis deutschen Geistes. Noch in seiner kritischen Dekonstruktion wurde in aller Regel eine nationalgeschichtliche und kulturelle Plausibilität dieses Projektes anerkannt, die mit einer in Besonderheiten deutscher Geschichte liegenden spezifischen Mentalität, einem Nationalcharakter oder auch einer besonderen Affinität zu höheren Werten, zu Kultur und Sozialismus begründet wurde. Die Autoren solcher Konzepte operierten mit der nationalphilosophischen Rhetorik vom „Schicksal deutschen Geistes“ ( Plessner )2, der Rede von den „philosophischen Grundlagen politischen Verhaltens“ ( Cassirer )3 und der auf die deutsche Ideologie bezogenen Metaphorik der „Schicksalswende“ und „Vernunftzerstörung“ ( Lukács ).4 Besonderheiten deutscher Geschichte, die sie von anderen europäischen Nationalgeschichten unterschieden, wurden unter Bezug auf nationale Fragmentierung und „historische Verspätung“ zu einem „deutschen Sonderweg“ verallgemeinert. In Abwesenheit eines deutschen Nationalstaates hätten die Philosophie oder philosophisch inspirierte Literatur in der geistigen Vorwegnahme politischer und sozioökonomisch ausgebliebener Entwicklungen die Funktion einer ideellen Stellvertretung des Nationalen übernommen. Spätestens seit Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ aus dem Jahre 1808 galt die Philosophie in Deutschland als symbolischer Ort nationaler Selbstverständigung. Die Formel vom „deutschen Wesen, an dem die Welt genesen“ solle, konnte so an eine philosophische Tradition anknüpfen, in der Deutschsein als eine weltgeschichtliche Mission gesehen wurde. Das „philosophische Volk par excellence“, das deutsche „Volk der Dichter und Denker“, traute sich zu, weltbürgerlicher Vernunft zunächst in Deutschland, aber auch

1 2 3 4

Zur Diskussion vgl. Der deutsche Sonderweg in Europa. Vgl. Plessner, Schicksal. Vgl. Cassirer, Mythos. Vgl. Lukacs, Schicksalswende und Zerstörung.

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weltweit, zum Durchbruch zu helfen, die Welt zum ewigen Frieden zu führen, ewige Menschheitsprobleme endlich und ein für allemal zu lösen. Behauptet wurde eine nationale Spezifik des oder der Deutschen. In der je originären Verknüpfung von deutscher Philosophie, Politik und Geschichte habe sich eine spezifisch deutsche Form ( Max Weber ) herausgebildet, eine nationale Eignung zur Stellvertretung der Vernunft herausgestellt, die die Deutschen durch die Revolution zu exemplarischen Menschen werden lasse ( Karl Marx ), eine geistige Disposition zu Sozialismus und Kultur geformt ( Oswald Spengler) oder aber philosophisch durch eine Verfallsgeschichte der Vernunft der deutsche Faschismus vorbereitet ( Georg Lukács ). In deutscher Philosophie und Literatur entwickelte sich eine tiefe Skepsis in die Gestaltungsfähigkeit von Politik, die sich zum generellen Misstrauen gegenüber Realpolitik und Politikern steigern konnte. Dabei reichte das Spektrum der Antworten auf den als unbefriedigend empfundenen Zustand deutscher Politik von der prinzipiellen Stigmatisierung der Geist - und Substanzlosigkeit von Politik bis zur übersteigerten Hoffnung in eine philosophische, durch kompetente und charismatische Führer angeleitete, am Maßstab universeller Werte und Ideen orientierte Politik. Die Philosophie wurde dabei zur Sphäre politischer Ersatzhandlungen, die Politik zum Ort, an dem sich die Geltung und Reichweite philosophisch behaupteter Bedeutungen entscheiden würde. Später wurde der Erste Weltkrieg zur Entscheidungsschlacht zwischen unvereinbaren Werten stilisiert : Pluralität oder Totalität, Kapitalismus oder Sozialismus, partikulare Interessen oder universelle Werte, Politik oder Moral, Gesellschaft oder Gemeinschaft – das waren einige der wichtigsten Gegensätze, von denen behauptet wurde, dass sie in dieser Schlacht zur Entscheidung stünden, in der das deutsche Volk und der Sieg der deutschen Waffen als Bedingung für eine Zukunft menschlicher Kultur gesetzt wurden. Die geistige Mobilisierung der Deutschen für den Krieg durch die „Ideen von 1914“ wurde als Mobilisierung für den Kampf zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation gesehen, in dem es um das Überleben höherer Werte in der Infragestellung durch Materialismus, Dekadenz und Barbarei gehe.5 Um den Erfolg des Nazismus und die Akzeptanz oder aktive Beteiligung der Deutschen an der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden zu verstehen, wurde die irritierende und noch heute beunruhigende Erfolgsgeschichte Hitlers und des Nationalsozialismus in Beziehung zur Eigenart deutscher Kultur und Geschichte gesetzt. Diskutiert werden noch immer prägende Bestandteile deutscher Kultur, die den Erfolg der Nazis vorbereitet hätten : Technik und Wissenschaftskult, Nationalismus und Rassenreligion, ein starker Glaube an Ordnung und Gemeinschaft ebenso wie an physische und moralische Selbstvervollkommnung, die Emanzipation von Aberglaube und repressiver Moral, Wettbewerbsgeist und Siegermentalität, das obsessive Trauma vom Niedergang der Rasse, ja der menschlichen Gattung schlechthin, der Glaube an die Vorherr5

Vgl. „Zivilisation, Kultur“. In : Geschichtliche Grundbegriffe ( Jörg Fisch ).

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schaft von Kampf und Konflikt ebenso wie die Differenzierung höher - und minderwertiger biologischer Rassen.6 In ihrer Konstruktion einer weltbürgerlichen Gesellschaft als Antwort auf die nationale Fragmentierung Deutschlands hatte die deutsche Philosophie bereits Argumentationsfiguren entwickelt, an die der Nationalsozialismus in seiner auf Weltherrschaft zielenden Rassenpolitik als an eine bereits etablierte Tradition humanwissenschaftlichen Denkens anknüpfen konnte. Die Annahme eines wahren, eigentlichen, geheimen Deutschland, das unberührt von gegenläufigen soziokulturellen und politischen Entwicklungen eine eigene höhere Bedeutungsebene des Deutschen verkörpere, bereitete das durch die nationalsozialistische Ideologie aggressiv vertretene Konzept vor, die Qualität von Politik entscheide sich an ihrer Fähigkeit, höhere Werte der Rasse, des Deutschen oder der Volksgemeinschaft durchzusetzen. Ideologien, so auch Plessners Überzeugung, entfalteten ihre Wirkung nicht gegen die Geschichte, sondern nur mit und in ihr. In eigenwilliger Verstärkung, Abschwächung oder Ausblendung tatsächlicher Entwicklungen bestimmten sie die Geschichte zum Feld der Entscheidung über das Schicksal universeller Ideen und Werte.7 Die Frage, ob der Nationalsozialismus zufällig in Deutschland entstanden ist oder ob er im Gegenteil nur hier entstehen konnte, ob er als spezifisch deutsches Phänomen oder aber im Zusammenhang einer Krise der europäischen Moderne zu verstehen ist, ist in ihrem Entweder – Oder verfehlt. Zwar spielt die Spezifik deutscher Geschichte zur Erklärung des Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle, jedoch nicht als isoliertes Phänomen, sondern im europäischen Kontext der westlichen Moderne. Es ist die westliche Moderne, die in dieser Diskussion den normativen Maßstab dafür abgibt, deutsche Entwicklungen als „verspätet“, als „Sonderweg“ oder als „nachholend“ zu kennzeichnen. Die Kontroverse zwischen Plessner und der ersten Generation der Frankfurter Schule zu Reichweite und Grenzen einer geschichtsphilosophischen Interpretation des Nationalsozialismus und seiner deutschen Spezifik sowie Georg Lukács’ Beitrag zur Debatte sollen in das Problemfeld einführen. Argumentationen, die Deutschland gerade wegen der sich durch seine Verspätungen und seine politische Fragmentierung auf ladenden Energien und Spannungen Zukunftsfähigkeit und die Kraft zur Erneuerung des Humanismus zuschrieben, waren den Vertretern der ersten Generation der Frankfurter Schule zutiefst fremd und suspekt. Dennoch sprachen auch sie von einer spezifisch deutschen Kritik fragwürdiger Entwicklungen der westlichen Moderne, die den in diesen Entwicklungen und ihren Problemen befangenen fortgeschritteneren Ländern des Westens so nicht möglich sei. Der sich im Nationalsozialismus ankündigenden Möglichkeit der Selbstzerstörung der westlichen Moderne stellten sie ebenso wie Plessner die Möglichkeit ihrer deutschen Selbstkritik entgegen. Im Nationalsozialismus sahen sie keinen Bruch mit okzidentaler Rationali6 7

Kaplan, Conscience, S. 158 f. Plessner, Nation, S. 30.

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tät bzw. westlicher Moderne, sondern den Ausdruck von Ambivalenzen der Moderne, die sich in Deutschland exemplarisch und auf besonders barbarische Weise erfüllt hätten. Ausdrücklich argumentierten sie gegen die Annahme eines „deutschen Sonder weges“. In den deutschen Entwicklungen zum Nationalsozialismus und seiner barbarischen Aufkündigung zivilisatorischer Standards zeigte sich für sie vielmehr eine spezifische Verkopplung der Risiken und Chancen westlicher Rationalität. Dieser Ansatz, der Deutschland als Teil der westlichen Werte - und Gesellschaftsordnung sah, ermöglichte es, eine Eigenart deutscher Bedingungen und Entwicklungen in Rechnung zu stellen, ohne diese einem Nationalcharakter zuzuschreiben. Während Plessner diese Eigenart der Deutschen aus ihrer nationalgeschichtlichen Verspätung und den daraus resultierenden Folgeproblemen erklärt hatte, ließ Horkheimer eine solche Erklärung offen. Horkheimer sah im Nationalsozialismus als Faschismus eine auf die radikale Spitze getriebene Spielart des Kapitalismus. Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, so hatte er apodiktisch formuliert, sollte auch vom Faschismus schweigen.8 Dass der Faschismus gerade in Deutschland an die Macht gekommen war, sah er als einen historischen Zufall. Genau so gut hätte es auch andere Länder der westlichen Welt treffen können, die aus seiner Sicht keineswegs durch ihre Tradition funktionsfähiger politischer Demokratien und liberaler Ordnungen vor der Gefahr einer Installation faschistischer Diktaturen sicher waren. So heißt es in einem Brief Horkheimers vom Oktober 1938 : „Hitler ist [...] so eindeutig durch die gegenwärtige historische Entwicklungsstufe der sozialen Verhältnisse bedingt, dass er, wenn diese Verhältnisse dieselben bleiben, immer wieder produziert werden muss, und sei es in und mit Hilfe der Länder, die ihn etwa stürzen könnten.“9 Die Fixierung auf Hitler im Kampf gegen den Faschismus, so seine Schlussfolgerung, traf nur seine Erscheinung, nicht sein Wesen. Auch Horkheimers Akzentuierung des Sozialen gegenüber dem Nationalen ließ jedoch Raum für eine deutsche Spezifik des Nationalsozialismus. So sollte sich ein geplantes Deutschlandprojekt des Instituts für Sozialforschung beziehen „auf die Tatsache, dass die wesentlichsten progressiven Strömungen der deutschen Kultur seit 1800 durch den Nationalsozialismus unterdrückt worden sind“.10 In diesem Projekt sollte das in jeder deutschen Epoche Fruchtbare gerettet und zugleich die Gründung der gesellschaftlichen Fundamente Deutschlands im 20. Jahrhundert in deutscher Ökonomie, politischer Geschichte und Arbeiterbewegung aufgedeckt werden.11 Dieses Forschungsprojekt „The Collapse of German Democracy and the Expansion of National Socialism“12, in anderen 8 Horkheimer, Juden, S. 115. 9 Horkheimer an Marie Jahoda vom 8.10.1938. In : Gesammelte Schriften, Band 16, S. 498 f. 10 Adorno an Charles E. Merriam vom 30. 7.1940. In : ebd., S. 745. 11 Vgl. ebd. 12 Ebd., S. 787.

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Versionen „German Economy, Politics, and Culture“13 bzw. „Cultural Aspects of National Socialism“14, kam nach Ablehnung seiner Finanzierung durch die Rockefeller Foundation jedoch nicht zustande. Ähnlich hatte auch Plessner es sich in seiner „Verspäteten Nation“ zum Ziel gesetzt, in einer „Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus [...] im politischen und sozialen Horizont“15 den Nationalsozialismus als deutsches Phänomen im europäischen Kontext der Moderne zu verstehen. Plessners „Deutschlandbuch“ von 1935 hatte die nationalgeschichtliche Variante einer konzeptionellen Verknüpfung von westlicher Moderne und deutscher Geschichte zur Erklärung des Nationalsozialismus entwickelt. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ von 1944 hatten Horkheimer und Adorno den Nationalsozialismus mit seiner Einbindung in eine Grundlagenkrise der Moderne rationalitäts- und modernitätstheoretisch erklärt. Beide auf unterschiedliche Weise für eine Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts wichtigen Bücher gehören eher zum Genre der Geschichtsphilosophie als dem einer Historiographie des Nationalsozialismus. An ihnen lassen sich die Möglichkeiten eines geschichtsphilosophischen Zugangs zum Nationalsozialismus exemplarisch diskutieren. Die „Dialektik der Aufklärung“ hatte die Ambivalenzen westeuropäisch moderner Rationalität herausgearbeitet und in ihr ein latentes Barbarisierungspotential westlicher Kultur identifiziert. Den Nationalsozialismus sahen Horkheimer und Adorno nicht als Rückfall hinter Errungenschaften der Moderne, sondern als aggressive Mobilisierung einer ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Von nun an, so ihre Prognose, werde es Tabuzonen für menschliche Eingriffe in den gesellschaftlichen Gang der Dinge und die sich selbst organisierenden Kreisläufe der Natur nicht mehr geben. Die Aufkündigung der Verpflichtung aller Menschen auf ein gemeinsames humanistisches Wertesystem habe im Nationalsozialismus technische Phantasien der Machbarkeit und soziokulturelle Phantasien der endgültigen Befriedung menschlichen Lebens politisch zur ideologischen Utopie der Endlösung kurzgeschlossen. Plessners retrospektive Interpretation europäischer und deutscher Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg zielte auf die Ambivalenzen deutscher Nachkriegsgeschichte und die Entwicklung einer Deutungsperspektive des Nationalsozialismus im Zusammenhang deutscher und europäischer Geschichte. Seine historisch und ideengeschichtlich weit ausgreifende Interpretation sah im Nationalsozialismus den verhängnisvollen Zusammenschluss von Komplementärentwicklungen deutscher Geschichte und westeuropäischer Moderne. In Nazideutschland stand für Plessner die weltgeschichtliche Zukunft bürgerlicher Liberalität und Humanität auf dem Spiel. Die Verschränkung deutscher und europäischer Entwicklungen, von völkischem Aufbruch und krisenhafter Erschöpfung des politischen Humanismus werde den Westen zur Konfrontation 13 Ebd., S. 746. 14 Ebd., S. 752. 15 Plessner, Nation, S. 13 und 21.

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mit dem Nationalsozialismus zwingen und ihn dabei in die Lage versetzen, den politischen Humanismus als zukunftsfähiges Projekt zu erneuern. Es ist wichtig, die Pointe dieser paradoxen Intervention festzuhalten. Politisch ist sie eindeutig gegen den Nationalsozialismus gerichtet, der als radikale Infragestellung der westlichen Moderne herausgestellt wird. Die deutschen Entwicklungen konnten Europa nicht gleichgültig lassen. Die politischen Ambitionen des nationalsozialistischen Staates ließen sich nicht als nationale Angelegenheit Deutschlands tolerieren, zielten sie doch in ihrer Infragestellung des politischen Humanismus auf den normativen Kern des westlichen Selbstverständnisses. Der Nationalsozialismus war für Plessner ein klarer Angriff auf das bürgerliche Werte - und Gesellschaftssystem. Auf diesen Angriff musste eine angemessene ethische wie realpolitische Antwort gefunden werden. Die Verbrechen des 20. Jahrhunderts sind durch die geschichtsphilosophischen Projektionen eines messianischen Humanismus atmosphärisch vorbereitet, wenn auch nicht durch diese verursacht worden.16 Zur zeitgenössischen Debatte dieser These trug Georg Lukács u. a. mit seiner Schrift „Die Zerstörung der Vernunft“ bei, in der er einen philosophischen Weg Deutschlands zu Hitler behauptete. Seine geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eignet sich als Kontrastfolie zu Plessners ebenfalls geschichtsphilosophischem „Deutschlandbuch“. Die Frage, wie aus Deutschland, dem „Land der Dichter und Denker, das Land der organisierten und systematisierten Barbarei“17 werden konnte, hatte Lukács immer wieder beschäftigt: Folge man der weit verbreiteten Metaphorik, der deutsche Faschismus sei aus einer plötzlichen akuten „Erkrankung des deutschen Geistes“ entstanden, so erledige sich in einer „prinzipienlosen Amnestie“ die Frage nach politischer Schuld und Verantwortung ebenso wie die nach nationalgeschichtlichen Wurzeln und Quellen der Barbarei. Eine Lösung der Krise wäre dann nur durch äußeren Eingriff denkbar. Auf innere Widerstandskräfte des Nationalkörpers könnte nicht zurückgegriffen werden. Nach der Genesung des Patienten müsste mit seiner Wiedererkrankung am ideologischen Gift einer latent faschistischen deutschen Ideologie immer gerechnet werden. In der Konsequenz dieser Metaphorik der plötzlichen, letztlich unerklärlichen Erkrankung müsste Deutschland als national unzurechnungsfähig unter internationale Dauerquarantäne gestellt werden. Die systematische Wendung dieser Position einer unerklärlichen Schwächung der Immunkräfte von Moral und Humanität in Deutschland zur nationalen Pathologie sah das deutsche Volk als hoffnungslosen Gewohnheitsverbrecher und den Faschismus als logische Konsequenz der deutschen Entwicklung.18 Sie legte nahe, vorsichtshalber „einfach alles Deutsche aus der Weltkultur zu streichen“.19 Gegen beide Positionen setzte Lukács auf die mögliche demokratische 16 17 18 19

Vgl. Rabinbach, Shadows, S. 206 f. Lukacs, Kritik, S. 225. Ebd., S. 222. Ebd.

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Erneuerung des deutschen Geistes aus eigenen inneren Kräften. Diese Erneuerung müsse auf „Traditionen der freiheitlichen Entwicklung Deutschlands“ zurückgreifen und die „Probleme des wahren Deutschtums“20 radikal zu Ende denken. In seiner eigenen Position nahm Lukács die Metaphorik von der kurzen, schweren „Erkrankung des deutschen Volkes“ auf. Diese Krankheit habe Deutschland jedoch nicht schicksalhaft von außen angefallen, sondern sich als innerer Krankheitsherd immer weiter im deutschen Volkskörper ausgebreitet, bis sie schließlich mit dem Faschismus zum offenen Ausbruch gekommen sei. Lukács sah eine akute Vergiftung auf der Basis eines langwierigen und chronischen gesellschaftlich - politischen Leidens mit tiefen Wurzeln in der ökonomischen, politischen und ideologischen Geschichte Deutschlands.21 Der spätere geistige und moralische Fall der deutschen Nation im Faschismus habe sich historisch lange vorbereitet.22 Dagegen behaupte eine Position, die den klassischen Humanismus Deutschlands und seine faschistische Gegenwart als schroffe Gegensätze gegeneinander stelle, die nichts miteinander gemein hätten, zwischen beiden einen ideologisch nicht zu überbrückenden Abgrund. Die Frage nach spezifisch deutschen Quellen der faschistischen Ideologie erübrigte sich dann. Diese war wie „aus dem Nichts entstanden“23 oder aber ihre Quellen mussten an anderer Stelle gesucht werden. Diesen Weg der ideologischen Entlastung des klassischen Humanismus und der idealistischen Philosophie von der Verantwortung für den Faschismus ging Lukács nicht. Stattdessen führte er mit den Argumentationsfiguren der ideologischen Anfälligkeit und Schwäche des deutschen Humanismus, seiner zeitbedingten Grenzen und schließlichen reaktionären Verfälschung einen argumentativen Dreischritt vor, der die faschistische Instrumentalisierung deutschen Geistes plausibel machen sollte. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Plessners „Verspäteter Nation“. Auch er sah den Nationalsozialismus als Moment im historischen Schicksal des deutschen Volkes, schrieb der deutschen Philosophie eine herausragende Rolle im nationalen Selbstverständnis der Deutschen zu und rekonstruierte eine philosophische Parallelgeschichte geistiger Wegbereitung des Nationalsozialismus durch die „Zerstörung der Vernunft“. Plessners Verknüpfung des Nationalsozialismus mit dem Schicksal deutscher bürgerlicher Kultur legte mit dem Konzept einer sich ständig steigernden ideologiekritischen Verdachtslogik gegen Aufklärung und Humanität die Annahme einer geistigen Wegbereitung des Nationalsozialismus ebenso nahe wie Lukács’ Konstruktion einer philosophischen Parallelgeschichte des Faschismus, die in der „Zerstörung der Vernunft“ einen „Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie“24 nachzeichnete. Beide gingen davon aus, dass die ideologiekritische Zerstörung universeller Gattungsvernunft deren Ersetzung durch 20 21 22 23 24

Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 226 f. Ebd., S. 229. Lukacs, Zerstörung, S. 6.

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die vermeintlich natur wissenschaftlich abgesicherten Konzepte von Blut und Rasse vorbereitet habe. Auch Plessner sah im Nationalsozialismus zunächst die Aufkündigung aufklärerischer Vernunft. Wie Lukács, so legte auch er Wert auf die Feststellung, dass der Nationalsozialismus in der Entwicklungslogik deutscher Geschichte lag, und nicht im Ergebnis zufälliger oder spezifisch politischer Konstellationen des 20. Jahrhunderts entstanden sei. Ohne fatalistisch den Nationalsozialismus zum unausweichlichen vorläufigen Endpunkt verhängnisvoller deutscher Entwicklungen zu erklären, ließen sich beide in ihrer Argumentation auf eine Metaphorik des Schicksals ein. Eine methodische Isolierung des Nationalsozialismus als Fremdkörper deutscher Geschichte schlossen sie kategorisch aus. In Plessners Fokussierung auf die Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Ermöglichungsbedingungen des Nationalsozialismus kam dessen politische Kriminalität nicht vor. Das war sicher ein Grund, weshalb die kritische Theorie der Frankfurter Schule in ihrer ersten Generation auf seine philosophische Überhöhung des Deutschen verständnislos, abweisend und mit polemischer Schärfe reagierte. Die Annahme einer besonderen Nähe der Deutschen zu weltbürgerlicher Vernunft und Humanismus teilte sie nicht. Ihre Skepsis gegenüber solchen geschichtsphilosophischen Argumentationsfiguren bekam Plessner in einer polemischen Rezension Marcuses zu spüren, der sein „Deutschlandbuch“ 1936 in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ besprach. Für Marcuse war klar, dass es sich hier wieder einmal um eine Aufwertung deutschen Geistes handle, von dem Buch also „nicht viel an wirklichem Inhalt zu erwarten“25 sei. Wie Marcuse, so lehnte auch Horkheimer später ausdrücklich den Versuch einer Verknüpfung von geistes - und realgeschichtlicher Kontextualisierung des Nationalsozialismus ab : „Keine Theorie über Deutschland als die verspätete Nation kann das Faktum aus der Welt schaffen, dass das System der Konzentrationslager [...] von der Vertretern der sogenannten deutschen Kultur ausdrücklich oder stillschweigend entschuldigt wurde.“26 Horkheimers Polemik gegen Plessner unterstellte, auch dieser habe letztlich mit dazu beigetragen, das System der Konzentrationslager zu beschweigen, wenigstens aber den Anteil der deutschen Kultur an seinem Zustandekommen unkenntlich zu machen.27 Diese These verkennt oder bezweifelt Plessners Anliegen, durch die Rekonstruktion des Zusammenspiels politischer, religiöser und sozialer Ereignisse und Tatsachen der deutschen Geschichte aus sehr verschiedenen Zeiten „die Wurzeln der Ideologie des Dritten Reiches aufzudecken und die Gründe, aus denen sie ihre demagogische Wirkung entfalten konnte“.28 25 Marcuse, Rezension, S. 185. 26 Horkheimer, Erneuerung, S. 187. 27 Die Revision dieser apodiktischen Verdammung von Plessners Buch durch die Frankfurter Schule blieb Jürgen Habermas vorbehalten, der in ihm eine „vorzügliche Geistesgeschichte im politischen und sozialen Horizont“ sah, auf die man nicht verzichten könne. Habermas, Plessner, S. 128. 28 Plessner, Nation, S. 13.

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Plessner ging es indes nicht um die Konstruktion eines deutschen Nationalcharakters, der den Deutschen im Nationalsozialismus zum politischen Verhängnis geworden wäre, „als habe in der politischen Katastrophe das Schicksal eines Geistes sich erfüllt“29, sondern um die „Kritik der Grundlagen [...], die den geistigen Nährboden für die Ideen des Nationalsozialismus abgaben“.30 Sein Thema war die Schwäche und Hilf losigkeit der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, sich gegen ihre aggressive Überwältigung durch die nationalsozialistische Bewegung zur Wehr zu setzen. Dabei beließ er es jedoch nicht bei der im Grunde ebenso hilf losen Rhetorik der Überwältigung. Seine Argumentation zielte auf die deutschen Entwicklungen und uneingelösten Erwartungen, aber auch Befürchtungen, die der Nationalsozialismus mit seinen eigenen ideologischen Inhalten besetzen konnte, um sich selbst als politische Lösung eines Problemstaus der deutschen Geschichte zu empfehlen.

2. Reichweite und Grenzen philosophischer Interpretation von Geschichte Plessner stellte seine Analyse des Nationalsozialismus – und insbesondere seiner deutschen Spezifik – in den Zusammenhang einer methodischen Diskussion des historischen Erklärungspotentials der Geschichtsphilosophie. Diese Diskussion soll im Folgenden rekonstruiert und zu einer Einschätzung geschichtsphilosophischer Erklärungsansätze des Nationalsozialismus erweitert werden. Geschichtsphilosophie behauptet einen Zusammenhang zwischen historischen Ereignissen, in denen sich eine eigene Logik geschichtlicher Entwicklung realisiere. Sie schreibt diesen Ereignissen Bedeutungen zu, die über die Motive der handelnden Subjekte und den faktischen Verlauf geschichtlicher Prozesse hinausgehen. Entscheidungen historischer Subjekte und der Ausgang der Auseinandersetzungen zwischen Konfliktparteien bringen nicht wertneutral die je vernünftigste Variante unter einer Vielzahl möglicher Entwicklungen zur Geltung, sondern sind selbst Ausdruck politischer Machtverhältnisse und anderer historischer Konstellationen. Diejenigen Gruppen, die sich mit ihren Interessen durchgesetzt haben, neigen dazu, ihren Erfolg als Beleg der Vernünftigkeit ihrer spezifischen Interessen zu nehmen. Die Annahme einer inneren Logik und eines eigengesetzliches Telos von Geschichte unterstellt das Wirken eines vernünftigen Ordnungsprinzips unter der Oberfläche nur vermeintlich chaotischer Verläufe und unabsehbarer Entwicklungen. Sie dient dem Zweck, Geschichte gegen die Unwägbarkeiten des Ausgangs historischer Auseinandersetzungen abzusichern. Dagegen besteht die historistische Relativierung geschichtsphilosophischer Verallgemeinerung 29 Ebd., S. 12. 30 Ebd., S. 26.

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darauf, dass Geschichte für das nicht Vorhersehbare offen ist : In dem, wozu Geschichte teleologisch bestimmt zu sein scheint, geht sie nicht auf. Dieser Überschuss des unbestimmt Offenen, des aus Prinzipien und ihrer unterstellten Verwirklichung nicht Ableitbaren, soll Geschichte wieder für das unerwartet Neue öffnen. Gegen die Annahme linearen Fortschritts, so Plessner, hatte der Historismus im „Bestreben, jeder Epoche, jedem Ereignis, jeder Figur Recht widerfahren zu lassen, eine Kette offener Vieldeutigkeit“ gesetzt, „der ein instruktiver Sinn für den Verlauf der Menschheitsgeschichte im Ganzen nicht mehr zu entnehmen war“.31 Der „moralisch - dramatische Zusammenhang“ zwischen Früherem und Späterem werde dadurch sichtbar „als eine den historischen Tatsachen aufgezwungene Ordnung aus Hoffnung, Wunsch und Willen, als eine teleologische Konstruktion, zu welcher bloße Erkenntnis [...] niemals imstande sein kann“.32 Die historischen Ereignissen zugeschriebene Bedeutung, so die These, liegt nicht in ihnen selbst, sondern ist Ausdruck der Projektion erfüllter oder enttäuschter Hoffnungen, eines durchsetzungsfähigen oder - schwachen Willens historischer Subjekte, die damit diese Ereignisse zum Zusammenhang einer für sie plausiblen Ordnung knüpfen. Immer dann, wenn sich Menschen nicht mehr in Übereinstimmung mit situativ stimmigen, fraglos geltenden Prinzipien entscheiden können, ist ihre eigene Urteilsfähigkeit gefragt. Die prinzipielle Unentscheidbarkeit von Wertekonflikten stellt sie jetzt vor die existentielle Herausforderung, sich in eigener Verantwortung für eine Option entscheiden zu müssen. Die in einer solchen Situation möglichen Entscheidungen sind gleichermaßen fragwürdig und problematisch. Jede schließlich getroffene Entscheidung wäre auch anders möglich gewesen. Keine dieser Entscheidungen kann für sich beanspruchen, die einzig mögliche zu sein. Geschichte bezieht ihren Reiz aus dem Zusammenspiel von Endgültigkeit und Vorläufigkeit: Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern, doch hätte alles auch ganz anders verlaufen können. In dem, was Menschen mit - oder gegeneinander zu erreichen suchen, treffen sie auf Bedingungen, die sie in der Überschwenglichkeit ihrer Ziele zur Ordnung rufen – zur Ordnung der Verhältnisse, die sich nur selten im Handstreich überwältigen lassen. Und doch ist es eben jenes Streben über das unter den gegebenen Umständen Mögliche hinaus, das Veränderungen in Gang setzt, die das unmöglich Erscheinende möglich machen. In dieser Konstellation versprechen geschichtsphilosophische Konzepte, die Unwägbarkeit geschichtlicher Entwicklungen in eine strukturierte Ordnung zu bringen. Sie schreiben den Ereignissen Bedeutungen zu, die Geschichte als Auseinandersetzung um die Verwirklichung universeller Werte und Ideen erscheinen lassen.33 Die vielschichtige Komplexität historischer Realität lässt sich nur um den Preis perspektivischer Verzerrungen und interessierter Ausblendungen auf 31 Plessner, Conditio humana, S. 136 f. 32 Ebd., S. 137. 33 Zur Geschichtsphilosophie vgl. Nagl - Docekal, Sinn, S. 7–63.

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einen Nenner bringen. In der Auseinandersetzung mit Verhältnissen und Gegebenheiten, an deren Zustandekommen sie nicht beteiligt waren, müssen sich Menschen gegen den Widerstand der Umstände und die gegenläufigen Absichten konkurrierender Mitspieler mit eigenen Präferenzen behaupten. Unter Bedingungen, die sie als gegebene vorfinden und die nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind, können sie das Überkommene immer nur modifizieren. Zwischen der Ereignisgeschichte und einer imaginären Geschichte der Erwartungen, Selbstbilder und Projektionen, die an diese Ereignisse geknüpft sind, besteht eine für Interpretationen offene Beziehung. Das historische Kraftfeld des Imaginären zielt auf die retrospektiven wie prospektiven Bedeutungs(ge)schichten und Sinndeutungen von Geschichte. Im Versuch, solche scheinbar aus geschichtlichen Zusammenhängen gelösten Bilder und Assoziationen zu erschließen, wird eine Schicht historisch akkumulierter Bedeutungen sichtbar, die im kulturellen Selbstverständnis einer Gegenwart nicht mehr präsent ist. Ein gleichsam kollektives Unbewusstes kann mit der Affinität einer Gegenwart für historische Bedeutungsschichten rechnen, in denen diese ihre uneingelösten Erwartungen an die Geschichte wieder erkennt. Die handlungswirksamen Motive von Menschen gehen zwar in die Konstituierung von Geschichte ein, jedoch nur als Spurenelemente im Aufeinandertreffen divergierender Lebensentwürfe, an denen diese Motive relativiert oder verstärkt, frustriert oder bestätigt werden, und in der Brechung durch den Widerstand der Verhältnisse. Geschichte folgt weder einer eigengesetzlichen Sachlogik, die den Eigensinn historischer Subjekte als irrelevant marginalisiert, noch ist sie allein durch die hermeneutische Rekonstruktion der Bestimmungsgründe menschlichen Handelns zu begreifen. Max Weber hat zutreffend auf das Auseinanderfallen von historiographischer Idealtypik und Geschichte verwiesen : „Theorie und Geschichte ineinander zu schieben und geradezu miteinander zu verwechseln“34, hätte die Konsequenz, dass „Ideen als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende eigentliche Wirklichkeit, als reale Kräfte hypostasiert würden, die sich in der Geschichte auswirkten“.35 Eine solche eigentliche Wirklichkeit historischer Tiefenstrukturen, die sich als Geschichte der Durchsetzung oder des Scheiterns universeller Ideen von einer oberflächlichen Zufallsgeschichte historischer Tatsachen, menschlicher Irrtümer und unerwarteter Wendungen der Ereignisse absetzen ließe, gibt es nicht – und dennoch wird eben eine solche Sinndimension von Geschichte immer wieder konstruiert. Geschichte ist das Ergebnis des Handelns historischer Subjekte, deren Beweggründe jedoch nur bedingt und vielfältig gebrochen in geschichtliche Entwicklung eingehen. Die historische Durchsetzungskraft von Ideen ist begrenzt. Nur im Zusammenhang der Ablenkungen und Brechungen, der Verstärkungen und Relativierungen durch die Bedingungen, auf die sie treffen, sind sie von 34 Weber, „Objektivität“, S. 204. 35 Ebd., S. 195.

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Bedeutung. Zugleich lässt sich die Bedeutung historischer Ereignisse, ihr Sinn, nur unter der kontrafaktischen Voraussetzung rekonstruieren, dass wir „ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen“.36 Um die historische Durchsetzungsfähigkeit intendierter Ziele und Ideen unterstellen zu können, müssen Handlungsbedingungen angenommen werden, die solche Ideen wirkungsmächtig zum Zuge kommen lassen. Dabei werden „auch die nichtintendierten Bestandteile und Nebenfolgen intentionaler Zusammenhänge [...] sobald sie in den Horizont der Geschichte eines Späterkommenden eingehen, vom Standpunkt möglicher Intentionalität aus aufgefasst“.37 Gefragt wird jetzt danach, welche Absichten historische Subjekte gehabt haben könnten. Dass sich im Ergebnis historischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen nicht einfach die Absichten siegreicher historischer Akteure durchgesetzt haben, ist dabei unterstellt. Der Historiker will nicht nur aus der Distanz des später Geborenen und allein dadurch um den Ausgang der Turbulenzen vergangener Zeiten Wissender erklären, er will auch verstehen, was geschehen ist. Die Erklärung historischer Ereignisse zielt auf die Konstruktion ihrer inneren Logik und Schlüssigkeit. Dagegen bricht der Impuls, die Beweggründe von Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste, die Höhe - und Tiefpunkte ihres Lebens zu verstehen, die vermeintliche Schlüssigkeit geschichtlicher Entwicklung auf zur offenen Situation einer Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten. Ihm geht es darum, sich in die Lebensumstände vergangener Zeiten aus der Perspektive vergleichbar eigener, wenn auch konkret anderer, Probleme und Umstände einzufühlen. Eine besondere Faszination erhält die Beschäftigung mit der Geschichte durch die Erwartung, aus ihr für die Bewältigung aktueller Problemlagen etwas lernen zu können. Aus dieser Erwartung heraus zielt die Rekonstruktion vergangener Ereignisse darauf ab, in der hypothetischen Wiederherstellung von Konfliktkonstellationen und Entscheidungssituationen historischer Subjekte Freiheitsgrade und Bestimmungsgrößen ihres Handelns und Verhaltens möglichst konkret und differenziert zu beschreiben. Von der Kenntnis der Risiken und Chancen von Menschen, die zu anderen Zeiten versucht haben, aktiv und bewusst Einfluss auf die Gestaltung ihrer Lebensumstände zu nehmen, werden Einsichten erwartet, die für akut anstehende Entscheidungen und vergleichbare Konflikte relevant sein könnten. Eine in eigenen Erfahrungen gegründete selektive Wahrnehmung von Vergangenheit bricht Geschichte zur problematischen Verschränkung von Ungleichzeitigkeiten. Der Historiker „beschreibt Ereignisse und Handlungen aus dem Erfahrungshorizont einer Geschichte, die den Erwartungshorizont der Handelnden überschreitet. Aber der Sinn, der so den Ereignissen retrospektiv zuwächst, ergibt sich nur unter dem Gesichtspunkt, als ob er, mit dem Wissen des Nachgeborenen, intendiert worden wäre.“38 Auf diese Weise wird ein Zusammenhang zwi36 Ebd., S. 154. 37 Habermas, Logik, S. 289. 38 Ebd., S. 290.

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schen Vergangenheit und Gegenwart konstruiert, der durch die fiktive Zeitgenossenschaft tatsächlich zu verschiedenen Zeiten lebender Menschen vermittelt ist. Dieser virtuelle Zusammenhang behauptet eine nachvollziehbare Korrespondenz von Erwartungen und Erfahrungen, die ihre faktische Differenz einschließt. Der methodisch reflektierte Wechsel zwischen Teilnehmer - und Beobachterperspektiven zielt auf die geschichtlichen Ereignisse, so wie sie sich aus der Perspektive der Beteiligten zugetragen haben könnten. Die Ordnung von Ereignissen zum in sich stimmigen Zusammenhang einer Geschichte strukturiert diese Ereignisse nach Kriterien, die dem komplexen Mit-, Neben - und Gegeneinander im Zusammenleben der Menschen Bedeutungen zuschreiben, die über den Kontext ihrer alltäglichen Konflikte und Probleme hinausweisen. Die Vielschichtigkeit der Ereignisse droht in dieser Strukturierung zur Eindeutigkeit eines sich selbst ordnenden Geschehens geglättet zu werden, in dem die Geschichte als Medium der Sinnstiftung erscheint. Die Abfolge des zeitlichen Nach - und räumlichen Nebeneinanders fügt sich dabei zum Zusammenhang einer Geschichte, der sich, ohne als solcher intendiert zu sein, dennoch erst durch das Handeln der Menschen herstellt. Er verdankt sich weder innerer Fügung noch äußerer Setzung, und doch muss dem, was da im Nachhinein als geschichtlicher Zusammenhang behauptet wird, historisch etwas entgegen arbeiten, das die Behauptung einer sinnhaften Ordnung der Geschichte nahe legt. In den Worten von Marx : „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“39 In jedem Ereignis setzt sich etwas fort, das in ihm zugleich den vorläufigen Abschluss miteinander verschränkter Entwicklungen gefunden hat. In der Vergegenwärtigung des Vergangenen vergewissern sich Menschen der Möglichkeit einer Zukunft aus Entwicklungen der Gegenwart. Ihre subjektive Sicht auf die Geschichte ermöglicht es ihnen, sich historisch reflektiert den Herausforderungen zu stellen, vor denen sie selbst stehen. Ihre eigene Identität sehen sie nicht als bedrohte, bewahrens - oder verteidigenswerte Konstante, sondern als immer wieder neu zu bestehenden Balanceakt souveräner Lebensführung. „Um sich ins Gleichgewicht erst zu bringen und nicht um es zu verlassen, wird der Mensch das dauernd nach Neuem strebende Wesen, sucht er die Überbietung, den ewigen Prozess.“40 Das Kontinuum des zeitlichen Flusses kann auf unterschiedliche Weise vergegenwärtigt werden – als Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in der Erinnerung, als Gegenwart des flüchtigen Erlebens in der Vergänglichkeit des Augenblicks und als Vorwegnahme einer künftigen Gegenwart in der Zukunft. Es kann jedoch nicht zur zeitlichen Gliederung eines „Seins der Zeit“ still gestellt werden. „Sein in der Zeit“ ist Sein, das einen Raum einnimmt, der zur sinnlichen Vergegenwärtigung auf einer Zeitachse abgetragen werden kann. Ein Zeitraum wird als Zeitstrecke vorgestellt. 39 Marx, Kritik, S. 386. 40 Plessner, Stufen, S. 320.

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Mit der Annahme einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wird Vergangenheit in den Erfahrungsraum historischer Subjekte gezogen. Es wird ihnen möglich, sich in Ereignisse auf eine Weise einzufühlen, als ob sie sie selbst erlebt hätten. Dabei steht die Überlagerung und Gegenläufigkeit unterschiedlicher Zeiten quer zur Chronologie des rein quantitativen Ablaufs der Ereignisse.41 Zwar sind die Ereignisse selbst zeitlich strukturiert durch Anfang und Ende ihres Verlaufs. In diese Chronologie eingelagert sind jedoch Zeitschichten, die solche quantitativen Grenzmarken sprengen. Biologische und soziale Zeit, Arbeits - und Freizeit, Sozialisierung und Individuierung, Lebenszeit und Generationenfolge, Herrschaft und Unterdrückung, Fortschritt und Regression, Alltagsroutinen und außeralltägliche Höhepunkte, Kontinuität und Diskontinuität – all diese unterschiedlichen Strukturierungsvarianten von Zeit funktionieren nach einer je eigenen Dynamik. Weder lassen sie sich vollständig ineinander übersetzen noch durcheinander substituieren. Ihre Selbstverpflichtung auf die unbedingte Durchsetzung von Vernunft, Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit setzt historische Subjekte in die Position einer moralischen Avantgarde. Einer neuen Zeit und Gesellschaft verpflichtet, sehen sie sich zugleich als Verkörperung eines neuen Menschen. Die Imagination außeralltäglicher Bewährung in einer Zeit radikalen Umbruchs vermag ungeheure Energien freizusetzen. Noch diejenigen, die auch in solchen Zeiten aufgewühlter Emotionen versuchen, sich der von diffusen Erwartungen eines Neuen atmosphärisch aufgeladenen Stimmung zu ver weigern, vermögen sich nicht vollständig dem mentalen Ausnahmezustand zu entziehen. Dieser kann sich zur Annahme einer Mission steigern, den historischen Prozess voranzutreiben und Menschen gegebenenfalls auch gegen ihren Willen zu ihrem Glück zu zwingen. Dabei sind Visionäre der Vernunft zu ganz unterschiedlichen Zeiten immer wieder daran gescheitert, emanzipatorische Projekte einer widerständigen gesellschaftlichen Realität und ihnen gegenüber indifferenten oder abweisenden Menschen aufzuzwingen. Ihr leidenschaftlicher und kompromissloser Protest gegen moralisch diskreditierte und historisch überlebte gesellschaftliche Zustände endete in solchen Zeiten häufig mit ihrer Selbstzerstörung. Menschen, die meinen, in Stellvertretung universeller Ideen zu handeln, können sich geschichtsphilosophisch zu „Funktionären des Weltgeistes“ stilisieren, sie können politisch die Rolle des „Berufsrevolutionärs“ übernehmen oder sich als „allgemeine Intellektuelle“ sehen. Ihre Weigerung, sich mit dem Möglichen zu bescheiden, sieht die bestehende Welt als Herausforderung ihrer Veränderung. Dabei wird gesellschaftliche Realität zum Artikulationsraum und Medium sozialer Utopien reduziert, zu deren Durchsetzung revolutionäre Subjekte mobilisiert werden sollen. Im unvermeidlichen Konflikt mit dieser Realität wird rebellische Subjektivität zerstört, gelähmt, gezähmt oder sublimiert. Menschen, die zu einer Zeit gegen gesellschaftliche Zustände aufbegehren, in denen diese noch 41

Zur philosophischen Diskussion der Zeit und der Frage unterschiedlicher Zeitstrukturen vgl. Die Zeit.

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mit der Loyalität oder politischen Indifferenz einer Mehrheit der Bevölkerung rechnen können, die mit der Bewältigung ihres Alltags hinreichend beschäftigt ist, leben in anachronistischen unzeitgemäßen Biographien als „Fremde im eigenen Land“ zwischen den Zeiten. Dem Selbstverständnis revolutionärer Umbruchzeiten, im radikalen Neuanfang die Last der Vergangenheit abzuwerfen, steht das in Zeiten gesellschaftlicher Stagnation lähmende Bewusstsein gegenüber, im ewigen Gleichklang der Verhältnisse eigentlich überflüssig zu sein. Die geradezu seismographische Sensibilität der Protagonisten historischer Umbrüche für gesellschaftliche Konflikte und Ambivalenzen befähigt bzw. verurteilt sie dazu, die Hoffnungen und Erwartungen, aber auch die Enttäuschungen und Frustrationen ihrer Zeit exemplarisch zu durchleben und in all ihrer Widersprüchlichkeit zu reflektieren. Die Desillusionierung über die Möglichkeiten erfolgreicher Inter ventionen in gesellschaftliche Prozesse kann bei den Betroffenen zu einem Realitäts - und Differenzierungsgewinn führen, dem jedoch ein Verlust an Unbekümmertheit um die Risiken, Chancen und Konsequenzen des eigenen Handelns gegenübersteht. Die Subjekte rücken an den Rand der Prozesse, deren Verlauf sie nun aus einer Position kontemplativer Gelassenheit verfolgen. Aus potentiell tragischen Helden der Geschichte, die noch im Scheitern die Aura verkannter Größe zu früh oder zu spät Gekommener umgibt, werden Menschen, die gelernt haben, auf ihre Stunde zu warten. Sie sind resistent gegenüber Enttäuschungen und vertrauen doch darauf, dass sich die Geschichte am Ende auch ohne ihr Zutun in die erhoffte Richtung bewegen wird. In ihren geschichtsphilosophischen Diagnosen bleibt es zumeist bei der sanften „Gewalt der Vernunft“ ( Hegel ) oder der Aufwertung ohnmächtiger „Zeichen eines Anderen“ ( Benjamin ), die als Vorschein einer Vernunftgesellschaft gegen eine unbefriedigende gesellschaftliche Realität gesetzt werden. Zugleich dienen solche Konstruktionen als Projektionsfläche der Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen, die sich damit eines außeralltäglichen Sinns ihres Lebens vergewissern. In mehrheitlich als offen wahrgenommenen Umbruchzeiten vermag sich das diffuse Bedürfnis nach Veränderung noch nicht zu einer allgemein akzeptierten Alternative zu konkretisieren. Den mit ihren emanzipatorischen Visionen zu früh Gekommenen, die meinen und öffentlich verkünden, es sei an der Zeit, etwas zu tun, wird die Gefolgschaft aufgekündigt. Sie werden denunziert, erschlagen oder auch ans Kreuz genagelt.42 Menschen werden in revolutionären Umbruchzeiten dazu aufgefordert, ihr Verhalten außeralltäglichen Normen unterzuordnen. In der Ausnahmesituation wird ihr Leben unter das asketische Diktat bedürfnis - und interessefreien, außeralltäglichen Handelns gestellt. Die beschworene Gefährdung ihres Werte - und Gesellschaftssystems sollen sie mit der Bereitschaft zu Grenzüberschreitung, Selbstverzicht und Selbstopfer für dessen Verteidigung unter Beweis beantworten. Eine solche Rhetorik der Ausnahmesituation und des historisch beispiello42 Vgl. meine Interpretation der Hegel’schen Christologie in : Bialas, Theologie, S. 51–72.

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sen Umbruchs aller Lebensverhältnisse wurde auch von der nationalsozialistischen Ideologie zur Mobilisierung ihrer Anhänger benutzt. Um politisch handlungsfähig zu bleiben, müssen Menschen sich in der Situation offener Unbestimmtheit der Vorläufigkeit ihrer Entscheidungen bewusst sein. Dabei lassen Entscheidungen, aus denen sich Erfolgsgeschichten entwickeln, diese häufig als einzig richtige oder sogar einzig mögliche erscheinen. Erfolg macht blind für die Bedingungen, unter denen er zustande gekommen ist. Das abwägende Bedenken des Für und Wider, das Offenhalten anderer Möglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt, die Sensibilität für die bleibende Fragwürdigkeit der schließlich getroffenen Entscheidung, die auch anders hätte ausfallen können – all das spielt in der Euphorie des Erfolgs keine Rolle mehr. Geschichte konstituiert sich erst in den Verständigungsformen und Kommunikationspraktiken einer in der Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft an der Ermöglichung von Zukunft orientierten Gegenwart. Dabei vermittelt die historische Einbildungskraft das aus eigener Erfahrung Vertraute mit dem irritierend oder unverständlich Fremden zur Balance ( an )teilnehmender hermeneutischer Nähe und beobachtender erklärender Distanz. Die Interpretation der Geschichte stellt sich der Frage, „wie die Welt für andere Individuen und Gesellschaften ausgesehen haben muss, wenn ihre Worte und Taten als Taten und Worte von Menschen gelten sollen, die uns weder völlig gleichen, noch so verschieden sind, dass sie nicht mehr in unsere gemeinsame Vergangenheit passen“.43 Erst diese lebensweltlich - hermeneutischen Grundfragen halten Geschichte anschlussfähig an zeitgenössische Deutungsmuster soziokultureller Lebenswelten. Das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge, so Plessner, „gibt den Blick frei auf etwas, was in allen menschlichen Erscheinungen auf immer andere Weise als dasselbe sich durchsetzt“.44 Und erst aus der Perspektive hermeneutischer Einfühlung in „die unvergleichlichen Geschichten der Völker und Kulturen“ wird „die Andersartigkeit des scheinbar Gleichen, das Ungewöhnliche des scheinbar Selbstverständlichen“45, sichtbar. Die Kenntnis der Geschichte befähigt Menschen dazu, sich virtuell in historischen Welten zu bewegen, die von ihren eigenen Lebensumständen verschieden sind. Ihre nachholende Sozialisation durch die Historisierung der eigenen Lebenswelten soll ihnen den spielerischen Eintritt in solche bei aller Fremdheit doch auch vertrauten Welten ermöglichen. In der Übertragung auf aktuelle Problemlagen wird der Vergangenheit eine Bedeutung zugeschrieben, in der sich Menschen in ganz anderen, und dennoch ihren eigenen vergleichbaren, Orientierungsproblemen, wieder finden. Geschichte gewinnt für sie lebensweltliche Konturen : Sie wird lebendig als Orientierungsrahmen zur Vergewisserung des eigenen historischen Standorts. Diesen eigenen Standort selbstbewusst einzunehmen, soll ermöglichen, sich in historische Zusammenhänge aus einer Distanz sichernden wie Nähe zulassenden Perspektive einzuordnen. Diese Perspek43 Berlin, Geschichte, S. 243. 44 Plessner, Conditio humana, S. 139. 45 Ebd., S. 137 f.

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tive soll einen rekonstruierbaren zeitlichen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eröffnen, der als Erfahrung, Orientierung oder auch Erwartung von Bedeutung ist. Der Realitätsgehalt wirklicher Geschichte entscheidet sich in der retrospektiven Konstruktion möglicher Geschichten, die späteren Generationen auf Grund ihrer eigenen Erfahrung als authentisch erscheinen. Solche Geschichten werden nach je aktuellen Plausibilitätskriterien aus einer Fülle wahrer Begebenheiten als historisch bedeutsam ausgewählt und zu wirklichen historischen Zusammenhängen verknüpft. Geschichte von ihren Resultaten her zu denken, von ausgeschlossenen und unterdrückten, nicht zum Zuge gekommenen Möglichkeiten also zu abstrahieren, entspricht dem Sicherheitsbedürfnis von je aktuellen Krisen, Identitätsbrüchen und Orientierungsnöten aller Art betroffenen Menschen. Was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhängen lässt, was sie zusammen hält, ist die Annahme eines nicht nur zeitlichen Flusses des Geschehens, sondern eines sie verbindenden plausiblen Sinns. Eine entsprechende methodische Perspektive soll einen Sinn der Geschichte erschließen, der nicht in den Ereignissen selbst liegt, der aber auch nicht als historische Sinngebung des Sinnlosen ( Theodor Lessing )46 erst in sie hineingelegt werden muss. An die Stelle eines sinnhaften Weltganzen ist ein Pluralismus getreten, „dem Welt ein Inbegriff von Welten, mit den gewesenen, gegenwärtigen und zukünftigen Horizonten ist, die über sich ins grenzenlos Unbekannte“47 unausdenkbarer Möglichkeiten hinausweisen. Als Schnittpunkt menschlicher Welt - und Selbstverhältnisse antwortet die Geschichte auf das Bedürfnis nach einem erfahrbaren Sinn ihres Lebens, der Menschen die Dauerspannung einer außeralltäglichen Situation erspart. Geschichtsphilosophische Konzepte reagieren auf die Differenz zwischen menschlichen Erwartungen und Erfahrungen48, indem sie die Herausforderung, sich in immer schon vorstrukturierten Kontexten und Lebensbedingungen mit eigenen Sinnsetzungen behaupten zu müssen, zur existentiell prägenden Grundsituation menschlichen Lebens erklären. Im kontingenten Zusammenspiel nicht intendierter Ergebnisse und kontrafaktischer Intuitionen bleibt Geschichte als vieldeutiges Spektrum von Bedeutungen resistent gegen Versuche ihrer Vereindeutigung. Dem Menschen ist die Welt „eine offene Ordnung verborgener Hintergründigkeit, mit deren latenten Möglichkeiten und Eigenschaften er rechnet, in deren unerschöpf lichen Reichtum er sich stets von neuem versenkt, deren Überraschungen er in aller Planung ausgeliefert ist“.49 Der Volksmund hat für diese Konstellation den treffenden Ausdruck gefunden : Erstens kommt es immer anders, und zweitens als man denkt.

46 47 48 49

Vgl. Lessing, Geschichte. Plessner, Conditio humana, S. 162. Vgl. dazu Koselleck, Zukunft, S. 349–375. Plessner, Conditio humana, S. 183.

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Vergangenes Geschehen wird durch Vergegenwärtigung wieder aktualisiert. Im Versuch, die Vergangenheit festzuhalten, vergeht Gegenwart zur Zukunft offener Möglichkeiten. Die systematische Anstrengung, Erwartungen an Zukunft einzulösen, lässt Vergangenes wieder lebendig werden. Auf diese Unauf löslichkeit des Zeitkontinuums zielt die Metapher von der Jetztzeit historischer Ereignisse. Indem sich eine Gesellschaft über ihre Vergangenheit klar zu werden versucht, vergewissert sie sich im Rekurs auf vollendete Tatsachen nicht nur ihrer Herkunft, sondern erarbeitet sie sich zugleich auch zukunftsfähige Orientierungen. Das „Vergangene ändert sich vom Kommenden her“.50 Die Beziehung zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungsraum kann sich auch umkehren. Dann ist es die Gegenwart, die unter dem Druck der uneingelösten Erwartungen der Vergangenheit steht, während die Vergangenheit identitätsbildend wird : Nicht der Vorausblick in die Zukunft vermittelt aus dieser Sicht Identität, sondern der Rückblick in die Vergangenheit.51 Gegenwart, die sich nicht in den uneingelösten Hoffnungen der Vergangenheit erkennt, kann diese Vergangenheit nicht erkennen. Ein historischer Zugang zur Vergangenheit ist nur möglich, wenn diese auf spezifische Weise in die Gegenwart hineingezogen wird. Dabei wird der Vergangenheit weder die einfühlende Versenkung als ihre vermeintlich historisch authentische Rekonstruktion noch die retrospektive Projektion gegenwärtiger Problemlagen gerecht. Haben vergangene Ereignisse keine Spuren in der gegenwärtigen Welt hinterlassen, so sind sie nur schwer rekonstruierbar. Die Analyse vergangener Gegenwart ist durch zeitgeschichtliche Akzentuierungen und Gewichtungen geprägt. Sie ist „durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert“.52 Geschehenes lässt sich nicht wieder ungeschehen machen. Darüber kann auch die Metapher von der lebendigen Vergangenheit, die in die ansonsten tote Gegenwart hineinragt, nicht hinwegtäuschen. Aber auch die Gegenthese ist stimmig : Das Vergangene ist nicht tot ( zu kriegen), es ist nicht einmal vergangen. In der Ermöglichung von vergangenheitsfähiger Zukunft wirkt die Dynamik abschließend nicht zu beantwortender Fragen weiter. Jede Zeit fordert neue Antworten auf vermeintlich längst gelöste Fragen, die ihrerseits wieder künftiger Infragestellung und Modifizierung offen stehen. Nach dem Verständnis der Geschichte als Prozess gelingender oder misslingender Realisierung universeller Werte geht es in ihr nicht um Interessen und Einflusssphären, um Rohstoff - und Absatzmärkte oder um imperiale Ambitionen und ihre Durchsetzung, sondern um Freiheit und Gerechtigkeit, um Demokratie und Menschenrechte oder auch um die Sicherung der eigenen Existenz und Lebensweise in der Bedrohung durch andere. National spezifisch ist, auf welche Weise die mögliche Enttäuschung von Erwartungen an den Verlauf von Geschichte durch den tatsächlichen Gang der Ereignisse wahrgenommen und 50 Ebd., S. 138. 51 Benjamin, Geschichte, S. 694. 52 Gadamer, Wahrheit, S. 289.

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beantwortet wird. Diese Modi der Enttäuschungsverarbeitung, aber auch der Enttäuschungsprophylaxe, unterscheiden die Nationen. Schon die Bereitschaft, Korrekturen solcher Erwartungen durch Ereignisgeschichten zuzulassen, kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern ist Ergebnis eines unter Umständen qualvollen und opferreichen Lernprozesses. Die frustrierten Erwartungen derjenigen, die vom Verlauf geschichtlicher Entwicklungen unangenehm überrascht werden, können sich auch zur trotzigen Realitätsverweigerung verfestigen, nun erst recht auf gesellschaftlichen Veränderungen zu bestehen, denen trotz zeitweiser Rückschläge und Niederlagen die Zukunft gehöre. Historische Subjekte sind auch dann für die Folgen ihres Handelns verantwortlich, wenn sie eine solche Verantwortung durch den Verweis auf militärische Befehls - und bürokratische Kompetenzhierarchien zurückweisen. Die geschichtsphilosophische Verfremdung historischer Verantwortung dagegen sieht Menschen als Agenten universeller Prinzipien, die sich in ihrem Handeln verwirklichen. An die Stelle offener Situationen, in denen Menschen an ihren eigenen Ansprüchen und Grenzen ebenso wie an den Umständen scheitern können, tritt in dieser Perspektive die Ungewissheit und Unsicherheit darüber, ob das eigene Vermögen ausreicht, ein Leben auf der Höhe angenommener universeller Prinzipien und Werte zu führen. Auf diese Unsicherheit reagiert das von Hegel in den geschichtsphilosophischen Diskurs eingeführte Konzept der „List der Vernunft“. Es legt Bedeutungsschichten am historischen Material frei, die die handelnden Subjekte in die übergreifende Perspektive der Durchsetzung universeller Ideen rückt. In Norbert Elias’, an Hegel angelehnter Formulierung : „Das In - und Gegeneinander der Aktionen, der Zwecke und Pläne vieler Menschen ist selbst nichts Beabsichtigtes und nichts Geplantes und letzten Endes als Ganzes auch niemals planbar. ‚List der Vernunft‘, das ist ein tastender [...] Ausdruck dafür, dass die Eigengesetzlichkeit dessen, wovon ein Mensch ‚Wir‘ sagen kann, mächtiger ist als das Planen und die Zwecksetzung irgendeines einzelnen Ich.“53 Die Argumentationsfigur der „List der Vernunft“ besticht dadurch, dass sie Menschen in der ihnen zugeschriebenen Bedeutung im Referenzrahmen universeller Ideen den radikalen Bruch mit ihren alltäglichen Lebensumständen erspart : Der außeralltägliche Zusammenhang ihrer Einbindung in die Durchsetzung von Freiheit und Vernunft in der Geschichte knüpft sich zwar hinter ihrem Rücken, und dennoch nur dank der Leidenschaften und Energien, die Menschen in ihrem Handeln entwickeln. „Die Leidenschaften [...], die Zwecke des partikulären Interesses, die Befriedigung der Selbstsucht, sind das Gewaltigste; sie haben ihre Macht darin, dass sie keine der Schranken achten, welche das Recht und die Moralität ihnen setzen wollen, und dass diese Naturgewalten dem Menschen unmittelbar näher liegen als die künstliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und zur Moralität.“54 Im unter53 Elias, Gesellschaft, S. 93. 54 Hegel, Vorlesungen, S. 34.

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stellten Gegensatz zu den leidenschaftlich ihre eigennützigen Interessen verfolgenden Menschen hat die Moral keine Chance, deren Handeln zu prägen, so die Quintessenz dieser Überlegungen Hegels. Menschen brauchen von ihnen selbst als authentisch akzeptierte Gründe und Motive für ihr Verhalten – Gründe, die ihnen nahe legen, das, was von ihnen erwartet wird, aus freien Stücken auch selbst zu wollen. Arnold Gehlen hatte diesen Zusammenhang von Schicksal und Freiheit in seiner „Theorie der Willensfreiheit“ von 1933 treffend auf den Punkt gebracht : „Schicksal ist das, was sowieso geschieht, und die höchste Freiheit ist das Aufgeben jedes selbstischen Willens, sein Schicksal zu gestalten, also das Bejahen alles Geschehenden.“55 Freiheit sei „ein Bejahen dessen, was man notwendig tut, im Bewusstsein des höheren Seins, das durch uns handelt“.56 Eben deshalb, so die suggestive Argumentation Gehlens, weil das, was sowieso geschieht, auch ohne uns geschieht, habe es wenig Sinn, gegen etwas aufzubegehren, dem wir selbst mit unserem Leben als Teil eines Schicksalszusammenhangs angehören. Vernünftiger sei es dagegen, dem höheren Sein, das aus uns handle, vorbehaltlos zuzustimmen. Zutreffend beschrieben ist hier eine Variante der psychischen Konditionierung sozial konformen Verhaltens. Gelang diese Konditionierung, so stellte sich das Bewusstsein, mit gutem Gewissen das Richtige zu tun, von selbst ein. Die Möglichkeit, die eigenen Egoismen und Unzulänglichkeiten im Rahmen eines übergreifenden Sinnzusammenhangs leben zu können, verlieh Bestätigung und Erlösung zugleich. Im lebensweltlichen Zusammenhang eines außeralltäglichen Sinnhorizonts beanspruchten Menschen die normative Kompetenz zu bestimmen, was Menschsein im Wesentlichen ausmacht. Aus der Leidenschaft der im Vernunfthandeln egoistisch ihre Zwecke verfolgenden Menschen kann in der ideologischen Zuspitzung der Fanatismus der Vernunft werden, der seine libidinöse Energie aus den Leiden derjenigen bezieht, die als anders oder minder wertig ausgegrenzt, stigmatisiert und verfolgt werden. Der Fanatiker kommt, um sich in die entsprechende Stimmung eines leidenschaftlichen Aktivismus zu bringen, auch ohne das Gerüst subtiler ideologischer Gründe für sein Handeln aus. Die moralische Rechtfertigung seines Handelns nimmt er an, ohne sich auf eine sophistische Kritik der Details einer solchen Begründung einzulassen. Ihm genügt die pragmatische Vergewisserung, nicht aus niedrigen Beweggründen, sondern um einer höheren Idee willen zu handeln. Dem gegenüber spielt der konkrete ideologische Untergrund der Rechtfertigung seines Handelns eine untergeordnete Rolle. Die Erklärung eines solchen ideologischen Triebhandelns durch die ambivalente Selbstzähmung des Menschen in der Kultur wird von Plessner als Sündenfall der Natur parodiert : In einem angenommenen Kreisprozess steigert „die Triebbremsung [...] den Trieb und ruft reaktiv nach gesteigerter Bremsung. Das von Natur harmloseste, schutzloseste aller Tiere, der Invalide seiner höheren Kräfte, macht sich, 55 Gehlen, Willensfreiheit, S. 157. 56 Ebd., S. 174.

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ihnen vertrauend, zum Haustier und bewirkt damit ungewollt seine Verwandlung zu einer sekundären Wildform, zum Raubtier, zur blonden Bestie – im Stall.“57 Dabei ist von vornherein klar, dass es die blonde Bestie auf Dauer nicht im Stall halten wird. Nicht der Stall – die freie Wildbahn ist die ihr angemessene Umgebung, in der sich dann auch ihre Harmlosigkeit sehr bald verliert. Eine andere Variante aus dem unterstellten Verhaltensrepertoire der „deutschen Bestie im Stall“ findet sich bei Ernst Bloch : Die Deutschen seien von jeher großartig begabt zum befohlenen Kampf, wogegen ihnen der Kampf für sich selbst oder der Aufruhr umso schwerer falle. Im Stall werde die deutsche Bestie dann wieder zum Hammel.58 Und weiter : „Der Untertan rast umher [...] und sehnt sich als formales Raubtier in den strengen Stall. Wühlt messianische Träume auf und pervertiert sie mit feudalen, radikalisiert die stumpfe Mitte, um sie zu asketischen Rebellen zu machen.“59 Den Leidenschaften wird der entscheidende Anteil an der Durchsetzung eines Vernunftzwecks zugeschrieben, auch ohne dass es dafür entsprechender vernünftiger Handlungsmotive bedarf. Nicht nur wird Menschen damit die Demütigung erspart, mit illusionären Hoffnungen und realitätsfernen Zielen im Lebenskampf zu scheitern. Ohne von ihren Interessen abstrahieren oder ihre ambitionierten Ziele aufgeben zu müssen, werden sie eingegliedert in den historischen Gang der Vernunft, die sich ihrer als Werkzeuge bedient. Was auch immer Menschen tun oder lassen, die „List der Vernunft“ lässt ihr Handeln als „Arbeit an der Idee“ erscheinen. Die geistige Bedeutung, die ihrem Handeln dadurch zuwächst, rückt sie in die Ordnung eines ihnen nicht verfügbaren höheren Sinns ein. Die Vernunft lässt die Leidenschaften der Menschen für sich wirken. Das Ergebnis ihrer leidenschaftlichen Bemühungen übersteigt das, was zu erreichen sie sich vorgenommen haben.60 Gegen die teleologische Hinführung der Vergangenheit auf eine Gegenwart, in der sich ihr nach Verwirklichung drängender Sinn erfüllt, stellt die Annahme einer offenen Mehrdeutigkeit des Vergangenen die Möglichkeiten der jeweiligen Gegenwart heraus. „Was sich hinterrücks begibt und gegen den Willen oder die Befürchtungen der Menschen sich durchsetzt, was institutionell beharrt oder seinem Zweck durch unvorhergesehene Umstände entfremdet wird, die geheimen Verkehrungen des Guten ins Böse, des Bösen ins Gute, [...] werden von der Wissenschaft [...] nicht mehr als [...] Phasenfolge eines sich stetig entfaltenden Sinnes verstanden.“61 Der vermeintliche Sinn, der sich in dem andeutet, was sich durchsetzt oder scheitert, ist das Ergebnis menschlicher Sinngebung. Menschen könnten gar nicht anders, als dem, was ihnen widerfährt, was sie berührt und betrifft, einen Sinn abzugewinnen. Aber auch von dem, was andere Menschen erleiden und erleben, fühlten sie sich betroffen. Der universelle 57 58 59 60 61

Plessner, Conditio humana, S. 193. Vgl. Bloch, Erbschaft, S. 94. Ebd., S. 163. Vgl. Hegel, Vorlesungen, S. 34, 43 und 49. Plessner, Conditio humana, S. 138.

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Geltungsanspruch der Moral schließt die gemeinsame Verpflichtung auf die Anerkennung menschlicher Würde und die Sicherung von Menschen - und Bürgerrechten für ausnahmslos alle Menschen ein. Demgegenüber stellte die Erschütterung des Glaubens „an eine allen Relativierungen entzogene zeitlose rationale Basis des Menschseins [...] Rationalität, Humanität, Universalität“62 selbst unter Ideologieverdacht. Die Bindung an einen historischen Standort wird immer dann zurückgewiesen, wenn sie nicht länger als Bedingung neuer Entwicklungsmöglichkeiten, sondern als deren Blockierung wahrgenommen wird. Die Vorstellung, alles gehe auf Dauer so weiter wie bisher, wird in Umbruchsituationen als unerträglich empfunden. In der gegen die traumatische Fortschreibung des immer Gleichen gerichteten Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Umbruchs schlägt die Stunde radikaler politischer Bewegungen. Ihr Versprechen eines Neuanfangs im Bruch mit nicht länger als verpflichtend empfundenen Traditionen und Bindungen kann einer politischen Bewegung, die sich als authentischer Ausdruck einer solchen Aufbruchstimmung zu profilieren versteht, den entscheidenden Vorteil in der politischen Konkurrenz verschaffen. Fragen an die Vergangenheit sind immer formuliert aus der Perspektive einer Gegenwart, die „wissen will, woher und warum“ und für die entscheidend ist, „dass man etwas mit ihr anfangen“63 kann. Die Frage nach der Brauchbarkeit der Vergangenheit zielt auf die Anschlussfähigkeit einer Gegenwart an ihre geschichtlichen Voraussetzungen oder den Bruch mit historisch nicht mehr anschlussfähigen Traditionen. In der radikalen Infragestellung historischer Gewissheiten gilt die wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach dem Woher nicht länger auch als Antwort auf die Frage nach dem Wohin. Jede Entscheidung wird in dieser Situation getroffen im Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit: Sie hätte auch anders ausfallen können. Fragen nach dem Warum geraten hier an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Warum sollen Menschen sich für eine bestimmte Möglichkeit der Entwicklung entscheiden und nicht für eine andere, für die unter Umständen ebenso viel spricht ? Welches Interesse können sie daran haben, die unbestimmte Vielfalt der Möglichkeiten von Entwicklung einzuschränken zugunsten der einen Entscheidung, wo sich doch so viel mehr mit diesen Möglichkeiten anfangen ließe ? Gegen die Vorstellung eines restlos aufgeklärten, wissenschaftlich durchgestalteten Lebens besteht Plessner auf einem unverzichtbaren Recht des Menschen, „sich selber undurchsichtig“64 zu bleiben und selbst darüber zu entscheiden, auf welche Weise er sein Leben zu führen gedenkt, in welchem Maße er sich dabei und wodurch anregen oder irritieren, beeinflussen oder abschrecken und eben auch täuschen lässt. Mit dieser Entscheidung übernehmen die Menschen die Verantwortung für ihr Leben. Die Unwägbarkeit der Umstände und ihnen nicht verfügbaren Bedingungen ihres Lebens werden Bestandteil dieses 62 Plessner, Nation, S. 162. 63 Ebd., S. 112. 64 Ebd., S. 139.

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Lebens in der Verantwortung auch für das von ihnen nicht zu Verantwortende. In dieser Situation werden Menschen in einem zugleich existentiellen wie politischen Sinn tatsächlich in die Verantwortung gestellt. Die Reduktion menschlichen Lebens auf die „Dimension der Vitalität“ nahm „der Geschichte den Druck der Verantwortung“ und setzte „an Stelle der Freiheit den Weltlauf“.65 Die Annahme eines moralisch indifferenten naturgesetzlichen Weltlaufs hatte den Anspruch auf Interventionen in geschichtliche Entwicklung aufgegeben. Das Handeln historischer Subjekte, das, unter dem Risiko des Scheiterns stehend, Geschichte erst konstituiert, schien sich unter ihrer Voraussetzung zu erübrigen. Ihre naturgesetzliche Umkodierung sollte Geschichte von der Unwägbarkeit der kontingenten Bedingungen menschlichen Lebens entlasten. Indem sie akzeptierten, dass ihr Leben im letzten Grund ohne sie entschieden wurde, machten die Menschen ihren Frieden mit dem als objektiv gesetzten Lauf der Welt. Menschen stehen vor dem Problem, sich in einer Welt einzurichten, die nicht von vornherein auf sie und ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Gerade weil diese Welt eigenen Regeln folgt, kann der Versuch ihrer universellen Bemächtigung ins Totalitäre kippen. Nicht nur der „Schlaf der Vernunft“, auch der „Tagtraum universeller Bemächtigung“ des kulturell und herrschaftstechnisch nicht Verfügbaren, gebiert Ungeheuer. Die strategischen Schnittstellen eines Menschseins aus eigener Kraft wahrzunehmen und dabei das Nichtverfügbare zu akzeptieren, fällt Menschen in ihrem beständigen Drang zur Grenzüberschreitung offensichtlich schwer. Auf die sich vermeintlich von selbst verstehende Faktizität geschichtlicher Ereignisse und ihre Fortschreibung zu einer in sich stimmigen Logik historischer Entwicklung antwortete deutsche Philosophie mit der Problematisierung der Kriterien für Fortschritt und Regression, um sich auf diese Weise im Spiel der Geschichte zu halten. Um „in seiner alten Linie eines Kampfes gegen den Westen“66 auch unter den Bedingungen industriellen Aufschwungs und nationalstaatlicher Existenz bleiben zu können, reagierte „deutscher Geist“ auf den Fortschrittspositivismus der Spätaufklärung mit der These, dass in jeder Entwicklung ein Überschuss an Möglichkeiten liege, der über ihre Ergebnisse hinausweise. Der Versuch, der Geschichte den eigenen Willen aufzuzwingen, zielt darauf, eine Abfolge widersprüchlicher und irritierend vielschichtiger Ereignisse zur Eindeutigkeit einer sinnhaften Ordnung zu gestalten. Menschen haben den intuitiven Drang, ihr Leben auf eigenen Entscheidungen zu gründen. In den Routinen fest gefügter Bedingungen ihres Lebens ist es ihnen wichtig, noch einmal von vorn anfangen zu können, auch wenn sich das zumeist als Illusion herausstellt. Die Annahme, Geschichte gründe sich allein auf der freien Entscheidung souveräner Subjekte, versuchte politische Entscheidungen aus der Geschichte selbst zu rechtfertigen – einer Geschichte, die bereits so aufbereitet war, dass 65 Ebd., S. 131 f. 66 Ebd., S. 111.

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Die philosophische Interpretation des Nationalsozialismus

sich politisch etwas mit ihr anfangen ließ. Politische Entscheidungen gewinnen an Plausibilität und Gewicht, wenn sie sich glaubwürdig als durch die Geschichte selbst autorisiert rechtfertigen können. Warum, wenn nicht, um im Blick auf die Vergangenheit etwas über das Woher ihrer eigenen Probleme zu erfahren, sollten sich Menschen sonst mit der Geschichte beschäftigen ? Im vermeintlich ganz Anderen vergangener Konstellationen und Konflikte bestätigt sich in dem, was als ähnlich wiedererkannt wird, zugleich auch die unverwechselbare Einzigartigkeit der eigenen soziokulturellen Lebensformen. Die Vergangenheit ist keine bloße Vorgeschichte der Gegenwart, in der alles Wesentliche bereits entschieden ist. Häufig ist es gerade die Konzentration aller Energien auf das Unmögliche, wodurch das Mögliche wirklich wird. In gesellschaftlichen Umbruchsituationen findet sich diese Mentalität im Selbstverständnis revolutionärer Avantgarden, die davon überzeugt sind, dem auf ihrem energischen Willen zur Veränderung gegründeten aktionistischen Handstreich könnten die starr und alt gewordenen Verhältnisse auf Dauer nicht widerstehen. Die Fokussierung auf die Geschichte als empirische Wissenschaft im Gegensatz zur Philosophie der Geschichte zielt darauf, die Ereignisse aus ihnen selber zu verstehen und zu schildern, wie es gewesen ist. „Im Geschichtsprozess geschieht nicht noch ein Anderes und Eigentliches, für das nun erst die Philosophie die Augen öffnen müsste. In ihm erfüllt sich nichts. So wie er [...] erscheint, ist er auch. Kein sich schließender Kreis, kein heimliches Enträtseln seiner selbst, sondern ein geradliniger Fortgang aus verborgenen Anfängen zu unabsehbaren Möglichkeiten.“67 Die Annahme eines in Anfang und Ende offenen Geschichtsprozesses verzichtet darauf, den Ereignissen Bedeutungen zuzuschreiben, die nicht in ihnen selbst liegen. Weder erfüllt sich in der Geschichte ein Sinn, der von vornherein in ihr angelegt war, noch ist sie eine bloße Aneinanderreihung von Ereignissen, deren Zusammenspiel keinen Sinn ergibt.68 Das wissenschaftliche Interesse an der Vergangenheit ist durch Fragen an die Gegenwart motiviert. Ohne einen Zusammenhang zwischen dem, was aus der Vergangenheit als relevantes Problem herausgearbeitet wird und dem, was sich in der Gegenwart aus dieser Vergangenheit als problematisch fortschreibt, würde die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ihre Plausibilität verlieren. Es ist ein Zusammenhang, der sich nicht allein durch das Kontinuum und die Brüche der Ereignisgeschichte herstellt, sondern der sich auch den Konstruktionen historischer Einbildungskraft verdankt. Menschen haben nicht nur ein Interesse daran, im möglichen Anschluss an bis in die Gegenwart reichende Traditionen sich ihrer Herkunft zu vergewissern, sondern sie suchen zugleich nach einem Sinn ihrer Existenz, der in den Ereignissen selbst nicht liegt. Es käme einer Selbstaufgabe gleich, auf den Anspruch einer in sich schlüssigen Lebensgeschichte zu verzichten. Die lebensgeschichtliche Fiktion, noch im Misslingen dessen, was zu erreichen sie sich vorgenommen haben, erfülle sich ein 67 Ebd., S. 127. 68 Vgl. ebd., S. 129 f.

Reichweite und Grenzen philosophischer Interpretation

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Sinn, hilft Menschen, das Scheitern ihrer Lebenspläne zu ertragen, ohne menschlich daran zu zerbrechen und sich selbst als gescheitert anzusehen. Auch wenn die Eigengesetzlichkeit geschichtlicher Entwicklungen sich nur partiell mit dem Eigensinn menschlicher Setzungen vermittelt, ist sie dennoch nichts anderes, als die Konsequenz eben dieser menschlichen Setzungen von Bedeutung. In der prägnanten Formulierung von Engels ist Geschichte das Resultat des Handelns der Menschen, die dabei ihre eigenen Zwecke und Interessen verfolgen, die jedoch im Ergebnis ihres Aufeinandertreffens bis zur Unkenntlichkeit ihrer ursprünglichen Intentionen verändert werden. Was jeder einzelne will, wird von jedem anderen durchkreuzt, und was schließlich im Ergebnis dieser aufeinander treffenden Willen entsteht, hat so keiner gewollt.69 In Anknüpfung an diese Formulierung schreibt Norbert Elias : „Die Verflechtung der Bedürfnisse und der Absichten vieler unterwirft jeden einzelnen von ihnen Zwangsläufigkeiten, die keiner von ihnen beabsichtigt hat. Immer von neuem nehmen die Taten und Werke der einzelnen Menschen, eingewoben in das gesellschaftliche Geflecht, ein Ansehen an, das nicht vorbedacht war.“70 In der Säkularisierung bleibt der ursprüngliche heilsgeschichtliche Impuls der Universalgeschichte als menschlicher Gestaltungsanspruch von Geschichte erhalten. Geschichte wird jetzt konzipiert als Medium der Selbstbestimmung des Menschen im Abbau äußerer und innerer Autoritäten. Im Anspruch, Geschichte in Kenntnis der Gesetze ihrer Formierung zu gestalten, erneuert sich das Pathos unbedingter Selbstbehauptung im Selbstverständnis souveräner historischer Subjekte. Dieser Anspruch trifft auf eine dezisionistisch nicht verfügbare Realität. Versuche, die Welt am Maßstab menschlicher Setzungen und Präferenzen zu gestalten, rechnen damit, dass sich historisch schließlich doch die Einsicht durchsetzt, es sei besser, gemeinsam an der Bewältigung menschheitlicher Probleme zu arbeiten, als sich gegenseitig das Existenzrecht zu bestreiten und sich zu bekämpfen oder zu vernichten. Der sich in dieser Zusammenarbeit konstituierende „allgemeine Wille“ setzt sich aus vielen, aufeinander nicht reduzierbaren individuellen Einzelwillen zusammen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Sichtweisen und Ziele, die Menschen in ihrem Handeln verfolgen, ist es ihnen dennoch möglich, erfolgreich zusammenzuarbeiten. Je unvollkommene und aufeinander in vielfältiger Weise angewiesene Menschen können sich gegenseitig ergänzen und bereichern. Gerade in der selbstbewussten Kultivierung ihrer jeweiligen Eigenart und bestehender Unterschiede können sie füreinander nützlich, interessant, attraktiv und wertvoll sein.

69 Vgl. Engels, Feuerbach, S. 296. 70 Elias, Gesellschaft, S. 93.

III. Imaginationen deutscher Eigenart 1. Säkulare Weltfrömmigkeit und Politik1 Religion und Politik waren in der deutschen Geschichte auf eigentümliche Weise miteinander verklammert :2 Politische Entscheidungen wurden mit religiösen Bedeutungen aufgeladen. In Kriegen wurde für Gott und Vaterland um den Sieg gekämpft. Säkulare Ersatzbildungen des Religiösen sorgten dafür, dass politischen Ereignissen ideologische Bedeutungen zugeschrieben wurden. Plessner hatte diese deutsche Spezifik säkularer Weltfrömmigkeit darauf zurückgeführt, dass ihre konfessionelle Bindung an eine politische Zwangsstaatskirche nach der Reformation die Gläubigen in Deutschland daran gehindert habe, ihre religiösen Energien in einem freikirchlichen Leben zu entfalten. Das habe in Deutschland zur quasireligiösen Aufwertung „bürgerlicher Existenz in der Arbeit eines Berufs“3 geführt. Verstanden als mit Bedeutungen angereicherte Pflicht sei hier die Arbeit zum Ort des Bekenntnisses und innerweltlicher Sinnhaftigkeit geworden. Innerlich verbunden mit seiner Arbeit waren Pflichterfüllung und gewissenhafte Arbeit für den Lutheraner eine Sache des Glaubens : Was immer auch von ihm verlangt wurde, nahm er als Pflicht, sein Bestes zu tun, um die Sache so gut und effektiv wie möglich zu Ende zu bringen. Er ging davon aus, dass die an ihn gerichteten Forderungen berechtigt waren. Diese Gründung des Arbeitsethos „auf die Tatgesinnung, nicht so sehr auf den Arbeitserfolg“4, so Plessner, hatte jedoch eine Kehrseite. War der Lutheraner in Einklang mit sich selbst und der guten Absicht, sein Bestes zu tun, erst einmal aus eigener Entscheidung bei der Sache, so war er bereit, auch sein Bestes zu geben. Ob es diese Sache tatsächlich wert war, in ihr alle seine Energie mit religiösem Nachdruck zu investieren, stand für ihn dann außer Frage. Die mentale Konditionierung der Bürger für kapitalistische Verhältnisse durch die protestantische Ethik, so weiter Plessner in der Übernahme entsprechender Argumentationen Max Webers, hatte ihren Nationen entscheidende Entwicklungsvorteile in der ökonomischen und politischen Konkurrenz gebracht. In den Ländern, denen mit der Reformation und der Trennung von Staat und Kirche ein freikirchliches Leben möglich war, habe das calvinistische Arbeitsethos als habituelle Initialzündung des Kapitalismus gewirkt. Deutsche Weltfrömmigkeit – die Auf ladung weltlicher Entwicklungen mit heilsgeschichtlichen Erwartungen – hatte mit historischer Verzögerung den gleichen Effekt einer mentalen Einstimmung auf die instrumentale Rationalität des Kapitalismus, den sie in den entwickelten westlichen Ländern als Gründungs - und Wirt1 2 3 4

Vgl. dazu Taylor, Zeitalter, und zur Kritik Joas, Option. Zum Stellenwert der Religion im spezifisch deutschen Übergang zur Moderne vgl. Nipperdey, Geschichte 1800–1866, S. 403–450 und Geschichte 1866–1918, S. 428–530. Plessner, Nation, S. 77. Ebd., S. 82.

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Imaginationen deutscher Eigenart

schaftsethos einer konstitutiven Beziehung von protestantischer Ethik und Geist des Kapitalismus gehabt hatte. Nun entschied nicht mehr eine religiös gegründete Wirtschaftsgesinnung über Vor - oder Nachteile in der wirtschaftlichen Konkurrenz. Die Unsicherheit der Heilsgewissheit im calvinistischen Gnadenpartikularismus hatte als konkurrenzlos effiziente habituelle Antriebsmotorik kapitalistischer Verhältnisse funktioniert. Sie war nun durch die nüchterne Traditionslosigkeit der von Ressentiments freien Kalkulation des eigenen Vorteils abgelöst worden. Der Calvinismus hatte die Arbeit um ihrer selbst willen normativ ausgezeichnet, ohne an sie jedoch die Aussicht auf ein Ende der Bewährung zu knüpfen. Nicht die Gewissheit, zu den von Gott Auserwählten zu gehören, sondern lediglich die Verheißung, im Verzicht auf irdisches Glück und Luxus und in der Mobilisierung aller Kräfte für die Arbeit zu denjenigen zu gehören, die überhaupt als auserwählt in Frage kamen, konnte der Calvinismus seinen Anhängern versprechen. Diese vage Aussicht, vielleicht zu den Auserwählten zu gehören, die in der prinzipiell nicht entscheidbaren Situation der Bewährung offen gehalten wurde, sicherte ihnen mit der religiös begründeten permanenten Anspannung ihrer Kräfte im ökonomischen Erwerbsleben die entscheidenden Vorteile in der wirtschaftlichen Konkurrenz. Da es ihnen nicht erlaubt war, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu genießen, entstand ein Überschuss an Anlage suchendem Kapital, ein struktureller Zwang zu effektiver Investition und Kapitalverwertung, der als unbeabsichtigter Nebeneffekt ihrer religiösen Gesinnung die calvinistischen Länder als Trendsetter des Kapitalismus in eine ökonomische Führungsposition brachte. In nazistischer Diktion las sich das so : „Die jüdisch - christliche Lehre des Calvinismus wurde die geistige Triebkraft des Kapitalismus [...] Die Erwählung in diesem jüdisch - calvinistischen Sinne geschieht durch Gott dadurch, dass er den Menschen wirtschaftlichen Erfolg gewährt, der in rastlosem Geschäftemachertum erneut dem Erwerb zugeführt wird. Dadurch entsteht jener durchaus freudlose und hetzende Zug in der Arbeit, wie er bei den angelsächsischen Demokratien charakteristisch ist.“5 Vernunft, Geist, Leben und Volk, auch Kultur, hatten sich in Deutschland als Begriffe mit einem religiösen Untergrund etabliert, der ihr Aufgehen in den weltlichen Zusammenhängen, für die sie standen, verhinderte. In christlicher Tradition und Kultur stehend, suchten die Deutschen den Halt, den sie am Christentum verloren hatten, nun in weltlichen Ersatzbildungen des Religiösen, die ihnen ihre Zugehörigkeit zu einer Welt verbürgen sollten, die auch ohne den Menschen auskam.6 Diese Weltfrömmigkeit wurde ihnen zu einer Ersatzreligion, in der weltliche Mächte mit dem Anspruch einer quasireligiösen Bedeutung auftraten. Äußere Unterdrückung und innere Freiheit auf der einen und Autoritäts5 6

Schacht, Erlebnis, S. 34. Vgl. ebd., S. 132. Diese Konstellation war Ausgangspunkt so unterschiedlicher Denker wie Martin Heidegger, Carl Schmitt, Karl Jaspers und Max Scheler, die auf je eigene Weise wieder anthropologisch - existentiellen Grund in eine Welt im Leerlauf sinnfreier Routinen zu bringen versuchten, in die der Mensch geworfen sei.

Säkulare Weltfrömmigkeit und Politik

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tradition als „Militär - und Verwaltungsfrömmigkeit“ auf der anderen Seite gingen in „deutscher Innerlichkeit“ eine national spezifische geistige Verbindung ein. Daher „die Freude an der Unterordnung, an militärischer und technischer Disziplin, am Organisieren und Organisiertwerden“ bei gleichzeitiger „deutscher Neigung, Staat und Wissenschaft ins Maßlose zu übersteigern und mit philosophischen Ideen zu umgeben“.7 Als national fragmentiertes, in Hunderte Klein - und Kleinststaaten gegliedertes Gebilde wurde Deutschland im 17. Jahrhundert von der europäischen Nationalstaatsbildung abgekoppelt. In der geschichtsphilosophischen Spannung zwischen dem Mythos des vorgeschichtlichen Anfangs und dem heilsgeschichtlichen Versprechen der weltbürgerlichen Mission wurde in Deutschland jede Gegenwart als Vorstufe des Übergangs zur künftigen nationalen Einheit relativiert. In der Erinnerung an das untergegangene Reich und mit dem ideellen Vorgriff auf seine als möglich unterstellte Erneuerung in einem großdeutschen Nationalstaat gewann diese Spannung politische Bedeutung. Die säkulare Weltfrömmigkeit der lutherischen Kirche verhinderte nicht nur eine klare Trennung von religiösen und weltlichen Angelegenheiten. Sie war zugleich verantwortlich für eine spirituelle Höhenlage der Politik, die noch Plessners eigene, an Carl Schmitt angelehnte, Begriffsbestimmung des Politischen als „Ermächtigung des Menschen zu sich selbst“8 prägte. Die Indifferenz der Deutschen gegenüber der Politik und ihre Flucht in Ersatzformen der Innerlichkeit führte Plessner auf Luthers „Dualismus zwischen einem areligiösen Staatsleben und einem religiösen, außerkirchlichen Berufs - und Privatleben“9 zurück. Deutsche Kultur war „säkularisiertes Luthertum, nicht säkularisiertes Christentum“.10 Die Fortschreibung der Glaubensspaltung in der Säkularisierung trug die religiöse Spannung in weltliche Bereiche. Eine religiös indifferente Weltlichkeit gab es in Deutschland nicht. Die befreiende Wirkung der Glaubensspaltung, sich als katholisch oder protestantisch zu seiner eigenen Konfession bekennen zu müssen, um im „freien Spiels religiöser Kräfte aus dem Bewusstsein der Fraglichkeit der eigenen Konfession heraus“11 zu seiner Entscheidung zu stehen, fiel in Preußen und den meisten anderen deutschen Klein - und Kleinststaaten mit der Institutionalisierung des Protestantismus zur Staatsreligion weg. Die religiöse Zugehörigkeit der Bürger wurde nun politisch durch die Konfession der Landesherren entschieden. Den Gläubigen war das Bekenntnis zu ihrem Glauben damit abgenommen. Die Kirche wurde unter diesen Bedingungen zu einer bürokratischen Organisation, die sich von anderen Organisationen dieser Art nur dadurch unterschied, dass sie eben Religion, und nicht Bildung, Recht oder Politik verwaltete. Ohne die Möglichkeit des persönlichen Bekenntnisses wurde die religiöse Zugehörigkeit zu einer Formalität. 7 8 9 10 11

Plessner, Nation, S. 164 f. Plessner, Macht, S. 200. Plessner, Nation, S. 83. Ebd., S. 89. Ebd., S. 74.

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Imaginationen deutscher Eigenart

Gestützt durch eine quasireligiöse Kultur, konnte es sich der Staat erlauben, selbst religiös indifferent zu sein.12 Die kulturelle Sozialisation der Menschen zu inner weltlicher Religiosität erübrigte staatliche Inter ventionen in religiöse Angelegenheiten. Diese Ambivalenz von Reformation und deutschem Protestantismus hatte der junge Marx prägnant auf den Punkt gebracht: „Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. [...] Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat.“13 Strukturen der Unterdrückung freier Selbstverwirklichung reproduzierten sich in der Verinnerlichung dessen, was als äußere Repression zurückgewiesen wurde. Eine „von außen legitimierte Fremdherrschaft wird durch die von innen legitimierte Selbstherrschaft“14 abgelöst. Der Staat selbst wurde mit einer göttlichen Autorität ausgestattet, die auf jede zusätzliche religiöse oder metaphysische Rechtfertigung verzichten konnte. In ihm fühlte sich eine religiös indifferente, auf ihre Funktionalität reduzierte Bürokratie in quasireligiöser Sanktionierung zu Höherem berufen. Schließlich war innerweltliche Religiosität erst als religiöse Antwort auf das mit protestantischer Innerlichkeit nicht vereinbare Bündnis von Kirche und Staat entstanden. Gerichtet gegen die Entmündigung der Gläubigen durch die Autorität einer Staatskirche war protestantische Innerlichkeit auch Ausdruck religiöser Selbstbestimmung. Zu dieser vom deutschen Idealismus aufgenommenen protestantischen Tradition der Selbstbestimmung, so legte Plessner nahe, konnte man sich uneingeschränkt bekennen. Dadurch vertiefte sich der Bruch zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Bekenntnisgemeinschaften, um die sich eine Diskussionskultur entwickelte, bildeten sich hier außerhalb von Religion und Politik in Wissenschaft und Philosophie heraus.15 Die geistige und politische Diskussion war nicht mehr in das kulturelle Milieu einer Religion eingebunden. Das freie, schöpferische Spiel der Interessen wanderte aus Staat und Kirche in weltliche Bezirke ab. In Deutschland bildete sich eine nach weltanschaulichem Ausdruck ringende Weltfrömmigkeit heraus, die für das quasireligiöse Pathos und den weltanschaulichen Ernst der „zwischen Rechtfertigungsverlangen und titanischem Weltvertrauen“16 eine religiöse Spannung aufbauenden deutschen Kultur verantwortlich war. Eine Säkularreligion des Nationalen profilierte sich als geistige „Achse“ und „Rückgrat“17 nationaler Identität. Der lutherische Protestantismus hatte religiöse Energien entbunden, deren Entfaltung in freier religiöser Betätigung er durch seine zwangsstaatskirchliche Organisation gleichzeitig verhinderte. Die daraus 12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 89. Marx, Kritik, S. 386. Plessner, Nation, S. 68. Vgl. Habermas, S. 69 f. Plessner, Nation, S. 88. Ebd., S. 183.

Säkulare Weltfrömmigkeit und Politik

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resultierende Spannung musste sich in weltlichen Ersatzformen des Religiösen abbauen. In dieser lebendigen Weltfrömmigkeit wurden die Deutschen zur „persönlichen Auseinandersetzung [...] mit Welt und Gott“18 kulturell sozialisiert, verantwortlich nur ihrem Gewissen und ihrem Gott. Als persongebundene Weltanschauung, so Plessner, sei der säkularisierte Protestantismus antiautoritäre, aus sich selbst schöpfende Kreativität geworden. Weder in religiösen noch in weltlichen Angelegenheiten akzeptierte der säkularisierte Protestant Autoritäten. Diese Kultur atme „in ihrer Innerlichkeit und Freude am Schöpferischen, in ihrem Pathos der persönlichen Ursprünglichkeit, in ihrem kämpferischen Enthusiasmus, ihrer spekulativen Tiefe und dem leidenschaftlichen Ungenügen an einer bestehenden Ordnung lutherischen Geist ewigen Protestantentums“.19 Diese Bestimmung stand der „politischen Resignation des Lutheraners“, die Plessner an anderer Stelle ausdrücklich dem „nonkonformistischen Oppositionsgeist“20 des Calvinismus gegenübergestellt hatte, konträr entgegen. Dem deutschen Protestantismus war die Spannung zwischen kritischer Selbstbestimmung und konformistischem Opportunismus als religiöser Habitus eingeschrieben. Nach einem Sinn seines Lebens suchte der gläubige Protestant außerhalb des Politischen und seiner staatskirchlichen Sanktionierung. Indifferent gegenüber der Politik traute er sich ein eigenes Urteil zu religiösen und politischen Angelegenheiten nicht mehr zu. In der zur Außeralltäglichkeit gespannten Situation religiöser Bewährung beantwortete er die Säkularisierung der Religion mit der religiösen Auf ladung des Weltlichen. Dagegen hatte die calvinistische Überordnung der Kirche über den Staat den rechten Glauben dem gesellschaftlich - staatlichen Leben prinzipiell entgegengesetzt. Mit der institutionellen Verklammerung von Religion und Staat im lutherischen Protestantismus war der Geist des Protestantismus aus den staatskirchlichen Verhältnissen gewichen. Religiöse Energien waren in weltliche Bereiche abgewandert, die sich als unpolitisch verstanden. Unter dieser Bedingung war es eher unwahrscheinlich, dass sich das von Plessner als Markenzeichen des lutherischen Protestantismus beschworene leidenschaftliche Ungenügen an jeder bestehenden Ordnung zum politischen Protest gegen diese Ordnung radikalisieren würde, die noch dazu durch die Kirche zu einer von Gott gewollten weltlichen Ordnung verklärt war. In der Erklärung der Religion zu einer persönlichen Angelegenheit, deren freie Ausübung politisch garantiert wurde, rückte die Politik als eine wertneutrale Sphäre aus der Kampf linie religiöser Auseinandersetzungen. Es war der Gewissensentscheidung jedes Einzelnen überlassen, in welchem, allerdings politikfernen, Bereich er seine religiöse Energie auf der Suche nach einem die Endlichkeit seines Daseins übergreifenden Sinn investierte. Ließ der weltfromme Protestant „den Politiker gewähren“21, so konnte er im Gegenzug erwarten, dass 18 19 20 21

Ebd., S. 80. Ebd., S. 89. Ebd., S. 83. Ebd., S. 76.

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die Politik auf Interventionen in seine persongebundene Weltanschauung verzichten würde und ihn in seinen weltlichen Angelegenheiten gewähren ließ.22 Diese Übereinkunft wechselseitiger Nichteinmischung beförderte die Ausbildung einer politisch indifferenten geistigen Hochkultur. Was an der polemischen Oberfläche einer Konfrontation der „Ohnmacht des Geistes“ und einer „geistlosen Politik“ als Polarität nicht vermittelbarer Gegensätze erschien, verdankte sich im Ausgang dieser für Deutschland spezifischen Konstellation einer Kompromissbildung. Geistige Freiheit wurde mit dem Verzicht auf politische Bedeutung erkauft. Zugleich hielt sich der Geist frei von kompromittierenden Verwicklungen auf der Ebene machtpolitischer Konflikte und Entscheidungen, stilisierte er politische Indifferenz als geistige Unabhängigkeit. Das nationale Pathos des Deutschen diskutierte Plessner unter dem Stichwort der Kultur als einem deutschen Schicksal. In seiner biographischen „Selbstdarstellung“ stellte Plessner die rhetorische Frage : „Musste es zu Hitler und totaler Entmenschlichung kommen ? Gewiss nicht. Es gab andere Möglichkeiten zur Zeit der Weimarer Republik.“23 Nur weil die „aufklärerischen Kräfte“ zu schwach waren, vollzog sich als Schicksal, was so nicht hätte kommen müssen.24 Zwar war Plessner sich der deterministischen Züge der von ihm benutzten Schicksalsmetaphorik bewusst. Aber auch seine eigene Argumentation kann den Eindruck erwecken, er sei der Auffassung, dass „sich aus der Genese der Bürgerlichkeit alle Konsequenzen des Verfalls politischer Kultur im Deutschland des 20. Jahrhunderts notwendig ergeben“25 mussten. Ihr Schicksal assoziierten die Deutschen mit Schwere und dem Pathos der Tiefe. Kultur – der „deutsche Inbegriff für geistige Tätigkeit und ihren Ertrag im weltlichen Felde“ – wurde zum Synonym einer eigentümlichen „Tiefe verweltlichter Frömmigkeit“.26 In ihr vollzog sich der Funktionswandel des Religiösen vom kirchlichen zum weltlichen Leben. In dieser Kultur innerweltlicher Frömmigkeit konnte sich das Bewusstsein eines historischen „Sonder weges“ zur pathetischen Selbstermächtigung einer völkischen Mission steigern. Weltliches Handeln wurde mit einer religiösen Bedeutung aufgeladen die verhinderte, dass es in den pragmatischen Vollzügen einer nüchternen, zielorientierten Handlungsrationalität aufging. Neben seiner weltlichen Bedeutung wurde diesem Handeln nun ein geistiger Sinn zugeschrieben, der es erlaubte, zwischen seinem vermeintlichen und seinem eigentlichen Sinn zu unterscheiden. Der als eigentlich behauptete Sinn menschlichen Handelns erschöpfte sich nicht darin, dass Menschen gelang, was zu erreichen sie sich vorgenommen hatten. Nicht, was sie mit ihrem Handeln im Sinn hatten, sondern was die Geschichte, die Nation, die Partei oder ein anderes überindividuelles Großsubjekt mit ihnen im Sinn 22 Der Gründungsvertrag bürgerlicher Gesellschaft ist von Marx als Pakt gegenseitiger Nichteinmischung unter dem Label politischer Emanzipation bzw. Freiheit ausführlich in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ analysiert worden. 23 Plessner, Selbstdarstellung, S. 335. 24 Vgl. ebd. 25 Rehberg, Werk, S. 804. 26 Plessner, Nation, S. 82.

Säkulare Weltfrömmigkeit und Politik

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hatte, wurde in dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion zur eigentlichen Bedeutungsebene des Geschichtlichen erklärt. In dieser Spiritualisierung der Geschichte hängt die „Größe eines Menschen [...] von der Kraft ab, mit der Ideen in ihm wirksam sind, ein Mensch ist soviel wert, wie das Ideal, das er verwirklicht“.27 „Weltanschaulichen Ernst“, „globale Großartigkeit“, „persongebundene Fragwürdigkeit“, „innerweltliche Weltoffenheit“ und „Weltfrömmigkeit“ identifizierte Plessner als Habitusformen des deutschen Bürgertums. Deutschlands ideelle Entfremdung von der westlichen Welt erklärte er aus konfessionellen Gegensätzen und ihren weltlichen Konsequenzen. Gerade weil hier nicht nur Traditionen historisch gewachsener Bürgerlichkeit, sondern auch ins Religiöse zurückreichende Voraussetzungen der formalen Demokratie gefehlt hätten, habe in Deutschland eine „Diktatur mit rein weltlicher Ideologie“28 Fuß fassen können, ohne auf religiös gegründete Widerstände einer im Volksbewusstsein verwurzelten Demokratie zu treffen. Die innerweltliche Weltfrömmigkeit sei als weltanschaulicher Ernst, dem säkularen Substitut religiösen Eifers, nicht weniger missionarisch als das religiöse Original. Indem hier „die klaren Abgrenzungen zwischen innerkirchlicher und außerkirchlicher Frömmigkeit“29 ver wischten, sei für das vom Zwang der Behauptung der eigenen Position entlastete Spiel der Differenzen dessen, was Menschen aus individuell je plausiblen Gründen auf unterschiedliche Weise „heilig“ sei, kein Raum mehr geblieben. Der Rigorismus weltanschaulicher Prinzipien habe Ausnahmen und Relativierungen nicht zugelassen, die Möglichkeit einer Pluralität weltanschaulicher Grundsätze ausgeschlossen und stattdessen auf der Austragung der Gegensätze im „weltanschaulichen Entscheidungskampf“ bestanden. Während dem religiösen Eifer innerkirchliche Grenzen in der Missionierung der Ungläubigen gesetzt waren, kannte der Ernst der weltanschaulich - ideologischen Mission solche Grenzen nicht. Gegründet in der Universalität von Prinzipien, die mit einem Selektionsmechanismus von Zugehörigkeit und Ausschluss funktional gekoppelt waren, stand der mit weltanschaulichem Ernst betriebene politische Konfessionalismus in der Gefahr der Selbstermächtigung zum totalitären Übergriff. Eine innerweltliche Kultur in religiöser Funktion konnte sich zur politischen Religion radikalisieren.30 Das Pathos heilsgeschichtlicher Erlösung konnte sich in politischen Bewegungen programmatisch zu Phantasien und Praktiken politischer Endlösungen steigern. Die Heilsenergie lutherischer Weltfrömmigkeit sublimierte das Verlangen nach Rechtfertigung des Handelns durch eine höhere Instanz, und damit nach Entlastung von moralischer Verantwortung für das eigene Tun, zum Vertrauen in die moralische Ordnung der Dinge. Sie holte die Religion aus dem Himmel 27 28 29 30

Dettelbach, Genialisierung, S. 90. Plessner, Nation, S. 69. Ebd., S. 87. Vgl. Maier, „Totalitarismus“.

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Imaginationen deutscher Eigenart

der Moral auf die irdische Ebene der Interessen und Kompromissbildungen herab. Unterstellt wurde nun, moralisches Verhalten sei in eigengesetzliche Handlungsvollzüge eingeschrieben und folge hier, unabhängig von den Intentionen der Handelnden und den Folgen ihres Handelns, einer eigenen Logik. Eine heimatlos gewordene Religiosität musste auf weltliche Ersatzbildungen zurückgreifen. Die deutsche Tradition, dem Leben eine spekulative Bedeutung zuzuschreiben, gründete in solchen Ersatzbildungen des Religiösen. Auf diese Weise war eine Welt eigener Rationalität entstanden, die für sich beanspruchte, gegenüber der profanen Oberfläche des alltäglichen Lebens das Eigentliche, Wesentliche, Tiefe und Sinnhafte zu sein.31

2. Deutschland als „philosophische Nation“ Die Philosophie war in Deutschland der symbolische Ort der Vergewisserung nationaler Identität. In Zeiten nationaler Fragmentierung diente sie der kulturellen Selbstverständigung der Deutschen über ihren zeitlos - zeitgeschichtlichen Standort. In ihr wurden die Entwicklungen ideell durchgespielt, die im weltgeschichtlichen bzw. europäischen Maßstab auf der politischen Tagesordnung standen, während Deutschland selbst andere Wege ging. In der deutschen Philosophie wurde das Trauma der verhinderten deutschen Nation zur Geistesgeschichte einer weltgeschichtlich ambitionierten Vernunftnation umgeschrieben. Auch Horkheimer sah in der Zurückhaltung der spekulativen Philosophie gegenüber der Pragmatik des Politischen – bei aller Zwiespältigkeit dieses Rückzugs in die Sphäre des Unpolitischen – einen Vorzug deutscher Philosophie. Nicht zuletzt auf Grund des spezifischen Stellenwerts der Philosophie in Deutschland habe die Philosophie hier Entwicklungen vorweg genommen, die dadurch bereits in ihren vielschichtigen Facetten und Ambivalenzen aus einer Perspektive kritischer Distanz wahrnehmbar gewesen seien, lange bevor sie tatsächlich für Deutschland politisch relevant wurden. Gleich dem deutschen spekulativen Denken müsse auch kritische Theorie der bestehenden den Begriff einer idealen Gesellschaft entgegensetzen.32 Die Fähigkeit der idealistischen Philosophie zur imaginären Grenzüberschreitung des Gegebenen habe ihre Entsprechung in einer politischen Aggressivität Deutschlands. Ihre prinzipielle Revolte gegen als unabänderlich gesetzte Bedingungen sei die Reflexionsform der Unfähigkeit Deutschlands, sich mit seinen nationalen Grenzen auszusöhnen.33 Diese Korrespondenz von deutscher Philosophie und der politischen Existenzform des deutschen Bürgertums habe weitere Folgen : Deutsche Philosophie bringe „eine Ambiguität der Deutschen selbst zum Ausdruck. Wenn sie niemals wirkliche Citoyens wurden und so teilweise unzivilisiert blieben, wur31 Vgl. Plessner, Nation, S. 117. 32 Vgl. Horkheimer, Erneuerung, S. 192. 33 Ebd., S. 187 f.

Deutschland als „philosophische Nation“

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den sie doch auch niemals völlige Bourgeois, söhnten sich also nicht selbstgefällig mit dem intellektuellen und politischen status quo aus“.34 Diese „Ambiguität der Deutschen“ sei gegründet in der Existenzform des Unfertigen, Ruhelosen, der Grenzüberschreitung aus Prinzip. Unfähig und unwillig, gesellschaftliche Verhältnisse und Ereignisse zu akzeptieren, waren sie bereit für gewaltsame Akte politischer Sinngebung. In der „konstitutiven Unruhe“ der Spannung zwischen verhinderter nationaler Größe und weltbürgerlicher Imagination hatte Plessner den Ausgangspunkt für die philosophische Stilisierung der Deutschen zum „Vernunftvolk“ gesehen. Seine Fokussierung auf eine Prozessrationalität des Universellen, auf das Kontinuum eines Werdens, das in keinem Sein zum Stillstand kommen könne, habe Deutschland zum Ungenügen an jedem Resultat konditioniert, das nicht zugleich das Versprechen auf ein Mehr enthalte. Diese von Plessner als deutsche Spezifik einer „philosophischen Nation“ behauptete Mentalität „konstitutiver Unruhe“ als eines prinzipiellen Ungenügens am Bestehenden war in sich selbst ambivalent und offen für ganz unterschiedliche Konkretisierungen. Sie konnte einerseits dazu benutzt werden, die Kontingenz historischer Entwicklungen mit der Absolutheit geschichtsphilosophischer Prinzipien zu konfrontieren, die sich in ihnen realisieren würden. Sie konnte aber auch auf die Fragwürdigkeit, Revisionsmöglichkeit und Korrekturbedürftigkeit eben solcher historischer Zustände verweisen, die für sich in Anspruch nahmen, die Geschichte zu einem nicht mehr überbietbaren Höhepunkt und damit zu ihrem schlüssigen Ende gebracht zu haben. Deutsche Literaten und Philosophen des 19. Jahrhunderts reagierten auf nationale Fragmentierung und politische Reaktion mit der Universalisierung politischer Ambitionen zur weltbürgerlichen Gestaltungsabsicht. Die Geschichte der Deutschen vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates wurde philosophisch als eine Geschichte der Kompensationen und Antizipationen, der Imaginationen und Wunschbilder nationaler Existenz geschrieben. In ihnen entfalteten imaginierte Bedeutungen und vorgeschichtliche Mythen des Deutschen ein Eigenleben. Mit ihrer mystisch - religiösen Auf ladung des Völkischen und ihrer Weigerung, das deutsche Problem begriff lich - systematisch zu versachlichen, kam hier einer spekulativen Romantik eine besondere Bedeutung zu.35 In Zeiten nationaler Fragmentierung nahm die Philosophie den nationalstaatlichen Gründungsakt im Entwurf eines weltbürgerlichen Universalstaates ideell vor weg. Diese weltbürgerliche Säkular variante des Gottesstaates konzipierte den Staat als weltliche Verkörperung des Absoluten und Universellen. Die Verweltlichung absoluter Ideen im normativen Konzept des politischen Humanismus, der kulturelle Universalien zu allgemeinen Bürger - und Menschenrechten erklärte, erschien im Raster der religiösen Sendung als unzulässige Profanisierung. Der Konflikt zwischen beiden Varianten sich als universell verstehender 34 Ebd., S. 192 f. 35 Vgl. Safranski, Romantik.

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Imaginationen deutscher Eigenart

Politik war dadurch vorprogrammiert. Politischer Humanismus und völkische Politik standen sich als grundsätzliche Alternativen gegenüber. Die Unvereinbarkeit ihrer Grundprinzipien ließ Kompromisse nicht zu. Die politische Auseinandersetzung zwischen ihnen musste prinzipiell entschieden werden. Das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen war das einer imaginären Nation auf der Höhe der Zeit. Die Philosophie sah es als ihre Aufgabe an, dieser imaginären Nation eine ideelle Existenz in weltbürgerlicher Höhenlage zu ermöglichen. Sie verweigerte sich den politischen und kulturellen Beschränkungen der deutschen Situation, in dem sie die ( klein )deutschen Fragmentierungen nicht zur großdeutschen Einheit ergänzte, sondern zur weltbürgerlichen Identität verallgemeinerte. Dadurch gewann sie eine über diese Beschränkungen hinausweisende nationale Bedeutung. Das Verhältnis von Macht und Geist, von Politik und Kultur, schließlich von Staat und Philosophie war seit Fichte ein prominentes Thema deutscher Philosophie. Dabei wurde der Staat zur philosophischen Kunstfigur der politischen Realisierung des Absoluten erklärt, das in ihm zur vorerst imaginären Bezugsgröße einer staatsbürgerlich verbindlichen Existenz wurde. Der Staat war hier nicht lediglich höchster Gegenstand politischer Philosophie, sondern stand zugleich für eine mögliche politische Bedeutung von Philosophie. Mit der symbolischen Aufwertung des Staates arbeitete die deutsche Philosophie ihrer politischen Entwertung entgegen. Damit wurde sie jedoch nicht zur beliebig instrumentalisierbaren Staatsphilosophie, die die Institution des Staates schlechthin, in welcher politischen Gestalt auch immer, schon aus Prinzip rechtfertigte. In seiner philosophischen Bestimmung als „Verkörperung des Absoluten“ war der Staat vielmehr in der Tradition Hegels ausdrücklich gegen seine Reduktion auf pragmatische Machtpolitik gesetzt. Auf der Suche nach Gelegenheiten, ihre geistige Führungskompetenz auf dem Feld des Politischen nachzuweisen, blieb die Philosophie in der politischen Warteschleife. In der philosophischen Aufwertung des Staates suchte sie den Umkehreffekt ihrer eigenen politischen Aufwertung und die Anerkennung ihrer fragwürdig gewordenen kulturellen Funktion zu provozieren. In der Hegel’schen Philosophie wurde das nationalgeschichtliche Defizit der Deutschen an politischen Traditionen, zu denen sie sich rückhaltlos hätten bekennen können, zum begriff lichen Universum eines hierarchisch gegliederten „absoluten Geistes“ verfremdet. Mit ihm hatte Hegel ein philosophisches Kunstsubjekt entwickelt, das als „Volksgeist“ zum Versprechen einer in seiner Universalität zugleich nationalen Existenzform der Deutschen wurde. Damit sollte auf der symbolischen Ebene der Identitätskonstruktion historischer Subjekte die Gleichwertigkeit der Deutschen in der Gleichursprünglichkeit weltgeschichtlicher Entwicklung hergestellt werden. Der Hegel’sche „Volksgeist“ war nicht nach dem Territorialprinzip nationalstaatlicher Ordnung gegliedert, sondern als Steigerung der Komplexität und Reflexivität des Freiheitsbewusstseins konzipiert. Die philosophische Konstruktion des Volkes trat an die Stelle des verhinderten Nationalstaates. Als politisches Subjekt weltgeschichtlicher Ent-

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wicklung frei von den pragmatischen Zwängen des Politischen war das deutsche Volk noch vor der Gründung eines deutschen Nationalstaats weltgeschichtlich dabei. Die Neugründung des Deutschen Reiches durch Bismarck fand zu einer Zeit statt, als die neuen Wirklichkeitswissenschaften die idealistische Philosophie als lebensweltliche Autorität bereits ersetzt hatten. Der idealistische Vernunftbegriff schien zu unspezifisch, um den Anschluss an die politischen und ökonomischen Entwicklungen der deutschen Industriegesellschaft zu halten. In der neuen Selbst - und Weltauffassung zählten nur noch die „Wirklichkeit und ihr Kräftespiel“.36 Der Bismarcksche „Machtstaat ohne humanistisches Rechtfertigungsbedürfnis“37 verzichtete auf ein Bekenntnis zu übernationalen Idealen. Die preußische Prägung der deutschen Reichsgründung, der „Formalismus der Unterordnung und Pflichterfüllung“38, erleichterte Deutschland den Anschluss an den Entwicklungsstand der führenden kapitalistischen Nationen. Die Reichsgründung kam zu spät, um im Anschluss an die weltbürgerlichen Phantasien der deutschen Klassik dem Reich eine Bedeutung zuzuschreiben, die über seine machtpolitischen Ambitionen hinausging. Erich Mühsam hat diese machtpolitische Ernüchterung des Pathos der Bismarckschen Reichsgründung einprägsam beschrieben : „Man wollte die Zusammenschließung aller deutschen Stämme zu einem einheitlichen Staate, und man erhielt ein Reich, aus dem der älteste deutsche Stamm, Österreich, ausgeschlossen war [...] Man wollte die Vereinigung Deutschlands, um die Einzelvölker in einem großen nationalen Schmelztiegel aufgehen zu lassen – ein psychologisch, ethnologisch, historisch und geographisch absurder Wunsch –, und man erreichte, dass eines der zu absorbierenden Länder, Preußen, [...] formell und de facto die unbestrittene Vorherrschaft im deutschen Reich gewann.“39 Dennoch war die deutsche Tradition, das Nationale philosophisch zu verfremden und ihm im Volk oder dem „Volksgeist“ eine philosophische Karriere zu eröffnen, nicht schon dadurch zu Ende, dass der Staat selbst nach vollzogener nationaler Einigung und Nationalstaatsgründung neben der politischen nunmehr auch die geistige Führung beanspruchte. Die Philosophie trat nicht automatisch ins zweite Glied zurück, sondern bestand weiterhin auf ihrer nationalen Repräsentativfunktion. Die historische Legitimation dazu wurde ihr von der Politik selbst zugespielt. Die aggressive expansionistische Aufholjagd des Reiches zur Gründung eines deutschen Imperiums verhinderte, dass die deutsche Philosophie in ihrem Selbstverständnis als nationale Institution zum historischen Anachronismus wurde. Ihre nationalen Dispositive und geistigen Legitimationen wurden politisch immer noch gebraucht. Schließlich war die Geschichte nationaler Frustrationen und deutscher Depressionen mit der Gründung des deutschen Nationalstaates keineswegs beendet. In einem nachholenden Impe36 37 38 39

Plessner, Nation, S. 47. Ebd. Ebd., S. 53. Mühsam, Einigung, S. 238 f.

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rialismus ging es jetzt darum, das nationalstaatliche Gewicht Deutschlands in einer erfolgreichen Kolonialpolitik zur Geltung zu bringen.40 Im Bewusstsein, sich damit auf dem schmalen Grat einer Entlastung der Ideen von der Verantwortung für ihre politischen Wirkungsgeschichten auf der einen, und ihrer ebenso eindeutigen wie einseitigen Belastung auf der anderen Seite zu bewegen, stellte Plessner zum Zusammenhang von Ideengeschichte und politischer Bewegung grundsätzlich fest : „Jeder große Gedanke, welcher die Massen ergreift, formt ihre Erwartungen und wächst an ihnen zur Tat. Er verliert seine Feinheit und Tiefe, seine Unbestimmtheiten und Fragwürdigkeiten, seine Offenheit und Bildsamkeit. Er wird grob, flach und massiv. Aber noch in dieser von den Bedürfnissen der Massenpropaganda erzwungenen Rohheit bewahrt er den Zusammenhang mit seiner geistesgeschichtlichen und ideologischen Herkunft. Selbst in der scheinbaren Endgültigkeit grundsätzlicher Dogmatik bleibt er dem geschichtlichen Wechsel verbunden und in Wahrheit dazu bestimmt, jene noch unbekannten Kräfte zu wecken, welche das Kommende vorbereiten.“41 Diese von Plessner am Beispiel der Lebensphilosophie und ihrer politischen Radikalisierung entwickelten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen philosophischen Ideen, weltanschaulichen Überzeugungen und politischem Handeln sind es wert, im Detail und Schritt für Schritt durchgegangen zu werden. Weder der Ver weis auf die Unschuld der Ideen noch das Bestehen auf der alleinigen Schuld der Politik helfen weiter, wenn es darum geht, das historische Verhängnis fehl laufender Entwicklungen zu erklären. Das Scheitern der Politik hat seinen Grund nicht zwingend in der Ignoranz von Politikern, die sich der Herausforderung großer ideeller Entwürfe durch den Rückzug in die kleinliche Pragmatik des tagespolitischen Geschäfts entziehen. Die Annahme, es läge „etwas im Wesen der abendländischen Philosophie, das sie [...] dazu zwingt, einer fremden Macht zu dienen“42, scheint nahe zu legen, ihre Geschichte als historische Abfolge der Mächte zu schreiben, denen die Philosophie jeweils gedient hat. Nach ihrer dienenden Anlehnung an Religion und Erfahrungswissenschaften wäre es dann eben die Politik gewesen, der sich die Philosophie als Ideologie zur Verfügung stellte. Gegen eine solche vereinfachte Sicht, die die Philosophie auf ihre Eignung zur Rechtfertigung politischer Zwecke reduzierte, stellte Plessner die Spezifik der deutschen Situation als einer national eigentümlichen Konstellation der Bezugsmächte philosophischen Denkens heraus. Nicht die Fähigkeit der Philosophie, sich aus politischen Konflikten und lebensweltlichen Problemen herauszuhalten, sah er als Zeichen ihrer Größe, sondern ihre der Welt und dem Leben selbst zugewandte Offenheit für deren Probleme. In dieser Haltung könne sie geistige Horizonte des Politischen eröffnen, die in den pragmatischen Routinen 40 Vgl. Schmokel, Traum sowie Hildebrandt, Reich. 41 Plessner, Nation, S. 211 f. 42 Ebd., S. 163 f.

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des politischen Tagesgeschäfts keine Chance hatten, zur Geltung zu kommen. Philosophische Ideen können Erwartungen setzen, Versprechen formulieren oder diffuse Gefühlslagen zur stimmigen Zeitdiagnose verdichten. Vereindeutigt zu praktischen Lösungsvorschlägen oder politischen Ideologien verspielte Philosophie die Möglichkeit, Geschichte in der Spannung uneingelöster Erwartungen für neue Entwicklungen offen zu halten. Als ideologische Dogmen, so Plessner, würden philosophische Ideen ihre offene Unbestimmtheit zugunsten flacher Eindeutigkeit aufgeben. Andererseits hätten philosophische Ideen ohne den Umweg über das ideologische Dogma keine Chance, politisch wirksam zu werden : Das ideologische Dogma sei die ihnen gemäße politische Bewegungsform – die Form, in der die Philosophie durch ihre Eindeutigkeit und Verflachung politisch etwas bewegen könne. Die Unbestimmtheit der philosophischen Idee und die innere Bereitschaft diffuser Massen zu politischer Formung brauchten die ideologische Vermittlung, um die historische Schubkraft der Ideen zur politischen Mobilisierung zu nutzen. Verweigere sich die Philosophie ihrer ideologischen Dogmatisierung, so verzichte sie damit auf die Möglichkeit, den Ausgang politischer Kämpfe zu beeinflussen. Nur in ihrer pragmatischen Verflachung als Ideologie halte sie den Anschluss an politische Entwicklungen. Philosophische Ideen gingen jedoch in ihrer ideologischen Instrumentalisierung nicht auf. Es bleibe ein Überschuss nicht nur an ideellen Gehalten, sondern auch an Erwartungen, den die philosophischen Konzepte als ideelle Sprengsätze eines Kommenden in die je unvollkommene, nur scheinbar endgültige Gegenwart legten. In ähnlicher Diktion hatte Horkheimer vor der Illusion gewarnt, Theorie könne die Folgen dessen, was sie konstatiere und diagnostiziere, schon allein durch die Formulierung dieser Diagnosen bannen. Auch diejenigen, die gesellschaftliche Zustände, Widersprüche und Kräfteverhältnisse zutreffend beschrieben hätten, könnten sich ihren Folgen nicht entziehen.43 Dabei war Horkheimer äußerst skeptisch gegenüber der Distanzierung von politischen Auseinandersetzungen durch die Annahme untergründig wirksamer Kräfte, aus denen sich eine eigene, gewichtigere Realität konstituieren würde, die der Profanität des Politischen überlegen sei. Seine Bestimmung des Verhältnisses kritischer Theorie zu den um politische Hegemonie konkurrierenden Arbeiterparteien und ihren organisationsinternen Auseinandersetzungen zeigt diese Skepsis als grundsätzlichen Zwiespalt. Horkheimers Argumentation lässt sich so zusammenfassen : Wer sich in der Hoffnung, mit theoretischen Einsichten und praktischer Kritik wirkungsmächtig in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen intervenieren zu können, auf die Ebene begibt, auf der politische Auseinandersetzungen tatsächlich entschieden werden, muss damit rechnen, dass seine Intentionen durch die Eigengesetzlichkeit des Politischen in ihr Gegenteil verkehrt und politisch instrumentalisiert werden. Wer andererseits, im Wissen um diesen Verkehrungsmechanismus auf solche Interventionen von vornherein aus prinzipiellen Gründen 43 Horkheimer, Dämmerung, S. 378.

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verzichtet, beschränkt sich darauf, kritikwürdigen politischen und gesellschaftlichen Zuständen die Vision einer möglichen Alternative entgegenzusetzen, zu deren Beförderung er nichts tun kann, außer immer wieder, unbeirrt von den konkreten Wechselfällen des Politischen, auf ihrer Möglichkeit zu bestehen. Konfrontiert mit diesen beiden Varianten entschied sich Horkheimer dafür, kritische Theorie in den Zusammenhang spekulativen Denkens zu stellen, ohne allerdings dessen Überzeugung zu teilen, am Ausgangspunkt revolutionärer Umbrüche stehe immer eine Revolutionierung der Ideen, die mit zwingender Konsequenz eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach sich ziehe. Der Ideologieverdacht gegen die Universalität menschlicher Vernunft erschütterte die Selbstverständlichkeit der Einbindung menschlichen Lebens in ein umfassendes Ganzes fragloser Zugehörigkeit. Diese Infragestellung traf auch die Religion, die nach ihrer Institutionalisierung zu einer bürokratischen Gewissensinstanz Menschen den emotionalen Halt der Entlastung von der letztinstanzlichen Verantwortung für ihr Leben nicht mehr zu bieten vermochte. Das Bedürfnis nach Halt und uneingeschränkter Zugehörigkeit steigerte sich durch diese Enttäuschung noch. Das frustrierte Bedürfnis nach einem ihr Leben übersteigenden Sinn, der sich zugleich als überschüssige Energie in ihren Alltagsroutinen entfalten würde, machte Menschen empfänglich für die Verheißungskraft ganz unterschiedlicher Sinnangebote. Deutsche Philosophie war in dieser Konstellation mit dem Staat in ganz anderer Weise verklammert, als unter der Bedingung einer funktionalen Ausdifferenzierung und Selbstständigkeit von Religion, Wissenschaft, Politik und Recht. Diese symbiotische Verklammerung von Bereichen und Wertsphären, deren funktionale Ausdifferenzierung als Errungenschaft okzidentaler Rationalität und Moderne den westlichen Staaten Deutschland gegenüber die entscheidenden Entwicklungsvorteile verschafft hatte, erhob die Philosophie in Deutschland in den Rang einer Staatsphilosophie. In ihrer philosophischen Überhöhung gingen deutsche Weltmachtambitionen einher mit dem Anspruch, die Geschichte aus dem Selbstlauf sinnentleerter Routinen wieder auf die Höhe universeller Ideen zu heben. Damit steigerte sich die uneingelöste Erwartung der schließlichen Gründung eines deutschen Nationalstaats zur Frustration einer verhinderten Weltmacht. Plessner hatte eine „konstitutive Unruhe“ als deutsche Spezifik einer „philosophischen Nation“ behauptet – eine in sich ambivalente Mentalität des prinzipiellen Ungenügens am Bestehenden. Diese Unruhe mache die Deutschen unfähig, in einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zur Ruhe zu kommen.44 Die Reflexionsform dieser Unruhe sei die Philosophie, die den Standpunkt des Möglichen gegen eine widerständige Realität behaupte. Ihre Ambivalenz sah er darin, dass sie einerseits mit der philosophischen Stilisierung des Möglichen zur geistigen Gegenwelt des Eigentlichen den Herausforderungen einer komplexen 44 Plessner, Nation, S. 50.

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Realität auswich. Zugleich verweigerte sie jedoch auch Anpassungsleistungen, Kompromisse und Zugeständnisse und hielt damit an der Vision weltbürgerlicher Vernunft und eines universellen Humanismus fest. Horkheimer sah in der Vieldeutigkeit des Humanismus und dem Scheitern deutscher Versuche, ihn „zweckgerichtet ins Politische zu übertragen“45, den entscheidenden Grund dafür, dass den Deutschen immer wieder neue Anfänge möglich seien. In einer von messianischen Erwartungen gespannten, ja überspannten Bereitschaft seien sie immer bereit, im Ausnahmezustand die Regeln des Politischen außer kraft zu setzen und neu zu definieren. Diese Bereitschaft sei durch den deutschen Idealismus, durch den Geist der deutschen Kultur, vorbereitet worden. Kritische Theorie als imaginärer Ort der Veränderung einer Gesellschaft zum Besseren verdankte sich in Deutschland Bedingungen, die den Rückzug in die Sphäre des Unpolitischen nahe legten. Indem „die Idealisten die engen und oft zwanghaften Grenzen des ‚Praktischen‘ innerhalb des gegebenen sozialen Gefüges durchbrachen, hielten sie auch gewisse Grundmotive des Kampfs um politische Emanzipation am Leben, die in der geschäftigen Atmosphäre der in den westlichen Ländern herrschenden politischen Realitäten vergessen worden waren“.46 Mehr, als solche Grundmotive auch unter widrigen Zeitumständen am Leben zu erhalten, könne auch kritische Theorie nicht leisten. Die Bedingungen, die darüber entschieden, ob emanzipatorische Motive historisch wirksam würden oder unwirksam blieben, könne sie nicht beeinflussen. Es bleibe ihr in solchen Zeiten gesellschaftlicher Stagnation oder Reaktion nichts anderes übrig, als sich auf diese Bedingungen einzulassen und allein durch ihre Existenz als Möglichkeit offen zu halten, was unter den gegebenen Bedingungen noch keine Chance auf Verwirklichung habe. Jenseits der politischen Parteienkämpfe suchte die Philosophie eine Sphäre des Politischen zu behaupten, die das „wahre Deutschland“ im Spiel einer imaginären Weltinnenpolitik hielt, solange seine machtpolitische Zeit noch nicht gekommen war. Selbst nicht in diese Parteienkämpfe verwickelt, stand die Philosophie ihnen jedoch auch nicht gleichgültig gegenüber. Als politische Philosophie, die der Vernunft zu politischem Ausdruck verhelfen sollte, entwarf sie die Vision einer „philosophischen Politik“, die der Herstellung eines vernünftigen Gemeinwesens verpflichtet war. Zur Verteidigung eben jenes vernünftigen politischen Gemeinwesens fühlte sich die Philosophie im Bewusstsein seiner akuten Gefährdung berufen. Menschen ohne Vertrauen weder „zu einer heilsgeschichtlichen noch zu einer weltgeschichtlichen Entwicklung“47 waren bereit für eine biologische Politik, das heißt die „wachsende Einbeziehung des natürlichen Lebens des Menschen in die Mechanismen und das Kalkül der Macht“.48 Eine solche Politik gab 45 46 47 48

Horkheimer, Erneuerung, S. 193. Ebd., S. 192. Plessner, Nation, S. 168. Agamben, Homo sacer, S. 127.

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mit der Rückführung von Geschichte auf ursprüngliche Anfänge das Versprechen einer grundlegenden Wende menschlichen Lebens durch die Korrektur geschichtlicher Fehlentwicklungen. Der Verlust eines fraglosen Sinnzusammenhangs öffnete Geschichte für Möglichkeiten, deren Ver wirklichung von den Fähigkeiten der Menschen abhing, sich für das Richtige zu entscheiden und ihre Entscheidungen mit der entsprechenden Energie zu verfolgen. Die Abfolge der Entwertung fest geglaubter Grundlagen menschlicher Souveränität, in der nach der Vernunft und dem Ich schließlich das Volk zum obersten Prinzip von Politik und Weltanschauung geworden war, stellte sich für Plessner im Detail so dar : „Was bei Kant der kategorische Imperativ einer nur sich selbst gehorchenden frei schwebenden Vernunft, was bei Fichte das sich in seiner Ich - Natur fassende und ver wirklichende Ich bedeutete, Axiom und Mitte des Denkens und Handelns, ist hier das in konkreten Situationen von Entscheidung zu Entscheidung gedrängte Volk“49, das in den anstehenden Entscheidungen auf kein verbindliches Wertesystem mehr zurückgreifen kann. Der Anspruch, souveräner Mittelpunkt selbst gesetzter, frei verfügbarer Umstände zu sein, musste sich in den vorab nicht kalkulierbaren Konsequenzen dieser Entscheidungen erst beweisen. Als „Kernstück politischer Bewegung“50 sah sich die deutsche Philosophie in dieser Situation dazu aufgerufen, dem fortschreitenden Bedeutungsverlust philosophischen Denkens durch die Annahme einer nationalen Verpflichtung entgegen zu arbeiten. Die Quellen deutscher Identität müssten im Unterschied zu Staaten, die sich in der Tradition langer und erfolgreicher Nationalgeschichten ihrer nationalen Identität historisch vergewissern konnten, erst freigelegt werden. Es gebe sie zunächst nur in der mythischen Imagination, die nicht historisch wirkungsmächtig geworden sei. In dieser Konstellation gehe es um die Vergegenwärtigung einer Vergangenheit, die sich im Dunkel mythischer Ursprünge verloren habe. Dadurch werde die deutsche Situation historischer Verspätung und Beschleunigung mit der Erwartung des weltgeschichtlichen Umbruchs aufgeladen. Der „Mythos des 20. Jahrhunderts“ wartete darauf, historisch entbunden zu werden. Es würde ein politischer Mythos sein, der nicht nur die mythischen Quellen des deutschen Selbst historisch entbinden, sondern zugleich auch Quellen des Gehorsams für einen Staat freilegen würde, der über „keine transzendente oder rational - moralische Autorität“ mehr verfügte, sondern gezwungen war, „den nackten Zwang der Tatsachen einer begrenzten Situation zur Autorität“51 zu erheben. Damit werde die selbstverständliche Anerkennung der Autorität des Staates als deutsche Tugend rehabilitiert und in der Rhetorik des völkischen Staates zum politischen Gründungsmythos des deutschen Volkes uminterpretiert.

49 Plessner, Nation, S. 167. 50 Ebd., S. 169. 51 Ebd., S. 168.

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3. Die Kapitulation der Philosophie vor der Politik Wie Plessner, so sah auch Horkheimer eine in der fortwirkenden Tradition des deutschen Idealismus gegründete spezifische Funktion der Philosophie als Ort der Selbstverständigung und symbolischen Austragung nationaler Widersprüche und Konflikte, in denen sich zugleich solche der westlichen Moderne exemplarisch spiegelten. Mit dieser These standen beide ganz in der Tradition des jungen Marx. Gerade die Distanz der deutschen Philosophie zur gesellschaftlichen Realität, der prinzipielle Widerstand der großen deutschen Kultur „gegen die Welt, wie sie ist“, ihre gegenüber anderen nationalen Kulturen auffällige Gewohnheit, „sich mit anderen Themen und Denkweisen“ zu befassen „als denen, die in Politik und gesellschaftlichen Kämpfen eine entscheidende Rolle spielen“, habe hier eine eigentümliche Praxis der Kritik gesellschaftlicher Zustände geschaffen, die auf dem „schmerzlichen Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Struktur“52 bestand. Wegen der Zurückhaltung des deutschen spekulativen Denkens gegenüber realpolitischen Turbulenzen galt dieses als weltfremd, abstrakt und unpolitisch. Diese spekulative Politik des Unpolitischen war für Horkheimer jedoch auch Ausdruck einer prinzipiellen Weigerung, „die faktischen Daten des wissenschaftlichen und praktischen Lebens als das letzte Kriterium der Wahrheit und als die höchste Rechtfertigung menschlichen Lebens anzuerkennen“.53 Wie die deutschen Idealisten, so nahm auch er empirische Realitäten als Zeichen zugrunde liegender Kräfte, „deren Erkenntnis zu angemesseneren Formen und Zielen des menschlichen Lebens führen könnte“.54 Damit würden Möglichkeiten der Entwicklung offen gehalten werden, die in der Fixierung auf das Gegebene nicht mehr standen. Auch in der reflexiven Distanz zu ihrer Zeit stehe die Philosophie im Zusammenhang eben der Kontexte, von denen sie sich abzulösen versuche. Selbst wenn sie kulturell keine Rolle mehr spiele und nur noch negativ, im Verweis auf den Verlust „einer ungebrochenen menschlichen Existenz im Ganzen“55 präsent sei, sei sie noch in ihrer Abwesenheit als funktionale Leerstelle sichtbar : Sie setze Erwartungen an ein ganzheitliches Leben, die sie selbst jedoch nicht befriedigen könne. Plessner sah die bürgerliche Welt und in ihr die auf Diplomatie, Takt und Ausbalancierung basierte Gesellschaft durch die Rückhaltlosigkeit des Gemeinschaftsradikalismus bedroht. Deutsche Philosophie hatte auf geschichtlich ausgebliebene deutsche Entwicklungen mit deren geistiger Vorwegnahme reagiert. In der philosophischen Antizipation nationaler Entwicklungen hatte sie nicht nur auf Entwicklungsdefizite geantwortet, sondern Deutschland zugleich in einen kosmopolitischen Horizont gestellt. Nachholende Entwicklung wurde damit als Überwindung nationaler Beschränkungen in weltbürgerlicher Absicht 52 53 54 55

Horkheimer, Erneuerung, S. 191. Ebd., S. 192. Ebd. Plessner, Nation, S. 187.

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konzipiert. In einer der historischen Verspätung Deutschlands geschuldeten Symbiose hätten sich Philosophie und Politik hier in zu einem „historischen Schicksalsverhältnis“56 zusammengeschlossen. Dabei habe die Spannung zwischen philosophischer Imagination und politischer Realität dafür gesorgt, dass die Deutschen nicht zur Ruhe kommen konnten. Ihr prinzipielles Ungenügen an der Wirklichkeit hätte für sie jeden erreichten Zustand als bloßen Übergang zu neuem Werden relativiert. Die Deutschen sind nach dieser Interpretation gleichsam durch ihre philosophische Natur darauf konditioniert, die Einlösung ihrer nationalen Sehnsüchte und Erwartungen durch die Grenzüberschreitung des Nationalen in die Weite des globalen Raums zu suchen. Deutsche Philosophie war in dieser Sicht nicht ein nationaler Unruheherd, sondern die Instanz des deutschen Bewusstseins, die die Möglichkeit zeitgemäßer Antworten auf akute Probleme, Defizite und Konflikte offen hielt. Die Hoffnung auf eine nationalstaatliche Zukunft Deutschlands wurde durch die philosophische Konstruktion einer durch Deutschland repräsentierten weltbürgerlichen Vernunft am Leben gehalten. Als philosophisches Volk, so Plessner, hätten die Deutschen gerade in Zeiten nationaler Fragmentierung darauf bestanden, ihrem geschichtlichen Sein einen über dessen Beschränkungen hinausweisenden Sinn abzugewinnen. Dabei verrate ihr Unbehagen am bloßen Sein ein grundsätzliches Vernunftvertrauen. Die Philosophie habe hier eine exponierte Stelle eingenommen, von der aus sie sich nicht nur „innere Wahrheit und Wahrhaftigkeit“, sondern zugleich auch „Zeitlosigkeit und [...] Echtheit im Zusammenhang des Lebens“57 zutraute. Ihr Anspruch zeitlos - zeitgemäßer authentischer Ausdrucksfähigkeit machte sie ansprechbar für die geschichtsphilosophische Rhetorik völkischer Bewegungen. Im Nationalsozialismus habe sich dann gezeigt, dass das deutsche Volk „noch unter dem Zwang“ stehe, „im Sein einen Sinn zu suchen.“58 Der Anspruch der Philosophie auf die geistige Führung der nationalen Erneuerung Deutschlands sei auf eine „seelenlos und sinnlos gewordene Zivilisation der modernen Arbeitswelt“59 getroffen. Nach ihrem Durchgang durch eine Stufenfolge ideologiekritischer Reduktionen habe sich die Philosophie weder dem Protest gegen die kapitalistische Arbeitswelt anschließen noch aus ihrer die Reflexionskultur die Möglichkeit einer anderen Moderne entwickeln können. Für Deutschland stellte Plessner dabei eine gefährliche Grenzlage fest. In einem Land, dem mit der humanistisch - romantischen Kulturidee und der Philosophie „als Instanz über dem Leben“60 die letzte Möglichkeit genommen war, seinen Protest gegen die Zivilisation zum Ausdruck zu bringen, musste sich dieses nicht mehr artikulierbare Protestpotential zur Explosivlage stauen. In unterschiedlich ansetzenden Radikalkritiken der idealistisch - humanistischen Sublimierung die56 57 58 59 60

Vgl. Plessner, Schicksal, S. 187. Ebd., S. 186. Plessner, Nation, S. 193. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189.

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ser explosiven Gemengelage hatten bereits Marx, Nietzsche und Kierkegaard in je eigener Weise auf diese Situation reagiert. An ihnen dekliniert Plessner daher auch die Möglichkeiten durch, die in dieser Explosivlage lagen – Möglichkeiten, die bei allen Unterschieden in der Bestimmung des Subjekts, der Perspektive und der Kalkulierbarkeit dieser Prozesse auf eine Zuspitzung der Situation zur riskanten Entscheidung hinausliefen. Noch in ihrer radikalen Kritik des idealistischen Humanismus hätten diese so unterschiedlichen Autoren mit anthropologischen Annahmen operiert, die auch für sie nicht zur Disposition standen. Sie gingen aus von der Annahme einer „Urschrift der menschlichen Existenz“ und der möglichen „Wiederherstellung des ursprünglichen Grundtextes des Lebens im Menschen durch den endlich und endgültig befreiten Menschen“, durch die dieser wieder zu dem werde, „was er an sich als Mensch immer schon war“.61 Sie sprachen von der Rückkehr des Menschen zu sich selbst im Durchgang durch die Entfremdungen seiner Existenz ( Marx ) oder des Menschen, der, zurückgeworfen auf sich selbst, in seinem bloßen Dasein „zur Entscheidung zwischen der realen Selbstvernichtung und dem Glauben“62 gezwungen sei. ( Kierkegaard ) Nietzsche schließlich operierte mit dem Konzept des Übermenschen, der als „Kraftzentrum in einer uferlosen Welt von Kräften“63 das Sein als solches uneingeschränkt bejahte. Als Inspirationsquellen politischer Radikalisierung verwandelten sich diese anthropologischen Universalismen in ideologische Konzepte des „neuen Menschen“. Ob als sozialistische Weltrevolution, Radikalisierung der Theologie oder auch als zu unmittelbarer Aktion drängender Faschismus – sie alle stellten „die von konfessioneller Ungebundenheit und politischer Neutralität lebende Weltanschauungskultur im Ganzen“64 in Frage. Mit der politischen Besetzung philosophischer Argumentationsfiguren – der „Entscheidung“, der „Entschlossenheit“, der „Tathandlung“, des „Willens zur Macht“, stand die deutsche Philosophie vor der Alternative, entweder diese Radikalisierung auf ihrem eigenen Terrain mitzugehen und sich der funktionalen Spirale der Selbstüberbietung auszusetzen oder aber zu akzeptieren, dass sie, vom Gang relevanter Entwicklungen abgehängt, nur noch als Stichwortgeber und geistiges Reservoir zum legitimationsideologischen Zitat taugte. Alles andere habe sie, die es „mit dem Sein nicht unmittelbar, sondern nur in der Vermittlung durch die Möglichkeit zu tun“65 hatte, den für die gesellschaftliche Realität selbst zuständigen Disziplinen und Handlungsfeldern zu überlassen. Damit war die Philosophie aus der Zuständigkeit für Politik und Kultur entlassen. Deren lebendige Gegensätze, die in konkreten historischen Konstellationen zu treffenden Entscheidungen für die eine oder andere historisch mögliche Variante von Wissenschaft und Praxis, berührten sie nicht mehr. 61 62 63 64 65

Ebd., S. 193 f. Ebd., S. 191. Ebd., S. 195. Ebd., S. 196 f. Ebd., S. 201.

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Während sich die Philosophie also mit den Möglichkeitsbedingungen und dem inneren Aufbau des Seins und seinen Strukturen und Wesensgesetzen beschäftigte, bewegten sich diese Domänen des Seienden auf dem Boden der Kultur, der Lebenskämpfe und der Geschichte selbst. Als „methodischer Apriorismus“ ohne Ambitionen auf inhaltliche Inter ventionen konnte eine sich als Wissenschaft verstehende Philosophie „nicht mehr direkt eingreifen, politische Utopien entwerfen, predigen, helfen, heilen“66, sondern musste sie sich mit der Interpretation des Gegebenen und ohne ihren Beitrag Geleisteten bescheiden. Ausgeschlossen von allen forschungs - und lebensrelevanten Entscheidungen, so Plessner, werde die Bedeutungslosigkeit der Philosophie in den entscheidenden Bereichen des Lebens so zu ihrer zwiespältigen Chance, eine unauffällige Existenz im Schatten von Wissenschaft und Politik zu führen. Eine solche marginale Schattenexistenz wurde ihr solange zugestanden, wie sie die politische Entscheidungs - und Gestaltungskompetenz dieser lebenspraktischen Mächte vorbehaltlos akzeptierte. Kultur und Geschichte lagen in der Zuständigkeit der Wirklichkeitswissenschaften und - praxen jenseits der Philosophie. Philosophie intervenierte nicht mehr, sondern sie interpretierte. Als wissenschaftliche Philosophie ohne Ambitionen auf den Gesellschaft von Grund auf verändernden Eingriff kam sie jetzt ohne die Mobilisierung utopischer Heilsenergie aus. Als Weltanschauungsphilosophie dagegen zielte sie auf die ideologisch begründete revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. In dieser Konstellation, so Plessner, beschränkte sich die Philosophie auf die insistierende Erinnerung an die Apriori des Erkennens und die normativen Unterstellungen, die Menschen die Gewissheit gaben, eingreifendes Handeln sei möglich und aussichtsreich. Die ordnungspolitischen Zusammenhänge, in denen sie dabei stand, stellte sie nicht mehr in Frage. In der Konstituierung sinnlicher und sittlicher Ordnungen bestätigte sie zugleich die methodische Ordnung apriorischer Prinzipien und Bedingungen. Sie bewegt sich „nicht wie die Wissenschaft oder die Praxis mit den Dingen und Größen, Gelegenheiten und Ereignissen in gleicher Front. Sie wartet und kommt hinterher.“67 Auf die methodisch naive Unterstellung voraussetzungsloser, unvoreingenommener, wertfreier und unparteiischer Herangehensweise reagierte die Philosophie mit der Aufklärung der Konsequenzen nicht thematisierter Voraussetzungen des Denkens und Handelns. Der Annahme absoluter Wahrheiten, die zur Rechtfertigung des totalitären Eingriffs in geschichtliche Prozesse dienen könne, setzte sie die Relativierung des Absoluten durch die Bekräftigung des ewigen menschlichen Strebens nach Wahrheit und einem an universellen Werten orientierten Leben entgegen. Mit ihrer „Rückwendung in ein neutrales Gebiet ohne perspektivische Bindung an den geschichtlichen Augenblick“ habe die Philosophie ihren Anspruch verspielt, geistige „Führungsmacht des deutschen Lebens“68 zu sein. Diese Füh66 Ebd. 67 Ebd., S. 202. 68 Ebd., S. 201.

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rung sei nun an Kirche, Staat oder Wirtschaft als den uneingeschränkt politisch entscheidungsbereiten Mächten übergegangen. Doppelt bedroht von modernem Fachspezialismus und radikaler Kulturkritik könne die Philosophie nun nur noch „für einen Zwischenzustand plädieren, der jedoch mit der bürgerlichen Kultur, mit dem Liberalismus freier Lebensdeutung und Lebensführung und der Möglichkeit, unabhängig vom Staat oder geschützt vom Staat eine private Existenz zu haben“69, verschwinde. Weder also habe sich die deutsche Philosophie der modernen Zivilisation anschließen, noch habe sie sich an die Spitze der Zivilisationskritik stellen können. Zwischen moderner Zivilisation und ihrer radikalen Überwindung stehend, konnte sich der deutsche Protest gegen die Zivilisation nicht mehr philosophisch ausdrücken. Deutscher Philosophie war es nicht mehr möglich, ihre Zwischenlage zum kulturellen Vorteil einer politisch unabhängigen, ausgewogenen Kritik der Moderne zu wenden. Auch nach der ideologiekritischen Diskreditierung universeller Prinzipien sah Plessner jedoch in der Philosophie die der sozialen Lage und ihrem Selbstverständnis angemessene kulturelle Ausdrucksform des deutschen Bürgertums. Als Reflexionskultur der geistigen Verfremdung und ideellen Überhöhung von Politik blieb deutsche Philosophie für ihn mit dem Schicksal der deutschen Nation verbunden. Werde das Bürgertum in die politische Verantwortung genommen oder in seiner privaten Existenz von politischen Entwicklungen in einer Weise betroffen, vereinnahmt oder bedroht, auf die es reagieren musste, so würden solche Übergriffe von der Philosophie als Angriff auf ihre kulturelle Leitfunktion innerweltlicher geistiger Führung wahrgenommen und beantwortet. Ihre kulturelle Marginalisierung durch Politik und Wissenschaft hatte die Philosophie mit der geistigen Formierung des deutschen Bürgertums zur weltbürgerlichen Existenz beantwortet. Auf ihre Entlassung aus der Verantwortung für das Gemeinwesen reagierte sie mit der Imagination einer weltgeschichtlichen Mission gegenüber der Menschheit. Als Philosophie in weltbürgerlicher Absicht sprach sie den deutschen Bildungsbürger an, dessen sozial und politisch marginale Existenz sie mit dieser Fokussierung aufwertete. An die Stelle der sozial verbindlichen Verortung in der eigenen Gesellschaft trat die sozial frei schwebende Existenz der Orientierung an einer weltbürgerlichen Lebensform. Aus Plessners Sicht diente die subjektphilosophische Rhetorik von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstgesetzgebung nur noch zur Stilisierung der selbstbezüglichen Lebensarrangements des Bürgers, der ohne Verantwortung in einem politischen Gemeinwesen zu übernehmen, guten Gewissens seine Egozentrik lebte. „Bis schließlich ein imaginäres Leben in seinen Händen zurückblieb, das spielerisch wie Blasen Welten treibt, bunte fensterlose Kulturmonaden, jede eine schöne Totalität mit voller Wechselbezüglichkeit aller ihrer Elemente, stilvolle, aber im Grunde unverbindliche Ausgeburten seiner schöpferischen Kraft.“70 Immer dann, wenn sich das wirkliche Leben mit seinen 69 Ebd., S. 197. 70 Ebd., S. 158.

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unschönen Seiten in Erinnerung rief, wies diese Karikatur des unpolitischen Bildungsbürgers solche Interventionen als ästhetisch geschmacklose Störung und Gefährdung seiner Nischenexistenz zurück. Zwar sei ihm seine ästhetizistisch verspielte Genusskultur selbstbezüglicher Kreativität wichtiger als alles Andere, und dennoch seien Langeweile und Lebensüberdruss diesem Leben im Stillstand eingeschrieben. Aus diesem Lebensgefühl heraus entwickelte sich eine Affinität für „höhere Werte“. Eine ganz ähnliche Rhetorik findet sich auch in der nationalsozialistischen Kritik der Gebildeteten, die sich der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft entziehen würden, indem sie sich damit begnügten „in ihren Mußestunden eine Zeit ungestörten Behagens zu genießen“.71 Dabei habe „der deutsche Idealismus noch etwas anderes unter Geist verstanden, damals sei Geist noch Verantwortung, noch Einsatz und kämpfende Entscheidung für das Wahre und Rechte“72 gewesen. Nun aber beschränkten sich die Gebildeten darauf, sich in einer abgeschlossenen Welt „der seelischen, geistigen, moralischen Kultur“73 einzurichten. In diese bildungsbürgerliche Idylle eines Handelns ohne Verantwortung und Konsequenzen drohe der Nationalsozialismus einzubrechen, indem er Ernst mache mit „den Gedanken der Volksgemeinschaft, der Nation, der Ehre, der Verantwortung“.74 Nur dann habe der Geist eine Chance zu überleben, wenn er sich wieder öffne „für die Störungen der brutalen Wirklichkeit“75 und bereit sei, Aufgaben zu übernehmen, die der Gemeinschaft dienten. Die gleiche Kritik wurde auch gegen den Idealismus vorgetragen, „der eine Flucht vor der Wirklichkeit in die leeren Räume reiner Geistigkeit“76 sei. Aus dieser Kritik wurde dann die notwendige Wendung „zum völkisch - ganzheitlichen Realismus“ begründet, durch die der „Schwerpunkt des Geistigen [...] in das Lebendige“77 zurückverlegt werde. Die zur Stunde der nationalen Bewährung erklärte Krisensituation konnte mit der inneren Bereitschaft der Bürger rechnen, dem Ruf zu folgen. In der nationalen Mobilisierung wurden die Deutschen aufgefordert, ihre völkische Existenz durch die Wahrnehmung einer weltgeschichtlichen Mission zu behaupten. Die Radikalisierung der weltbürgerlichen Vision zur politischen Mission korrespondierte mit der überschwenglichen patriotischen Emphase der Bürger. Auch nach ihrer Dysfunktionalisierung ließ sich deutsche Philosophie als nationale Leitkultur politisch mobilisieren. Die Annahme, aus eigener sozialer Kraft fähig zu sein, Entwicklungen in Gang zu setzen und auf ihnen Traditionen zu gründen, bestimmt das Selbstbild der bürgerlichen Klasse. Als Souverän historischer Prozesse sieht sie sich nicht 71 72 73 74 75 76 77

Beyer, Die Gebildeten, S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Krieck, Bildung, S. 10. Ebd., S. 12.

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nur in einem progressiven Kontinuum der Geschichte, sondern in der Position, ein solches Kontinuum selbst initiieren und als Fortschreibung der eigenen Interessen auf Dauer stellen zu können. In geistiger Stellvertretung des Nationalen reagierte die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts auf gesellschaftliche Defizite und nationale Fragmentierung mit der Konstruktion einer imaginären Gegengeschichte. Beginnend mit Fichtes Behauptung einer nur dem deutschen Volk zugänglichen Existenz vorgeschichtlicher Quellen des Nationalen und der Konstruktion einer geistigen Parallelgeschichte kultureller Universalien und „deutscher Größe“ ( Schiller ) schrieb die Philosophie hier den Deutschen eine weltbürgerliche Funktion zu. Diese Imagination der Stellvertretung des Nationalen war prägend für die geistige Tradition Deutschlands. Auch Plessner verwies auf eine deutsche Spezifik, zeitgeschichtliche Defizite zum weltgeschichtlichen Überschuss und aktuelle geschichtliche Miseren zum unausgeschöpften Potential vorgeschichtlicher Quellen zu verschieben. Dadurch sei eine eigene Schicht geschaffen worden, die über ein ausgeprägtes Vermögen der Wahrnehmung, kulturellen Verstärkung und ideologischen Umkodierung nationaler Gefährdungen und Ambitionen verfügte. National „ohne Rückhalt an einer Staatsidee, an einer entscheidungswilligen und - mächtigen Bildung“, war diese Schicht dennoch in der Lage, in Not - und Krisenzeiten „den künstlichen Halt zu schaffen, der ein Gegengewicht gegen das eigene Untergangsbewusstsein bot“.78 Ihre kulturelle Kompetenz wies deutsche Philosophie durch ihre Fähigkeit zur „Umwertung aller Werte“ und Uminterpretation solcher empirischer Evidenzen nach, die jeglichen Anspruch Deutschlands auf eine herausgehobene Stellung in der Welt zu widerlegen schienen. Zugleich setzte ihre soziokulturelle Marginalität, ihr „schwebender Sinn eines mehr“ ohne feste Verankerung im sozialen Getriebe die Philosophie in Deutschland ohne strukturelle Verzögerungseffekte den inneren Erschütterungen der modernen Gesellschaft aus.79 Im Zwischenraum staatlich geschützter Innerlichkeit entwickelte die Philosophie Bindungen an den Staat, aus denen heraus sie sich zugleich gegen die Zumutung politischer Dienstleistungen wandte. In der symbiotischen Verklammerung mit dem Staat nährte sie die Illusion ihrer politischen Unabhängigkeit in der Gewissheit, dass ihr der Härtetest des Kampfes gegen politische Unfreiheit erspart bleiben würde. Diese Nische politisch - irrelevanter geistiger Freiheit war durch die fortschreitende Modernisierung ebenso wie durch deren totalitäre Blockierung bedroht. Der Liberalismus freier Lebensdeutung und Lebensführung war weder mit dem arbeitsteiligen Spezialismus einer durchrationalisierten Industriegesellschaft noch mit der Gleichschaltungspraxis eines autoritären Staates vereinbar. Der Dezisionismus „normfreier Macht“ und „reiner Aktion“ besiegelte den Rückzug der Philosophie aus den zeitgeschichtlichen Kämpfen um Freiheit und Selbstbestimmung. Eine aus Gründen intellektueller Unabhängigkeit und Pro78 Plessner, Nation, S. 200. 79 Vgl. ebd., S. 168 f.

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duktivität behauptete Distanz zu den Kämpfen der Zeit verfestigte sich zu einem indifferenten Geltungsraum geistiger Freiheit, der von diesen Auseinandersetzungen tatsächlich nicht mehr berührt wurde. Um nach ihrer kulturellen Entwertung noch eine Existenzberechtigung behaupten zu können, musste Philosophie ihre nationale Bedeutung nachweisen. Auf die drohende Selbstzerstörung der Philosophie durch ihre kulturelle Irrelevanz antwortete Plessner mit der Erneuerung ihrer Verpflichtung auf Freiheit. Gegen die Reduktion des menschlichen Lebens auf das empirisch Evidente setzte er die offene Unbestimmtheit, die über seine Endlichkeit hinausweisen würde, da ein „um sein Jenseits ( noch in der Form einer Vernunft, eines Sinnes ) vermindertes Diesseits [...] eben kein Diesseits mehr“80 sei. Ein auf seine Faktizität reduziertes, sinnfreies Diesseits verliere mit der existentiellen Herausforderung, die Zukunftsfähigkeit der eigenen Gegenwart unter Beweis stellen zu müssen, die lebendige Spannung eines Daseins, in dem es immer wieder ums Ganze menschlicher Existenz ging. Nur in der sich ständig erneuernden Spannung zwischen der Verheißung eines Neuen und seiner Gefährdung in einer Gegenwart, die gegen die Fliehkräfte der Zukunft Entwicklung in der Bewahrung des Bestehenden still zu stellen suche, gewinne die Entscheidung für eine menschengemäße Existenzform das Gewicht einer in den Herausforderungen der Gegenwart verankerten und eben deshalb zukunftsfähigen Lebensführung. Freigesetzt von allen Sicherungen seines Gelingens müssten Menschen dennoch die Verantwortung für ein Lebens in Würde und Freiheit übernehmen. Was aber ließ sich dem Verfall „des klassischen Idealismus und des wachsenden Misstrauens gegen die Macht des Geistes, des Fortschrittes, der Toleranz und Humanität“81 im Blick auf Deutschlands politische und geistige Lage entgegensetzen ? Wie sollte sich der „Zusammenhang der Philosophie mit dem Leben“82 neu knüpfen ? Hier hoffte Plessner auf noch offene Möglichkeiten der philosophischen Tradition, ohne allerdings auf die bloße „Wiederholung des Idealismus“83 zu setzen, die den Fragen einer neuen Zeit nicht mehr gewachsen wäre.84 Dem geistigen Verfall sollte eine Grenze gesetzt werden durch die Bestärkung des intuitiven Vorbehalts der Menschen gegen die Entwertung ihrer moralischen Urteilsfähigkeit. Noch in der Übertragung der Verantwortung für sein Leben an faktische geschichtliche Mächte sollte der Mensch „Halt an dem Bewusstsein seiner eigenen inneren Freiheit oder Existenz“85 finden. Was auch immer sich in den Auseinandersetzungen um die faktische Geltungsmacht konkurrierender Wertesysteme als Maßstab richtigen bzw. moralischen Handelns durchsetzen werde, welche Partei auch immer die Kämpfe um politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss für sich entscheide, der existentielle Kern inne80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 206. Ebd., S. 211. Ebd., S. 210 f. Ebd., S. 198. Vgl. Haucke, Kritik. Plessner, Nation, S. 207.

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rer Freiheit bleibe vom Ausgang solcher Auseinandersetzungen unberührt. Auch dann, wenn bereits alles strukturell vorentschieden scheine, hätten Menschen die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Auch in der Erfahrung ihrer Abhängigkeit von faktischen geschichtlichen Mächten hätten sie die Möglichkeit, in innerer Distanz zu diesen Mächten eine eigene Würde zu behaupten. Es liege in jedem Falle an den Menschen selbst, den Anspruch vernünftiger, sich selbst und anderen gegenüber verantwortlicher Lebensführung einzulösen oder aber zu verfehlen. Ein zugleich politischer und weltanschaulicher Dezisionismus, so stellte Plessner fest, hatte die Philosophie in Deutschland aus ihrer kulturellen Relevanz für die Gestaltung des Lebens entlassen.86 Sie hatte das Kampffeld geräumt, bevor es überhaupt zu einer Auseinandersetzung um die geistige Führung kam. Ihr war es nicht gelungen, die Spannung zwischen historischer Verspätung und Beschleunigung Deutschlands zu einer Neubestimmung ihrer nationalen Funktion auf der Höhe dieser Entwicklungen zu nutzen. Stattdessen habe sie sich darauf konzentriert, Deutschlands historische Verspätung als exklusive Zugangsmöglichkeit der Deutschen zu vorgeschichtlichen ursprünglichen Quellen zu interpretieren, die anderen, weiter entwickelten Nationen nicht mehr oder noch nie zugänglich waren. In dieser Fixierung auf eine mythische Vergangenheit wurde sie von den rasanten Modernisierungsprozessen einer industriegesellschaftlichen Entwicklung in der Beschleunigung überholt und in die Marginalität einer der Vergangenheit verhaftet gebliebenen Disziplin abgedrängt. Der Anschluss Deutschlands an den Entwicklungsstand der fortgeschrittensten europäischen Nationalstaaten bedrohte die geistige Führungsrolle der deutschen Philosophie, die ihre Plausibilität aus der reflektierten Differenz von angenommener weltgeschichtlicher Bedeutung und tatsächlicher Bedeutungslosigkeit Deutschlands in der europäischen industriegesellschaftlichen Moderne zog. In dieser Situation schienen ihr zwei gleichermaßen prekäre Möglichkeiten offen zu stehen : Entweder sie verweigerte sich den neuen Entwicklungen und stellte sich damit selbst ins Abseits kultureller Bedeutungslosigkeit. Oder aber sie suchte sich durch eine inhaltliche und methodische Umprofilierung diesen Entwicklungen anzupassen mit dem möglichen Effekt, dann in der Selbstgleichschaltung über kein eigenes geistiges Profil mehr zu verfügen. Nach der Verdächtigung der Philosophie als Medium der Begründung und Verhandlung universeller Werte konnte sie sich nicht einfach in die Beliebigkeit der immer noch verbliebenen „instrumentalen Möglichkeiten des Philosophierens“ zurückziehen, sondern kam es für sie darauf an, über dem „endlosen Botanisieren in den Gärten des Apriori nicht den ursprünglich auf Freiheit verpflichteten Sinn der Philosophie zu vergessen“.87 Gegen die fortschreitende „Zersetzung geistigen Lebens“88 habe die Philosophie darüber zu wachen, dass freies geistiges Leben möglich 86 Ebd., S. 210. 87 Ebd., S. 208. 88 Ebd., S. 207.

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bleibe. Ihre „zeitlose Zeitgenossenschaft“ und „diesseitige Geistesgegenwart“ sichere ihr eine kulturelle Bedeutung in den Auseinandersetzungen der Zeit. Ausgehend von der Gleichwertigkeit historischer Epochen und hermeneutischer Perspektiven verzichtet eine die konkreten Kontexte ihres universellen Geltungsanspruchs reflektierende Philosophie darauf, von ihr als universell gesetzte Bedeutungen in diese Epochen und Perspektiven zu projizieren. Von dem, was als historisch bedeutend gelten soll, müssen die Ereignisse selbst Zeugnis ablegen.89 Das Dilemma der Philosophie in Deutschland sah Plessner darin, dass sie auf den Verdacht „gegen Transzendenz und Objektivität“ und die Erschütterung der „überweltlichen Autorität der Offenbarung und die innerweltliche Autorität der Vernunft“90 defensiv reagiert hatte. Anstatt diese Krisensituation als Chance zur reflexiven Vergewisserung ihrer methodischen und inhaltlichen Grundlagen zu nutzen, hatte sie den Ideologieverdacht gegen sich selbst und ihre eigenen normativen Grundlagen gerichtet. Eben eine solche historisch überfällige Selbstbesinnung und Neubestimmung der Philosophie versucht Plessner. Nachdem die „wissenschaftliche Philosophie die Lebensführung aus der Hand geben“ musste, müsse sie nun gegen die „Verflachung durch Industrialismus, Staat, Politik und Wissenschaft“ eine „Grenze der Vergegenständlichung und Relativierung, eine äußerste Grenze für jede Zersetzung geistigen Lebens“91 setzen. Deutlich wird an dieser Argumentation, dass Plessner der Philosophie auch nach ihrer ideologiekritischen Demontage und politischen Instrumentalisierung eine kulturelle Leitfunktion zutraut.

4. Zum Problem eines „Nationalcharakters“ der Deutschen Die Annahme eines deutschen Nationalcharakters reicht weit in die deutsche Geistes - und Ideengeschichte zurück. In ihrer Bedeutung für eine Mentalitätsgeschichte deutscher Identität ist dieses charakterologische Dispositiv des Nationalen kaum zu überschätzen. Nationale Fragmentierung und Teilung, historische Verspätung und Beschleunigung, imperiale Expansion und binnenkulturelle Spannungen, schließlich die von den Ostdeutschen erzwungene nationalrevolutionäre Wende deutscher Nachkriegsgeschichte zur Normalität staatlicher Einheit – all diese Phänomene deutscher Geschichte und die ihnen korrespondierenden Gedankenfiguren, stehen auch im Zusammenhang der Annahme eines solchen Nationalcharakters. Nationen werden damit quasinatürliche Eigenschaften und Dispositionen zugeschrieben, die historische Auseinandersetzungen als Bewährung in der Herausforderung durch konkurrierende Nationen und deren angenommenen 89 Vgl. ebd., S. 205. 90 Ebd., S. 203. 91 Ebd., S. 207.

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Nationalcharakter erscheinen lassen. Durch die symbolische Konstruktion einer unter der Oberfläche der historischen Ereignisse liegenden Dimension des Eigentlichen wird der Ereignisgeschichte eine Parallelgeschichte geistiger Bedeutungen zur Seite gestellt. Geschichte erscheint dann als Schauplatz der Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Werten und Ideen, die nur bedingt miteinander vereinbar sind und die sich deshalb in ihrer Gegensätzlichkeit wechselseitig das Existenzrecht bestreiten. Dagegen hatte Plessner z. B. 1931 gegen Heinrich Rickerts kulturphilosophische Annahme eines „zeitlosen Kosmos ewig geltungsmöglicher Werte“92 darauf bestanden, dass Geschichte mehr sei als der Schauplatz für die Verwirklichung zeitloser Werte, die in ihrem je universellen Geltungsanspruchs unvereinbar waren. Im Unterschied zu Rickert sah Plessner die Geschichte selbst als „Ort der Erzeugung und Vernichtung der Werte, des Unerzeugbaren, Unzerstörbaren“.93 Niederlagen von politischen Bewegungen oder Systemen, die ihr Selbstverständnis aus dem Bezug auf ein bestimmtes Wertesystem ableiten, für das sie politisch stehen, fallen in dieser Argumentation als zeitweise äußere Rückschläge normativ nicht ins Gewicht. Siege dieser Bewegungen dagegen werden von ihnen als Beweis ihrer normativen Überlegenheit propagandistisch effektvoll in Szene gesetzt. Während in der politischen oder militärischen Niederlage die gegen ihr äußeres Schicksal resistente Eigenlogik der Ideen argumentativ bemüht wird, wird im politischen Sieg der Bewegung der Verstärkereffekt ihrer überlegenen Ideen als Nachweis ihrer unwiderstehlichen Durchschlagskraft interpretiert. Der Wirklichkeitsbezug politischer Ideen wird hier selektiv nach unterschiedlichen Kriterien behauptet. Während eine Widerlegung dieser Ideen durch ihr Scheitern an einer widerständigen und gegenläufigen Wirklichkeit ausgeschlossen ist, besteht die siegende Partei mit repressivem wie demagogischem Nachdruck darauf, ihren politischen Erfolg als Ausdruck der Überlegenheit ihrer universalistischen Ideen über den Partikularismus der egoistischen Interessen des Gegners auszugeben. Im Raster eines unterstellten „Kulturkampfes“ geht es in politischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Nationen nicht um die Durchsetzung von Machtinteressen, den Zugang zu ökonomischen Ressourcen oder die Verteidigung bzw. Eroberung von Einflusssphären. Es sind in dieser Sicht die einem Nationalcharakter exklusiv zugeschriebenen universellen Werte und Ideen, die sich der Nationen zu ihrer Durchsetzung bedienen, die ihrerseits als nationale Verkörperung normativer Universalien erscheinen. In der anderen Nationen und Völkern überlegenen Bereitschaft, sich einer für wertvoller als das eigene Leben befundenen Sache uneingeschränkt hinzugeben und ihr, wenn nötig, auch das eigene Leben zu opfern, so wurde behauptet, zeige sich die Eigenart des Deutschen : Deutsche seien mehr als Angehörige anderer Nationen bereit, für das Gemeinwesen, für Volk und Vaterland zu leben und zu sterben.94 92 Plessner, Macht, S. 170. 93 Ebd. 94 Vgl. Sombart, Händler, S. 64 f.

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Dabei sei nicht jede Idee den Preis des eigenen Lebens wert. Zu opfern wüssten sich auch andere Nationen, jedoch für Ideen, die mit Tiefe und Pathos der deutschen Ideen nicht vergleichbar, dieses Opfers nicht wert seien. Während etwa die französische Freiheitsidee auf dem Gedanken der Gleichheit aller Bürger beruhe und die englische Freiheitsidee die Unabhängigkeit des Einzelnen vom Staat betone, sei die deutsche Freiheitsidee mit dem idealistischen Pflichtgedanken und dem romantischen Individualitätsgedanken verknüpft.95 Ohne die Individualitäten der Völker sei die Menschheit ein Phantom. Vor allem aber sei sie nichts, „dem man unmittelbar dienen, dem man sich opfern, gegen das man Pflichten haben kann“.96 An diese Debatte knüpfte Carl Schmitt an mit seiner Frage, wann, unter welchen Bedingungen und wofür Menschen in der modernen Industriegesellschaft bereit wären, mit ihrem Leben einzustehen, einschließlich der Bereitschaft zu töten und getötet zu werden. Gegründet auf seiner existenzphilosophischen Bestimmung von Politik bestand er darauf, dass nur dann, wenn Menschen in ihrer Existenzform in Frage gestellt würden, nicht jedoch etwa für das effektive Funktionieren der Ökonomie, eine solche Bereitschaft erwartet werden könne: „In einer ökonomisch bestimmten Gesellschaft [...] kann unter keinem denkbaren Gesichtspunkt verlangt werden, dass irgendein Mitglied der Gesellschaft im Interesse ihres ungestörten Funktionierens sein Leben opfere.“97 Damit behauptet Schmitt keineswegs eine pazifistische Grundstimmung von Bürgern ökonomisch bestimmter, also moderner Industriegesellschaften. Vielmehr spricht er hier in aller Deutlichkeit die Frage der auch in solchen Gesellschaften unverzichtbaren, jedoch höchst unwahrscheinlichen Bereitschaft ihrer Bürger an, eigene Interessen gegenüber denen des Gemeinwesens zurückzustellen und eben auch, wenn nötig, Opfer für den Bestand und das effektive Funktionieren der Gesellschaft zu bringen. Ebensowenig, wie Idee und Wohl der Menschheit sich zur Anrufung der Opferbereitschaft der Menschen eigneten, helfe hier der Appell an das Interesse am ungestörten Funktionieren ihrer Gesellschaft weiter, obwohl ein solches Interesse zweifellos bestehe. Sombart wie Schmitt bewegt die Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit von Menschen in der Massengesellschaft, die u. a. durch die Mobilmachung gegen den äußeren Feind entschieden werde. Hier kommt nationalistischen Ideologien und den von ihnen mobilisierten Ideen und Werten entscheidende Bedeutung zu. Die Annahme eines gegen historische Traditionen resistenten deutschen Nationalcharakters suggeriert die Widerstands - und Überlebensfähigkeit eines Volkes, das sich sicher ist, dass seine Zeit noch kommen wird, und das eben deshalb gelassen warten könne auf seine historische Stunde, für die es innerlich bereit sei. Diese Überzeugung von seiner historischen Bestimmung sei nicht zu verwechseln mit der schicksalsergebenen Passivität, die tatenlos abwartet, wie 95 Troeltsch, Geist, S. 87 f. 96 Sombart, Händler, S. 114 f. 97 Schmitt, Begriff, S. 48 f.

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die Würfel fallen werden. Vielmehr sollte mit dieser Konstruktion eine am Maßstab fortgeschrittener europäischer Entwicklungen defizitäre Nationalgeschichte der Deutschen durch eine Parallelgeschichte geistiger Bedeutungen „deutschen Seins“ und eine komplementäre Typologie von Eigenschaften und Fähigkeiten der Deutschen ausgeglichen werden. Solche einer Nation zugeschriebenen Charaktermerkmale setzten einen gegen historische Ereignisse resistenten Anspruch auf Zukunft und Entwicklung, dessen Einlösung die Geschichte selbst versprach. In günstiger historischer Stunde, so die Erwartung, würden die Deutschen Entwicklungen initiieren und zu Ende führen, die sich für andere Nationen und Völker bereits erledigt hatten. Der Nationalcharakter der Deutschen halte das „aus der eigenen geistigen Geschichte als wesentlich für die Bildung nationaler Art“ Erkannte als ein „gleichsam vorhistorisches Anlagensystem“98 für künftige nationale Entwicklungen offen. Was noch nicht historisch wirksam geworden war, konnte sich in seiner Wirkung auch noch nicht erledigt haben. Ideen, die sich in anderen Nationen und Völkern durch ihre Wirkungsgeschichte diskreditiert hätten, blieben in Deutschland wirkungsmächtig. Nicht die Ideen sind nach dieser Interpretation an ihren Wirkungsgeschichten gescheitert, sondern jene Nationen und Völker, die es nicht vermocht hatten, ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen, hätten sich dadurch als zu klein für diese Ideen erwiesen. Erfahrungen anderer Nationen wurde in dieser Argumentation zugestanden, im Zusammenhang der eigenen Nation erst voll zur Geltung zu kommen. So sah etwa Schiller die Funktion der Deutschen darin, alles Wertvolle menschheitlicher Entwicklung aufzubewahren, nicht um es zu archivieren, sondern um es bei passender Gelegenheit erneut ins Spiel zu bringen. „Deutsche Würde“ werde von politischen Siegen oder Niederlagen nicht berührt. Der Wert der Deutschen liege jenseits des Politischen. Nicht zufällig in der Mitte Europas gelegen, sei Deutschland Kern der Menschheit. „Deutsche Größe“ sieht Schiller als sittliche Größe, geprägt durch die Kultur und den Charakter der deutschen Nation. Ihr nationaler Charakter sei vom politischen Schicksal der Deutschen unabhängig. Die Deutschen seien dazu bestimmt, die Menschheit in sich zu vollenden. Sie seien vom „Weltgeist“ dazu erwählt, das Kostbare aller Zeiten und Völker lebendig zu halten. „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“99 Als das langsamste Volk werde das deutsche „alle die schnellen flüchtigen einholen“.100 In diesem Text sind entscheidende Motive des Diskurses zu einem deutschen Nationalcharakter versammelt, die das philosophisch und literarisch artikulierte Selbstverständnis der Deutschen bis in die jüngste Gegenwart geprägt haben: ihre Distanz zur Politik und die Ausbildung eines nationalen Selbstbildes jenseits des Politischen; die europäische Mittellage Deutschlands, die seinen 98 Plessner, Nation, S. 29. 99 Schiller, Größe, S. 257. 100 Ebd., S. 254.

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Anspruch auf eine herausragende Stellung im Ensemble der Völker rechtfertige; ihr missionarisches Selbstverständnis als zu Höherem auserwählte Nation zum Wohle der Menschheit zu agieren; und schließlich auch die komplementäre Gedankenfigur historischer Verspätung in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die Deutschland in rasanter Beschleunigung an die Spitze menschheitlicher Entwicklung setzen werde. Gegen nationale Demütigungen in einer geschichtlichen Abfolge des Scheiterns von Projekten nationaler Selbstbestimmung und Nationalstaatsbildung, so wurde weiter behauptet, hätten die Deutschen einen Charakterpanzer ausgebildet, an dem diese Demütigungen wirkungslos abprallten. Deshalb seien sie jedoch nicht indifferent gegenüber Erfahrungen, sondern im Gegenteil sogar offener gegenüber deren historischer Prägekraft als andere Nationen und Völker. Ihre Resistenz gegen Infragestellungen ihres Selbstbildes ermögliche ihnen die Umkodierung historischer Ereignisse zur Bestätigung ihrer angenommenen nationalen Eigenart. Im Ergebnis dieser selektiven Wahrnehmung habe sich in Deutschland eine geistige Hochkultur des Imaginären ausgebildet, die an die Stelle der indifferenten Ausblendung alles dessen, was den eigenen nationalen Ambitionen und Intentionen zuwider laufe, dessen Uminterpretation zur permanenten Stimmungslage hochgespannter Erwartungen setze. Die Borniertheit nationalistischen Größenwahns habe dadurch vermieden werden können. In der Höhenlage des historischen Überflugs aus imaginärer Größe erschien die Welt als Feld der Auseinandersetzung um die Durchsetzung oder Verhinderung von Ideen. Plessner diskutierte die Konstruktion eines Nationalcharakters als wirkungsmächtige ideologische Fiktion, die gerade in ihren Übertreibungen Aufschluss über historische und kulturelle Besonderheiten von Nationen und Völkern verspreche, wenn man sie denn analytisch zu deuten wisse, anstatt sie unbefragt zu akzeptieren. „Charakterzüge in der Haltung einer Nation, in den gewissermaßen verfestigten Weisen ihres Reagierens auf Ereignisse erkennen zu wollen, heißt einer Natur, die man zu diesem Zweck konstruiert hat, die Schuld zuschieben. Charakterzüge einer Nation sind in der Maske von Eigenschaften dargebotene Rechtfertigungen geschichtlicher Leistungen und Fehlleistungen, Rechtfertigungen, die dazu dienen, Erfahrung und Erwartung, Vorbilder und Wunschbilder aneinander zu korrigieren.“101 Solcher Korrekturmechanismen bedurfte es im Falle Deutschlands allerdings. Wenn Erfahrungen und Erwartungen, Vorbilder und Wunschbilder nicht mehr miteinander reagieren, droht das geschichtliche Selbstverständnis einer Nation unreflektiert zwischen triumphalistischer Siegergeschichte und einer traumatischen Geschichte unverschuldeter Stigmatisierung oder selbstverschuldeten Scheiterns hin und her zu pendeln. Die Unterstellung eines Nationalcharakters hat eben die Funktion, einen solchen Ausgleich von Erwartungen und gegenteiligen Erfahrungen auf der imaginären Ebene einer Geschichte der Selbstbilder 101 Plessner, Nation, S. 29.

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und ideellen Bedeutungen nationalgeschichtlicher Entwicklungen zu ermöglichen. Die Annahme von Charaktereigenschaften einer Nation erlaubt die Rechtfertigung geschichtlicher Leistungen und Fehlleistungen am Maßstab eines im Verborgenen sich durchsetzenden Eigentlichen und Wesentlichen. Um eine willkürliche ideologische Konstruktion handelt es sich in der Annahme einer völkischen Natur der Deutschen offensichtlich nicht. Sie reagiert vielmehr auf diagnostizierte Fehlentwicklungen deutscher Geschichte mit der Konstruktion einer ausgleichenden Gegengeschichte. Diese von Interessen, frustrierten Erwartungen und Wunschbildern geprägte Gegengeschichte begründete die historische Berechtigung national - kompensatorischer Imaginationen. In der Annahme einer völkischen Natur der Deutschen sah Plessner das geschichtsphilosophische Apriori einer von nationalen Mythen und Imaginationen bestimmten charakterologischen Gegengeschichte. Als nur schwer kalkulierbarer „Resonanzboden der Zeitideen“102 entschieden solche Mythen die Wirkungsgeschichte der Ideen mit. Plessner sprach von „nationalen Charaktermasken“, stellte aber zugleich klar, dass es ihm nicht um die Entlarvung und Demaskierung der Imaginationen der Deutschen von einem Nationalcharakter gehe : Er wolle nicht hinter die Maske schauen, sondern auf sie. Die Figur der Maske spielt an auf eine Vielschichtigkeit des Lebens, das sich der Entgegensetzung von Oberfläche und Tiefe entzieht. Das nationalgeschichtliche Pathos eines zu Höherem bestimmten Volkes konnte, gebrochen durch das Spiel der Masken, als Affinität der Deutschen zu universellen Werten erscheinen. Ob und in welcher Weise diese Werte in den deutschen Entwicklungen eine Rolle spielen würden, müsse jedoch diesen Entwicklungen selbst überlassen werden. Die Festschreibung „deutscher Eigenart“ zur stellvertretenden Verkörperung eines Eigentlichen, das es geschichtlich zu realisieren gelte, ließ sich so vermeiden. Gegenüber anderen Völkern zeichneten sich die Deutschen dann durch eine größere Flexibilität möglicher Antworten auf geschichtliche Herausforderungen aus, eben weil sich in ihrer verhinderten Nationalgeschichte noch keine Entwicklungsvariante durchsetzen und verfestigen konnte. Die Annahme eines deutschen Nationalcharakters analysiert Plessner als Spiegelung deutscher Geistesgeschichte, nicht als eine philosophische Verallgemeinerung der politischen Ereignisgeschichte Deutschlands. Von der Analyse dessen, was als Nationalcharakter behauptet wurde, versprach er sich Rückschlüsse zunächst auf die geistige Verfassung der Deutschen. Plessner übernahm in seiner Argumentation die national - philosophische Rhetorik vom deutschen Wesen und völkischer Natur, um eine im geschichtsphilosophischen Diskurs in Anspruch genommene nationale Eigenart der Deutschen atmosphärisch stimmig beschreiben zu können. Auf der Basis der Rekonstruktion dieses deutsch - nationalen Diskurses suchte er nach den historischen Gründen seiner Plausibilität. Als imaginäre Nation in geistiger Höhenlage sahen sich die Deutschen von Entwicklungen abgeschnitten, die die bürgerliche Moderne geprägt hatten. Die102 Ebd., S. 34.

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se Entwicklungen konnten sie nur geistig mit - und nachvollziehen. Den fehlenden Nationalstaat kompensierten sie durch die Annahme eines Nationalcharakters. Was ihnen wesentlich war, mussten sie zunächst in ihrer Geistesgeschichte problematisieren und tradieren, ohne es schon nationalgeschichtlich realisieren oder politisch aushandeln zu können. Als wesentlich erschien in dieser ideengeschichtlichen Brechung genau das, was in den historischen Ereignissen nur teilweise zum Ausdruck kam. Die Freilegung „deutschen Wesens“, so legt eine solche Interpretation nahe, ist den explosiven Lagen des weltgeschichtlichen Ereignisses vorbehalten, in denen zum Ausbruch kommt, was sich in der Spannung verhinderter Entwicklung historisch angestaut hat. Dem deutschen Volk wird damit eine charakterologische Bereitschaft zur historischen Zäsur zugeschrieben. Da ihm die Gelegenheit, Charakter zu zeigen, im nationalen Alltag ver wehrt sei, suche es die außeralltägliche Situation des nationalen Ausnahmezustandes als Gelegenheit der Bewährung im Wesentlichen. Zugleich hätten die Deutschen das, was ihnen wesentlich war, zwar philosophisch und literarisch problematisiert, jedoch nur selten politisch realisiert. Die politische Funktionslosigkeit des deutschen Bürgertums und die Traditionslosigkeit des deutschen Kapitalismus ergänzten sich zu einem Verlegenheitshistorismus, dem eine doppelte Funktion zufiel : Er musste eine Tradition imaginieren, die historisch nicht wirksam geworden war, und er musste eine politische Funktion simulieren, die faktisch nicht bestand. Diese doppelte Verlegenheit zwang ihn dazu, im Anschluss an die romantisch - philosophische Tradition in Deutschland zum vorgeschichtlichen Ursprung zu erklären, was sich als historische Quelle nicht nachweisen ließ. Mit der romantischen Kategorie des Volkes, das als „beständige Ursprünglichkeit“ eines uneingelösten Versprechens nationaler Größe Deutschlands Traditionslosigkeit ein positives Gegengewicht geben sollte, wurde ein Ursprung als gespannte Erwartung nationaler Erlösung gesetzt. Im Unterschied zur Entstehung eines Nationalstaates aus historischen Ursachen verwies die Rhetorik einer nationalen Erneuerung aus dem Ursprung auf einen national eigentümlichen Modus des Werdens der Deutschen, der sie von anderen europäischen Völkern unterschied. Als Ursache hat sich der Ursprung zum Anfang versachlicht. Der Mythos des Ursprungs dagegen sollte auf einen unbestimmten, unerschöpf lichen Grund neuer Anfänge deutscher Entwicklungen verweisen. Während Plessner in der „Verspäteten Nation“ Fichtes Bestimmung der Deutschen als des europäischen „Urvolkes“, das mit seinem Ursprung noch in Kontakt stehe und sich aus ihm erneuere103, noch sachlich - neutral referiert, wird er in ihr drei Jahre später eine „verhängnisvolle Auffassung“ sehen, von der der „metaphysische Nationalismus“104 der Deutschen seinen Ausgang genommen habe. Mit der Annahme, der Gründungsmythos der Deutschen sei ein Ursprungsmythos, wird den Deutschen eine besondere Affinität zum Ursprung zugeschrie103 Vgl. ebd., S. 59 f. 104 Plessner, Philosophieren, S. 33.

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ben. Das deutsche Volk gilt dabei als möglicher Ursprung menschheitlicher Entwicklungen, die nur von ihm und keinem anderen Volk ausgehen können. In metaphysischer Überhöhung werden schließlich Ursprung und Entwicklung selbst als urdeutsche Konzepte völkisch vereinnahmt. Diesen Schritt zur Entwicklung eines völkischen Universalismus der Deutschen als einer imaginären Nation in weltgeschichtlicher Bedeutung ist Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ gegangen. In der Überschrift zu einer dieser Reden schlug Fichte den Ton an, der den völkischen Diskurs der Deutschen von nun an bestimmen würde : Nicht die „geschichtlichen Grundzüge der Deutschen“ will er darstellen, sondern die „deutschen Grundzüge der Geschichte“.105 Das deutsche Volk übernimmt in dieser geschichtsphilosophischen Zuschreibung die Verantwortung für den Gang der Geschichte. In ihrem Handeln, am Erfolg oder Scheitern dieser Selbstermächtigung zum weltgeschichtlichen Handeln, entscheidet sich nach dieser Rhetorik die Zukunft der Menschheit. Ihre Mission sieht Fichte darin, der Geschichte eben jene deutschen Grundzüge aufzuprägen. Insbesondere ihre Bestimmung als „Stammvolk der neuen Welt“106, das als einziges Volk in der Lage gewesen sei, „die ursprüngliche Sprache des Stammvolkes“107 beizubehalten und fortzubilden, führt Fichte als Beleg seiner Behauptung an. Am Schicksal der Deutschen als des „Urvolkes“ der Geschichte hänge das Schicksal der ganzen Menschheit : Wenn es „versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung“.108 Diese Rhetorik beschwört eine Krise der Menschheit, die nach einem Retter mit übermenschlichen Fähigkeiten verlangt. Die „Eigentümlichkeit des deutschen Volkes“ steht damit unter der Beweislast einer universellen, „durch die Natur selbst begründeten Verfassung“.109 Als „ursprüngliche Menschen“ seien die Deutschen „ein Urvolk, das Volk schlechtweg“.110 Eine solche ins Vorgeschichtliche zielende Suche setzt Schicksal und Vorsehung an die Stelle historischer Traditionen, die für eine nach Orientierung suchende Gegenwart mobilisiert werden sollen. Ein vorgeschichtlicher Urgrund hält den Anschluss an eine historisch wurzellose Gegenwart nicht durch eine bis in diese Gegenwart reichende Kette von Vermittlungen, sondern durch die Suggestion der jederzeit möglichen Aktualisierung dieses Urgrundes in der Gegenwart. Die Annahme der Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zu diesem vorgeschichtlichen Urgrund und damit der Fähigkeit, durch die Bändigung noch unverbrauchter, urwüchsiger Kräfte neue Anfänge in die Welt zu setzen, sollte nicht lediglich den Anschluss an Entwicklungen sichern, von denen man bisher ausgeschlossen war, sondern ihnen eine eigene Entwicklungsvariante entgegensetzen. 105 106 107 108 109 110

Fichte, Reden, S. 344. Ebd., S. 499. Ebd., S. 313. Ebd., S. 499. Ebd., S. 348 f. Ebd., S. 374.

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Die Aufwertung des Deutschen zum substantiellen Grund jeglicher Geschichte gründet die Entwicklung der Nationen, Völker und Staaten in der Ausbildung exemplarischer Idealtypen wie Volk, Sprache und Stil, die als mythischer Horizont geschichtlicher Entwicklung einen bleibenden Ursprung des Geschichtlichen festhalten sollen. Die philosophische Konstruktion des Deutschen – eines deutschen „Urvolkes“, einer deutschen „Ursprache“ – sieht die Deutschen als exemplarische Verkörperung kultureller Universalien. Mit dieser Konstruktion wird die Vernunft selbst zum Synonym des Deutschen erklärt. Den Deutschen wird damit mehr als nur ein privilegierter Zugang zur Vernunft zugeschrieben. Als „Vernunftvolk“ werden sie zur völkischen Verkörperung der Vernunft schlechthin, ebenso wie die von ihnen kreierte „Ursprache“ den Ausgangspunkt sprachlicher Entwicklung und nationalsprachlicher Differenzierung überhaupt bilden soll. Das, was für alle Menschen als gemeinsamer Impuls der Vergewisserung ihrer geschichtlichen Herkunft wirksam sei, stelle sich für die Deutschen in besonderer Weise. Für sie verschiebe sich die Suche nach den historischen Wurzeln ihrer nationalen Existenz zur Vergewisserung eines vorgeschichtlichen „Urgrundes“ völkischer Existenz, dessen historische Entfaltung erst noch bevor stehe. Die philosophische Seite des deutschen Charakters sei, das die Deutschen nicht aus der Unmittelbarkeit und Ungebrochenheit ihres Seins leben könnten, sondern nur aus der Reflexion, weshalb deutsche Geschichte gekennzeichnet sei „durch die stets wiederkehrenden Ausbrüche aus den seelischen Tiefenlagen, durch die Aufbrüche aus den völkischen Untergründen. [...] Da der Deutsche [...] nie zur festen Form kommen konnte, gewann er auch nicht die Sicherheit und Stetigkeit des Werdens [...] Der Deutsche ist nie am Ziel, aber immer auf dem Weg [...] notwendig unberechenbar und formlos, unstetig und unheimlich, darum fremd und bedrohlich. [...] Die Fähigkeit, immer von vorn beginnen zu können, stets neue Aufbrüche in die Welt des geschichtlichen Werdens zu entsenden, macht das deutsche Volk zum Volk der Revolutionen.“111 Mit der Behauptung, einen privilegierten Zugang zu den mythischen Quellen eines vorgeschichtlichen Urgrundes völkischer Existenz zu haben, habe Deutschland den Nachteil des aus den wirkungsmächtigen Strömen der Geschichte ausgeschlossenen Volkes zum Vorteil zu wenden gesucht, geschichtliche Entwicklung in der nur ihm möglichen Mobilisierung noch unverbrauchter Anfänge selbst setzen zu können. Die Deutschen präsentierten sich damit als ewig junges, auf Anfang und Zukunft eingestelltes Volk, dem noch Möglichkeiten offen standen, die für andere europäische Nationen schon nicht mehr bestanden. Sie nutzten das Pathos des Unverbrauchten, des auf Anfang und Aufbruch eingestellten Volkes, um ihren Anspruch auf eine führende Position unter den Nationen zu unterstreichen. Die Behauptung eines bleibenden Ursprungs noch uneingelöster Versprechen möglicher Entwicklung wurde zum Referenzpunkt dezisionistischer Politik. Ein nationaler Ursprungsmythos werde sich unter 111 Krieck, Idealismus, S. 2.

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dafür günstigen Bedingungen zum politischen Gründungsmythos einer Entscheidung aus dem Ursprung mobilisieren lassen. Geschichtsphilosophische Imaginationen waren für Plessner historisch nicht weniger wirkungsmächtig als die Faktizität der Ereignisse und positiven Tatsachen. Für diese Annahme fand er in der Geschichte der „verspäteten Nation“ der Deutschen ein reiches real - und ideengeschichtliches Material. In ihrer imaginären Selbstbehauptung als einer vom Schicksal zu weltgeschichtlichen Leistungen ausersehenen völkischen Avantgarde hatten die Deutschen in ihrer Philosophie und Literatur eine eigene Tradition entwickelt, reale Miseren durch spekulative geschichtsphilosophische Konstruktionen zum Indiz einer historischen Auszeichnung umzudeuten. Diese Fähigkeit sicherte ihnen den ideellen Anschluss an Entwicklungen, von denen sie real abgekoppelt waren. Sie ermöglichte ihnen zugleich eine einzigartige Verschränkung von Innen - und Außenperspektiven, von Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, von nationalen und globalen Entwicklungen mit dem vor allem in gesellschaftlichen Umbruchzeiten wirkungsmächtigen Effekt einer von Traditionen und Bindungen kaum gebremsten Flexibilität, die es ihnen erlaubte, auf neue Entwicklungen sofort zu reagieren. Dem Beharrungsvermögen der traditionsreichen westlichen Nationalstaaten, das sich vor allem in Umbruchzeiten als Verzögerung und Hemmfaktor innovativer Flexibilität erwies, stand in dieser Entgegensetzung die ungeheure Beschleunigung eines auf den Umbruch fokussierten, konzentrierten Entwicklungspotentials der deutschen als einer jungen Nation gegenüber. Diese Vision ist auch von den Nationalsozialisten benutzt worden, um rhetorisch die Radikalität des von ihnen verfolgten weltgeschichtlichen Umbruchs zu unterstreichen. So hatte Goebbels „das nationalsozialistische junge Deutschland“ beschworen, in dem die „Jungen [...] getrieben von einem Willen zur Mission, getrieben von der Notwendigkeit zu handeln, geformt von der Aufgabe, die die Weltgeschichte ihnen auferlegt hat [...] am Deutschland der Zukunft“112 bauten. Ohne die Möglichkeit, sich auf eine Nationalgeschichte auf der Höhe ihrer weltgeschichtlichen Ambitionen zu beziehen, suchten die Deutschen dieses Defizit durch den Mythos einer bleibenden Gegenwärtigkeit historisch noch nicht realisierter Ursprünge ihrer nationalen Existenz auszugleichen. Die Gegenwart blieb dadurch offen für eine Vielfalt von Möglichkeiten. In der Tradition des deutschen Idealismus wurde „kosmopolitische Universalität“ gegen die nationale Fragmentierung gesetzt, um die philosophische Selbstermächtigung der Deutschen zur weltbürgerlichen Stellvertretung der Vernunft zu begründen. Schließlich wurde in den „Ideen von 1914“ die politische Bilanz dieses kosmopolitischen Universalismus der deutschen Idealisten ausdrücklich als eine in ihrer Eigenart als philosophischer Nation gegründete Befähigung und Berufung der Deutschen zur nationalen Stellvertretung des Universellen in Anspruch genommen. Nicht Misstrauen gegen politische Universalität, sondern die missionarische Emphase der „Kampfes der Ideen“ zur Verteidigung eines normativen 112 Goebbels, Lenin, S. 30.

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Universums der Kultur gegen seine Zerschlagung durch kapitalistische Rationalisierung und zivilisatorische Dekadenz zeichnete in dieser Sicht die Deutschen aus. Gegen den völkischen Universalismus der klassischen deutschen Philosophie, und hier insbesondere Fichtes Aufwertung der Deutschen zum „Urvolk“ in der Perspektive eines philosophisch gegründeten weltpolitischen Führungsanspruchs, behauptete Plessner, das deutsche Volk sei zu kosmopolitischer Universalität im staatlichen Felde weder berufen noch befähigt.113 Diese Kritik galt der Radikalisierung des Universalismus der Vernunft zum politischen Aktivismus. Sie richtete sich nicht gegen weltbürgerliche Vernunft und den unbedingten Geltungsanspruch universeller Werte, sondern gegen den politischen Kurzschluss einer nationalen Stellvertretung der Vernunft in missionarischer Absicht. Die Formierung nationaler Identität im Zeichen des Universalismus, die Auszeichnung also einer Nation als der exemplarischen Verkörperung und politischen Garantie universeller Werte – der Vernunft, des Absoluten, des Weltgeistes oder auch der Kultur, schließt die aggressive Behauptung einer weltgeschichtlichen Sonderrolle nicht aus. Möglich ist sowohl die Annahme einer globalen und pluralen Gattungsvernunft als auch die Rechtfertigung politischer Expansion, die den Einflussbereich der eigenen Machtinteressen global auszudehnen versucht. In der politischen Formierung eines nationalen Selbstbewusstseins der Deutschen im normativen Horizont eines weltbürgerlichen Universalismus spielten beide Varianten zusammen. Hier war die Trennung zwischen dem universellen Kosmos der Vernunft und dem imperialistischen Universum grenzenloser Machter weiterung faktisch aufgehoben. Die kulturimperialistische Missionierung der Welt, die als potentieller Geltungsraum des eigenen, als universell behaupteten Wertesystems von Vernunft, Freiheit und Demokratie gesehen wurde, führte beide Varianten zu einer globalen Strategie der Befriedung der Welt zusammen. Der Geltungsanspruch normativer Ideen sollte machtpolitisch durchgesetzt werden. Die Berechtigung der in Anspruch genommenen universellen Geltung der eigenen Werte und Interessen entschied sich dabei in der machtpolitischen Konkurrenz. Unterstützt durch historische, mythische, ideologische und andere Versatzstücke ging es in dieser Konkurrenz darum, die eigenen, als universell behaupteten, Interessen gegen die polemisch unterstellte Partikularität des Gegners zu setzen und durchzusetzen. Der deutschen Ablehnung von Zivilisation und formal - rechtlicher Regelung des Politischen in den westlichen Staaten stand das Misstrauen dieser Staaten gegen kosmopolitisch - völkische Ambitionen eines deutschen Universalismus gegenüber. Auch nachdem das im deutschen Idealismus beispielhaft von Fichte, Schiller und Hegel auf je eigene Weise formulierte nationalphilosophische Pathos deutscher Eigenart sich zur Programmatik nationalstaatlicher Entwicklung versachlicht hatte, erhielt sich ein Überschuss nationaler Emphase. Die konsequente Versachlichung der geistigen Auseinandersetzung von Ideen und Werten zur 113 Plessner, Nation, S. 71.

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politischen Konkurrenz der Staaten um Interessen und Einflusssphären war den Deutschen nicht möglich. Sie trugen die weltanschauliche Auseinandersetzung aus der Sphäre der Ideen auf das Terrain von Politik, Ökonomie und Kultur. Machtpolitische Auseinandersetzungen waren für sie immer zugleich auch Auseinandersetzungen um den universellen Geltungsanspruch von Ideen und deren beispielhafte nationale Verkörperung. Deutschlands Expansionsdrang zielte nach innen und außen zugleich – auf die ideologische Besetzung nicht länger als weltanschaulich neutral zugelassener Felder ebenso wie auf die territoriale Revolution ( Plessner ) als Grenzüberschreitung in der räumlichen Expansion. Das Selbstverständnis der Deutschen als einer „philosophischen Nation“, auf die Weltgeschichte als politische Einlösung des Versprechens ganzheitlicher Entwicklung in einem Vernunftstaat hinauslaufe, nährte sich aus dem Anspruch, in überlegener weltbürgerlicher Perspektive die bornierten Partikularismen und Einseitigkeiten anderer kultureller Wertesysteme in die eigene universelle Perspektive einzubauen. In diese Debatte stieg Plessner mit seiner Risiken und Chancen ausbalancierenden Sicht Deutschlands als der nationalgeschichtlich „verspäteten Nation“ ein. Dabei benutzte er in seiner Auseinandersetzung mit der Annahme eines deutschen Nationalcharakters ein Bild, das in der Differenzierung von Naturgeschichte und Geschichte des Menschen naturalistischen Substantialisierungen des Gesellschaftlichen erfolgreich begegnen sollte : „Derart feste Charakteranlagen für die Taten und Leiden einer Nation verantwortlich machen – entschuldigend oder anklagend [...], heißt aber die Geschichte umdrehen, in der und an der sie sich gebildet haben, nicht im Wege bloßer Ablagerung und Sedimentierung, als füllte das Geschehen den Raum der Erinnerung hinter sich auf und formte die innere Physiognomie eines Volkes wie Erdgeschichte die Landschaft, sondern aus Glück und Unglück, die ihm widerfahren sind, ihm, das sich selber ein Wunschgebilde ist und nie eine fixe Wirklichkeit.“114 In der „Ermächtigung der Deutschen zu sich selbst“ wurde die Geschichte umgedreht. Die Selbstzuschreibung nationaler Charaktereigenschaften nahm natürliche Anlagen und Eigenschaften an, die sich in eine Geschichte hinein verwirklichten. Plessner sah in solchen Charakterzügen einer Nation Kristallisationen von Modi des „Reagierens auf Ereignisse“.115 In ihnen verfestige sich Geschichte zu einer national eigentümlichen Habitusform, die nun ihrerseits auf historische Ereignisse zurückwirke. Was als historische Prägung zugelassen oder abgewiesen werde, um im apriorischen Modus der Verarbeitung sinnlicher Eindrücke der Geschichte einen den nationalen Habitusformen angemessenen kulturellen Ausdruck zu finden, entscheide sich im Zusammenspiel von nationalem Charakter und Ereignisgeschichte, in dem die Plausibilität einer charakteristischen Nationalgeschichte behauptet werde.

114 Ebd., S. 29. 115 Ebd.

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Gegen die Festschreibung der „inneren Physiognomie eines Volkes“116 zur Phänomenologie eines nationalen Charakters bestand Plessner darauf, dass diese sich nicht nur unter dem Druck der Ereignisse forme, deren innerer Abdruck sie dann wäre, sondern dass sie sich aus inneren und äußeren Geschichten und dem Versuch ihres Ausgleichs bilde. Was als Charakter einer Nation und Seele eines Volkes erschien und in diesem „Zwang zur Biomythologie“ ein „vitales Substrat“ unterstellte, an dem sich nationalgeschichtliche Entwicklung vollzog, war „nichts anderes als eine sich des Zeitraffer - Verfahrens und der Terminologie von Anlagen, Reaktionsweisen, Ressentiments und Triebmechanismen bedienende Übersetzung aus der historischen Originalsprache in die der Vorurteile“.117 Mit der Unterstellung eines „Nationalcharakters“ und einer „Volksseele“, an denen sich nationalgeschichtliche Entwicklung vollziehe, verschwinde das Original der Werke und Taten eines Volkes, aus denen sich seine Geschichte bilde. Was sich doch tatsächlich erst im Ergebnis nationalgeschichtlich eigentümlicher Entwicklungen zur nationalen Eigenart eines vermeintlichen Charakters verfestigte, erschien nun als ursprüngliche Tathandlung seines verborgenen Charakters. In der Auseinandersetzung zwischen den Nationen würde sich dann deren charakterliche Unverträglichkeit oder Affinität herausstellen. Deutschlands Nationalgeschichte präsentiert sich in dieser völkerpsychologischen Verschiebung als geistige Geschichte der Entwicklung eines Nationalcharakters der Deutschen. Mit Hilfe der symbolischen Konstruktion eines deutschen Charakters hatten sich die Deutschen dazu ermächtigt, eine nationale Identität zu behaupten, der noch keine nationalgeschichtliche Realität entsprach. Deutsche Philosophie und Literatur hatten auf die Diskrepanz zwischen kulturellem Selbstbild und machtpolitischer Realität mit der geistigen Stellvertretung des Universellen geantwortet und dabei im metaphysisch überhöhten machtpolitischen Kurzschluss zwischen ihrem als universell behaupteten Nationalcharakter und ihren hegemonialen Ambitionen die Deutschen zum auser wählten Volk in weltgeschichtlicher Mission stilisiert. Obwohl Deutschland nach Plessners Feststellung kein konstitutives Verhältnis zu den für die Bildung der modernen Welt entscheidenden Jahrhunderten hatte, seien diese „schicksalsschweren Jahrhunderte der Entwicklung des Nationalbewusstseins, der religiösen und staatsbürgerlichen Verselbstständigung der Individuums, der kapitalistischen Wirtschaftsweise und [...] einer [...] weltbürgerlichen Zivilisation [...] an ihm nicht spurlos vorübergegangen : Sie haben sich tief in deutsches Wesen eingegraben“.118 Zur Ausbildung eines eigenen Nationalstils sei es in Deutschland im Unterschied zu den großen Nationen des Westens jedoch nicht gekommen. In seinem Vorwort zu Moeller van den Brucks „Preußischem Stil“ hatte Hans Schwarz, der seine Philosophie „als Instrument des transzendentalen Nationalsozialismus“119 sah, diesen Topos der Geschichts - und Bindungslosigkeit, des 116 117 118 119

Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 91. Lehmann, Philosophie, S. 476.

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voraussetzungslosen Aufbruchs aus sich selbst und zu sich selbst, der dabei auf keine Überlieferung zurückgreifen, sondern sich allein auf den „Willen zur Veränderung“ und die „Phantasie für Wirklichkeiten“120 stützen könne, in der Gegenüberstellung von ‚italienischer Schönheit‘ und Schinckelschem ( preußischem ) Geist prägnant auf den Punkt der grundsätzlichen Differenz gebracht : Dem Entstehen aus dem Zusammenhang ungezählter Generationen stehe mit dem preußischen Stil ein voraussetzungsloses Anfangsetzen und Entstehen gegenüber.121 In ihm habe der Kantsche Freiheitsbegriff als das Vermögen, etwas Neues aus sich selbst im freien Entwurf zu beginnen, seine nationaltypologische Verkörperung gefunden. Da sich in Deutschland ein solcher geschichtlicher Zusammenhang der Generationen als Gründungsgeschichte nationaler Identität nicht hergestellt habe, die Herausbildung eines deutschen Nationalstils aus historisch gewachsenen Voraussetzungen also nicht zustande gekommen war, musste ein solcher Stil als voraussetzungsloser Anfang hier erst initiiert werden. Das, was Schwarz hier noch auf die Gegenüberstellung von Kunststilen beschränkt, lässt sich zur Entgegensetzung von Nationalstilen generalisieren, in denen sich historische Zusammenhänge oder Ausfälle zur symbolischen Form eines spezifischen Modus der Verknüpfung von historischem Sinn und Nationalgeschichte formieren. Moeller van den Bruck selbst sah Stil als funktionales Pendant der Vernunft und des Willens : So, wie der Denker „seine Vernunft zur Erkenntnis steigert“ oder der Tatmensch mit seinem Willen das Leben zwingt, so „löst sich auch der künstlerische Mensch von allen Zufälligkeiten des Erfahrenen, Sinnlichen, Zeitlichen los und schafft eine äußerste Form, die nicht menschgestaltig und nicht weltgestaltig, sondern selbstgestaltig ist“.122 Nicht Welt und nicht Mensch, sondern Selbst sei die Form, die im Stil Gestalt annehme. Mit diesem Formprinzip komme der preußische Stil „dem Wesen des Stiles überhaupt“ als „Stil an sich“123 am nächsten. Gegründet auf innerer, nicht äußerer Gebundenheit, werde dieser Stil im deutschen Selbst zur „Klassizität“, zur „Herrschaft über die Funktion“.124 Plessner hatte den Deutschen einen eigenen Stil abgesprochen. Als Inbegriff nationaler Sättigung nahm er die Ausprägung eines Stils als Indiz dafür, dass eine Nation nach gesellschaftlichen Auf - und Umbrüchen nunmehr historisch zur Ruhe gekommen war. Im Unterschied zu solchen Nationen, deren Vergangenheit sich in einer politischen und geistigen Gegenwart bruchlos fortsetzte, und die sich eben deshalb zu ihrer Vergangenheit als einer Tradition der eige120 121 122 123 124

van den Bruck, Stil, S. 10. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 125. Ebd., S. 127. In ganz ähnlicher Weise hatte Ernst Cassirer eine Stufenfolge symbolischer Formen entwickelt und dabei den Stil als höchsten Ausdruck der Objektivität bestimmte. Stil beschreibe den Prozess der „freien und gesetzlichen Natur des Bildens“, in der sich die „Spontaneität des geistigen Ausdrucks“ zu freier, schöpferischer, in reiner Form und Rationalität gegründeter Produktivität entfalte. Cassirer, Philosophie, S. 182 f.

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nen Entwicklung in Beziehung setzen konnten, sei Deutschland jedoch eine historisch unruhige Nation in der Permanenz des Aufbruchs geblieben. Im Sinne Plessners ließe sich formulieren : Die Deutschen hatten keinen Stil, sondern Probleme, die aus einer in ihren Möglichkeiten nicht ausgeschöpften Vergangenheit auf sie gekommen waren. In einer Gegenwart, die sich durch diese Probleme und nicht durch ihre nationalgeschichtlichen Traditionen definierte, waren die Deutschen auf eine Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, die ihnen eben diese Entspannung und Gelassenheit, diese Stil gewordene Haltung zu einer Tradition, eine Haltung, zu der sie sich als in der Gegenwart aufgehoben hätten bekennen könnten, verwehrte. Im Bild des „jungen Deutschland“ entwarf Plessner die Vision eines „Landes im Aufbruch“, das den Mangel an eigenen verpflichtenden und bindenden Traditionen durch den freien Entwurf von Möglichkeiten ausgleichen würde. Keiner Tradition verpflichtet, müsse es sich eigene Traditionen erst schaffen. In dieser „kraftspendenden Traditionslosigkeit“125 sah er einen deutschen Zug ins Problematische und Innerliche, der als tiefe Selbstunsicherheit kompensatorisch nach aggressiver Selbstbestätigung verlangte, und der eben deshalb Deutschland zur nicht nur symbolischen Grenzüberschreitung bereit fand. Die Unsicherheit des eigenen nationalgeschichtlichen Standorts setzte Deutschland dem existentiellen Druck nationaler Selbstvergewisserung und Selbstsicherung aus. Etwas, zu dem sie sich als Volk in unproblematischer Selbstverständlichkeit hätten bekennen können, gab es für die Deutschen nicht. Völkische Identität stellte sich für sie erst in der Mobilisierung um eine Identität stiftende Aufgabe her. Sie waren sich problematisch geblieben und eben deshalb ein Problem für Europa und die Welt geworden. Für Plessner lag in ihrem Hang zum Problematischen und Innerlichen, zum Philosophischen und Romantischen das tiefere Wesen der Deutschen, ihre Substanz, und nicht in dem, was mit deutscher Ordnung und Gründlichkeit, mit Gehorsam und Disziplin, mit verbissener Schärfe und einem Hang zum Gewaltsamen häufig als Wesenzüge der Deutschen beschrieben wurde. Aus seiner Sicht war es ihre Orientierung an problematischen, noch unbestimmten Möglichkeiten, die Deutschland als „junge Nation“ offen hielt für innovative Entwicklungen. Wenn er in seiner Substanz nicht das Gegenteil dessen wäre, was sich in seiner stereotypisierten äußeren Erscheinung als Ensemble preußischer Sekundärtugenden zeige, so Plessners Argumentation, so würde der Deutsche die scharfe Disziplin in Beruf, Methode und öffentlicher Organisation nicht brauchen. Gewalt, Disziplin und Ordnung, die als deutsche Obsessionen das Image der Deutschen bestimmten, sah er als Mittel, mit denen die Deutschen das ihnen Eigentliche und Wesentliche, das in ihrem Nationalcharakter angelegte Tiefe und Problematische ihrer Existenz als mögliche Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung niederzuhalten suchten. Unter der Oberfläche von Militanz und Gewalt befinde sich das eigentlich Deutsche, eine vielschichtige und ambivalen125 Plessner, Nation, S. 92.

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te Innerlichkeit, die auf ihre historische Stunde warte. Diese breche an, wenn problematische Innerlichkeit nicht mehr niedergehalten werden müsse, sondern als soziale Äußerungsform zugelassen werden könne. Dann, wenn sich Selbstunsicherheit zeigen könne, ohne sogleich im Spiel der Differenzen vorgeführt zu werden als Stigma nur eingeschränkter Fähigkeit, die Konkurrenz mit den aus geschichtlichen Gründen selbstbewussten Nationen zu bestehen, könne das historisch gewachsene Bewusstsein eines politischen und religiösen „Sonderweges“ in die Normalität einer politischen Existenzform integriert werden. Dann hätte sich die spezifisch deutsche Versuchung, Gesellschaft in Richtung eines Gemeinschaftsradikalismus und politischen Konfessionalismus aufzukündigen, erledigt. Plessners Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“126, in denen ein sich selbst problematisches und anderen Nationen immer wieder Probleme bereitendes Deutschland eingebunden wäre, zielte auf eben diese Konstellation.

5. Entwicklung in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ In Deutschland sind die Ergebnisse historischer Entwicklung häufig hinter den übersteigerten Erwartungen ihrer Akteure zurückgeblieben. Auf diese Erfahrung reagierte eine spezifisch deutsche Pathosformel der Mobilisierung historischer Subjekte im weltgeschichtlichen Horizont. Sie behauptete eine strukturelle Asymmetrie zwischen dem gut begründeten Anspruch auf eine herausragende Rolle im Ensemble der Nationen und Völker und der faktischen Diskriminierung in den machtpolitischen Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfen der Zeit. Eben das, was als Bedingung nationalen Selbstbewusstseins aufgebaut wurde, sei historisch verfehlt worden : Nationale Größe und Einheit, internationaler Einfluss und Anerkennung, die Souveränität des gleichberechtigten oder dominierenden Mitspielers auf dem politischen und diplomatischen Parkett. Diese Konstellation war prägend für die symbiotische Verklammerung von gesellschaftlicher Realität und weltbürgerlichem Horizont in der deutschen Geistesgeschichte der Neuzeit. In ihr wurde der Geltungsanspruch universeller Ideen dann, wenn er durch die Faktizität der Ereignisse in Geltungsnot geriet, nicht mehr von Fall zu Fall, sondern aus Prinzip durchgespielt und verteidigt. In Deutschland hatte sich hier eine variantenreiche Kultur der Geltungssicherung, Sinnzuschreibung und des Bedeutungstransfers herausgebildet, die durch gegenläufige Entwicklungen so leicht nicht zu erschüttern war. Die Anwendung moralischer Kategorien des Bewährens oder Versagens historischer Subjekte unterstellt Gestaltungsmöglichkeiten von Geschichte. Diese Sichtweise wird dann problematisch, wenn sie die Frage nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen individuellen und gemeinschaftlichen Handelns zugunsten der Annahme einer möglichen Verwirklichung von Ideen in der Geschichte vernachlässigt. Heinrich Forsthoff hat diesen Anspruch uni126 Ebd., S. 50.

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verseller Ideen, eine höhere Wirklichkeit zu gestalten, prägnant beschrieben : Obwohl „die Idee stets den Anspruch in sich trägt, die eigentliche, reine, wahre Wirklichkeit zu sein“127, lassen sich „Ideen, Normen, Prinzipien nicht verwirklichen und verkörpern [...] Andrerseits aber kann die Idee ihren Anspruch auf Wirklichkeit nicht aufgeben, ohne sich selber preiszugeben und für Illusion zu erklären.“128 Politik, die sich der Verwirklichung von Ideen und Prinzipien verpflichtet, sieht „die Idee als die eigentliche, höhere Wirklichkeit an, nach der das Gegebene, die vorhandene Wirklichkeit zu gestalten ist. [...] Sie will der Idee, dem höheren Gesichtspunkt, die unbedingte Herrschaft [...] verschaffen.“129 Die pragmatischen Handlungs - und Entscheidungszwänge der Politik, die Aushandlung von Kompromissen und die Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen kommen in ihr, wenn überhaupt, dann nur als Störgrößen vor. Die bissigen Worte, die Marx für die deutschen Zustände fand, sind bekannt: Deutschland, das „sich immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit“ befand, nämlich „am Tag ihrer Beerdigung“130, habe in seiner reellen Geschichte zwar eine Unmenge unvollendeter Werke hinterlassen, zur Vollendung aber sei es nur in den nachgelassenen Werken seiner ideellen Geschichte gekommen. Eben deshalb seien die Deutschen „philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein“.131 Als „ideale Verlängerung der deutschen Geschichte“132 habe die deutsche Philosophie den ideellen Anschluss an die entwickeltsten Zustände der Moderne hergestellt, denen Deutschland politisch und ökonomisch hinterherhinke. Insofern sei sie verantwortlich dafür, dass Deutschland trotz seiner ökonomischen, politischen und nationalgeschichtlichen Verspätung eine durch andere Völker nicht zu leistende Rolle im Ensemble dieser Völker spiele. Dadurch, dass die Deutschen „in der Politik gedacht, was die andern Völker getan haben“, sei „Deutschland ihr theoretisches Gewissen“133 geworden. Aus der reflektierten Distanz nicht nur zur politischen Wirklichkeit Deutschlands, sondern auch zu den fortgeschrittenen europäischen Entwicklungen, habe die Hegel’sche Philosophie nicht nur den Anschluss Deutschlands an die europäische Moderne gehalten, sondern in der idealen Verlängerung der deutschen Geschichte die historische Verspätung Deutschlands sogar noch zum theoretischen Vorsprung gewendet. Marx’ Kritik an den deutschen Zuständen als „unter dem Niveau der Geschichte“134 stehend bezog ihre Treffsicherheit und Schärfe vor allem aus seiner Fähigkeit, Ökonomie, Politik und Philosophie als miteinander verzahnte und aufeinander reagierende Entwicklungen zueinander in Beziehung zu setzen. Er argumentierte hier ganz ähnlich, wie später Plessner in seiner „Verspäteten 127 128 129 130 131 132 133 134

Forsthoff, Ende, S. 95. Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 100 f. Marx, Kritik, S. 380. Ebd., S. 383. Ebd. Ebd., S. 385. Ebd., S. 380.

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Nation“. Beide versuchten eine in ihrer historischen Entwicklung gegründete Spezifik des Deutschen bzw. der Deutschen herauszuarbeiten, die es ihnen ermöglicht habe, eine kritische Perspektive auf Zustände zu entwickeln, die sie selbst nicht aus eigener Erfahrung kannten, sondern nur gebrochen durch das Bild anderer Völker und Staaten, die sich entweder mitten in diesen Entwicklungen befanden oder diese bereits durchlaufen hatten. Die Deutschen hätten deshalb ein geschärftes Sensorium für die Ambivalenzen der Moderne, weil sie aus der Distanz reflektierter Verspätung nicht mehr unter dem Druck standen, Entwicklungen um jeden Preis nachholen zu müssen, die sich bereits als fragwürdig und zwiespältig erwiesen hatten. Auf dieses Sensorium spielt Marx an, wenn er im Status quo des deutschen Staatswesens die „Vollendung des ancien regime“ sieht, „die Vollendung des Pfahls im Fleische des modernen Staats“, während der Status quo des deutschen Staatswissens die Unvollendung des modernen Staats ausdrücke, „die Schadhaftigkeit seines Fleischs selbst“.135 Diese Aufwertung tatsächlicher Mängel zum reflexiven Vorteil durch die deutsche Philosophie habe diese in ihrer nationalen Führungsrolle bestätigt. Deutschland, so Marx, wäre schlecht beraten, würde es unkritisch den Anschluss an die höchstentwickelten Nationen Europas herstellen, da ein solcher Anschluss es auch den problematischen Konsequenzen ihrer Entwicklungen aussetzen würde. Seine Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Entwicklungsvarianten zu wählen, werde Deutschland an die Spitze der Nationen setzen. Im Zeitraffertempo werde es Entwicklungen nachholen, deren problematische Seiten es dabei bereits berücksichtigen könne. Aus einer Vergangenheit, die andere Völker längst hinter sich gelassen hätten, werde es mitten in die Zukunft springen. Marx traute Deutschland die entscheidende Rolle in der Beschleunigung und Zuspitzung europäischer Entwicklungen zur revolutionären Krise zu. Für ihn war diese Vision mit einer proletarischen Revolution verbunden, einer Revolution, die sich nicht damit begnügen könne, das Proletariat zur politisch herrschenden Klasse zu machen, sondern die als radikale und nicht nur politische Revolution, als „allgemein menschliche Emanzipation“ in der Marx’schen Terminologie, Deutschland nicht nur auf das „Niveau der modernen Völker, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird“136, zu heben versprach. Im deutschen Proletariat sah er die Avantgarde einer unmittelbar bevorstehenden allgemein menschlichen Emanzipation als ganzheitlicher Revolution. Dabei war sich Marx durchaus bewusst, dass seiner Vision die Differenz „zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit“137 entgegenstand. Gerade weil in Deutschland die politische Revolution ausgeblieben war und es deshalb das, was es bereits theoretisch über wunden, praktisch noch gar nicht erreicht hatte, dürfe Deutschland 135 Ebd., S. 385. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 386.

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sich nicht mit dem Nachholen dieser Vermittlungen begnügen, sondern müsse es durch den radikalen Sprung aus der Verspätung gleich in der Zukunft ankommen. Mit diesem Sprung werde sich Deutschland „nicht nur über seine eignen Schranken hinwegsetzen, sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker“.138 Eine deutsche Verspätung im Prozess der europäischen Emanzipation sah Marx als dessen Chance, auf Probleme der Modernisierung effizienter zu reagieren als andere europäische Staaten. Entwicklungen, die im europäischen Maßstab bereits an ihre Grenzen gekommen seien, könne Deutschland auslassen und überspringen. Konfrontiert mit der Möglichkeit, durch eine bürgerliche Revolution die politische Emanzipation der Deutschen voranzutreiben und dabei ihre unbefriedigende soziale Realität in Kauf zu nehmen, würden sich die über Reichweite und Grenzen dieser Revolution durch die Erfahrung der anderen Nationen und Völker bereits aufgeklärten Deutschen gegen die politische Emanzipation einer bürgerlichen Revolution für die allgemein menschliche Emanzipation einer proletarischen Revolution entscheiden. Diese für ihn unmittelbar bevorstehende Entwicklungsperspektive stellte Marx den Deutschen 1844 in Aussicht : „Deutschland als der zu einer eignen Welt konstituierte Mangel der politischen Gegenwart wird die spezifisch deutschen Schranken nicht niederwerfen können, ohne die allgemeine Schranke der politischen Gegenwart niederzuwerfen. Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehenlässt.“139 In Deutschland, so Marx’ Überzeugung, konzentrierten sich die problematischen Seiten und strukturellen Defizite bürgerlicher Emanzipation und Gesellschaft. Eben deshalb werde deren Zukunft in Deutschland entschieden. Wiederum in ganz ähnlicher Rhetorik beschwor Plessner die deutsche Fähigkeit, sich selbst in einer Radikalität neu zu entwerfen, die anderen, durch Fehlentwicklungen und strukturelle Erstarrung paralysierten Nationen, so nicht möglich war. Diese Fähigkeit werde Deutschlands nationalem Aufbruch die Bedeutung eines möglichen europäischen Neuanfangs geben. Auch Marx benutzte in seinen frühen Schriften die Argumentationsfigur der historischen Verspätung deutscher Entwicklungen, um die Überlegenheit deutscher Reflexionskultur und die weltbürgerliche Verfassung deutscher Philosophie herauszuarbeiten, die die Deutschen als Avantgarde einer radikalen Revolution zur Über windung der kapitalistischen Gesellschaft in Position bringen werde. Mit der Ausarbeitung seiner ökonomischen Gesellschaftstheorie und der organisatorischen Entwicklung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung spielte eine solche geschichtsphilosophische Überhöhung der Deutschen keine Rolle mehr in seiner Theorie. Während für Marx der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft als anachronistischer, historisch überlebter Ordnung ausgemacht war, ging es Plessner 138 Ebd., S. 386 f. 139 Ebd., S. 388.

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darum, durch eine differenzierte Diagnose ihrer komplexen Krise eine aussichtsreiche Perspektive ihrer Erneuerung als Werte - und Gesellschaftsordnung zu entwerfen. Das beschleunigte Nachholen europäischer Entwicklungen, so seine Ausgangsthese, habe den Deutschen das Gefühl gegeben, im Ensemble der europäischen Nationen etwas Besonderes zu sein. Das Fehlen eines historisch gewachsenen Nationalcharakters hätten sie mit der Behauptung von „Charaktereigenschaften des ewigen Deutschen“140 beantwortet, die die Deutschen zur weltgeschichtlichen Führungsrolle bestimmte. Im Unterschied zu anderen Völkern könne das deutsche Volk aus innerer Ursprünglichkeit, Urtümlichkeit und Tiefe noch unausgeschöpfte Entwicklungspotentiale mobilisieren, die es an die Spitze zukunftsweisender Entwicklungen tragen werde. Die Denkfigur weltgeschichtlicher Ungleichzeitigkeit, die den Deutschen gegenüber dem Rest der Welt zum Vorteil einer beispiellosen Affinität für Zukunft und Entwicklung ausschlage, benutzte auch die nationalsozialistische Ideologie zur Rechtfertigung eines weltpolitischen Führungsanspruchs Deutschlands. So war es etwa für den jungen nationalsozialsozialistischen Historiker Christoph Steding die historische Überwindung jener mit dem Dreißigjährigen Krieg beginnenden Epoche, die den Deutschen einen historischen Vorteil und Vorsprung gegenüber der übrigen europäischen Welt gesichert hatte. Während Europa noch „durch den Geist jener Zeit bestimmt und geprägt“ sei, sei Deutschland der übrigen europäischen Welt eben darin voraus, dass, was „für diese noch Gegenwart und Wirklichkeit [...] für die Deutschen schon Vergangenheit und Unwirklichkeit“141 sei. Kurz : Deutschland und Westeuropa „leben [...] in verschiedenen Zeiten“.142 Diese Ungleichzeitigkeit eröffne den Deutschen Erkenntnismöglichkeiten, die so für die Westeuropäer nicht bestünden. Da sie jenes Zeitalter, in dem die Westeuropäer noch lebten, bereits hinter sich hätten, seien sie im Unterschied zu diesen auch in der Lage, diese Epoche zu überblicken. In seiner „Verspäteten Nation“ diskutierte Plessner diese geschichtsphilosophische Denkfigur des uneingelösten Ursprungs, der die Wirkungsmächtigkeit der historisch blockierten Anfänge auf Dauer stellte. In der Verdichtung von Vergangenheit und Zukunft zur Jetzt - Zeit des Augenblicks der Entscheidung bleibe Geschichte auf dem Sprung in die Gegenwart. Die freie Tathandlung befreie die gestaute Bewegungsenergie des blockierten Ursprungs zum historischen Anfang neuer Entwicklungen. Um die Selbstermächtigung der Deutschen zu einem für andere Völker und Nationen nur schwer berechenbaren Handeln möglichst eindringlich zu fassen, benutzte Plessner das Bild des Vulkans, der in immer wiederkehrenden Ausbrüchen „Urgestein“ aus der Tiefe hole – des deutschen Volkes, das „sich in der Rolle eines Vulkans gefällt, zu dessen eruptiven Äußerungen nun einmal Maßlosigkeit und Wildheit gehören“.143 Die Deutschen 140 141 142 143

Plessner, Nation, S. 28. Steding, Reich, S. 4. Ebd. Plessner, Nation, S. 28.

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werden damit vorgestellt als ein „Urvolk“, das, wenn es sein muss, Jahrhunderte in verborgener Tiefe auf seine Stunde warten kann. Habe ihr Warten ein Ende, so seien sie in der Lage, in ungeheurer Beschleunigung Entwicklungen voranzutreiben und nachzuholen, die sie in einer ideellen Parallelgeschichte bereits simuliert und vorweggenommen hätten. Von den Normalverläufen geschichtlicher Entwicklung abgekoppelt in historischen Zuständen verharrend, die die europäischen Nationalstaaten als Vorgeschichte nationalstaatlicher Gründung längst hinter sich gelassen hätten, rekurrierten die Deutschen als „verspätete Nation“ auf die natur wüchsige Eruptivkraft des Völkischen. Energie, Landschaft, Vulkan – diese naturgeschichtliche Metaphorik nutzte Plessner, um die Deutschen als eine Nation zu beschreiben, an der sich im Unterschied zu den historisch gewachsenen und verorteten Völkern ein quasi naturgesetzliches Schicksal vollzog. Die Deutschen trauten sich zu, die Welt mit den Produkten ihrer kreativen Energie zu überraschen. In ihren literarischen und philosophischen Imaginationen sahen sie sich als Repräsentanten weltbürgerlicher Vernunft. Bis heute unübertroffen in seiner parodistischen Zuspitzung hatte Heinrich Heine bereits 1834 davor gewarnt, dass die Deutschen in ihrer historisch einzigartigen Synthese von metaphysischem Ernst und Bereitschaft zu aggressiver Tathandlung der Welt noch das Fürchten lehren würden : In einem eigenen Reich des Geistes hätten die Deutschen ausgebildet, was sie gegenüber anderen Nationen auszeichne – einen Fanatismus des Willens, der weder Furcht noch Eigennutz kenne; eine Haltung, die nicht kämpfe, um zu siegen, sondern um des Kampfes willen. Die Doktrinen der deutschen idealistischen Philosophie hätten revolutionäre Kräfte entwickelt, „die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen und erbarmungslos mit Schwert und Beil den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen [...] Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willens - Fanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind.“144 Diese Übertreibungen sind bei aller ironischen Distanz, die Heine damit aus dem Pariser Exil zu seinem schmerzlich vermissten Vaterland aufzubauen versucht, auch ernst gemeint. Heine leidet an Deutschland, dessen Probleme und Schief lagen er sich nicht uneingeschränkt zu eigen zu machen vermag, von denen er aber auch nicht lassen kann.145 Plessner sah die Wirkungsmächtigkeit solcher Mythen. In der existentiellen Ausnahmesituation werde zur historischen Mission konditionierten Menschen suggeriert, es sei ihnen nicht nur möglich, in dieser Situation über sich und ihre lebensweltlich - alltäglichen Schranken hinauszuwachsen, sondern solche Schranken selbst ein für allemal abzuschaffen. Geschichtsphilosophische Konstruktio144 Heine, Geschichte, S. 616. 145 Zu Heine vgl. Raddatz, Taubenherz.

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nen sah Plessner „als Ausdruck tieferer historischer Kräfte [...] und Resonanzboden der Zeitideen“.146 Er schätzte sie als aufschlussreiches Material, dessen Bearbeitung den methodischen Zugang zu jenen historischen Kräften versprach, die sich in ihnen ausdrückten. Die Zukunft der Vergangenheit werde in der Gegenwart entschieden. Welche der Vergangenheiten sich als mögliche Zukunft in der Gegenwart fortsetzen werde, entscheide sich u. a. dadurch, in welcher Weise einer Gegenwart die systematische Ordnung der Vergangenheit zur stimmigen Korrespondenz mit ihren eigenen Entwicklungen gelinge. Die zur Alternative zugespitzte Rhetorik, entweder Unerledigtes wieder aufzunehmen, Fehlentwicklungen zu korrigieren, einen radikalen Neuanfang zu simulieren oder aber sich in der Fortsetzung einer wirkungsmächtigen und legitimen Tradition zu begreifen, bestimmt geschichtliche Entwicklung als offenes Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wie und an welchen Problemen sich diese Spannungen aufbauen, auf welche Weise sie sich in Auseinandersetzungen und Konflikten entladen oder in veränderten Kontexten erneuern würden, könne nur bedingt vorab bestimmt werden. In diese Debatte um die geschichtsphilosophische Konstellation von historischen Ereignissen und ihrer Interpretation, von realen und fiktiven Welten, inter venierte Plessner mit einer assoziationsreichen Metaphorik, die die Vielschichtigkeit des Problems durch eine atmosphärisch stimmige Beschreibung zu halten versuchte : Die Quellen der Geschichte fließen erst dann und in der Weise, in der sie angerufen werden. Imaginationen entfalten in der Geschichte eine eigene Wirkung, die nicht allein dadurch entschieden wird, ob sie sich aus echten oder falschen Traditionen und Überlieferungen speisen. Die Zukunft ist auch ein Produkt des Willens, sie herbeizuführen. Die Vorstellung von dem, was man sein will, ist nicht nur durch die Vergangenheit geprägt. Der Wille zur geschichtlichen Bestimmung, zur bestimmten Unterbrechung des Zeitflusses, der kraft eines Willensaktes zur selbst bestimmten Zeit still gestellt werden soll, die sich doch immer wieder jedem Versuch ihrer Feststellung entzieht, sucht die Vergangenheit zur teleologisch gerichteten Vorgeschichte der Gegenwart umzuinterpretieren. Dieser Wille forme sich an der Gleichgültigkeit von Sein und Zeit. Die Welt warte nicht darauf, nach menschlichen Bedürfnissen umgestaltet zu werden. Und dennoch müsse sie dem Bedürfnis nach einer Menschen gemäßen Welt entgegenkommen. Sein Eigensinn binde den Menschen umso fester an deren Widerstand gegen menschliche Formung und Sinngebung, je erfolgreicher er sich kulturell von den naturgegebenen Bedingungen seiner weltlichen Existenz zu emanzipieren verstehe. Eben deshalb könne er, „was er eigentlich sein kann und soll“147, nicht gegen eine Welt behaupten und durchsetzen, die dem eigentlichen Menschsein gleichgültig gegenüberstehe, sondern nur mit und in ihr. Im Versuch, die Welt auf seine Seite zu bringen, formiere sich im Widerstand dieser Welt gegen ihre Aneignung zu menschlichen Zwecken eine kultu146 Plessner, Nation, S. 34. 147 Plessner, Conditio humana, S. 38.

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relle Wirklichkeit, in der der Mensch seine Fähigkeit, sich von der Welt zu emanzipieren durch sein Vermögen, auf menschliche Weise den Anschluss an diese Welt zu halten, nachweisen müsse. Die Vergangenheit ist kein neutrales Terrain diffuser Prägungen gegenwärtiger Zustände oder ein Reservoir von Legitimationen. Zwar lässt sich Gegenwart als Konsequenz vergangener Entwicklungen begreifen, die sich in der Gegenwart auf eine Weise fortsetzen, die die Vergangenheit als Vorgeschichte der Gegenwart erscheinen lassen. Eigensinn und Bedeutungsvielfalt der Vergangenheit erschöpfen sich jedoch nicht in den von ihr ausgelösten oder verursachten Anschlussentwicklungen. Es bleibt ein Überschuss von Bedeutungen und ungerichteten Bewegungsenergien, die sich in veränderten historischen Konstellationen auf neue Weise konzentrieren können. Damit aus Vergangenheit Geschichte werden kann, bedarf es einer Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit „in der Gegenrichtung des Vergehens [...] einer teleologischen Perspektive vom Effekt her zum Effekt hin“.148 Das Vergegenwärtigen des Vergangenen als dessen Vorlauf in die Zukunft bestimmte Plessner als den entscheidenden Prozess einer für neue Interpretationen immer offenen Geschichte der Kulturen. In ihm realisiere sich die innere Freiheit, „sich selbst aus dieser Vergangenheit geworden und zur Vergangenheit werdend zu begreifen“.149 Auf der anderen Seite ist auch die Annahme einer Gegenwart, die sich als Zäsur historischer Prozesse klar von ihrer Vergangenheit abgrenzen ließe, nicht mehr als eine begriff liche Hilfskonstruktion zur Strukturierung dieser Prozesse. Zwischen der Behauptung, in der Vergangenheit sei alles ganz anders gewesen, als in der Gegenwart und der Gegenthese, in der Vergangenheit habe sich vorbereitet, was sich in der Gegenwart nunmehr erfülle, gibt es ein ganzes Spektrum möglicher Bezüge zur Vergangenheit. Auch der ausdrückliche Bruch mit der Vergangenheit kommt ohne den Bezug auf sie nicht aus. Gerade er ist auf den selektiven Anschluss an die Vergangenheit durch die Neuordnung historischer Versatzstücke zu einer zukunftsfähigen Gegenwart angewiesen. Im Blick auf deutsche Entwicklungen in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wurde behauptet, dass deutsche Vergangenheit ihre Zukunft noch vor sich habe und in der Gegenwart noch gar nicht angekommen sei. Sie sei als Fremdkörper zwar historisch mitgelaufen, ohne sich jedoch schon in einer Gegenwart niedergelassen zu haben. Eine politische Bewegung, der es gelang, sich dieser Vergangenheit für ihre Zwecke zu bemächtigen, werde sich damit ein überwältigendes Medium von Bedeutungen und Referenzen erschließen. So lade die Beschwörung des historischen Augenblicks diese Vergangenheit mit Jetztzeit auf, indem sie die Gegenwart in mythischen Ursprüngen wurzeln und als Einlösung der in diesen Ursprüngen liegenden Versprechen und Möglichkeiten erscheinen lasse. Mit der Anrufung geschichtsmächtiger Potentiale der deutschen Vergangenheit signalisierten die Nationalsozialisten, dass mit ihrer Machtergreifung die geschichtliche Stunde der Deutschen nunmehr gekommen sei. 148 Plessner, Grenzen, S. 125. 149 Plessner, Macht, S. 185.

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Mit der nur ihm möglichen Mobilisierung eines Ursprungs sollte dem deutschen Volk ein Vorsprung in die Zukunft eröffnet werden. Als „Vernunftvolk“ wurde ihm damit nicht nur der globale Ausgriff in den Raum zugestanden, sondern zugleich auch der Zäsuren setzende Eingriff in das Kontinuum der Zeit. Das zeitliche Kontinuum von in der Vergangenheit gesetzten Voraussetzungen, gegenwärtigen Bedingungen und konkreten Erwartungen an eine Zukunft wurde dadurch aufgebrochen zur Zäsur einer Gegenwart, die in der Lage war, aus eigener Kraft die Bedingungen ihrer Zukunftsfähigkeit zu setzen. Eine mobile „Jetzt - Zeit“ werde Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart ziehen und dem „Vernunftvolk“ der Deutschen ein Leben in der Balance von imaginärer Entgrenzung und realer Grenzüberschreitung ermöglichen. Wenn sich etwas als zeitliches Kontinuum der Geschichte herauskristallisiert hat, so scheint es der „Kampf um Raum“ zu sein. Die Eroberung, Besetzung und Verteidigung von Räumen, nicht von Zeit ist es, die geschichtliche Prozesse vorangetrieben hat. „Volk ohne Raum“ hieß darum auch die rhetorische Mobilisierungsformel der Deutschen, und nicht „Volk ohne Zeit“, eben deshalb, weil sie als Nation zu spät kamen, um noch freie Räume besetzen zu können. „Das Reich als Raum, mit dem und in dem der deutsche Charakter sich immer neu aus dem gewahrten Rassegrund erhebt und verwirklicht, ist zuerst eine zeitliche und geschichtliche Ordnung, eine immer währende Aufgabe und Bewährung: [...] ein Weltalter.“150 Die geschichtsphilosophische Bedeutungsanreicherung des „Tausendjährigen Reiches“ verknüpfte beide Dimensionen durch das Konzept der Bewährung – der auf Dauer gestellten Bewährung des deutschen Charakters, die jeglichen zeitlichen Rahmen sprengen und die Weite des Raums mit der unermesslichen Ewigkeit der Zeit im Weltalter zusammenschließen werde. Der in der rhetorischen Figur der „verspäteten Nation“ unterstellte Zeitdruck, unter dem das deutsche Volk im europäischen Raum zu agieren gezwungen sei, signalisierte den europäischen Völkern ein Raumproblem, von dem die Deutschen erklärten, dass es nun an der Zeit wäre, es im Sinne einer territorialen Erweiterung ihres völkischen Raumes zu lösen. Zugleich stellte diese Metaphorik klar, dass eine solche Lösung dringlich war und nicht länger hinausgeschoben werden konnte. Dem Alles oder Nichts der auf eine territoriale Lösung setzenden Fixierung auf den Raum entsprach das Jetzt oder Nie der Vorstellung, unter zeitlichem Druck stehend auf sofortigen Lösungen bestehen zu müssen, bevor es zu spät und die günstige Gelegenheit der historischen Konstellation der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ vertan war. Die Epochen des politischen und wirtschaftlichen Aufbruchs der europäischen Moderne, so sah es Plessner, waren den Deutschen nie zur politischen und geistigen Gegenwart geworden. Nur aus der Gebrochenheit ihres Wesens gehörten diese Entwicklungen zu ihnen. Um ihre Defizite tatsächlich aufzuholen, würden sie immer zu spät kommen. In dieser historischen Verspätung habe 150 Günther, Neuadel, S. 155.

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jedoch auch die Chance gelegen, offen zu bleiben und zu gegebener Zeit aufzubrechen zu Möglichkeiten, die für den Westen bereits keine Möglichkeiten mehr waren. Vom Standpunkt der europäischen Moderne nie erwachsen geworden, sei Deutschland eben deshalb der Prototyp einer jungen Nation, ein Land ohne Tradition, das unter diesem Mangel an Tradition litt, jedoch zugleich aus ihm die Energie des Aufbruchs zog.151 Als „verspätete Nation“ sei Deutschland hinter den Entwicklungen der modernen europäischen Nationalstaaten zurückgeblieben, bewege es sich in nationalstaatlicher Fragmentierung nicht in der gleichen Zeit wie diese. Zugleich habe es jedoch in einem dezidiert weltbürgerlichen Universalismus ideell den Anschluss an diese Entwicklungen gehalten, die es mit der philosophischen Figur des Vernunftstaates sogar noch überbot. In der Spannung zwischen nationaler Verspätung und weltbürgerlicher Imagination habe es das Bewusstsein einer weltgeschichtlichen Sonderrolle ausgebildet. Deutsche Philosophie erhob den Anspruch, die historische Verspätung zum möglichen Entwicklungsvorsprung zu wenden. Nicht der verspätete Anschluss an Entwicklungen, von denen Deutschland in der nationalen Fragmentierung gegenüber dem Westen abgekoppelt war, so ihre Argumentation, bildete die Perspektive dieser Ungleichzeitigkeit, sondern der Zeitsprung aus der Vergangenheit in eine Zukunft, die die problematischen Entwicklungen der Gegenwart aus der Perspektive ihrer künftigen Möglichkeiten überholte. Wer, wie Deutschland, spät genug kam, um in seiner nachholenden nationalstaatlichen Entwicklung bereits auf Irrtümer und Erfahrungen der Staaten reagieren zu können, an deren Entwicklungsstand der Anschluss hergestellt werden sollte, ersparte sich deren einfache Wiederholung. Die historische Verspätung Deutschlands sah Plessner als dessen Chance, dann den Anschluss an fortgeschrittene Entwicklungen zu finden und sich schließlich an ihre Spitze zu setzen, wenn sich in den Turbulenzen des gesellschaftlichen Umbruchs der Vorteil Westeuropas, diese Entwicklungen politisch initiiert, normativ gegründet und gesellschaftlich durchgesetzt zu haben, bereits verbraucht hatte und nun nur noch als realitätsfremde Beschwörung einer Wirklichkeit erschien, die bereits dabei war, eine andere Gestalt anzunehmen. Diese Verspätung sollte Deutschland die Möglichkeit eröffnen, Entwicklungen abzukürzen und sofort an den am weitesten entwickelten Stand der Dinge anzuknüpfen. Eine solche Möglichkeit des Zeitsprungs in den fortgeschrittensten Stand der Entwicklung habe die Philosophie offen gehalten, die gerade jene Entwicklungen reflexiv gebrochen und geistig verfremdet habe, von denen die Deutschen real abgekoppelt waren. Mit der Differenzierung einer realen und einer fiktiven Existenz der Nation habe die deutsche Philosophie zugleich den Perspektivenwechsel zwischen diesen beiden Existenzweisen ermöglicht. Was real nicht wirksam geworden war, hatte sie durch seine Verfremdung, Sublimierung und reflexive Brechung als perspektivisch möglich offen gehalten. Noch 151 Vgl. Plessner, Nation, S. 91 f.

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vor ihrer politischen Existenz war die deutsche Nation in der ideellen Überhöhung als Vorwegnahme einer weltbürgerlichen Gesellschaft präsent. Die Gebrochenheit von eigener Vergangenheit und Gegenwart, die den Deutschen eine einfache Fortsetzung des Vergangenen in der Gegenwart unmöglich machte, hätten sie philosophisch in eine „Gebrochenheit ihres Wesens“ übersetzt. Dadurch hätten sich ihnen Möglichkeiten eröffnet, die in einer traditionsmächtigen ungebrochenen Kontinuität westlicher Entwicklung bereits verspielt waren oder aber so nie bestanden hatten. Nicht nur die späte Entwicklung, auch der frühe Aufbruch kann durch geschichtsphilosophische Imaginationen begleitet werden, je nachdem, worin die in Anspruch genommene historische Ausnahmestellung gesehen und wodurch sie begründet wird. Gegen die normative Kraft des Faktischen setzt die historische Einbildungskraft dann die philosophische Konfiguration einer Jetzt - Zeit, die den historisch zu früh oder zu spät Gekommenen geistige Zeitgenossenschaft als ein imaginäres Leben auf gleicher Höhe zu ihrer Zeit ermöglichen soll. Mit der Annahme der Ungleichzeitigkeit geschichtlicher Entwicklungen eröffnet sich historischer Interpretation ein weiter Spielraum mit eigenen Plausibilitätskriterien. So wurde die deutsche Gleichzeitigkeit industrieller Revolution und zweiter Reichsgründung als Beispiel dafür interpretiert, wie sich eine historische Verspätung durch die zeitgeschichtliche Gunst der Stunde in einen Entwicklungsvorteil verwandeln kann : Die Deutschen seien spät genug gekommen, um genau zur richtigen Zeit die historische Verspätung zum Entwicklungsvorteil unter veränderten Bedingungen des modernen Kapitalismus zu wenden und als „junge Nation“ die energiegeladene Hemmungslosigkeit des Aufbruchs gegen die Sättigung der westlichen Länder auszuspielen. Der „instrumentale Industrialismus“152, so Plessner, hatte sein Ethos aufgebraucht und sich zum keines wirtschaftsethischen oder sonstigen Traditionsgrundes mehr bedürftigen Hochkapitalismus verselbstständigt. Seine wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten konnten sich dadurch auch in soziokulturellen Milieus entfalten, denen die Traditionen und kulturellen Bedingungen des Gründerzeitkapitalismus fremd waren. Dieser keinen Traditionen mehr verpflichtete Kapitalismus sei zu historisch günstiger Stunde auf die Traditionslosigkeit der deutschen Verhältnisse getroffen. „Weltfrömmigkeit und Traditionslosigkeit brauchen eine bürgerliche Gesellschaft, um die Energien, die in ihnen stecken, voll entfalten zu können. Ihr eigentliches Zeitalter ist das 19. Jahrhundert gewesen. Deutschland war deshalb dazu berufen, die Stimme dieses Jahrhunderts zu werden, in dem ein Weltalter zu Ende ging, um ein neues Weltalter einzuleiten. [...] Die Epoche des Traditionszerfalls brauchte das Land der Traditionslosigkeit, um sich in seinem Geiste erst ganz zu finden. Deutsches Wesen und 19. Jahrhundert gehören zusammen. Eines ist ohne das andere nicht zu verstehen.“153 Die gesellschaftlich leer laufenden Traditionen eines 152 Vgl. ebd., S. 105. 153 Ebd., S. 92.

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dysfunktional gewordenen „Ethos der Moderne“ hätten die hegemonialen Ambitionen Deutschlands noch gesteigert und es ihm erlaubt, seinen Ausschluss aus dem Wertesystem des politischen Humanismus als Vorteil der Traditionslosigkeit geltend zu machen. Die nichtwestlichen Trittbrettfahrern okzidentaler Rationalität konnte es auf eine ideelle Parallelgeschichte der Vernunft verweisen, in der es den distanzierten und reflektierten Anschluss an die Moderne in Zeiten eigener nationalstaatlicher Fragmentierung und vormoderner gesellschaftlicher Zustände gehalten hatte. Der Traditionsverfall des Westens – die Entwertung der für die Konstituierung westlicher Rationalität maßgeblichen Traditionen, Bedingungen und normativen Prinzipien; die gegenläufigen kulturellen Traditionen der außereuropäischen Völker Asiens, Amerikas und Afrikas; schließlich die Traditionslosigkeit Deutschlands in der verspäteten Nationalstaatsgründung, waren für Plessner Kennzeichen der Situation, in der sich westliche Rationalität neu bestimmen und behaupten musste. In dieser Konstellation ruhe die Hoffnung auf eine Erneuerung des europäischen Wertesystems auf Deutschland, in dem diese Traditionen nie gesellschaftlich wirkungsmächtig geworden seien, weshalb auch ihre Entwertung an Deutschland vorüber gegangen sei. Das Besondere des 19. Jahrhunderts154, das es zum deutschen Jahrhundert prädestinierte, sah Plessner in dem für Deutschland glücklichen Zufall der Gleichzeitigkeit eines epochalen und nationalen Umbruchs. Diese Gleichzeitigkeit habe Deutschland in dem Moment an die Spitze der europäischen Entwicklungen getragen, in dem es gerade dabei war, den Anschluss an die Voraussetzungen der modernen Industriegesellschaft herzustellen. Was in Europa im 19. Jahrhundert zerfallen sei, habe für Deutschland so nie bestanden. Über die Traditionen, die in diesem Umbruch entwertet wurden, habe Deutschland nie verfügt. Sein nationaler Ausnahmestatus konstitutiver Traditionslosigkeit stellte sich nun im allgemeinen Traditionsverfall als gesamteuropäischer Normalzustand her. Plötzlich war Deutschland auf der Höhe der Zeit, ohne selbst etwas dazu beigetragen zu haben. Es schien, als hätten sich nun die Vorzeichen verkehrt. Was eben noch als Mangel und Defizit galt, schlug Deutschland plötzlich zum Vorteil aus. Nun sah es so aus, als habe nicht Deutschland den Anschluss an europäische Entwicklungen verpasst, sondern Europa gerade noch rechtzeitig eine Fehlentwicklung abgebrochen, um den Anschluss an durch deutsche Standards bestimmte Entwicklungen nicht völlig zu verlieren. Nachdem der Geist aus den kapitalistischen Verhältnissen gewichen war (Weber ) und diese nur noch den „Geist geistloser Zustände“ ( Marx ) reproduzierten, könne es für Deutschland nicht mehr um die nachholende Konstituierung eines entsprechenden Wirtschaftsethos gehen. Es genüge nun, sich in der eigenen Traditionslosigkeit dem Traditionsverfall der kapitalistischen Verhältnisse zu stellen, um den Nachteil des Fehlens einer wirtschaftsethischen Gesinnung zum Entwicklungsvorteil ausschlagen zu lassen. Gleich den außereuropäischen Staaten, die den Anschluss an kapitalistische Entwicklung und westliche Ratio154 Zum Besonderen des 19. Jahrhunderts vgl. Osterhammel, Verwandlung.

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nalität ohne entsprechende Traditionsbezüge, ohne Ethos und Theorie hergestellt hätten, könne auch Deutschland im unmittelbaren Zugriff auf die technischen, wissenschaftlichen und bürokratischen Errungenschaften der westlichen Moderne in diese Entwicklung und ihre Möglichkeiten springen und sich dabei begründete Hoffnungen auf eine führende Position im europäischen Kontext machen. In Deutschland hatte die Komplementarität von historischer Verspätung und Beschleunigung in der Ungleichzeitigkeit von politischer, ökonomischer und geistesgeschichtlicher Entwicklung als Motor einer beispiellosen Entwicklungsdynamik des industriegesellschaftlichen Kapitalismus funktioniert. Vor der Folie einer Stagnation Europas wirkte die Beschleunigung deutscher Entwicklungen umso eindrucksvoller. Ohne innere Beziehung zur Tradition der Aufklärung, dafür aber mit großen Traditionen in einzelstaatlicher Bürokratie und preußischem Militär, hatten sich in Deutschland Humanität, Fortschritt, Internationalismus und Freiheit in die Philosophie als der ideellen Begründungsinstanz nationaler Identität zurückgezogen. Dieser weltbürgerliche Universalismus nationaler Stellvertretung der Vernunft konnte nationale Großmachtphantasien inspirieren und rechtfertigen. Diese Argumentation sah in Staaten und Völkern Gebilde, die gleich biologischen Organismen einen organischen Zyklus von Lebensaltern durchschritten, die frühzeitig altern und sterben, sich aber auch dem Traum ewiger Jugend verschreiben und daraus eine konkurrierenden Staaten überlegene Dynamik ihres politischen Handelns entwickeln könnten. Vor diesem Hintergrund wurde die Metaphorik der jungen Staaten als derjenigen entwickelt, die in ihrer verspäteten Entwicklung noch nicht frühzeitig verbraucht und gealtert waren und denen deshalb die Zukunft gehören werde. Anders als die mit sich und ihrer Geschichte identischen, durch Traditionen gestützten, in ihrer Bewegungsfreiheit bereits eingeschränkten Staaten, schienen sie in der Lage, neue Entwicklungen zu initiieren. Weder durch Tradition noch durch die Eigenlogik und das widerständige Beharrungsvermögen fest gefügter Verhältnisse gebunden, hätten sich diese Staaten, aber auch radikale politische und soziale Bewegungen, an die Spitze des gesellschaftlichen Umbruchs gesetzt. In ihnen hätten sich die Spannungen, diffusen Energien und blockierten Potentiale ungleichzeitiger Entwicklungen zur Schubkraft historischer Beschleunigung akkumuliert. Im Unterschied zu den europäisch führenden Staaten, die solche Strukturkrisen zutreffend als Gefährdung ihrer Führungspositionen sehen würden, blieben diese „jungen Staaten“ offen für Möglichkeiten national übergreifender epochaler Umbrüche. Aus dem vermeintlichen Nachteil ihrer Verspätungen leiteten sie jetzt einen Führungsanspruch ab, der sich auf den strategisch günstigen Zeitpunkt, die Dynamik der Beschleunigung und eben die unverbrauchte „Jugend des Aufbruchs“ zu neuen Entwicklungen berief. Am Maßstab der Reichweite, Radikalität und Konsequenzen der anstehenden epochalen Umwälzungen ließen sich diese Defizite zum Vorteil der Affinität zum gesellschaftlichen Umbruch wenden. Verglichen mit den alten europäischen Staaten habe sich an Deutschlands Ungleichzeitigkeit

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mit deren Entwicklungsstandards nichts geändert. Verändert habe sich lediglich das Terrain, auf dem nun die Konsequenzen von Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten entschieden würden. Die Gleichzeitigkeit von industriellem und nationalstaatlichem Aufbruch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe Deutschland an die Spitze der europäischen Entwicklung geführt. Ein Volk, das nicht in seiner Gegenwart ruhen konnte, weil diese Gegenwart nicht in der Kontinuität einer verlässlichen Tradition stand, war gezwungen, diesen Mangel bewusst auszugleichen. Es musste versuchen, seinem Dasein einen Sinn aus den Quellen seines Werdens zu erarbeiten, nicht aus dem historisch Gewordenen. Dieser Typus mythischer Quellen des Nationalen als eines Zukunftsversprechens konnte nicht historisch recherchiert, sondern musste philosophisch konstruiert werden. Im Unterschied zur historischen Recherche nationalgeschichtlicher Quellen zielte die philosophische Konstruktion einer völkischen Naturgeschichte nicht auf historische Anfänge der Nation und ihre Fortsetzung in einer Nationalgeschichte, sondern auf den vorgeschichtlichen Ursprung völkischer Existenz. In ihr ging es nicht um die historische Abfolge von Ereignissen, aus denen sich die Umrisse einer Nationalgeschichte der Deutschen erst konturieren mussten, sondern um Dasein und Existenz des Deutschen. Gelang es den Deutschen, so der national völkische Mythos, die Kräfte ihres vorgeschichtlichen Ursprungs historisch zu entbinden, so würde es ihnen möglich sein, mit einem Sprung in der Gegenwart anzukommen, ohne sich länger an einer aus ihrer Sicht verfehlten Vergangenheit abarbeiten zu müssen. Der Sprung in die Gegenwart, in die Jetzt - Zeit der Entscheidung, diese messianische Figur des jederzeit möglichen Anfangs aus verborgenen ( Ur )Gründen, war nicht auf einen völkischen Nationalismus festgelegt. In der Wendung der Ohnmacht zur Omnipotenz beschrieb dieser Sprung in die offene Situation der Entscheidung eine zunächst weltanschaulich nicht festgelegte diffuse Suchbewegung nach einem Ausweg aus als aussichtslos wahrgenommenen Auseinandersetzungen mit festgefahrenen Bedingungen. Ein imaginierter Sprung aus allen Bindungen und Sicherungen setzte die messianische Erwartung des Anfangs eines Neuen, der die Welt von Grund auf verändern werde. Ursprung, das meinte z. B. bei Benjamin wie bei Heidegger Geschichte als Schicksalszusammenhang. In der Mobilisierung eines Ursprungs ging es auch bei ihnen um den Sprung aus der historischen Kontinuität und das Setzen neuer Anfänge.155 Das Ursprüngliche war das der Zeit Enthobene. In ihm hatten sich Vergangenheit und Gegenwart zur Jetzt - Zeit der Vergegenwärtigung eines Neuanfangs von Geschichte aus noch nicht realisierten oder unterdrückten Möglichkeiten zusammengezogen. Im Ursprung nahm eine Idee als Ursprungsphänomen die Gestalt an, in der sie sich immer wieder mit der bestehenden Welt um die Gestaltung einer besseren Welt auseinandersetzte. Im Ereignis dieses „anderen Anfangs“ ( Heidegger ) müssten Menschen die Unverfügbarkeit der 155 Benjamin, Ursprung, S. 226.

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Geschichte akzeptieren. Mit der Pathosformel einer „metaphysischen Revolution des Seins“ stellten sich historische Subjekte in den Zusammenhang einer „Geschichte des Seins“, deren Geschick ( Heidegger ) sich ebenso wenig erzwingen lasse, wie die endliche Ankunft des Messias ( Benjamin ), der im Sprung aus der Geschichte eine mit Heilsenergie aufgeladene Jetzt - Zeit zum Vor - Sprung in die Zukunft der Erlösung führen werde. Die Suche nach einem realen und doch zugleich auch mythischen Anfang ihrer geschichtlichen Existenz habe den Deutschen immer wieder die Vorstellung der vorgeschichtlichen Ursprünglichkeit einer naturhaften Existenzform des Völkischen aufgezwungen. Weder konnten sie in einer staatlichen Tradition zur Ruhe kommen, noch in ihrer politischen Ideenbildung um eine Ruhelage schwingen.156 Im Anschluss an Nietzsche hatte Ernst Bertram die Deutschen als „die fortwährende Unruhe in Europas Zeitgefühl, ein beständiger Zweifel, was er denn eigentlich sei, da er nichts ganz zu sein scheint“157, herausgestellt. Es sei ihre Widerspruchsnatur, die den Deutschen ihr „Fragmentarisches, Zerrissenes, bald schwach Anlehnungsbedürftiges, bald herausfordern Ichsüchtiges“158 gebe. Die Annahme einer völkischen Natur, eines naturwüchsigen Volkscharakters der Deutschen suggeriert ihre gleichsam naturgeschichtliche Ermächtigung zu nationaler Größe. Im Selbstverständnis einer historischen Ausnahmestellung stünden sie in der Versuchung, sich in für sie viel versprechender Situation über alle tradierten Schranken und moralischen Hemmschwellen hinwegzusetzen. Die als noch uneingelöstes Entwicklungspotential gefasste völkische Natur der Deutschen soll ihnen den möglichen Sprung in die Gegenwart entwickelter Zustände sichern, ohne sie in die Demütigung nachholender Entwicklungen zu zwingen. Damit sollte Deutschland nicht nur der Anschluss an die Entwicklungen der westeuropäischen modernen Staatsvölker ermöglicht werden, sondern in einem der Schritt vom Ursprung zum Vorsprung gelingen. Der „Sprung in die Entscheidung“, nicht das allmähliche Reifen der Verhältnisse, Aktion und Beschleunigung, nicht Warten auf die günstige Gelegenheit, schienen die einer solchen Mentalität angemessenen Aktionsmuster zu sein. Diese Argumentationsfigur des Sprungs aus der Zeit wurde ergänzt durch die des Rückgangs in den vorgeschichtlichen Ursprung aller Entwicklung. Ohne verpasste Entwicklungen im Detail nachholen zu müssen, ohne sich also im Schnellverfahren an den für die entwickelten Staaten bereits erledigten Herausforderungen der industriegesellschaftlichen Moderne abarbeiten zu müssen, so der sachliche Kern dieser Selbstermächtigung, würde Deutschland nicht nur im Zeitraffertempo diese Entwicklungen durchlaufen, sondern selbst zur führenden Nation der europäischen Moderne werden.

156 Vgl. Plessner, Nation, S. 71. 157 Bertram, Nietzsche, S. 75. 158 Ebd., S. 77.

IV. Völkische Politik 1. Romantischer Volksbegriff, völkischer Vernunftstaat und Deutsches Reich Der westliche Liberalismus gründet auf der Idee des Bürgers, der ethisch selbstbestimmt sein Leben führt und daraus auch den Anspruch politischer Selbstbestimmung ableitet. Ihre Bürger - und Menschenrechte werden Bürgern liberaler Gesellschaften gewährt, unabhängig von Religion, Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, politischer Loyalität oder anderen Kriterien homogener Zugehörigkeit. Aus der Perspektive eines prinzipiellen Liberalismus lässt sich eine territoriale Revolution nicht rechtfertigen. Das liberale Ethos ist weder mit Kolonialisierung noch mit Imperialismus verträglich und eben deshalb in konkreten machtpolitischen Konstellationen immer in der Gefahr, marginalisiert oder als Gefährdung innenpolitischer Stabilität stigmatisiert zu werden.1 Aus dem liberalen Anspruch, dass ein gutes menschliches Leben nur ein selbstbestimmtes sein kann, folgt auch der Anspruch auf politische Selbstbestimmung. Das liberale Verständnis von Selbstbestimmung schließt die Unterdrückung, Hierarchisierung oder Marginalisierung einzelner Elemente der bürgerlichen Gesellschaft aus. Deren Dynamik und Entwicklungsfähigkeit soll durch Pluralität, Heterogenität und Toleranz für Abweichungen als normativen Standards des bürgerlichen Werte - und Gesellschaftssystems gesichert werden. Das schließt die prinzipielle, aber eben auch für die Komplexität vielschichtiger Situationen sensible Bestimmung von Grenzen der Toleranz im Sinne des liberalen Ethos ein. Freie Selbstbestimmung und das Prinzip plebiszitärer Gleichheit sind die wichtigsten Elemente des politischen Humanismus.2 Freiheits - und Gleichheitsansprüche setzen unterschiedliche Präferenzen und müssen deshalb immer wieder zur politisch stimmigen Balance vermittelt werden. Ohne eine solche Balance drohen beide Prinzipien in ihrer politischen Realisierung zu ihrem totalitären Gegenteil zu werden. Während das verselbstständigte Prinzip der Gleichheit Mehrheiten für Diktaturen mobilisieren kann, kann umgekehrt das Bestehen auf uneingeschränkter Freiheit die Stärkeren dazu ermutigen, frei von moralischen Ressentiments und dem Bedenken des Gemeinwohls allein ihrer Durchsetzungsfähigkeit zu vertrauen. Beide Prinzipien verweisen auf tatsächliche Elemente und Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft. Eines auf Kosten des anderen zum dominierenden Grundprinzip zu erklären, würde die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen, die auf der komplementären Funktionalität und Ausbalancierung beider Prinzipien beruht. Zwischen der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und dem Prinzip demokratischer Gleichheit besteht eine Spannung. Das Gleichheitsprinzip findet am Selbstbestimmungsprinzip seine Grenze, an der es sich relativiert und 1 2

Zum Liberalismus vgl. u. a. Leonhard, Liberalismus, sowie Rawls, Liberalismus. Zum politischen Humanismus vgl. Schmidt, Theorie, sowie Brieskorn, Menschenrechte.

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korrigiert. Das Prinzip der Selbstbestimmung wiederum ermächtigt nicht zu uneingeschränkter Freiheit. Der Andere ist mir nicht nur in seinem Bedürfnis nach Privatsphäre und Selbstbestimmung gleich, sondern auch in seiner Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit. Menschen teilen nicht nur die Furcht vor ungewollter Nähe, Über wältigung und Verletzung durch Andere, sondern stehen auch in der Versuchung, sich ihrerseits über das Bedürfnis nach selbstbestimmt ausbalancierten Nähen und Distanzen des Anderen hinwegzusetzen. Das liberale Verständnis von Freiheit rechnet mit der Endlichkeit, Heterogenität und Bedürftigkeit der Menschen. Diese konstitutive innere Beziehung zwischen Gleichheit und Selbstbestimmung gelingt nur in Beziehungen fairer Gegenseitigkeit. Eben weil das liberale Verständnis von Selbstbestimmung die Versehrbarkeit von Menschen einschließt, bezieht es auch jene ein, die aus eigener Kraft zu einem selbstbestimmten Leben nicht fähig sind. Der vertragstheoretischen Begründung des westlichen Liberalismus setzte Plessner seine mögliche Gründung auf einem bestimmten Ethos des Guten entgegen. In einer eigentümlichen Synthese zwischen westlichem Liberalismus und „deutschem Sonderweg“ gelang es ihm, am westlichen Liberalismus aus deutscher Perspektive Elemente eines Ethos sichtbar zu machen und einzufordern, die in der Spannung von Prinzipienrigorismus und politischer Handlungsfähigkeit insbesondere in der Auseinandersetzung mit der deutschen Entwicklung und ihren nur schwer kalkulierbaren Gefahren für Europa aus dem Blick zu geraten drohten. In dieser Perspektive ist Bürgerlichkeit nicht nur eine Rechts - , sondern auch eine Lebensform, die einer Vorstellung davon folgt, was ein gutes Leben wäre. Die „Umwertung des Menschen durch einen reinen Rechtsakt“3 erklärt die Konstituierung des Bürgers zum permanenten Ursprung des Staates. Er ist Ausgangs- und Endpunkt einer Politik, die durch die Bürger selbst erst bestimmt wird. Das formal - prozedurale Modell von Politik überlässt die Bestimmung ihrer konkreten Inhalte und normativen Gewichtungen den Bürgern selbst. Es hat mit dem eher substantialistischen Gegenmodell völkischer Politik jedoch auch zwei Motive gemeinsam : die Vergewisserung eines Ursprungs und die Umwertung des Menschen zum Träger eines Prinzips. Das gilt auch für das westliche Modell des Gesellschaftsvertrags als Übereinkunft zwischen freien Bürgern, mit dem die Entstehung des Staates und seiner normativen Implikationen begründet wird.4 Der Gesellschaftsvertrag ist „idealen, obzwar fiktiven Ursprungs, welchen die Rechtsexistenz dem Menschen in seiner Freiheit verleiht“ – im Unterschied zum Ursprungs - und Gründungsmythos des deutschen Volkes als „einem realen, obzwar mythischen Anfang ihrer geschichtlichen Existenz, der sich im Dunkel unergründlicher Vorzeit verliert“.5 Ideal, aber fiktiv; real, aber mythisch – in diese Unterscheidung löst Plessner die Differenz von westlicher 3 4 5

Plessner, Nation, S. 71. Vgl. dazu Kersting, Philosophie. Vgl. Plessner, Nation, S. 71.

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Rationalität und deutschem Sonderbewusstsein, von Normalität und Abweichung auf der Ebene des jeweils reklamierten Ursprungs ihrer Entwicklung auf. Die Annahme eines Gesellschaftsvertrages als ursprünglichem Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft ist eine idealtypische Fiktion und auch als solche gemeint. Die Behauptung eines realen Ursprungs völkischer Existenz dagegen unterstellt einen Gründungsakt des Politischen, der als Mythos und mögliches politisches Gestaltungsprinzip zu den ideologischen Grundbeständen des nationalsozialistischen Denkens gehörte. Der „Ursprung als ideale Fiktion“ ermöglicht gegenüber dem „Anfang als realem Mythos“ die souveräne Gelassenheit gegenüber der Unruhe des fortdauernden Zweifels an der eigenen historischen Berechtigung und Perspektive. Während die Deutschen nach einer naturhaften Ursprünglichkeit ihrer Nationalgeschichte als einem vorgeschichtlichen Anfang ihrer nationalen Entwicklung suchten, war den westlichen Staaten mit der erfolgreichen Modernisierung und Nationalstaatsentwicklung historische Souveränität durch ihre eigene Entwicklung zugewachsen. Der völkische Ursprungsmythos der Deutschen schrieb sich in eine Gegenwart fort, die noch immer auf dem Sprung zu nationaler Größe und staatlicher Einheit stand : Der Ursprung als Gründung im vorgeschichtlichen Mythos eines uneingelösten Entwicklungsversprechens blieb als Akkumulationsstau eines Versprechens auf Zukunft und politische Explosivlage in Deutschland präsent. Als mögliche Ursachen dieser deutschen Spezifik nennt Plessner die fehlende staatliche Tradition und die für Deutschland symptomatische politische Ideenbildung um Kategorien der „Gefährdung“, „Verlassenheit“ und „Unruhe“. Die politischen Ideen der Deutschen hingen ohne einen Resonanzboden nationalstaatlicher Existenz in der Luft. Das Reich der Ideen blieb ohne politischen Grund in einer eigenen nationalstaatlichen Tradition und Geschichte. Unter diesen Bedingungen musste der Ursprung als Anfang genommen werden, der sich jedoch historisch nicht zur Entwicklung fortgesetzt, sondern im Mythos des „aufgeschobenen Anfangs“ als uneingelöstes Entwicklungspotential in Bereitschaft gehalten hatte. Dagegen befanden sich die europäischen Nationalstaaten auf einem sicheren politischen Grund, von dem aus sie einen idealen Ursprung ihrer staatlichen Existenz imaginieren konnten. Dieser sichere Grund habe es ihnen erlaubt, den im Gründungsmythos des Gesellschaftsvertrages beschworenen Ursprung ihrer Staatlichkeit als ideale Fiktion anzuerkennen. Nationalstaatliche Größe war in ihrem Fall nicht auf den Nachweis der möglichen historischen Mobilisierung eines Ursprungsmythos angewiesen, sondern durch die Tradition und die eigene Position in den machtpolitischen Konstellationen der Gegenwart evident. Im Unterschied zur „idealen Fiktion“ des Westens hatte sich der „reale Mythos“ der Deutschen nicht von der fiktiven Situation des Ursprungs und Anfangs emanzipieren und auf dem Boden selbst gesetzter, sich in der historischen Entwicklung tradierender Anfänge etablieren können.

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Der deutsch - nationalistische Diskurs zielte auf die völkische Mobilisierung gegen Nationen, die auf rechtsstaatlicher Verfassung und demokratischen Verfahren gegründet waren. Diese hatten dank ihrer nationalen Erfolgsgeschichten den Rekurs auf vorgeschichtliche Gründungsmythen oder verborgene Traditionen eines untergründig Eigentlichen nicht nötig. Ihr Erfolg sprach für sich selbst. Mit der Erklärung des Volks zum Staatsträger und Staatszweck wurde das Politische zum Naturalismus des Nationalen substantialisiert. Als natürliche Substanz des Politischen galt das Volk. Seine Besonderheiten wurden als Politik gründendes Potential eines Nationalcharakters bestimmt. Nicht formale Regeln politischer Formierung, sondern der Mensch selbst stand dann im Mittelpunkt des Politischen. Als monadologische Substanz des Völkischen und Nationalen galt der Volksgenosse als der auf die Volksgemeinschaft ideologisch eingeschworene neue Mensch. Deren Herstellung sollte durch den Zusammenschluss völkischer Monaden in der Dauermobilisierung gesichert werden. In diesem Zusammenschluss zählte der Einzelne nichts, und war er doch als Zellform des großen Ganzen schon alles, was sich zu ihm als Teil einer größeren politischen Einheit sagen ließ. Im „großen Gesamtkörper des Volkes“ waren die Individuen „Volkskörperzellen“.6 Dieser neue Mensch der Volksgemeinschaft war nicht freier Bürger mit formaler Regelungskompetenz für die mit anderen freien Bürgern abzustimmende Klärung gemeinsamer Probleme, sondern einem Formierungsprozess ausgesetzt, der auf seine Konditionierung zum Mitglied der Gemeinschaft zielte. Nicht das tägliche Plebiszit, das persönliche Bekenntnis zu den politischen Regeln, Geboten, Pflichten und ihrer Erfüllung, deren Geltung sich die Transformation des Menschen zum Bürger verdankte, sondern eine als für jedes Volk spezifisch behauptete Substanz sicherte im völkischen Staat die Konstituierung eines nationalen Universums. Nach nationalsozialistischem Verständnis ist die Volksgemeinschaft „die auf blutsmäßige Verbundenheit, auf gemeinsames Schicksal und auf gemeinsamem polit. Glauben beruhende Lebensgemeinschaft eines Volkes, der Klassen - und Standesgegensätze wesensfremd sind. Sie ist Ausgang und Ziel der nationalsozialist. Weltanschauung und des von ihr getragenen Staates.“7 Der sich im formalen Rechtsakt immer wieder erneuernde Ursprung des Rechtsstaates dagegen definiert den Menschen als Bürger.8 Einer völkischen Politik musste die formale Demokratie verdächtig erscheinen. Sie will den Menschen als Volksgenossen im Mittelpunkt der Politik sehen, und nicht formale Prinzipien von Verfassung und Recht, die ihn zum Bürger umwerten. Volk und Staat sind die entsprechenden Gegenbegriffe, in denen die Alternativen politischer Formierung grundsätzlich beschrieben werden. Angehöriger des deutschen Volkes ist man durch den schicksalhaften Zufall der Geburt. Bürger wird man durch 6 7 8

Schmidt - Rohr, Die zweite Ebene der Volkserhaltung, S. 82 f. – die zweite Ebene ist die des Volksgeistes, die erste die des Blutes. Brockhaus, S. 608. Vgl. Plessner, Nation, S. 71.

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freie Übereinkunft im Vertrag, die die prinzipielle Geltung formaler Grundsätze des Politischen akzeptiert und sanktioniert.9 Die Bestimmung des Menschen als eines Vernunftwesens gesteht allen Individuen zunächst einmal ein Menschsein in Würde zu, ohne daran Bedingungen zu knüpfen, die eine behauptete Universalität durch die selektive Einschränkung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe vollwertiger Menschen faktisch ad absurdum führen würde. Dieser bürgerliche Vernunftbegriff des Menschen sowie die an ihn anschließenden universellen Bürger- und Menschenrechte verpflichten die bürgerliche Gesellschaft darauf, sich politisch auf der Höhe der von ihr selbst gesetzten Werte und Normen zu bewegen. Francois Furet hat diese Spannung treffend auf den Punkt gebracht : „So hat die Idee der Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft die Funktion eines imaginären Horizonts, der nie erreicht werden kann. [...] Je mehr sich die Gleichheit entwickelt, desto unerreichbarer wird der imaginäre Horizont, was zu einer endlosen Spirale führt. Das Unglück des Bürgers besteht nicht nur darin, innerlich gespalten zu sein, sondern vielmehr darin, dass er die eine Hälfte seiner selbst der Kritik der anderen überantwortet.“10 Es gehört offensichtlich zu den konstitutiven Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer beispiellosen Entwicklungsdynamik, dass sie universelle Werte entwickelt, die an der gegenläufigen Realität der kapitalistischen Gesellschaft zum Versprechen einer auf dem Prinzip fairer Gegenseitigkeit und gleicher Lebenschancen gegründeten Gesellschaft werden. Quer zu dieser Differenzierung des Politischen steht die Unterscheidung von Bourgeois und Citoyen. In ihr werden komplementäre Habitusformen des Bürgers benannt, in denen sich Eigennutz und Gemeinnutz zu Verhaltensprädikaten eigener Rollen verfestigt haben. In seiner Verselbstständigung wird der Bourgeois zur Verkörperung des ökonomischen Eigennutzes privater Interessen, der Citoyen zur aktionistischen Speerspitze der revolutionären Durchsetzung des Gemeinwohls, zum Jakobiner oder zur revolutionären Avantgarde. Wird das Politische zur dominanten Verkehrsform der Gesellschaft erklärt, so häufig unter Berufung auf den Citoyen und den durch ihn verkörperten Vorrang des Gemeinnutzes. Gesellschaft ist dann als „Gemeinschaft der Gleichen“ definiert. Als politische Rekrutierungsform der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft funktioniert Gleichheit auch als Exklusionsform : Diejenigen, die in ihrem Anderssein als ungleich bestimmt werden, sind aus ihr ausgeschlossen. Es ist dieser Zusammenhang, in dem sich das Konzept völkischer Revolution als politisches Projekt der Gründung einer nationalen Volksgemeinschaft darstellt. Das Politische hat in diesem Verständnis die Besonderheiten eines Volkes zum Ausdruck zu bringen, nicht auf Universalität angelegte formale Regeln der Demokratie und eine abstrakte Rechtsidee festzuhalten. Als politische Existenzform reklamiert das Völkische mythische Anfänge seiner geschichtlichen Existenz. 9 Zur deutschen Situation und den entsprechenden Debatten vgl. Fulbrook, Identity, S. 1– 25. 10 Furet, Ende, S. 20.

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Auf der Suche nach einem realen Halt in der Geschichte steht es der zivilisierenden Regelung des Politischen durch Verfahren skeptisch gegenüber. In dem auf Herder und Fichte zurückgehenden Volksbegriff wirkten in der Auszeichnung des eigenen Volkes „mythische oder wissenschaftliche Geschichtsund Herkunftslegenden, religiöse und missionarische Berufungen, kulturell - zivilisatorische Sendungen oder ‚nationalistische‘ Vorurteile [...] zusammen“.11 Das galt insbesondere für das deutsche Volk, in dem „der religiöse Überhang des ‚Gottesvolkes‘ [...] lebendig blieb“.12 Das deutsche Volk als Gottesvolk – in dieser Bestimmung lag politischer Sprengstoff. Deutschsein wurde völkisch als Anderssein bestimmt : Kultur stand gegen Zivilisation, der Protestantismus gegen den Katholizismus, das Volk gegen den Staat, das Reich gegen das Recht. Anstelle einer abstrakt rationalen Gesellschaftskultur künstlicher Setzungen des Politischen, deren Rechtsordnung sich gegenüber „dem geschichtlichen Lebensverband wie dem natürlichen Seinsverband“13 verselbstständigt habe, habe sich in Deutschland eine eigene Gefühlskultur der Innerlichkeit behauptet. Während die Rechtsidee die Erfolgsgeschichte der westeuropäischen Nationalstaaten beschreibe, sei das Festhalten an der Idee des Reiches im Volksbegriff ein Indiz für die historische Abkopplung Deutschlands von der europäischen Moderne. Dieser Gegensatz habe sich mit der Glaubensspaltung und ihren säkularen Folgen in der nationalstaatlichen Ausdifferenzierung Europas fortgesetzt. Die Behauptung ihrer völkischen Identität zwang die Deutschen in die innere Zerreißprobe. Dabei wurde die Idee des Reiches zum Kristallisationspunkt ihrer nationalen Selbstbehauptung. Die prinzipielle Entgegensetzung von Reichsidee und Rechtsidee erklärte die Erneuerung des Reiches für unvereinbar mit der Idee des Rechtsstaats : Das künftige Reich konnte kein bürgerlicher Rechtsstaat sein. Die Nationalsozialisten benutzten diese Auseinandersetzung zur Diskreditierung der Weimarer Republik als einer Republik des nationalen Verrats. Die Weimarer Republik war für sie Synonym einer westlichen Politik der politischen Versklavung und Entfremdung Deutschlands von den eigenen Traditionen. Die nationalsozialistische Revolution stand von Anfang an unter einer doppelten Zielrichtung : dem Anschluss Österreichs und der Erneuerung des Reichs durch die Zerschlagung der demokratischen Institutionen und der republikanischen Staatsform. In der Favorisierung der Reichsidee gegen das Rechtsstaatsprinzip wurde Deutschlands Gegensatz zum Westen prinzipiell. Sein Kampf gegen die mit dem Westen assoziierten Ideen der Demokratie und der bürgerlichen Freiheit stellte die humanistisch - liberale Tradition insgesamt in Frage. In ihm wurde der Grundkonflikt deutscher Geschichte zwischen alter Reichsidee und neuzeitlicher Nationalstaatlichkeit zur Frage der nationalen Existenzsicherung dramatisiert. 11

Geschichtliche Grundbegriffe Stichwort „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“, S. 146 ( Reinhart Koselleck ). 12 Ebd., S. 144. 13 Plessner, Nation, S. 60.

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Im Versuch eines Ausgleichs zwischen seiner Überlieferung und der gegenwärtigen Welt erfuhr Deutschland den Widersinn, „zwischen zwei Traditionen zu stehen, ohne die Möglichkeit zu haben, mit einer von ihnen zu leben“.14 In dieser ideologisch aufgeladenen Atmosphäre konnte die Aufkündigung des Rechtsstaats durch Ausnahmegesetze und Auf lösung des Parlaments, durch die Einführung rechtsfreier Räume und die Ersetzung einer demokratischen Öffentlichkeit durch das Führerprinzip als Akt nationaler Befreiung inszeniert werden. In der Rhetorik des deutschen Protestes gegen ein nicht selbstverschuldetes Schicksal verhinderter Nationalstaatlichkeit spielte der Bezug auf das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ eine herausragende Rolle. „Im Anfang war das Reich : Was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen Ursprung.“15 Das Reich sei etwas anderes und mehr als ein Nationalstaat gewesen : „Es war von der Idee her universal; [...] es hatte eine göttliche Sendung“.16 Als Vielvölkerstaat unter deutscher Führung verkörperte das Reich noch über seinen Zerfall in der Ausdifferenzierung europäischer Nationalstaaten hinaus ein Einheitsversprechen als mögliche Erneuerung eines großdeutschen Reiches. Ricarda Huch hat das Pathos dieser virtuellen Bezugsfigur deutscher Einheit und Nationalstaatlichkeit beschrieben : „Das Römische Weltreich liegt in Trümmern, aber es ist nicht tot. Es lebt ein gesteigertes Leben, seit es nicht mehr Wirklichkeit ist; denn es ist Idee geworden. Einem Liede gleicht es, das in das Ohr eines Schlafenden dringt und ihm wunderbare Träume erzeugt.“17 Die Deutschen hatten „keine gemeinsamen und lang wirkenden konstitutiven Traditionen, kein konkurrenzloses geographisches und religiöses Zentrum, keine gemeinsamen Heiligen, keine eindeutige Vormacht, stattdessen auf die Dauer mehrere gleichrangige politische Kräfte“.18 Mit der heilsgeschichtlichen Fundierung des Imperiums und der Wahrnehmung imperialer Geschichte als deutscher Geschichte wurde das Reich im späten Mittelalter zur Aufgabe der Deutschen : „Gott hat die Deutschen wegen ihrer Tüchtigkeit zum Reich erwählt. Die Argumentation war historisch und theologisch, nicht naturrechtlich und vernünftig.“19 Nach dem Ende des „Heiligen Römischen Reiches“ vermischte sich der „romantisch gefärbte Reichspatriotismus, der die nationalstaatlichen Hoffnungen ausdrückte, [...] mit den chiliastischen Erwartungen des religiösen Reichsbegriffs. Trotz der Betonung, dass das einst Europa beherrschende mittelalterliche Reich von deutscher Nation gewesen sei, verlor sich nie ganz der universale, übernationale Anspruch des ‚Heiligen Reiches‘, der in einer säkularisierten Sendungsidee weiterlebte.“20 14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 45. Winkler, Weg, Erster Band, S. 5. Ebd., Zweiter Band, S. 646. Huch, Reich, S. 16. „Reich“, in, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 435 ( Peter Moraw ). Ebd., S. 448, ( Karl Otmar Frh. v. Aretin, Notker Hammerstein ). Ebd., S. 489 ( Elisabeth Fehrenbach ).

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Als „verspätete Nation“ war Deutschland nicht einfach von der europäischen Entwicklung abgekoppelt. Mit dem Fortleben der Reichsidee als dem imaginären Ort der noch ausstehenden Gründung eines Nationalstaats erinnerte es die anderen europäischen Staaten an ihren eigenen nationalgeschichtlichen Ausgangspunkt. In der Vision eines deutschen Reichs war die Vergangenheit Europas lebendig geblieben. „An der Verbindung der Elemente des Heiligen, Römischen und National - Deutschen wuchs das Schicksal der abendländischen Staaten, die sich gegen das deutsche Kaisertum universaler Prägung ihr nationalstaatliches Eigenleben erkämpften.“21 Was den anderen europäischen Staaten durch ihre frühe Ablösung vom „Heiligen Römischen Reich“ gelungen war, blieb den Deutschen verwehrt. Der lockere Verbund einer Vielzahl von Klein und Kleinststaaten, der das Deutsche Reich bis 1806 war, verhinderte als übernationaler Völker verband von universaler Prägung die Herausbildung einer staatlichen Organisationsform, die den europäischen Nationalstaaten außerhalb dieses Verbundes auch nur annähernd gewachsen gewesen wäre. Unter den damaligen Bedingungen der territorialen nationalstaatlichen Gliederung Europas war der zu gründende deutsche Nationalstaat von vornherein nur als Stellvertreterstaat möglich – in Stellvertretung der universalen Reichsidee. Jede Nachfolgegründung eines deutschen Nationalstaates hatte die nationalstaatliche Fragmentierung des deutschen Volkes zunächst einmal zu akzeptieren. Sie bekräftigte den politischen Anspruch auf künftige Reichseinheit, vertagte seine Einlösung jedoch auf die Zukunft eines erneuten Zusammenschlusses der fragmentierten Teile. In Zeiten territorialer Zersplitterung, aber auch noch nach der verspäteten Gründung des deutschen Nationalstaats, funktionierte die Idee des Reiches als nationales Einheitsversprechen. Als lediglich temporärer Kompromiss auf dem Wege zur nationalen Einheit aller Deutschen verstand sich auch der Bismarckstaat als Stellvertreterstaat eines völkischen Großdeutschland, das nur aus seiner Initiative her vorgehen konnte. Mit dem Festhalten an der Idee des Reiches war seiner Gründung ein Element eingeschrieben, das Europa mit Misstrauen erfüllen musste. Die nationalgeschichtliche Fiktion des Reiches als möglicher Einheit von Volk und Staat in einer Nation auf der natürlichen Grundlage gleicher Sprache war nicht nur historisch anachronistisch, sondern auch politisch gefährlich. Das europäische Misstrauen gegen diese Idee war nur folgerichtig. Die abgeschlossene nationalstaatliche Territorialgliederung Europas gab der Reichsidee ihre politische Sprengkraft. Ein sich in Spannung zur Idee des Reiches definierendes Deutschland wurde zum europäischen Unruheherd. Die Idee des Reiches als eines nationalen Sprachraums setzte auf die expansionistische Erweiterung des deutschen Territoriums. In seiner Bindung an die alte Reichsidee, so Plessner, war Deutschland einer Vergangenheit verhaftet, die durch die Gegenwart nationalstaatlicher Ausdifferenzierung bereits zum historischen Anachronismus geworden war. Der Aus21 Plessner, Nation, S. 49.

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griff auf die nationale Einheit des deutschen Volkes werde ohne die politische Aufkündigung der europäischen Grenzen nicht zu haben sein. Ein deutsches Reich unter den Bedingungen neuzeitlicher Nationalstaatlichkeit musste die nationale Frage auf europäischer Ebene wieder öffnen. Die Erweiterung des deutschen Nationalstaats zum großdeutschen Reich in den Grenzen seines Sprachraums war nur als territoriale Neuordnung Europas möglich. Das aber hieß im politischen Klartext Krieg. Im europäischen Kontext war die Reichsidee ein historischer Anachronismus – in normalen Zeiten ein Fremdkörper, in Zeiten deutschnationaler Erweckung ein Sprengsatz, der mit dem Versprechen, ein großdeutsches Reich in den völkischen Grenzen des deutschen Sprachraums zu errichten, die europäische Territorialordnung bedrohte. Die nationalsozialistische Bewegung entwickelte ihre politische Dynamik aus der Inszenierung ihrer völkischen Revolution als Auftakt zur territorialen Neuordnung Europas, die die Deutschen zu einem nationalen Sprachraum vereinigen würde. Sollten die normativen Universalien des politischen Humanismus tatsächlich für alle gelten, so ihr Kalkül, dann konnte der Westen Deutschland dieses Recht, das er allen anderen Staaten zugestand, nicht länger verweigern. Im Klartext der europäischen machtpolitischen Konstellation zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung hieß das : Worum die Deutschen militärisch im Ersten Weltkrieg vergeblich gekämpft hatten, nämlich die imperiale Erweiterung politischer Einflusssphären, fiel ihnen nun unter Umständen kampf los als Zugewinn an völkischem Raum politisch in den Schoß. Zugleich wurde im Nationalsozialismus die gemeinsame Sprache als identitätsstiftende Kategorie ersetzt durch die „Gemeinschaft des Blutes“, in der allein das Bekenntnis zu Deutschland als Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft gründen könne. „Deutschland soll nicht die Gesamtheit derer sein, die innerhalb der deutschen Grenzen wohnen, nicht die Gesamtheit der Deutschsprechenden, sondern die Gesamtheit derer, die sich zu Deutschland bekennen, die deutsch fühlen und deutsch empfinden.“22 Wirklich deutsch empfinden aber könne nur, wer „deutschen Blutes“ sei. Deutschlands Anspruch auf territoriale Erweiterung seines völkischen Raums in der Auseinandersetzung um die Neuverteilung einer bereits aufgeteilten Welt brachte den Rest Europas in eine politische und normative Zwangslage. Ein Krieg schien unvermeidlich. Plessner beschrieb diese Zwangslage als normatives Dilemma des politischen Humanismus : Gestand der Westen Deutschland mit dem Verweis auf das Prinzip nationaler Autonomie die territoriale Revolution zu, so riskierte er die ausbalancierte nationalstaatliche Ordnung Europas. Erklärte er dagegen Deutschland im Interesse der Stabilität Europas zur Ausnahme von diesem Prinzip, so verleugnete er seine eigenen Rechtsgrundlagen.23 Die diplomatischen, politischen und schließlich auch militärischen Spielräume, die sich Nazideutschland in dieser normativen Pattsituation des Westens eröff22 Krieck, Volkscharakter, S. 146. 23 Vgl. Plessner, Nation, S. 50.

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neten, hatten ihren Ausgangspunkt in diesem Dilemma des politischen Humanismus. Entweder der politische Humanismus würde durch das Zugeständnis von Ausnahmen seinen universellen Geltungsanspruch relativieren, oder aber er provozierte im Bestehen auf seiner ausnahmslosen Geltung die politische Ausnahmesituation. In dieser tragischen Situation der Unentscheidbarkeit gab es keine Entscheidung mehr, die sich in der Konsequenz nicht sofort gegen sich selbst gerichtet hätte. Plessners rhetorische Beschwörung der Unentscheidbarkeit des deutschen Anspruchs auf einen durch die Grenzen des eigenen Sprachraums definierten Nationalstaat ist jedoch nur dann plausibel, wenn man das Nationalstaatsprinzip nach dem Muster der Volkssouveränität in einem gemeinsamen Sprachraum denkt und Territorium als Sprachraum definiert. Die gemeinsame Sprache gilt in dieser Sicht als struktureller Kern nationaler Identität. Eben diese gleichermaßen problematischen Unterstellungen sind im völkischen Diskurs der Reklamierung eines durch die Verbreitung der deutschen Sprache bestimmten nationalen Eigenraums politisch wirksam geworden. Unter dieser Voraussetzung war tatsächlich jede Entscheidung für oder gegen die Anerkennung des deutschen Anspruchs eine Verletzung des Prinzips territorialer Souveränität : Entweder wurde Deutschland die territoriale Expansion und damit die politische Einlösung dieses Prinzips verweigert oder um den Preis der Verletzung des Prinzips territorialer Souveränität anderer Staaten zugestanden. Im Verständnis des Nationalstaats als völkischem Sprachraum war dieses Entscheidungsdilemma nicht zu lösen. Deutschlands aggressive Rhetorik völkischer Expansion, die auf die territoriale Vereinigung aller Deutschen zielte, so nicht nur Plessners Hoffnung, würde den politischen Humanismus des Westens zum Überdenken der Politikfähigkeit seiner Prinzipien zwingen. Einen Ausweg aus diesem Entscheidungsdilemma hätte ein demokratisches Verfahren politischer Souveränität geboten, das durch Herkunft, Sprache oder Religion definierte Zugehörigkeit durch die partizipatorische Konstituierung des politischen Gemeinwesens ersetzt hätte. Nur jene Werte und Verfahren hätten dann als zustimmungsfähig gegolten, an deren Zustandekommen im Prinzip alle Mitglieder des Gemeinwesens beteiligt waren oder sich frei hätten beteiligen können. Ein demokratisches Gemeinwesen hätte sich dann in der ergebnisoffenen Selbstverständigung der Bürger zur rechtsstaatlich strukturierten Wertegemeinschaft konstituieren können.24 Nach nationalstaatlichen Ausgliederungen aus dem Volksverband stand das deutsche Volk schon zum Zeitpunkt der zweiten Reichsgründung als Material eines einheitlichen deutschen Nationalstaates nicht mehr zur Verfügung. Die Existenz deutscher Staaten ( der Schweiz und Österreichs ) und deutscher Minderheiten außerhalb Deutschlands legte dem kleindeutschen Stellvertreterstaat des künftigen großdeutschen Reiches zunächst diplomatische Zurückhaltung in der Frage nationaler Einheit auf. Eine solche Zurückhaltung war der national24 Vgl. Benhabib, Vielfalt.

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sozialistischen Bewegung fremd. Aus ihrer Sicht blieb dem deutschen Volk nach der kleindeutschen Bismarckschen Kompromisslösung nur noch der konsequente Weg einer völkischen Erneuerung des Reiches in einer großdeutschen Lösung, die alle historisch gewachsenen Territorialgliederungen in Frage stellen würde. Die nationalsozialistische Revolution, so z. B. Ernst Krieck, habe auf die Wiederherstellung des Reiches als der Vollendung des deutschen Menschentums in der Volksgemeinschaft gemäß seiner rassischen Bestimmung gezielt. In der Volksgemeinschaft ver wirkliche sich das germanische Recht in der Balance der gegenseitigen Verpflichtungen und Berechtigungen ihrer Glieder.25 Mit der Erklärung des nationalsozialistischen Staates zum Tausendjährigen Reich sollte die politische Verklammerung von Reichsidee und modernem Nationalstaatsgedanken hergestellt werden. Für die Nationalsozialisten rechtfertigte sie den Anspruch auf ein weltumspannendes deutsches Imperium in einer nach rassischen Prinzipien gegliederten Hierarchie höher - und minderwertiger Völker. „Das Reich“ so lautete eine nationalsozialistische Definition, „bezeichnet mythisch, geschichtlich und doch zugleich lebendig wirksam den durch das deutsche Volk bluthaft bestimmten Herrschafts - und Lebensraum und die schicksalhafte Sendungsaufgabe der Deutschen in Europa.“26 Rasse und Reich waren die Komplementärkategorien im nationalsozialistischen Selbstverständnis des deutschen Volkes, das seinen vorgeschichtlichen Anfang als mythischen Ursprung festgeschrieben hatte, ohne ihn zur Traditionen setzenden historischen Entwicklung generieren zu können. Es war diese Idee der Reichseinheit, mit der sich der nationalsozialistische Staat als völkischer Staat profilierte. Mit dem Festhalten an der Reichsidee in einer Zeit, die nationalstaatlich gegliedert längst unter anderen politischen Zeichen stand, war nicht nur das deutsche Volk konstitutiv zur Unruhe bestimmt, sondern wurde Deutschland selbst zur Gefahr für Europa. Um Plessners Argumentation noch einmal zusammenzufassen : Die nationalen Ideen und Konzepte, an die Deutschland anknüpfen wollte, hatten keine Traditionen freigesetzt. Die Traditionen, die historisch wirkungsmächtig geworden waren, hatten Deutschland ausgespart. Die Abwesenheit einer bürgerlich politischen Tradition in der staatlichen Fragmentierung komplizierte den späten Akt der Konstituierung eines deutschen Nationalstaats. Er kam zu einer Zeit, als die anderen europäischen Nationalstaaten bereits mit dem Verschleiß und Verfall ihrer Traditionen konfrontiert waren. Die Reichsidee hatte keine Tradition gestiftet, sondern lediglich die historische Erinnerung an bessere Zeiten lebendig gehalten. Eine politische Tradition, in der sich das Reich hätte verorten können, gab es in Deutschland nicht. Stattdessen war es mit „dem Wettstreit zu vieler, gegeneinander nicht ausgleichbarer Traditionen“27 konfrontiert, den es deshalb durch die geschichtsphilosophische Konstruktion einer völki25 Vgl. Krieck, Volkscharakter, S. 145. 26 Geschichtliche Grundbegriffe, „Reich“, S. 507. 27 Plessner, Nation, S. 108.

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schen nationalen Identität zu entscheiden suchte. Dadurch wurde die Vision nationaler Einheit zum völkischen Erweckungsversprechen : Deutschland erwache. „Ohne Rückhalt an einer übergreifenden Staatsidee“28 neigte in Deutschland jede soziale Schicht, jede politische Kraft und jede Region dazu, ihre eigene geschichtliche Perspektive geltend zu machen und ihre besondere Tradition oder Traditionslosigkeit zum allgemeinen Geltungsanspruch zu verabsolutieren. Statt einer den Partikularismus der Perspektivenvielfalt übergreifenden verbindlichen nationalen Tradition gab es einen Wettstreit der Perspektiven, der nicht zu entscheiden war. Dem politischen Ziel nationaler Einheit korrespondierte das vielschichtige Gefühl, unverschuldet von grundlegenden Entwicklungen abgekoppelt zu sein, die andere Nationen ganz selbstverständlich durchgemacht hatten. Die ideenpolitische Karriere des Volksbegriffs war in Deutschland die eines Aussteigers, der, abgekoppelt von den nationalstaatlichen Entwicklungsgeschichten der europäischen Moderne, einen eigenen Weg zum nationalen Aufstieg suchte. Ihr korrespondierte die imaginäre Existenz des Volkes als einer organischen Lebensform. Das Volk war in Deutschland „real, aber nicht sichtbar. Sein Wesen ist Einheit und schöpferischer Grund, bewegter Einklang im Bild des Organismus.“29 In der Zeit ihrer nationalen Zersplitterung bestimmte diese Denkfigur der unsichtbaren Realität eines organischen Volkskörpers der Deutschen ihr Selbstbild. Als imaginäre Einheit aller Deutschen kompensierte sie nicht nur die fehlende politische Einheit eines deutschen Nationalstaates, sondern setzte sie zugleich affektive Bindungen, die eine historisch gewachsene politische Einheit so nie hätte mobilisieren können. Für Deutschland als im Prozess ihrer Formierung begriffene Nation stand die Kategorie des Volkes für ein Einheitsversprechen. Bezogen auf die temporalen Bestimmungsbegriffe „Bewegung, Geschichte, Entwicklung oder Fortschritt [...] kristallisieren sich am Begriff Volk im Deutschen immer neue Erwartungen an, auch ein religiöser Überhang der Erlösungsund Befreiungsbedürftigkeit mit daraus folgendem Sendungsbewusstsein.“30 Um 1800 wurde Volk „ein spezifisch deutscher Kompensationsbegriff“.31 Mit ihm wurde von nun an nicht mehr die Bevölkerung eines bestimmten Territoriums bezeichnet, sondern ein historisch uneingelöster Anspruch auf nationale Selbstbestimmung markiert. Dieses völkische Sendungsbewusstsein war durch die Gründung eines Nationalstaates nur bedingt zu befriedigen. Die Idee der religiösen Sendung wies über die territorialen Grenzen der Nation hinaus. Der ideelle Überschuss über ein national eingegrenztes Feld des Politischen verhinderte in Deutschland die Versachlichung des geschichtsphilosophischen Pathos zur Politik als Kunst des Möglichen. Die Argumentationsfigur der symbolischen Repräsentanz des Unsichtbaren provozierte die Komplementärfigur der symbolischen Praxis der Vergegenständ28 29 30 31

Ebd. Ebd., S. 59. Geschichtliche Grundbegriffe, „Volk“, S. 149 ( Reinhart Koselleck ). Ebd.

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lichung dieses Unsichtbaren durch die Tathandlung, die erst vollendete Tatsachen schaffen sollte. Nicht die erst noch zu gründende Nation, sondern das zum nationalen weltbürgerlichen Gründungsakt berufene Volk wurde zum historischen Subjekt der völkischen Tathandlung erklärt. Dem deutschen Volk wurde die Fähigkeit zur Vermittlung von nationaler und weltbürgerlicher Existenz zugeschrieben. In der Existenzform des Völkischen sah es sich zur weltgeschichtlichen Umwälzung berufen. Mit der Herausstellung der Tathandlung als Modus politischen Handelns eröffnete der nationalsozialistische „Staat der reinen Aktion“32 der völkischen Existenz die Möglichkeit, Anschluss an die lebendigen Quellen ihrer Ursprünglichkeit zu finden. Die nationalsozialistische Weltanschauung habe deutsche Quellen wieder freigelegt, Urelemente ewigen deutschen Seins wieder aufgespürt.33 Auch die deutsche Philosophie sei „in höherem Grad als irgendeine andere dem Volk entsprungen und dem Volk verbunden“.34 Gerade ihre innere Spannung zur tatbereiten Gesinnung, so die Erwartung, halte sie anschlussfähig an die völkische Gemeinschaft : als „dauernde Bereitschaft, die im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit geschaffene Lehre im Leben zu verwirklichen“.35 An die Stelle der nüchternen Pragmatik und der formalen Prozeduren des Politischen trat das Pathos von Schicksal, Vorsehung und Bestimmung. Die Politik selbst wurde in diesem Pathos zur Schicksalsmacht erklärt – zur Möglichkeit, mit der Vorsehung und dem Schicksal im Bunde die prozedurale Eigenlogik des Politischen außer kraft zu setzen. Im Selbstverständnis, vom Schicksal zu Höherem bestimmt zu sein, erklärten die Deutschen das Politische zu dem Terrain, auf dem die Entscheidung für ihr Schicksal als Annahme ihrer Bestimmung fallen würde. Diese Metaphorik von Schicksal, Bestimmung und Entscheidung – einer Entscheidung für das Schicksal in der Bestimmung zu Höherem – hob die Politik auf eine existentielle Ebene. In ihr sollten über die Bedingungen und Konsequenzen höher - und minderwertigen Menschseins entschieden werden. Politik zielte jetzt auf die Formierung eines neuen Menschen, der die angestrebte neue Gesellschaft in seiner Person vorwegnehmen und leben würde. Vor diesem geistespolitischen Hintergrund sah Plessner die Dramatik der deutschen Entwicklungen : Ohne innere Bindung an die durch die Aufklärung freigesetzten Traditionen der Bürger - und Menschenrechte, ohne eigene Erfahrungen einer gelungenen politischen Revolution oder eines demokratischen Verfassungsstaates war der Industrialismus für Deutschland zum geistigen Schicksal geworden. Versagte hier die Wirtschaft, so brach alles zusammen. Versuche einer demokratischen Kontrolle und sozialen Einbindung der kapitalistischen Ökonomie konnten hier nicht auf gewachsene Traditionen der politischen Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte zurückgreifen. Die humanistisch - romantische Tradition deutscher Literatur und Philosophie reagierte auf den expansi32 33 34 35

Plessner, Nation, S. 168. Vgl. Eilemann, Weltanschauung, S. 2. Glockner, Philosophie, S. 6. Ebd., S. 37 f.

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ven Wirtschaftsliberalismus mit dem apolitischen Konzept universeller Bildung. Ein rein weltlicher „Fortschrittsglaube ohne politische Verankerung in den Ideen der Aufklärung“36 ging einher mit der Bejahung des Staates als reiner Macht. In diesem Verständnis wurde der Staat auf seine bürokratisch - militärischen Funktionen reduziert : Auch ihm fehlte eine spezifisch politische Idee. Auf dieses Defizit hatte die romantische Gedankenfigur der unsichtbaren Tiefe des Eigentlichen und Wesentlichen mit der Behauptung einer verborgenen Tiefenschicht menschlicher Existenz reagiert. Das Eigentliche sei nicht sichtbar und dennoch real. Als schöpferischer Grund sei es unsichtbar und dennoch wirksam. Es verbürge eine Einheit, die sich nur im bewegten Einklang der Verschiedenen zum lebendigen Organismus konstituiere. Als romantische Spannung und Einheit von Realität und Unsichtbarkeit37 fand sich diese Gedankenfigur in Deutschland in zahlreichen Variationen wieder : als „wahres, geheimes Deutschland“, als „unsichtbare Kirche“, als unter der Oberfläche der Ereignisgeschichte verborgene Tiefenschicht wesentlichen, eigentlichen Seins. In der „unsichtbaren Kirche“ der um eine Vernunftreligion zusammengeschlossenen, das kommende Weltreich der Vernunft in ihrem Freundschaftsbund vorwegnehmenden Gemeinschaft wurde diese fiktive Realität zum Beispiel für Hegel, Hölderlin und Sinclair in ihrer Jugend zum visionären, gleichwohl bereits vorab lebbaren Vorschein einer künftigen Gesellschaft.38 Das wahre, das bessere, das geistige Deutschland – in dieser Argumentationsfigur ist es immer das andere Deutschland, das in der Unterdrückung gerade der besten Traditionen der Nationalgeschichte politisch nicht zum Zuge kommt. Die Annahme eines in unverwirklichten Anfängen stecken gebliebenen Ursprungs eigentlicher Entwicklung sollte geistig überbrücken, was sich politisch ( noch ) nicht verwirklichen ließ. Eine lebendige Einheit des Völkischen wurde gegen die nationale Realität fehl laufender Entwicklungen gesetzt. Das Volk, das in Deutschland keine öffentliche Lebensform sei, kein „sichtbares Dasein aller für alle“, bleibe hier „real im Verborgenen“. Mit seinem „Ursprung noch im Kontakt, aus ihm sich erneuernd und nicht nur entstanden“39, stand dieser Volksbegriff für die Realität des Unsichtbaren in affektiver Besetzung. Für ein Volk, das sich von den Trend setzenden Entwicklungen der Moderne ausgeschlossen sah, funktionierte die Idee des Volkes als Substitut der allgemeinen Menschheitsidee. Als „Stellvertretervolk der Vernunft“ behaupteten die Deutschen die weltbürgerliche Exemplarität ihrer völkischen Existenz.40 Unmittelbar zum Absoluten, zur Vernunft, zu Gott schienen sich in ihrem Fall die ausdifferenzierten gesellschaftlichen und politischen Vermittlungen zur national spezifischen Gattungsexistenz eines Volkes zu erübrigen. In der Politik setzten die Deutschen auf Zentralgewalt und Machtstaat. Aus der Not nationaler Zersplitterung wurde in 36 37 38 39 40

Plessner, Nation, S. 102. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. Bialas, Theologie, S. 27–72. Plessner, Nation, S. 60. Vgl. ebd., S. 59 f.

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Deutschland die Tugend der völkischen Gemeinschaft in der Perspektive staatlicher Einheit. Damit wurde das politische Projekt nationaler Einheit nicht aufgegeben, sondern nachdrücklich in quasi metaphysischer Dringlichkeit erneuert. So wurde die Einheit aller Deutschen von der nationalsozialistischen Ideologie als schöpferischer Wesensgrund eines „Volkes im Werden“ konzipiert, als die Bewegung und Entwicklung eines sich selbst und seine Grenzen ständig neu bestimmenden und in der Setzung überschreitenden Organismus. Das völkische Prinzip bestimmte das Volk als „übergeordnete Lebensganzheit, zu der alles Einzelmenschliche in gliedhaft - organischer Beziehung“41 stehe. In der völkischen Rhetorik deutschen Werdens wurde die Beziehung zwischen Individuum und menschlicher Gattungsvernunft als Verhältnis eines von Sinn und Bedeutung erfüllten Seins und der Fragilität des Seienden bestimmt, die sich zu einem vernünftigen Lebenszusammenhang schließen müsse. Die Vernunft wurde zum Synonym der möglichen Erneuerung völkischer Existenz aus einem verborgenen Ursprung. Vernunft und Volk waren in Deutschland in mehrfacher Hinsicht komplementär. Beide Begriffe stellten die Priorität des Prozesses gegenüber dessen möglicher Stillstellung im sich selbst genügenden Resultat heraus. Die unendliche Vermittlungen setzende Argumentationsfigur einer „Unruhe der Vernunft“ war das philosophische Pendant zu einem Volk, das in der Gegenwart nicht zur Ruhe kommen konnte. Dabei spiegelte sich die für das deutsche Volk behauptete Unauflösbarkeit der Spannung von Reichsidee und modernem Nationalstaatsgedanken in der komplementären Spannung von individueller Existenz und Vernunftprinzip. In dieser Konstellation vollzog sich die Selbstermächtigung der Deutschen zum historischen Souverän der Gattungsvernunft, vermittelt durch das Volk als der imaginären Existenzform nationaler Identität. Das Volk erschien als die unsichtbare Realität nationaler Existenz, ebenso wie die Vernunft für sich in Anspruch nahm, die unsichtbare Realität weltgeschichtlich - weltbürgerlicher Existenz zu sein. Vernunft ist immer universell als weltbürgerliche oder Weltvernunft konzipiert. Ein Volk, das sich in Stellvertretung der Vernunft als „Vernunftvolk“ sieht, kann sich nur in einem ersten Schritt mit einem Staat in den Grenzen seines Sprachraums abfinden. Der zweite Schritt einer Auslegung des „Vernunftstaates“ beansprucht auch politische Gestaltungskompetenz. Als Vernunftstaat nach dem Muster des Reiches entworfen, provozierte das Konzept des Weltstaates den Weltkrieg. In dieser Zuspitzung wurde der Expansionsdrang des Deutschen Reiches grenzenlos. Plessners Versuch, den Deutschen aus ihrer Kultur selbst heraus die Zivilisation verständlich zu machen, legte eine andere Wendung dieser heilsgeschichtlichen Projektionen des Deutschen nahe. Er suchte sie für das ideelle Potential und die politischen Möglichkeiten des westlichen Humanismus zu gewinnen, indem er sie in die Verantwortung für eine notwendige Erneuerung des westli41

Kießling, Jugendkunde, S. 69.

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chen Wertesystems nahm. Dieser geistespolitische Versuch der europäischen Einbindung der Deutschen sprach ihr missionarisches Selbstverständnis auf eine Weise an, die dessen Pazifizierung im europäischen Kontext versprach.

2. Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg : Der geistige Kampf um Europa Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Entwicklungen waren zweifellos dramatisch. Nachdem Millionen auf den Schlachtfeldern verblutet waren, leitete das Ende des Krieges eine folgenreiche politische Neuordnung Europas ein. Multiethnische Imperien, Österreich - Ungarn und das zaristische Russland, brachen auseinander. Das Osmanische Reich zerfiel und wurde durch die Gründung einer säkularen Republik, die den Islam als politische Gestaltungsmacht ablöste, auch kulturell radikal umgestaltet. Das deutsche Kaiserreich wurde durch eine demokratische Ordnung ersetzt. Neben der territorialen und politischen Neuordnung Europas änderte sich auch die politische Landschaft in den einzelnen Ländern grundlegend. Der Erste Weltkrieg hatte auf brutale Weise im Prinzip alle Staaten in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang gerissen, dem sich auch die bis dahin vom Weltgeschehen isolierten oder eigene Wege gehenden Nationen nicht entziehen konnten. Der Ausgang des Krieges veränderte mit dem Zerfall künstlich zusammengehaltener Vielvölkerstaaten und ihres politischen, aber auch soziokulturellen Ordnungssystems nicht nur die politische Landschaft vor allem Europas. Mit der Gründung des Völkerbundes, der politisch forcierten Säkularisierung der Türkei, der Ersetzung von Monarchien durch bürgerliche Demokratien oder aber eine dezidiert antibürgerliche Diktatur wie im Falle Sowjetrusslands, stellten sich auch weltpolitisch neue Konstellationen her. In ihnen formierte sich die bürgerliche Gesellschaft endgültig zur Weltgesellschaft. Globale politische und ökonomische Verflechtungen mussten ihrer Komplexität angemessene Strukturen erst ausbilden. Neue Bündnisse und Gegnerschaften etablierten sich. Akute und potentielle Konflikte mussten neutralisiert und entschärft werden. In dieser Neustrukturierung stand mit der aggressiven Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaft deren politische Zukunft ebenso auf dem Spiel wie die ihres Wertesystems. Einig waren sich Diagnosen der Zeit weitgehend darin, dass spätestens seit dem Ersten Weltkrieg von einer Humanisierung der Menschheit nicht mehr ausgegangen werden konnte. An die Stelle eines Urvertrauens in die Möglichkeiten der industriegesellschaftlichen Moderne, alle sozialen Probleme effektiv und auf humane Weise zu lösen, war eine tiefe Skepsis getreten. Das musste nicht heißen, die Suche nach vormoderner Ursprünglichkeit, anthropologischen Gewissheiten und „Schichten der Unmittelbarkeit“42 aufzugeben. Fragen nach der 42 Plessner, Stufen, S. 29.

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Natur des Menschen, nach anthropologischen und existentiellen Dimensionen des Politischen, nach vorgeschichtlichen Urzuständen gewannen eher noch an Bedeutung. Dabei ging es zunächst darum, im Rückgang auf einfach Ursprüngliches wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Andere Ansätze setzten die explosiven Problemlagen der Moderne nüchtern voraus. Der Rückgriff auf historisch - gesellschaftliche Erklärungen vermochte zwar Ausbruch, Verlauf, Kräfteverhältnisse und Bündniskonstellationen des Krieges zu erklären, nicht jedoch der existentiellen Situation der Grenzerfahrung beizukommen, als die der Krieg von vielen in der enthusiastischen Emphase des Kriegsausbruchs, aber auch noch in den Stahlgewittern des mörderischen Stellungskriegs gesehen wurde.43 Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren Visionen einer europäischen oder gar weltbürgerlichen Kulturgemeinschaft durchaus verbreitet. So beschwor etwa Freud das Verständnis der Völker für ihre Gemeinsamkeiten und die Toleranz für ihre Verschiedenheit, wodurch die Gleichsetzung von fremd und feindlich ausgeschlossen sei. Aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer, so seine Vorstellung, werde sich ein neues, größeres Vaterland für alle bilden.44 Solche Visionen einer weltbürgerlichen Gemeinschaft der Menschheit wurden von der nationalsozialistischen Ideologie als Illusionen eines weltfremden Liberalismus zurückgewiesen : Das liberalistische Zeitalter habe „geglaubt, die Völker dieser Erde seien auf dem besten Wege, zu einer großen gleichförmigen Menschheit zusammenzuwachsen“.45 Die vom Liberalismus beschworene Menschheitskultur und Weltrepublik könne es jedoch niemals geben. Sie wäre gegen die Natur.46 Am Horizont der Geschichte sah Freud ein friedliches Gewimmel von Menschen, denen unterschiedliche Herkunft, Kultur, Sozialisation und Geschichte nicht mehr Provokation und Anlass zu gegenseitiger Abgrenzung sein würden, sondern selbstverständliche Bereicherung. Kulturweltbürger würden sich in diesem neuen Vaterland verschiedenen Typen von Vollkommenheit gegenüber sehen, die sie wie in einem Museum in unparteiischer Anerkennung besichtigen könnten. „Hier war die kühle unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.“47 In dieser weltgemeinschaftlichen Idylle war für Kriege einfach kein Platz mehr, es sei denn, als „ritterlicher Waffengang“ und „Gelegenheit, die Fortschritte im Gemeingefühl der Menschen aufzuzeigen“48, der der Erste Weltkrieg ersichtlich nicht war. Für Freud hatte sich damit die Annahme einer Fortschrittsgeschichte der Menschheit anthropologisch diskreditiert. Die Sublimierung der menschlichen Natur zur Kultur, so seine Überzeugung, 43 44 45 46 47 48

Vgl. Jünger, In Stahlgewittern. Vgl. Freud, Zeitgemäßes, S. 369. Reche, Rasse, S. 20. Vgl. ebd., S. 27. Freud, Zeitgemäßes, S. 369. Ebd., S. 370.

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war nur um den Preis ihrer Unterdrückung zu haben. Die Aufgabe der Kulturgesellschaft sei es deshalb, Menschen daran zu hindern, ihrer Natur zu folgen.49 Kulturelle Leistungen würden sich nicht selbstverständlich aus Möglichkeiten der menschlichen Natur ergeben, sondern müssten dieser Natur erst abgerungen werden. Natur steht hier für die immer mögliche Regression in einen gesellschaftlichen Urzustand der Barbarei. Unter der zivilisatorischen Oberfläche der kulturellen Zähmung menschlicher Natur – ihrer Egoismen, Aggressionen, Triebe und Instinkte – bleibe die Austragung von Problemen und Konflikten menschlichen Zusammenlebens nach dem Gesetz des Stärkeren möglich. Nicht nur für Freud stand nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs die Frage, ob in Menschen so etwas wie ein dunkler und blinder Wille zum Krieg liege : „ein Drang zum Anderswerden, heraus aus dem Alltag, aus der Stabilität von Zuständen, etwas wie Wille zum Tod als Vernichtungswille und Selbstpreisgabe, ein unklarer Enthusiasmus zur Gestaltung einer neuen Welt, oder auch eine die Wirklichkeit nicht kennende ritterliche Kampf lust; oder ein Wille zur Selbstbewährung, der sich beweisen will in dem, was er aushalten kann, und frei gewagten Tod dem am Ende eines nicht lohnenden Daseins passiv zu erleidenden Tod vorzieht“.50 Waren Kriege Ausdruck und Steigerung eines menschlichen Aggressions - und Destruktionstriebes, so war der „ideale Zustand [...] natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben“.51 Diese Assoziation von Diktatur und Vernunft resignierte vor der vermeintlichen Unfähigkeit der Demokratie, das menschliche Triebleben auf vernünftige Weise in die Gesellschaft zu integrieren, so dass destruktive Anteile gesellschaftlich nicht zum Zuge kommen konnten. Nur wenige Intellektuelle der Zeit vermochten sich dem nationalen Pathos zu entziehen, das ihnen mit dem Krieg als patriotische Pflicht nahe legte, im „Gedankendienst mit der Waffe“52 einen eigenen „Beitrag zur Bekämpfung des Feinds zu leisten“ und dabei auch „den Gegner für minderwertig und degeneriert zu erklären“.53 Zu diesen Wenigen gehörte Ernst Bloch, dem das Hinreißende der „Ideen von 1914“ verborgen blieb. Diese Ideen waren für ihn nicht mehr als das, zugegeben, wirkungsmächtige Ergebnis eines „höchst geschickt gemischten Bluffs [...], den das Zweiköpfige, Einleibige aus Krupp und Potsdam mittels der usurpierten Ideale der Einmütigkeit [...] veranstaltet“54 habe. Dieser Bluff, so seine Überzeugung, werde sich genau dann als demagogischer Taschenspielertrick zeigen und einer neuen Nüchternheit Platz machen, wenn die Phraseologie der tiefen Ideen und hohen Ideale auf die brutale Normalität des Kriegsalltags treffe. Die Entzauberung der Ideen, in deren Namen der Krieg geführt wurde, werde nicht bei dessen Demaskierung als „Unternehmerkrieg“ 49 50 51 52 53 54

Ebd., S. 376. Jaspers, Situation, S. 82. Freud, Warum Krieg ?, S. 422. Mann, Betrachtungen, S. 164. Freud, Zeitgemäßes, S. 367. Bloch, Messungen, S. 23.

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und „Militär - und Machtstaatskrieg“ haltmachen, sondern übergreifen auf die ideologischen Lebenslügen des Kapitalismus selbst. Die Bewusstwerdung der revolutionären Kräfte werde den Krieg zur revolutionären Situation führen. 1917 wich diese Hoffnung der Ernüchterung. Nun sah Bloch in der deutschen Seele keinen Punkt mehr, von dem aus eine „Erhebung aus solcher Verkommenheit möglich wäre“.55 Machtkämpfe und Interessenkonflikte, so der weitgehend geteilte zeitgenössische Konsens, waren auch Auseinandersetzungen über kulturelle Werte und geistige Prinzipien der Konfliktparteien. Entweder standen sich in diesen geistigen Auseinandersetzungen konkurrierende Wertesysteme gegenüber, die sich wechselseitig ihren universellen Geltungsanspruch bestritten, oder aber der Wertekonflikt ging darum, welche der Konfliktparteien im Zusammenhang eines im Prinzip geteilten Wertesystems zu Recht für sich beanspruchen konnte, dieses exemplarisch zu verkörpern. Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen normativem Wertesystem und faktischen nationalen Kräfte - und Machtverhältnissen gibt es nicht, wohl aber ein in unterschiedlichen Varianten mögliches Zusammenspiel geistiger und politischer Entwicklungen. Der politische Zusammenbruch eines Systems kann durch dessen moralische Diskreditierung vorbereitet werden. Umgekehrt kann ein gegen machtpolitische Turbulenzen und militärische Auseinandersetzungen resistentes Wertesystem jedoch auch solche Zusammenbrüche unbeschadet überstehen oder diese sogar noch als Impuls zur geistigen Erneuerung nutzen. Reduziert auf den reinen Machterhalt, ohne moralischen Rückhalt an einem Wertesystem, das über die tagespolitischen Parteienkämpfe hinauswies, so die zeitgenössische Argumentation in diesem Zusammenhang, musste ein politisches System an ideeller Substanzlosigkeit zusammenbrechen. Diese Argumentation konnte dazu benutzt werden, die Niederlage Deutschlands gegen einen militärisch überlegenen Gegner als normativ bedeutungslos zu relativieren. Im Aufruf, deutsche Werte, in deren Namen dieser Krieg geführt und schließlich verloren worden sei, am Leben zu halten, wurde der Kampf mit dem Westen als ideelle Auseinandersetzung auch nach der militärischen Niederlage weitergeführt. Die Krise des politischen Humanismus fiel für Plessner zeitlich zusammen mit dem Scheitern des deutschen Versuchs, Anschluss an die machtpolitischen Möglichkeiten des europäischen Imperialismus zu bekommen. Auf diese Verschränkung real - und ideenpolitischer Entwicklungen hätten national gesinnte Intellektuelle mit der Anknüpfung an eine spezifisch deutsche Tradition der philosophischen Kompensation realgeschichtlicher Defizite und Verspätungen reagiert. Sie schrieben dem Ersten Weltkrieg Bedeutungen zu, die aus ihrer Sicht durch die militärische Niederlage Deutschlands nicht berührt wurden. So habe Deutschland in diesem Krieg nicht machtpolitische Interessen verfolgt, sondern durch westliche Zivilisation gefährdete universelle Werte verteidigt. „Die 55 Ebd., S. 29.

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Menschheit scheint vornehmlich der weltbürgerlichen Gesinnung des deutschen Humanismus zu entsprechen“56, so hatte es Hermann Cohen, stellvertretend für viele andere 1914 formuliert. Militärisch könne diese Auseinandersetzung nicht entschieden werden : „Ideen sterben immer wieder nur durch Ideen.“57 Ähnlich hatte schon der junge Marx die Resistenz kommunistischer Ideen gegen Versuche ihrer politischen Unterdrückung damit begründet, dass das Schicksal von Ideen nicht durch Kanonen entschieden werde : „Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“58 Mit dem Ersten Weltkrieg hatte der nationalistische Überschwang deutscher Philosophie einen neuen Höhepunkt erreicht. Nun schien es an ihr, den nationalen Taumel zur weltgeschichtlichen Entscheidungsschlacht zu steigern, einer Entscheidungsschlacht, in der Geist und Kultur gegen den Ansturm der westlichen Zivilisation verteidigt werden sollten. Auch nachdem diese Schlacht verloren war, gehe der Kampf weiter. Der Impuls, die Ergebnisse von Versailles zu revidieren und in einem zweiten Anlauf die durch die Philosophie symbolisch beanspruchte weltgeschichtliche Führungsrolle nunmehr auch politisch zu erobern, schlug die Brücke von den „Ideen von 1914“ zu den philosophischen Imaginationen von 1933. So heißt es in einem nationalsozialistischen Text von 1935 beispielhaft für viele andere : „Jeder Krieg [...] wird erst nach dem Kriege entschieden. Und so erkennen wir heute, dass der Kampf der deutschen Frontgeneration [...] trotz der Entrechtung und Knebelung unseres Volkes zum Siege geführt hat. Wir sehen, dass die äußerliche Niederlage im innersten Kerne ihre Wesens eine sieghafte Auferstehung der deutschen Seele verbirgt.“59 Aus deutscher Sicht ging es bereits im Ersten Weltkrieg, und nicht erst in der ideologischen Nachbereitung und Uminterpretation seiner Ergebnisse, vor allem um die Auseinandersetzung von Ideen.60 Nach der militärischen Entscheidung des Kampfes, so waren viele überzeugt, würde die Auseinandersetzung der Ideen unter veränderten Bedingungen und Schwerpunktsetzungen weitergehen. Jeder Krieg werde erst nach dem Kriege entschieden. So sei der erste Weltkrieg durch den fortgesetzten Kampf der deutschen Frontgeneration nach der äußerlichen Niederlage Deutschlands schließlich zum Sieg geführt worden – der „sieghaften Auferstehung der deutschen Seele“.61 Nun standen nicht mehr Weltanschauung und Wertesystem der kämpfenden Parteien im Vordergrund, sondern wurden die Toten in der historischen Erinnerung der Lebenden zum Zeugnis dafür aufgerufen, dass der eigentliche, eben der Kampf der Ideen, noch nicht 56 57 58 59 60 61

Cohen, Über das Eigentümliche, S. 29. Plessner, Nation, S. 45. Marx, Kommunismus, S. 108 Engelbrechten, Wille, S. 1285. Vgl. Lübbe, Philosophie, sowie Flasch, Mobilmachung. Engelbrechten, Wille, S. 1285.

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entschieden war. Dieser Versuch, ihrem Sterben einen Sinn zu geben, nahm die deutschen Toten dieses Krieges als Mahnung an die Lebenden, die Ideen, für deren Verteidigung sie in den Kampf gezogen und gefallen waren, nicht verloren zu geben. Der Kampf und ihr Sterben durften nicht umsonst gewesen sein. Deutschland als Verlierer des Krieges suchte den militärischen Sieg des Westens in dessen moralisch - weltanschauliche Niederlage umzudeuten. Im Unterschied zu den durch ihren militärischen Triumph in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit für die Komplexität und Vielschichtigkeit der Geschichte eingeschränkten Siegermächten sei Deutschland durch seine Niederlage für die von den Ereignisgeschichten unberührten Bedeutungsschichten des Historischen sensibilisiert worden. Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Ideen und Werten, so gab sich dieser geistespolitische Bellizismus überzeugt, werden durch die Sensibilität für die Bedeutungsvielfalt der Geschichte entschieden. Der völkische Aufbruch des Nationalsozialismus beschwor den Mythos des deutschen Kämpfers, des unbekannten Soldaten des Weltkrieges, den die Deutschen mit Hitler „lebendig an die Spitze der Nation berufen“62 hatten, während die westlichen Nationen ihre Gefallenen ohne entsprechendes Heldengedenken einfach begraben und damit aus dem nationalen Gedächtnis gelöscht hätten. Die Chance, die die Siegermächte im Taumel des Sieges ausgelassen hätten, sei von den Deutschen bewusst genutzt worden : Durch ihre an der Zukunft des deutschen Volkes orientierte Heldenehrung hätten sie dem Krieg einen nationalen Sinn gegeben. In diesem Zusammenhang hatte Walter Benjamin einen Doppelsinn von Gewinn und Verlust festgestellt : „Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift [...] so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, dass wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.“63 Den Unterlegenen drohe dabei der Verlust historischer Erinnerung : Nur „der Sieger behält den Krieg, dem Geschlagenen kommt er abhanden“.64 Ein solcher Verlust könne kompensiert werden durch seine Wendung zum inneren Sieg, der sich sowohl gegen den verlorenen Krieg wie die zivile Normalisierung der Niederlage behaupten müsse. In den symbolischen Deutungskämpfen Nachkriegsdeutschlands wurde der Verlust einer Intensität des Völkischen beklagt, mit der das deutsche Volk mental am Krieg beteiligt gewesen sei. In der Erinnerung an das verloren Gegangene wurde seine mögliche Erneuerung unter den Bedingungen der Nachkriegszeit beschworen. Linke wie Bloch und Benjamin erwarteten die proletarische, die internationalistische Revolution aus der Umgruppierung nationaler Bindungsenergien zur revolutionären Energie des sozialen Umsturzes. Rechtskonservative wie Hans Freyer65 oder Oswald Spengler66 suchten mit analogen Argu62 63 64 65 66

Gründel, Jahre, S. 101. Benjamin, Theorien, S. 242 f. Ebd., S. 242. Vgl. Freyer, Revolution. Vgl. Spengler, Jahre.

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menten das Bevorstehen der nationalen Revolution zu begründen. Andere, wie Ernst Jünger oder Edgar Julius Jung hielten am Erlebnis des Ersten Weltkrieges die epochale Zäsur fest. In der apokalyptischen Verklammerung von Technik und deutschem Idealismus zum „verspannten Heroismus“ der Materialschlachten sah Benjamin den gespenstischen Klartext der philosophischen „Ideen von 1914“. „Die Friedensgenien“, die die total mobil gemachte Landschaft „so sinnlich besiedeln, sind evakuiert worden und so weit man über den Grabenrand blicken konnte, war alles Umliegende zum Gelände des deutschen Idealismus selbst geworden, jeder Granattrichter ein Problem, jeder Drahtverhau eine Antinomie, jeder Stachel eine Definition, jede Explosion eine Setzung, und der Himmel darüber bei Tag die kosmische Innenseite des Stahlhelms, bei Nacht das sittliche Gesetz über dir. Mit Feuerbändern und Laufgräben hat die Technik die heroischen Züge im Antlitz des deutschen Idealismus nachziehen wollen.“67 In dieser originären Vision einer Erfüllung der Ambivalenzen des deutschen Idealismus waren Apokalypse und Erlösung gleichermaßen möglich. Entweder würde die Technik zur Lösung sozialer Probleme eingesetzt, oder aber die Versuchung technischer Endlösungen politisch die Oberhand gewinnen. In solchen Endlösungen sah Benjamin den „Versuch, das Geheimnis einer idealistisch verstandenen Natur in der Technik mystisch und unmittelbar zu lösen, statt auf dem Umweg über die Einrichtung menschlicher Dinge es zu nutzen und zu erhellen“.68 Anstatt zu meinen, mit ein für allemal gültigen Lösungen auch diese Probleme selbst aus der Welt schaffen zu können, müsse man sich mit vorläufigen Lösungen begnügen. Der Kampf um die historische Erinnerung wurde für Benjamin durch die politische Kraft entschieden, der es gelang, die im Ersten Weltkrieg investierten und akkumulierten, auch verbrauchten und verbrannten Energien zur Auf ladung der eigenen Bewegung zu nutzen. Der Erste Weltkrieg blieb für ihn der Bezugspunkt, an dessen historischer Bewältigung sich die Zukunft entscheiden werde. Er blieb das Urerlebnis, an dem sich die Vernunft abarbeiten musste, um ihren eigenen Standort neu zu bestimmen. Weder sollte dieser Krieg als ritualisierte historische Erinnerung der ewige bleiben, noch sollte er in pazifistischer Schwärmerei der letzte gewesen sein. Vielleicht, so Benjamin, eröffne die Auseinandersetzung mit dem Krieg ja den Völkern doch noch die Chance, ihre Verhältnisse untereinander friedlich zu ordnen.69 Die Vergewisserung einer weltgeschichtlichen Mission der Deutschen, als „philosophische Nation“ Geist, Vernunft und Kultur gegen ihre Bedrohung durch westliche Zivilisation, Kapitalismus und individualistischen Materialismus verteidigen zu müssen, war eine der prominenten Argumentationsfiguren des philosophischen Deutungskampfes um die begriff liche Besetzung des Ersten Weltkrieges. Als weltbürgerliche Nation habe Deutschland im Ersten Weltkrieg 67 Benjamin, Theorien, S. 247. 68 Ebd. 69 Vgl. ebd., S. 249.

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universelle Ideen gegen ihre Gefährdung durch kapitalistische Rationalität, autokratische Barbarei und zivilisatorische Dekadenz verteidigt. Ein anderer Versuch, den Ersten Weltkrieg als historische Erfahrung präsent zu halten, war die Bestimmung eines auch die Nachkriegszeit prägenden Menschentyps. Gewohnt an ein „Leben in der Beschleunigung“ in „Todeszonen der Vernichtung“, war es für Ernst Jünger die Gestalt des „soldatischen Arbeiters“, die eine Gesellschaft totaler Mobilmachung durch eine habituelle Kombination von „Präzision und Gefahr“70 menschlich ausfüllte. Nicht nur seien die technisch hochgerüsteten Heere „der kriegerische Ausdruck, den die Gestalt des Arbeiters“71 sich verliehen habe, sondern diese Gestalt bilde „den zerstörenden und mobilisierenden Mittelpunkt des technischen Vorganges“72 überhaupt. Nach dem Ersten Weltkrieg sei es unmöglich, „das Leben in den alten Formen fortzuführen“.73 Eine neue Weltordnung, davon war Jünger überzeugt, werde nur durch eine „Kette von Kriegen und Bürgerkriegen“74 entstehen. Als Krieg zwischen zwei Zeitaltern habe der Erste Weltkrieg das bürgerliche Zeitalter, in dem Ordnung und Sicherheit als höchste Werte galten, abgelöst durch ein Zeitalter, dem „das Unbekannte, das Außerordentliche, das Gefährliche“75 zum Gewöhnlichen und Bleibenden geworden war. Im Unterschied zu anderen kriegführenden Nationen seien die Deutschen „in das Feuer gegangen [...], nicht um zu erobern oder zu besiegen, sondern weil es eben Feuer war, das zerglühende, verwandelnde Element, nach dessen Taufe sie begehrten“.76 Die Überzeugung, es sei nach dem Weltkrieg nicht mehr möglich, so weiterzuleben, als habe es diese Erfahrung des „Lebens in den Todeszonen der Vernichtung“, der Reduktion von Individualität auf ihren funktionalen Wert im Kampf nicht gegeben, lag auch Heideggers Versuch zugrunde, diese Erfahrung auf eine ontologische Grundstimmung der Langeweile in einer künstlichen Umgebung vorgespiegelter Normalität zu beziehen.77 Ins Kreuzfeuer philosophischer Kritik geriet die Weimarer Republik vor allem auch deshalb, weil sie, in den Augen ihrer Kritiker, politisch an der Konstruktion einer Oberfläche der Normalisierung arbeitete, anstatt sich dem durch den Krieg vorbereiteten Umbruch zu einer neuen Daseinsordnung politisch zu stellen. Für Plessner war der Krieg ein Versuch, „die ewig unauf lösbare Spannung zwischen Norm und Leben“78 zugunsten der Norm zu lösen. Gegen deren einseitige Lösung durch den normativen Ausnahmezustand plädierte er für die Aushandlung von Kompromissen und den gerechten und vernünftigen Ausgleich im Konfliktfall des Aufeinandertreffens gegensätzlicher Interessen. Einer möglichen 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Jünger, Arbeiter, S. 148. Ebd., S. 76. Ebd., S. 170. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 57. Alverdes, Buch vom Kriege, S. 1057. Vgl. dazu Heidegger, Grundbegriffe, S. 117–198. Plessner, Grenzen, S. 97.

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Eskalation solcher Konflikte im „Spiel von Drohung und Einschüchterung, List und Überredung, Handeln und Verhandeln“79 müsse man vorbeugen durch die Kunst der Diplomatie. Auch für Karl Jaspers sprach im Krieg zunächst einmal „das Schicksal [...] durch physische Entscheidung. Es ist in ihm ein Pathos : das Leben für seinen Glauben an den unbedingten Wert des eigenen Wesens einzusetzen; lieber tot als Sklave zu sein.“80 Hinter dieser Bestimmung steht die Auffassung, dass Menschen erst in Grenzsituationen ihres Lebens eine Chance haben zu erfahren, wie ernst es ihnen mit ihren Überzeugungen und Werten wirklich ist. Eine solche Erfahrung aber gehörte für Jaspers zur Wesensbestimmung des Menschen. Insofern sah er den Krieg auch als Möglichkeit eines „Aufschwungs im Menschen“.81 Allerdings markierte genau hier der erste Weltkrieg für ihn eine Zäsur. Als Interessenkampf habe diesem „das wahre Pathos eines geglaubten Seins, dessen Schicksal zu entscheiden“82 war, bereits gefehlt. In einem „technischen Kampf der Maschinen gegeneinander und gegen die jeweils passiven Bevölkerungen“83 sei es nicht mehr darum gegangen, existentielle Entscheidungen zu treffen und auszufechten. An die Stelle der durch unvereinbare Glaubenssätze oder unbedingte Werte geschiedenen Kampfgemeinschaften sei in diesem Krieg die Gemeinschaft aller am Kampf Beteiligten im Ertragen des gemeinsamen Schicksals getreten, „in der anhaltenden Gefahr des unberechenbaren und unbekämpfbaren Zufalls“84 auszuhalten, was sie nicht daran hindere, im nächsten Augenblick wieder aufeinander zu schießen oder einzustechen. In dieser „eigentümlichen Solidarität zwischen Soldaten“, die sich gleichzeitig „auf Leben und Tod bekämpften“85, sah Jaspers den Vorschein einer auf Eindeutigkeiten nicht mehr festzulegenden ambivalenten Moderne. Menschen konnten sich nicht mehr der verbindlich geregelten Festlegung ihres Verhaltens in vertrauten Situationen sicher sein, sondern mussten sich jeweils zwischen mehreren möglichen Verhaltensvarianten aus der Situation heraus entscheiden. An die Stelle von geteilten Idealen, Überzeugungen und Normen, die den individuellen Spielraum möglichen Verhaltens eingrenzten, war der technische Vollzug einer neutralisierten Logik getreten. Jaspers’ Absage an eine höhere Sinngebung des Ersten Weltkrieges verabschiedete die Rhetorik des „weltgeschichtlichen Entscheidungskampfes“ zwischen Kultur und Zivilisation, der weiter gehe, auch wenn eine Schlacht verloren worden sei. Nach dem Ersten Weltkrieg formulierten expressionistische Künstler wie nationalistische Ideologen gleichermaßen die Unvermeidlichkeit einer revolutionären Veränderung. In ihrer apokalyptisch - messianischen Rhetorik dominier79 80 81 82 83 84 85

Vgl. ebd. Jaspers, Situation, S. 80. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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ten Begriffe wie Erlösung und Authentizität gegenüber klaren politischen Zielvorstellungen. Diese politische und ästhetische Differenzen überbrückende Rhetorik drückte das gemeinsame Gefühl aus, an der Wende zu einem neuen Zeitalter zu stehen. In dieser Situation der Umorientierung und Neubestimmung fragte Plessner nach den Auswirkungen der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg auf das nationale Selbstbild und die mentale Situation der Deutschen. Mehrheitlich war die Niederlage von den Deutschen als äußerliche Katastrophe empfunden worden, zu der sie innerlich auf Distanz gingen, um ihr nationales Selbstbewusstsein auch in Zeiten der Demütigung durch die Siegermächte behaupten zu können. Mit der Niederlage, so stellt Plessner zunächst fest, war dieser Krieg für die Deutschen nicht beendet. Eben um den militärischen Ausgang des Krieges nicht auch als geistige Niederlage akzeptieren zu müssen, bestanden sie darauf, dass es in diesem Krieg vor allem um die Auseinandersetzung konträrer Wertesysteme gegangen sei. Im geistigen Kampf um Europa, so Plessner, müsse die Gestaltungskompetenz von Politik durch die Mobilisierung universeller Werte gegen den Pragmatismus von Macht - und Parteienpolitik geltend gemacht werden. Dabei galt es als ausgemacht, dass weltliche Entwicklungen sich nicht in ihren profanen Zwecken erschöpften, sondern dass sich in ihnen höhere, verborgene Bedeutungen realisierten. In politischen Kämpfen und auch Kriegen gehe es neben der Austragung konträrer machtpolitischer Interessen immer auch um die Besetzung dieser Kämpfe mit einem historischen Sinn, der ihren faktischen Ausgang übersteige. Am militärischen Sieg des Westens im Ersten Weltkrieg verdeutlichte Plessner ein normatives Dilemma des politischen Humanismus. Sein Versuch, sich in die deutsch - nationale Rhetorik der Kritik westlicher Hegemonialpolitik einzufühlen, teilte die Annahme einer Legitimationskrise des westlichen Wertesystems. Der politische Humanismus werde sich in der Krise neu erfinden oder aber seine politische Irrelevanz akzeptieren müssen. Plessners Kritik am politischen Humanismus zielte auf die innere Widersprüchlichkeit eines Wertesystems, das die universelle Geltung solcher Prinzipien behauptete, die es im politischen Konfliktfall nicht mehr durchzusetzen vermochte. Eine solche Konstellation sah er in der für die Zukunft Deutschlands und Europas hochproblematischen Unfähigkeit der alliierten Siegermächte, Deutschland in den Geltungsbereich des westlichen Wertesystems einzubeziehen. Die militärisch Unterlegenen konnten sich so als die ideellen Sieger sehen, die stark genug waren, ihre Ideen auch in der Niederlage gegen die Sieger zu behaupten. So hätten die Deutschen in der Überzeugung von ihrer geistigen Überlegenheit die kulturelle Auseinandersetzung um die Bedeutung der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen für die europäische Nachkriegsordnung offen gehalten. Der politische Humanismus war zu einer Ideologie geworden, der Entwicklungen gegenüber standen, die nicht mehr in das normative Raster seiner politischen Prinzipien und Werte passten. Die von ihm beanspruchte zeitlos univer-

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selle „innere Wahrheit“86 drohte zur Farce zu werden. Seine prinzipielle Kritik ebenso wie seine normative Neugründung war unausweichlich. In dieser Situation kam Deutschland eine besondere Rolle zu. Durch die politische Provokation und Herausforderung, die vom Nationalsozialismus für Europa ausging, so Plessner, war die Auseinandersetzung mit den deutschen Entwicklungen zum strategischen Schnittpunkt einer politisch reflektierten, an kontextspezifischen universellen Vernunftprinzipien orientierten Neugründung des politischen Humanismus geworden. An der von ihm wahrgenommenen Schwierigkeit der siegreichen Westmächte, eine zugleich mit den Prinzipien des eigenen Wertesystems übereinstimmende wie pragmatisch erfolgreiche Politik des Umgangs mit Deutschland zu entwickeln, hatte Plessner problematische Seiten des westlichen Wertesystems offen gelegt. Aus dieser Situation ergaben sich für ihn grundlegende Fragen : Galt das Prinzip des politischen Humanismus nur von Fall zu Fall, und konnte es eben deshalb bei Bedarf außer Kraft gesetzt werden ? Waren die normativen Werte westlicher Rationalität also zwar im Prinzip universell gültig, für den Konfliktfall des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Interessen, die sich auf paradox gegensätzliche Weise auf diese Werte beriefen, dann aber doch zu unscharf und abstrakt, um den Kompromiss des notwendigen Interessenausgleichs zu tragen ? War der politische Humanismus in seinem Bestehen auf prinzipiengeleiteten Konfliktlösungen auch zu pragmatischen Kompromissen in der Lage ? Oder würde er sich mit der symbolischen Geste des normativen Rigorismus begnügen müssen, der zwar auf der uneingeschränkten Geltung des Prinzips bestand, ohne sich jedoch in immer einzigartigen historischen Situationen angesichts einer Vielfalt politischer Optionen für eine dieser Optionen entscheiden zu können ? Mit der Kollision von Rechten und Ansprüchen, die sich gleichermaßen auf das Prinzip des politischen Humanismus beriefen, war dessen universelle Geltung in Frage gestellt. In der Unvereinbarkeit gleichberechtigter Forderungen an das Wertesystem konnten Konflikte nicht mehr prinzipiell entschieden werden. Seine Zerreißprobe im Widerstreit unvereinbarer Forderungen verlangte nach einer Neubestimmung des westlichen Wertesystems, die eine von Prinzipien geleitete Regelung von Konflikten wieder möglichen machen sollte. Der Selbstwiderspruch des politischen Humanismus in der politischen Praxis seiner Umsetzung sollte durch seine prinzipielle Kritik und Erneuerung an den Herausforderungen der Zeit gelöst werden. Als eine der wichtigsten dieser Herausforderungen galt Plessner die Perspektive Deutschlands im europäischen Zusammenhang, die sich in seiner Ausgrenzung und diskriminierenden Sonderbehandlung als Paria Europas oder aber seiner gleichberechtigten Einbeziehung in völkerrechtliche und europäische Entwicklungen entscheiden werde. Plessners Plädoyer für eine europäische Einbindung Nachkriegsdeutschlands inter venierte auf eigentümliche Weise in den rechtskonservativen nationalisti86 Plessner, Schicksal, S. 186.

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schen Diskurs, der die Ergebnisse und Konsequenzen der militärischen Niederlage Deutschlands nicht wahrhaben wollte. Eine der prägenden Thesen dieser Debatte fand sich in der Überzeugung, dass der „weltanschauliche Entscheidungskampf“ um die Zukunft Europas und der westlichen Welt durch den militärischen Ausgang des Krieges nicht beendet war. Diese Rhetorik stellte klar, dass die Zukunft Europas nicht militärisch entschieden werden konnte. Europa erschien in ihr nicht vorrangig als eine Territorialordnung, sondern als eine Werteordnung, deren normative Grundlagen in die Krise geraten waren. Das durch die militärische Niederlage Deutschlands besiegelte Scheitern des Versuchs, sich als europäische Hegemonialmacht in einem nationalstaatlich erweiterten Großraum zu etablieren, konnte durch diese Umakzentuierung zu einer verlorenen Schlacht erklärt werden, die nicht weiter ins Gewicht fiel. Nur so war es möglich, den Sieg des Westens als ideelle Sättigung und geistige Erschöpfung eines normativ ausgebrannten Gegners zu interpretieren, der bereits nicht mehr in der Lage zu einer von den Prinzipien seines Wertesystems geleiteten Politik war. In dieser Konstellation konnte sich Deutschland zum Hoffnungsträger der normativen Erneuerung des alten, politisch unbeweglichen und normativ überlebten Europa stilisieren. Noch in seiner Niederlage führte es den Westen als unfähig vor, die Früchte seines Sieges zu ernten und ihm, als der unterlegenen Nation, sein Wertesystem aufzuzwingen. Gegen die machtpolitische Instrumentalisierung des Humanismus durch die Westmächte zur „Maskierung“ ihrer politischen und ökonomischen Interessen hätten die Deutschen immer auf einer klaren Trennung von Machtpolitik und Vernunftphilosophie bestanden, auch wenn ihnen dass Nachteile in der europäischen Konkurrenz um einen „Platz an der Sonne“ gebracht habe. In der Hilf losigkeit des Westens gegenüber den Entwicklungen und Erwartungen der Deutschen nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg sah Plessner die Kehrseite dieses Ausverkaufs des politischen Humanismus durch seine Verpflichtung auf machtpolitische Interessen.87 Machtpolitische Erwägungen hätten ihn dazu gezwungen, Deutschland aus dem Geltungsbereich seines Wertesystems auszuschließen. Sein militärischer Sieg drohe sich damit in eine geistige Niederlage zu verkehren. Deutschland uneingeschränkt das Recht nationaler Selbstbestimmung zuzugestehen, hätte einen neuen europäischen Konfliktherd entstehen lassen. Im Interesse einer stabilen europäischen Nachkriegsordnung, aber auch der eigenen macht - und weltpolitischen Ambitionen, konnten die westlichen Siegermächte eine solche Entwicklung nicht zulassen. In einer eigentümlichen Wendung bezog sich auch Plessner in seinem Plädoyer für eine Erneuerung des in die Krise geratenen politischen Humanismus auf die „Ideen von 1914“. Die deutsche Situation nach der Kriegsniederlage, das mentale Trauma nationaler Demütigung und die Versuche, es zu verarbeiten oder aggressiv zu verdrängen, beantwortete er mit der Diagnose einer europäischen Wertekrise : Deutschland erlebte nach der Niederlage im Krieg auch 87 Vgl. Plessner, Nation, S. 55 f.

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einen Zusammenbruch seines Wertesystems. Schon deshalb hätte sich der militärische Sieg des Westens durch die geistige Überlegenheit seines Wertesystems fortsetzen müssen. Das Gegenteil schien der Fall zu sein, und das, obwohl Deutschland dem Westen keine eigene überlegene Werteordnung entgegen zu setzen hatte. Durch den Ersten Weltkrieg sei Deutschland zu einem Zeitpunkt in den Kampf gegen die europäische Welt - und Werteordnung hineingerissen worden, als sich dieses System bereits überlebt hatte. Über Jahrhunderte abgekoppelt von dessen Entwicklung, dem „es eine andere Ordnung nicht entgegenzusetzen hatte“, erfuhr es in diesem Krieg „die Weltmacht des politischen Humanismus, in dessen Zeichen die alten Nationen und Amerika die Verteilung der Erde rechtfertigen konnten“.88 Die Gründung des Völkerbunds wurde als institutionelle Bekräftigung der Diskriminierung Deutschlands durch den Versailler Vertrag abgelehnt. Unter Verletzung der Prinzipien von Ehre, Recht, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sei Deutschland zum Eintritt in den Völkerbund gezwungen worden. Ihm sei es nicht als souveräne, sondern als vielfach diskriminierte Nation beigetreten.89 „Der Völkerbund [...] ließ das Selbstbestimmungsrecht für andere Völker gelten, [...] aber nicht für Deutsche.“90 In ähnlicher Diktion hatte Max Scheler die Gründung des Völkerbundes als Versuch der westlichen Siegermächte des Ersten Weltkrieges interpretiert, „Deutschlands Niederlage für ewige Zeiten zugunsten eines amerikanisch - englischen Interessenverbandes“91 zu befestigen. Dagegen erwartete er, dass gerade Deutschland in seiner Niederlage eine menschheitliche Kulturgesinnung entwickeln werde, um dadurch auf „die große Idee der Einfügung in eine im Völkerbunde rechtlich, politisch und sozial souverän gewordene Menschheit“92 und damit die mögliche Ablösung einer imperialistischen durch eine neue Weltpolitik zurückzukommen. Gegründet auf Bluts - und Stammesver wandtschaft sei die Volksgemeinschaft Schicksalsraum und Sprachgemeinschaft. Deutschlands Unbehagen am alten europäischen Wertesystem, seine Skepsis gegen den politischen Humanismus, so sah es Plessner, waren insofern gut begründet, als sich an seiner den normativen Grundlagen dieses Wertesystems widersprechenden Behandlung durch die westlichen Siegermächte die Grenzen dieses Wertesystems gezeigt hätten. Unsicher sowohl über die Berechtigung seines universellen Geltungsanspruchs wie über die politischen Implikationen dieses Wertesystems in der Stunde seines Sieges sei der politische Humanismus nicht gestärkt, sondern geschwächt aus seinem Sieg hervorgegangen. Das bürgerliche Deutschland kämpfte gegen die bürgerlichen Großmächte Westeuropas um die Revision des Paradoxons, einerseits in den Völkerbund aufgenommen, zugleich aber durch den Versailler Vertrag in seiner politischen Selbstbestim88 89 90 91 92

Ebd., S. 41. Vgl. Stegemann, Weltwende, S. 29 f. Schwarz, Reden, S. 427. Scheler, Politik, S. 509. Ebd., S. 510.

Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg

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mung eingeschränkt worden zu sein.93 Die gegnerischen Parteien blieben auch nach Beendigung des Kampfes in einer höchst widersprüchlichen und komplexen Gemengelage verklammert. Es schien, als würde die geistige Situation der Zeit im Nachhinein die Behauptung der Kriegsparteien unterstreichen, dieser Krieg sei tatsächlich vor allem ein „Kulturkampf“ gewesen. In dieser paradoxen Gemengelage wird die Situation nun tatsächlich unübersichtlich. Wieso beklagten die Deutschen den Ausschluss aus einem Wertesystem, dessen Grundlagen sie ablehnten ? Weshalb reklamierten sie ein Recht, das seine Legitimität einem Wertesystem verdankte, das sie zugleich entschieden bekämpften ? Als ideologischer Kampfdiskurs diente diese Rhetorik offensichtlich dazu, die nicht hinnehmbare nationale Demütigung mit dem geistespolitischen Patriotismus der durch die Tiefe und den Gehalt ihrer Überzeugungen weltanschaulich überlegenen Nation rhetorisch zu kontern. Zunächst aber war Deutschland als die im Weltkrieg unterlegene Nation mit den sehr materiellen Folgen der Kriegsniederlage konfrontiert. Durch die Diagnose einer durch die deutschen Nachkriegsentwicklungen ausgelösten Krise des westlichen Wertesystems vermied Plessner den verbreiteten nationalistischen Zirkelschluss der trotzigen Abschottung Deutschlands von den europäischen Entwicklungen. Sein Versuch, Deutschland im Spiel der europäischen Politik zu halten, argumentierte wertetheoretisch : Deutschland habe sich zu einem Zeitpunkt auf einen Kampf gegen die europäische Welt - und Werteordnung eingelassen, als sich dieses System als normative Ordnung bereits überlebt hatte. Seine Niederlage im Krieg habe so vor allem die Grenzen des politischen Humanismus aufgezeigt. Den Sieg des westlichen Wertesystems habe Deutschland als Ohnmacht erfahren, im Zeichen dieses Systems zu seinem Recht zu kommen. Deutschlands „Kampf mit Europa um Europa, primär gerichtet auf Wiederherstellung seiner Macht, musste den Boden der humanistisch liberalen Tradition der saturierten, im Kriege siegreichen Westmächte in Frage stellen.“94 In seinem Kampf gegen Europa sei es zugleich um Europa gegangen. Die Zukunft Europas und des politischen Humanismus schien sich an der Perspektive Deutschlands zu entscheiden. Dabei habe die deutsche Skepsis am europäischen Wertesystem im fortgesetzten Ausschluss Deutschlands von der Geltung dieses Wertesystems ihren nachvollziehbaren Grund. So zumindest konnte die Diskriminierung Deutschlands durch die Präferenz macht - und sicherheitspolitischer Erwägungen in seiner Ungleichbehandlung seitens der Westmächte aus nationalistisch - völkischer Sicht interpretiert werden. Das, was alle anderen europäischen Staaten selbstverständlich für sich in Anspruch genommen hatten, war Deutschland nicht gewährt worden : die Gründung eines Nationalstaats in den völkischen Grenzen seines Sprachraums. Sein Kampf gegen dieses System habe so mit der „Selbstunsicherheit [...] des alten europäischen Wertbewusstseins“95, das sich selbst bereits fragwürdig geworden war, 93 Vgl. Fischer, Plessner, S. 67. 94 Plessner, Nation, S. 41. 95 Ebd., S. 40.

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dessen Nerv getroffen. Diese paradoxe Verknüpfung macht - und ideenpolitischer Rhetorik verwies auf die tatsächliche Komplexität und verwirrende Vielschichtigkeit der politischen und kulturellen Entwicklungen Nachkriegsdeutschlands. Eine analoge Diagnose der geistigen Überlebtheit des Westens hatte Christoph Steding aus nationalsozialistischer Sicht formuliert. Auch er verwies auf die Unfähigkeit des Westens, Deutschland ein politisches Handeln nach den eigenen Grundprinzipien zuzugestehen. Deutschland ein Grundrecht zu ver weigern, das die westlichen Staaten selbstverständlich für sich in Anspruch nahmen, unterstreiche nur, dass Deutschland die Zukunft gehöre, während der Westen sich in einer bereits zur Vergangenheit gewordenen, nicht mehr lebensfähigen Gegenwart einrichte. Das paradoxe „Verleugnen des eigenen nationalen Grundprinzips, wenn es darum geht, dass Deutschland faktisch selbst nach diesem angeblich so fortschrittlichen Prinzip zu handeln anfängt“, mache den „Dualismus zwischen Jugend und Alter“96 der in diesem Konflikt zwischen Deutschland und dem Westen aufeinander treffenden gesellschaftlichen Systeme nur umso deutlicher. Für Deutschland reklamierte Steding das vom Westen als normatives Prinzip behauptete „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.97 Deutschland habe das Recht, zu dem zu werden, „was die anderen, fertigen und reifen Nationen des Westens schon lange waren“.98 Wie Plessner sah er eine Diskrepanz von normativem Prinzip und Interessen als Zeichen einer Krise des Westens : Die westlichen Siegermächte würden die Geltung ihrer eigenen Prinzipien nur dann anerkennen, wenn das in ihrem eigenen Interesse liege. Sie seien ganz offensichtlich nicht daran interessiert, dem deutschen Volk das Recht auf nationale Selbstbestimmung zuzugestehen.99 Auch Steding verwies darauf, dass alles, was sich in Deutschland vollziehe, unmittelbare Folgen für Europa habe.100 Und auch er sah für Deutschland eine Schlüsselrolle in den anstehenden europäischen Entwicklungen : Die notwendige Erneuerung Europas müsse von der Mitte, also von Deutschland ausgehen.101 Die Hoffnung, Deutschland könne zum Ausgangspunkt einer geistigen und politischen Erneuerung Europas werden, war politisch übergreifend und gehörte zum argumentativen Repertoire zeitgenössischer nationalsozialistischer wie antinazistischer Selbstverständigung der deutschen Zwischenkriegszeit. Die westlichen Siegermächte hätten Deutschland, nach dem von Plessner als Konsens unterstellten damaligen Verständnis des Rechtes auf Gründung eines Nationalstaats in den territorialen Grenzen des jeweiligen Sprachraums, seine territoriale Erweiterung durch den Anschluss Österreichs zugestehen müssen. Ein solcher Anschluss sei Deutschland jedoch aus plausiblen sicherheitspoliti96 97 98 99 100 101

Steding, Reich, S. 194. Ebd., S. 372. Ebd., S. 371. Vgl. ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 24.

Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg

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schen Gründen durch die Westmächte ver wehrt worden. Das politische Interesse an einer stabilen europäischen Nachkriegsordnung in den gesetzten territorialen Grenzen habe die geforderte Eingliederung Österreichs in einen deutschen Nationalstaat zurückweisen müssen.102 Die Rhetorik des Anschlussverbots für Österreich baute eine nationale Spannung auf, die 1933 als Neuauf lage der normativen Krise des politischen Humanismus von 1918 erscheinen lassen konnte. 1933 kam Deutschland in dieser Sicht auf ein Problem zurück, dessen Lösung 1919 nur vertagt worden war. In dieser Perspektive konnte sich der nationalsozialistische Staat selbstbewusst in die Kontinuität einer noch immer offenen nationalen Frage stellen. Damit setzte er den Westen moralisch und politisch unter Druck, Deutschland nicht länger zu verweigern, was historisch längst überfällig war und von einer Mehrheit des deutschen Volkes als nationales Selbstbestimmungsrecht eingefordert wurde. Unter dieser Voraussetzung drohte die völkische Revolution der Deutschen zum Auftakt einer völkisch - revolutionären Neuordnung Europas zu werden. Der politische Ausgriff auf die nationale Einheit des deutschen Volkes musste die territorialen Grenzziehungen Europas aufkündigen. Der politische Humanismus des Westens, der jedem Volk das Recht auf nationale Selbstbestimmung als Recht auf nationale Einheit in den Grenzen des durch eine gemeinsame Sprache repräsentierten Volksraums zugestand, musste die völkische Revolution der Deutschen als politisch legitim anerkennen. Plessners mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktion der deutschen Nachkriegssituation warb um Verständnis für eine Gemütslage der nationalen Demütigung. Ihm ging es nicht um Schuld, Sühne oder historische Gerechtigkeit, sondern darum, eine deutsche Mentalität zu skizzieren, mit der Europa rechnen musste, wollte es nicht böse Überraschungen erleben. Entgegen einer weit verbreiteten zeitgenössischen Rhetorik sah Plessner den Westen jedoch nicht in der Pflicht der Wiedergutmachung für ein durch Versailles an den Deutschen begangenes Unrecht. Von der unmittelbaren Nachkriegsentwicklung und dem nationalistischen Tenor, die „Schmach von Versailles“ zu tilgen, verlagerte Plessner den Fokus der Aufmerksamkeit auf die durch die nationalsozialistische Ideologie demagogisch inszenierte moralische Erpressung des Westens, an Deutschland begangenes Unrecht wieder gutzumachen bzw. seiner Wiedergutmachung politisch nicht im Wege zu stehen. Das schlechte Gewissen, das universelle Wertesystem des politischen Humanismus im Falle Deutschlands strategisch kalkuliert eingesetzt zu haben, sollte Westeuropa in der veränderten politischen Situation des Nationalsozialismus an der Macht nun nicht dazu verleiten, die

102 In diesem Sinne schreibt auch Winkler, Weg, Zweiter Band, S. 635 : „Die Auf lösung der Habsburger Monarchie Ende 1918 beseitigte ein wesentliches Hindernis, das bis 1918 einem staatlichen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich entgegengestanden hatte. Am Willen der Österreicher, sich mit Deutschland zu einem Staat zusammenzuschließen, gab es keinen Zweifel. Es war das Veto der Sieger, das die Vereinigung verhinderte“.

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mögliche Gefährdung der europäischen Territorialordnung durch die völkische Revolution der Nationalsozialisten zu unterschätzen. Mit der Formel vom „weltanschaulichen Entscheidungskampf“ sprachen die Nationalsozialisten nicht nur die politischen Aktivisten der Bewegung an, sondern ein breites Spektrum sozialer und kultureller Gruppen. Ihre bewusst unscharf gehaltene, assoziationsreiche politische Metaphorik ermöglichte es jeder dieser Schichten, andere Elemente der in sich widersprüchlichen und heterogenen Programmatik des Nationalsozialismus für sich als die entscheidenden herauszunehmen. „Was sich auf der Ebene der Ideologie nicht präzisierte, veranschaulichte und erfüllte sich in der Praxis der Bewegung, die Sinnerfüllung, Zielsicherheit, Geborgenheit und Raum zur Artikulation von Aggressivität bot. Das Endziel der Bewegung blieb vage und gerade deshalb unbezweifelbar.“103 Weite Teile der Bevölkerung erlebten die Niederlage als Trauma nationaler Demütigung, die das nationale Selbstbild der Deutschen substantiell infrage stellte. Die geistige Situation der deutschen Nachkriegszeit lässt sich so auch nach den zahlreichen Versuchen differenzieren, dieses Trauma zu verarbeiten, zu verdrängen oder aber pazifistisch zu prinzipieller Kriegsgegnerschaft zu verallgemeinern und damit aus dem nationalistischen Diskurs auszusteigen. Dabei ermöglichte es die philosophische Verfremdung der politischen Situation, auf Distanz zu den nationalen Demütigungen und gesellschaftlichen Miseren der Zeit zu gehen. Diese Verfremdung erlaubte es, sich den Realitäten zu stellen, ohne sie akzeptieren zu müssen. In politischen Auseinandersetzungen ging es nun um die Behauptung des deutschen Selbst in den Kämpfen der Zeit. In ihnen würde sich diejenige Bewegung durchsetzen, die es verstand, sich als nationale und völkische, eben als deutsche Bewegung zu profilieren. Die weit verbreitete Mentalität der nationalen Schmach und Demütigung durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und das glaubwürdige Versprechen ihrer Tilgung durch die völkische Revolution hatten entscheidend zum politischen Erfolg der Nationalsozialisten beigetragen. Bereits 1935 sah Plessner die Gefahr, dass die völkische Revolution der Nationalsozialisten zum territorialen Eroberungskrieg führen könnte. Es war dieses Szenario das ihn beunruhigte und für eine europäische Einbindung und Pazifizierung der deutschen Entwicklungen plädieren ließ. Im Unterschied zum rechtskonservativ - völkischen Nationalismus, der in Deutschland selbst den Ausgangspunkt einer Reform des westlichen Werte - und Gesellschaftssystems sah, erhoffte Plessner sich eine solche Erneuerung von der unvermeidlichen Reaktion des Westens auf die Politik des nationalsozialistischen Deutschland. Solange die nationalsozialistische Bewegung lediglich darauf abzielte, den deutschen Sprachraum als territoriale Einheit politisch herzustellen, könnten jene Staaten, deren Territorien außerhalb dieses Sprachraums lagen, darin eine legitime, für sie akzeptable Forderung sehen. Mehr noch, könnten sie die völkische Revolution sogar als Bestätigung der normativen Kraft des politischen Humanismus nehmen, dessen Prinzipien 103 Peukert, Volksgenossen, S. 46.

Die anthropologische Neugründung des politischen Humanismus

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sich noch in einem bis ins letzte nationalstaatlich durchgegliederten Europa als nationales Selbstbestimmungsrecht eines Volkes politisch Geltung zu verschaffen wüssten. Die Westmächte, so Plessners Befürchtung, könnten sich dem nationalsozialistischen Deutschland gegenüber als politisch handlungsunfähig erweisen. Ihre unentschiedene Deutschlandpolitik gefährde die europäische Nachkriegsordnung, indem sie Nazi - Deutschland die strategische Initiative und in der Konsequenz unkontrollierbare Handlungsspielräume überlasse. Auf solche möglichen Überlegungen einer westlichen Politik der Beschwichtigung und Verharmlosung der Gefahren, die in den deutschen Entwicklungen lagen, zielte Plessners grundsätzliche Gegenüberstellung von Wertesystem und territorialer Realität Europas, die die innere Widersprüchlichkeit und Sprengkraft des politischen Humanismus herausstellen sollte.

3. Die anthropologische Neugründung des politischen Humanismus Als Antwort auf die Krise des westlichen Wertesystems entwickelten deutsche Intellektuelle nach dem Ersten Weltkrieg eine eigene weltbürgerliche Variante des Humanismus. Da sich kurzfristig an den Deutschland von den Siegermächten auferlegten Beschränkungen seines politischen und ökonomischen Spielraums nichts ändern ließ, arbeiteten sie sich an der deutschen Niederlage durch „eine Umwertung der Grundlagen jenes Systems“ ab, „nach dem die Siegermächte die Beschränkungen fixiert“104 hatten. Im Ergebnis einer solchen Umwertung, so ihre Erwartung, würde auch Deutschland gezwungen sein, nicht nur dieses System, sondern seine eigene Stellung in der europäischen Moderne neu zu bestimmen. Der Erste Weltkrieg hatte eine tiefe Skepsis gegenüber den Humanisierungspotentialen der Gesellschaft und der Belastbarkeit von Kultur und Zivilisation unter Krisenbedingungen ausgelöst. Durch die ideologische Massenmobilisierung und die demagogische Herausstellung ihrer je überlegenen Lebensform waren Menschen aller Nationen ideologisch dazu konditioniert worden, zur Verteidigung ihrer gefährdeten Werte zu töten und getötet zu werden. Nach dem Krieg wurde versucht, in der Bestimmung anthropologischer Grundbestände menschlichen Seins historisch noch nicht diskreditierte Potentiale möglicher Humanisierung zu identifizieren. Gegen die Verabschiedung der Politik aus dem Spektrum der für eine solche Humanisierung relevanten Bereiche suchte Plessner gleich vielen anderen durch den Ersten Weltkrieg in ihrer Menschheitsemphase ernüchterten Zeitgenossen eine am Menschen orientierte Politik jenseits der machtpolitischen Auseinandersetzungen konzeptionell neu zu gründen. Der deutschen Skepsis des grundsätzlichen Zweifels an der Vereinbarkeit von Politik und Moral begegnete Plessner mit einer politischen Dimensionierung des Begriffs menschlicher Würde. Für seinen Versuch einer anthropologischen Neu104 Plessner, Nation, S. 40.

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gründung der Sphäre des Politischen war seine Vision eines politisch moderierten Lebens, das auf der Anerkennung der Würde aller Menschen beruhte, grundlegend.105 Mit der „in der Logik des Verfalls liegenden Rückführung des Menschen auf seine rein vitalen Schichten“106 war in Deutschland die Biologie zum entscheidenden Faktor politischer Ideenbildung geworden. An dieser Verfallsgeschichte setzten Plessner, Scheler, Gehlen und andere an, um im Rückgang auf die biologische Natur die historisch - gesellschaftlichen Dimensionen menschlicher Natur neu zu bestimmen.107 Der Ernüchterung angesichts des Zerstörungspotentials menschlicher Kultur korrespondierte die Skepsis gegenüber den Disziplinen, die sich wissenschaftlich mit dem Menschen in historischer und soziokultureller Dimensionierung befassten. Dieser bilanzierenden Sichtung menschlicher Kultur, die nach den Orgien der Zerstörung des Krieges nüchtern danach fragte, mit welchen zivilgesellschaftlichen Beständen künftig noch zu rechnen sei, standen am anderen Ende des Spektrums Visionen eines neuen Menschen gegenüber, der frei von moralischen oder sonstigen Ressentiments Wissenschaft und Technik in den Dienst seiner sozialplanerischen Befriedungsstrategien nehmen würde. Als Alternative zur Mobilisierung völkischer Vitalität durch eine rassische Volksbiologie108 entwickelte Plessner eine lebensphilosophisch - hermeneutische Biologie, die den spielerischen Umgang mit existentiellen Bindungen, biologischen Festlegungen und kulturellen Verpflichtungen in den Mittelpunkt stellte.109 Gegen eine Biopolitik des naturgeschichtlichen Aufbruchs zum neuen Menschen stellte er die Toleranz einer Vielfalt möglicher Lebensformen in einer Stufenfolge des Organischen. In einer Rezension von Eric Voegelins Buch „Rasse und Staat“110 benannte Plessner als Vorbedingung zur Über windung sozialdarwinistischer Rassenpolitik „eine neue Lehre vom Menschen“.111 Rasse als biologische und völkische Ordnungskategorie führe dazu, dass der Mensch sein geistiges Wesen verleugne und sich statt dessen Kategorien der Tierheit unterwerfe.112 Unmissverständlich merkte Plessner an, dass der Mensch nicht, wie von der biologischen Rassentheorie behauptet, aus Untermenschlichem verstanden, aus ihm erweckt oder geformt werden könne.113 Das Leben sei eben nicht durch den „Züchtungs - und Ausmerzungsmechanismus im Daseinskampf“114 bestimmt, sondern müsse als zweckfreies Spiel begriffen werden. 105 Dagegen sieht Manfred Gangl bei Plessner nicht nur eine „Trennung von Politik und Moral“, sondern „eine anthropologische Begründung für die normative Entbindung des Politischen“. Gangl, Mythos, S. 171 f. 106 Ebd., S. 132. 107 Vgl. Fischer, Anthropologie, S. 23–207. 108 Vgl. u. a. Kolbenheyer, Grundlagen. 109 Vgl. Fischer, Biophilosophie. 110 Voegelin, Rasse. 111 Plessner, Rezension von Voegelin „Rasse und Staat“, S. 408. 112 Ebd., S. 413. 113 Ebd, S. 409. 114 Plessner, Geheimnis, S. 8.

Die anthropologische Neugründung des politischen Humanismus

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Liberalität und Pluralität, spielerische Expressivität und Perspektivenwechsel, die Fähigkeit zu reflexiver Distanzierung sowie die nichtverfügbare Zugehörigkeit zu einem biologischen Kontinuum sah er als biopolitische Möglichkeiten eines auf Pluralität, Toleranz und mitmenschlicher Würde gegründeten Humanismus.115 Das Thema der Anthropologie war schon in den philosophischen „Ideen von 1914“ präsent. Hier wurde der Erste Weltkrieg von deutscher Seite auch als Gelegenheit zu anthropologischer Befreiung ( Scheler ) von der Destruktionskraft des Politischen stilisiert, als Möglichkeit der Rückgewinnung existentieller Dimensionen menschlichen Lebens, die durch die seelenlose Mechanik von Technik, Industrie und moderner Bürokratie zu ersticken drohten. So ging etwa Carl Schmitt mit der Annahme der Existenzialität des Politischen davon aus, dass jede Politik sich letztlich auf ein anthropologisches Glaubensbekenntnis zurückführen lasse. Schließlich ließen sich alle Staatstheorien und politischen Ideen nach den ihnen zugrunde liegenden anthropologischen Voraussetzungen „danach einteilen, ob sie, bewusst oder unbewusst, einen von Natur bösen oder einen von Natur guten Menschen voraussetzen“116 würden. Entscheidend sei „die problematische oder die unproblematische Auffassung des Menschen [...], die Antwort auf die Frage, ob der Mensch ein gefährliches oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht - riskantes Wesen ist“.117 Der Mensch, so das Fazit dieser politischen Anthropologie, war ein in höchstem Maße problematisches Wesen. Die deutsche Nachkriegssituation sah Plessner als Infragestellung aller geistigen Normen und Sinnzusammenhänge, die vor dem Krieg das Wertesystem der bürgerlichen Welt ausgemacht hatten. Der durch die siegreichen Westmächte forcierte Anschluss Deutschlands an die westliche Moderne und die Ideen von Aufklärung, Natur - und Völkerrecht sei nicht mit der Etablierung einer fairen Nachkriegs - und Friedensordnung einhergegangen. In dieser festgefahrenen Situation der politischen Blockierung einer friedlichen Neuordnung Europas plädierte Plessner für einen Rückzug auf den „Gesichtskreis der Natur und ihrer Gesetze, die keine Freiheit kennen“.118 Nachdem die Idee der Freiheit durch die Geschichte ihrer fehlgeschlagenen Realisierung und ihren ideologischen Missbrauch politisch verbraucht sei, müsse sie anthropologisch neu gegründet werden durch die Mobilisierung des Freiheitspotentials noch unverbrauchter essentieller Tiefenstrukturen menschlicher Existenz. Die „Conditio humana“, so Plessner, müsse „unterhalb ihrer geschichtlichen Prägungen“119 in einer unerschöpf lichen „Grundschicht des Menschlichen“120 angesetzt werden. In der Herausarbeitung einer anthropologischen Dimension des Politischen wird die Philosophie zum disziplinären Ort der Neugründung einer Politik, in 115 116 117 118 119 120

Vgl. Haucke, Ethos. Schmitt, Begriff, S. 59. Ebd. Plessner, Nation, S. 165. Plessner, Conditio humana, S. 209. Plessner, Stufen, S. 16.

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der sie als zum Wesen des Menschen gehörig bestimmt wird. Die Bestimmung der Politik als „Kampf um Macht in den zwischenmenschlichen Beziehungen“121 erklärte die Frage, in welcher Hinsicht und in welchem Umfang Politik und Macht zum Wesen des Menschen gehörten, zur obersten Frage einer politischen Anthropologie. Hatte Plessner 1928 in seiner Einleitung in die philosophische Anthropologie eine „Stufenfolge des Organischen“ unter Einschluss des Menschen entwickelt, so trug er in seiner Schrift „Macht und menschliche Natur“ aus dem Jahre 1931 philosophische Überlegungen zum Wesen des Menschen auf dem Felde der Politik vor. Bereits mit dieser konzeptionellen Verknüpfung von Philosophie und Politik in der theoretischen Auszeichnung des Verhältnisses von Macht und menschlicher Natur als der entscheidenden Frage politischer Anthropologie unterlief Plessner die zeitgenössisch übliche Haltung intellektueller Distanz zur Politik im Allgemeinen wie zur Weimarer Republik im Besonderen. Philosophie und Politik wurden in dieser Bestimmung nicht als äußeres Verhältnis bestimmt, in dem die Philosophie dazu aufgefordert wurde, sich als politische Philosophie der Politik als einem legitimen Gegenstand zuzuwenden. Der Politik wurde vielmehr eine gegenstandskonstitutive Bedeutung für die Philosophie selbst zugeschrieben. Die Zuwendung der Philosophie zur Politik war für Plessner keine Frage ihrer Anwendung auf ein spezielles Feld, in dem diese, ausgehend von einem gesicherten Bestand an Erkenntnissen, sich einem von ihr bisher vernachlässigten Gebiet nunmehr zuwenden sollte, sondern die Gretchenfrage ihres Selbstverständnisses als einer auf Wirklichkeit bezogenen, sich aus den Lebensformen selbst entwickelnden Disziplin. Die „Genealogie politischen Lebens“ müsse durch die politische Anthropologie „aus der Grundverfassung des Menschen“122 selbst entwickelt werden. Eine lebensphilosophische Grundlegung der Politik suche „Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu begreifen“.123 Philosophischer Politik in diesem Sinne ging es eben nicht darum, die Politik zum Feld der Realisierung philosophischer Konzepte zu machen. Plessners Bestimmung einer Politik aus dem existentiellen Grund des Volkes sah das Volk als den Partikularität und Universalität vermittelnden „Möglichkeitsgrund [...], auf dem [...] der Mensch in je seiner Möglichkeit aus der Tiefe des Gewissens und der Entschlossenheit sein Schicksal [...] übernehmen“124 könne. „Volkheit“ wird in dieser Interpretation zum „Wesenszug des Menschen wie : Ich und Du sagen können, wie Vertrautheit und Fremdheit, wie Gewagtheit und Eigentlichkeit seines ihm zur Führung überantworteten Lebens“125 festgeschrieben. Diese „Volkhaftigkeit der menschlichen Existenz“, der völkische Horizont der „Gebrochenheit der menschlichen Transparenz“126 schrieb das

121 122 123 124 125 126

Plessner, Macht, S. 139. Ebd. S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 231.

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Volk in eine existenz - und lebensphilosophisch konzipierte politische Anthropologie ein. Carl Schmitt hatte das Politische als unausweichliche Situation der Entscheidung bestimmt, in der Menschen der Rückzug auf die üblichen Formeln indifferenter Gleichgültigkeit aneinander verwehrt war. In dieser Situation begegneten sie sich als souveräne Subjekte aus der Distanz kalkulierter Interessen. Im Extremfall bestritten sie sich in einem Kampf auf Leben und Tod gegenseitig ihr Existenzrecht.127 Plessners völkische Anthropologie diskutierte die von Carl Schmitt in die zeitgenössische Diskussion der Weimarer Republik eingeführte Freund - Feind - Differenzierung als existentielle Strukturierung des Politischen. Den existentiellen Gegensatz von Freund und Feind sah er als politische Variante des Gegensatzes von Vertrautheit und Fremdheit, der „zur Wesensverfassung des Menschen“128 gehöre. So müsse der Mensch jene heimische „Zone vertrauter Verweisungen und Bedeutungsbezüge, die immer schon verstanden worden sind“129, der Welt als seine Umwelt erst abringen. Die Grenzlinie zwischen Vertrautheit und Fremdheit sei fließend. Sie müsse „beständig gezogen, erneuert, verändert werden“ und stelle nur die „schwankende Frontlinie“ dar, „auf der dem Gegner in tausend Gestalten das zum Leben Nötige abgerungen, abgetrotzt, abgebetet, abgelistet werden“130 müsse. An dieser Sprache wird deutlich, dass die von Plessner für das Politische eingesetzte Metaphorik des Fremden und Vertrauten als der psychologischen Grundierung der Freund - Feind - Relation anthropologisch universell gemeint war. Dem Menschen stehe die Welt feindlich gegenüber, und doch enthalte eben diese Welt auch das Versprechen, ihm dann, wenn er den rechten Augenblick und die günstige Konstellation zu nutzen wisse, in seinem Drang, sich diese Welt vertraut zu machen, auf halbem Wege entgegenzukommen. Indem er sich auf diese „unheimliche Wirklichkeit der bodenlosen Welt“ einließ, ging der Mensch in seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, in seinem Verlangen nach Erfüllung das Risiko ein, abgewiesen zu werden. Und dennoch brauchte dieser Versuch der Führung eines selbstbestimmten Lebens die Gegnerschaft der Welt, um in ihr erst zum menschlichen Maß des Politischen zu finden. In diesem Verständnis zielt das Politische auf die Erweiterung des eigenen durch die Einengung oder Vernichtung des fremden Machtbereichs. Es sei die schicksalhafte Grundverfassung des Menschlichen, „in einer Situation des Für und Wider zu leben und in der Freund - Feindrelation sich eine Eigenzone gegen eine Fremdzone abzugrenzen und zu behaupten“.131 In diesem weiten Sinne durchdringe das Politische alle menschlichen Beziehungen.132 Zwischen die Verwerfung der Macht durch die 127 128 129 130 131 132

Vgl. Schmitt, Begriff, S. 49 f. Plessner, Macht, S. 192. Ebd., S. 197. Ebd. Ebd., S. 195. Zum Verhältnis zwischen Plessners politischer Anthropologie und Schmitts politischer Philosophie vgl. Pircher, Pflicht, sowie Richter, Verschränkung.

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deutsche Innerlichkeit und der komplementären Vergötzung der reinen Machtbehauptung stellte Plessner die naturphilosophische Konzeption der Pflicht des Menschen zur Macht.133 Die Freund - Feind - Relation sah Plessner als eine Primärangst vor der „Unheimlichkeit des Fremden“.134 Aus dieser Angst heraus reagierten Menschen mit Ablehnung und Feindseligkeit auf das ihnen unvertraut Fremde. In dieser aggressiven Überreaktion versuchten sie, sich von dem, was ihnen als Fremdes zugleich auch das Eigene und Vertraute, und eben deshalb auf ihnen unheimliche Weise nahe sei, zu distanzieren. Gerade das ihnen Vertrauteste würden sie als existentiell bedrohlich wahrnehmen. Zu diesem Anderen seiner selbst gehe der Mensch auf Distanz, indem er es „zu einem Anderen als er selbst“135 mache. Die unheimliche Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen empfinde er als bedrohlich. Deshalb versuche er, mit der Freund - Feind - Relation einen vertrauten Kreis gegen eine unvertraute Fremde abzugrenzen. Der Horizont des Unheimlichen bleibe dennoch präsent, auch wenn er sich verschieben könne.136 Die existentielle Grundsituation des Menschen beschreibt Plessner als irritierendes Lebensgefühl der Fremdheit gerade im Vertrauten, der unheimlichen Vertrautheit noch des beunruhigend Fremden. Das Gefühl, sich selbst unheimlich zu sein, drohe Menschen existentiell zu überwältigen. Eine auf den Menschen bezogene Politik der Distanzierung reagierte auf diese existentielle Beunruhigung durch das ihnen in ihrem eigenen Leben Unheimliche mit der Substituierung des beunruhigend Anderen durch den bedrohlich Anderen, der als Feind auf Distanz gehalten werden sollte. Das diffuse Gefühl der unstrukturierten und dadurch unheimlichen Bedrohung wurde so durch die klare FreundFeind - Unterscheidung abgelöst, in der Menschen wussten, woran sie mit sich und dem Anderen waren. Eben darin sah Plessner den strukturierenden Sinn des Politischen : klare Verhältnisse zu schaffen, wo im Ungewissen des eigenen Standorts die Frage der Zugehörigkeit unentschieden bleiben musste. Das immer nur Unfertige, Vorläufige und Unvollkommene individueller Lebensführung im normativen Horizont des Vollkommenen, Unendlichen und Universellen verlangt nach einer Ablenkung der sich in dieser Diskrepanz auf ladenden Spannung des Ungenügens an den eigenen begrenzten Möglichkeiten. Die Einführung des Politischen objektiviert die innere Spannung zwischen dem Fremden und dem Vertrauten zur äußeren Spannung zwischen Freund und Feind. Der psychokulturelle Gewinn des Politischen liegt in der Möglichkeit einer klaren Differenzierung zwischen innen und außen, durch die der Feind als der Andere zum existentiellen Binnenraum des Eigenen keinen Zugang mehr hat. Die Institutionalisierung der unheimlichen Vertrautheit des beängstigend Fremden zur Freund - Feind - Beziehung führt in der gegenseitigen Perspektiven133 Vgl. Fischer, Nation, S. 416, der sich hier auf Plessners Grenzen der Gemeinschaft, S. 113 bezieht. 134 Plessner, Macht, S. 192. 135 Ebd., S. 226. 136 Ebd., S. 192 f.

Grenzen der Gemeinschaft – die Kritik des politischen Radikalismus

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verschränkung dazu, dass „jeder seinen Mitmenschen als den, der man selber (aber doch als ein Anderer ) ist“137, weiß. Das Selbst kann sich als das Andere seiner selbst im Anderen wieder erkennen und dadurch dieses Andere in ihm selbst zulassen. Ihr Ungenügen an sich selbst hält Menschen in der existentiellen Spannung, aus der heraus sie meinen, immer weiter zu müssen.138 Sich mit dem Erreichbaren zu begnügen, Imaginationen des unüberbietbar Vollkommenen aufzugeben, sich in den Grenzen des ihnen Möglichen auf Dauer einzurichten, ist ihnen nicht gegeben.

4. Grenzen der Gemeinschaft – die Kritik des politischen Radikalismus Als sozialphilosophisches und soziologisches Problem ist das Verhältnis von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ grundlegend in Ferdinand Tönnies’ 1887 erschienenem gleichnamigem Buch diskutiert worden. In diesem Buch wurden die entscheidenden Thesen formuliert, an denen keine der nachfolgenden Auseinandersetzungen mit dem Thema vorbei kam, auch wenn insbesondere Tönnies’ paradigmatische Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft von Anfang an in der Kritik stand. Wirkungsmächtig geworden sind vor allem die von Tönnies an Gemeinschaft und Gesellschaft geknüpften Assoziationen : Gemeinschaft ist „lebendiger Organismus“, Gesellschaft „mechanisches Aggregat“.139 Gemeinschaft ist assoziiert mit Vertrautheit und Ausschließlichkeit, Gesellschaft mit Öffentlichkeit und Fremdheit.140 Im Gegensatz zur Gesellschaft bestimmte Tönnies Gemeinschaft als ein in Taten und Worten sich ausdrückendes „Verhältnis der Leiber“141, für das die gemeinsame Beziehung auf Gegenstände im Austausch, Besitz oder Genuss sekundär sei. Gesellschaft dagegen ist für ihn die künstliche Beziehung unabhängiger Individuen, die darauf basierte, dass diese dadurch füreinander von Interesse sind, dass sie „etwas zu leisten und folglich auch etwas zu versprechen fähig sind“.142 In der Gemeinschaft wird der Mensch als Mensch geschätzt, in der Gesellschaft zählt seine Leistung, die im Austausch mit anderen Leistungen sich von ihm als Person ablöst und ein Eigenleben nach eigenen Regeln und Gesetzen beginnt. Der schon durch seine körperliche Existenz gesicherten Unvertretbarkeit des Menschen, der nicht aus seiner Haut kann, steht in der Gesellschaft der Mensch als anonymer Leistungsträger gegenüber, an dem nur zählt, was zu dieser Leistung beiträgt. Diese idealtypische methodische Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft wurde eine der wichtigsten Argumentationsfiguren kapitalismuskritischer Gesell137 138 139 140 141 142

Ebd., S. 196. Ebd., S. 198. Tönnies, Gemeinschaft, S. 4. Ebd., S. 3. Ebd., S. 45. Ebd., S. 43.

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schaftstheorie. Die Kritik kapitalistischer Entfremdung, Kälte und Anonymität bediente sich immer wieder der Komplementärkategorien von Gemeinschaft und Gesellschaft, um den Verlust an Mitmenschlichkeit durch kapitalistische Rationalisierung und die Reduktion des Menschen auf die Verwertung seiner Arbeitskraft zu kritisieren. Der Erste Weltkrieg war in mehrfacher Hinsicht als Gemeinschaftserlebnis einer ganzen Generation prägend. In ihm wurde zunächst die Vision einer Menschheit als einer Gemeinschaft sich in ihrer Unterschiedlichkeit zu gegenseitiger Bereicherung ergänzender Völker buchstäblich zu Grabe getragen. Pazifismus und Visionen kosmopolitischer Weltverbrüderung hielten dem nationalistischen Taumel der Völker nicht stand, die ihre völkische Eigenart als nationalen Vorzug gegen andere Völker wandten. Das Thema Gemeinschaft und Gesellschaft wurde nach dem Krieg von den deutschen Expressionisten wieder aufgenommen, die im Ersten Weltkrieg nicht nur eine existentielle Zerreißprobe weltbürgerlicher Gemeinschaftsemphase sahen, sondern zugleich auch den Vorschein einer solchen Gemeinschaft. Inmitten des „internationalen Riesenbürgerkrieges aller Länder“, einem „Weltrevolutionskrieg“ mit dem verglichen der geregelte Staatenkrieg nur ein Vorspiel gewesen sei, sah etwa Ludwig Rubiner eine neue Generation von Menschen entstehen, die bereit waren, ihr Leben einer solchen Gemeinschaft zu widmen : „Eine neue Grundkrise der Welt brennt in ihrem Leben. Ihre Musik ist der Gesang der Gemeinschaft. Ihr Gedicht ruft auf zur Gemeinschaft. Ihr Epos ist die Anleitung zur Gemeinschaft. Ihr Drama entwirrt das Handeln für die Gemeinschaft. Ihr Bild ist das Vorbild zum Leben in der Gemeinschaft. Ihre Wissenschaft ist das Denken von der schöpferischen Gemeinschaft.“143 Ließ Rationalität sich nicht mehr als Humanität leben und begründen, so schien nur noch der Rückgang auf eine archaische Utopie des Humanen zu bleiben, die in der Verkapselung auf ihre Enthüllung wartete. Die Gemeinschaft als tathafte, erregte Form wurde zur überindividuellen und übernationalen Tatgesinnung erklärt, zum Ethos der Mobilisierung und Dauerzustand der Erregung einer permanenten Urzeugung von Gemeinschaft.144 Die Gewissheit, eine Erneuerung des Menschen sei nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich, gab sich überzeugt von der ideellen Gestaltungskraft des freien Geistes als der wirklichen Wirklichkeit.145 So sah Ernst Bloch in moralisch - metaphysischen Expressionen eine zwar „noch nicht voll erreichte, jedoch uns bereits fordernde, essentielle, utopische, schließlich allen reale Realität“.146 Auf die „Chaotisierung der menschlichen Beziehungen“147 im Krieg reagierten nicht nur die Expressionisten mit der Besinnung auf ein natur wüchsiges Potential zur Erneuerung menschlicher Gemeinschaft. In der Über wältigung 143 144 145 146 147

Rubiner, Nachwort zu Die Gemeinschaft, S. 332. Michel, Form, S. 146. Pinthus, Rede, S. 126. Bloch, Anbruch, S. 137. Huebner, S. 365.

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durch die Übermacht der Zerstörung seien die Menschen auf ihre Existenz als verletzbare sterbliche Kreaturen reduziert worden. In der existentiellen Ausnahmesituation des Kampfes auf Leben und Tod und der Veralltäglichung des Sterbens stellte sich dabei zwischen denen, die diese Erfahrung teilten, eine Nähe her, die das Ende des Krieges überdauerte. Diese Nähe konnte als Vorschein einer neuen Gemeinschaft erlebt werden, die, geschmiedet in den Schützengräben des Krieges, in der allgegenwärtigen Präsenz des Todes das Leben in bisher unbekannter Intensität bejahte. Es war eine Gemeinschaft nackter, ungeschützter, einander ausgelieferter und aufeinander angewiesener Kreaturen, die sich ihrer Reduktion auf funktionierende Kampfmaschinen verweigerten. In dieser Gemeinschaft erneuerte sich die Emphase kosmischer Weltverbrüderung auf einer Ebene, die nationale Feindbilder durch die existentielle Erfahrung unterlief, gemeinsam einem Schicksal ausgeliefert zu sein, das die künstlich gestifteten Gegensätze des Kampfes und der Kämpfer überwölbte. „Wer ist mein Bruder ? Jeder Mensch, jeder ! Jeder ! Jeder ! Diesseits wie jenseits der Pfähle, der Gräben, der Meere.“148 Doch auch die Gegenstimmen gab es, die tiefe Skepsis, ob nach dem Schlachten und dem Hass Mitmenschlichkeit jemals wieder auferstehen könne : „Der Krieg verjährte zum Gespenst, [...] Die Menschen taten von sich ihre Hüllen Und sahn sich scheu voll Misstraun an. Ihr Hass ward müd, verschlackt. Mit leeren Augen saßen sie beisammen. Doch keiner war, der Bruder lächeln mochte, [...] Gleichgültig blickten sie sich an und fremd. Die Worte, die sie sprachen, waren Masken. Sie wussten drum. Sie hatten nicht die Kraft, in Einsamkeiten zu entfliehn. Und dort zu wappnen sich mit dem kristallnen Panzer.“149 Die Erfahrung der Sinnlosigkeit eines Geschehens, das dem Einzelnen täglich die Anonymität und Austauschbarkeit seiner ins „Nichts der Vernichtung“ geworfenen „Existenz auf Widerruf“ vor Augen führte, setzte die ideologische Plausibilität nationalistischer Entgegensetzungen außer Kraft. Die Reduktion der Menschen auf ihren Materialwert im Krieg beantwortete der Expressionismus mit der expressiven Erweiterung ihrer inneren und äußeren Welt. „Der Länder Blut überschreitet und sprengt die eigene Haut.“150 Sein Bekenntnis zur Humanität war das Bekenntnis zu einer Welt, deren Humanisierung er trotz ihrer Verrohung im Krieg auch weiterhin für möglich hielt. In einer „Philan-

148 Otten, Waisenkinder, S. 153. 149 Toller, Menschen, S. 68 f. 150 Wolfenstein, Kampf, S. 55.

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thropie des Irrationalen“ erweiterte er „die Welt im Menschen und den Menschen in der Welt bis weit über den bisher bekannten Ausdruck hinaus“.151 Die philosophische Bilanz des Krieges zog Martin Buber mit der Beschwörung einer Politik der Gemeinschaft. Nicht mehr „in die Unmittelbarkeit des Miteinander gebettet“152, einer „radikalen Verlassenheit mitten im Getriebe preisgegeben“153, greife eine Sehnsucht nach Gemeinschaft um sich, die kein Staat je erfüllen könne. Ein Staat sei eben keine Gemeinschaft und könne auch keine werden. Was im Staat in seinen natürlichen Einheiten zersetzt sei – das wirkliche Leben zwischen den Menschen, sei in der Gemeinschaft als vitaler Organismus lebendig : „Ein großer Menschenverband“ ist dann eine Gemeinschaft, „wenn er aus kleinen lebendigen Gemeinschaften [...] unmittelbaren Miteinanderseins besteht, die zueinander in [...] direkte und vitale Beziehungen treten“154, in der die Form der Gesetzgebung der Form des Lebens folgt. Nicht der menschliche Gehalt der Politik ist der Prüfstein dieses neuen Typus von Öffentlichkeit, sondern die „Echtheit des politischen Gehalts eines Menschen“.155 Eine solche „Politik der Gemeinschaft“ gründet in den Menschen selbst, in deren gelebter Gemeinschaft das weltumspannende Ethos brüderlicher Gemeinschaft Gestalt annimmt. Von einem zur Öffentlichkeit erweiterten Gemeinschaftsleben wird die Möglichkeit einer neuen Politik erwartet. In der Entgegensetzung von Staat und Gemeinschaft kam Buber auf die von Tönnies geprägte Dichotomie von seelenloser Mechanik und lebendiger Fülle des Organismus zurück. Die straff zentralisierte Mechanik des Staates stellte er der „Autonomie der organischen Willenssphären“156 der Gemeinschaft gegenüber. Der „Politik am Fremden, Fernen, Unbekannten“ setzte er die „Tätigkeit am Eignen, am Nahen, am Vertrauten“157 entgegen. Das „wirklichen Leben“ finde zwischen Menschen statt, ihre Befreiung sei Menschen nur möglich durch eine Wiedergeburt „primitiver Gemeinschaften“.158 Gegen eine solche pathetische Aufwertung der Gemeinschaft „als ausschließlich menschenwürdige Form des Zusammenlebens“159 setzte Plessner „Grenzen der Gemeinschaft“. In Absetzung von expressionistischer Gemeinschaftsemphase stellte er heraus, dass die Unmittelbarkeit persönlicher Lebensbeziehungen nicht zum Lebensprinzip verallgemeinert werden könne. Vielmehr seien distanzierte, vermittelte Lebensformen die der menschlichen Natur, aber auch die den Möglichkeiten der Technik und Zivilisation entsprechende Lebensordnung. Eine gemeinschaftliche Sozialordnung, die ohne die künstlichen Vermittlungen des Lebens auskommen wollte, müsste die Maschinen, an deren Sozialfolgen die 151 152 153 154 155 156 157 158 159

Bloch, Erbschaft, S. 260 f. Buber, Gemeinschaft, S. 124. Ebd. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 125. Plessner, Grenzen, S. 41.

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Gegenwart zwar leide, auf deren Möglichkeiten sie aber auch nicht verzichten könne, ablehnen und auf eine vorindustrielle Entwicklungsstufe zurückfallen.160 Gegen die Hoffnung auf Rückkehr zu einem unkomplizierten Gemeinschaftsleben und den möglichen Zugang zur „ursprünglichen, radikalen, eigentlichen und unverfälschten Bestimmung“161 des Menschen setzte er auf eine gesellschaftliche Lebensordnung, die gegen den Terror von Intimität und Rückhaltlosigkeit auf Distanz und Verhaltenheit, auf Kompromiss und Ausgleich zwischen den Extremen beruhte.162 Die Hoffnung, dass einmal „Offenheit, Ehrlichkeit, Brüderlichkeit auf der Erde herrschen“163, blende die Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse aus und lähme nur den politischen Willen zur vernünftigen Gestaltung der Gesellschaft. Einer solchen „Philosophie der Rückhaltlosigkeit“ fehle die notwendige Unbefangenheit und der Mut, sich vorbehaltlos auf die wirklichen Verhältnisse einzulassen und sich damit erst ihre Möglichkeiten zu erschließen. Im Expressionismus identifizierte Plessner einen subjektivistisch - naturalistischen Gemeinschaftsradikalismus : „Seine These ist Rückhaltlosigkeit, seine Perspektive Unendlichkeit, sein Pathos Enthusiasmus, sein Temperament Glut. Er ist die geborene Weltanschauung der Ungeduldigen.“164 Der Rückhalt, den die gesellschaftlichen Verhältnisse einem im Menschen gegründeten Ethos nicht mehr zu geben vermochten, werde vom Expressionismus im Rückgang auf eine vorgesellschaftliche unmittelbare Brüderlichkeit gesucht. Diese kritische Diagnose zielte auf den sozialen Radikalismus und seinen „Rückgang auf die Wurzeln der Existenz“, den Glauben an die Extreme und die Ablehnung aller „traditionellen Werte und Kompromisse“.165 Das Setzen auf die Unmittelbarkeit der Gemeinschaft sah Plessner als ohnmächtige Geste des Protestes aus der imaginären Distanz vorgesellschaftlicher Zustände. Das expressionistische Gemeinschaftsethos sei gerichtet „gegen alles, was moderne Gesellschaft bedeutet : Stadt, Maschinentum, Industrialismus“.166 Gegen „die bürgerliche Welt der Abstraktionen und stellvertretenden Mittel, gegen den Verlust der Unmittelbarkeit, gegen die blutleere Mechanisiertheit“167 mobilisierte der Expressionismus die Echtheit und Rückhaltlosigkeit lebendiger und unmittelbarer Beziehungen zwischen Menschen. Werner Sombarts Versuch von 1929, Kapitalismus und kapitalistischen Geist in ihrer Bedeutung für Volksgemeinschaft und Volkszersetzung zu fassen,168 kann als Beispiel für die Verklärung der Gemeinschaft gegenüber einer als Zweck - und Interessenverband von Menschen ohne emotionale Bindungen 160 161 162 163 164 165 166 167 168

Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 41. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Sombart, Kapitalismus.

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bestimmten Gesellschaft gelten, gegen die Plessner argumentierte. Gemeinschaft sei Ideengemeinschaft, Schicksals - oder Lebensgemeinschaft und Liebesgemeinschaft. Die Menschheitsgemeinschaft, die in ihrer Substanzlosigkeit und Leere über keine gemeinschaftsbildende Kraft verfüge, schloss Sombart ausdrücklich aus. Die Verfolgung von Interessen sei niedrig. Nur der Dienst an der Idee sei des Menschen würdig.169 In seiner Kritik des sozialen Radikalismus entwickelte Plessner zugleich anthropologische Voraussetzungen einer politischen Ethik. Dabei diskutierte er die klassische deutsche Frage der Vereinbarkeit von Wirklichkeit und Idee, von Politik und Moral, von Norm und Leben in den Beziehungen der Menschen. Die sich in diesen Komplementärphänomenen aufbauende Spannung suchte der an universellen Prinzipien und einem Ethos der Gemeinschaft orientierte Radikalismus aufzulösen. Der Radikalismus der Gemeinschaft gründete auf der Entgegensetzung von Zivilisation und Kultur. Dabei war Kultur der Inbegriff des zu Höherem bestimmten Menschen, der in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter sein Leben der Durchsetzung dieses Höheren widmete. Die Ideologie der Gemeinschaft übe eine große „Anziehungskraft auf die Schwachen dieser Welt“170 aus. Eben deshalb bedienten die Starken und Mächtigen sich dieser Ideologie, indem sie ihren Eigennutz als sozialdienlichen Gemeinnutz ausgaben. In der Beziehung von Gemeinschaft und Gesellschaft entschied sich für Plessner das Verhältnis von Politik und Moral. Hier suchte er nach einer Alternative sowohl zur Herrenmoral, die das Ethos der Vitalität an die Stelle des Gewissens setze, als auch zu einer Gemeinschaftsmoral der Schwachen. Diese Alternative fand er in einem auf dem Gewissen als geistiger Entscheidungsinstanz gegründetem Spiritualismus der Stärke, der die Würde des einzelnen Menschen gegen die Versuchung seines Aufgehens in der Brüderlichkeit der Gemeinschaft behauptete. Eine moralische Position der Stärke bejahte die Formenvielfalt der Gesellschaft. „Stark ist, wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht; schwach ist, wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint; stark ist, wer die Distanz zu den Menschen, die Künstlichkeit ihrer Formen [...] wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft [...] bejaht.“171 Das Ethos der Gesellschaft sei dem der Gemeinschaft überlegen. Aber es sei kein Ethos für jedermann. Nicht jeder sei stark genug, in „heroischem Optimismus“ die Verpflichtungen der Zivilisation auf sich zu nehmen. Diese Stärke könne nur von Wenigen erwartet werden, auf die es eben deshalb um so mehr ankomme. Die Hoffnung, dass eines Tages „Offenheit, Ehrlichkeit, Brüderlichkeit auf der Erde herrschen“172 mögen, lähme den politischen Willen zur vernünftigen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine Gemeinschaft im Geiste emphatischer Brü-

169 170 171 172

Vgl. ebd., S. 281 und 291. Ebd., S. 28. Ebd., S. 31f Ebd., S. 12.

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derlichkeit würde in der Konsequenz gesellschaftliche Lebensbezüge zwischen Menschen als unnatürlich verneinen.173 Plessners Zeitdiagnose sah die „maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen“ als Kehrseite eines „maßlosen Gegenentwurfs im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft“.174 Die Kälte der Abstraktion lasse sich durch die Glut des Ideals nicht erwärmen.175 Maßlosigkeit steigere sich hier an Maßlosigkeit zum aktivistischen Radikalismus, der die Unversöhnlichkeit der Extreme unterstreiche, ohne sich aus ihrer Verklammerung wirklich befreien zu können. Gerade für die Schwachen dieser Welt, die nichts zu verlieren hätten, sei das Ideal der Gemeinschaft attraktiv. In der „Ethik der Gemeinschaftsbejahung“ sah Plessner im Kern „die Versicherung aller Schwachen auf Gegenseitigkeit“176, aus der diese jedoch nicht gestärkt hervorgingen, sondern in der sie sich gegenseitig in ihrer Schwäche noch bestärkten. Wirkliche Gemeinschaft gründe auf Liebe, die jedoch nicht gesellschaftlich verallgemeinert werden könne. Die lebensnotwendige Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft sah Plessner in der Komplementarität von Unvertretbarkeit und idealer Vertretbarkeit. Beide seien gleichermaßen unverzichtbar in einer funktional ausdifferenzierten Welt, in der Raum sowohl für unvertretbare Liebes - und Treuebeziehungen als auch für solche ideale Vertretbarkeit aller Glieder durch restlose Funktionalisierung sein müsse.177 In einer unpersönlich - sachlichen Sozialordnung sei jeder durch jeden vertretbar. Der kalten, unpersönlichen Ordnung menschlicher Beziehungen setzte Plessner nun nicht das Gegenbild einer Solidargemeinschaft entgegen, die alle menschlichen Defizite einer gesellschaftlichen Ordnung auszugleichen versprach. Vielmehr bestand er darauf, dass auch die solidarische Lebensordnung einer Gemeinschaft gleichen Geistes, um „die einheitliche Durchblutung“178 der Angehörigen dieser Gemeinschaft in einer „Sphäre der Vertrautheit“179 zu sichern, diese reglementieren müsse. Die rigorose Strukturierung einer solchen Gemeinschaft ziehe alles an sich, wisse sich für alles zuständig und verantwortlich. Die Ausrichtung ihres Lebens an einem höheren Ganzen zwang ihre Angehörigen dazu, auf die Behauptung des eigenen Selbst zu verzichten.180 Diese nüchterne Entzauberung der Gleichschaltungspraktiken ideologischer Gemeinschaften bereitet eine differenzierte Sicht auf die zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft vor, die zwar die methodische Differenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft nutzt, ihre stereotypen Vereinseitigungen jedoch vermeidet. 173 Vgl. ebd., S. 26. 174 Ebd., S. 28. 175 Zur Debatte vgl. die Beiträge von Lethen, Fischer und Eßbach in Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“, S. 29–102. 176 Plessner, Grenzen, S. 30. 177 Vgl. ebd., S. 56. 178 Ebd., S. 45. 179 Ebd., S. 48. 180 Vgl. ebd., S. 58.

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Plessner bekannte sich zu einem Leben auf der Höhe der technischen und sozialen Möglichkeiten, die eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft bot. Eine auf Gefühlsbindungen zu einem charismatischen Führer gegründete Volksgemeinschaft, die sich auf einen vorgeschichtlichen Ursprung aus gemeinsamer Rasse bezog, sah er als anthropologische Regression. Nur die Bejahung der gesellschaftlichen Lebensbezüge zwischen den Menschen gab ihnen die Chance, das Ethos der Gemeinschaft auf menschliche Weise zu leben. Nur dann, wenn das Leben kompliziert, vielfältig und vermittelt blieb und in dieser gefährdeten Pluralität von Möglichkeiten uneingeschränkt bejaht wurde, konnten auch einfach - unmittelbare Beziehungen zwischen Menschen zu ihrem Recht kommen. Plessners Kritik des sozialen Radikalismus appelliert an die Wiederbelebung eines liberalen Ethos des Bürgertums als der aus seiner Sicht einzig Erfolg versprechenden Möglichkeit, politischen Diktaturen entgegenzutreten – einer Möglichkeit, die institutionelle Sicherungen der Demokratie allein nicht bieten könnten. Anthropologisch gründe der politische Radikalismus in der Sehnsucht der Menschen nach der einfachen Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf dem Spiel stand die fragile Existenz einer verletzlichen und schutzbedürftigen Sphäre von Privatheit und Intimität. Hochgradig gefährdet war auch das gleichsam anthropologische Grundrecht, aus doppelter Distanz zu sich selbst und anderen zu leben und dadurch erst zu einem Leben im selbstverständlichen Wechsel komplementärer Selbst - und Fremdperspektiven, von Nähe und Distanz zu finden. Erst dieser spielerische Wechsel der Perspektiven, das Rollenspiel, das die Festlegung auf eine bestimmte Rolle ausschloss, erlaubte es dem Einzelnen, in allen diesen Rollen ein personales Selbst zu sein, ohne unter dem Zwang zu stehen, sich mit einer dieser Rollen rückhaltlos identifizieren zu müssen.

5. Die Weimarer Republik : Deutungskämpfe der Politik am Vorabend des Nationalsozialismus Die Errichtung der Demokratie durch die Gründung der Weimarer Republik wurde von rechtskonservativen Gegnern der Republik als Verrat am Vaterland und nationale Demütigung diffamiert. Die nationale Frage wurde in dieser ideologischen Verknüpfung als Kampf gegen eine von den Siegermächten aufgezwungene, von kollaborierenden Vaterlandsverrätern gestützte, fremde Staatsform offen gehalten. Tatsächlich wurde die Weimarer Republik in einer Umbruchzeit gegründet, ohne dass sie sich selbst als Lösung der aus dieser Zeit fortgeschriebenen Widersprüche etablieren konnte. Als „Republik auf Zeit“ wurde sie als lediglich temporärer Übergang zu einer dauerhafteren, die Spezifik deutscher Probleme angemessener und effektiver angehenden Staatsform gesehen. Der als volksfremd und unorganisch empfundene „Wahl - und Koali-

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tionsmechanismus“ der Weimarer Parteien, so Plessner, habe der Weimarer Republik das Image eines „leeren Mechanismus“181 gegeben. Zweifellos war die Gründung der Weimarer Republik eine politische Konsequenz der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Darin lag ihre radikale Ablehnung durch monarchistische, rechtskonservative, extrem nationalistische und paramilitärische Gruppen als „Regierung des nationalen Verrats“ und „Siegerdiktat der Westmächte“ begründet. Sie führte zu einer durch Hass gegen die Demokratie und nationalistische Obsessionen polemisch verzerrten Sicht auf die politischen Realitäten Nachkriegsdeutschlands. Während das Bestehen auf der Fortsetzung der ideellen Auseinandersetzung mit dem Westen im Verweis auf seine normative Schwäche die Fähigkeit der Deutschen zur geistigen Selbstbehauptung in der Niederlage beschwor, stellte umgekehrt die Diffamierung der Republik als einer politischen Waffe des Westens zur Unterdrückung und Demütigung der Deutschen dessen strategische Stärke heraus, sein Wertesystem als trojanisches Pferd im Inneren des Gegners zu platzieren. Die Weimarer Verfassung, so die zeitgenössische Kritik, lief zu einem Zeitpunkt hinter den politischen Idealen des Westens her, „als diese sich nach Ausnützung aller in ihnen ruhenden Möglichkeiten bereits erschöpft hatten“.182 Offensichtlich verfehlten beide Diskurse die politische Realität Nachkriegsdeutschlands, um doch gleichzeitig gerade an der Gegensätzlichkeit ihrer Rhetorik Facetten einer ideologisch aufgeheizten nationalen Explosivlage zu treffen, die nun doch auf eine gemeinsame Botschaft hinausliefen : Der Kampf geht weiter. Die nationale Demütigung kann nicht hingenommen werden. Deutscher Eigensinn ist stärker als alle Versuche westlicher Kolonialisierung. In der behaupteten konstitutiven Beziehung von politischer Realität und normativem Wertesystem wurde den Ideen die entscheidende Prägekraft zugeschrieben. Perspektive und Gehalt ideeller Konzepte, so die These, würden vom Ausgang der in ihrem Namen geführten Kämpfe nicht berührt. In den Turbulenzen der politischen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung von Ideen würden diese einen vom Ausgang dieser Auseinandersetzungen unberührten eigenen Geltungsraum behaupten. Mit seiner Kritik des sozialen Radikalismus versuchte Plessner, das durch Macht - und Interessenpolitik diskreditierte Verständnis von Politik zu rehabilitieren. Er setzte auf eine von Deutschland ausgehende mögliche Erneuerung westlicher Kultur und des politischen Humanismus. Aus der kritischen Distanz zu den politischen Turbulenzen der Zeit bestand Plessner darauf, deutsche im Zusammenhang europäischer Entwicklungen zu sehen. Linke Intellektuelle der Weimarer Republik versuchten, in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit ihre geistige Unabhängigkeit in gleichzeitiger Abgrenzung von politischer Vereinnahmung wie unverbindlicher folgenloser Kritik zu bewahren. Die Profanisierung ihrer Ideen und Konzepte zur schlagkräftigen propagandistischen Formel suchten sie ebenso zu vermeiden wie 181 Plessner, Nation, S. 56. 182 Stegemann, Weltwende, S. 225.

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deren akademische oder ästhetische Vergleichgültigung zu politisch irrelevanter Beliebigkeit. Dabei entsprachen Misstrauen und Zweifel der linken Parteien an der politischen Kompetenz der Intellektuellen der Skepsis dieser Intellektuellen gegenüber der geistigen Potenz und kulturellen Gestaltungsfähigkeit dieser Parteien. Im Bestehen auf einer kritischen Distanz zu den politischen Parteien der Arbeiterbewegung sahen sie sich als unabhängige Intellektuelle. Organisatorisch eingebunden in den Strukturen einer Partei, so ihre Befürchtung, würden sie als Parteiintellektuelle zu Funktionären werden. Als parteipolitisch unabhängige Intellektuelle wollten sie ihre eigene Kompetenz für die politische Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse einsetzen und dabei als Intellektuelle wirksam werden und Anerkennung finden. Häufig machten sie einen strukturellen Defekt der Politik dafür verantwortlich, dass die Ideen immer dann, wenn sie in den institutionellen Zusammenhang politischer Verwirklichung gerieten, in ihr Gegenteil verkehrt würden. Nach dieser Diagnose ging es darum, den Ideen ein eigenes Terrain ihrer Geltung und symbolischen Verwirklichung neben der Realpolitik zu behaupten. Politik wurde von den Weimarer Intellektuellen national, europäisch oder weltbürgerlich definiert. Gemeinsam war diesen Bestimmungsversuchen der Reichweite des Politischen, dass sie Politik im zeitgeschichtlichen Horizont eines universellen Bedeutungszusammenhangs zu halten suchten. So sollte dezidiert nationale Politik nicht nationalistisch entgleisen, hatte europäische Politik nationale Interessen auszugleichen, wurde Weltpolitik als Mission der nationalen Stellvertretung eines weltbürgerlichen Universalismus definiert. Ignoranz, Unterschätzung oder prinzipielle Ressentiments der Intellektuellen gegen die Politik waren zahlreich. Häufig bestimmten sie ihren Standort jenseits des Politischen. „Man muss nicht mehr schwanken, ob man Kommunist, Demokrat, Republikaner sein will, und nicht glauben, dass man in einer dieser Formen positiv wirken könne“183 – so beispielsweise Otto Flakes Absage an die Politik. Keine Partei, so eine andere Stimme im gleichen Tenor, sei besser als die andere. Parteipolitik sei bestenfalls ein notwendiges Übel, schlimmstenfalls eine unerträgliche Belästigung.184 Gegen eine solche politikfeindliche Stimmung der Intellektuellen, die jenseits des Politischen eine Sphäre des Eigentlichen und Wesentlichen als ihr Terrain für sich reklamierten, wandte sich Plessner mit aller Entschiedenheit. Mit Carl Schmitt sah er in der Politik eine notwendige Brechungsform der Lebensbeziehungen, die zur Bestimmung des Menschen selbst gehöre. In seiner Position etwa vergleichbar Kurt Hiller, der darauf verwiesen hatte, dass sich „von der Politik zurückziehen heißt : noch sicherer ihr Opfer werden als man es schon ist“185, erinnerte Plessner die Intellektuellen mit Nachdruck daran, dass das Niveau einer Politik abhängig sei vom Maß der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass ihr entgegengebracht werde. In der intellektuellen Geringschätzung der 183 Flake, No - cooperation, S. 341 f. 184 Franz Blei in seiner Antwort auf eine Umfrage zur Reichstagswahl vom 3. 5.1924. 185 Hiller, Wille, S. 29.

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Politik sah er einen der wesentlichen Gründe für ihren Niedergang : „Je geringer sie geachtet ist, umso schlechter wird sie.“186 Die Abwertung und Verachtung der politischen Sphäre durch die Intellektuellen bereitete der Übernahme der Politik durch Finanz, Industrie und Handel den Weg. Die „Gleichgültigkeit der Geistigen gegen die Politik“ verdrängte diese „aus den höheren Gebieten interessefreien Denkens und Handelns“.187 Als „Parteipatronage“ drohe die Politik dann das geistige Leben zu ersticken. Ihre intellektuelle Verachtung überantworte ihre Fragen an die Wirtschaft, die ihre Chance zu schätzen und zu nutzen wisse. Praktisch reduziert darauf, unter dem Deckmantel gemeinnütziger Politik den Kampf um Einfluss, Macht und die Durchsetzung materieller Interessen nur um so sicherer zu betreiben, sei sie faktisch zum Ort der Austragung von Interessenkämpfen der großen Weltanschauungsparteien geworden. Die Stigmatisierung der Politik als schmutziges Geschäft, von dem man als Intellektueller besser die Finger lassen sollte, hatte dazu geführt, dass die Politik tatsächlich den Geschäftemachern überlassen wurde. Plessner rief die Intellektuellen dazu auf, ihre Verdrängung „aus den höheren Gebieten interessenfreien Denkens und Handelns“188 nicht zuzulassen, sondern sich ihr in aller Ernsthaftigkeit zuzuwenden, gehe es doch in ihr wie in der Philosophie um die Existenz des Menschen und seine Zukunft. Philosophie und Politik werden gleichermaßen auf die Aufgabe einer Sinnstiftung menschlicher Existenz verpflichtet. Nur der antizipierend wagende, philosophisch inspirierte Vorgriff auf eine Zukunft, die ohne den Einsatz engagierter Intellektueller so nicht eintreten werde, könne die Möglichkeit eines politischen Neuanfangs eröffnen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Debatten der Zeit zeigt, dass die Vorbehalte und Vorurteile wechselseitig waren. Galten die Parteien den Intellektuellen als geisttötende Nivellierungs - und Disziplinierungsmaschinen, die jede unabhängige intellektuelle Regung im Verweis auf die Linie und die programmatischen Dogmen der Partei schon im Keime ersticken würden, so begegneten die Parteien umgekehrt den politischen Ambitionen der Intellektuellen mit Misstrauen. Trotz dieser wechselseitigen Distanzierungen blieb die Politik das Bezugsfeld intellektueller Kritik, in das sich die Intellektuellen mit der Konstituierung einer demokratischen Öffentlichkeit unaufgefordert einmischten. Sobald sie jedoch ernst damit machten, „Erkenntnisse der sittlichen Vernunft in [...] soziale Wirklichkeit“189 umzusetzen, so der verbreitete Vorbehalt, würden sie die wechselseitige Unverträglichkeit von Partei und Intellekt erfahren. Entweder Intellektuelle gaben ihre Unabhängigkeit auf und stellten ihre Fähigkeiten uneingeschränkt in den Dienst der von ihnen favorisierten Partei oder sie mussten sich mit der Rolle marginaler Kritiker zufrieden geben, über die die Geschichte zur politischen Tagesordnung überging. Diese Diagnose wendete Kurt Hiller kritisch gegen die Demokratie als dem „politischen Absolutismus 186 187 188 189

Plessner, Macht, S. 139. Ebd., S. 234. Plessner, Nation, S. 234. Hiller, Rolle, S. 183.

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des Durchschnittsmenschen“ in einer „Diktatur der Mittelmäßigkeit“.190 Nach dieser rhetorischen Wendung der Demokratie zur absolutistischen Diktatur blieb den Geistigen gar nichts anderes übrig, als sich dieser Republik zu verweigern. Ohne politisch gestalten zu können, waren sie auf „Randbemerkungen“ zum Geschehen verwiesen. Ihr Schicksal war es, im Wissen darum, was zu tun wäre, dieses dennoch nicht tun zu können.191 Politische und ökonomische Wandlungen, davon war etwa Max Scheler überzeugt, würden aus sich heraus keine neuen kulturellen Werte schaffen. Eben deshalb stünden solche Wandlungen immer in der Gefahr, in der Taktik kleinlicher Interessenkämpfe zu ertrinken. Dennoch waren es für ihn solche politisch- ökonomischen Veränderungen, die darüber entschieden, ob sich die Schleusen für den sozialen Durchbruch geistiger Kräfte öffneten oder ob sie geschlossen blieben. Dem Staat stehe weder die Aufgabe der Schöpfung und Zielsetzung noch die der dirigistischen Leitung des religiösen und kulturellen Lebens eines Volkes zu.192 Ohne in einer geistigen Kultur verankert zu sein, sei Politik lediglich die Verlängerung ökonomischer Interessen. Im Auseinanderfallen von politischer Fähigkeit und kultureller Bedeutung sah Scheler die „Tragik der deutschen Situation“193 : Auf der einen Seite das „politisch gänzlich unfähige deutsche liberale Bürgertum, das gleichwohl noch ein Hauptsitz aller echten deutschen Bildung und Kultur“ sei, auf der anderen die „allein zur politischen Leitung fähige kulturell bedeutungslose [...] Arbeitermasse mit ihren Führern“.194 In dieser Situation komme alles auf den Ausgleich beider Schichten und ihre Kooperation an. Dieser Appell richtete sich vor allem an die Sozialdemokratie, die um „des Sozialismus und um der deutschen Weltmission willen“ darauf verzichten müsse, ihre „zur Parteiideologie gewordene philosophische Theorie zum Dogma des deutschen Staates“195 zu erheben. Die Einschätzung der Republik hätte unterschiedlicher kaum ausfallen können. Für die einen war sie lediglich „Verfassungsurkunde und [...] Amtsbetrieb“196 ohne Massenbasis. Andere, wie Heinrich Mann, sahen in ihr den besseren Geist Deutschlands und den Entschluss, „künftig nach erkannten Ideen zu leben“197 und also einen Staat, der für Gedanken offen war. Als „Ausdruck relativer Menschen und einer veränderlichen Ordnung“198 waren Verfassung und Republik für ihn gerade kein Dogma. Den Totalverriss der zufälligen Republik schließlich gab Kurt Tucholsky : „Eine kleine, sadistisch - masochistische, in ihren funktionellen Lebensbeziehungen schwer psychopathische Minderheit terrorisiert das Land, das in weicher Wabbligkeit diese Qualen fast wollüstig dul190 191 192 193 194 195 196 197 198

Ebd. Vgl. ebd., S. 188. Vgl. Scheler, Politik, S. 501 f. Ebd., S. 506. Ebd. Ebd., S. 507. Ossietzky, Schutz, S. 112. Mann, Jahre, S. 136. Ebd., S. 329.

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det. [...] Die letzte Rettung ist Einigung der sozialistischen Parteien.“199 Eine Unterstützung der Republik konnte bei einer solchen Diagnose nicht erwartet werden, zumal die beschworene Einigung der sozialistischen Parteien ausblieb. Ihre kritische Haltung gegenüber der Republik, insbesondere aber ihr Bestehen auf intellektueller Unabhängigkeit gegenüber möglicher institutioneller Bindung an eine der Linksparteien, brachte den linken Intellektuellen der Weimarer Republik den Vorwurf ein, letztlich an der Reinhaltung ihrer Ideen interessierter gewesen zu sein als an ihrer politischen Umsetzung. Eine zeitgenössische Debatte zwischen Kurt Hiller und Gustav Radbruch brachte diese Kontroverse auf den grundsätzlichen Punkt des Verhältnisses von Politik und Ideen und der Alternative von politischer Unabhängigkeit oder organisatorischer Einbindung Intellektueller. Radbruch hatte die Parteien als wichtigste Organe des Volksstaates benannt und die Pflicht zur Teilnahme am politischen Leben an die Eingliederung in eine Partei gebunden. Fixiert auf den Eigenwert ihrer Ideen nehme eine unpolitische Geistesaristokratie Politik nur als Verfälschung und Verunreinigung ihrer Ideen wahr. Die in dieser Argumentation unterstellte Gleichsetzung von Politik und Parteipolitik wies Hiller im Bestehen darauf zurück, dass es auch für einen politisch denkenden Menschen gute Gründe geben könne, sich gerade nicht für eine bestimmte politische Partei zu entscheiden. Jeder geistige Mensch, der sich einer Partei anschließe, müsse wissen, dass er mit diesem Entschluss seine intellektuelle Unabhängigkeit aufs Spiel setze.200 Der Typus des mit einer Partei sympathisierenden Kritikers ihrer Politik, der sich seine intellektuelle Unabhängigkeit außerhalb der Partei bewahrte, sollte diesem Dilemma erfolgreich begegnen. Für Horkheimer etwa, der mit einer solchen intellektuellen Rolle sympathisierte, entschied sich das Profil einer Partei nicht allein durch die Qualität ihrer programmatischen Konzepte. Wichtiger sei es, die richtigen Konzepte den Massen als Aufklärung und progressive Lösung ihrer sozialen Situation auch plausibel zu machen. Gegen die Phantasien selbsternannter Avantgarden, eine Gesellschaft aktionistisch im Handstreich zu nehmen, bestand er darauf, politisches Handeln in nüchterner Situationsanalyse zu gründen. Die Plausibilität linker politischer Konzepte stellte er unter das Kriterium, die Möglichkeit der Vermittlung von revolutionärer Absicht, theoretischer Einsicht und sozialer Aussicht des Proletariats nachzuweisen. Im Blick auf die Auseinandersetzungen von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Weimarer Republik argumentierte Horkheimer gegen das Konzept der Stellvertretung der Vernunft in den sozialen und politischen Kämpfen der Zeit. Während die „bloße Wiederholung des Prinzipiellen“ in die „Vergeblichkeit“201 führe, habe sich andererseits die Fixierung auf die positiven Tatsachen gesellschaftlicher Realität mit eben den Verhältnissen, die es zu verändern 199 Tucholsky, Republik, S. 224. 200 Vgl. Hiller, Radbruch, S. 574 f. 201 Horkheimer, Dämmerung. S. 376.

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gelte, reformistisch arrangiert. Beide, durch Kommunisten und Sozialdemokraten je einseitig vertretene Positionen würden in ihrer relativen Berechtigung zu kurz greifen. Das, was zusammen kommen müsste, „Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche“, komme in der politischen Realität nur „isoliert und zerstreut“202 vor. Es theoretisch zusammenzuführen, könne diese praktische Trennung weder kompensieren noch ihre Über windung auch nur befördern. Im Vergleich der sozialdemokratischen Partei mit der KPD sah Horkheimer die „Vielfalt der Gesichtspunkte“ auf Seiten der Sozialdemokratie. Gerade deren politische Ausgewogenheit hindere diese jedoch daran, mit der für den politischen Kampf gegen den Kapitalismus notwendigen Entschiedenheit zu handeln. Die Sozialdemokratie habe sich in einem Maße auf diese Gesellschaft und ihre Spielregeln eingelassen, das sie bereits hoffnungslos korrumpiert habe. Als Teil der Gesellschaft, gegen die sie rhetorisch noch mobil mache, müsste sie gegen sich selbst antreten, würde sie mit dieser Rhetorik politisch ernst machen. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft und die Erkenntnis, wie eine solche Veränderung vorzubereiten und erfolgreich durchzuführen wäre, waren für Horkheimer auf unterschiedliche politische und soziale Lager verteilt. Kurt Hiller hatte die Intellektuellen dazu aufgefordert, „zwischen den Stühlen der Parteien Platz zu nehmen und auf die stützende Lehne einer Massenorganisation im Rücken zu verzichten“, anstatt „die Backentaschen mit Revoluz zu füllen und vorgeschriebene Dogmatismen zu fauchen“.203 Eben jene revoluzzerhafte Aufblähung zu vermeintlicher politischer Größe, die im Rausch aktivistischer Selbstblendung den Blick für die politischen Realitäten und Möglichkeiten verlor, hatte Walter Benjamin den auf ihrer politischen Unabhängigkeit bestehenden linksradikalen Intellektuellen vorgeworfen. Ihrem Radikalismus „links vom Möglichen überhaupt“204 entspreche keine politische Aktion mehr. Als Symptom der pathologischen Stauungen der Gesellschaft sei von den Geistigen nicht zu erwarten, dass sie sich zu politischen Aktivisten wandeln würden.205 War Intellektualität im Parteienstaat nur noch als Ideologie zugelassen, so ließ sich ein freier „Raum unabhängiger Geistigkeit“ zwischen „den politischen Kampfformationen“206 nicht mehr behaupten. Jede politische Partei versuchte stattdessen, geistige Menschen für ihre handfesten Interessen ideologisch zu benutzen. Von allen Seiten wurden sie ermahnt, ihre Abhängigkeit von einem bestimmten wirtschaftlichen und politischen Ort anzuerkennen und zu Handlangern der Partei dieses Ortes zu werden.207

202 203 204 205 206 207

Ebd., S. 377. Hiller, Wirth Block, S. 51. Benjamin, Melancholie, S. 281. Benjamin, Irrtum, S. 352. Curtius, Geist, S. 34. Vgl. Döblin, Wissen, S. 148.

Die Weimarer Republik : Deutungskämpfe der Politik

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In einer seiner „Thesen über den Begriff der Geschichte“ hatte Walter Benjamin den Reformismus der Sozialdemokratie als Konsequenz einer fatalistischen Fortschrittsteleologie kritisiert : „Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokratie malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst ( nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse ). Er war, zweitens, ein unabschließbarer ( einer unendlichen Perfektibilität entsprechender ). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer ( als ein selbsttätig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender ).“208 Der Glaube an die quasi naturgesetzliche Unaufhaltsamkeit des Fortschritts konnte mit der Überzeugung von der strategischen Überlegenheit der eigenen politischen Konzepte einen politischen Aktivismus geschichtsphilosophisch absichern. Er konnte aber auch die Bereitschaft, in politischen Auseinandersetzungen das Risiko des Scheiterns einzugehen, durch den Fatalismus der passiven Erwartung des ohnehin Unvermeidlichen ersetzen. Kurt Hiller spitzte diese Kritik eines revolutionären Verbalradikalismus weiter zu : „Die Doktrin behauptet, Untersuchung, Deutung, Erklärung, Analyse, Wissenschaft, Lehre vom Werden zu sein; sie weist es von sich, Willenschaft, Lehre vom Sollen zu sein. Die proletarische Revolution ‚soll‘ nicht kommen, sie ‚muss‘ kommen. Sie ist naturnotwendig, nicht etwa vernunftnotwendig; ‚unvermeidlich‘, nicht etwa ethische Aufgabe.“209 Diese Überzeugung „von der wissenschaftlich erwiesenen Unvermeidlichkeit, von der Fatalität der sozialen Revolution“, so hatte er an anderer Stelle argumentiert, müsse „naturgemäß die Aktivität, die zu ihr hinführen würde“210, lähmen. Dem landläufigen Sozialismus, so hatte Hiller weiter formuliert, fehlte das „Verständnis für die ( transsoziale ) Wertverschiedenheit zwischen den Menschen“, und damit der „Blick für den Typus quer durch die Klassen“.211 Eben diesen Typus hatte Karl Mannheim im ‚frei schwebenden Intellektuellen‘ identifiziert, der wiederum für Ernst Curtius Ausdruck der sozialen Entwurzelung der Intellektuellen war : „Das Freischweben ist ein transitorischer Zustand. [...] Wenn der Geist und sein Träger, der Intellektuelle [...] volles, bestimmtes Leben zurückgewinnen will, wird er irgendwo festwachsen müssen. Im flüchtigen Moment der Schwebe hat er eben noch Zeit und Möglichkeit, sich zu überlegen, in welchen Boden er sich einsinken will.“212 Mannheim setzte seine Hoffnung in das Vermögen der Intellektuellen, ganz unterschiedliche und eben auch konkurrierende Denk - und Erlebnisweisen zu artikulieren. Diese Pluralität intellektueller Artikulationen müsse sich im freien Wettbewerb geistiger Produktionsweisen fortsetzen.213 Im Verhältnis von Politik und Wissenschaft stellte auch er eine grundsätzliche Diskrepanz fest : Während das Wissen experimentellen Charakter bewahren müsse, könnten die politischen Parteien schon aus dem einfa208 209 210 211 212 213

Benjamin, Begriff, S. 700. Hiller, Marxisten S. 959. Hiller, Sozialismus, S. 42. Ebd., S. 39. Curtius, Geist, S. 101. Vgl. Mannheim, Ideologie, S. 12.

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chen Grund, dass sie organisiert seien, „weder ihre Denkmethoden elastisch halten noch bereit sein, jedes Ergebnis zu akzeptieren, das sich aus ihren Untersuchungen“214 ergab. Bereits ihre Struktur zwinge die Parteien in eine dogmatische Richtung. Für Mannheim war der Parlamentarismus des Parteienstaates jedoch zugleich der politische Boden, von dem aus sich die Intellektuellen erst zum Typus sozial frei schwebender Existenz erheben konnten. Eine Position kritischer Solidarität zu einer der im politischen Machtkampf verstrickten Parteien, davon war auch er überzeugt, ließ sich nur außerhalb der Parteien einnehmen. Mit dem Hineinwachsen einer Partei „in das parlamentarische Mitregieren“215 müsse jedoch das intellektuelle Leben nicht zwangsläufig parteibürokratisch erstarren. Vielmehr eröffne sich mit der pragmatischen Disziplinierung universeller Zielutopien zugleich auch die Chance konkreter politischer Gestaltung. Eine Partei in politischer Verantwortung und parlamentarischer Regierungsbeteiligung nämlich müsse in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung die Totalsicht der sie ursprünglich treibenden Utopie aufgeben und stattdessen „ihre transformierende Kraft [...] am konkreten Einzelfall bewähren“.216 Die Leerstelle zwischen Realpolitik und positiver Wissenschaft sah Mannheim mit dem sozial frei schwebenden Intellektuellen in politischer und geistiger Stellvertretung des gesellschaftlichen Ganzen besetzt. Die pragmatische Ablösung der Politik von ihrer Zielutopie setze die Geistigen, die die spirituellen Elemente dieser Politik vertreten würden, aus ihrer Bindung an die Politik frei. Das ist nicht das „Bekenntnis eines Unpolitischen“ zum Typus eines Intellektuellen, der Besseres zu tun hat, als sich um die Politik zu kümmern. Deren Entlastung vom Abwägen der Umstände und Konsequenzen ihres Handelns und Vorbehalten der Machbarkeit sollte vielmehr die gleichgewichtige Berücksichtigung aller in einer Gesellschaft vertretenen Interessen an einem Ort ermöglichen, vom dem aus konkrete Interessen - und Machtpolitik sich kritisch im Spiegel ihrer Prinzipien betrachten lässt. Die Figur des frei schwebenden Intellektuellen, scheinbar die kaum zu überbietende Absage an eine politische Verbindlichkeit intellektueller Tätigkeit, war von Mannheim als politisches Konzept gemeint. In ihm versuchte er die Bindung politischen Handelns an universelle Prinzipien des Politischen zu erneuern. Politik sollte mit der Zirkularität ihrer pragmatischen Abläufe konfrontiert und wieder als Konsequenz von konkreten Bedingungen und Entscheidungen kenntlich werden. Der Standort der Intellektuellen zwischen allen politischen Stühlen war hoch problematisch. In dieser Situation sollte die „sozial frei schwebende Intelligenz“ in der Ausrichtung „auf die Dynamik und Ganzheit“217 der Gesellschaft als Medium der Vermittlung sozialer Polaritäten und politischer Gegensätze funktionieren. Ihr Interesse, „das Ganze des sozialen und politi-

214 215 216 217

Ebd., S. 34. Ebd., S. 216. Ebd. Ebd., S. 135.

Die Weimarer Republik : Deutungskämpfe der Politik

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schen Gefüges von allen Seiten behandelt zu sehen“218, so Mannheim, mache sie zum „Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen“.219 Diejenige politische Partei, die es verstand, das intellektuelle Potential universeller Orientierung für ihre Ziele zu mobilisieren, und die eben dazu den Intellektuellen ihre Unabhängigkeit zugestand, würde in der politischen Konkurrenz auf lange Sicht den Vorteil des weiten gesellschaftlichen Horizontes gegenüber der Borniertheit des auf enge Parteiinteressen fixierten Standpunktes geltend machen können. Die Konkurrenz der politischen Parteien um das Plebiszit zur politischen Prägung des gesellschaftlichen Ganzen und damit das Schicksal der Weimarer Republik selbst, so Mannheims Überzeugung, entschied sich in ihrer Intellektuellenpolitik. Gegen den politischen Extremismus, der die revolutionäre oder gegenrevolutionäre Tat seinem Begriff politischer Praxis unterlegte, setzte er den politischen Willen, „der das dynamische Gleichgewicht sucht, das das Ganze im Auge hat“.220 Im Unterschied zu den zahlreichen intellektuellen Kritikern der Republik ging es ihm nicht um die Vorbereitung des Aufstandes gegen die Republik, sondern um deren Verteidigung. Realpolitik, „die immer nur das kleine Mögliche im Auge“221 haben könne, bedürfe der Ergänzung durch eine Idealpolitik aus der Position intellektueller Unabhängigkeit. In den politischen Turbulenzen der Weimarer Republik repräsentierte diese Position den „Geist der Republik“, der bis zur Unkenntlichkeit der pragmatischen Kompromisse und Sachzwänge klein gehalten werden konnte, der aber dennoch für die Möglichkeit einer „Republik des Geistes“ stand. Dieser emphatischen Kritik der Realpolitik setzte Carl Schmitt eine Kritik vermeintlich idealer Wertepolitik als tatsächlich verdeckter Macht - und Interessenpolitik entgegen. Er argumentierte explizit gegen eine Menschheitsdemokratie, die in der paradoxen Verkehrung ihrer gegenteiligen Rhetorik das Prinzip der Gleichheit untergrabe.222 Die Parteien würden sich in einer solchen Demokratie nicht mehr als „diskutierende Meinungen“ gegenübertreten, „sondern als soziale und wirtschaftliche Machtgruppen“223 ihren Interessen und Machterwägungen folgen und Kompromisse und Koalitionen schließen, anstatt in der öffentlichen Diskussion um rationale Lösungen der anstehenden Probleme zu ringen. In ihr gehe es nur noch darum, „Interessen und Gewinnchancen zu berechnen und das eigene Interesse nach Möglichkeit zur Geltung zu bringen“.224 Der Liberalismus der Weimarer entwerte den Gedanken der Demokratie als einer diskutierenden Öffentlichkeit. Insbesondere die liberale Vorstellung der Neutralität staatlicher Willensbildung mache die Republik handlungsunfähig. Unfähig zur Bildung, Behauptung und Durchsetzung eines politischen Wil218 219 220 221 222 223 224

Ebd., S. 140. Ebd., S. 138. Ebd., S. 160. Ossietzky, Revolutionär, S. 88. Schmitt, Positionen, S. 69. Ebd., S. 64. Ebd.

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lens, der die unterschiedlichen Parteien auf die Republik verpflichtete, so Schmitt, standen diese als Spielball wechselnder politischer Kräfteverhältnisse, Konjunkturen und Krisen auf verlorenem Posten. Gegen den Parteienegoismus stellte er eine alle Gegensätzlichkeiten relativierende, durch unparteiische Dritte vermittelte Einheit und Ganzheit.225 Die Demokratie braucht nicht nur institutionelle Sicherungen, um sich gegen fundamentalistisch - radikale Infragestellungen ihrer Grundlagen zu behaupten. Gerade in Krisenzeiten der Gefährdung von Menschen - und Bürgerrechten zeigt sich, ob sie auch als ein identitätsbildendes Ethos funktioniert, das die Bürger zur Verteidigung ihres politischen Gemeinwesens mobilisiert. Die rechtsstaatlichen Institutionen bürgerlicher Demokratie sind immer dann gefährdet, wenn sie ohne innere Beteiligung der Bürger entweder als selbstverständlich vorausgesetzt oder aber als Einschränkung und lästiges Übel wahrgenommen werden. Ihre Verteidigung in Zeiten des drohenden Abbaus demokratischer Freiheiten und Rechte kann nur von denen erwartet werden, die in ihnen die politische Voraussetzung eines Lebens in Würde und Anstand sehen.

225 Ebd., S. 182.

V.

Ideologie

1. Ideologie als kulturelles Ausdrucksphänomen Menschen sind sich ihrer Endlichkeit bewusst und versuchen, diese dadurch auf Unendlichkeit hin zu überschreiten, dass sie durch Taten, Worte und Beziehungen ihrer eigenen Vergänglichkeit durch das Setzen von Erinnerungen an ihre Präsenz begegnen. Sie zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, kulturelle Bedeutungen, die sie sowohl für ihr eigenes Leben in Anspruch nehmen als auch anderen Menschen und Ereignissen zuschreiben, in einer symbolischen Ausdruckswelt zu vergegenständlichen und verständlich zu kommunizieren. Zugleich sind sie in der Lage, reflexiv Abstand von sich selbst und den eigenen Ausdrucksformen zu nehmen. Menschen können sich von ihrer biologischen Natur nicht lösen, ohne jedoch kulturell auf sie festgelegt zu sein. Im expressiven Spiel ihrer Ausdrucksformen führen sie ihr Leben auf eine Weise, die es anderen Menschen ermöglicht, Anteil an ihrem Leben zu nehmen. Durch diese Ausdrucksformen bleiben sie symbolisch auf die natürlichen Grundlagen und kulturellen Vermittlungen ihrer Existenz bezogen. In der kulturanthropologischen Wendung des Universalismusproblems hatte Plessner anthropologischen Universalien ausdrücklich eine kontext - und kulturspezifische Funktionalität zugeschrieben. Als Horizont kultureller Orientierung müsse sich Universalität in der Vermittlung eines kulturellen Sinnzusammenhangs bewähren. Gegen ein Verständnis von Ideologie, die deren politische Funktion in der Mobilisierung von Klassen - oder Rassenzugehörigkeit sah, bestimmte Plessner sie als Medium der Vermittlung einer Vielzahl von Identitäten und Zugehörigkeiten zur Universalität menschlicher Gattungsexistenz. In dieser kulturanthropologischen Verallgemeinerung wurde Ideologie zum Inbegriff einer Erneuerung des universellen Geltungsanspruchs der Vernunft in der Gegenbewegung zu ihrer Dysfunktionalisierung.1 An die Stelle einer „radikalen Zurückhaltung gegen den Geltungsanspruch der Werte in jeder beliebigen Wertsphäre jedes beliebigen Kulturkreises“2 setzte Plessner deren Anerkennung als kultureller Ausdruck eines intuitiv in Anspruch genommenen universellen Geltungsanspruchs des je eigenen Wertesystems. Gegen „Ideologieangst und Demaskierungstendenz in Geschichte und Soziologie“3 führte er das Humanisierungs - und Zivilisierungspotential einer als Pluralität kultureller Ausdrucksformen verstandenen Ideologie und das Spiel der Masken ins Feld, in dem „der Mensch die Aufführung selber ist und mit allem der Geschichte angehört, selbst mit der Idee vom Menschen ein Produkt ihrer Kämpfe“.4 In dieser Sicht sind noch die allgemeinsten Begriffe, die den Vernunftanspruch menschlicher Gestal1 2 3 4

Vgl. ebd., S. 156. Plessner, Abwandlungen, S. 255. Ebd., S. 271. Plessner, Nation, S. 179.

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Ideologie

tungsabsicht unterstreichen, das Ergebnis konkreter Auseinandersetzungen darum, was als allgemein, verbindlich und vernünftig gelten soll. Als Grund der ideologiekritischen Dementierungen des Universellen und ihrer funktionalen Substitute hatte Plessner das Unvereinbarkeitstheorem klassischer Ideologiekritik bestimmt : die Entgegensetzung von kultureller Funktionalität und kulturübergreifender Universalität. Daraus habe die gegen ihre eigenen normativen Grundlagen gerichtete Selbstzerstörung der Aufklärung ihre vermeintliche Plausibilität bezogen. Der Nachweis geistesgeschichtlicher und soziokultureller Zusammenhänge, in denen sich universelle Vernunftbegriffe herausgebildet und durchgesetzt hatten, entzog ihnen nach diesem ideologiekritischen Unvereinbarkeitstheorem die Grundlagen ihres universellen Geltungsanspruchs. Durch die historischen, soziologischen, psychoanalytischen oder biologischen Entlarvungen normativer Universalien – einer Wirklichkeit, einer Vernunft, eines Sittengesetzes für alle Menschen – wurden diese Setzungen „ebenso problematisch [...] wie die Menschlichkeit selber“.5 Die ideologiekritische Demontage gattungsgeschichtlicher Universalien hatte die konzeptionellen Grundannahmen des politischen Humanismus erschüttert. Der „totale Ideologieverdacht“ hatte der Tat das Primat gegenüber dem Bewusstsein zugeschrieben, ohne dass diese „wie noch bei Kant und in der großen idealistischen Tradition unter religiösen, rationalen, für alle Menschen verbindlichen sittlichen Prinzipien“6 gestanden hätte. Plessners Bekenntnis zum revolutionären utopischen Potential der ideologisch nur zeitweise domestizierbaren Lebensphilosophie, mit der seine Schrift „Die verspätete Nation“ endete, hielt dagegen ausdrücklich an den großen Gedanken in Zeiten ihrer Erniedrigung zur geistigen Rechtfertigung ideologischen Handelns fest. Selbst in der scheinbaren Endgültigkeit vermeintlich unbezweifelbarer Dogmen bleibe der geschichtliche Umbruch möglich.7 Die „Logik des Verdachts“ gegenüber der Vernunft beruht auf der Annahme, der Nachweis ihrer lebensweltlichen Funktionalität und mit ihr assoziierter kontextspezifischer Interessen würde den Geltungsanspruch als universell behaupteter Werte erledigen. Die angemessene Antwort auf die in dieser Annahme unterstellte interessierte Verschleierung verdeckter Interessen war in der Tat die rücksichtslose Entlarvung. Die Verdächtigung der Vernunft als interessierte Täuschung führte in der Konsequenz zur Zerstörung einer auf dem Prinzip interessierter Gegenseitigkeit gegründeten Moral der Mitmenschlichkeit. Die vermeintlich fiktive Gründung dieser Moral ließ Menschen an ihren eigenen moralischen Intuitionen zweifeln. Zugleich wurden sie darauf eingestimmt, nicht länger ihrer eigenen, offensichtlich trügerischen moralischen Urteilskraft zu vertrauen. Sie wurden empfänglich für unbezweifelbare Autoritäten geistiger Formung und politischer Formierung. 5 6 7

Ebd., S. 153 f. Ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 212 f.

Ideologie als kulturelles Ausdrucksphänomen

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Plessner suchte die ideologiekritische Zerstörung bürgerlicher Vernunft dadurch zu entschärfen, dass er die kulturell und historisch spezifischen Entstehungs - und Geltungskontexte der Vernunftuniversalien gar nicht bestritt, sondern als selbstverständliche Annahme einer lebensweltlichen Verortung der Vernunft voraussetzte. Kulturspezifische Setzungen, so seine These, könnten dann einen universellen Geltungsanspruch behaupten, wenn sie ihre Funktionalität in konkreten kulturellen Kontexten nachwiesen. Seine Kontextualisierung der Vernunft ging von der lebensweltlichen Funktionalität kultureller Universalien aus und ließ klassische Ideologiekritik damit ins Leere laufen. Der universelle Geltungsanspruch als allgemein behaupteter Werte musste nach dieser funktionalen Wendung nachweisen, dass sich ein Wertesystem zur Vermittlung kultureller Differenzen und der Anregung eines gleichberechtigten Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen eignete. Dieser Humanismus zielte nicht mehr auf die kulturell exklusive Verkörperung mit universellem Geltungsanspruch behaupteter Werte, sondern auf die Anerkennung und Kommunikation kultureller Differenzen. Gegen die Versuchung der Gleichschaltung der Kulturen am Maßstab der überlegenen westlichen Kultur setzte diese Umwertung die Verpflichtung, die lebendige Vielfalt der Kulturen als kostbares Gut einer in sich differenzierten Menschheitskultur zu erhalten. In einer an Carl Schmitts These eines „Zeitalters der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“8 erinnernden Argumentation entwarf auch Plessner eine Stufenfolge der Ablösung und Verdrängung kulturell führender Glaubenswerte. Die Abfolge der Diskreditierung normativer Universalien und ihrer disziplinären Systematisierungen habe erst die Philosophie durch die Universalgeschichte abgelöst, die ihrerseits von der Soziologie verdrängt worden sei, um schließlich der Biologie zu weichen. Dabei seien jedoch immer wieder neue Autoritäten an die Stelle der alten getreten. Noch in der Verdächtigung der Vernunft habe sich in diesen Ersatzformen jedoch ihr universeller Geltungsanspruch erneuert. Der ideologiekritischen Erledigung der einen Form sei der funktionale Ersatz durch eine andere gefolgt, die ihrerseits wieder dem Verfallsprozess der Entlarvung ihrer eigenen lebensweltlichen Funktionalität ausgesetzt war. In der Konsequenz habe diese Verdächtigung vernunftphilosophischer Universalien den „Menschen auf seine rein vitalen Schichten“9 zurückgeführt. In ihrer Zersetzung religiöser wie säkularer Glaubensformationen habe sie, was Menschen jeweils „heilig“ war, immer wieder ideologiekritisch entzaubert. Die Zerstörung unproblematischer Heilsgewissheit hatte schließlich in der Hoffnung auf Erlösung „aus eigener Kraft“ Menschen dazu aufgefordert, den Sinn ihres Lebens „ganz ins Diesseits und in die Entfaltung seiner natürlich - vernünftigen Anlagen“10 zu verlegen. Am Ende dieser Stufenfolge stand der Mensch schließlich der „Leere der kommenden Zeit“, dem „Nichts der völlig ernüchterten und entsicherten Zukunft“11 8 9 10 11

Schmitt, Begriff, S. 79 f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120 f.

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gegenüber. In dieser Situation übernahm eine innerweltliche Heilsgeschichte12 die Funktion der ihre Endlichkeit transzendierenden Sinngebung menschlicher Existenz. Dabei hätten weltliche Ersatzbildungen des Religiösen keine geringere Heilskraft entwickelt, als das verlorene Jenseits. Der Rückgang auf tatsächliche oder vermeintliche Basisstrukturen menschlichen Lebens, so Plessner, spiegelte „den Verfall jeder religiösen, geschichtlichen und geistigen Autorität“.13 Der Sturz aller Götter, einschließlich ihrer geschichtlichen und geistigen Stellvertreter, ließ die Menschen in ihrem naturhaften Sein den Halt suchen, den sie nirgendwo sonst mehr fanden. Im Rückgang auf die bewusstlose Natur des Seins wurden Menschen dazu konditioniert, sich dem aus eigener Kraft nicht Verfügbaren zur Verfügung zu stellen. Der desillusioniert erklärte „Tod Gottes“ setzte den Menschen in die alleinige Verantwortung für sein Leben ein. Erfolge konnte er von nun an für sich beanspruchen, Niederlagen hatte er sich selbst zuzuschreiben. An die Stelle der Demut der Einbindung des Lebens in nicht verfügbare Zusammenhänge trat die Hybris des Übermuts omnipotenter Bemächtigungsphantasien und Grenzüberschreitungen. Den an Gott verloren gegangenen Halt suchten die Menschen nun in sich selbst und ihren Mitmenschen. Der Glaube an die Erlösung des Menschen aus eigener Kraft setzte den Dysfunktionalisierungen und Entzauberungen seiner außermenschlichen Sicherungen die Vision bewusster Wiederverzauberung aus inneren Kraftquellen entgegen.14 Und nicht nur die „Kraft der Erlösung“, auch die „Quelle der anfänglichen Täuschung“15 über die Verlässlichkeit äußerer und innerer Autoritäten seines Welt - und Selbstverhältnisses wurde jetzt im Menschen selbst vermutet. Sowohl sein heilsgeschichtliches Bedürfnis nach Erlösung als auch seine weltliche Erfahrung der Erschütterung fest geglaubter autoritärer Sicherungen wurden nun auf seine inner weltliche Geschichte bezogen. Mit der Verweltlichung religiöser Formen und Funktionen hätten menschliche Überzeugungen, Inhalte und Formen eine neue Dimension gewonnen : Menschen versuchten nun, aus eigener Kraft ihr Leben durch die Entfaltung ihrer natürlich - vernünftigen Anlagen in den Griff zu bekommen. Die „Logik der Verdächtigung und Entlar vung“16 universeller Werte funktioniere nicht nur als retrospektive Desillusionierung, sondern projiziere den Nihilismus einer nichts mehr versprechenden Entwicklung auch auf die Zukunft. Ohne noch durch den Prozess der Verheißung und Ernüchterung desillusionierter Erwartungen gehen zu müssen, setzte eine Zukunft, die von vornherein kein besseres Leben mehr versprach, auch keine Erwartungen mehr, die enttäuscht werden konnten. 12 Zu den theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie vgl. Löwith, Weltgeschichte. 13 Plessner, Nation, S. 133. 14 Zu den Konzepten Entzauberung und Wiederverzauberung vgl. Gauchet, Disenchantment. 15 Plessner, Nation, S. 118. 16 Ebd.

Ideologie als kulturelles Ausdrucksphänomen

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Menschen schaffen sich eine eigene Spiegelwelt von Ausdrucksphänomenen und Bewusstseinsäquivalenten, in denen sie sich als Angehörige einer mit anderen geteilten Welt erfahren.17 Zwar lasse sich die Existenz einer menschlichen Vernunftnatur nicht nachweisen. Über den Umweg der Kritik spekulativer Metaphysik zeige sich jedoch die alternativlose, menschliches Leben erst ermöglichende und Wirklichkeit konstituierende Funktionalität der kulturellen Symbolwelten und Ausdrucksweisen. Der objektive Geltungsanspruch menschlicher Symbole beziehe seine Plausibilität aus ihrer Eignung für die Kommunikationsund Orientierungsprobleme kultureller Gemeinschaften. Der politische Humanismus war mit dem Selbstverständnis angetreten, dass Menschen als sterbliche, begrenzte, auf ihre Sinnlichkeit und Körperlichkeit verwiesene Wesen universellen Prinzipien und Werten immer nur näherungsweise gerecht werden können. Nach der ideologiekritischen „Zerstörung der Vernunft“ und dem historisch nicht eingelösten Versprechen eigentlichen Menschseins und erfüllten Lebens standen nun diese universellen Werte selbst in der Kritik. Zwar gestand die Historisierung des humanistischen Menschenbildes allen Dimensionen menschlicher Existenz das gleiche Recht zur Entfaltung zu, ohne jedoch noch eine integrierende Perspektive personaler Identität zu entwickeln. Die Identität der Subjekte wurde nicht mehr als Konsequenz innerer Entwicklungen und freier Entscheidungen gesehen, sondern als Ergebnis eines äußeren Formierungsprozesses. Gegen diesen äußeren, durch Biologie und Ökonomie dominierten Formierungsprozess war Plessners Bestehen auf unvorhersehbaren Möglichkeiten menschlichen Lebens gerichtet. Freiheit blieb für ihn der Sprung in die unbestimmte Bestimmtheit des Anfangs eines Neuen, das sich nicht in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden erschöpfte, sondern tatsächlich für Überraschungen offen war.18 Eine auf die Determinationskraft des Vorhersehbaren reduzierte Geschichte, die nicht mehr durch Entscheidungen aus eigener Freiheit aufgebrochen werde, gleiche „einer schnurgeraden Kette [...], in der das je folgende Glied die vorausliegenden Glieder überböte. Oder der Fortgang wäre ein ewiges an der Stelle Treten, ein ewiger Szeneriewechsel ein und derselben Illusion, und die Rastlosigkeit der Menschen von Generation zu Generation wäre so viel wert wie der Lauf des Eichhörnchens in der unter seinen Füßen sich drehenden Trommel.“19 Worauf es letzten Endes ankomme, sei den Halt an sich selbst und in der Freiheit des Selbstseins nicht die Demut zu verlieren.20 In dieser klaren Absage an Selbstaufgabe wie Selbstermächtigung scheint der schmale Grat eines möglichen Lebens in Würde und Verantwortung für das eigene Handeln auf. Es wäre ein Leben, das sich den Herausforderungen und moralischen Zerreißproben der Zeit stellen würde, das kulturelle Einbindungen und Zugehörigkeiten zu schätzen und Rücksichten auf persönliche Verpflichtungen und gewachsene Traditio17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 157. Vgl. Plessner, Stufen, S. 338. Ebd., S. 339. Vgl. Plessner, Nation, S. 132.

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Ideologie

nen zu nehmen wüsste. Plessners sehr persönliches Credo formuliert ein Ethos, das den Ambivalenzen der kulturellen Moderne moralisch gewachsen wäre. Die Vielfalt möglicher Lebensformen und normativer Setzungen nahm er als Bedingung dafür, die Freiheit des Selbstseins in der Vermittlung mit dieser Pluralität ohne Differenzierungsverlust zu behaupten. Menschen wollen nicht nur in der Aufspaltung ihres Lebens in die Funktionalität der verschiedenen Rollen und Funktionen, sie wollen nicht nur in Stellvertretung für ein Anderes als sie selbst in der partikularen Existenz ihrer arbeitsteiligen Verrichtungen Anerkennung finden, sondern auch als einzigartige Individuen, die sie sind, und als die sie wenigstens von einigen in für sie existentiell wichtigen Situationen angesprochen und wahrgenommen werden wollen. In der Anerkennung der lebensnotwendigen Funktionalität der Fragmentierungen ihres Selbst bestehen sie zugleich auf der Möglichkeit eines ganzheitlichen Lebens. Mit der Integration ihrer verschiedenen Rollen und Funktionen erübrigt sich die Fiktion eines eigentlichen Selbst im Unterschied zu den partikularen Zumutungen des Lebens. Statt an aufrechter Innerlichkeit soll sich der politische Humanismus nun an einer ganzheitlichen Lebensführung orientieren, die äußere Bedingungen nicht länger als Einschränkung und Reduktion eines innerlich Eigentlichen und Wesentlichen diskreditiert. Plessner sah Ideologie als Ausdruck der Fähigkeit der Menschen zu kultureller Sinngebung und Möglichkeit einer Kultur, Charakter zu zeigen. Die Fähigkeit, sich gegenständlich auszudrücken und über Ausdrucksphänomene Sinn zu kommunizieren, stellte Menschen in den Zusammenhang einer Kultur. Ideologie wurde damit zum Synonym der zweiten Natur des Menschen – der vieldimensionalen Kultur symbolischer Formung. Es bleibt die Frage, was mit dieser Erklärung der Ideologie zum kulturellen Ausdrucksphänomen, die sie aus der Schusslinie der Kritik rückt, systematisch und zeitdiagnostisch gewonnen ist. Welche Konsequenzen hat die zugleich methodische und anthropologische Normalisierung der Ideologie zu einer kulturellen Leistung, die Menschsein konstitutiv und wesentlich auszeichnet ? Plessner selbst ließ keinen Zweifel an seiner Absicht, gegen die Abwertung des Ideologiebegriffs seine methodische Eignung zu einer ausgewogenen Zeitdiagnose herauszustellen. Seine Bestimmung der Ideologie als Ausdruck eines historischen Schicksalsverhältnisses setzt hier die entscheidenden Akzente. Ein solches Schicksalsverhältnis lasse sich „weder rückgängig machen noch korrigieren“.21 Es sei jedoch auch nicht zwingend, sein Schicksal unbefragt anzunehmen. Steht Ideologie methodisch für die Funktionalität der Verklammerung menschlicher Welt - und Selbstverhältnisse, so bezeichnet sie zeitgeschichtlich - gesellschaftstheoretisch die intuitive Gewissheit, dass eine „Zeit [...] für das, was sie bewegt, den echten erlösenden Ausdruck [...] niemals errechnen, sondern nur finden“22 kann. In dieser Diktion bezieht sich Ideologie nicht mehr auf Mechanismen der Selbsttäuschung oder interessierten Ver21 Ebd., S. 223. 22 Ebd.

Die Maske und das wahre Gesicht des Menschen

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schleierung der wahren Verhältnisse, sondern reklamiert sie die Souveränität, lebensnotwendige, das Leben erleichternde Illusionen und Täuschungen als unverzichtbaren Teil menschlichen Lebens zu akzeptieren.

2. Die Maske und das wahre Gesicht des Menschen Die Figur der Maske benutzte Plessner dazu, die Entgegensetzung von bestimmten, endlichen und realen Erscheinungen und der Vernunft als dem Unbedingten, Idealen und Unendlichen aufzubrechen. Weil die Maske die Vereinseitigung mit angebe und niemals vorgebe, das Ideal vollständig zu realisieren, gewinne die Vernunft in ihr selbst erscheinende Wirklichkeit. Damit kompliziere sie das Verhältnis von Sinn und sinnlichem Ausdruck : Sie verberge das, was sie zum Ausdruck bringe, bringe aber zugleich die Verbergung und Verstellung selbst mit zum Ausdruck. In der problematischen Vieldeutigkeit des sinnlichen Ausdrucks zeigt sich symbolisch prägnant die Gebrochenheit des Menschlichen selbst. Im Spiel der Masken wird die Korrelation von Sinn und sinnlichem Ausdruck vieldeutig. Die Maske erlaubt es den Menschen, einen Ausdruck zu spielen. Sie ist nicht nur dieser Ausdruck, sie stellt einen Ausdruck dar. Der Versuch, Menschen endlich ein Leben in Übereinstimmung mit ihrem eigentlichen, bisher ideologisch verdeckten Wesen zu ermöglichen, so Plessner, muss scheitern. Jede neue Aufklärung einer Quelle der Täuschung des Menschen über sein eigentliches Menschsein führe zu einer noch ursprünglicheren Täuschungsquelle. Der fortgesetzte Versuch, hinter allen Masken endlich das wahre Gesicht zu entdecken, verdächtige schließlich jedes Gesicht als Maske. Das wahre Gesicht jedenfalls zeige sich dabei nicht. Die Annahme eines wahren Seins des Menschen, das sich als sein „wahres Gesicht hinter allen Masken“23 entbergen ließe, stellt sich als Fiktion heraus. Je näher sich die Wissenschaften dem Wesen des Menschen glaubten, umso sicherer entziehe es sich ihnen. Durch alle Entzauberungen hindurch erneuere sich das Geheimnis der unergründlichen Vielschichtigkeit des Menschen. Wer ihr bis zur letzten Schicht zu Grunde gehen wollte, hätte eben damit diesen Grund doch immer verfehlt. Um „als das zu erscheinen, was er wirklich ist“24, dürfte der Mensch nicht Mensch sein – ewig suchendes, seine Bestimmung immer wieder verfehlendes, sich selbst nicht genügen könnendes, konstitutiv unruhiges Wesen. Für Plessner war die Maske selbst das wahre Gesicht. Während die Verdachtslogik die Maske als etwas Negatives, als Täuschung und Verstellung bestimmte, war sie für ihn das, was den Menschen erst menschlich machte und seine Würde sicherte. Nur im spielerischen Umgang mit ihren je einzigartigen Möglichkeiten lebendigen Menschseins, einer dem Spiel selbst, und nicht einer seiner Möglichkeiten verpflichteten Verbindlichkeit, finden Menschen zu einer 23 Ebd., S. 118. 24 Ebd., S. 179.

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ihnen gemäßen Lebensführung. Ihr wahres Gesicht zeigt sich nur im lebendigen Spiel der Masken, in dem Verhüllung und Enthüllung als gleichermaßen wesentliche, eben komplementäre Seiten dessen, was Menschsein ausmacht, zur Geltung kommen. „Erscheinung ist ja nicht wie ein Blatt, wie eine Maske zu denken, hinter der das Reale steckt und die man von ihm ablösen kann, sondern sie ist wie das Gesicht, welches verhüllt, indem es enthüllt. In solcher verdeckenden Offenbarung liegt das Spezifische des in der Erscheinung selbst Daseienden – und doch nicht ganz Daseienden, sondern noch Dahinterseienden, des Verborgenen, des Für sich und An sich Seienden.“25 Das Spiel der Masken, so sah es Plessner, erlaubte es, Handeln in der Festlegung auf eine bestimmte Möglichkeit zugleich für andere Möglichkeiten offen zu halten. Es sei diese Paradoxie der Kontinuierung von Unbestimmtheit gerade durch die Entscheidung für eine bestimmte Option, in der die Maske als Figur der Vermittlung Entwicklung offen halte. In einem Handeln unter Vorbehalt blieben die in einer Entscheidung nicht wahrgenommenen Optionen als in veränderten Konstellationen neu zu bedenkende Möglichkeiten präsent. Handeln als Entscheidung zwischen häufig nicht prinzipiell, sondern nur situativ verschiedenen Möglichkeiten ist sich der Ambivalenz jeder getroffenen Entscheidung und der durch sie ausgeschlossenen Möglichkeiten bewusst. Das offensichtliche Beharrungs - und Regenerationsvermögen lebensnotwendiger Täuschungen konterkariert die Aufklärung falschen Bewusstseins. Der falsche Schein der Sinne und normativen Konstruktionen von Sinn übersteht seine ideologiekritische Demontage. Auch wenn sich die verhüllenden Masken der Selbsttäuschung erkennen ließen, lasse sich ihr falscher Gebrauch nicht verhindern. Diese Masken selbst kann der Mensch nicht ablegen. Auch als aufgeklärtes Wesen bleibt er angewiesen auf die Undurchsichtigkeit der Maskierung, mit der er sich selbst und anderen gegenüber ein geheimnisvolles, unergründliches, vielgesichtiges und vielschichtiges Wesen bleibt, das als der Möglichkeit nach ideologisches Wesen alle Entzauberungen und Demaskierungen unbeschadet übersteht.26 Durch die Masken des Selbst bis auf den Grund menschlicher Existenz zu sehen, sei nicht möglich. Gegen ihre ideologiekritische Zerstörung arbeitete Plessner die lebensweltliche Funktionalität der Masken und Schichten als den menschengemäßen Modus der sinnlichen Konstituierung von Wahrheit und Sinn heraus. Durch alle Entzauberungen und Desillusionierungen hindurch erneuere sich der Glaube an einen das eigene Leben übergreifenden Sinn menschlicher Existenz. Nicht das Ende aller Täuschungen wird durch die Stufenfolge der Enttäuschungen vorbereitet, sondern die Einsicht in ihre perspektivische Funktionalität. Der „transzendentale Schein der Ideen, der zu ihrem ideologischen Fehlgebrauch in spekulierender Metaphysik verleitet, die falsche Vorspiegelung nämlich von ihnen entsprechenden Gegenständen, bleibt trotz der kritischen Einsicht in ihre 25 Plessner, Stufen, S. 329. 26 Vgl. Plessner, Nation, S. 139.

Die Maske und das wahre Gesicht des Menschen

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Unhaltbarkeit in Kraft.“27 In der falschen Vorspiegelung einer möglichen Vergegenständlichung der Ideen, eines gegenständlichen Ausdrucks dessen also, was als transzendentaler Schein der Ideen ihre Festlegung auf ihnen entsprechende Gegenstände gerade ausschloss, sah Plessner den Kern spekulativer Metaphysik. Falsch sei lediglich die Annahme, Ideen ließen sich restlos realisieren und zur eindeutigen gegenständlichen Entsprechung in der spiegelbildlichen Verdopplung von sinnhafter Bedeutung und sinnlich - gegenständlicher Verkörperung bringen. Von einer solchen Annahme möglicher symbolischer Prägnanz von Sinn und Sinnlichkeit war Ernst Cassirer in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ ausgegangen. Bei ihm stand die Kategorie der symbolischen Prägnanz für die Funktionalität einer korrelativen Beziehung im Horizont einer Multifunktionalität verschiedener Sinnwelten.28 Mit ihr behauptete er die Möglichkeit der prägnanten Verknüpfung von Sinn und Sinnlichkeit, in der ein sinnliches Erlebnis immer zugleich auch einen bestimmten nicht - anschaulichen Sinn habe. In der Vielzahl möglicher prägnanter Verknüpfungen von Sinn und Sinnlichkeit entfalte sich ein ideeller Zusammenhang von verschiedenen, Sinn und Bedeutung konstituierenden, Funktionen, die sich weder durcheinander ersetzen noch aufeinander zurückführen ließen. Diese seien weder hierarchisch angeordnet noch bildeten sie eine genetische Stufenfolge vom Niederen zum Höheren. Ihr Zusammenhang sei durch den gemeinsamen Bezug auf die funktional sich ausdifferenzierenden Bedürfnisse der Menschen nach gegenständlich - sinnlichem Ausdruck von Sinn vermittelt. Erst durch die symbolische Formgebung differenziere sich das Sein nach geistigen Gebieten, werde es als Gegenstand symbolischer Formung zum gegenständlichen Sein. Diese geistigen Gebiete – Religion, Sprache, Technik, Kunst, Wissenschaft und Mythos – sicherten durch ihnen jeweils eigene Varianten der Bedeutungszuschreibung und Sinnbildung die funktionale Ausdifferenzierung menschlichen Seins zu einer Pluralität von Seinsformen. In der ideologiekritischen Rhetorik der Demaskierung des Universalitätsanspruchs der bürgerlichen Klasse, deren Egoismen hinter der Maske normativer Universalien und allgemeiner Interessen des Gemeinwesens als Verwertungsinteressen des Kapitals sichtbar gemacht werden sollen, hatte Marx die historische Überfälligkeit ihrer nur noch angemaßten gesellschaftlichen Führungsrolle zu begründen versucht. In der Fokussierung seiner Kritik der bürgerlichen Klasse auf die „ideologische Maske, welche ihr wahres Gesicht verbirgt“29, suchte er ihren Führungsanspruch ideologiekritisch zu demontieren. Plessner seinerseits nahm in der Rekonstruktion des Marx’schen Theorieansatzes Elemente der Selbstüberbietungsspirale eines entlarvenden Radikalismus30 wieder auf, die

27 28 29 30

Ebd., S. 138. Vgl. Cassirer, Philosophie, S. 232. Plessner, Nation, S. 141. Vgl. ebd., S. 149.

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er bereits als konzeptionell unbefriedigend im Zusammenhang einer die perspektivische Standortgebundenheit des Menschen anerkennenden Anthropologie zurückgewiesen hatte : die Dichotomie eines verborgenen menschlichen Wesens, das durch den Abbau, die Entbergung und Zersetzung von Schichten, die zwischen dem Menschen und seinem Wesen stehen, erst freigelegt werden müsse ( bei Marx die „Entfremdung der Bewusstseinslage von ihrer menschlichen Substanz“31); die Dichotomie von Maske und wahrem Gesicht bzw. Maskierung und Entlarvung ( bei Marx „die ideologische Maske“ der bürgerlichen Klasse, „welche ihr wahres Gesicht verbirgt“32); die Annahme schließlich, die Verborgenheit des Diesseits der Menschen ließe sich beseitigen und als „Quelle eines falschen Bewusstseins“33 unschädlich machen, wodurch der Mensch nun doch mit der „verborgen treibenden Macht aller bisherigen Geschichte sich selber in den Griff“34 bekommen könne. „Gott, Staat, Vernunft, Gewissen“ waren für Marx „Hypostasierungen des Bewusstseins“35, ideologische Maskierungen des Bürgertums, hinter denen es seine Interessen verbarg. Mit der Ökonomisierung aller Gegensätze und der Zuspitzung der Klassenkämpfe, so seine Überzeugung, würden diese Masken von selbst fallen. Diese Ansicht teilte Plessner nicht. Zum einen sah er in den Demaskierungen die Gefahr eines Abbaus des Bewusstseins „auf eine triebhafte Existenzbasis“.36 Vor allem aber bestand er darauf, dass es ewige Bedürfnisse und Anlagen der menschlichen Natur, die durch den Abbau historischer, symbolischer und ideologischer Schichten erst als deren Wesenskern frei zu legen wären, nicht gibt : Der Mensch ist „kein bloßer Schauspieler [...], der die Szenen der Weltgeschichte in verschiedener Kostümierung und Maske spielt und sich nur abzuschminken braucht, um als das zu erscheinen, was er wirklich ist“, sondern er ist „die Aufführung selber“.37 Auch die Idee vom Menschen sei das Ergebnis geschichtlicher Kämpfe, ihre Widerlegung oder Bestätigung abhängig vom Ausgang dieser Kämpfe.38

3. Zur lebensweltlichen Funktionalität der Selbsttäuschung Einen radikalen Ideologieverdacht gegenüber universellen Werten hatte Plessner damit beantwortet, die Ideologie selbst als anthropologische Universalie mit der Vernunft konzeptionell zu verklammern. Dabei stellte er das übliche Verständnis der Ideologie als falsches Bewusstsein gar nicht in Frage. Anstatt sich jedoch ideologiekritisch daran abzuarbeiten, Verkehrungen und Täuschungen 31 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 141. Ebd., S. 145. Ebd., S. 143. Ebd., S. 141. Ebd., S. 160. Ebd., S. 178 f. Vgl. ebd., S. 179.

Zur lebensweltlichen Funktionalität der Selbsttäuschung

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des Bewusstseins in der Absicht vorzuführen, Menschen über diese Verkehrungsmechanismen aufzuklären, um sie auf ein Leben einzustimmen, das ohne solche Verkehrungen auskomme, stellte er die lebensweltliche Funktionalität solcher Täuschungen heraus. Diese Annahme einer lebensweltlichen Komplementarität von Vernunft und Ideologie unterscheidet Plessners Konzept grundlegend von klassischer Ideologiekritik. Zwar teilte er die durch Marx vollzogene materialistische Wende der Ideologiekritik, die Ideologie nicht mehr als eigenständiges Bewusstseinsphänomen sah, sondern ihre Entstehung und Funktionalität aus den natürlichen und gesellschaftlichen Lebensverhältnissen der Menschen ableitete. Dessen Vision einer von Ideologie freien Welt, die ohne Täuschungen und Verkehrungen auskomme, da sie sich im vollen Bewusstsein der Realität und aufgeklärt über deren Funktionsweise der Faktizität des Tatsächlichen stelle, wies er jedoch als konzeptionell kurzsichtig und Einladung zu totalitärer Kontrolle des Lebens zurück. Für Plessner war die Fähigkeit zu konstitutiver Selbsttäuschung durch lebensnotwendige Illusionen unverzichtbare Bedingung eines menschengemäßen Lebens. Zu diesen Bedingungen gehörte für ihn die Annahme, es sei möglich, sein Leben verantwortlich im Horizont einer universellen Werteordnung zu führen. In einer Gegenbewegung zur ideologiekritischen „Selbstzerstörung der Vernunft“ versuchte er, der Vernunftphilosophie die durch eine überzogene Ideologiekritik erschütterten Grundlagen wiederzugewinnen. Was Menschen „heilig“, und das heißt, auch nach seiner Problematisierung als wissenschaftlich fragwürdiger Halt ihrer Existenz unverzichtbar sei, müssten sie selbst entscheiden. In dieser Entscheidung sollten sie sich durch den natur wissenschaftlichen oder ideologiekritischen Nachweis der illusionären Gründung des für sie aus existentiellen Gründen Unverzichtbaren nicht beirren lassen. Plessners philosophische Anthropologie bestimmte den Menschen als „offen gegen unendliche Möglichkeiten, die nur aus sich selber zu verstehen sind“.39 Diese These spielte an auf Max Webers Diktum, „dass das Leben, solange es in sich beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur [...] die Unvereinbarkeit und Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben kennt, die Notwendigkeit also : zwischen ihnen sich zu entscheiden“.40 Jene letzte, schicksalhafte Entscheidung könne den Menschen nicht erspart, sie könne ihnen auch von der Wissenschaft nicht abgenommen werden. Sie aus der Hand zu geben, wäre gleich bedeutend mit dem Verlust menschlicher Würde, durch die der Mensch einer Existenz als Treibgut „in einem uferlosen Meer des Seins“41 und damit seiner Selbstaufgabe zustimmen würde. Die Annahme einer diesseitigen Vernunftnatur des Menschen, die ihn aus eigener Kraft zu einem Leben in Freiheit befähigen würde, war nach der ideologiekritischen „Selbstzerstörung der Vernunft“ einem biologischen Natura39 Ebd., S. 206. 40 Ebd., S. 206 f. 41 Ebd., S. 206.

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lismus gewichen, der den naturgesetzlichen Weltlauf an die Stelle der Freiheit gesetzt hatte. Nach dem ideologiekritischen Abbau empirisch nicht begründbarer spekulativer Gründungen der Vernunft wurde das Wesen des Menschen biologisch bestimmt. Während die Vernunftphilosophie Menschen die Fähigkeit zu individueller Selbstvervollkommnung in einem ihr Leben umgreifenden Sinnhorizont zugestand, führte die Unterstellung einer durch Blut und Erde symbolisierten naturhaften und vorgeschichtlichen Existenz des Menschen zur Fokussierung auf die Verbesserung seiner biologischen Natur.42 Der emanzipatorische Anspruch der Aufklärung wurde durch die Entwertung der Konzepte, von denen dieser Anspruch ursprünglich motiviert und getragen war, scheinbar ad absurdum geführt. Mit der ideologiekritischen Infragestellung ihrer emanzipatorischen Grundprinzipien wurde die Aufklärung selbstzerstörerisch. Der universelle Geltungsanspruch der Vernunft und der mit ihm korrespondierenden Gesellschaftskonzepte galt nun nicht mehr als visionärer Vorschein einer besseren Gesellschaft, sondern stand selbst unter Ideologieund Totalitarismusverdacht. Dem Rigorismus der Vernunftprinzipien, der den lebensweltlichen Kompromissen und Aushandlungsprozessen verständnislos gegenüberstand, folgte in der Selbstdemontage ihrer normativen Grundlagen die Kritik dieser Prinzipien selbst. Ein um lebensweltliche Zusammenhänge unbekümmerter Rigorismus absoluter Prinzipien hatte die fragile Balance lebensnotwendiger Kompromisse und gegenseitiger Rücksichten zerstört. Durch die rückhaltlose Aufklärung aller fragwürdigen Gewissheiten und künstlichen Sicherungen sollte menschliches Leben von wissenschaftlich nicht haltbaren Illusionen befreit werden. Diese kompromisslose Desillusionierung drohte mit der Zerstörung des komplexen Gewebes von Sinnkonstruktionen den Zauber menschlichen Lebens selbst als Täuschung zu entlarven. An die Stelle der lebensweltlich funktionalen Täuschungen trat die Ernüchterung. Dagegen argumentierte Plessner, dass über die Täuschung ihrer Sinne und die Fragwürdigkeit ihrer Sinnkonstruktionen aufgeklärte Menschen die Souveränität aufzubringen hätten, sich auch gegen die kritische Instanz einer aus wissenschaftlicher Rationalität argumentierenden Vernunft zur lebensweltlichen Funktionalität sinnlicher und sinnhafter Einbildungskraft zu bekennen. Gegen eine verselbstständigte wissenschaftliche Rationalität als letztinstanzlicher innerweltlicher Autorität müsse die Wissenschaft wieder in die Komplexität menschlicher Lebenszusammenhänge eingebunden werden. Die selbstreflexive Wendung der Aufklärung problematisiert ihre soziokulturellen Einbindungen und Konsequenzen, ohne damit ihre eigenen normativen Grundlagen in Frage zu stellen. Die nur hypothetisch vorstellbare methodische Selbstbeschränkung der Vernunft auf das wissenschaftlich Begründbare würde in der Konsequenz das emanzipatorische Projekt menschlicher Selbstverwirklichung und Selbstgesetzgebung als emphatische Übertreibung spekulativer praktischer Vernunft diskreditieren. Die aufklärerische Idee, dass Menschen in 42 Vgl. ebd., S. 133.

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der Anerkennung und analytisch scharfen Konturierung ihrer nicht aufkündbaren biologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Einbindungen und Grenzen dennoch über sich und diese Grenzen hinauswachsen können, wäre damit aufgegeben. Gegen die mögliche Selbstzerstörung der Aufklärung durch die ideologiekritische Infragestellung ihrer Grundlagen setzte Plessner die lebensweltliche Funktionalität notwendiger Selbsttäuschungen von Verstand und Vernunft. Damit bekräftigte er den Anspruch mündiger Bürger zu eigenverantwortlicher Lebensführung. Zwar folgen die Wissenschaften dem Impuls der Aufklärung, den lebensweltlichen Horizont des Menschen systematisch zu erweitern und seine Stellung in der Welt wissenschaftlich aufzuklären. Zugleich entfalten sie jedoch eine Eigendynamik, die in der sachlichen Orientierung an der Objektivität ihrer Gegenstände die Grenzen des menschlichen Bedürfnisses nach einem erfahrbaren Sinn ihres Lebens durch immer komplexer werdende Vermittlungen dieses Bedürfnisses erweitert, seine Befriedigung aufschiebt und sinnfreie sowie den Sinnen unmittelbar nicht zugängliche Bereiche von Wirklichkeit konstituiert. Die ideologiekritische Zerstörung aller durch die Vernunft emphatisch in Anspruch genommenen universellen Geltungsgründe machte auch vor der letzten Autorität, in deren Namen die Zersetzung vorangetrieben wurde, nicht halt. Auch die Aufklärung selbst wurde schließlich eben der Kritik ausgesetzt, die sie selbst initiiert und geführt hatte. Am Ende dieses Prozesses stand die Einsicht in die welterschließende und lebensermöglichende Funktionalität notwendiger sinnlicher und sinnhafter Selbsttäuschungen. Auch im aufgeklärten Zeitalter muss Raum sein für die naive Weltsicht des unmittelbaren Augenscheins und die intuitive Mitmenschlichkeit moralischer Zuschreibungen. Menschen müssen ihren Sinnen auch dann noch trauen können, wenn sie durch die Wissenschaften eines Besseren belehrt werden. Sie sollten auch dann noch die Möglichkeit eines von moralischen Prinzipien geleiteten, auf Gegenseitigkeit gegründeten Miteinanders unterstellen können, wenn praktizierte Inhumanität solche moralischen Intuitionen faktisch außer Kraft gesetzt zu haben scheint. Moralische Intuitionen mitmenschlicher Fürsorge, Mitleid und Anteilnahme am Schicksal des Anderen müssen nicht im Gegensatz zur Verfolgung eigener Interessen stehen. Die lebensweltliche Gründung von Moral zielt nicht auf eine von Eigeninteressen freie Moral. Als Apparatur der Selbsttäuschung hat das Bewusstsein, haben die Verstandeskategorien die Funktion, dem Menschen die Welt in einer kategoriellen Ordnung zu präsentieren, die ihm die Verlässlichkeit seiner Sinne bestätigt.43 Die symbolische Ordnung der Sinne eröffnet dem Menschen ein Leben, das ihn zwar auch die Grenzen seiner Möglichkeiten erfahren lässt, ohne ihn dabei jedoch als defizitäres Mängelwesen zu demontieren. Ihr liegt die Einsicht in die lebensweltliche Funktionalität sinnlicher Wahrnehmungen und menschlicher Imaginationen von Sinn zugrunde. Es sind ihre Begriffe, die die Gegenstände 43 Vgl. ebd., S. 135.

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erst nach menschlichem Maß konfigurieren. Die wissenschaftliche Einsicht in die Mechanismen ihrer Konstituierung hebt entgegengesetzte sinnliche Eindrücke ebensowenig auf wie sie die kontrafaktische Annahme einer sinnhaften Verfassung der Welt als empirisch nicht begründbar erledigt. In der Aufklärung der wahren Verhältnisse der Wirklichkeit erneuert sich deren für menschliches Wirklichkeitsverständnis konstitutive Verkehrung. Die objektive Wahrheit der Verhältnisse steht der Wahrheit der Menschen in diesen Verhältnissen entgegen. Nur in einer sinnlich und sinnhaft verkehrten Welt ist der Mensch bei sich. In seinen sinnlich - geistigen Weltbezügen erschließt er sich eine Welt, die es so ohne ihn nicht geben würde, und die eben deshalb ohne das sinnlich - sinnhafte Raster menschlicher Aneignung von Welt in der hypothetischen Unterstellung einer Welt ohne den Menschen auch ganz anders aussehen würde. Auch die Annahme einer unabhängig von menschlichen Eingriffen objektiv existierenden Welt ist Ausdruck menschlicher Bestrebungen, sich diese Welt in ihrer ganzen Vielfalt anzueignen. Die Einnahme einer distanzierten Beobachterperspektive setzt die Zugehörigkeit zu den Bedingungen voraus, die eine solche Perspektive erst ermöglichen. Diese Argumentation operiert mit Kants Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Verstandeskategorien beziehen ihre Plausibilität aus ihrer methodischen Funktionalität selbst. Ihre Berechtigung gründet in ihrem Vermögen, das Bewusstsein konstitutiv zu täuschen. Diese Täuschung ist in doppeltem Sinne eine Selbsttäuschung : Sie geht aus vom Selbst und sie zielt auf das Selbst. Menschen sind auf die Verlässlichkeit dieser Täuschungen angewiesen, um ihr Leben in der Ordnung der Dinge und im Horizont sinnhafter Bedeutungen zu halten. Verlässlich aber sind diese Täuschungen nur dann, wenn sie nicht als solche durchschaubar sind. Ihre Funktion muss „dem Bewusstsein des Menschen [...] undurchsichtig und verhüllt“44 bleiben. Erst die konstitutive Täuschung über seinen Ort in der Welt stellt den Menschen in einen Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Nur dann kann er etwas mit der Wirklichkeit anfangen, wenn er davon überzeugt ist, dass diese Wirklichkeit selbst etwas mit ihm anzufangen weiß. Ihm eben diese Überzeugung zu vermitteln, ist die Funktion der Verstandeskategorien. Der Sinnzusammenhang, in den sie ihr Leben stellen, die Ordnung ihrer Sinne, der sich die Welt fügt – dieser Anschein einer anthropozentrischen Ordnung der Wirklichkeit soll ihnen durch diese Wirklichkeit selbst vorgespiegelt werden. Sinnlicher Augenschein und sinnhafte Gewissheit sollen sich als verlässliche Intuitionen lebensweltlicher Orientierung durch ihre kategoriellen Vermittlungen behaupten, die deshalb in dieser Funktion der Konstituierung eines bestimmten Welt - und Selbstverhältnisses unkenntlich bleiben müssen. Der Schein unmittelbarer sinnlicher Gewissheit ebenso wie die intuitive falsche Sicherheit fragloser Zugehörigkeit zu einer menschlicher Bedürftigkeit korrespondierenden Wirklichkeit sind lebensnotwendig. Ohne ihn glaubte sich das Bewusstsein „nicht im Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Wirklichkeitsbewusstsein ist nur möglich kraft verdeckter oder unbewusster, d. h. in der Funk44 Ebd., S. 147.

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tion selbst sich erschöpfender Kategorien. Seine Bestimmung, sein Sinn, sein inneres Wesen macht ein verkehrtes Bewusstsein notwendig.“45 Im Bewusstsein der Wirklichkeit setzt sich das Bewusstsein selbst in einen Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Es ist Teil der Wirklichkeit, die es als menschliche Wirklichkeit erst konstituiert, in dem es die Welt der Erscheinungen in die Ordnung der Sinne bringt und als Ordnung der Dinge ausgibt. Diese offensichtlich „falsche Einschätzung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Begriff“ ist nach Kant Bedingung und Konsequenz der Funktionalität der Verstandesbegriffe und erfolgt eben „um der Wirklichkeit willen“.46 Auch wenn dieser Mechanismus der Selbsttäuschung durchschaut ist, behält er doch als Bewusstseinsstil Geltung. „Doppelt täuscht sich das Bewusstsein : es nimmt seine Objektivierungen für gegebene Größen, und es nimmt ihren Weltverband für den einzig möglichen.“47 Für diese nicht mehr in einer religiösen Heilsordnung gegründete, sondern in seiner sinnlichen und sinnhaften Diesseitigkeit lebensweltlich plausibel agierende Selbsttäuschungsapparatur des Bewusstseins prägte Plessner den Begriff des „dem Bewusstsein verborgenen Diesseits“.48 Der Anspruch auf uneingeschränkte Souveränität in einer sich ihnen als Gestaltungsraum präsentierenden Welt lässt Menschen dazu neigen, sich über die vernünftigen Grenzen ihres Impulses zur Bemächtigung von Welt hinweg zu setzen. Mit dieser Hybris setzen sie ihre gleichermaßen fraglose wie problematische Zugehörigkeit zu einem ihr Leben Umgreifenden und ihren Willen zur Bemächtigung Übersteigenden aufs Spiel. Symbol der problematischen, jedoch nicht aufkündbaren, lebensweltlichen Funktionalität sinnlicher und sinnhafter Selbsttäuschungen war für Plessner die Ideologie. Diese auch nach ihrer Aufklärung fortbestehenden Selbsttäuschungen waren für ihn die Bedingung dafür, die fragile lebensweltliche Balance zwischen problematischen Unterstellungen menschlicher Lebensführung und der intuitiven Annahme ihrer unproblematischen Selbstverständlichkeit immer wieder aufs Neue herstellen und halten zu können. In Plessners anthropologischem Verständnis ist Ideologie nicht „durch geschichtliche Entwicklung und menschlichen Eingriff korrigierbar“49, sondern als historisches Schicksalsverhältnis50 auf Dauer gestellt. Im Nachweis menschlicher Denkformen und Haltungen als Ideologie sah er deshalb keine Abwertung. Die „innere Wahrheit und Wahrhaftigkeit“, insbesondere aber die Funktionalität solcher als Ideologie entlarvten „Werte und Güter“51 blieb für ihn auch nach ihrer ideologiekritischen Aufklärung unbestritten als Bedingung der Konstituierung menschlicher Welt - und Selbstverhältnisse. Im Zusammenhang des Lebendigen erfährt sich der Mensch als Teil eines Kreislaufs, der ihn aus der Mitte der natürlichen Zentralposition nimmt und zur 45 46 47 48 49 50 51

Ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 154. Ebd., S. 159. Ebd., S. 154. Ebd., S. 223. Plessner, Schicksal, S. 186.

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konstruktiven Erneuerung seiner sich nicht mehr von selbst verstehenden Mittelpunktsposition zwingt. Seine anthropologischen Konstruktionen reagieren auf die vielfältigen Erfahrungen seiner Dezentrierung mit der Erneuerung seiner Zentralposition im Bewusstsein ihrer Gefährdung. Der Mensch lebt nur, „wenn er ein Leben führt, [...] das er zufällig als dieses, nicht als ein anderes Leben führt [...] weil nur das für ihn schon so ist, was er dazu erst macht“.52 Entscheidend war für Plessner, dass die Ideologie eine „Stelle im Funktionszusammenhang des Lebens“53 besetzte, die durch keine andere Formation menschlichen Seins oder Bewusstseins ausgefüllt werden konnte. Die Selbsttäuschung des Bewusstseins war lebenswichtig, der Ersatz durch kein Original ersetzbar. Durch die Dysfunktionalisierung ihrer sinnlichen und sinnhaften Formen hindurch erneuerte sich der lebensweltliche Geltungsanspruch der Vernunft. Immer wieder füllen sich die „funktionslos gewordenen Formen und Haltungen [...] mit neuem Gehalt und werden wieder funktionskräftig“.54 Als Modi der Funktionalität von Ideologie benennt Plessner Gläubigkeit, Bedürfnisse, Gewohnheiten des Wertens, Vorurteile55 – Modi, die funktionskräftig genug seien, ihre Aufklärung als falsches Bewusstsein zu überstehen. In seinem Objektivitätsanspruch sei das Bewusstsein notwendig falsches Bewusstsein, dessen Verortung im „Nirgendwo“56 es empfänglich für Bindungsangebote mache. Die Bemächtigung des Menschen nicht Verfügbaren sieht dieses als „bloßen der Herrschaft der Person unter worfenen Stoff“.57 In seiner Selbstermächtigung zur Verfügung über das nicht Verfügbare wird das Bewusstsein zur Seinsmacht. Die Ideologie wird zur Wirklichkeit, die das Bewusstsein der Menschen ergreift, indem es sie dazu ermächtigt, auch die Grenzen des ihnen nicht Verfügbaren noch zu überschreiten. Als grundlegenden Verkehrungsmechanismus bestimmte Plessner die kategoriale Formgebung des Bewusstseins, durch die dem Menschen eine Objektivität seiner spezifischen Weltsicht suggeriert wurde, „als sei sein Stil der einzig mögliche“.58 Mit dem Ideologieverdacht gegen die Objektivität wurde das menschliche Bewusstsein selbst in seiner Funktion kategorialer Formgebung als allgemeiner Mechanismus der Ideologieproduktion identifiziert. Eine solche totale Ideologiekritik, die sich „gegen das Bewusstsein“ selbst richtete, war „nur von der bewusstlosen Natur aus möglich“.59 Vom Standpunkt einer rigorosen Entgegensetzung von Natur und Kultur, von Sein ( Welt, Realität ) und Bewusstsein ist dieser Rückgang auf ein naturgegebenes menschliches Sein konsequent. Steht die Kultur für einen Bruch mit der Natur, ohne naturgegebene Vorausset52 53 54 55 56 57 58 59

Plessner, Macht, S. 200. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Plessner, Nation, S. 154 f. Plessner, Stufen, S. 334. Plessner, Nation, S. 155 Ebd., S. 158.

Zur lebensweltlichen Funktionalität der Selbsttäuschung

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zungen kultureller Sozialisation in Rechnung zu stellen, so wird eine naturalistische Ideologiekritik zwingend zur Kultur - und Zivilisationskritik. Diese Kritik zielt auf die normativen Prinzipien der Formierung von Geschichte, die als naturhaftes Sein von allen kulturellen Schranken und moralischen Normen entbunden werden soll. Selbst dann, wenn sich Menschen das in ihrem Leben fraglos Selbstverständliche als Scheinwelt eines falschen Bewusstseins enthüllt, steht ihnen keine andere als diese mit ihrer sinnlichen Erfahrung übereinstimmende Lebenswelt zur Verfügung. Die wissenschaftliche Aufklärung dieser Scheinwelt stellt sie vor die Wahl, die Entzauberung ihrer Existenz zu akzeptieren oder aber sich der drohenden Ernüchterung und Desillusionierung ihres auf illusionären Annahmen und Selbsttäuschungen gegründeten Lebens bewusst zu ver weigern. In metaphorischen Umschreibungen einer über sich selbst und ihre Konsequenzen aufgeklärten Aufklärung – der bewussten Verklärung des wissenschaftlich Aufgeklärten, der erneuten Verzauberung des bereits Entzauberten, dem Verbergen des schon Entborgenen – stellte Plessner klar, dass das Projekt der Aufklärung mit der universellen „Logik des Verdachts“ nicht zu Ende sein konnte. Die ideologiekritische Demontage aller außer - und innerweltlichen Autoritäten der Vernunft beantwortete er mit dem Bekenntnis zur lebensweltlichen Funktionalität der sinnlichen und sinnhaften Einbildungskraft des Menschen. Die sinnliche Ordnung der Welt der Erscheinungen ist nicht die Ordnung der Dinge, und dennoch ist sie die einzige Ordnung, in die sich die Dinge aus menschlicher Sicht bringen lassen, was auch heißt : in der sie als menschliche Dinge sichtbar werden. Erscheinungen sind immer Erscheinungen von etwas, das selbst nicht direkt erscheint. Sie sind wirklich in der perspektivischen Brechung dessen, das in ihnen erscheint. Diese sinnlichen und sinnhaften Ordnungen von Welt sind selbst im Fluss und können im Blick „auf die grundsätzliche Bezweifelbarkeit“60, „Unergründlichkeit und Unsicherheit“61 menschlichen Seins immer nur vorläufig sein. Auch menschliches Urteilsvermögen ist keine unveränderliche Konstante in einer ansonsten variablen Welt.62 Erst im Wechselspiel von begriff licher Ordnung und sinnlicher Wahrnehmung wird Wirklichkeit zur menschlichen Wirklichkeit, in der Menschen sich selbst als lebens - , leidens - und genussfähig erfahren. Die Annahme einer passiven, rein rezeptiven Aufnahme von Welt in das Bewusstsein würde die sinnlichen Voraussetzungen einer solchen Rezeption verfehlen. Nur als Teil der Wirklichkeit hat der Mensch die Möglichkeit, sich in ihrer Konstituierung nach menschlichem Maß in allen Seinsdimensionen zu erfahren, zu betätigen und auszudrücken. In der Wirklichkeit, die Menschen auf diese Weise für sich begriff lich - sinnlich aufschließen, erschließt sich erst ihr wirkliches menschliches Sein. Im sich immer stärker ausdifferenzierenden Wissen um die von Menschen unabhängigen Eigengesetzlichkeiten von Welt konstituiert sich diese Welt erst 60 Plessner, Conditio humana, S. 43. 61 Ebd., S. 51. 62 Vgl. ebd., S. 44.

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als menschliche Ordnung der Dinge. Die unabhängig von ihnen existierende Wirklichkeit wird erst durch ihre an menschlichen Bedürfnissen und Zwecken orientierte Aneignung zur menschlichen Wirklichkeit. Diese Welt lässt sich jedoch nur zum Schaden für den Menschen selbst zum Material ihrer Bemächtigung für menschliche Interessen verengen. Um sich in einer lebbaren Balance von Welt - und Selbstverhältnissen zu halten, müssen die Menschen Grenzen des ihnen Verfügbaren anerkennen. Deren anthropozentrische Überschreitung würde mit dieser Balance menschliche Existenz selbst in Frage stellen. In der Ideologie sah Plessner ein kulturell ausdifferenziertes funktionales Element moderner Gesellschaften, auf das diese nicht verzichten könnten, ohne damit zugleich ihre Lebensgrundlagen zu gefährden. Weder sei es wünschenswert noch aussichtsreich, diese Elemente ideologiekritisch zu zerstören und dem Bewusstsein damit seinen Zusammenhang mit der Wirklichkeit und die mögliche Annahme eines Sinns menschlicher Existenz zu bestreiten. Weder ist das verkehrte Bewusstsein der Ideologie lediglich die Konsequenz von Täuschungen, denen ein aufgeklärtes Bewusstsein mit der souveränen Verachtung des autonomen Subjekts begegnen kann, das weiß, worauf es ankommt und was zu tun ist. Noch führt die ideologiekritische Zerstörung von Autoritäten der Fremdbestimmung auf direktem Weg in ein „Reich der Freiheit“, in dem sich die Subjekte aus allen autoritären Bindungen befreit haben, um in freier Entscheidung ihr Leben selbst zu bestimmen. Die ideologiekritische Aufklärung von Täuschungen des Bewusstseins setzte Verschiebungen und Ersatzbildungen in Gang, die mit der Ausbildung neuer Mythen und Verkehrungen den Zusammenbruch der lebensweltlichen Funktionalität dieser Täuschungen verhinderten. Die Aufklärung wurde schließlich selbst in jene Dialektik der Verkehrung hineingezogen, gegen deren ideologische Effekte sie angetreten war. Zugleich erweiterte sich in diesem Prozess jedoch auch ihr Horizont gegenüber den eigenen normativen Setzungen. Nicht nur die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung, auch die Fähigkeit zu konstitutiver Selbsttäuschung zeichnet das Subjekt der Moderne aus, das sich der normativen Ambivalenzen des eigenen Wertehorizontes bewusst ist. Zunehmend aufgeklärt über die illusorische Gründung ihrer normativen Prinzipien, entzieht sich die Aufklärung in der ideologiekritischen Selbstzerstörung dieser Prinzipien die Grundlagen ihres eigenen Geltungsanspruchs. Der prozedurale Rigorismus des ideologiekritischen Generalverdachts gegen den Universalismus der Vernunft hatte Schritt für Schritt die utopischen Elemente eines Gesellschaftsmodells aufgegeben, das sich doch gerade dadurch ausgezeichnet hatte, nicht lediglich bereits laufende Entwicklungen in die Zukunft zu verlängern oder kritisch zu konterkarieren, sondern ein Neues, Anderes als möglich zu entwerfen. Reduziert auf das negative Prinzip der Desillusionierung wird die Aufklärung als Gegenaufklärung zum Nihilismus der Vernunft. Eine vernunftfeindliche, nihilistische Politik der Aufkündigung auf dem Prinzip der Universalität gegründeter Normen und Regeln menschlichen Zusammenlebens zog lediglich die politische Konsequenz aus der Selbstzerstörung der Aufklärung.

Politik und Moral : Moralisches Handeln unter Ideologieverdacht

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4. Politik und Moral : Moralisches Handeln unter Ideologieverdacht Kants Unterscheidung von Vernunft und Verstand und die an sie anschließende Differenzierung sinnhafter und sinnlicher Ausdrucks - und Spielformen menschlicher Welt - und Selbstverhältnisse, die Menschen in der Aneignung von Welt und der Ausbildung eines Selbst entwickeln, waren der Ausgangspunkt von Plessners Überlegungen zur Ideologie. Während die Vernunft die Existenz „metaphysischer Gegenstände“ vorspiegele, konstruiere der Verstand eine „geordnete Objektivität“63 der Erscheinungen. Dabei gibt es weder diese Gegenstände noch jene unterstellte objektive Ordnung der Erscheinungen. Allerdings gibt es auch keine Erscheinungen neben oder außerhalb ihrer objektiven Ordnung. Die kategoriale Fokussierung der Sinne stellt die Erscheinungen in eine objektive Ordnung, durch die uns diese erst verständlich werden. Und erst die Unterstellung einer sinnhaften Ordnung erlaubt es uns, einen über unseren Tod hinausweisenden Sinn menschlichen Lebens anzunehmen. Die Wirklichkeit der geordneten Objektivität der Erscheinungen wird durch die Funktionalität der Sinnesorgane bezeugt. Die Wirklichkeit von Sinn, also von „Rationalität, Humanität, Universalität“64, wird durch die antinomischen „Trugbilder der Moral“, also die metaphysische Annahme einer gegenständlichen Existenz von Gott, Freiheit und Vernunft unterstützt. Auch für Gott, Freiheit, Unsterblichkeit und Sinn als den metaphysischen Gegenständen der Vernunft gilt, dass erst die Unterstellung ihrer möglichen Existenz sie als intuitiv plausible Annahmen in den menschlichen Sinnhorizont einrückt. Sie erscheinen dann als Motive, Ängste, Hoffnungen, Bedenken, Sicherheiten und Verunsicherungen von Menschen, die mit ihrer Hilfe einen außeralltäglichen Verweisungshorizont ihres Lebens aufbauen. Dieser Horizont soll sichern, dass Menschen sich nicht nur in der Entscheidung für ihr Leben sehen, sondern dass sie sich auch verantwortlich entscheiden können. In ihrer Funktion der fiktiven Setzung eines umgreifenden Sinnzusammenhangs auf der einen und der Konstruktion einer objektiven Ordnung der Erscheinungen auf der anderen Seite bleiben diese Konstruktionen auch nach ihrer Entlarvung als funktionaler Schein wirksam. Über sich selbst aufgeklärte Menschen, die gerade deshalb ihren Sinnen und moralischen Intuitionen vertrauen, bekennen sich zu den funktionalen Täuschungen der Sinne ebenso wie zur ethischen Fiktionalität normativer Universalien. Sie kommen ohne die Illusion aus, auf diesen universellen Werten ließe sich eine vollkommene Ordnung der Welt begründen, widerstehen aber auch der gegenteiligen Suggestion eines aufgeklärten Pragmatismus, eine lebensfähige gesellschaftliche Ordnung sei nur um den Preis einer radikalen Verabschiedung jeglicher wissenschaftlich nicht haltbarer Fiktionen zu haben. Plessners Anthropologie mutet Menschen die Ungewissheit nur durch sie selbst zu klären63 Plessner, Nation, S. 147. 64 Ebd., S. 162.

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der problematischer Konstellationen zu, die nach ihrer Entscheidung verlangen. Sie besteht darauf, dass Menschen auch dann für ihr Leben verantwortlich sind, wenn die ihnen nicht verfügbaren Bestimmungsgründe dieses Lebens das, was von ihnen tatsächlich zu beeinflussen ist, weit übersteigen. Wenn die Plausibilität nichtgegenständlicher Sinnkonstruktionen an die Bedingung ihrer sinnlichen Vergegenständlichung gebunden ist, so ist die Unterstellung einer möglichen Existenz, genauer : einer existentiell nachdrücklichen Präsenz der mit Gott, Freiheit und Vernunft assoziierten Ängste, Werte und Erwartungen auch dann gerechtfertigt, wenn diese Existenzunterstellung fiktiv ist. Wenn die regulative Funktionalität normativer Universalien für moralisches Handeln auf der Annahme ihrer lebensweltlichen Existenz beruht, dann müssen wir von diesen Universalien eben so reden, als ob sie tatsächlich in der Lebenswelt der Menschen präsent wären, um plausibel machen zu können, dass sie menschliches Handeln prägen. An der Verführungskraft der spekulativen Ideen ändert sich durch den ideologiekritischen Nachweis der kontrafaktischen Unterstellung gegenständlicher Entsprechungen dieser Ideen nichts. Mit Kant erinnert Plessner an die „Doppelrolle der im Wesen praktischen Vernunft“.65 Was sich als theoretisch nicht haltbar erweist, muss deshalb nicht auch seine praktisch konstitutive Bedeutung verlieren. Theoretische und praktische Vernunft stehen in keinem Ableitungszusammenhang, sondern bezeichnen eigenständige Bereiche des methodisch regulativen und praktisch - konstitutiven Vernunftgebrauchs. Es ist ihre im Praktischen konstitutive, nicht nur methodische Bedeutung, die den Menschen beständig „zu ontologischen Aussagen über Gott, die Freiheit und die Unsterblichkeit“66 verführt. Spekulative Ideen zur Unterstützung praktischer Vernunft werden in einem sinnlich erfahrbaren, lebensweltlichen Handlungsrahmen moralisch wirksam, als ob sie tatsächlich existieren würden. Erst das „Als Ob“ gegenständlich - sinnlicher Verkörperung eines transzendenten Sinns menschlicher Existenz, die Existenzbehauptung also von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, macht es Menschen möglich, sich selbst in ihrer sinnlich - leiblichen Existenz jene spekulativen Konstruktionen als Prädikate zuzuschreiben. In ihrem endlichen diesseitigen Leben wird ihnen die symbolische Grenzüberschreitung als Möglichkeit eröffnet, über sich selbst hinauszugehen, ohne dazu ein Jenseits ihrer selbst imaginieren zu müssen. Als sterbliche, endliche Wesen sehen sie sich in einem ihre diesseitige Existenz umgreifenden Zusammenhang des Unendlichen. In seiner klassischen Studie zur „Philosophie des Als Ob“ hatte Hans Vaihinger, Gründer der Kant - Studien (1896) und der Kant - Gesellschaft (1904), die Stimmigkeit theoretischer, praktischer und religiöser Fiktionen im menschlichen Lebensprozess untersucht. Ohne dass ihm etwas in der Wirklichkeit entsprechen würde, sei etwa der Freiheitsbegriff dennoch eine für die praktische Ent65 Ebd., S. 138. 66 Ebd.

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wicklung der Menschheit notwendige ethische Fiktion.67 Das gleiche gelte für die praktischen Fiktionen der idealen Zurechnungsfähigkeit und der absoluten Willensfreiheit oder die Forderung, Gutes um seiner selbst willen zu tun.68 Auch wenn das Imaginäre des Idealen unwirklich sei, sei es doch das Wertvollste. Die Unterstellung, dass Freiheit möglich und Vollkommenheit erreichbar ist, ist für ein Leben am Maßstab universeller Werte unverzichtbar. Diese Unterstellungen funktionieren als lebensweltliche Motive für das Verfolgen dessen, was sich Menschen zu erreichen vorgenommen haben, ohne es vielleicht je erreichen zu können. Perspektivische Fälschungen der Welt als Unterstellung einer auf den Menschen bezogenen Verfassung der Welt sind zum Leben unverzichtbar.69 Die kontrafaktische Annahme, Menschen könnten frei von äußeren und inneren Zwängen handeln, verpflichtet nur ihren moralischen Intuitionen und eingeschränkt lediglich durch die Grenzen ihrer Vermögen und Fähigkeiten, das, was sie sich vorgenommen haben, auch tatsächlich in die Tat umzusetzen, unterstellt die Möglichkeit von Freiheit sowie die Annahme, menschliches Handeln stünde unter der Supervision eines Gottes und seiner moralischen. Gesetze. Der Verzicht auf solche Konstruktionen von Sinn im Rückzug auf das persönliche Bekenntnis zu einer „allen Relativierungen entzogenen zeitlosen rationalen Basis des Menschseins“70, so Plessners pointierte These, sei jedoch keineswegs die Lösung dieses vermeintlichen Dilemmas kontrafaktischer Unterstellungen und Selbsttäuschungen, sondern nicht mehr als eine Verlegenheit, die vor dem theoretischen Problem der Begründung und dem praktischen der Bewährung von Sinn kapituliere. Wie würden Menschen leben, wenn sie ein Leben frei von innerer Zensur und äußeren Zwängen führen könnten ? Wie verändert sich Leben, das im Bewusstsein der Bewährung vor einer göttlichen Instanz geführt wird ? Und wie würden Menschen handeln, wenn sie ausschließlich von Vernunftgründen geleitet nur dem Gemeinwohl und der eigenen moralischen Selbstvervollkommnung verpflichtet wären ? Wie wahrscheinlich ist es, dass Menschen sich in ihrem alltäglichen Leben von moralischen Überlegungen leiten lassen ? Und wodurch entscheidet sich die lebensweltliche Prägekraft moralischer Erwägungen ? Welche Überlebenschance hat Humanität in unmenschlichen Verhältnissen, die mitmenschliche Anteilnahme am Schicksal des Anderen zum Nachteil im sozialen Überlebenskampf ausfallen lässt ? Solche Fragen setzen den Rahmen, in dem sich Plessners Überlegungen zu Geltungsgründen und Reichweite moralischen Handelns bewegen. Menschliche Schwäche und Verletzlichkeit sind Teil des menschlichen Lebens. Nicht die erfüllte Wirklichkeit eines guten Lebens, sondern das anhaltende Streben nach der Führung eines Menschen würdigen guten Lebens kennzeichnen den Menschen in seiner exzentrischen Position, in der er sich zu dem, 67 68 69 70

Vgl. Vaihinger, Philosophie, S. 60. Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 784, XIV, und 323 f. Plessner, Nation, S. 162.

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was er ist, erst machen muss. Plessner zeichnet menschliche Würde als die symbolische Form gegenseitiger Gefährdung und Verletzlichkeit, aber auch Anerkennung aus. Sie ist für ihn der fragile Modus des auf sich und andere Zugehens in der Distanz zu sich und diesen Anderen. Nur aufgrund ihrer möglichen Distanz zu sich selbst können Menschen einen Sinn für die Selbstständigkeit des unabhängig von ihnen Seienden, der Natur ebenso wie ihrer Mitmenschen, gewinnen. Und nur die Anerkennung dieser Selbstständigkeit des Anderen ermöglicht ihnen ein gutes Leben in Einklang mit sich selbst – gegründet auf der Sensibilität für die Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit anderer Menschen, in der sich komplementär die eigene Verletzlichkeit spiegelt. Der Ideologieverdacht, unter dem Rationalität, Humanität und Universalität standen, traf auch moralisches Handeln. Unter Bedingungen, die unmoralischen Verhaltens als vernünftiges Verhalten politisch sanktionieren, bleibt die persönliche Gewissensentscheidung, dennoch moralisch zu handeln, so lange politisch folgenlos, wie Moral sich auf den symbolischen Akt des persönlichen Beispiels beschränkt. Wovon auch immer sich Menschen in ihren persönlichen Überzeugungen leiten lassen, solange sie in diesen Überzeugungen den strukturellen Bedingungen ihres Handelns indifferent gegenüberstehen, lassen sie der Politik freie Hand und bleiben diese Überzeugungen ihre ausschließliche Privatangelegenheit. Auch eine Haltung höherer Moral, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat, und die deshalb als politisch irrelevant toleriert werden kann, trägt zur Aufrechterhaltung unmoralischer Verhältnisse bei. Abweichendes Verhalten kann in solchen Verhältnissen als Provokation des Gemeinwesens und der von ihm vertretenen Vorstellungen von Ordnung und Moral politisch verfolgt oder als asozial stigmatisiert werden. Seine Unterdrückung wird dann als Maßnahme zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung gerechtfertigt. Bei aller Eigendynamik der Verhältnisse liegt es immer noch an den Menschen selbst, sich in diesen Verhältnissen einzurichten oder ihnen die Anerkennung zu verweigern. Das, was Menschsein wesentlich ausmachen soll, muss von den Menschen selbst entschieden werden oder ihnen als tradierte moralische Ordnung, in der sie erfolgreich sozialisiert wurden, plausibel sein. In ihrem Zusammenleben müssen sie die Annahme einer für alle verbindlichen moralischen Ordnung unterstellen, auch um von der als verbindlich geltend behaupteten Moral abweichendes Verhalten als unmoralisch identifizieren und ächten zu können. Auf die Erstarrung moralischer Verhältnisse und die Etablierung unmoralischen Handelns als geltende Moral hatte Hannah Arendt mit der Auszeichnung der Natalität als Versprechen eines immer möglichen Neuanfangs geantwortet. In der Metaphorik der Geburt beschwor sie die Möglichkeit des von widrigen Bedingungen nicht tangierten radikalen Neuanfangs. „Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.“71 Diese Unschuld des Anfangs versprach 71

Arendt, Vita Activa, S. 15.

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eine Zukunft ohne Vorgeschichte, in der die Geburt einer neuen Gesellschaft möglich werde. Gegen die Prägung der Lebenschancen dieser Neuankömmlinge durch die soziokulturellen Bedingungen, in die sie hinein geboren werden, setzte Arendt die Fähigkeit von Menschen, „aus eigener Initiative etwas Neues anzufangen“ und sich dadurch „aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit“72 zu entziehen. Diese Setzung sollte dem Unwahrscheinlichen „selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit“73 geben. Im Kern ging es ihr darum, dem überwältigenden existentiellen Ereignis der Geburt eines neuen Menschen die kulturelle Bedeutung des Versprechens eines guten Lebens zu geben, dessen Einlösung Empathie und mitmenschliche Zuwendung als moralische Tugenden erforderten. Diese Auszeichnung der Geburt als Versprechen humanen Menschseins und moralischer Erneuerung zielte darauf, Mitmenschlichkeit als immer mögliche Wendung unmenschlicher, unmoralischer Verhältnisse offen zu halten. Die Funktionalität des transzendentalen Scheins, der die Welt in der sittlichen Ordnung des Sinns hält, kommt ohne den Appell an das sinnliche Vorstellungsvermögen nicht aus. Ohne sinnliche Entsprechungen bleiben die spekulativen Konstruktionen von Sinn leer. In der Erwartung, menschliches Leben würde sich zu einem in sich stimmigen Sinn schließen, haben die metaphysischen Existenzbehauptungen von Sinn ihren existentiellen Grund. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit wird ein gegenständliches oder ideelles Sein zugeschrieben, dass sie als Sinnkonstruktionen zugleich in eine sinnliche Ordnung einrückt. Um diese Sinnkonstruktionen lebensweltlich plausibel zu machen, bedarf es funktionierender Modi ihrer sinnlichen Repräsentation. Diese sinnlich - gegenständlichen Modi der Repräsentation von Sinn sind funktional notwendig für die Konstituierung eines diesseitig - innerweltlichen Sinns menschlichen Lebens. Auch nach der wissenschaftlichen Aufklärung der wahren Verhältnisse von Wirklichkeit behält der gegenteilige sinnliche Augenschein des unmittelbaren Bewusstseins seinen funktionalen Sinn. Die leiblich - sinnliche Existenz des Menschen steht auch nach der Aufklärung der in ihr gegründeten Täuschungen über die wahren Verhältnisse nicht zur Disposition. Nicht ob die sinnliche Wahrnehmung der wissenschaftlichen, die Grenzen der Sinne begriff lich und experimentell übersteigenden Analyse dieser Wirklichkeit stand hält, entscheidet über ihre Plausibilität, sondern ob das, was die Sinne für wahr nehmen, das intuitive Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die ihm als Heimat vertraut ist und bleibt, bestärkt und befriedigt. In einem selbstverständlichen Anthropomorphismus gehen die Menschen davon aus, die Welt sei genau so, wie sie sich ihren Sinnen darstellt. In seiner Kritik der Ideologie als falscher Gegenstandsvorspiegelung der Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit hatte Marx Kants Lehre vom notwendig falschen Bewusstsein der Vernunft als Sitz des transzendentalen Scheins wieder aufgenommen. In der proletarischen Revolution sollte die Begegnung 72 Ebd., S. 166 f. 73 Ebd., S. 167.

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des Menschen mit sich selbst herbeigeführt und die Identität von Subjekt und Objekt hergestellt werden. Die spekulative Philosophie vollendete sich aus dieser Sicht in der historischen Praxis der proletarischen Revolution, die das Proletariat zum exemplarischen Menschen, zum identischen Subjekt - Objekt der Geschichte konstituierte.74 Damit wurde die Klassenzugehörigkeit zur anthropologischen Auszeichnung : Nur im Proletariat begegnete der Mensch sich selbst. Oder, in der originär Marx’schen Terminologie : In der proletarischen Revolution als der allgemein menschlichen Emanzipation wird „sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn“.75 Die Deutschen würden weltgeschichtlich die Ersten sein, bei denen sich die Aufspaltung menschlichen Seins in Klassen zur allgemeinen Gattungsexistenz aufheben werde. Menschen sind für das Versprechen eines ganzheitlichen, uneingeschränkt erfüllten Lebens ansprechbar, das sie aus der Gleichförmigkeit und Durchschnittlichkeit eines mit Allen geteilten Lebens herauszuheben verspricht. Ihre emphatischen Erwartungen eines ganzheitlichen Lebens werden durch die Realität der ihnen abverlangten Reduktionen und Fragmentierungen jedoch immer wieder enttäuscht. Solche Frustrationen bedürfen der Kompensation. Die fortgesetzte Widerlegung der Erwartung, ihr Leben möge sich zu einem stimmigen Sinn schließen, macht Menschen empfänglich für Konstruktionen eines außeralltäglichen Sinns ihres Lebens. Die Plausibilität dieser ideologischen Konstruktionen verdankt sich ihrer suggestiven Verknüpfung mit dem alltäglichen Lebens- und Erfahrungszusammenhang der Menschen. Ihre Übersetzung in ein innerweltliches Heilsversprechen steigert die ursprünglich religiöse Heilserwartung zum ideologischen Versprechen des großen Glücks, das Menschen für die kleinen Freuden des Lebens unempfänglich zu machen droht. Die unvermeidlichen Kompromisse und gegenseitigen Zugeständnisse, durch die das Leben erst die Konturen des Zwischenmenschlichen gewinnt, das Aufeinander - Zugehen und Voneinander - Abstand - Nehmen, in dem Menschen sich der je angemessenen Nähen und Distanzen zu ihren Mitmenschen immer wieder neu vergewissern – all das erscheint im Raster des großen, absoluten, von Konflikten und Ambivalenzen freien Glücks als unzureichend.

5. Anthropomorphismus und „kopernikanische Wenden“ : Historische Zerreißproben der menschlichen Subjektposition Kant hatte die kopernikanische Wende als reflektierte Erneuerung der geistigen Zentralposition des Menschen konzipiert in einer Welt, die seine natürlich - kosmologische Mittellage nachdrücklich dementiert hatte.76 Im Unterschied zum Tier ist der Mensch immer wieder Erfahrungen der Dezentrierung und Relativierung seiner unterstellten Mittelpunktsposition ausgesetzt. Auch wenn die 74 Vgl. Lukács, Geschichte, S. 339. 75 Marx, Rechtsphilosophie, S. 391. 76 Vgl. Blumenberg, Genesis, Band 3, S. 691–713.

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intuitive Annahme, der Mensch stehe im Mittelpunkt der Welt, immer wieder frustriert wird, halten Menschen daran fest, dass sich letztlich doch alles um sie dreht. Eine überzogene Korrektur ihres anthropozentrischen Welt - und Selbstbildes rückt dagegen ihre Ohnmacht gegenüber ihnen nicht verfügbaren Naturgesetzen in den Mittelpunkt.77 Die faktische Widerlegung seiner angenommenen Zentralposition zwingt den Menschen in die grundsätzliche Auseinandersetzung mit seiner Stellung in der Welt. Die Überprüfung der intuitiven Prinzipien anthropozentrischer Lebensführung an der Realität führt jedoch nicht zur einfachen Angleichung des prinzipiell in Anspruch Genommenen an das unter den gegebenen Bedingungen Mögliche. Was Menschen intuitiv verständlich ist, worin sie Bestätigung finden, was ihnen vertraut ist oder ihnen ihre Mittelpunktstellung bestätigt, wird von ihnen als eigentlich gegenüber als marginal auf Distanz gehaltenen Widerlegungen ihres Selbstbildes behauptet. In der Verarbeitung ihrer Eindrücke und Erfahrungen entscheiden sie selbst über deren Bedeutung für ihr Leben. Dabei neigen sie dazu, zu ihrem Selbstbild konträre Erfahrungen in ihrer Bedeutung herunterzuspielen oder zu ignorieren, während sie solche, in denen sie sich in ihrem Selbstbild bestätigt sehen, in ihrer lebensweltlichen Bedeutung aufwerten. Das, was sich weder intuitiv aufrechterhalten noch durch gegenteilige Erfahrungen außer Kraft setzen lässt, verlangt nach einer reflektierten Übernahme. Die Infragestellung ihrer angenommenen Zentralposition durch illusionäre Setzungen wie faktische Widerlegungen zwingt Menschen zu einer gleichermaßen wirklichkeitsorientierten wie prinzipiengeleiteten Vermittlung ihrer kontrafaktischen Intuitionen und faktischen Erfahrungen. Was als Intuition frustriert wird, muss in der Reflexion neu behauptet werden. In der Geschichte suchen Menschen eine Antwort auf die Frage, wie sie ihr zeitlich begrenztes Leben unter nicht von ihnen selbst gesetzten Bedingungen so führen können, dass es sich zu einer in sich stimmigen Biographie schließt. Auch wenn ihr Leben in vielfacher Hinsicht durch die von ihnen vorgefundenen Lebensumstände eingeschränkt ist, ist es Menschen wichtig, ein Leben zu führen, das auch durch ihre eigenen Entscheidungen und Fähigkeiten bestimmt ist. Es soll ein Leben sein, das ihnen neben der Sicherheit fragloser Zugehörigkeit und verlässlicher Routinen zugleich auch den Reiz des Neuen, Überraschenden und Unvorhersehbaren bietet, an dessen Herausforderungen sie sich auf für sie selbst neue Weise erfahren und entwickeln können. Sie müssen sich mit ihrer Sterblichkeit abfinden, und wollen eben deshalb nach ihrem Tod erinnert werden. Die Unendlichkeit des Universums, seine offensichtliche Indifferenz gegenüber ihrem eigenen Leben, konfrontiert sie mit ihrer eigenen Endlichkeit. Der vermeintlichen Nichtigkeit und Irrelevanz ihres Lebens angesichts der überwältigenden Weite und Unergründlichkeit dieses Universums stellen sie die Sinnhaftigkeit ihres einzigartigen Lebens gegenüber. Und dieses Leben ist in der Tat

77 Vgl. Plessner, Nation, S. 227.

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einzigartig : Es ist das einzige, das sie haben werden, und es ist einzig im Unterschied zu allen anderen. Wie überzeugend auch immer dem Menschen signalisiert wird, er solle die Anmaßung, alles drehe sich um ihn, endlich aufgeben und sich mit dem bescheiden, was ihm auch ohne manipulierende Eingriffe in natürliche Kreisläufe oder die obsessive Bemächtigung alles dessen, worauf er Zugriff hat, zugestanden würde – sein intuitiver Drang, sich in den Mittelpunkt der Welt zu setzen, scheint alle diese Anfechtungen unbeschadet zu überstehen. Noch die sich wiederholende Erfahrung ihrer Ersetzbarkeit beantworten Menschen mit dem Bestehen auf ihrer Unvertretbarkeit. Das Bestehen auf einer universellen Sinndimension ihres Lebens, an der sich die alltäglichen Dezentrierungen und systematischen Demütigungen des menschlichen Narzissmus relativieren, hat sich als anthropologische Konstante durch alle kopernikanischen Wenden der Infragestellung anthropozentrischer Welt - und Selbstbilder fortgeschrieben. Je tiefer die Erschütterung der angenommenen Zentralposition, umso energischer fiel in der Regel die Reaktion auf diese Demütigung ihres anthropozentrischen Welt - und Selbstverständnisses aus. Das, was sich in kosmologischer, geographischer, natürlicher oder historischer Unterstellung nicht mehr aufrechterhalten ließ, musste durch den Nachweis der lebensweltlichen Funktionalität dieser oder anderer anthropozentrischer Unterstellungen neu begründet werden. Im Ergebnis „einer ständig an Radikalität zunehmenden Verlagerung der Achsen, um die sich bis in die Zeit der Aufklärung [...] alles drehte : der Glaube an eine höhere Bestimmung des Menschen und an eine unverbrüchliche Ordnung der Natur“78, wurde durch die Natur - und Geisteswissenschaften die Dezentrierung des Menschen immer weiter getrieben. In diesem Prozess erneuerte sich dennoch immer wieder sowohl der Glaube an eine höhere Bestimmung des Menschen als auch der an eine unverbrüchliche Ordnung der Natur. Die Erneuerung dieses Glaubens durch die Selbstüberbietungsspirale seiner Desillusionierungen hindurch, und nicht seine Zerstörung, ist die Pointe der Argumentation Plessners zur kulturellen Bedeutung der kopernikanischen Wenden, denen Menschen in den historischen Zerreißproben und radikalen Infragestellungen ihres Selbstverständnisses ausgesetzt sind. Was zunächst der Erde mit weit reichenden Konsequenzen für den Menschen widerfuhr – aus dem „Ureinwohner“ eines Zentralgestirns mit den natürlichen Rechten des „Erstgeborenen“ wurde er zur „Kreatur unter anderen Kreaturen“ auf einer „Insel unter anderen Inseln“ im unendlichen Universum – traf zunehmend ihn selbst in seiner unmittelbaren Existenz. Entscheidend in diesem Prozess war seine zirkuläre Kontinuierung : der Dezentrierung folgte immer die Rezentrierung; der Zerstörung je unterschiedlich gegründeter Absolutheitsansprüche nicht das Nichts, sondern die Relativierung. Und so hatte alles begonnen : „Die Erde als Schauplatz des Menschen wird eine Insel unter anderen Inseln im uferlosen

78 Ebd., S. 93 f.

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Ozean des Raumes und verliert ihre natürliche Auszeichnung, die sie früher als Mitte des Kosmos besaß.“79 Was aber änderte sich tatsächlich für den Menschen durch den Verlust der natürlichen Auszeichnung seiner Erde ? Welche Optionen erschlossen sich ihm durch das Wissen, auf einer „Insel unter anderen Inseln“ zu leben ? Wie verarbeitete er die Erfahrung, dass er seine Zentralposition in „natürlicher Mittellage“ der Erde nicht länger als selbstverständlich unterstellen konnte ? Die Konsequenzen dieser Umwälzung waren enorm und paradox zugleich : Alles änderte sich, und dennoch blieb alles, wie es war. Menschliche Welt - und Selbstverhältnisse verstanden sich nicht mehr von selbst. Alles, was seine unproblematische Selbstverständlichkeit verloren hatte, mussten die Menschen nun im Bewusstsein seiner Problematisierung behaupten. In diesen Dezentrierungen wurde sich der Mensch seines Lebens in sinnfreien Räumen bewusst. Nicht er war gemeint mit der Problematisierung kultureller Selbstverständlichkeiten, und doch hatte er keine andere Wahl als diese Problematisierung auf sich zu beziehen. In der anthropologischen Wendung der Dezentrierung zur exzentrischen Positionalität der interessierten Beobachtung seines Lebens in ständig wechselnden Perspektiven trat an die Stelle einer einfachen Rezentrierung die reflektierte Komplizierung menschlichen Lebens. Eben weil er die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber seinen Bemächtigungsphantasien nicht ertrug, stand der Mensch unter dem Zwang, diese Welt zu einer Reaktion zu provozieren, an der er sich abarbeiten konnte. Wie auch immer diese Reaktion ausfiel, sie gab Menschen die Gelegenheit, für ihr Leben und ihre Stellung in der Welt die Verantwortung zu übernehmen. Dabei lernten sie, dass weder stoische Hinnahme noch aufgeregter Aktivismus angemessene Haltungen waren angesichts der das eigene Leben übergreifenden Einbindungen und inneren Zwänge. Die unausweichlichen Komplikationen und Frustrationen des Lebens ließen immer auch Raum für die kleinen Freuden und großen Gefühle, die atmosphärischen Stimmungen und über wältigenden Harmonien des Einklangs mit sich und der Welt. An der von Plessner in ihrer kulturellen Dimension prägnant gezeichneten Dezentrierung der Erde durch Kopernikus lässt sich beispielhaft verdeutlichen, was für die Abfolge der kopernikanischen Wenden insgesamt und jede einzelne dieser Dezentrierungen analog galt : Die Erde blieb Schauplatz des Menschen, Insel unter Inseln oder nicht. Heraus gefallen aus der natürlichen kosmologischen Mittellage war sie auch weiterhin das anthropologische Zentralgestirn schlechthin. Mit dem, was Menschen gewohnt waren, als selbstverständliche Grundlage ihrer Existenz in natürlicher und geschichtlicher Mittellage zu nehmen, mussten sie auch dann noch verlässlich rechnen können, nachdem sich diese Grundlagen als brüchig erwiesen hatten. Aus der illusorischen Selbstverständlichkeit der unproblematischen Zentralposition wurde die neue Selbstverständlichkeit der problematischen Existenz. In der Abfolge immer neuer Des79 Ebd.

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illusionierungen erneuerte sich der letztlich unergründliche Zauber des Lebens. Menschen standen nun vor der bleibenden Herausforderung, ihre immer problematische, fragile und gefährdete Existenz bewusst auf sich zu nehmen. Weder die kosmologische Mittellage der Erde noch die historische Mittellage Europas, weder die biologisch - natürliche Mittellage des Menschen noch die religiöse Mittellage Gottes – der christliche Glaube „an die Absolutheit des geoffenbarten Christus ( als zeitüberlegene Mitte der Geschichte )“80 – ließen sich in ihrem Absolutheitsanspruch aufrechterhalten. Das Gleiche galt für die europäische Mittellage Deutschlands mit dem daran geknüpften Anspruch einer natürlichen, geographisch gegründeten Vormachtstellung der Deutschen in Europa. Weder also Anthropo - , Euro - oder Germanozentrismus, noch ein Theozentrismus oder die Annahme der kosmologischen Zentralposition der Erde entgingen der Relativierung. Und dennoch folgte auf all diese Dezentrierungen ihre bewusste Rezentrierung, in die die kulturelle Funktionalität jeder eingenommenen Perspektive im Horizont menschlichen Lebens herausgestellt wurde. Das menschliche Bedürfnis nach kultureller Orientierung und Verortung, nach Zugehörigkeit und souveränem Selbstbezug blieb prägend in diesen Perspektivenwechseln. Die Deutschen nun, darin lag eine weitere Pointe in der Argumentation Plessners, hatten eine besondere Beziehung zum Dezentrierungsprozess der kopernikanischen Wenden, und das nicht nur wegen ihrer europäischen Mittellage, sondern auch wegen der nationalen Zentralposition der deutschen Philosophie. In seiner „Verspäteten Nation“ zeichnete er deshalb eine für Deutschland spezifische kopernikanische Wende nach : die Dezentrierung der Philosophie als symbolischer Ort nationaler Identität und damit ihre Dysfunktionalisierung. Das 19. Jahrhundert habe „in seinem Fortschrittsglauben etwas völlig Neues für die Geschichte, eine ( kopernikanische – W. B.) Wendung für die menschliche Existenz her vorgebracht“.81 Auch wenn die Annahme eines unaufhaltsamen Fortschritts zunächst die angenommene Zentralposition des Menschen zu bestärken schien, von dem aus und auf den hin Fortschritt als Erweiterung, Intensivierung und Beschleunigung seiner Verfügung über relevante Lebensumstände konzipiert waren, werde er doch in der Konsequenz an den Rand der von ihm initiierten Entwicklungen gedrückt, die er nicht mehr überschaue, nicht mehr sinnlich erfasse, und die sich in ihrem Selbstlauf zunehmend seiner Kontrolle entzog.82 Plessner behauptet eine „Dialektik der Aufklärung“, in der sich die Menschen im ideologiekritischen Gang der Befreiung von Autoritäten und Täuschungen zugleich in immer neue Illusionen verstricken und immer anderen Autoritäten ausliefern. Am Ende dieser Entzauberung habe schließlich das Blut als natürliche Autorität einer inner weltlichen Heilsordnung gestanden. In einer untergründigen Umkehrbewegung zur Befreiung des Menschen, so weiter Plessner, 80 Ebd., S. 95. 81 Ebd., S. 96. 82 Vgl. Anders, Antiquiertheit.

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wurde die Mitte seiner ursprünglichen Existenz, der er sich in diesem Befreiungsprozess zu nähern suchte, durch immer weiter absinkende Ersatzformen verdeckt, deren Basis sich dem naturhaften Sein ständig annäherte.83 Die immer subtiler werdende Fähigkeit des Menschen, Illusionen und Selbsttäuschungen zu durchschauen, führte schließlich in einer kopernikanischen Achsendrehung menschlicher Existenz zu einer quasi anthropologischen Befangenheit, in der das eigene Selbst unter Ideologieverdacht gestellt wurde. Kurz : Die Befangenheit nahm zu, anstatt abzunehmen. Der Ideologieverdacht wurde zum anthropologischen Generalverdacht. Die Aufklärung, so Plessner, verlor sich im Mechanismus der Natur. Die vom Willen nach Freiheit beseelte Erledigung aller Autoritäten endete im biologischen Materialismus. Im Höhenflug des Menschen, keine Autorität mehr über sich zu dulden, versank sein Bewusstsein umso tiefer im naturhaften Sein. Der Versuch, das Zentrum einer ursprünglichen freien Entscheidung des Menschen freizulegen, brachte immer neue Autoritäten ins Spiel. Der Abfolge ideologiekritisch erledigter Autoritäten korrespondierte eine Ersatzfolge neuer. Die zwiespältige Befreiung des Bewusstseins verfehlte ihr erklärtes Ziel. Und dennoch lag in dieser Befreiung ein Sinn, der paradox genug eben der Verdacht war : Es war der Verdacht, der Grund der Enttäuschung des Emanzipationsversprechens liege womöglich in der spekulativ übersteigerten Emphase dieses Versprechens und der Befreiung selbst.84 An diese Überlegungen schloss Plessner eine Bekräftigung der aus seiner Sicht noch uneingelösten Versprechen der Aufklärung durch ihre selbstreflexive Wendung an, die deren Vorannahmen befragte : Was hieß es eigentlich, ein freier Mensch zu werden ? War der Verdacht gegen sich selber im hintergründigen Pathos der Selbstbefreiung tatsächlich schon das letzte Wort der Aufklärung? In der kopernikanischen Wendung der Aufklärung gegen sich selbst, einer selbstreflexiven Wendung nach innen, gerieten in einer Achsendrehung menschlicher Existenz bisher gültige Welt - und Selbstaspekte des Menschen unter Ideologieverdacht. Die Aufklärung der Aufklärung über sich selbst und ihre mögliche Selbstzerstörung sollte ihr Emanzipationsversprechen an den lebensweltlichen und anthropologischen Grundlagen seiner Plausibilität erneuern. Sie ver weigerte sich der vermeintlichen Lösung, mit dem Selbstverdacht und der Entwertung der inneren Überzeugungskraft des eigenen Bewusstseins und Gewissens komme die Abfolge der ideologiekritischen Entlarvung je verdächtiger Welt - und Selbstaspekte nun doch zu einem Ende. Ein solcher Schluss würde die Pointe von Plessners Argumentation gründlich verfehlen. Ihm ging es nicht darum, den Verdacht auszuräumen und das Bewusstsein nach seiner ideologiekritischen Demontage auf den sicheren Boden neuer, unbezweifelbarer Gewissheiten zurückzuführen, sondern ihn in eine veränderte Sicht auf die Funktionalität des Bewusstseins einzubauen. In der von 83 Vgl. Plessner, Nation, S. 134. 84 Vgl. ebd., S. 134 f.

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Kant vollzogenen kopernikanischen Wendung sah Plessner den Ausgangspunkt für den radikalen Ideologieverdacht gegen die biologisch - lebensweltlichen und kulturellen Grundlagen universeller Ideen.85 Nicht nur die körperlichen Eigenheiten des Menschen, auch seine gesellschaftlichen Setzungen, sittlichen Verabredungen und religiösen Verbindlichkeiten können den Anspruch auf die fraglose und absolute Geltung von Eigenschaften, Werten und Überzeugungen begründen. Ideologie operiert immer mit der Annahme absoluter Setzungen, in denen etwas als wesentlich und fraglos gültig ausgezeichnet wird. Solche Setzungen formulieren und beantworten anthropologische Anschlussfragen nach den problematischen Grundbeständen menschlichen Seins. Sie entwerfen den Horizont einer Gewissheit, der durch Menschen schlechterdings nicht in Frage gestellt werden kann, ohne dass sie sich damit selbst in Frage stellen würden. Gegen eben diese fraglose Gewissheit eines unbezweifelbaren Horizontes richtete sich der Verdacht, der den Horizont als Standort kenntlich machte, den Menschen in spezifischer Weise einnehmen. Horizonte verschieben sich, können miteinander verschmelzen, in einer Achsendrehung der Perspektive die Sicht der Dinge auf den Kopf stellen. Nun wurden „die sublimeren Sonnen der Erkenntnis, des Willens und des Glaubens einer ähnlichen Relativierung“ ausgesetzt, der zuvor die Sonne im astronomischen Sinne in der vermeintlichen Zurückführbarkeit ihrer Bewegung „auf die dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen entzogene Erdbewegung“86 von Kopernikus unterzogen worden war. Der Verdacht gegen die Erkenntnis - , Willens - und Glaubensmetaphysik je in Anspruch genommener unbezweifelbarer Gewissheiten erweiterte sich nun zur Gewissheit der nicht nur marginalen, sondern konstitutiven anthropologischen Relevanz des körperlichen und geistigen Standorts der Menschen, seiner konstitutiven Heimat - , Gleichgewichts - und Wurzellosigkeit. Im Sommer 1946 hielt Plessner in Hamburg einen Vortrag zum Thema Tier und Mensch, nach 13 Jahren zum ersten mal wieder auf deutschem Boden vor deutschem Publikum, wie er selbst anmerkte. Dabei sprach er die „Stärke der biologischen Schwäche und Unspezialisiertheit“ des Menschen an, die mit seiner Wurzellosigkeit zusammenhänge. Eben diese Wurzellosigkeit sei es, die den Menschen zum Menschen mache, und nicht „das Festgegründetsein in einer bestimmten heimatlichen Landschaft, in Blut und Boden“.87 Nicht nur die Beantwortung der von Kant für die Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung klassisch formulierten Fragen „1)Was kann ich wissen ? 2)Was soll ich thun ? 3)Was darf ich hoffen ? 4) Was ist der Mensch ?“88, so Plessner, sondern bereits diese anthropologische Fragestellung steht unter körperlichen und geistigen Voraussetzungen der Menschen und wird durch diese vorentschieden. Erst im Bewusstsein der körperlichen und geistigen Bedingtheit von Fragen der Erkenntnis, des Wollens und des Glaubens, werde sich der Mensch sei85 86 87 88

Vgl. ebd., S. 135 f. Ebd., S. 136. Plessner, Mensch, S. 63. Kant, Logik, S. 448.

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ner ihn prägenden Bindungen an unterschiedliche Standorte bewusst. Nicht seine frei von allen Bindungen über den Standorten schwebende Existenz, sondern seine Fähigkeit zur spielerischen Distanzierung dessen, was ihn perspektivisch auf Nähe oder Ferne zu sich und seinen vielfältigen Weltbezügen festzulegen sucht, behauptet sich in der Drehung der Achse seiner Existenz. „Auf der Suche nach dem verborgenen Diesseits arbeiten sich die zersetzenden Wissenschaften Schicht um Schicht tiefer an das Wesen des Menschen heran, weil sie hier den letzten und wahren Halt erhoffen, der durch die Entzauberung der christlichen Religion der Welt verloren ging.“89 Einen solchen „letzten und wahren Halt“, eine existentielle Mitte menschlicher Entscheidungen, gebe es jedoch nicht. Statt dessen gewinne der Mensch einen unerwarteten „Zugang zu einer [...] diesseitigen Tiefe“ seines Lebens, indem er „sich als Urheber von Dingen“ entdeckt, „deren Wesen es ausschließen sollte, dass sie überhaupt einen Urheber und dazu noch den Menschen als Urheber haben. Er führt sie auf sich als Quelle zurück, statt wie bisher umgekehrt sich von ihnen herzuleiten.“90 Als Schöpfer seiner Selbst entdeckt er sich als Wesen, zu dem es keinen direkten Zugang, sondern nur den durch die Vielfalt seiner gegenständlichen und expressiven Vermittlungen gibt. Die wissenschaftliche Zersetzung dieser Vermittlungen als nur unzureichenden, vorläufigen, dem Universalitätsanspruch des Menschen nur bedingt genügenden Äußerungen seines Wesens richtete sich gegen den Menschen selbst. Diese Dinge, die gegenständliche Welt der Erscheinungen, zeigten sich erst in einem menschlichen Koordinatensystem als das, was sie objektiv, unabhängig von ihrer möglichen Zurichtung zu menschlichen Zwecken waren. Ihre Objektivität und Sichtbarkeit wurde erst im begriff lichen Raster eines solchen Koordinatensystems plausibel. Was für diese gegenständliche Welt der Dinge und Erscheinungen gelte, treffe auch für den Menschen zu : Ein Selbst, ein menschliches Wesen außerhalb der symbolischen und gegenständlichen Vermittlungen menschlichen Seins, das als innerer Wesenskerns direkt zugänglich wäre, gibt es nicht. Nur der indirekte Weg über die Aneignung der Vermittlungen dessen, was Menschen als ihnen wesentlich zum Ausdruck bringen, ermöglicht es ihnen, hinter sich selbst zu kommen.91 Diese Möglichkeit sei anthropologisch gegründet in der exzentrischen Positionsform des Menschen, in der er als „Ich, der hinter sich liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit“92, in der Lage sei, sein eigenes Leben aus der reflektierten Distanz zu beobachten. Der indirekte Weg der Selbsterkenntnis führt über die sinnlichen, den Sinnen zugänglichen Vergegenständlichungen und die sinnhaften Gestaltungen, in denen Menschen ihre sozialen, kulturellen und ideellen Bedürfnisse in Religion und Wissenschaft, Staat und Kunst, Moral und Recht usw. zum symbolischen Ausdruck bringen. Ohne

89 90 91 92

Plessner, Nation, S. 118 f. Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 137. Plessner, Stufen, S. 290.

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Umwege über die gespielte Unendlichkeit kultureller Ausdrucksformen wäre menschliche Existenz nicht möglich.93 Der Mensch führt auf sich als Quelle zurück, wovon er sich bisher hergeleitet hat. Nicht die Suche nach einem unmittelbar gewissen, unbezweifelbaren Ausgangspunkt menschlichen Seins, die direkte Selbstbestimmung, sondern der indirekte Weg über den Gebrauch seiner Vermögen und die notwendigen Vermittlungen seiner Existenz, ist der Königsweg des Menschen zu sich selbst. Nicht ein verborgenes Jenseits, sondern der Zugang zu einem verborgenen Diesseits enthüllt dem Menschen, was er von sich und seinen Welt - und Selbstverhältnissen wissen muss, um sich als souveränes Selbst in einer Welt zu behaupten, die nicht von vornherein auf seine Sinnlichkeit und sein Bedürfnis nach Sinn ausgelegt ist. Gerade das, was ihm rundum zugänglich ist, sein diesseitiges Dasein, zeigt eine verborgene Tiefe. Diese Tiefe verweist nicht auf ein substantielles Sein, sondern auf die notwendige Differenz und Spannung von sinnlichem Schein und wirklichem Sein. Der „Schein eines notwendig falschen Bewusstseins“94, als der sich die unmittelbare Gewissheit seines diesseitigen Bewusstseins enthülle, entkräfte dessen Wahrheitsanspruch ebenso wie es diesen falschen Schein als notwendige sinnliche Korrespondenz von Wirklichkeit und Bewusstsein bekräftige.95 Die Aufklärung über die „Ursachen der Täuschung“96 ändere nichts an ihrer Funktionalität : Auch der falsche Schein kann notwendig sein. Selbst dann, wenn sich die unmittelbare Gewissheit, in der die Dinge den Menschen in ihrer vertrauten Ordnung der Sinne und des Sinns erscheinen, als trügerisch erweist, können sie ihre sinnlich - sinnhafte Lebensordnung nicht zugunsten eines durch Wissenschaft aufgeklärten wahren Seins aufgeben. Die wissenschaftliche Aufklärung der wahren Zusammenhänge ihres Lebens konfrontiere Menschen mit einer „Ordnung des Seins“, der ein sinnhafter Bezug auf menschliche Lebensordnungen erst abgerungen werden müsse. Eine Neubestimmung des als fraglos gültig Unterstellten, sich in der kulturellen Lebenswelt ihres Alltags scheinbar von selbst Verstehenden und uneingeschränkt Verlässlichen, wird damit zwingend. Dennoch können auch die über die lebensweltliche Funktionalität ihrer Selbsttäuschungen aufgeklärten Menschen auf diese nicht verzichten. Der lebensweltliche Gewinn oder Verlust der Aufklärung von Täuschungen und Illusionen muss von den Menschen selbst entschieden werden. Die kulturelle Bedeutung der Aufklärung, die Funktionalität oder Dysfunktionalität der von ihr als kulturelle oder sinnliche Selbsttäuschung aufgeklärten Wahrheiten für das Leben der Menschen, so Plessner, wird durch ein Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Faktoren entschieden, nicht allein durch die Relativierung oder Bekräftigung kultureller Wahrheits - und Geltungsansprüche. Wissenschaft und Aufklärung zielen auf die größtmögliche Durchschaubarkeit und Berechenbarkeit dessen, was menschliches Leben ausmacht und 93 94 95 96

Vgl. Plessner, Nation, S. 156. Ebd., S. 137 Vgl. Plessner, Stufen, S. 328 f. Plessner, Nation, S. 138.

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bestimmt. Eben dieser unbedingte Anspruch auf die wissenschaftliche Aufklärung des Lebens führt in der Konsequenz zu dessen Entzauberung. Würde menschliches Leben bis ins letzte seiner individuellen Äußerungen und Gestaltungen berechenbar, so wären existentielle Konstellationen und Konflikte ihrer lebensnotwendigen Spannung beraubt. Das Leben selbst hätte seinen Reiz verloren. Die lebendige Spannung von Scheitern und Gelingen, von Komik und Tragik, von sich wiederholenden Lebensrhythmen und Grundkonstellationen auf der einen und der atmosphärischen Einzigartigkeit des in seiner Intensität unwiederbringlichen höchsten Glücks oder tiefster Trauer auf der anderen Seite, würde sich in der Gleichförmigkeit spannungsfreier Gewissheiten und Routinen auf lösen. Die Abspaltung eines geistigen Selbst als vermeintlicher Inkarnation wesentlichen Menschseins vom Körper als dem Anderen seiner selbst vermied Plessner durch eine Verknüpfung dessen, was als innen und außen, als eigentlich und uneigentlich häufig gegeneinander ausgespielt wird. Menschliches Leben bestimmte er als offenes Spiel unbestimmter Möglichkeiten. Mit lebensphilosophisch - hermeneutischen Paradoxien wie dem der „verbindlichen Unergründlichkeit“ oder der „geschlossenen Immanenz“97 begründete er die dem Menschen eigentümliche Position „exzentrischer Positionalität“, innerhalb seiner Perspektive zugleich außerhalb seiner selbst zu stehen. In dieser Perspektive erscheint der Mensch als „Macht, als das Unbestimmte, das Unbekannte, die offene Frage“, und es ist allein an ihm „als dem Zurechnungssubjekt seiner Welt das Andere seiner selbst“98 als das ihm nicht Verfügbare in sein Leben einzubeziehen. Menschen sind getrieben von dem Impuls herauszufinden, wer sie sind, um zu wissen, woran sie mit sich sind in der Auseinandersetzung mit den Mächten, von denen ihr Leben bestimmt wird. Durch den Versuch, auch das ihnen nicht Verfügbare verfügbar zu machen, suchen Menschen sich auch das noch als Ergebnis ihrer Interventionen zuzuschreiben, wofür sie bisher nicht zuständig waren. Das Mögliche wie das Unmögliche, das Berechenbare wie das Unberechenbare sind auf unterschiedliche Weise existentiell wichtig für das letztlich unergründliche menschliche Leben. Trauer und Freude, das unkalkulierte Verschwenden von Lebensenergie wie die kalkulierte Berechnung der Risiken und Chancen alternativer Optionen, Tragik und Komik – all diese Facetten menschlicher Existenz liegen nicht nur dicht beieinander, sondern sie überlagern sich, setzen sich gegenseitig außer Kraft, finden erst in der Herausforderung durch ihr komplementäres Gegenstück zu der ihnen möglichen Intensität. Die nicht delegierbare Verantwortung für ein Leben in Würde und Anstand, für die Formulierung eines eigenen Glücksanspruchs und mitmenschlicher Betroffenheit vom Leben des Anderen, bestimmte Plessner als existentielle Achse der kopernikanischen Drehungen und Wendungen des menschlichen Selbst97 Plessner, Macht, S. 222. 98 Ebd., S. 224 f.

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bildes im Ergebnis seiner Dezentrierungen, Desillusionierungen und Ernüchterungen. In immer stärkerem Maße sei der Mensch gezwungen, auf sich selbst und seine Vermögen des Verstandes und der Vernunft zu vertrauen. Seine Sinnlichkeit und seine regulative Fähigkeit zur sinnhaften Ordnung der Welt sind komplementäre Vermögen menschlicher Gestaltungskraft. Erst in der Konstituierung sinnhafter und sinnlicher Ordnungen entdeckt sich der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Durch die Aufklärung des notwendig falschen Scheins der Sinne, aber auch der von universellen Ideen ausgehenden Kraft der Verführung, „Menschen zu ontologischen Aussagen über Gott, die Freiheit und die Unsterblichkeit“99 zu bewegen, war die problematische Seite menschlicher Existenz in die Diesseitigkeit seines eigenen Daseins gerückt worden. Die „Aufklärung der wahren Verhältnisse“100 deckte Quellen der Täuschung auf, die in der Lebenswelt des Menschen selbst lagen. Menschen wurden sich nun bewusst, dass ihre intuitiven Erwartungen an das Leben auch scheitern könnten. Nur dann, wenn ihren Intuitionen eine widerständige Realität auf halbem Wege entgegenkomme, und nicht in der umstandslosen Durchsetzung ihrer Absichten und Ziele, der sich eine zur Rolle des neutralen Mediums degradierte Wirklichkeit kampf los ergebe, sei das Aufgehen menschlicher Erwartungen eines erfüllten Lebens möglich. „Erfüllung soll von dort, nicht von hier kommen. Erfüllung ist wesentlich das auch ausbleiben Könnende. Nur wo sich die Realität von sich aus fügt, erfüllt sich die Intention, glückt die Bestrebung.“101 Es gibt keine direkte Beziehung zwischen der Intention des Triebes oder Willens, der Absicht oder Hoffnung und dem, was schließlich faktisch aus der Verfolgung dieser Intentionen folgt. Die ursprünglichen Intuitionen menschlicher Gestaltung von Welt werden nur in der Brechung der Intention als ihre adäquate Erfüllung wahrgenommen. Das Auseinanderfallen von Intentionen und objektiver Erfüllung verweist auf die Notwendigkeit einer widerständigen Realität, an der sich der menschliche Gestaltungswille erst profilieren muss. Könnte der Mensch machen, was er will, würde er in dem, was er tut, keine Erfüllung finden. Erfüllung kann es nur in der Konfrontation mit einer eigenwilligen Realität geben, an der menschliche Bestrebungen scheitern können. Sie muss auch ausbleiben können, damit sie als solche erlebt und geschätzt wird.102 Nur dann, wenn ihr Handeln zu Resultaten führt, die sie so nicht erwartet oder beabsichtigt haben, bleiben Menschen in der ihnen unter Umständen selbst unheimlichen Veränderung dennoch sie selbst. Erst in Reaktion auf die Indifferenz oder Gegenläufigkeit der Bedingungen, auf die ihr Anspruch eines selbstbestimmten Lebens trifft, nimmt die Imagination existentieller Universalien lebensgeschichtliche Konturen an. Erst dann also, wenn sich diese Intentionen angesichts gegenläufiger Entwicklungen als problematisch herausstellen, haben Menschen eine 99 100 101 102

Ebd., S. 138. Ebd., S. 135. Plessner, Stufen, S. 336. Vgl. ebd., S. 335.

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Chance, auf dem zu bestehen, was ihnen existentiell unverzichtbar ist. Nur dadurch, dass das, was sie wollen, auf Widerstände trifft, die sie dazu zwingen, zu überdenken und neu zu bestimmen, was ihnen in ihrem Leben so wichtig ist, dass sie unter keinen Umständen bereit sind, von ihm abzurücken, sind sie in der Lage, auch unter widrigen Umständen an der Intuition eines ganzheitlichen Lebens festzuhalten. Nur in der Frustration ihrer unproblematischen Erfüllung kann sich die Vision eines erfüllten, immer problematischen und eben dadurch lebenswerten Lebens behaupten. Ohne den Widerstand der Wirklichkeit als Herausforderung zu spüren und anzunehmen, würden Menschen die unausweichliche Ablenkung ihrer Intentionen an dieser widerständigen Wirklichkeit als Niederlage und Frustration wahrnehmen. In einem Entweder – Oder frontal gegen sie gestellt, ohne sich selbst als Teil eben dieser Wirklichkeit zu sehen, könnten sie nur unterliegen. Der Mensch muss sich jedoch nicht nur in einer neutralen Umwelt oder einer feindlichen Gegenwelt behaupten, sondern sich auch in einer Mitwelt einrichten, der er den für sein Leben notwendigen Spielraum erst abgewinnen muss, ohne dieser Wirklichkeit seinen Willen umstandslos aufzwingen oder sie im Handstreich überwältigen zu können. Die unmittelbare Gewissheit ihrer sinnlichen Existenz, die Menschen intuitiv unterstellen, erweist sich als trügerischer Schein, der sie zur erneuten Prüfung ihrer Intuitionen zwingt, und doch wieder auf ihre intuitiven Unterstellungen zurückkommen lässt. Der Schein der Sinne trügt und ist doch verlässlich. Nicht die wahre Abbildung der wirklichen Verhältnisse, nicht die einfache sinnliche Verdopplung dieser Verhältnisse stellt den Menschen gleichgewichtig in die Ordnung des Seins. Eine sinnhafte Ordnung jenseits ihrer sinnlichen Brechung, die als Korrektiv sinnlicher Täuschungen und illusionärer Sinnkonstruktionen lebenspraktisch mobilisiert werden könnte, gibt es nicht. Die „Ordnung des Seins“ ist durch den Menschen selbst konstituiert. Konfrontiert mit der Pluralität möglicher Ordnungen wird ihm der falsche Schein sinnlicher Eindeutigkeit bewusst, und doch auch in seiner lebensweltlichen Funktionalität bestätigt. Dieser falsche Augenschein der Sinne kann nicht korrigiert, sondern lediglich ergänzt, in seiner Notwendigkeit aufgeklärt und als Funktionalität der Sinne bekräftigt werden. In seiner Relativierung als einer Perspektive unter anderen nicht nur möglichen, sondern in ihrer anders bestimmten Funktionalität gleich berechtigten menschlichen Strukturierung der Welt machen Menschen die Erfahrung, dass auch andere Perspektiven als die der Sinne und des sinnlichen Augenscheins ihre Berechtigung haben. Für den Menschen jedoch ist gerade diese, ihm durch seine Natur vorgegebene Sinnlichkeit als Grenzerfahrung des lebendigen Körpers eine Schlüsselerfahrung, indem sie ihm die Verschränkung von menschlicher Natur und Kultur exemplarisch vorführt. Noch und gerade in der Überschreitung der ihm durch seinen Körper gesetzten Grenzen der Erfahrung von Welt bleibt er in der reflektierten Distanz auf die sinnlichen Ordnungen seiner lebendigen Natur verwiesen. Nur in sich und seiner Körperlichkeit gegründet, vermag er außer sich in die Ort - und Zeitlosigkeit des Nichts gestellt, sein Leben auf eine ihm gemäße Weise in der Para-

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doxie der exzentrischen Mittellage zu führen. Eben weil die Existenz des Menschen auch widersinnig und paradox ist, „braucht er einen Halt, der ihn aus dieser Wirklichkeitslage befreit“.103 In der Pluralität möglicher Perspektiven von Welt löst sich die Entgegensetzung von Sinn und Sinnlichkeit, von geistigem und körperlichem Standort des Menschen auf und relativiert sich zu komplementären Koordinaten der Konstituierung von Wirklichkeit, in denen der Mensch auf unterschiedliche Weise Welt auf sich bezieht. Das Selbstbild der Sinne ist immer durch ihren Weltbezug vermittelt. Zwar ist die Welt nicht so, wie sie den Sinnen erscheint, und dennoch muss sie ihnen so erscheinen, wie sie ihnen erscheint. Diese Diskrepanz zwischen dem sinnlichen Schein und den wirklichen Verhältnissen verweist nachdrücklich darauf, dass der Mensch nicht im Mittelpunkt einer Welt steht, die sich ganz selbstverständlich um ihn dreht bzw. auf ihn bezogen ist. Der sinnliche Schein der wirklichen Verhältnisse ist auch ein Sinnbild für das Leben des Menschen aus der Mitte seiner Sinnlichkeit. Menschen ist ihre diesseitige Wirklichkeit ebenso unmittelbar gewiss wie verborgen. Sie bestehen auf ihrer Mittelpunktposition, auch nachdem sich deren Annahme als sinnlicher Schein und falsches Bewusstseins herausgestellt hat. Gleichermaßen sinnlicher Gewissheit wie sinnhafter Zugehörigkeit bedürftig, bleibt der „Trugaspekt“104 des Bewusstseins auch nach seiner Aufklärung notwendig, um Menschen in der Balance der Sinne und der Gewissheit, ihr Leben habe einen Sinn, zu halten. Andernfalls würde sie der Schwindel der orientierungslos in die Welt geworfenen Existenz ergreifen. Durch alle kopernikanischen Wenden hindurch bleibt der Mensch das bestimmende Wesen seiner Existenz. Noch in der Ernüchterung, dass sich nichts um ihn dreht, bleibt er die Achse, um die sich alles dreht. Auch wenn er aus allen in seinen Welt - und Selbstverhältnissen in Anspruch genommenen Zentralpositionen fällt, muss er, um nicht aus der Fülle der Welt in die Leere des Nichts zu fallen, sein Selbstverhältnis als Weltverhältnis definieren. Diese um seiner selbst willen unausweichliche Notwendigkeit, die Welt in sein Selbst hinein zu ziehen, bringt diese Welt in eine anthropologische Ordnung des Seins und der Sinne. Die Annahme einer „realen oder metaphysischen Beschaffenheit“105 der Vernunft verweist darauf, dass Menschen im richtigen Gebrauch ihrer Vermögen erst konstituieren müssen, was sie mit der Existenzunterstellung der Vernunft vorausgesetzt haben. Es zeigt sich, dass die Vernunft „als gemeinsames [...] Wesen aller Menschen“106 kein naturgegebenes Reservoir ist, das zum beliebigen Gebrauch bedingungslos zur Verfügung steht. Vernunft konstituiert sich erst im Gebrauch der Vernunftvermögen. Die Selbsttäuschung der Menschen über die Verlässlichkeit ihres „eigenen Bewusstseins und Gewissens“107 ist für sie 103 104 105 106 107

Ebd., S. 343. Plessner, Nation, S. 135. Ebd., S. 145. Ebd. Ebd., S. 135.

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unverzichtbar, damit sie in ihren geistigen und körperlichen, in ihren sinnhaften und sinnlichen Ordnungen leben können. Sie müssen „trotz der kritischen Einsicht in ihre Unhaltbarkeit“108 auf dem trügerischen Schein ihrer lebensnotwendigen ideologischen Konstruktionen bestehen. Entscheidet das leiblich - sinnliche Dasein des Menschen über die Funktionalität der Konstruktionen, die ihm die Orientierung in der Welt erleichtern sollen, so bestärkt der ideologiekritische oder natur wissenschaftliche Nachweis ihrer funktionalen Gründung deren Berechtigung. Die Funktionalität ihrer leiblich - sinnlichen Ordnung steht mit dem Nachweis ihrer Disposition zu sachlichen Fehlurteilen nicht in Frage. Die Selbsttäuschung über die Reichweite und Verlässlichkeit seiner Sinne wie Sinnkonstruktionen führt den Menschen nicht als sinnlich - sinnhaftes Mängelwesen vor, sondern zeichnet ihn als bleibend problematische Existenz gerade aus. Sein fortgesetzter Drang, die Grenzen seiner leiblich - sinnlichen Existenz zu überschreiten und sein Selbstverhältnis zum Weltverhältnis zu erweitern, führt ihn in Dimensionen, denen seine Sinne nicht mehr folgen können. Seine übersinnlichen Fähigkeiten eröffnen ihm den Zugang zu Welten, die gerade, weil sie jenseits der Grenzen seiner sinnlich - leiblichen Existenz liegen, ihn auf das Diesseits seines sinnlichen Daseins zurück verweisen. Sein unstillbarer Drang danach, die Grenzen seines Selbst zu erweitern, wird durch die Intensivierung seines Lebens in den Grenzen seiner leiblich - sinnlichen Existenz in der Balance gehalten. Und dennoch hatte der Fortschritt der Natur wissenschaften in der wissenschaftlichen Aufklärung „einer verborgenen diesseitigen Wirklichkeit, die dem Augenschein des unmittelbaren Bewusstseins völlig zuwiderläuft“109, zunächst einmal einen umfassenden Verdacht in die Verlässlichkeit dieses Bewusstseins genährt. Die Erhellung dieser verborgenen Wirklichkeit klärte jedoch zugleich auch den Grund und die am Maß des sinnlich - leiblichen Seins des Menschen Berechtigung dieses sinnlichen Augenscheins auf. Erst diese ganz andere, dem Augenschein verborgene, Wirklichkeit konnte die „Notwendigkeit des falschen Augenscheins“110 erklären und damit plausibel machen, weshalb uns diese Wirklichkeit anders erscheinen muss, als sie sich in der wissenschaftlichen Aufklärung ihrer wesentlichen Zusammenhänge darstellt. Im falschen Augenschein der Wirklichkeit vollbringt das Bewusstsein eine für menschliches Sein unverzichtbare Übersetzungsleistung : Es bereitet die Wirklichkeit nach menschlichem Maß auf und setzt sie in Augenhöhe des wenn auch falschen Augenscheins. Erst die perspektivische Verzerrung der anthropologischen Zurichtung dieser Wirklichkeit nach dem Maß ihrer Sinnlichkeit und ihres gleich gewichtigen Bedürfnisses nach einem menschlichen Sinn erlaubt es Menschen, sich in ihr zu Hause zu fühlen. Die trügerische Gewissheit, „Herr im eigenen Hause“ ( Freud ) zu sein, wird durch Wissenschaft und Aufklärung zerstört und erneuert sich dennoch 108 Ebd., S. 138. 109 Ebd., S. 135. 110 Ebd.

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immer wieder als notwendiger Selbstbetrug, der das Leben erst möglich macht. Wissenschaft und Aufklärung können die lebensweltliche Funktionalität sinnlicher Selbsttäuschungen ebenso wenig außer Kraft setzen, wie das Bedürfnis nach unproblematischer Zugehörigkeit. Auch dann, wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass ihn seine Sinne täuschen, ist der Mensch auf ihren Gebrauch angewiesen und muss er ihre Verlässlichkeit unterstellen. Auch wenn er nicht länger davon ausgehen kann, dass sich die Sonne um die Erde als den festen, unverrückbaren Mittelpunkt des Universums dreht, kann er seine Sinne nicht dergestalt manipulieren, nunmehr, im aufgeklärten Bewusstsein des heliozentrischen Weltbildes, die Drehung der Erde um die Sonne und um ihre eigene Achse zu einer sinnlichen Erfahrung zu organisieren, mit der sich Sonnenaufgang und Sonnenuntergang als Sinnestäuschungen erledigt hätten. Auch nachdem diese Sinnesphänomene als wissenschaftlich nicht haltbar in der unproblematischen Selbstverständlichkeit ihrer Wahrnehmung zerstört sind, bestehen sie weiter. Für „das Auge des am Ufer Stehenden“ scheint der Horizont auch dann noch höher zu liegen als der Strand, wenn er „über die physikalischen Ursachen der Täuschung aufgeklärt ist“.111 Der Anschein verschwindet nicht dadurch, dass er als Sinnestäuschung kenntlich wird. Ja, der nicht einlösbare, nur hypothetisch mögliche Versuch, sich die doppelte Drehung der Erde um die Sonne und ihre eigene Achse sinnlich vorzustellen, führte zu nichts anderem, als einem Taumel der Sinne, zum kurzzeitigen Verlust der Gewissheit, mit beiden Beinen fest auf dieser Erde zu stehen, die doch eigens dafür geschaffen scheint, dem Menschen als Heimat und unerschöpf liche Ressource all dessen zu dienen, was er zum Leben braucht. Auch das stellt sich als Täuschung heraus, als gleichfalls notwendige Selbsttäuschung, durch die der Mensch gezwungen ist, die Welt zum Selbstbezug eines menschlichen Sinnes zu organisieren. In sinnhaften Setzungen wird der Welt ein Sinn unterstellt, der ihr erst abzuringen ist. Diese kontrafaktische Unterstellung eines menschlichen Sinns von Welt setzt einen Geltungsanspruch, der sich nur durch menschliche Interventionen in den Eigensinn dieser Welt behaupten lässt. In der Gleichgültigkeit gegen diese emphatischen Konstruktionen von Sinn setzt die Welt menschlichem Expansions - und Bemächtigungsdrang einen Widerstand entgegen, der das anthropozentrische Selbst in die Komplexität sachlicher Weltverhältnisse zwingt. Der Zwang, die Welt auf sich aufmerksam zu machen, sie zu einer Reaktion zu provozieren, die dem Menschen Aufschluss über seine Stellung in der Welt gibt, erschließt die Welt in ihrer sachlichen und darin zugleich menschlichen Bedeutung. Es ist eine sachliche Bedeutung von Welt, die sich menschlichem Eingriff verdankt. In Kants Bestimmung, dass wir die Natur nur soweit erkennen, wie wir sie machen können, ist diese Konstellation auf den Begriff gebracht : „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts, 111 Ebd., S. 138 f.

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ursprünglich hineingelegt.“112 Nur was sich auf weltliche Zusammenhänge beziehen lässt, ist als Selbstverhältnis und damit als Weltverhältnis begründbar. Der Anthropozentrismus menschlicher Selbstbezüglichkeit, die intuitive Besetzung der ihnen begegnenden Dinge mit einem menschlichen Sinn, so dass alles erst in Bezug auf sie selbst Relevanz gewinnt, ist entscheidend. Dennoch kann sie nicht die Quintessenz menschlicher Welt - und Selbstverhältnisse sein. Bliebe es bei einer durch gegenteilige Erfahrungen unbeirrten und unbelehrbaren Variation von Sinnsetzungen, so würde gerade das, was Menschsein anthropologisch auszeichnet, auf Dauer verfehlt. Es ist die Souveränität einer Integration unterschiedlicher Welten und Weltbezüge, die aus der Komplementarität von Abhängigkeit und Bemächtigung aussteigt, in der Menschsein sich als exzentrische Positionalität behauptet. Was immer in der Welt geschieht, beziehen Menschen in der existentiellen Erschütterung des für selbstverständlich Genommenen auf sich selbst. Wer, wenn nicht sie selbst, soll gemeint sein, wenn das Schicksal sich von den Menschen abwendet ? Die fortgesetzte Missachtung des Gebotes der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, die Verletzung menschlicher Würde und Differenzen – was sonst steckt dahinter, als eine moralische Prüfung und die Aufforderung, gegen Unrecht aufzubegehren in einer Situation, in der Gott selbst in seiner vermeintlichen Indifferenz Menschen diese Prüfung aufzuerlegen scheint ? Noch in der geschichtlich legitimierten und durch Gewalt sanktionierten Außerkraftsetzung moralischer Normen sind Menschen dazu aufgefordert, auf der uneingeschränkten Geltung dieser Normen zu bestehen. In der offensichtlichen Sinnlosigkeit von Gewalt und Zerstörung suchen sie nach einem verborgenen Sinn, der sich nicht jedem und jederzeit, sondern nur Auserwählten in der Stunde menschlicher Bewährung und moralischer Prüfung erschließe. Wissenschaftlich haltbar sind auch diese Phantasien nicht, und dennoch erneuern auch sie sich beständig im Rhythmus ihrer faktischen Widerlegungen. Es ist dieses Bedürfnis nach Harmonie und Geborgenheit, nach fragloser Zugehörigkeit und Sicherheit, das Menschen für Glücks - und Heilsversprechen empfänglich macht, in denen eine unproblematische Ganzheitlichkeit menschlicher Existenz als möglich unterstellt wird. Ideologische Ganzheitsversprechen sind mit dem Eigensinn anderer Lebens - und Existenzformen unvereinbar. Sie erklären diese zur Gefahr für die eigenen Gemeinschaft und legen ihre prophylaktische Unterdrückung oder Vernichtung zum Schutze der eigenen Existenz nahe.

112 Kant, Kritik, S. 179.

VI. Politischer Humanismus und philosophische Anthropologie 1. Lebensführung in exzentrischer Positionalität. Helmuth Plessners Grundlegung philosophischer Anthropologie Nur das, was Menschen sich selbst und ihrem Tun verdanken, das dennoch aber ihren subjektiven Intentionen entgegenkommt, sichert ihnen im Ergebnis einer Vermittlung, die sie selbst sind, ein Leben aus der Mitte ihrer Existenz, die den Gegensinn der Verhältnisse aufnimmt. Oder in den Worten Kants, der damit die Grundfrage philosophischer Anthropologie formulierte : „Eine Lehre von der Kenntniss des Menschen, systematisch abgefasst ( Anthropologie ), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. Die physiologische Menschenkenntniss geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“1 Kurz : Natur ist Fremdbestimmung, Freiheit Selbstbestimmung. Die Absetzung einer solchen pragmatischen Anthropologie von der physiologischen Natur des Menschen operiert mit einer idealtypischen Setzung : dem Menschen als einem frei handelnden, vernünftigen Wesen, das aus seiner Naturabhängigkeit heraustreten kann und soll. An diese Fragestellung knüpfte auch Plessners Anthropologie an.2 Organisiert um das Konzept exzentrische Positionalität zielte sie vor allem darauf, eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht methodisch zu operationalisieren. Was also ist der Mensch, und in welcher Hinsicht verdankt er das, was er aus sich selber machen kann, seiner exzentrischen Positionalität ? Die These von der exzentrischen Position formuliert zunächst eine „Struktur der Distanzierung“3, in der die Fähigkeit des Menschen, zu seiner eigenen Mitte und damit zu sich selbst auf Distanz zu gehen, beschrieben wird. In exzentrischer Position ist der Mensch „das Andere seiner selbst“.4 Nur als Mitte seiner selbst auf sich zentriert vermag er aus sich über sich hinauszugehen. In der Vergewisserung einer eigenen Identität findet sich der Mensch in einer Komplexität von Zusammenhängen wieder, die sein intuitives Welt - und Selbstvertrauen als problematisch in Frage stellen. Dabei weicht die intuitive Sicherheit zu wissen, woran er mit sich ist in einer Welt, die er selbstverständlich auf sich bezieht, dem in seinem Ausgang offenen Prozess, erst herauszufinden, wie und wodurch er sich mit einer eigenen Identität in einer Welt behaupten kann, die ihm indifferent gegenüber steht. Die exzentrische Positionalität ist auch die „Existenzform der Ergänzungsbedürftigkeit“, aus der heraus der Mensch sich erst ver-

1 2 3 4

Kant, Anthropologie, S. 399. Zu Plessners Anthropologie vgl. Haucke, Plessner. Plessner, Homo abscondicus, S. 357. Plessner, Nation, S. 230.

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Politischer Humanismus und philosophische Anthropologie

schaffen muss, „was die Natur ihm schuldig bleibt, weil sie ihm die höchste Organisationsform verliehen hat“.5 Hannah Arendts Konzept menschlicher Bedingtheit kann als Antwort auf das gleiche Problem gesehen werden. Der Mensch muss sich behaupten in einer Welt, die nicht auf ihn und seine Bedürftigkeit zugeschnitten ist, und die er sich eben deshalb in ihrer Aneignung zu eigen macht – in der er sich auf eine Weise positioniert und behauptet, die diese Welt selbstverständlich auf sich bezieht. „Menschen sind bedingte Wesen, weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz verwandelt. [...] Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen. Was in ihrer Welt erscheint, wird sofort ein Bestandteil menschlicher Bedingtheit.“6 Die Exzentrizität seiner Positionsform ist verantwortlich dafür, dass der Mensch seinen „Schwerpunkt außer sich hat und darum nicht mehr in sich ruht“.7 Er konfrontiert sein Leben, wie es ist, mit einem Leben, wie es sein könnte oder sollte. Zu dem, was sie immer schon sind, müssen sich Menschen in der Aneignung der ihr Selbstsein ermöglichenden Bedingungen erst machen. Zugleich können sie aus ihrem Leben immer nur das machen, was als Bedingung seiner Möglichkeit bereits in ihm liegt. „Der Mensch kann nur erfinden, soweit er entdeckt. Er kann nur das machen, was es schon an sich gibt – wie er selbst nur dann Mensch ist, wenn er sich dazu macht, und nur lebt, wenn er sein Leben führt.“8 Ein Leben auf der Höhe der in ihm liegenden Möglichkeiten zu führen ist Menschen nur dann möglich, wenn es ihnen zugleich in der Auseinandersetzung mit den von ihnen selbst nicht verantworteten Bedingungen ihres Lebens gelingt, diese in ihren eigenen Lebensentwurf einzuarbeiten.9 Zu diesen Bedingungen stehen sie in einer „indirekt - direkten Beziehung [...], in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen bzw. zu gewährleisten“.10 Sie sind dabei auf eine körperliche Organisation festgelegt, zu der sie jedoch zugleich in einer Weise auf Distanz gehen können, die ihre angenommene Subjektposition als natürliche, naturgegebene Mittellage in der anthropozentrischen Existenz des aus sich auf sich hin Lebens problematisiert. Weder sollen sie sich dem vermeintlich zwingenden Diktat dieser Bedingungen einfach beugen noch diese in den eigenen Lebensentwürfen aus Prinzip als Fremdbestimmung ablehnen oder ignorieren. In seiner Schrift „Macht und menschliche Natur“ hatte Plessner die „offene Unergründlichkeit“ des Menschen als Grundcharakter der menschlichen Lebenssituation bestimmt – des in sich zentriert Seins, um über sich hinausgehen 5 6 7 8 9 10

Plessner, Stufen, S. 320 f. Arendt, Vita Activa, S. 16. Plessner, Mensch, S. 323. Ebd., S. 321 f. Vgl. Plessner, Stufen, S. 309. Ebd., S. 324.

Lebensführung in exzentrischer Positionalität

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zu können; aber auch des aus sich heraus gehen Müssens, um sich selbst seine eigene Mitte bleiben zu können : „Menschsein ist das Andere seiner selbst Sein“.11 Dabei stehe der Mensch immer in der Versuchung, dieses Andere als etwas Anderes von sich als seinem eigentlichen Wesen abzuspalten. „Das Andere seiner selbst distanziert er zu sich und macht es so zu einem Anderen als er selbst.“12 Oder aber er erklärt das Andere zum Teil seiner selbst, wodurch es als radikale Infragestellung des Selbst entschärft ist. Dagegen besteht Plessner darauf, dass der Mensch in seiner gleichzeitigen und gleichgewichtigen „Macht und Ohnmacht, Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit“ auch den „Schwerkrafts - und Fallgesetzen“ der Natur, „ihren Wachstums - und Vererbungsgesetzen wie ein Stück Vieh unterworfen, mit Maß und Gewicht zu messen, bluthaft bedingt, dem Elend und der Herrlichkeit einer blinden Unermesslichkeit ausgeliefert“13 sei. In seinem Anspruch, sein Leben selbstbestimmt zu führen, nimmt er diese Bedingtheit als Herausforderung, sich ihr weder einfach zu unter werfen noch zu entziehen, sondern sie sich anzueignen. „Durch die Exzentrizität seiner Positionsform ist der Mensch ein Lebewesen, das Anforderungen an sich stellt. [...] Er ist [...] ein sich im Modus der Aufforderung selbst bändigender, domestizierender Organismus.“14 Die Anforderungen, die er an sich stellt, stehen den Forderungen, die die Natur an ihn stellt, entgegen. Konditioniert durch diesen Gegensatz von Natur - und Sittengesetz, von Pflicht und Neigung, von Trieben und Moral wird der „Konflikt [...] zur Mitte seiner Existenz“.15 Der Mensch ist seiner selbst mächtig und steht doch der Unverfügbarkeit seines Körpers ohnmächtig gegenüber. Im Verhältnis zu seinem Körper, den er nicht nur hat, sondern der er selbst auch ist, erfährt er sein Selbstsein als ein Sein, das unter Bedingungen steht. Es ist sein Körper, der seiner Souveränität Grenzen setzt und „ihn dem Lauf der Dinge ausliefert“.16 Dennoch ist seine Körperlichkeit nicht die Verkörperung der Mängelhaftigkeit des Menschen. Nicht, was dem Körper zur Vollkommenheit fehlt, was ihn stärker, sinnlich eindrucksvoller, ästhetisch überzeugender, attraktiver und liebenswerter machen könnte, wenn er es denn hätte, reiht sich zur Abfolge körperlicher Mängel im Vergleich zum Tier oder einem körperlich vollkommen ausgestatteten Übermenschen, sondern Körperlichkeit, die Bindung des Menschen an die Existenz eines Körpers, ist Bedingung und Ausdruck von Menschsein in der ihm möglichen Vollkommenheit wie unvermeidlichen Verletzlichkeit und Fragilität. Gegen die Erklärung der „Innerlichkeit zum Ort eigentlicher Menschlichkeit“17 stellt Plessner heraus, dass der Mensch „auch das, worin er sich nicht selbst ist“, in einem 11 12 13 14 15 16 17

Plessner, Macht, S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 225. Plessner, Stufen, S. 317. Ebd. Plessner, Macht, S. 230. Plessner, Conditio humana, S. 205.

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Politischer Humanismus und philosophische Anthropologie

keineswegs „äußerlichen, geringeren oder nachgeordneten Sinne“18 ist. Gegen die Versuchung, den Körper als Ausdruck „des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an die Naturgesetze“19 gegen die eigentliche Innerlichkeit seiner Person zu setzen, bestimmt Plessner das Kompositum Mensch, das „als das Andere seiner selbst auch er selbst ist“.20 Der Mensch ist Körper „in demselben Range wie er der mächtige Verantwortliche ist“21 und als solcher den durch seine Biologie geprägten existentiellen Erfahrungen von Geburt, verletzlicher Körperlichkeit und Tod ausgeliefert. Nach dem Verlust der naiven Unmittelbarkeit der eigenen Seinsposition muss der Mensch durch kulturelle Vermittlungen wiederherstellen, was so noch nie für ihn bestanden hat : eine Existenzform des Lebendigen, die gar nicht anders kann, als sich immer wieder in Frage zu stellen, neben sich zu treten, um hinter sich selbst und das Geheimnis ihres eigenen Lebens zu kommen. Dieses Geheimnis menschlichen Lebens liege darin, dass sich der Mensch in einer „Kette von Unvorhersehbarkeiten, [...] Versäumnissen und verlorenen Möglichkeiten“ einer immer zufälligen und improvisierenden Lebensführung, deren Sinn sich ihm erst im Nachhinein erschließt, eine ihm gemäße menschliche Ordnung – „eine natürliche als die gerechte Ordnung“22 – erst schaffen muss. Jeder Versuch der Gründung einer solchen Ordnung ziele darauf, „die wesenhafte Inkongruenz der Situation des Menschen in ihr selbst auszugleichen, eine produktive Möglichkeit der Wiederherstellung dessen, was nie bestanden hat“.23 In reflexiver Distanz zu sich selbst aus ihrer eigenen Mitte lebend stehen Menschen vor der Herausforderung, in bewusster Lebensführung zu meistern, was sich nicht mehr im naturwüchsigen Selbstlauf organisch festgelegter Zyklen einer zentrischen Lebensform von selbst organisiert und regelt. In dieser Spannung lebt der Mensch. In ihr wird sein Drang nach Freiheit zur Herausforderung, sich in Zusammenhängen und Bindungen, die sein Leben übergreifen, und nicht gegen sie zu behaupten. Auf der Suche nach einer ihm gemäßen Lebensführung kämpft der Mensch mit sich gegen sich selbst um sich selbst. Ohne die Bindung an die zentrische Organisationsform seines Körpers außer Kraft setzen zu können, steht er zugleich in exzentrischer Positionalität außer und neben sich. Die raum - zeitliche Positionierung des lebendigen Körpers, der zu einer bestimmten ( Lebens - )Zeit einen bestimmten Raum einnimmt, wird in der menschlichen Lebensform problematisch. Um ihren Standort zu bestimmen, reicht das Koordinatensystem ihres Körpers nicht aus. In der „Ortlosigkeit exzentrischer Position“24 sind Menschen in den utopischen Standort des Nirgendwo gezwungen. Das, was sie in der Wirklichkeit hält, ist als ihr gründender 18 19 20 21 22 23 24

Plessner, Macht, S. 226. Ebd., S. 227. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 199. Ebd. Plessner, Stufen, S. 343.

Lebensführung in exzentrischer Positionalität

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Grund haltlos. Die Annahme eines absoluten Weltgrundes soll ihnen in dieser Situation helfen, die Möglichkeit eines „vollkommenen Gleichgewichts“ mit sich und der Welt dennoch offen zu halten. Mit der Annahme eines Doppelaspekts menschlicher Existenz stellte Plessner eine Menschen nicht verfügbare Einbindung in gegebenen Strukturen ihrer Fähigkeit zu freiem Selbstentwurf gegenüber. Dabei unterschied er die Seele als die Gesetzen unterworfenen Anlagen des Menschen vom Erleben als der durchzumachenden Wirklichkeit des eigenen Selbst im Hier und Jetzt. Damit setzte er sich ab von einer Verklärung der Seele als dem mythischen Kern eines eigentlichen menschlichen Selbst, das der Erkenntnis unzugänglich und angemessen nicht kommunizierbar sich nur intuitiv oder einer Psychoanalyse des Unbewussten erschließe.25 Körperlich, so Plessner, bleibt der Mensch Tier, da seine exzentrische Positionalität, die ihn zum Menschen macht, ihn in keine neue Organisationsform setzt. Die zentrische Organisationsform, die er mit dem Tier gemeinsam hatte, bleibt die Basis seiner Exzentrizität. Um sich neben sich stellen zu können, braucht er die Mitte. Er ist eben nicht nur Positionalität, d. h., auf sich als lebendige Mitte seiner komplexen Existenz in all seinen Dezentrierungen bezogen, sondern exzentrische Positionalität. Nur aus der Distanz, ohne je uneingeschränkt mit sich selbst übereinstimmen zu können, war dem Menschen als reflektiertem Exzentriker ein ganzheitliches Leben möglich. Das Tier, dem „sein selber sein verborgen“26 sei, könne dagegen nicht in Beziehung zu seiner eigenen positionalen Mitte treten. Die Selbstbeziehung, die zur eigenen Subjektposition auf Distanz geht, ist ihm nicht möglich. Es ist in seinem Verhalten auf seine körperliche Organisation festgelegt, während der Mensch in seinem Verhaltensrepertoire mit der Differenz von Innen - und Außenperspektive, von körperleiblicher Bestimmung und der reflexiven Öffnung dieser Festlegung zum Entwurf seines Selbst im Horizont unbestimmter Möglichkeiten spielen kann. Im Unterschied zur Selbstverständlichkeit der tierischen Zentralposition versteht sich das Selbstsein des Menschen nicht von selbst. Ihr Leben steht unter dem Risiko des Scheiterns : Menschsein ist „eine Chance, [...] die jeder ergreifen oder verfehlen kann“.27 Diese Chance liegt darin, eine lebbare Balance von zentrischer Organisations - und exzentrischer Positionsform zu finden und gegen die Versuchung des Rückfalls in die durchschnittliche Gattungsexistenz zu behaupten.28 In seiner exzentrischen Positionalität ist der Mensch dazu gezwungen oder auch befähigt, in seinem Lebensvollzug zugleich neben sich zu stehen und auf sich selbst und sein Leben von außen zu sehen. Diese zugleich erlebte und reflektierte Differenz möglicher Perspektiven kann als Eigenständigkeit sepa25 26 27 28

Vgl. ebd., S. 295. Ebd., S. 288. Plessner, Conditio humana, S. 140. Zur Diskussion des Konzeptes exzentrische Positionalität vgl. u. a. Krüger, Lachen, S. 94 f.; Eßbach, Mittelpunkt und Fischer, Positionalität.

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rierter Welten, aber auch als Differenz von eigentlicher Existenz und oberflächlichem Leben, vorgestellt werden. Der durch das Vermögen exzentrischer Positionalität gesetzte Maßstab eines Lebens auf der Höhe seiner Möglichkeiten fordert Menschen dazu auf, sich an einem Leben im Wechsel der Perspektiven und der Zusammenführung der unterschiedlichen Aspekte zu einer lebbaren Identität zu versuchen. In „konstitutiver Heimatlosigkeit“ muss der Mensch sein Selbst immer wieder neu entwerfen. Die „natürliche Künstlichkeit“ bestimmte Plessner als exemplarischen Modus menschengemäßer Lebensführung.29 Der Anlass zur Kultur sei die exzentrische Lebensstruktur des Menschen und die damit verbundene „konstitutive Gleichgewichtslosigkeit“. In dem, was er sei, komme der Mensch nicht zur Ruhe : Er will mehr sein, als er ist. Die Künstlichkeit als Wesensausdruck seiner Natur ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einer zweiten Natur und Heimat des Menschen.30 Nur das, was er sich zur Heimat macht, gilt ihm als solche. In konstitutiver Ruhe - und Heimatlosigkeit auf der Suche nach einer einfachen Unmittelbarkeit entspannter Existenz muss der Mensch damit rechnen, dass sein Leben auf Dauer problematisch bleibt. Plessners Rückbindung des Menschen an eine Organisationsform des Lebendigen, die er mit dem Tier teilt, die er aber auch gleichzeitig zur reflexiven Lebensform exzentrischer Positionalität steigert, rückt nicht nur die Kultivierung der menschlichen Natur, die „natürliche Künstlichkeit“ menschlicher Kultur in den Blick, sondern auch den möglichen Rückfall des Menschen in vorreflexive ( anthropo )zentrische Organisationsformen des Lebendigen. Die Exzentrizität seiner Lebensform stellt ihn vor die Herausforderung, sich in der Spannung natürlicher Lebensbedingungen und kultureller Setzungen mit einer eigenen Identität zu behaupten. Als lebendiger Körper steht der Mensch in der Kontinuität organischen Lebens, deren mit dem Tier erreichte zentrische Organisationsform sich in ihm zur Reflexivität der zentrischen Mitte in der exzentrischen Außenperspektive steigert – zum widersinnigen Paradoxon der exzentrischen Mitte.31 Um sich im Gleichgewicht einer fraglos - selbstverständlichen Lebensform zu halten, brauche der Mensch ein kulturelles Gegengewicht zu seiner ihm selbst problematischen Mittellage.32 Als lebendiges Wesen, das in die Mitte seiner Existenz gestellt zugleich aus der Mittellage dieser Existenz gefallen sei, braucht er die Vermittlung kultureller Gegenwelten. Die Metapher der „konstitutiven Heimatlosigkeit“, die Plessner für diesen Zusammenhang findet, ist im besten Sinne mehrdeutig. Auf der Suche nach einem Ort, der sie zum Verweilen in uneingeschränkter Zustimmung zu seinen existentiellen Koordinaten einlädt, erfahren Menschen die frei schwebende Existenz der Ort - und Zeitlosigkeit als die ihnen gemäße Weise, ihr Leben zu führen. Bei sich selbst sind sie zugleich außer sich. 29 30 31 32

Vgl. Plessner, Stufen, S. 309 f. Vgl. ebd., S. 316. Vgl. ebd., S. 342. Vgl. ebd., S. 311.

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Nähe ertragen sie auf Dauer nur aus der Ferne einer sehnsüchtig übersteigerten Erwartung oder in der flüchtigen Intensität des gelebten, gerade nicht auf Dauer zu stellenden Augenblicks. Die ihnen aufgezwungene Distanz des Fremden zum Eigenen nährt in ihnen die unstillbare Sehnsucht nach einer rückhaltlosen Nähe, die alle Distanzen auf lösen würde, und die in der Distanzlosigkeit des verfehlten Taktmaßes zwischen Menschen doch immer wieder nur die aggressive oder depressive, jedenfalls enttäuschte Abstandnahme provoziert. Die anthropologische Herausstellung der exzentrischen Positionalität zeichnet die Mitwelt als die Menschen gemäße soziale Existenzform aus. „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position. [...] die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen. Sie ist absolute Punktualität, in der alles, was Menschenantlitz trägt, ursprünglich verknüpft bleibt. [...] Sie ist die Sphäre des Einander und der völligen Enthülltheit, in der alle menschlichen Dinge sich begegnen.“33 Mitmenschlichkeit, die Anteil nehmende Hinwendung zum Leben des Mitmenschen, als sei in seinen Freuden und Leiden ich selbst in meinem Leben betroffen, ist in einer anthropologischen Tiefenstruktur der menschlichen Lebensform gegründet. Moralisches Verhalten verliert mit dem Verzicht auf die durch die Kantsche Pflichtethik tradierte Forderung, in der Intuition der Mitmenschlichkeit zunächst von eigenen Interessen abzusehen, ja, wenn nötig, gegen die eigenen Interessen zu handeln, die negative Aura übermenschlich - irrationalen Verhaltens. Es wird zu einem wahrscheinlichen Verhalten, das von Menschen, die sich in ihrem Handeln von ihren Interessen leiten lassen, erwartet werden kann : Im Blick auf das zu handeln, was Menschen füreinander in einer von ihnen geteilten Welt sind und bedeuten bzw. sein und bedeuten könnten.

2. Das Konzept des politischen Humanismus Der universelle Geltungsanspruch des westlichen Wertesystems hat sich historisch als Alleinvertretungsanspruch universeller Gattungsvernunft und damit dessen, was als menschlich und dem Menschsein gemäß gelten soll, herausgebildet. Dieser Anspruch, als Verkörperung der Vernunft fraglos gültige Standards menschlicher Entwicklung zu setzen, hat sich diskreditiert. Mit dem Hegemonialanspruch westlicher Kultur stand dabei auch die Relevanz ihrer Erfahrungen und Werte für nichtwestliche Kulturen in Frage. Das universelle Menschenbild des politischen Humanismus geht auf Traditionen der Antike, des Christentums und der Aufklärung zurück. In der messianischen Politik eines eurozentrischen Kulturimperialismus wurde dieses Menschenbild zur Verkörperung exemplarischer Humanität stilisiert. Noch die Anerkennung all dessen, „was Menschenantlitz trägt, als gleichberechtigte Ausformungen und Weisen des Menschseins“34, so Plessner, verhindert nicht zwin33 Ebd., S. 302 und 304 f. 34 Plessner, Macht, S. 154 f.

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gend, Kulturen, denen ein allgemeiner Begriff des Menschen fremd ist, mit dem Argument, das „in Wahrheit Menschliche sei dort eben noch nicht zu sich aufgebrochen oder faktisch geworden“35, ein gleichberechtigtes Menschsein abzusprechen. Europas ursprüngliche Bindung an das Christentum und die klassische Antike ist für sein kulturelles Selbstverständnis prägend geblieben. Die Annahme eines vernünftigen Prinzips im Menschen hatte für den Europäer den Sinn einer spezifischen Sendung Europas. Diese bestand in der Verpflichtung auf die mit dem Vernunftbegriff assoziierte Mission, das eigene universelle Wertesystem über die ganze Welt zu verbreiten.36 Auf diese Weise war dem politischen Humanismus der Anspruch einer normativen Leitfunktion Europas und des Westens konzeptionell eingeschrieben. Seine Annahme einer Wesensgleichheit aller Menschen operierte mit der Konstruktion einer überpersönlichen Vernunft, die als innerweltlicher Erlösungsglaube und innerer Antrieb der „Selbstbefreiung des Menschen durch den Menschen“37 wirksam werden sollte. Die Bestimmung des Menschen wurde darin gesehen, sich von allen inneren und äußeren Fesseln uneingeschränkter Selbstbestimmung frei zu machen. Das auf Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und andere universelle Prinzipien gegründete westliche Wertesystem ist in seinem absoluten Geltungsanspruch an alle Menschen adressiert. Der normativen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft wurden die faktischen Ordnungen ihrer gesellschaftlichen Subsysteme gegenüber gestellt. Von hier aus war sowohl die Kritik der tatsächlichen Spaltung und Fragmentierung der bürgerlichen Gesellschaft am Maßstab der von ihr selbst politisch in Anspruch genommenen universellen Bürger - und Menschenrechte als auch die Separierung des bürgerlichen Wertesystems von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung möglich. Die nach Prinzipien von Konkurrenz und Effizienz organisierte kapitalistische Gesellschaft war von einer normativen Kritik, die mit der Idee einer Welt operierte, wie sie unter idealen Bedingungen sein könnte und sollte, nicht zu treffen. In der Gegenüberstellung von Sein und Sollen wurde, entgegen ihres kritischen Impulses, die Aufspaltung der bürgerlichen Gesellschaft in gegeneinander gleichgültige und voneinander unabhängige Bereiche mit je eigenen Geltungskriterien noch bekräftigt. Bürgerliche Universalität erscheint dann als eine Art Wertehimmel, der als normatives Universum die Fragmentierungen und Widersprüche weltlicher Konflikte und Unzulänglichkeiten überwölbt. Der universelle Geltungsanspruch der Vernunft hebt den verpflichtenden Charakter von Freiheit, Gleichheit und anderen universellen Werten her vor. Alle Menschen haben das Recht auf gleiche Lebenschancen. Faktisch sind ihre Lebenschancen aber sowohl im globalen Vergleich als auch innerhalb einzelner Staaten ungleich verteilt. 35 Ebd., S. 156. 36 Plessner, Nation, S. 37. 37 Ebd., S. 38.

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Die Übernahme europäischer Methoden auf dem Weg des Fortschritts durch Kolonialländer oder den Osten hatte nichts mehr mit der „sittlichen Entwicklung“ und der „Eschatologie der Vernunft“ zu tun, die ursprünglich untrennbar von der Idee des Fortschritts war.38 Der Verwestlichung der Welt, in der sich die westliche dominierte Globalisierung als kulturelle Kolonialisierung fortsetzte, stand die Aufspaltung kultureller und technologisch - industrieller Modernisierung gegenüber. Andere Kulturkreise konnten sich der wissenschaftlich technischen Möglichkeiten okzidentaler Rationalität bedienen, ohne deshalb ihre eigenen kulturellen Traditionen aufgeben mussten. Europa drohte in der Folge von eben den Entwicklungen abgehängt zu werden, die es selbst führend initiiert hatte. Innovationen in Industrie, Wissenschaft und Technik kamen jetzt ohne religiöse und humanistische Begründungen aus. Die Vereinbarkeit des Kapitalismus mit ganz unterschiedlichen Traditionen erleichterte seine weltweite Durchsetzung. Seiner beispiellosen Dynamik und Überlegenheit im ökonomischen Wettbewerb waren konkurrierende Wirtschaftssysteme nicht gewachsen. Moralische Überlegungen spielten für die strategischen Entscheidungen, die in der kapitalistischen Gesellschaft zu treffen waren, in der Regel keine Rolle. Die Religion, und damit auch die Moral, die aus ihr die entscheidenden Impulse, Begründungen und Rechtfertigungen bezogen hatte, wurden zur privaten Angelegenheit erklärt. „Wo [...] in einer Kultur die Religion der Umwälzung in der Praxis keine Grenzen setzt [...] automatisiert sich die industrielle und in eins damit die wissenschaftliche Organisation des Lebens. Sie gewinnt von selber neutralen Charakter, neutral gegen den Geist des Landes, das sich ihrer bedient. Sie formalisiert sich zum bloßen Instrument des Lebens.“39 Die Instrumentalisierung der Kultur zum bloßen Anhängsel gesellschaftlicher Umwälzungen suggeriert die moralische Indifferenz einer Gesellschaft, die effiziente Organisation und die Kalkulierbarkeit strukturierter Abläufe höher schätzt, als die reflexive Irritation durch die normative Problematisierung und die moralische Kritik der Rhetorik von Sachzwängen, Wachstum, Fortschritt und Beschleunigung um ihrer selbst willen. In dieser Rolle der Initiierung reflexiven Innehaltens, moralischen Bedenkens und existentieller Selbstbefragung nach dem menschlichen Zugewinn oder aber Preis für vermeintlich sachlich zwingende Entwicklungen ist die Religion durch säkulare Instanzen offensichtlich nur mit Verlust zu ersetzen.40 Die Expansionskraft westlicher Rationalität verdankt sich ihrer Fähigkeit zur Assimilation ganz unterschiedlicher soziokultureller Bedingungen und historischer Traditionen. Sie ist anschlussfähig an Bedingungen, die mit denen ihrer originären Herausbildung und Entfaltung nichts mehr zu tun haben, ja, die diesen sogar entgegenstehen können. Die zivilisatorischen Errungenschaften west38 Vgl. Plessner, Entzauberung, S. 7 f. 39 Plessner, Nation, S. 38. 40 Vgl. Habermas, Bewußtsein.

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licher Rationalität, die arbeitsteilige Ausdifferenzierung effizienter Subsysteme, die bürokratische Rationalisierung organisationsinterner Abläufe und die Kalkulierbarkeit strukturierter Prozesse funktionierten auch in nichtwestlichen kulturellen Kontexten. Ethos und Wertesystem westlicher Rationalität waren in einer technokratisch reduzierten Modernisierung verzichtbar. Von völkischer Ideologie wurden diese Entwicklungen zum kulturkritischen Vorwurf verallgemeinert, die abendländische Kultur sterbe an der Traditionszerstörung durch Technisierung und am emanzipierten Intellekt. Durch die globale Technisierung sei der Akzent vom auf andere Kulturen nicht Übertragbaren ( dem Irrationalen, Triebhaften und Gefühlsmäßigen ) auf das Übertragbare ( Geist, Logos, Intellekt ) verschoben worden.41 In einem auf Instrumentalität reduzierten Verständnis von Rationalität spielte der politische Humanismus keine Rolle mehr. Reduziert auf die instrumentelle Rationalität seiner Wirtschafts - und Sozialordnung, so die Kritik, hätte der Westen die Selbstverpflichtung auf moralische Prinzipien und ihre weltweite Durchsetzung aufgegeben zugunsten des Selbstlaufs ökonomischer und politischer Entwicklungen. Okzidentale Rationalität sei zum Synonym der effektiven Umsetzung von Zielvorgaben geworden, die, ohne selbst noch einmal reflexiv gebrochen und kritisch hinterfragt zu werden, nicht mehr in Frage standen. Zwar bleibt die Handhabung der Apparate und Maschinen „an das Verständnis der Theorie, aber nicht an das Verständnis für das humanistische Ethos der Theorie gebunden“.42 Plessner fand prägnante Worte für diese Aufspaltung von Ethos und Theorie bzw. Praxis : „Um ein Auto zu bauen, braucht man keine humanistische Tradition in sich zu haben, braucht man weder Faust zu sein noch Faust zu verstehen.“43 Was einmal als Leitkultur gesellschaftliche Modernisierung vorangetrieben hatte, konnte nun als unzeitgemäße und rückwärtsgewandte Blockierung von Entwicklungen der Moderne erscheinen. Die Mobilisierung der die mit dem Typus okzidentaler Rationalität verbundenen Möglichkeiten wissenschaftlicher und technischer Entwicklung durch die nichtwestliche Welt erlaubte es auch Ländern, die nicht über den Traditionsgrund des Westens verfügten, den Anschluss an den Entwicklungsstand der Moderne herzustellen. Der traditionsgestützte Entwicklungsvorsprung des Westens drohte mit dieser Entwertung seiner Traditionen und normativen Grundlagen zu schwinden. An diesen Traditionen festzuhalten, erschien jetzt als unzeitgemäße Bindung an ein Wertesystem, das nicht länger zukunftsfähig war. Seine Erneuerung wurde zum Gebot der Stunde. Ist es mit der fraglosen Selbstverständlichkeit eines Wertehorizonts und dem intuitiven Zusammenhalt einer Wertegemeinschaft vorbei, muss das, was sich nun nicht mehr von selbst versteht, in einem konstruierten Sinnhorizont plausibel gemacht werden. Im Selbstlauf von ihnen nicht mehr verantworteter Entwicklungen gehen die Menschen auf Distanz zu sich selbst und ihren Lebens41 Vgl. Dettelbach, Genialisierung, S. 28. 42 Plessner, Nation, S. 38. 43 Ebd.

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rhythmen, die sie als Maßstab und Medium zumutbarer Beschleunigung nicht mehr zu schätzen wissen. Sie distanzieren sich vom dem, was sie in naturgesetzlich - biologischen und soziokulturellen Zusammenhängen hält und mit ihrer Einbindung in ein ihnen nicht verfügbares Universum multipler Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten konfrontiert. Häufig wird ein Ungenügen und Unbehagen an der Gegenwart durch eine Rückwendung auf die Vergangenheit auszugleichen gesucht. So war auch die polemische Entwertung der Moderne als einer Reduktion des Menschlichen auf seine Funktionalität im kapitalistischen Produktionsprozess rückwärtsgewandt. Sie beschwor die „Unverrückbarkeit des Menschlichen in jedem landschaftlichen, völkischen und kulturellen Umkreis“ und erinnerte an die „Größe und Überlegenheit vergangener Zeiten, Menschen, Ereignisse“.44 Die Gegenwart erschien in ihr als Abstieg aus der sinnhaften Höhenlage der Vergangenheit in die „Sinnlosigkeit bürgerlich - proletarischer Arbeitswelt“.45 Die Kritik kapitalistischer Rationalität betont, dass die Entwertung menschlicher Existenz zu einem Leben, das nicht mehr um seiner selbst willen, sondern als Mittel der Sicherung ihm selbst äußerlicher Zwecke geführt und geschätzt wird, auch die Konzepte von Modernität und Bürgerlichkeit entwertet. Menschen würden nicht mehr um ihrer selbst willen geschätzt, sondern nur noch nach ihrer Leistungs - und Konkurrenzfähigkeit beurteilt. Das Leben derjenigen, die in der Konkurrenz nicht mehr mithalten können, habe in der Leistungsgesellschaft seinen Sinn verloren. Aussortiert aus der Leistungsgesellschaft, seien sie sozial und kulturell bereits tot. Für das Funktionieren ökonomischer Kreisläufe würden sie nicht mehr gebraucht. Die Überflussgesellschaft signalisierte ihnen, dass sie selbst eigentlich überflüssig waren. Gegenüber einer solchen Fundamentalkritik des Kapitalismus erlaubt es die Differenzierung von Kapitalismus und Moderne, die Vielfalt widerstreitender Traditionen und Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft als Ausdruck ihrer Komplexität zu sehen. Der Widerstreit (die Konkurrenz, der Wettbewerb, der Kampf ) sind in dieser Sicht oberstes Prinzip einer Gesellschaft, die für eine Vielzahl von Entwicklungsvarianten offen bleibt. Das Versprechen des wissenschaftlichen Zeitalters an den Menschen, sich „wahrhaft in den Griff zu bekommen“46, endete im Trauma des Souveränitäts und Selbstverlustes. Erwartet wurde, das wissenschaftlich aufgeklärte Bewusstsein werde den mündigen Bürger hervorbringen, der ohne Selbsttäuschungen auskommen und sich souverän der wirklichen Verhältnisse bemächtigen werde. Mit der Entwertung der lebensgeschichtlichen Funktionalität menschlicher Intuitionen und sinnlich - sinnhafter Ordnungen drohten jedoch die „Achtung vor jeder dem Leben eigenen Gesetzlichkeit“ und die „Zurückhaltung gegenüber der Vieldeutigkeit historischer Erscheinungen“47 verloren zu gehen und mit 44 45 46 47

Ebd., S. 110 f. Ebd., S. 111. Ebd., S. 119. Ebd., S. 129.

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ihnen die Möglichkeit, der Verarmung des Lebens zur ursprünglichen Vitalität des Untermenschlich - Tierischen48 theoretisch und kulturell noch etwas entgegen zu setzen. Im Namen der Befreiung von kulturellen Überfremdungen ergab sich das Bewusstsein seiner vermeintlich naturhaften Bestimmung. Selbsttäuschung war nicht mehr möglich. Entlassen aus dem ganzheitlichen Zusammenhang einer Lebenswelt wurden Wissenschaft und Technik zu kulturellen Vorreitern einer Beschleunigung und Verselbstständigung von Entwicklungen, die lebensweltlich nicht mehr eingeholt werden konnten. Was als Selbstzweck ungebremsten Fortschritts jedes menschliche Maß überstieg, wendete sich in seinen nicht mehr kontrollierbaren Folgen gegen den Menschen selbst. Die menschliches Leben umgreifende Unendlichkeit der Schöpfung, so die Kritik, sei ersetzt worden durch die grenzenlose Selbstermächtigung des Menschen, in seinen Werken kein Maß über oder außer sich mehr anzuerkennen. Ohne religiöse Disziplinierungen und moralische Hemmschwellen aber werde menschliches Handeln in der Hybris auf sich selbst reduzierter Arroganz verantwortungslos. Solche zeitgenössischen Argumentationsfiguren einer Kulturkritik der Moderne setzen den Rahmen, in dem sich auch Plessner bewegte. Synonym des humanistischen Ethos war die christliche Religion. An ihrer Stelle konnte mit der Säkularisierung eine Ideologie die Funktion kultureller Grenzsetzung übernehmen. Auch sie stellte Menschen in den Horizont eines ihr Dasein umgreifenden höheren Seins. Menschen, die in christlicher Tradition und Kultur sozialisiert waren, suchten den in der Säkularisierung verloren gegangenen Halt an der Religion nun in weltlichen Ersatzbildungen des Religiösen. Eine Welt ohne existentielle Haltepunkte selbstverständlicher, angstfreier Zugehörigkeit wirkte auf sie bedrohlich. Allein auf sich selbst gestellt, fehlte ihnen die Gewissheit, in einer Welt willkommen zu sein, die den Menschen freundlich umfing. Stattdessen waren sie damit beschäftigt, sich erst einen Platz in dieser Welt zu erobern und ihr ihren Willen aufzuzwingen. In einer Welt, die auch ohne sie vorstellbar war, waren sie selbst auf ein gelingendes Weltverhältnis angewiesen. Die Annahme der lebensweltlichen Relevanz von Vernunft und Aufklärung verpflichtet Menschen darauf, die Geltung universeller Werte und Ideen in ihrem Leben unter Beweis zu stellen. Eine in lebensweltlichen Zusammenhängen gründende praktische Vernunft muss ihre Funktionalität in der Vermittlung von Konflikten und dem Ausgleich von Differenzen zwischen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen nachweisen. Als prozedurale Ethik schließt der Humanismus lebensweltliche Konflikte nicht aus, sondern legt er ihre mögliche Lösung durch die betroffenen Parteien nahe. Menschen, die sich in ihrem Handeln an universellen Werten orientieren, beziehen andere Menschen kraft ihres Menschseins, und nicht nach selektiven Kriterien ihrer Zugehörigkeit, in den Geltungsraum ihres moralischen Universums ein. 48 Vgl. ebd., S. 157.

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Indem sich der Mensch in der Welt exponiert, erschließt sich ihm im konstitutiven Weltbezug nicht nur diese Welt, der er mit allen Fasern seiner leiblich sinnlichen Existenz in der Fülle aller seiner Seinsdimensionen angehört, sondern auch sein Selbst.49 Der Mensch ist nicht allein durch sein Reflexionsvermögen definiert, sondern er zeichnet sich vor allem durch die Fähigkeit aus, seine unterschiedlichen Vermögen selbst dann noch in einer Person zu integrieren, wenn diese sich in ihrer Konsequenz gegenseitig auszuschließen scheinen. Gerade dadurch, dass diese Vermögen sich ihren je absoluten Geltungsanspruch aus perspektivisch guten Gründen wechselseitig bestritten, setzte sich ein Pluralismus der Perspektiven durch, der sich nicht länger an dem aussichtslosen Versuch abarbeitete, Menschen auf die strukturelle Ordnung einer Perspektive festzulegen, die als die kulturell überlegene festgeschrieben werden sollte. Wurde „allen Dimensionen menschlicher Existenz“50 zunächst das gleiche Recht lebensweltlicher Äußerung zugestanden, so war die Möglichkeit einer perspektivischen Verengung dessen, was als objektiv gelten sollte, ausgeschlossen. Die Pluralität normativer Perspektiven und existentieller Dimensionen, so Plessner, war dagegen immer dann bedroht, wenn eine dieser Perspektiven als vermeintlicher Universalschlüssel menschlicher Existenz die kulturelle Führung übernahm. Das Gespür dafür, dass nicht nur die Vielfalt menschlicher Lebens und Ausdrucksformen, sondern auch die lebensgeschichtlich stimmige Biographie eines jeden Menschen sich dem Balanceakt der Vermittlung unterschiedlicher Perspektiven, Intuitionen und Einflüsse verdankt, geht in der anthropologischen Reduktion universellen Menschseins verloren. Menschliche Pluralität, so hatte es Hannah Arendt ausgedrückt, besteht darin, „dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden“.51 Dabei kann die Annahme, der Mensch sei ein zur Selbstver vollkommnung fähiges Wesen mit dem legitimen Anspruch auf ein erfülltes, glückliches Leben ebensowenig empirisch begründet werden, wie die gegenteilige Behauptung, Menschen seien in einer, am Maßstab ewigen Lebens gemessen, existentiell unbedeutenden Episode irdischen Daseins zu rigoroser Pflichterfüllung, Leiden und Verzicht bestimmt, um damit ihre Eignung für eine höhere Existenzform nachzuweisen.

3. Politische Anthropologie und humanistisches Ethos Im Rekurs auf eine „Stufenfolge des Organischen“ hatte Helmuth Plessner eine biologische Grundlegung des Politischen unternommen. Erst eine vorgeschichtlich ansetzende Herangehensweise erlaube es, „den Menschen in seiner geistigen und physischen Existenz, [...] als sittliche Person von Verantwortungsbewusstsein in eben derjenigen Richtung zu betrachten, die durch seine 49 Vgl. Plessner, Conditio humana, S. 39. 50 Ebd. 51 Arendt, Vita Activa, S. 167.

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körperliche Natur und Stammesgeschichte festgelegt ist“.52 Die Humanisierung menschlichen Lebens müsse sich mit der gegenüber dem Menschen indifferenten Natur, aber auch mit inhumanen Verhältnissen und politischen Systemen auseinandersetzen. Da Bedürfnis und Fähigkeit der Menschen, Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Mitmenschen zu übernehmen, in der menschlichen Natur gründe, könne es auf Dauer nicht unterdrückt werden. Nach dem bereits im 19. Jahrhundert erschütterten Glauben an Gott wurde mit dem Zerfall der über weltlichen und inner weltlichen Autoritäten von Vernunft und Geschichte im 20. Jahrhundert auch noch der Glaube an den Menschen, der „Humanismus im öffentlichen Bewusstsein getötet und das Leben ohne jede metaphysische, geschichtliche oder natürliche Autorität und Verheißung [...] unausweichlich“.53 Diese neue Stufe „der Entgötterung und Entmenschung“ habe „gerade hochzivilisierte Nationen zur Selbsthilfe einer künstlichen autoritären Bindung im Politischen greifen“ lassen, um dadurch „die elementaren Daseinsinstinkte vor [...] nihilistischen und defaitistischen Schlussfolgerungen“54 zu schützen. Dieser Infragestellung des Humanismus musste sich die politische Anthropologie stellen. Für Deutschland zeichnete Plessner eine Entwicklung nach, die auf den Zerfall der Geschichte als innerweltlicher Autorität in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhundert mit einer Wendung zur Psychologie, Erkenntnistheorie, Völkerkunde und Biologie reagiert hatte. In dieser Wendung wurde die Frage des Menschen im Horizont geschichtlicher Erfahrung neu problematisiert. Sie antwortete auf die Entwertung des Individuums in der industriegesellschaftlichen Moderne, in der der Mensch nur noch als statistische Größe strategischer Großraumplanung und Massenmobilisierung vorkam. Die Annahme des politischen Humanismus, eine emanzipatorische Triade von Selbstfindung, Selbstgesetzgebung und Selbstver wirklichung werde sich geschichtlich durchsetzen, war durch die um instrumentelle Rationalität und ideologische Mobilisierung organisierten industriellen Massengesellschaften erschüttert worden. Einer subjektphilosophischen Emanzipationstheorie galt der Mensch als selbstgesetzgebungsfähiges, souveränes Individuum. Als effektiv handlungs - und moralisch zurechnungsfähige Subjekte zugleich mit der Kompetenz zur Aushandlung ihrer Interessen und zur Regelung ihrer Konflikte ausgestattet, so die Erwartung, würden Menschen in der Lage sein, in freier Entscheidung ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Zeitgenössische kulturkritische Diskurse stimmten überein in der Diagnose, dass die Geschichte den Menschen immer mehr von sich weg führe, anstatt sich zu ihm hin zu bewegen. In einer ihnen fremd gewordenen Umwelt ohne verlässliche Traditionsbezüge sich selbst überlassen musste sich erst wieder einspielen, was Menschen aus sich selbst machen können und wozu sie durch die ihnen 52 Plessner, Stufen, S. 12. 53 Plessner, Nation, S. 114. 54 Ebd.

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nicht verfügbaren Umstände gemacht werden, in der klassischen Bestimmung philosophischer Anthropologie durch Kant. Philosophische Anthropologie zielte auf eine Befreiung des Menschen aus idealistischen oder materialistischen, optimistischen oder pessimistischen Geschichtskonstruktionen, um ihn zur Entscheidung aus ursprünglichen Quellen seines Selbstseins zu befähigen. Die Verunsicherung durch die Entwertung traditioneller Gründungen und fragloser Autoritäten eines anthropozentrischen Welt - und Selbstverständnisses wurde mit der Mobilisierung bisher noch gar nicht zum Tragen gekommener Quellen wahren Menschseins beantwortet. Eine Selbstermächtigungsrhetorik im weltgeschichtlichen Horizont reagierte offensiv auf die Entwertung traditioneller Quellen des Selbst55 mit der Aufforderung, sich aus geschichtlich noch nicht zum Tragen gekommenen vorgeschichtlichen Ursprüngen neu zu erfinden. Diese deutsche Spezialität eines weltbürgerlichen Messianismus war auch für Plessner Ausgangs - und Endpunkt einer deutschen Geistesgeschichte des bürgerlichen Zeitalters. Selbstfindung nicht in der Vergewisserung eigener Traditionen, sondern im Horizont der eigenen Traditionslosigkeit, zielte bei den Deutschen auf die ursprüngliche Entscheidung zum konstruktiven Entwurf von Geschichte, die sich ihre Vergangenheit und ihre Traditionen erst schaffen musste. Die Orientierung an einer Zukunft ohne Vergangenheit setzte auf die aktivistische Selbsterfindung einer Gegenwart aus dem Pathos des radikalen Neuanfangs. Plessners Plädoyer für eine konzeptionelle Neugründung des politischen Humanismus argumentierte mit dessen normativer und politischer Überforderung durch die Komplexität der europäischen Entwicklungen, auf die dieser nicht mehr differenziert mit angemessenen politischen Interventionen reagieren könne. Seine Anthropologie selbstbestimmter Lebensführung antwortete auf die akute Gefahr der politischen Ersetzung des Humanismus einer plural vielstimmigen Gattungsvernunft durch die partikularen Rigorismen von Klasse und Rasse mit der konzeptionellen Rückverlagerung des Politischen auf eine anthropologische Ebene. Der Krise des westlichen Humanismus begegnete er mit dem Konzept einer anthropologischen Neugründung der Politik. Eine in den Möglichkeiten des Menschseins selbst gegründete Politik sollte Europa aus seiner Krise herausführen. Gegen einen selektiven Universalismus ebenso wie einen politikunfähigen Prinzipienrigorismus entwickelte Plessner eine politische Anthropologie geteilter Verantwortung für die gefährdete Perspektive der menschlichen Gattung. Auf die rassen - oder klassenpolitische Verengung des universellen Ethos der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung antwortete er mit der klassischen Frage jeder Anthropologie : Was ist der Mensch ? Im Rekurs auf unverändert geltende, in ihrer Bedeutung unterschätzte oder bewusst unterdrückte Wahrheiten menschlicher Existenz erinnerte er an eine überlebensnotwendige Korrespondenz zwischen außermenschlicher und menschlicher Natur : Der Mensch könne 55 Vgl. dazu Taylor, Quellen.

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sich weder von der äußeren Natur abnabeln und auf seine innere Natur zurückziehen, noch auf Dauer die äußere Natur zum strategischen Feld seiner Interventionen instrumentalisieren, denen nur von ihm selbst und der Reichweite seines Willens zur Bemächtigung Grenzen gesetzt seien. Selbst Teil der Natur, bleibe er als endliches und sterbliches Wesen ihren Gesetzen unterworfen. Es war jedoch nicht nur die Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen, die seinen Bemächtigungsphantasien Grenzen setzte. An der Natur erfuhr der Mensch auch seine Einbindung in ein seine Existenz Umgreifendes, erlebte er seine existentielle Abhängigkeit von einem ihm nicht Verfügbaren positiv als Zugehörigkeit. Die Erfahrung von Grenzen des Machbaren und das Bewusstsein, in nicht verfügbaren Zusammenhängen zu leben, deren Aufkündigung das eigene Leben gefährden würde, wurden durch das Konzept der Lebensführung zur existentiellen Bewährung in einer offenen Situation gewendet. In der Entscheidung für eine bestimmte Lebensführung, in der sich Menschen zu sich selbst ermächtigten, erlebten sie sich noch in der Erfahrung ihnen nicht verfügbarer Umstände dieses Lebens als „verantwortlich oder frei“.56 Und nur in der Übernahme der Verantwortung für ihr Leben, die auch das von ihnen nicht zu Verantwortende als Zugehörigkeit zu einer übergreifenden Komplexität des Lebendigen einbezog, erschloss sich Menschen eine neue Dimension von Freiheit. Für das, was ihnen wichtig und unverzichtbar war, mussten sie das Risiko des Scheiterns auf sich nehmen, wenn gelingen sollte, was ihnen als ein erfülltes, ganzheitliches Leben vorschwebte. Der Ausgang ihres Versuchs, ein eigenes Leben zu führen, wurde modifiziert durch die Umstände und Eigengesetzlichkeit dieses Lebens selbst. Die Betonung der körperlichen und geistigen Standortgebundenheit menschlicher Wahrnehmungen, Erkenntnisse und Sinnkonstruktionen zeichnete das Vermögen, Sinn und Sinnlichkeit als erlebbaren Sinn zur Übereinstimmung in einem biographisch konsistenten Leben zu bringen, als entscheidende Herausforderung menschlichen Lebens aus. Diese Spannung des offenen Ausgangs eines nicht länger durch den Anschluss an fraglos geltende Traditionen oder übermächtige Autoritäten gesicherten Lebens setzte den Menschen selbst in die Verantwortung für ein gelingendes Leben ein. Neue Erfahrungen und Herausforderungen ermöglichen es Menschen, sich neu zu erleben. Sie können Vorentscheidungen über den möglichen Verlauf ihres Lebens in Frage stellen, an deren Zustandekommen sie nicht beteiligt waren. Die Entscheidung, sich auf ein strukturell entsichertes Leben einzulassen, dessen Verlauf sich ausschließlich ihnen selbst verdankt, konfrontiert sie jedoch unweigerlich mit ihnen nicht verfügbaren Lebensbedingungen. In der Simulation des als ob, in der fiktiven Überschreitung des Möglichen, die Einschränkungen des individuellen Freiheitsdrangs nicht mehr anerkennt, wird Freiheit zur Grenzerfahrung der unaufhebbaren Spannung von individuellem Anspruch und dessen immer nur partiell möglicher Einlösung. Dabei kann gerade der übertriebene Anspruch auf uneingeschränkte Selbstver wirklichung die 56 Plessner, Macht, S. 200.

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Bereitschaft fördern, Verantwortung auch für jene nicht verfügbaren Dimensionen des Lebens zu übernehmen, in denen Menschen kraft ihrer Zugehörigkeit zu einem ihre Endlichkeit und Unvollkommenheit übersteigenden Zusammenhang ihres Lebens immer schon stehen. Was ihnen nur bedingt durchschau - und verfügbar ist und sich gleichsam durch die unsichtbare Hand übermächtiger Sinngebungsinstanzen zu Bedeutungen und Ergebnissen zu fügen scheint, die von den Einzelnen so nicht intendiert waren, kann Menschen gerade deshalb dazu provozieren, sich nun erst recht die Freiheit zu nehmen, ihr Leben so zu führen, als läge es allein an ihnen selbst, aus ihm ein erfülltes Leben zu machen. Diese Konstellation lässt jedoch auch die andere Möglichkeit offen – so zu leben, dass, was auch ohne sie schon so ist, wie es ist, sich in unbefragter Selbstverständlichkeit einfach fortsetzt. Gegen das Pathos der unbedingten Entgrenzung menschlicher Freiheit um ihrer selbst willen schließt die liberale Selbstverpflichtung auf Freiheit deren reflektierte Selbstbegrenzung ein. Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte wie die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens oder die Unverletzbarkeit menschlicher Würde setzen menschliche Freiheitsrechte in den Zusammenhang einer Selbstverpflichtung auf ihren verantwortlichen Gebrauch. Es gibt keine transzendentale, wissenschaftliche, anthropologische oder wie auch immer gegründete Garantie eines Lebens in Freiheit und Würde. Nur in der Auseinandersetzung mit den geschichtlichen und anthropologischen Bedingungen menschlicher Existenz kann sich der Impuls freier Selbstbestimmung behaupten. Die Überzeugung, dass nur „der Mut und Wille entschlossener Menschen“57, es mit ihrer eigenen Vergänglichkeit und ihren vielfach einengenden historischen und naturgegebenen Bindungen aufzunehmen, zur Freiheit führen kann, muss sich zur Lebenshaltung festigen. Erst eine solche Haltung würde nach Aufgeregtheit, Verzweif lung, Ernüchterung oder Desillusionierung angesichts der ideologiekritischen Zerstörung verlässlich geglaubter normativer und sittlicher Grundlagen menschlicher Existenz eventuell der Gelassenheit weichen, auch ohne solche Sicherungen in Freiheit leben zu können. Plessner zweifelte auch nach dem Scheitern der Versuche, ihn auf einem „frei schwebenden zeitlosen Vernunftfundament“58 zu gründen, nicht an der Perspektive des Humanismus. Erst im Verzicht auf die problematisch gewordene Annahme „einer für alles Menschliche verbindlichen Menschlichkeit“ wachse die Souveränität selbstbestimmter Lebensführung, die „im Bewusstsein der Endlichkeit, Vergänglichkeit und Rückhaltlosigkeit“59 menschlichen Lebens Menschen an die vernünftigen Grenzen ihrer Selbstverpflichtung auf eine Humanisierung der Verhältnisse führe. In seiner Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ hatte Plessner ein Verständnis des Liberalismus als Ethos guten Lebens mit einem Vorrang des Guten vor 57 Plessner, Nation, S. 205. 58 Ebd., S. 204. 59 Ebd., S. 204 f.

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dem Gerechten entwickelt. Gegründet auf einem ethischen Konzept menschlicher Würde sah er den Liberalismus als eine offene, und dennoch nicht beliebige Lebensform, in der das Streben nach Ausgleich von Differenzen und kompromissorientierten Lösungen von Konflikten im Zentrum stand. Er bestand darauf, die gattungsethische Frage nach dem richtigen Leben an die Perspektive menschlicher Individuen zu binden, denen das Streben nach einem guten Leben als Kompetenz eigener Lebensführung abverlangt werden müsse. „Das Moment der Würde ist in der Unendlichkeit und Unantastbarkeit der persönlichen Seele gegeben“, aus der „das Individuum auf seinem unverlierbaren Anspruch, so behandelt zu werden wie es ist“60, beharrt. In der Diskussion einer verfahrensethischen Komplementarität des moralisch Gerechten und des ethisch Guten konzipierte er menschliche Würde als Glücksanspruch, der sich im Streben nach einer Erfüllung, die immer ausbleiben müsse, zum inneren Antrieb menschenwürdigen Lebens transformiere. Dagegen hatte Kants kategorischer Imperativ Menschen dazu aufgefordert, im Konflikt zwischen moralischer Pflicht und individueller Neigung ihre persönlichen Interessen und Präferenzen zugunsten der Bedürftigkeit ihrer Mitmenschen nach Empathie und Zuwendung zurückzustellen. Die Selbstverpflichtung auf eine Menschen gemäße Lebensführung habe den Königsweg moralisch nicht korrumpierter, wissenschaftlich aufgeklärter Selbstfindung des Menschen als Möglichkeit offen zu halten. Gegen „Philosophien der neutralisierten Innerweltlichkeit“, die sich keine Entscheidung mehr zutrauten, setzte Plessner darauf, „den Konflikt zwischen dem Anspruch auf außerzeitliche Geltung der Werte und Gebundenheit des wertenden Menschen an einen natürlich - geschichtlichen Standort“61 als Impuls philosophischen Denkens zu erneuern. Sich in ihrem Leben mit eigenen Entscheidungen und normativen Setzungen zu behaupten, müsse Menschen zugemutet werden. Die Rede von der „Würde und Unverlierbarkeit des Seins, das sich selbst und als Selbst besitzt“62, verpflichtete Menschen darauf, ihre Würde in der Übernahme der Verantwortung für ihr Leben zu behaupten und sich dadurch als moralisch zurechnungsfähige Subjekte zu beweisen. Im Pathos eines selbstbestimmten Lebens kompliziert sich menschliche Lebensführung zur Entscheidung für das in seinem Ausgang nicht Vorhersehbare. In der Ungewissheit, dieser Herausforderung entweder gewachsen zu sein oder an ihr zu scheitern, wird menschliches Leben zur Unbestimmtheit des vorab nicht Bestimmbaren. In der Kontingenz der offenen Situation, so Plessner, erlebe sich der Mensch als „Zurechnungssubjekt seiner Welt“63 zugleich in seiner Unzurechnungsfähigkeit und Ohnmacht. Menschen streben nach einem Leben in Übereinstimung mit sich und der Welt und können doch ein solches Gleichgewicht nicht finden. Wäre es ihnen möglich, zur Ruhe zu kommen und ihren Frieden mit sich und der Welt zu 60 61 62 63

Plessner, Grenzen, 81 f. Plessner, Nation, S. 206. Ebd., S. 207. Plessner, Macht, 224 f.

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machen, so wäre diesem Leben jede Spannung genommen. Ohne inneren Antrieb, sich auf das unbekannte Territorium neuer Erfahrungen zu begeben, ängstlich darauf bedacht, jedes Risiko des Gesichtsverlustes oder der Lächerlichkeit zu meiden, würden sich Menschen dann lediglich in den Bahnen des ihnen Vertrauten bewegen. Zwar würde ihnen das nicht vorhersehbare Aufregungen und mögliche Peinlichkeiten ersparen. Zugleich würde ihnen jedoch durch eine solche Absicherung genommen werden, was den Reiz menschlichen Lebens entscheidend ausmacht : die offene Begegnung mit dem Neuen, in der sie sich selbst auf neue und uner wartete Weise erleben. Ruhig gestellt in der Gleichförmigkeit eines sich in seinen grundlegenden Konstellationen wiederholenden Lebens, hätte sich die „konstitutive Unruhe“ menschlichen Lebens, in der dieses sich erst auf der Höhe seiner Möglichkeiten bewegt, zur „Wiederkehr des immer Gleichen“ beruhigt. Auf der Suche nach seinen historischen Wurzeln, so Plessner, verschob der Mensch den Schwerpunkt seines Daseins. Nur in der Auseinandersetzung mit seiner historischen Herkunft erschloss sich ihm Zukunft. Im Versuch, sich historisch zu verorten, war er „in unvorhersehbarer Weise und Richtung immer über sich hinaus“.64 Eben weil der Mensch auf Dauer keinen bleibenden Schwerpunkt seines Daseins etablieren, er aber auch die Suche nach einem solchen existentiellen Mittelpunkt seines Lebens nicht aufgeben könne, bleibe er sich selbst eine offene Frage. Dadurch wird seine Suche nach einem verlässlichen Halt zur Haltung, die Kontingenz des Lebens als anthropologische Unruhe und bleibende Herausforderung zu akzeptieren. Ohne je bei sich anzukommen, ist der Mensch entweder immer schon über sich hinaus oder bleibt er immer wieder hinter sich zurück. Die bleibende Gegenwart der Ankunft bei sich selbst, die Zukunft zum eingelösten Versprechen der Vergangenheit in der Heilsgewissheit einer Gegenwart still stellen würde, ist Menschen nicht gegeben. In einer starken sozialen Erschütterungen und Umschichtungen ausgesetzten Umbruchzeit musste sich der Mensch selbst „als einen Übergang empfinden, als ein an sich relatives Durchgangsstadium in einer beständigen, endlosen Möglichkeiten geöffneten Entwicklung“.65 Dem entwicklungsfreudigen Optimismus, der sich in seiner bedingungslosen Verpflichtung auf Zukunft nicht lange mit dem unwiederbringlichen Verlust vergangener Zeiten aufhielt, folgte schließlich die Ernüchterung, die die Gegenwart und sich selbst als bloßes Provisorium wahrnahm – „als Verrat am Lebenssinn der an diese Gegenwart gebundenen Generation“.66 Daran schloss sich die Rebellion dagegen an, „durch die Zukunft immer wieder um seine Gegenwart betrogen zu werden und dem Ideal eines Fortschritts die Wirklichkeit seiner Existenz zu opfern“.67 Die Beschwörung einer Zukunft, die auf dem radikalen Bruch mit der Vergangenheit gründet, kommt in der Gegenwart gar nicht erst an, die sie entweder immer schon als 64 65 66 67

Plessner, Nation, S. 44. Plessner, Macht, S. 166. Ebd. Ebd.

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Vergangenheit hinter sich gelassen hat oder aber auf eine Zukunft verschiebt, die allgegenwärtig ist, ohne je zur Gegenwart zu werden. Die in Plessners Überlegungen als menschengemäß nahe gelegte Haltung ließe sich in etwa so zusammenfassen : In der Kontingenz der trotz aller biologischen und soziokulturellen Einbindungen und Zugehörigkeiten der Menschen immer auch offenen Situation müssen Menschen selbst entscheiden, welchen Regeln und Werten sie in ihrem Leben folgen wollen. Der offene Horizont möglicher Übereinstimmung mit sich selbst verhindert, dass die fortgesetzte Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild und dessen Spiegelung in den Weltverhältnissen Menschen an sich selbst verzweifeln lässt.

VII. Nationalsozialismus 1. Moderne und Nationalsozialismus In einer ideellen Parallelgeschichte zur europäischen Moderne hatte Deutschland den Anschluss an die europäischen Entwicklungen gehalten. Plessner plädierte in dieser Situation für eine europäische Integration Deutschlands, die mit der Pazifizierung eines deutschen Aggressionspotentials zugleich die traumatische Angst Nachkriegseuropas vor einem von Deutschland ausgehenden neuen bewaffneten Konflikt beenden sollte. Europa und insbesondere die westlichen Siegermächte forderte er dazu auf, eine zugleich politisch realistische wie auf Prinzipien gegründete Strategie des Umgangs mit dem Nationalsozialismus zu entwickeln. In der doppelten Distanz zu den eigenen nationalgeschichtlichen Miseren wie zu den Ambivalenzen der europäischen Moderne habe Deutschland Entwicklungsmöglichkeiten offen gehalten, die in den entwickelten westlichen Industriestaaten bereits diskreditiert oder gescheitert seien. Die von Plessner rekonstruierte „Logik des Verdachts“ hatte mit der ideologiekritischen Zerstörung aller inneren und äußeren Autoritäten der Vernunft schließlich die Vernunft selbst als illusionäre Setzung entlarvt. Diese Infragestellung von Vernunft und Geist, Freiheit und Geschichte hatte den substantiellen Kern bürgerlichen Selbstverständnisses schwer erschüttert. Diese „Selbstzerstörung der Vernunft“ durch den Rigorismus ihrer Prinzipien hatte die Ersetzung einer Vernunftnatur des Menschen durch Blut und Rasse als seiner biologischen Natur vorbereitet. Die Diskreditierung des universellen Geltungsanspruchs von Freiheit, Gleichheit und Humanität als empirisch nicht begründbar, spekulativ und autoritär hatte den Boden für eine rassenpolitische Neuordnung Deutschlands bereitet. Gesetzt in das geistige Vakuum, das die Diskreditierung jeglicher Vernunftautorität hinterlassen hatte, konnte sich mit dem Rassenkonzept eine vermeintlich höhere Form von Humanität durchsetzen. „Selbstentfremdung aus Selbstüberdruss“1 war die Formel, die Plessner in seinem Vorwort von 1959 zur Neuausgabe der „Verspäteten Nation“ für den von ihm diagnostizierten Erschöpfungszustand des Westens gefunden hatte. In das dadurch entstandene normative Vakuum sei der Nationalsozialismus gestoßen. Dabei habe die Zerstörung der Philosophie als moralischer Instanz die Akzeptanz des Nationalsozialismus als weltanschaulicher Lösung der deutschen Identitätskrise vorbereitet.2 Nach der normativen Entmächtigung der Philosophie waren weltanschauliche Substitute bürgerlicher Werte an die Stelle der universellen Vernunftideen getreten. Der bürgerliche Humanismus war selbst Ausdruck der Ambivalenzen, für deren politische Radikalisierung zur totalitären Diktatur des Nationalsozialismus er mitverantwortlich war.

1 2

Plessner, Nation, S. 20. Vgl. ebd.

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Nationalsozialismus

Nationalsozialismus wie Bolschewismus forderten die Menschen im Namen eines neuen Humanismus dazu auf, ihr Leben als Teil eines größeren geschichtlichen Zusammenhangs zu begreifen, in dem ihre mögliche Rolle bereits durch ihre Zugehörigkeit zu höher - oder minderwertigen Rassen oder Klassen vorentschieden war. Nachdem entschieden war, dass nur Menschen deutschen Blutes Angehörige des deutschen Volkes sein konnten, wurde den auf diese Weise rassenpolitisch Ausgezeichneten nahe gelegt, als Nationalsozialisten die politische Konsequenz aus ihrer rassenbiologischen Qualifikation zu ziehen. Im „Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 1935 hieß es dazu : „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und dem deutschen Reich zu dienen.“3 Die Deutschen waren dazu auserwählt, der Idee der Rasse – der Diskriminierung von Rassenmischung und Rassenschande, der Verfolgung von Auslese und Zucht und schließlich der Ausmerze rassisch minder wertigen Blutes durch eigenes rassenbewusstes Verhalten zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre ideologische Verpflichtung auf höhere Werte und Ideen zielte darauf, sie in einen mentalen Ausnahmezustand der Aufkündigung intuitiver Mitmenschlichkeit zu versetzen, in dem sie bereit waren, andere Menschen nach rassischen Kriterien wahrzunehmen und zu behandeln. Die atmosphärische Spannung sich ankündigender außergewöhnlicher Ereignisse, eines Ausnahmezustandes, der alle tradierten Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens außer Kraft setzen würde, bereitete die Deutschen mental auf die Erprobung radikaler Lösungen vermeintlicher oder tatsächlicher Probleme der Volksgemeinschaft vor. Die Erwartung eines bevorstehenden gesellschaftlichen Umbruchs arbeitete der nationalsozialistischen Rhetorik des weltgeschichtlichen Durchbruchs zum neuen Menschen in einer völkischen Revolution entgegen. Auf dieser gegenseitigen Steigerung von völkisch - politischer und existenzphilosophischer Rhetorik beruhte die Plausibilität ihrer ideologischen Zusammenführung zur nationalsozialistischen Programmatik des nicht nur politischen, sondern zugleich auch anthropologischen Umbruchs in der rassenpolitischen Vision des neuen, von biologischen Schranken und moralischen Hemmungen befreiten Menschen. Der deutsche Mensch als Hüter des Seins (Heidegger ) würde mit seinen nationalgeschichtlichen Schranken zugleich die anthropologischen Grenzsetzungen der Gattung in Richtung einer von jeglichen moralischen und kulturellen Hemmschwellen freigesetzten Daseinsform eines neuen Menschen überschreiten. Für eine an universeller Mitmenschlichkeit orientierte Moral war in dieser Anthropologie der Entgrenzung kein Platz mehr. Im rassenbiologisch reduzierten Humanismus der Nationalsozialisten wurde das Leben der einen als Verkörperung höherer Prinzipien gegen das der anderen aufgewertet, die nach den Kriterien dieser Prinzipien als minderwertig galten. Die Nationalsozialisten sahen sich als ideologische Platzhalter höherer Prinzipien in der außeralltäglichen Situation der Bewährung vor der Geschichte 3

Pätzold, Verfolgung, S. 114.

Moderne und Nationalsozialismus

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selbst. In der zeitgenössischen Rhetorik las sich das zum Beispiel so : „Der Mythos ist [...] die durchhaltende Grundlage eines rassisch - völkischen Menschentums [...] Er ist die Konstante, die alle geschichtliche Vielgestaltigkeit durchgreift“4, wobei das Volk „die Lebensbewegung der mythischen Ursprünge an ihr Ziel bringt“.5 Völkische und nationalkonservative Intellektuelle sahen im Nationalsozialismus ihre eigenen geschichtsphilosophischen Phantasien der Mobilisierung mythischer Quellen deutschen Seins mit der entsprechenden politischen Energie verfolgt. Der bürgerliche Humanismus wurde durch rassische Substitute eines universellen Emanzipationsversprechens ersetzt. Auf diese Situation hatte Plessner mit dem Versuch der konzeptionellen und zugleich politikfähigen Erneuerung des politischen Humanismus geantwortet. In seiner Erstarrung zum Rigorismus universalistischer Prinzipien sah er den westlichen Humanismus unfähig, den komplexen Herausforderungen von klassen - und rassentheoretischen Reduktionen normativ zu begegnen. Der gesellschaftspolitischen Provokation der Ersetzung universeller Prinzipien durch einen kämpferischen Humanismus der Vernichtung, Erziehung und Züchtung auf ihren ideologischen Materialwert reduzierter Menschen war der bürgerliche Humanismus politisch nicht gewachsen. Gegen die erklärte Bereitschaft der nationalsozialistischen Bewegung, ideologische Reinheitsgebote eines neuen Menschen durch politische Säuberungs - und Vernichtungsaktionen tatsächlich umzusetzen, konnte der Verweis auf die Prinzipien menschlicher Gattungsvernunft nichts ausrichten. Die Ersetzung eines weltbürgerlichen durch einen nationalsozialistischen Humanismus wurde durch die Reklamierung eines spezifisch deutschen philosophischen Humanismus vorbereitet. So nahm etwa Ernst Curtius in seinem Aufruf für eine totale Erneuerung des Humanismus, der nur ein totaler Humanismus6 sein könne, eine besondere Rolle des deutschen Geistes in diesem Erneuerungsprozess an. Die Deutschen hätten in „viel stärkerem Maße als die Westvölker ein metaphysisches Bedürfnis, einen philosophischen Drang zum Wesensurgrund aller Dinge“, weshalb nur in Deutschland „eine neue Erkenntnis des Menschen erarbeitet“ werde, die zunächst die überlieferten Kulturformen zerbrechen und die einst gültigen Antworten in Frage stellen müsse, um schließlich zu einer „tiefer gegründeten und umfassenderen Idee vom Menschen“7 vorzudringen. Im Humanismus nahm er die „Selbstbegegnung des modernen Geistes mit einem Leben“ wahr, „das in dunkler Tiefe des Blutes schlief und sich nun seines Ursprunges“8 versichere. Die völkische Revolution der Nationalsozialisten sah Plessner als eine politische und normative Herausforderung des Humanismus. So hätten sich die Nationalsozialisten mit ihrem erklärten Ziel einer territorialen Expansion 4 5 6 7 8

Böhm, Philosophie, S. 183. Ebd., S. 185. Vgl. Curtius, Geist, S. 129. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 107.

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Nationalsozialismus

zunächst auf das politische Wertesystem des Humanismus berufen und das Recht des deutschen Volkes auf nationale Selbstbestimmung und Einheit in den Grenzen des durch eine gemeinsame Sprache repräsentierten Volksraums für sich in Anspruch nehmen können. Gegen die nationalsozialistische Politik des Anschlusses deutscher Territorien an den völkischen Staat habe der in seinem Prinzipienrigorismus befangene politische Humanismus keine Einwände geltend machen können. In dieser Konstellation entschied der politische Umgang des Westens mit dem Nationalsozialismus über die Zukunft des bürgerlichen Wertesystems. In der Spannung zwischen dem universellen Geltungsanspruch seiner Prinzipien und den Erfordernissen pragmatischer Politik, aber auch zwischen den Prinzipien territorialer Souveränität und nationaler Selbstbestimmung, musste sich der Westen neu verorten. Deutschland erschien Plessner zwar einerseits als unkalkulierbare Gefährdung der europäischen Territorialordnung. Andererseits sah er in der unausweichlichen Konfrontation des politischen Humanismus mit dem Nationalsozialismus dessen Chance, wieder Anschluss an die Herausforderungen der Zeit zu gewinnen und sich als prinzipiengeleitetes, aber auch flexibles, realistisches und politikfähiges Wertesystem zu erneuern. Dazu musste sich der bürgerliche Humanismus dem deutschen Anspruch einer völkischen Neuordnung Europas stellen. Der konträre Geltungsanspruch zweier gleichermaßen für sein Wertesystem essentieller Prinzipien, des Rechts auf nationale Selbstbestimmung sowie der Verpflichtung auf die Unverletzlichkeit territorialer Grenzen, so Plessners Überzeugung, zwang Europa dazu, seine Stellung zum Nationalsozialismus zu bestimmen. In dieser Zuspitzung setzte Plessner den Nationalsozialismus in einen europäischen Kontext. Im Nationalsozialismus verband sich für ihn das Schicksal der bürgerlichen Welt mit dem Deutschlands. Auf diese Weise rückte das Wertesystem des politischen Humanismus ebenso in den Blick wie die Zukunft der in seinem Namen gegründeten europäischen Territorialordnung. Plessners Beschwörung einer dramatischen Situation der Unentscheidbarkeit, in der Europa seine Fähigkeit zu politischer Gestaltung verlieren könne, machte auf den Ernst der Lage aufmerksam. Die grundsätzliche Gegenüberstellung des westlichen Wertesystems und der territorialen Realität Europas zielte auf die Sensibilisierung Europas für die in den deutschen Entwicklungen liegenden Gefahren. Im biopolitischen Partikularismus der Rasse sah Plessner die Gefahr der Zerstörung bürgerlicher Humanität und Vernunft, die nicht nur für Deutschland, sondern für Europa und die westliche Welt verheerende Folgen haben würde. Sein Aufruf zur Verteidigung gefährdeter Bürgerlichkeit angesichts der durch den nationalsozialistischen Umbruch drohenden Ersetzung des politischen Humanismus durch einen rassenbiologischen Reduktionismus zielte auf eine Sensibilisierung für die Tiefendimension und Reichweite dessen, was mit dem Nationalsozialismus in Deutschland für die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt auf dem Spiel stand.

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Die ideologischen Extremismen der Rasse und Klasse und die Visionen eines neuen Menschen konfrontierten die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer drohenden Vernichtung. Diese Entwicklungen bargen jedoch auch die Möglichkeit einer reflexiven Wendung zur Kritik an den krisenhaften Entwicklungen und normativen Ambivalenzen der bürgerlichen Moderne. Plessners geschichtsphilosophische Analyse des Nationalsozialismus zielte darauf, die Konturen einer solchen Möglichkeit sichtbar zu machen. In den deutschen Ambivalenzen einer „verspäteten Nation“ spiegelte sich für ihn die Krise der westlichen Moderne. Hier lagen aus seiner Sicht Risiken und Chancen der bürgerlichen Moderne dicht nebeneinander, ohne dass sich vorab bestimmen ließ, welche der möglichen Entwicklungen sich schließlich durchsetzen werde. Die Blockierung der Handlungsfähigkeit des Westens gegenüber dem Nationalsozialismus, so stellte Plessner heraus, verwies auf die notwendige Erneuerung des bürgerlichen Werte - und Gesellschaftssystems. In den Übertreibungen des gesellschaftlichen Umbruchs konnten sich politische Strategien durchsetzen, die glaubwürdig endgültige Lösungen gesellschaftlicher Probleme versprachen. Das technisch Mögliche und in seinen Erfolgsaussichten strategisch Kalkulierbare sollte nun auch ver wirklicht werden. Die Außerkraftsetzung moralischer Hemmschwellen menschlichen Handelns gab einem imaginierten Druck nach, in den eigenen Handlungsimperativen und Lebensmaximen Schritt zu halten mit dem, was sich technisch und wissenschaftlich zu Gestaltungsmöglichkeiten bisher nicht vorstellbaren Ausmaßes herausgebildet hatte. Diese neuen Möglichkeiten am Maßstab traditioneller moralischer Werte zu relativieren, erschien in diesem Gestus der gleichsam objektiven Ermächtigung zur Grenzüberschreitung als ressentimentgeladene Schwäche, die überwunden werden musste. Für Plessner endete der Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Rationalität und instrumenteller Verfügung am Leben selbst als der „Grenz - und Tiefenschicht aller Gestaltung“.9 Die technisch mögliche und im Überschwang wissenschaftlicher Omnipotenzphantasien kulturell nahe gelegte Grenzüberschreitung sollten sich Menschen versagen. Eine von Konflikten freie, auf endgültige Lösungen tradierter Probleme gegründete perfekte Gesellschaft war nur um den Preis zu haben, den Menschen selbst in seiner vielschichtigen Komplexität, seinen biologischen Grenzen und seiner mentalen Unberechenbarkeit, seinen Zweifeln und Versagensängsten, eben seiner konstitutiven Unvollkommenheit als Störfaktor und Hindernis einer solchen Gesellschaft zu begreifen und auszuschalten. Gegen die Illusion einer perfekten setzte er die Hoffnung auf eine bessere Welt als Impuls der Auseinandersetzung mit der je unvollkommenen und immer verbesserungsbedürftigen gegenwärtigen Welt.10 Vorbereitet durch den Ersten Weltkrieg und Versuche, aus den Nachkriegsentwicklungen die zeitgeistkritische Konsequenz einer Moderne im Aufbruch zu 9 Ebd., S. 157. 10 Vgl. ebd., S. 119.

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ziehen, hatte sich eine ingenieurtechnische Mentalität der finalen Bewältigung aller historisch akkumulierten Krisen und Probleme der Moderne herausgebildet. Der Ingenieur der Moderne, so die Erwartung, werde es verstehen, die prägenden Elemente der Zeit zu effizienten Lösungen zusammenzuführen – wissenschaftlich - technische Innovationen, aus denen sich das Bild einer Welt im Umbruch formte; Phänomene der Masse in Produktion, Konsumtion und Politik sowie ideologische Ersatzbildungen des Religiösen. In dieser Konstellation profilierte sich die nationalsozialistische Bewegung zur politischen Verkörperung der Mentalität des Aufbruchs. Es gab jedoch nicht nur den ingenieurtechnischen Überschwang der emphatischen Bejahung des Fortschritts, der zwingend aus Entwicklungen von Wissenschaft und Technik folge, sondern auch die kulturkritische Skepsis, die auf der geistigen Durchdringung und Kontrolle dieser Entwicklungen bestand. So argumentierten auch nationalsozialistische Autoren für die Mobilisierung des kulturellen Fortschrittspotentials der in diesen Entwicklungen liegenden, in der Tat atemberaubenden Möglichkeiten. Der Fortschritt der Technik habe keinen Aufschwung der Kultur gebracht, sondern im Gegenteil kulturellen Verfall. Ganz offensichtlich habe die geistige Entwicklung nicht Schritt gehalten mit den technischen Errungenschaften. In dieser Interpretation wurde die nationalsozialistische Bewegung in die Pflicht der kulturellen Disziplinierung etwa der in medizinisch - eugenischen Entwicklungen liegenden Möglichkeiten genommen.11 Die sich überlagernden Krisen der Zeit verknüpfte die nationalsozialistische Bewegung in einer Weise zum politischen Programm, die sie gerade in der massenkulturellen Mobilisierung nationaler Ressentiments gegen Entwicklungen der westlichen Moderne als „deutsche Partei der Zukunft“ erscheinen lassen sollten. „In zielloser Rebellion gegen die krisenhaft geschürzten Modernisierungsschübe der zwanziger Jahre entstanden, sog der Faschismus an der Macht die Techniken und Trends der Moderne in sich auf“ und „demonstrierte [...] mit überdeutlicher Schärfe und in mörderischer Konsequenz die Pathologien und Verwerfungen des modernen Zivilisationsprozesses“.12 Der Nationalsozialismus reagierte politisch auf Krisenphänomene des 20. Jahrhunderts, die durch die Koordinaten von Masse, Technik und Ideologie bestimmen waren. Die nationalsozialistische Ideologie verband Antisemitismus, Antibolschewismus und Antikapitalismus, aber auch vormoderne Ursprungsmythen mit Phantasien technischer Omnipotenz. Jeffrey Herf hat diese für den Nationalsozialisten eigentümliche Synthese von Irrationalismus und Technik als Institutionalisierung und propagandistische Umsetzung einer spezifisch deutschen Tradition des „reaktionären Modernismus“ interpretiert. Dieser reaktionäre Modernismus sei in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Bestandteil der totalitären Diktatur des Nazismus gewesen. Vor allem habe er es den Nazis ermöglicht, wirkungsmächtige Antworten auf die Dilemmata des Lebens in der Moderne zu 11 Vgl. Kötschau, Revolution, S. 292. 12 Peukert, Volksgenossen, S. 296.

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formulieren, in denen sich die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung aus einer Spannung von technischem Fortschritt und völkisch - rassischer Ideologie bzw. politischem Irrationalismus zur Programmatik einer „stählernen Romantik“ konstituiert habe13, die Goebbels so bestimmte : „Jede Zeit hat ihre Romantik, das heißt, ihre poetische Vorstellung vom Leben, auch die unsere. Sie ist härter und grausamer als die vergangene [...] Die stählerne Romantik unserer Zeit manifestiert sich in berauschenden Leistungen, in einem rastlosen Dienst an einer großen Sache, in einem Pflichtgefühl, das zum unumstößlichen Prinzip erhoben wird. [...] Das Reich dröhnender Motoren, himmelstürmender technischer Erfindungen, grandioser industrieller Schöpfungen, weiter, fast unerschlossener Räume, die wir für unser Volkstum besiedeln müssen, das ist das Reich unserer Romantik.“14 Struktureller Kern der Bedrohung moderner Rationalität im Nationalsozialismus war die Selbstermächtigung seiner Führungselite, unter Mobilisierung der Möglichkeiten und unter Berufung auf die Denkungsart des wissenschaftlichen Zeitalters biologische, eugenische und bevölkerungspolitische Endlösungen sozialer Fragen anzugehen. Der Nationalsozialismus „führte den utopischen Glauben an die Allfälligkeit wissenschaftlicher Total - Lösungen für gesellschaftliche Probleme bis zu ihrer radikalsten Konsequenz der rassebiologisch begründeten bürokratischen Erfassung und schließlich Ausmerze alles Unangepassten und Irritierenden“.15 Die „Realisierung des Utopischen“ ( Mommsen )16 schien möglich, die Veralltäglichung des Außeralltäglichen im permanenten Ausnahmezustand ebenfalls. Die ideologische Mobilisierung der Massen und der Anspruch, das technisch Machbare auch tatsächlich mit aller Konsequenz anzugehen, gaben dem Nationalsozialismus das Image einer modernen jungen Bewegung, die mit ihrem politischen Aktivismus den Beschleunigungen und Herausforderungen der Zeit nicht nur gewachsen war, sondern die es verstand, diesen Entwicklungen ihr Gesetz politischen Handelns aufzuzwingen. Rücksicht auf durch die Aufklärung oder den politischen Humanismus gesetzte moralische Hemmschwellen musste sie als dezidiert deutschnationale und antibürgerliche Bewegung dabei nicht nehmen. In einer ideologisch konstituierten Gesellschaft funktioniert die Anerkennung der bestehenden Ordnung durch institutionelle Disziplinierung, aktionistische Mobilisierung und formalisierte Rituale des Nachweises der Zugehörigkeit zu einer elitären Kampfgemeinschaft. Dabei korrespondiert die gleichsam rituelle Unterwerfung unter die disziplinierenden Ordnungen des Politischen der Imagination einer geistigen Unabhängigkeit im Eigentlichen. Menschen, die engagiert ihren Beitrag zum Funktionieren der politischen Ordnung leisten, wird ein innerer Abstand zur ideologischen Programmatik der Massenmobilisierung zuge13 14 15 16

Herf, Modernism, S. 217 f. Goebbels, Arbeiter, S. 370. Peukert, Volksgenossen, S. 295 f. Vgl. Mommsen, Nationalsozialismus, S. 184–232.

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standen. Eine ideologisch formierte Politik kann mit der Mobilisierung ihrer Anhänger rechnen, auch ohne diese zu ideologisch indoktrinierten fanatischen Gefolgsleuten gleichschalten zu müssen. Diesen konnte zugestanden werden, ein vermeintlich unpolitisches Privatleben fortzusetzen oder in der inneren Distanz einer geistigen Hochkultur eine intellektuell anspruchsvolle Variante des Nationalsozialismus zu entwickeln, die für sie den eigentlichen, wesentlichen Kern der von ihnen unterstützten Politik ausmachte. Plessner nahm den Nationalsozialismus in seiner grundsätzlichen Verneinung von Bürgerlichkeit ernst, indem er die prinzipielle, nicht die lediglich politische oder polemische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zur Schicksalsfrage der bürgerlichen Gesellschaft erklärte. In der durch den Nationalsozialismus programmatisch verfolgten biopolitischen Diktatur der Rasse sah er nicht nur Deutschland, sondern zugleich die Existenz der bürgerlichen Ordnung und die Zukunft bürgerlicher Liberalität und Humanität bedroht. Durch den Nationalsozialismus war die bürgerliche Gesellschaft zur kritischen Prüfung ihrer eigenen normativen Grundlagen herausgefordert. Nur in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, so seine Überzeugung, konnte sich der politische Humanismus erneuern.

2. „Philosophische Politik“ und „wahrer Nationalsozialismus“ Im Unterschied zur Realpolitik sollte eine philosophische Politik unbelastet von den pragmatischen Zwängen und unvermeidlichen Kompromissen des Regierens und parlamentarischen Taktierens die politische Durchsetzung universeller Werte verfolgen. Diese Funktion idealer Stellvertretung des universellen Elementes des Politischen, das sich unter den gegebenen Bedingungen weder politisch umsetzen ließ noch deshalb als Vision und Impuls politischen Handelns aufgegeben werden sollte, übernahmen die von den Sachzwängen des politischen Geschäfts freigegebenen Intellektuellen. Manche Führer der nationalsozialistischen Bewegung identifizierten die Vernunftintellektuellen mit dem verhassten „System von Weimar“ und belegten sie dabei mit all den Attributen, die sich in einer Begriffsgeschichte der Intellektuellen als nationalistisch - faschistisches Schimpfwort17 wiederfinden – jüdisch, marxistisch, großstädtisch, blutleer, abstrakt usw. Die Intellektuellen wurden von der nationalsozialistischen Ideologie aber auch politisch umworben. Warum sollten sie, vor die Alternative gestellt, an den Rand gedrängt tatenlos den politischen Entwicklungen zuzusehen oder aber prominent eingebunden zu werden in die politische Bewegung, sich nicht für letzteres entscheiden? Mit dem Machtantritt der Nazis stellte sich sehr schnell heraus, dass auch die geistigen Vorkämpfer der Bewegung aus den Reihen der national konservativen oder völkischen Intellektuellen nicht ohne Weiteres bereit waren, in der natio17

Vgl. Bering, Die Intellektuellen, S. 94–147.

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nalsozialistischen Bewegung und Adolf Hitler die politische Einlösung ihrer philosophischen Konzepte zu sehen. So galt beispielsweise Oswald Spengler den Nationalsozialisten aus gutem Grund als Vordenker der völkischen Bewegung.18 Von ihm erwarteten sie ein eindeutiges Bekenntnis zu Hitler und den Nationalsozialisten. Als Spengler 1933 „Jahre der Entscheidung“ beschrieb, „ohne den Nationalsozialismus und den Namen Adolf Hitler auch nur ein einziges Mal zu erwähnen“19, war daher die Enttäuschung groß. Sie provozierte eine generelle Abrechnung mit dem Typus des „skeptischen Denkers“, der weder willens noch in der Lage sei, sich uneingeschränkt für eine Sache zu begeistern, der vor lauter wenn und aber faktisch gelähmt tatenlos zusehe, wie die Dinge dank der Initiative anderer ihren Lauf nehmen würden. Diesem an seinen Schreibtisch gefesselten Intellektuellen stellte Ernst Gründel, der diese Auseinandersetzung mit Spengler führte, den hellwachen, instinktsicheren, von seiner Mission erfüllten Praktiker Hitler gegenüber. Dabei war seine Abrechnung mit den Intellektuellen durchaus zwiespältig, suchte sie ihnen doch gleichzeitig goldene Brücken zur nationalsozialistischen Bewegung zu bauen. Dem gegenüber der Bewegung distanzierten Intellektuellen fehle der Blick sowohl für das Gegenwärtige als auch für das Kommende. Er scheue vor den Konsequenzen seines Denkens zurück, bestehe darauf, mit diesem Denken in der Opposition zum Bestehenden zu bleiben, könne den Schritt vom Denken zur Tat nicht würdigen, geschweige denn, ihn selber gehen. So sei er dann auch nicht in der Lage, Hitler, der „nach seinen Erkenntnissen gehandelt und Gedanken und Worte zu Taten gemacht“20 habe, in seiner historischen Leistung anzuerkennen. Sobald die „großen Geschichtskenner und Vergangenheitsdeuter“21 gezwungen würden, den Blick aus der fernen Zukunft auf die Gegenwart zu richten, in der sich diese Zukunft entscheide, versagten sie. Im Gegensatz zum „souveränen Lenker“ der Massen verbittere der „eiskalte Denker“ in „heroischer Einsamkeit“22, sobald die Zeit effektvoller Opposition vorbei sei. Im Dagegen - Sein nur entwickle er seine starken Seiten – die unbestechliche Analyse, den beißenden Spott, die Konfrontation angemaßter Selbstzuschreibungen mit der Realität ihrer praktischen Entwertung. Den Blick für das Ganze verliere er dabei. Was um ihn herum geschehe, begreife er nicht. Unfähig, die Macht der Ideen zu erfassen, verstehe er auch nichts von Masse, Führung und Gefolgschaft. Vor allem aber sehe er nicht, dass hier, wo eine ganze Welt „umgedreht und neu gebaut“23 wird, kleinliche Nörgelei fehl am Platze sei. Unverschuldet stünden diese Intellektuellen in einer deutschen Tradition intellektueller Entfremdung vom Volk, die sich bei ihnen zu einem Komplex verfestigt habe : „Die Generationen hindurch herrschende falsche ( blutleere, volks18 19 20 21 22 23

Zu Spengler vgl. Spengler – Denker der Zeitenwende. Gründel, Jahre, S. 77. Ebd., S. 90. Ebd., S. 89 f. Ebd. Ebd.

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fremde, eben intellektuelle ) Auffassung von Bildung in Deutschland hat eine ganze Schicht von solchen Intellektuellen ( sehr zu unterscheiden von Geistigen ) entstehen lassen, die an Schicksal und Gestaltung des deutschen Volkes innerlich niemals wirklich teilgenommen haben.“24 Unmissverständlich werden diese Intellektuellen nun aufgefordert, die Bedeutung des geschichtlichen Umbruchs zu erkennen und die nationalsozialistische Revolution ohne Einschränkung zu unterstützen. Mit konstruktiver Kritik und konkreten Vorschlägen sollen sie zur Verbesserung der kritisierten Zustände beitragen. „Die eigentliche Aufgabe der Kritik [...] ist nicht die nur verneinende des Nörgelns, sondern die bejahende des Bessermachens, der positiven Vorschläge zur Abstellung irgendwelcher Missstände.“25 Gründel adressierte seine Kritik an den unpolitischen „Schreibtisch - Intellektuellen“26, dem die Vorstellung, eine Revolution könne ohne ihn stattgefunden haben, unerträglich ist. Zwar kenne er sich in der Vergangenheit gut aus, sei aber zugleich unfähig zu erkennen, worauf es in der Gegenwart ankomme. Das etwas ohne ihn geschieht, kann er nicht ertragen. Wann immer etwas geschieht, an dem er nicht beteiligt ist, bestreitet er, dass es sich dabei um etwas „Ordentliches, Wahres, Vernünftiges“27 handeln kann. Schuld an ihrer Ver weigerung politischen Engagements, so Gründel weiter, habe vor allem das Weimarer System, in dem die Intellektuellen sich aus guten Gründen aus dem Nachdenken über Politik und Nation zurückgezogen hätten.28 Diese seinerzeit guten Gründe könnten jedoch gegenüber der nationalsozialistischen Revolution nicht mehr geltend gemacht werden. Gründel fordert die Intellektuellen auf, über den Schatten der Weimarer Verhältnisse zu springen und sich zur uneingeschränkten Parteinahme für das Neue zu entschließen. mahnt sie, die Gelegenheit nicht zu verpassen, nun wenigstens, wenn auch verspätet, zur nationalsozialistischen Bewegung zu finden und zu helfen, „sie endgültig und restlos zum Siege zu führen“.29 Die Botschaft ist klar : Es geht auch ohne sie – aber noch geht es auch mit ihnen. Ernst Krieck30 bedurfte einer solchen Mahnung nicht. Seit Mai 1933 Rektor an der Johann Wolfgang Goethe - Universität Frankfurt am Main, formulierte er „Grundlinien zur Erneuerung der Universität“, deren Eindeutigkeit kaum zu überbieten waren. An die Stelle der humanistischen Universität sollte die völkisch - politische Universität treten, aus der ein neuer Menschentyp hervorgehen würde – „das geistige Soldatentum des Dritten Reiches“.31 In den jungen Aka24 25 26 27 28

Ebd., S. 98. Ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 81. Ebd. Zum Verhältnis der Weimarer Intellektuellen zum Nationalsozialismus vgl. Bialas, Distanzierung. 29 Gründel, Jahre, S. 102. 30 Eine nationalsozialistische Würdigung Kriecks findet sich bei Lehmann, Philosophie, S. 518–527. Zu seinen hochschulpolitischen Aktivitäten vgl. Müller, Krieck. 31 Krieck, Erneuerung, S. 6.

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demikern sah er eine „geistige S. A, [...] die geistige Flanke einer neu heranwachsenden, den Staat tragenden Ausleseschicht“.32 Für diese geistige Elite werde die Wissenschaft zu Waffe und Werkzeug beim völkisch - politischen Aufbau. Dabei soll die Philosophie Einheit und Schlagkraft der wissenschaftlichen, völkisch - politischen Weltanschauung sichern. Dieser Aufgabe sei eine weltfremde Kathederphilosophie nicht gewachsen, die sich in fragwürdiger Gelehrsamkeit und spitzfindigen Auseinandersetzungen hartnäckig weigere, Auskunft darüber zu geben, welchem nationalen Zweck und Nutzen sie eigentlich und wie diene. Geistige Tätigkeit habe ihren nationalen Nutzen im Dienst an der Volksgemeinschaft auszuweisen. Politische Bewegungen halten selten das, was sich ihre intellektuellen Vordenker von ihnen versprechen. Auf der Ebene der politischen Auseinandersetzungen und Kompromisse, der bürokratischen Prozeduren und institutionellen Sicherungen der Macht zählen andere Dinge, als die intellektuelle Qualität der programmatischen Konzepte. Frustriert vom Gang der politischen Entwicklungen zogen sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung viele Intellektuelle freiwillig wieder aus der Politik zurück. Andere bestanden darauf, ihr einen höheren Sinn zuzuschreiben, der von den pragmatischen Zwängen der Politik nicht berührt werde. Der „geistige Vorkämpfer“, so sahen sie es, hatte das Terrain zu bereiten und die atmosphärischen Spannungen zu verstärken, die die Nähe eines bevorstehenden Umbruchs anzeigten. Er setzte die kulturellen Bedeutungen einer politischen Bewegung, die es ihr auch in den turbulenten Zeiten des Kampfes um die Macht ermöglichten, eine über diese Übergangszeit hinausweisende Perspektive zu entwickeln. Ihr Bestehen auf einer Differenz zwischen Programmatik und politischer Realität erlaubte es den geistigen Vordenkern der nationalsozialistischen Bewegung, auf Distanz zu den politischen Auseinandersetzungen der Zeit zu gehen. Diese Distanz wurde ihnen als geistesaristokratische bürgerliche Kritik nationalsozialistischer Politik ausgelegt. Ihr Führungsanspruch wurde entschieden zurückgewiesen. Manche dieser Vordenker begriffen schnell, dass ihre Konzepte bei den Aktivisten der Bewegung nur noch unliebsame Erinnerungen an eine Zeit der Mobilisierung hervorriefen. Sich gegen die wirklichen politischen Macher durchzusetzen, hatten sie keine Chance. Andere weigerten sich zunächst zu akzeptieren, dass die Zeit der geistigen Vorkämpfer vorbei war. Ihnen mussten die „Zeichen der Zeit“ nachdrücklich klargemacht werden. Dabei reichten die Mittel der Nazis von der Verdrängung aus Führungspositionen bis zum politischen Mord. Einer derjenigen, dem diese Spannung von Geist und Macht und das Verkennen der wirklichen politischen Machtverhältnisse zum Verhängnis wurden, war Edgar Julius Jung.33 In seinem Versuch, über „die Frage des Verhältnisses von Politik und Geist“34 eine „Sinndeutung der deutschen Revolution“ zu geben, hatte er mit der zeitgenössischen Unterscheidung von „Geistigen“ und 32 Ebd. 33 Zu Jung vgl. Sontheimer, Denken, S. 283 f. 34 Jung, Sinndeutung, S. 64.

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„Intellektuellen“ gearbeitet. Für ihn waren die Geistigen die Einzigen, die weder der Politik gleichgültig und passiv gegenüberstanden, noch ihr Fähnchen problemlos nach den wechselnden Winden der politischen Konjunkturen hingen, wie „die Intellektuellen, die sich mit fliegender Fahne gleichschalten und das verherrlichen, was sie noch vor Jahren bespöttelten“.35 Kennzeichen dieses „geistigen Menschen“ sei es, „dass er wohl für eine Idee Partei ergreifen kann, aber sich schwer zu einer Partei bekennt“.36 Gerade das „höhere Menschentum“ dieser „Parteiungebundenen“ habe „dem nationalen Aufbruch seinen inneren Gehalt“37 gegeben. So meinte Jung bereits im Juni 1932 die NS - Führer daran erinnern zu müssen, dass sie nicht das Recht hätten, „sich als das Salz der Erde zu betrachten und den geistigen Vorkämpfer geringzuachten“.38 Solche Äußerungen verkannten die politischen Verhältnisse und die entschlossene Brutalität der Nazis auf fatale Weise. Sie mögen seine spätere Ermordung im Juni 1934 mit provoziert haben.39 Als „philosophische Nation“ sahen sich die Deutschen in einer Parallelgeschichte originär geistiger und politischer Entwicklungen zu missionarischen Grenzüberschreitungen in weltbürgerlicher Absicht berufen. Deutsche Philosophie galt als ideelle Verlängerung nationaler Entwicklungen zur geistigen Konstruktion einer nationalen Identität. Gerade diese funktionale Verklammerung deutscher Philosophie und Geschichte zu einem „Schicksal deutschen Geistes“ hat hier die nationalistische Borniertheit der Philosophie verhindert. Die politische Wendung des geistigen Führungsanspruchs deutscher Philosophie erklärte das Politische zum Terrain der Durchsetzung universeller Werte. Der fragmentierten nationalen Existenz Deutschlands war eine in der Tradition Fichtes stehende Linie deutscher Philosophie mit einer reflexiven Überhöhung ins Universelle begegnet. Damit manövrierte sie sich jedoch in eine zwiespältige Situation. Ihre reflexive Bindung an die politischen Defizite der Deutschen, aber auch die säkularen Surrogate des Religiösen provozierten ihren eigenen Bedeutungsverlust. In einem starken deutschen Nationalstaat, der seine nationale Fragmentierung über wunden hatte, drohte die Philosophie politisch an den Rand gedrängt zu werden. In der europäischen Konkurrenz um imperiale Einflusssphären und internationale Marktanteile ging es nicht mehr um symbolische, sondern um Machtpolitik. Nicht die philosophische Kompensation politischer Ohnmacht und die Anrufung imaginärer vorgeschichtlicher Quellen nationalen Seins waren nun gefragt, sondern die politische Mobilisierung von Anhängern der völkischen Bewegung. Die in völkischer Philosophie angemahnte „Wiederbesinnung auf die Urerlebnisformen“ wurde aus dem zeitlosen Kontext spekulativer Weltdeutung zurückgeholt in die „Zeitgebundenheit und [...] Zeiterfüllung, die alles in 35 36 37 38 39

Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 66. Zit. in Sontheimer, Denken, S. 283. Zu Jung vgl. Jahnke, Jung.

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Anspruch nimmt, was fähig ist, zu handeln“.40 Nun repräsentierte die Philosophie nicht mehr „das Element der allgemeinen Weltbürgerlichkeit“, sondern setzte sie Schranken, „um die innere Gesetzmäßigkeit des Lebendigen und Besonderen aufrechtzuerhalten“.41 Hier versprach der Übergang von einer „Universalphilosophie des Nationalen“ zu einer „nationalen Philosophie des Universellen“ ihren drohenden Bedeutungsverlust zu stoppen. Mit diesem Übergang vollzog sich ein Terrainwechsel der Philosophie, die aus einem imaginären Ort der symbolischen Besetzung politischer Probleme zum originären Ort strategischer Weichenstellungen des Politischen wurde. Gerade in Zeiten politischer Turbulenzen und gesellschaftlicher Umbrüche reklamierte die Philosophie historische Tiefenschichten und Bedeutungen des Politischen, die über den Ausgang der akuten politischen Auseinandersetzungen hinauswiesen. Im Unterschied zur politischen Pragmatik der Kompromisse und Vermittlungen versuchte die völkische Philosophie die ideale Höhenlage der existentiellen Bedeutungen des Politischen zu halten. Die Pathosformeln des Deutschen benutzte sie als Imperative einer philosophischen Politik, mit denen sich die Deutschen, in Plessners an Martin Heidegger angelehnter Terminologie, „in die Entscheidung stellten“. Befreit von den pragmatischen Zwängen der Kompromisse und Zugeständnisse sollte diese Politik die Geschichte zum Experimentierfeld der Erprobung ganzheitlicher ideeller Entwürfe machen. Die geschichtsphilosophische Rhetorik der nationalsozialistischen Bewegung operierte mit einer Ästhetisierung des Politischen. Atmosphärisch stimmige politische Inszenierungen des Erhabenen und die ästhetische Imagination nationalsozialistischer Politik als „Gesamtkunstwerk des Nationalen“ sollten die machtpolitischen Exzesse in ihrer Bedeutung relativieren.42 Die politische Machtergreifung der Nazis sahen z. B. Martin Heidegger und Arnold Gehlen als möglichen Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die Profanisierung des Politischen zum Terrain gehaltloser Machtspiele ein Ende finden würde. Ihre faktische kulturelle Bedeutungslosigkeit machte die Philosophie empfänglich für das Angebot, sich in den Dienst der nationalsozialistischen Weltanschauung zu stellen. Unter der Bedingung, sich der Durchsetzung des völkischen Gedankens zu verschreiben, wurde ihr von der nationalsozialistischen Bewegung eine geistige Aufwertung versprochen. Mit der Stilisierung der Deutschen als philosophischer Nation hatte sich deutsche Philosophie als originärer Partner einer philosophischen Politik des Nationalsozialismus empfohlen. Auf die lebensweltliche Irrelevanz und weltanschauliche Indifferenz deutscher akademischer Philosophie antwortete die völkische Philosophie damit, sich der weltanschaulichen Bewegung des Nationalsozialismus als geistige Führungskraft zur Verfügung zu stellen. Es widersprach ihrem elitären Selbstverständnis, die Legitimationsbedürfnisse der nationalsozialistischen Bewegung einfach zu bedienen 40 Janeff, Dämonie, S. 292. 41 Ebd., S. 284. 42 Syberberg hat dieses Motiv wieder aufgenommen in der ästhetischen Stilisierung Hitlers zum deutschen Gesamtkunstwerk. Vgl. dazu Syberberg, Hitler.

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und die begriff liche Besetzung des Deutschen den nationalsozialistischen Ideologen und Politikern zu überlassen. Eine ihrer disziplinären Wesensbestimmung nach bereits politische Philosophie, so die Argumentation der „philosophischen Nationalsozialisten“, habe vielmehr darüber zu wachen, dass die nationalsozialistische Bewegung die philosophische Wesensbestimmung der Politik nicht verfehle. Im Nationalsozialismus sahen sie eine politische Bewegung, die dieser philosophischen Begriffsbestimmung des Politischen entgegen kam. Aus dem Selbstverständnis einer Übereinstimmung seiner Philosophie mit der Programmatik der nationalsozialistischen Bewegung heraus lehnte beispielsweise Arnold Gehlen die politische Disziplinierung der Philosophie als überflüssig ab. In seiner Leipziger Antrittsvorlesung von 1935 „Der Staat und die Philosophie“ entwickelte er zunächst ein Panorama der deutschen Geistphilosophie und ihrer historischen Entwicklung, die zu einer Entwertung und Entmächtigung des Geistes geführt und „ihn aus dem Zentrum des Seins an die Peripherie“43 verwiesen habe. Von nun an sei die Philosophie nur noch mit sich selbst und ihrem Niedergang und Bedeutungsverlust beschäftigt gewesen. Nicht mehr „das Allgemeine in seinem notwendigen Dasein“, nicht mehr die „objektiven geistigen Wirklichkeiten“ und der „notwendige Prozess ihrer Einprägung in das Daseiende“44 waren ihr Gegenstand, sondern abstrakte Begriffszusammenhänge und Setzungen. Mit dem Auszug der „objektiven Wirklichkeiten“ und „ideellen, ganzheitlichen Wahrheiten“ aus der Philosophie habe diese ihren Sinn für die politischen Realitäten verloren. Am konzentrierten Ort einer „Logik der Ereignisse“, eben der Politik, war Philosophie nicht mehr präsent. Eine politische Bedeutung hatte sie nicht mehr.45 Zwischen Politik und Philosophie behauptete Gehlen eine spezifische Affinität. Politik und Staat seien Wirklichkeiten, „die im Vorhandenen, Tatsächlichen, Greifbaren nicht aufgehen, sondern die das Ideelle enthalten, das objektiv Geistige und nur durch seine Konkretionen hindurch Begreifbare“.46 Noch durch ihre eigene politische Entmächtigung habe die Philosophie der geistigen Aufwertung des Politischen zugearbeitet. Das Politische bleibe als das Andere der Philosophie auch dann als ihr Verweisungshorizont präsent, wenn es nicht länger Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung sei. Behauptet wird eine Doppelexistenz des Politischen : Neben der tatsächlichen, greifbaren Realpolitik stehe eine eigentliche, wesentliche Sphäre des Politischen. Die profane Wirklichkeit des Politischen sei frei von ideellen Wahrheiten und geistigen Bedeutungen und deshalb ohne Interesse für die Philosophie. Der Philosophie wurde bedeutet, ihren Bedeutungsverlust durch Annäherung an den Staat wettzumachen. Dazu müsse sie sich auf „Realitäten wie Volk und Rasse“ als den „notwendigen Daseinsweisen des objektiv Geistigen“47 einlassen. An diesen Realitäten komme 43 44 45 46 47

Gehlen, Staat, S. 297. Ebd., S. 299. Vgl. ebd., S. 301. Ebd. Ebd.

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die Philosophie in ihrer Suche „nach dem Ort, wo die philosophische Erkenntnis auch unmittelbar politische Willensbildung wäre“48, nicht vorbei. Offensichtlich ging es Gehlen darum, der Philosophie einen solchen unmittelbaren Einfluss auf die politische Willensbildung zu sichern. Deshalb verpflichtete er sie darauf, sich mit dem Politischen in seiner höchsten Existenzform zusammenzuschließen und dadurch den Anschluss an „die zweite Natur, aus der der Mensch lebt, handelt, will und genießt“49, zurück zu gewinnen. Damit war das Generalthema der Philosophie als einer politischen Anthropologie vorgegeben : die politische Natur des Menschen. Im Bewusstsein ihrer politischen Natur sollten sie ihre Selbstsucht überwinden und sich auf das Politische einlassen, anstatt kontemplativ Ganzheitlichkeit zu verfehlen. Der äußere Druck politischer Repression allein konnte eine solche existentielle Verpflichtung der Menschen auf den Staat jedoch nicht erzwingen. An dieser Stelle kam die Philosophie ins Spiel, die die strukturelle Einengung individueller Freiheiten als freie Selbstbestimmung zum Politischen ausgab. Nicht um die Sicherung individueller Freiheiten gehe es in der Politik, sondern darum, Menschen den Anschluss an einen höheren Sinn ihres Lebens zu erschließen. In Phantasien individueller Selbstver wirklichung komme die Natur im Menschen zu nichts : „Sie kommt zu ihrer eigenen Kraft und Leistung nur als Organ und geführte Natur, nur als sich anlehnend an einen Willen, der wollen kann, weil er in den konkreten Daseinsordnungen sich jeweils schon vorgeformt und aufgefangen findet.“50 Diese zweite geführte und formierte Natur wird zum Synonym einer Verinnerlichung der politischen Ordnung im Willen zur Selbstformierung. Wollen kann, wer will, was er soll. Das Wollen ordnet sich zum Sollen. Der philosophische Impuls zur Selbstbestimmung wird aufgefangen durch die politische Bestimmung des Selbst, das sich in die Ordnungen des Politischen als seine Bestimmung schickt.51 Als anthropologische Disziplin habe die Philosophie die Übereinstimmung der Menschen mit sich selbst zum Gegenstand. Mit sich selbst aber könne der Mensch nur übereinstimmen, wenn er sich aufgehoben wisse in einem „überpersönlichen geistigen Seienden“ – dem Staat als der Verdichtung dieses Seienden zur politischen Existenz. Das „Andere seiner selbst“ ist der Staat. Damit gehört der Staat zu den „Realitäten, [...] die man nur sein, aber nicht annähernd wissen oder sich vorstellen kann“.52 Zu ihnen, so Gehlen, könne man sich angemessen nur praktisch verhalten. Man könne diese Realitäten, die sich erst im Handeln herstellten, nicht begreifen, sondern nur auf sich nehmen.53 Solche formierten Welten müssten bejaht, verworfen, abgetan, eingeübt oder angeeignet werden. Sie ließen sich nur in ihrem eigengesetzlichen Selbstvollzug als Hand48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 303. Ebd. Ebd., S. 307. Diese Argumentation ist philosophisch vorbereitet in Gehlen, Willensfreiheit. Gehlen, Staat, S. 304 f. Vgl. ebd.

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lungen, Entscheidungen, Existenzen erfahren, nicht jedoch distanziert als Gegenständlichkeiten, Objekte oder Möglichkeiten beobachten. Die Formierung dieser Wirklichkeiten formiere auch die Menschen, die sich auf sie einließen. Objektivierendes Denken töte Lebendiges ab, hemme Handlungsvollzüge und relativiere formierte Wirklichkeiten zu Möglichkeiten. Dadurch werde Menschen nahe gelegt, sich kontemplativ mit Meinungen und Überzeugungen zu begnügen, anstatt zu handeln.54 Die disziplinäre Eigenart der Philosophie, angesichts bestimmter Wirklichkeiten auf unbestimmte Möglichkeiten zu verweisen, sah Gehlen als ihren „strukturellen Defekt“, der durch ihre politische Einbindung unter Kontrolle gehalten werden musste. Im Nationalsozialismus würden Politik und Philosophie auf das gleiche Ziel hinarbeiten : die Verweltlichung der Philosophie und die Vergeistigung der Welt in einer philosophischen Politik. Ohne ihre innere Bindung an die Politik würde sich Philosophie nur aus der reflexiven Distanz auf Wirklichkeit beziehen mit dem Ergebnis, „menschliche Zustände nur sehr unvollkommen und verfälschend in Gegenstände ihres Denkens zu ver wandeln“.55 Dagegen sah Gehlen in der Philosophie den Willen zur Gestaltung einer vollendbaren, vollkommenen Wirklichkeit. Philosophie, die auf ihrer Unabhängigkeit von der Politik bestand, so seine Überzeugung, musste dagegen unvollkommene Zustände akzeptieren. Philosophie sollte sich schon deshalb auf Wirklichkeit einlassen, weil nur so Menschen mit Aussicht auf Erfolg tätig werden könnten. Der Ort der höchsten Verdichtung menschlichen Daseins in möglicher ganzer Existenz, so Gehlen, sei eben die Politik. Indem „man als ganzer Mensch bestimmt ist, seine Bestimmung weiß und handelt und will, weiß man sich in seiner Allgemeinheit“56 als das Andere seiner selbst gegründet. Politisch verantwortlich handle, wer seine Bestimmung annehme. Menschliches Handeln sei nicht beliebig. Indem Menschen ihrer Bestimmung folgten, sei es ihnen möglich, zu handeln, wie sie handeln sollen. Sie können wollen, was sie ihrer Bestimmung gemäß sollen. Damit schloss sich der Kreis. Die Philosophie war aus eigenen Kräften beim Staat als dem „überpersönlichen geistigen Seienden“ angekommen. Für Gehlen waren die deutsche Philosophie und der nationalsozialistische Staat auf Grund komplementärer Entwicklungen, die sich in ihnen vollzogen hätten, eines Geistes. Im Falle der Philosophie erübrige es sich, sie auf ihre nationale Pflicht hinzuweisen. Ihre eigene genuine Verpflichtung auf Politik und Staat würden staatliche Bevormundung und Disziplinierung ins Leere laufen lassen. Das, was der Staat der Philosophie in Verkennung ihrer inneren Bestimmung von außen aufzwingen wolle, habe diese bereits als Selbstverpflichtung übernommen. „Wenn daher die nationalsozialistische Bewegung [...] finden sollte, dass die Geisteswissenschaften ( und in erster Linie die Philosophie ) als Wissenschaften von uns selbst mit uns selbst übereinzustimmen hätten, so würde sie nicht die Philosophie vor sogenannte neue Aufgaben stellen, sondern sie im 54 Vgl. ebd., S. 305. 55 Ebd., S. 304. 56 Ebd., S. 308.

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Gegenteil hinweisen auf ihre eigenste Bestimmung. [...] Und so ist die Erneuerung der Geisteswissenschaften [...] nicht eine Angelegenheit des Umbaus, der Reparatur, nicht auch einer Überpflanzung oder eines von außen aufgenötigten Stellungswechsels, sondern sie sollte und könnte sein einfach das Resultat einer mit eigenen Mitteln durchgeführten Selbstbesinnung und Einkehr.“57 In der Philosophie ging es für Gehlen um die Bestimmung des Menschen zu einer wesentlichen, einer politischen Existenz. Die Philosophie habe durch ihre eigene Entwicklung bereits eine Stufe national - völkischer Selbstverpflichtung erreicht, die Versuche äußerer Ordnung und Disziplinierung überflüssig machten. Diese völkische Philosophie sah ihre Aufgabe darin, die Menschen dazu zu konditionieren, ihnen nicht verfügbare Entwicklungen und übergreifende Zusammenhänge ihres Lebens zu akzeptieren. Gehlens Argumentation hat eine klare ordnungspolitische Komponente : Vollziehen sich auf dem eigenen Terrain der Philosophie Entwicklungen, die ihre politische Disziplinierung erübrigen, so kann die Philosophie nicht nur Autonomie beanspruchen, sondern einen geistigen Führungsanspruch behaupten. Ausgehend von der Vorstellung einer weltgeschichtlichen Mission der Deutschen als philosophischer Nation und Verteidiger von Geist und Kultur gegen Kapitalismus und westliche Zivilisation sahen die „philosophischen Nationalsozialisten“ in Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung die Chance, eine solche Mission als Staatspolitik zu verfolgen. Der Nationalsozialismus war für sie eine politische Bewegung mit tief ver wurzelten geistigen Ursprüngen und mythisch - metaphysischen Urgründen.58 Sie empfanden ihn nicht als Bedrohung von Humanität und geistiger Freiheit, sondern als Chance, Politik aus der Engführung von Macht - und Interessenpolitik herauszuführen und stattdessen in der nationalen Wiedergeburt Deutschlands endgültige Lösungen ewiger Menschheitsprobleme politisch anzugehen. Sie selbst hofften, in der Konsequenz einer solchen Politik die akademische Nische verlassen und Verantwortung für das nationale Ganze übernehmen zu können. Zwar sahen sie sich als Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung, nicht jedoch als disziplinierte Kader und Befehlsempfänger der Partei. Für sie war der nationalsozialistische Umbruch nicht in erster Linie ein politischer Machtwechsel, sondern die Eröffnung neuer, durch die Philosophie angeleiteter Gestaltungsmöglichkeiten von Politik. Die Radikalität des Nationalsozialismus bestimmten sie in anthropologischen und geschichtsphilosophischen Begriffen : Die nationalsozialistische Bewegung habe metaphysische Urgründe der Geschichte politisch mobilisiert und sei dabei, einen „neuen Menschen“ zu formen. Solche Phantasien einer quasi metaphysischen und anthropologischen Revolution setzten sie gegen die hässliche Seite des Nationalsozialismus – die Straßenkämpfe und die brutale Verfolgung politischer Gegner, die Diskriminierung und Verfolgung der Juden, in der zunächst machtpolitische und ideologische Akzente gesetzt werden müssten. 57 Ebd., S. 309 f. 58 Vgl. Heidegger, Selbstbehauptung.

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Die philosophisch inspirierten Nationalsozialisten hatten eine eigene Vorstellung vom wahren Nationalsozialismus, den sie als Alternative oder Korrektiv zu pragmatischer, auf Erfolg in den politischen Auseinandersetzungen verpflichteter Tagespolitik entwickelten. Für sie zählten Terror, ideologische Gleichschaltung und Judenverfolgung weniger, als die Rhetorik des radikalen Umbruchs aller Verhältnisse oder das Versprechen, einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Sie hatten sich nicht blind, sondern bewusst, nicht aus niederen Motiven, sondern aus höheren Beweggründen für eine Kollaboration mit dem Nationalsozialismus entschieden. Obwohl sie häufig durch ihre Auseinandersetzung mit der geistigen und kulturellen Weltgeschichte geformt wurden, stimmten sie der aggressiven Verengung und rassischen Umdeutung dieser Geschichte durch die Nationalsozialisten zu. Um die intellektuelle Faszinationskraft zu verstehen, die der Nationalsozialismus zweifellos auf sie ausgeübt hat, reicht der Rückgriff auf Metaphern wie Verblendung oder Blindheit, Irrationalismus und Verführung oder auch Irrtum und Versagen hier nicht aus. Die „philosophischen Nationalsozialisten“ sahen ihre Aufgabe darin, darüber zu wachen, dass die nationalsozialistische Bewegung in ihrer pragmatischen Politik die philosophische Vision nicht aus den Augen verlor. Als „philosophische Nation“ in weltgeschichtlicher Mission sollten die Deutschen im Nationalsozialismus die ihnen angemessene politische Bewegungs - und Existenzform finden. Ihr Feld war das Reich der politischen Ideen und Konzepte, der großen Zusammenhänge und weltgeschichtlichen Entwicklungen, der untergründigen Bedeutungen politischen Handelns und der „List der Vernunft“, die sich hinter dem Rücken der politisch Agierenden durchsetzte. Durch die philosophische Konstruktion eines eigentlichen und wahren Nationalsozialismus wurde seine Ideologie und praktische Politik zugleich in ihrer Bedeutung abgewertet. Für eine philosophische Politik waren nicht machtpolitische Auseinandersetzungen und Praktiken prägend, sondern höhere Werte, denen mit politischen Mitteln Geltung verschafft werden sollte. Visionen einer endgültigen Lösung solcher Probleme und Konflikte, die sich geschichtlich von Epoche zu Epoche modifiziert fortgeschrieben hatten, utopische Projekte einer Befriedung der Menschheit oder auch einer heilsgeschichtlichen Lösung nationaler Dilemmata wurden zum Programm einer politischen Bewegung, deren geistige Faszinationskraft darin lag, Machtpolitik als philosophische Politik zu präsentieren. Diejenigen, die im Nationalsozialismus eine metaphysische Bewegung sahen und ihm philosophische Bedeutungen zuschrieben, erlagen einem fatalen Irrtum. Sie gingen davon aus, Menschen seien das Material eines weltgeschichtlichen Umbruchs, in dem sie als Agenten der universellen Prinzipien von Rasse und Blut handeln würden. Allerdings sollten nicht alle in den Genuss einer solchen Aufartung oder Aufnordung zum Typus des ‚neuen Menschen‘ kommen, sondern nur die vom Schicksal zur exemplarischen Reinigung und Erhöhung ihres Menschseins rassisch Auserwählten. In Deutschland waren Philosophie und Politik konstitutiv verklammert. Die Philosophie wurde hier zur Sphäre politischer Ersatzhandlungen, die Politik zum

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Ort, an dem sich die Geltung und Reichweite philosophisch behaupteter Bedeutungen entscheiden sollte. Mit ihrem explizit formulierten Anspruch auf Kompetenz für die Angelegenheiten des nationalen Gemeinwesens konstituierte sich die völkische Philosophie als originär politische Philosophie. Dabei beschränkte sie sich nicht darauf, politisches Handeln dadurch zu legitimieren, dass sie ihm ideelle Bedeutungen zuschrieb. Die traditionelle Verpflichtung deutscher Philosophie auf das Schicksal der deutschen Nation arbeitete dem Image völkischer Philosophie als zeitgemäßer Variante einer nationalen Philosophie entgegen. In der symbolischen Stiftung nationaler Identität funktionierte die Philosophie als heils - und nationalgeschichtliche Ersatzinstanz. Als Rechtfertigungsquellen deutscher Existenz boten sich an „für die fehlende Staatsidee die Idee vom Volk, für die fehlende religiöse Ausdrucksform die wissenschaftliche Weltanschauung, die Philosophie“.59 Dabei konnte sich die religiös aufgeladene Verknüpfung der Philosophie mit der Idee des Volkes zur Vision einer völkischen Revolution steigern. Als völkische Philosophie glich die Philosophie ihre disziplinäre Entwertung durch ihre nationale Aufwertung aus. Nachdem sie im Ensemble der geistes-, sozial - und naturwissenschaftlichen Disziplinen keine Führungsrolle mehr beanspruchen konnte, war sie nun als wissenschaftliche Weltanschauung des Nationalen politisch präsent.

3. Die „Verspätete Nation“ : Plessners geschichtsphilosophische Analyse des Nationalsozialismus In seinem „Deutschlandbuch“ suchte Plessner sich und einem niederländischen Publikum Klarheit über die Gründe der zeitgenössischen Plausibilität des Nationalsozialismus zu verschaffen. Mit der Metapher von Deutschland als der „verspäteten Nation“ wurde er zum Stichwortgeber eines wirkungsmächtigen Diskurses über einen „deutschen Sonder weg“.60 Die wirkungsgeschichtlich begründete Verkürzung seiner historisch wie ideengeschichtlich breit ansetzenden Analyse deutscher Entwicklungen auf das mit „deutscher Misere“, „preußischer Sonderstellung“ und „nationalgeschichtlicher Verspätung“ assoziierte Schlagwort wird der Komplexität dieses Buches jedoch nicht gerecht. In ihm suchte Plessner den deutschen Entwicklungen nach dem Zusammenbruch liberaler Bürgerlichkeit und Humanität in Deutschland Möglichkeiten einer europäischen Erneuerung des politischen Humanismus abzugewinnen. Seine Reduzierung auf schlagwortartige Verkürzungen würde die einzigartige Gelegenheit verschenken, einer theoretisch anspruchsvollen wie politisch sperrigen zeitgenössischen Verschränkung von philosophischer Konzeptbildung, historischer Rekonstruktion und ideologiekritischer Analyse angemessen zu begegnen. In kritischer Zeitgenossenschaft mit den deutschen Entwicklungen, die zum Nationalsozialismus geführt hatten, suchte sich Plessner Klarheit über seine eigenen 59 Plessner, Nation, S. 166. 60 Zum Sonderweg vgl. Faulenbach, Ideologie.

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intellektuellen Wurzeln und Bindungen an eben diese problematischen Entwicklungen zu verschaffen. Zwei zunächst parallel laufende Entwicklungslinien kennzeichnen den „deutschen Sonderweg“ in geistespolitischer Hinsicht. Zum einen profilierte sich hier ein romantischer Volksbegriff zur politischen Leitidee, der einem deutschen Nationalbewusstsein den Halt zu geben suchte, den es in fortgesetzter nationaler Fragmentierung im europäischen Kontext nicht finden konnte. Zum anderen übernahm die Philosophie in dieser Situation die Führungsrolle in einer quasireligiösen Weltanschauungskultur. Beide Linien schlossen sich zusammen zu einer völkischen Philosophie nationaler Wiedergeburt in der weltanschaulichen Mobilisierung vorgeschichtlicher Ursprünge und Mythen. Auf diesem völkischen Boden konnte die nationalsozialistische Bewegung gedeihen. Hier setzte sie sich erfolgreich gegen alle Konkurrenten auf dem Terrain des völkisch Nationalen durch. Plessner verortete den Nationalsozialismus in der Fluchtlinie einer spezifisch deutschen Verknüpfung von Geistes - und Realgeschichte, die für historische Alternativen im deutschen Kontext keinen Raum zu lassen schien. Die mögliche Annahme eines historischen Schicksals der Deutschen, das sich im Nationalsozialismus auf verhängnisvolle Weise vollendete, suchte er dabei dadurch zu vermeiden, dass er die deutschen in den zeitgeschichtlichen Kontext europäischer Entwicklungen stellte und im normativen Horizont des politischen Humanismus bewertete. Damit erkannte er einerseits die Bedeutung spezifisch deutscher historischer Konstellationen für den nationalen Erfolg des Nationalsozialismus an, ohne sich andererseits normativ oder faktisch mit dieser politischen Situation zu arrangieren. Deutschland war für ihn gerade in seinen eigentümlichen Abweichungen vom nationalstaatlichen Standard der europäischen Geschichte Bestandteil Europas. Seine nationalgeschichtliche Perspektive, davon war Plessner überzeugt, würde sich im europäischen Kontext entscheiden, in dem es entweder gelang, die deutschen Entwicklungen europäisch einzubinden, oder in dem Deutschland ein dann auch für Europa verhängnisvoller politischer Sonderstatus als „verspätete Nation“ zugestanden wurde. Plessner sah den Nationalsozialismus nicht nur als deutsche, sondern als europäische Zäsur der bürgerlichen Moderne. Das Bedrohliche an der völkischen Revolution der Nationalsozialisten sah er vor allem in ihrer nationalgeschichtlich vermeintlich stimmigen Vernichtungsdrohung gegen das bürgerliche Werteund Gesellschaftssystem. Die menschenverachtende Seite des nationalsozialistischen Systems kam dabei nicht, nur am Rande oder in politischer Verklausulierung vor. Zum Verhältnis von Deutschen und Juden argumentierte er zum Beispiel so : Im Selbstverständnis, in weltlicher Stellvertretung Gottes über das Schicksal der absoluten Ideen zu wachen, hätten die Deutschen in Konkurrenz zu einem anderen „Gottesvolk“ gestanden, das gleich ihnen rast - und ruhelos durch die Geschichte zog, ohne einen nationalen Ruhepunkt völkischer Staatsgründung finden zu können. Diese Deutsche und Juden gemeinsame konstitutive Ruhelosigkeit führte Plessner als Grund dafür an, dass sie auch in ihrer

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Begegnung als Völker keinen Ausgleich miteinander finden konnten.61 Ihre „Ähnlichkeit im Schicksal“ habe noch die biologische Ausdrucksweise von nationalsozialistischer Rassenideologie und Vererbungswissenschaft geprägt und die Nazis in aggressiver Abgrenzung von den Juden zur Übernahme ihrer alttestamentarischen Denkweise gebracht.62 Plessners Verständnis für den nationalsozialistischen Antisemitismus geht hier in der Tat bis an die Schmerzgrenze. Wer von Plessners „Verspäteter Nation“ eine klare Absage an völkische Denkmuster eines „deutschen Sonderweges“ oder aber eine politische Kampfansage an den Nationalsozialismus erwartet, wird enttäuscht sein. Allerdings macht es gerade den Reiz dieses Buches für den Leser aus, mitzuverfolgen, wie Plessner selbst sich die intellektuelle Distanz zu den in ihrer verhängnisvollen Schlüssigkeit so plausiblen Konfigurationen deutscher Eigenart erst erarbeitet. Selbst geprägt von dem, was er als lebensphilosophisch - völkische Substanz des Nationalsozialismus als nationalgeschichtlichen Grund seiner politischen Faszinationskraft identifiziert hatte, erleben wir in diesem Buch den seltenen Balanceakt einer intellektuellen Distanzierung, die nicht vorschnell auf Distanz geht, sondern sich der irritierenden Nähe zu dem aussetzt, zu dem sie intellektuell erst Abstand zu gewinnen sucht. In dieser Hinsicht ist Plessners Buch ein faszinierendes Dokument zeitgeschichtlicher Analyse des Nationalsozialismus. Plessner selbst sah seine „Verspätete Nation“ als „Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus“.63 Diese Geschichte deutschen Geistes „im politischen und sozialen Horizont gesehen“64 war weder Dogmengeschichte noch im engeren Sinne Zeitgeschichte. In dieser Perspektive konzentrierte er sich auf die Diskussion der Ideen, die zur Rechtfertigung politischer und sozialer Ereignisse gedient hätten. Geistesgeschichte ist in diesem Verständnis kein passiver Reflex der politischen und sozialen Geschichte. Zwar gebe es keine autonome Welt des Geistes, wohl aber eine geistige Bedeutung politischer und kultureller Auseinandersetzungen. Plessner sah den Nationalsozialismus als Ergebnis einer weit in die Geschichte der Deutschen zurückreichenden Kette von Ereignissen – von Verspätungen und Ausfällen, von Zeit - und Problemverschiebungen, von paradoxer Gleichzeitigkeit und ambivalenten Ungleichzeitigkeiten, von ideen - und sozialgeschichtlichen Konfigurationen und ihrem Zusammenspiel. Im Nationalsozialismus sah er Kräfte am Werk, die in ihrer Reichweite und Bedeutung weit über dessen zeitgeschichtliche Spezifik hinausgingen. Diese Kräfte hatte der Nationalsozialismus für seine Zwecke zu mobilisieren verstanden. In der ideologischen Mobilisierung „deutscher Tiefe“ und weit in deutsche Geschichte zurück reichender Entwicklungen und Mentalitäten war es ihm gelungen, diese Entwicklungen in vermeintlicher Folgerichtigkeit auf den Nationalsozialismus hinauslaufen zu lassen.

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Vgl. Plessner, Schicksal, S. 183 – in der Neuauf lage gestrichen. Vgl. ebd., S. 185 ( Anm. zu Kap. 3) – in der Neuauf lage leicht verändert übernommen. Plessner, Nation, S. 13. Ebd., S. 21.

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Überleben und Erneuerung des bürgerlichen Humanismus, davon war Plessner zutiefst überzeugt, waren davon abhängig, ob er eine angemessene Antwort auf die völkische Revolution des Nationalsozialismus finden würde. Indem er das Schicksal des Humanismus an das Gelingen der bürgerlichen Erneuerung Deutschlands im Angesicht der nationalsozialistischen Vernichtungsdrohung gegen die bürgerliche Gesellschaft knüpfte, schrieb Plessner die weltgeschichtliche Bedeutung Deutschlands auf eigene Weise fest. An der Fähigkeit Deutschlands zum politischen Neubeginn aus dem gleichen Potential, das für die deutsche Entwicklung zum Nationalsozialismus verantwortlich war, würde sich die Zukunft des politischen Humanismus und damit zugleich der westlichen Zivilisation entscheiden. Dabei schien es zunächst, als sei auch Plessner, der rassisch Ausgegrenzte und ins Exil Getriebene, der Faszination des völkischen Pathos der Nationalsozialisten erlegen. Lediglich seine rassenpolitische Stigmatisierung durch die Nazis, so legt etwa Manfred Gangls Auseinandersetzung mit Plessners „Deutschlandbuch“ nahe, habe diesen daran gehindert, seinen eigenen völkischen Ambitionen zu folgen und sich selbst der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen.65 Dieses mögliche Missverständnis liegt in Plessners bewusster Zurückhaltung gegenüber klaren politischen Stellungnahmen begründet. Er selber hatte herausgestellt, dass es ihm in seiner Analyse nicht darum gegangen sei, Partei zu ergreifen, sondern zu verstehen.66 In bewusst unparteiischer Fragestellung habe er das Verführerische an der deutschen Situation in der Gegensätzlichkeit ihrer Aspekte sichtbar machen wollen. In seinem Selbstverständnis als politischer Philosoph, der sich im Unterschied etwa zu Georg Lukács nicht „eins mit einer bestimmten revolutionären Praxis“67 wusste, war Plessner nicht vorrangig darauf aus, denen, die der Verführung der Situation erlegen waren, die Augen zu öffnen. Eine entscheidende Voraussetzung zur wissenschaftlichen Aufklärung der deutschen Situation und ihrer Ambivalenzen war für ihn das Verstehen der in diesen Verhältnissen agierenden Menschen, ihrer inneren Beweggründe und äußeren Zwänge. Die Täuschungen und Selbsttäuschungen der Anhänger des Nationalsozialismus, die in der völkischen Revolution einen radikalen politischen Umbruch und existentiellen Aufbruch zu einem neuen Menschen sahen, waren dabei für ihn genau so wichtig und erhellend wie die Ereignisse selbst. Plessner war vor allem daran interessiert, die ideologische Plausibilität der sinnlichen und sinnhaften Suggestionen zu verstehen, in denen aus seiner Sicht die verführerische Attraktionskraft des Nationalsozialismus lag. Der Gefahr, im Nachzeichnen der objektiven Gründe und persönlichen Plausibilitäten der Verführung durch eine konkrete Situation diese im Nachhinein noch einmal als quasi unausweichlich schicksalhaftes Verhängnis festzuschreiben, war sich Plessner bewusst. Zweifellos lässt sich die mit dem Pathos von Schicksal und weltgeschichtlicher Stunde operierende Rhetorik der nationalsozia65 Vgl. Gangl, Mythos. 66 Vgl. Plessner, Nation, S. 215. 67 Ebd., S. 216.

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listischen Bewegung für diejenigen, die dieser Rhetorik erlegen sind, als die suggestive Verengung von Spielräumen subjektiven Verhaltens zur Entscheidung für die von dieser Situation vermeintlich zwingend nahe gelegten Optionen beschreiben. Der Versuch, hier Distanz zu gewinnen und der Überwältigung durch das geschichtsphilosophische Pathos zu widerstehen, kann sich jedoch mit der hermeneutischen Einfühlung in die Situation nicht begnügen. In einer solchen Situation die notwendige Entscheidung gegen die nationalsozialistischen Bewegung offen zu halten durch den Verweis auf die Unmöglichkeit zu wissen, „was vernünftig und was unvernünftig ist“68, ließ dieser politisch freie Hand. Eine Nähe Plessners zur nationalgeschichtlichen Metaphysik des Nationalsozialismus ist tatsächlich unbestreitbar. In ihr zeigt sich ein in seiner Bedeutung über den Einzelfall hinausweisender gemeinsamer völkischer Grund von konservativer Revolution und nationalsozialistischer Bewegung. Die Beschwörung deutscher Tiefe und Innerlichkeit als politisch erst noch einzulösendem Versprechen nationaler Erneuerung in weltgeschichtlicher Absicht war ein Topos des intellektuellen Diskurses der deutschen Zwischenkriegszeit, der mit intuitiver Zustimmung quer durch die politischen Lager und intellektuellen Strömungen rechnen konnte.69 Solche Denkfiguren bestimmten auch Plessners politische Philosophie. Um die Eigenart der historischen Konstellationen zu verdeutlichen, die den Erfolg des Nationalsozialismus ermöglicht hatten, zeichnete Plessner ein Bild, das zugleich auf die generelle Differenz von Natur und Geschichte zielte. Bei den Kräften, deren Zusammenspiel für den Nationalsozialismus relevant geworden sei, handele es sich weder „um gewissermaßen immer verfügbar gewesene Spannungsenergien aus einem geschichtlich gewordenen Reser voir, um Anlagen des deutschen Charakters, noch um bloße ephemere Klangfiguren ausschließlich des damaligen Erregungszustandes. Vielmehr haben sie sich selbst [...] aneinander geformt.“70 Diese energiepolitische Rhetorik verortete den Nationalsozialismus in einem Spannungszustand nationalgeschichtlicher Entwicklungen und zeitgeschichtlicher Zuspitzungen in der Entscheidungssituation des revolutionären Umbruchs. Nur eine politische Bewegung, die sich selbst im Kraftfeld dieser Spannungen bewegte und die dadurch in einen eigenen Erregungszustand geriet, dass sie sich selbst zur entscheidenden Kraft des gesellschaftlichen Umbruchs profilierte, so Plessner, habe die Spannungsenergie dieser Kräfte als Resonanzboden eigener Ambitionen zu deren Verstärkung nutzen können. In einem solchen Erregungszustand durchaus eigener Art hat sich die nationalsozialistische Bewegung ganz sicher befunden. Er erlaubte es ihr, politisch auf Entwicklungen hinzuarbeiten, denen die Zeit selbst entgegen arbeitete.71 Im intuitiven Anschluss an zeitgeschichtliche Entwicklungen und Stimmun68 Ebd. 69 Vgl. die von Paul Alverdes und Karl Benno von Mechow von 1934–1944 herausgegebene Zeitschrift „Das Innere Reich“. 70 Plessner, Nation, S. 14. 71 Joachim Fest hat die Dynamik dieses intensiven Austauschprozesses zwischen der Geschichte und der Gestaltungskraft historischer Subjekte am Beispiel Hitlers eindring-

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gen hatte sie mit ihrer politischen Programmatik den Nerv der Zeit getroffen. Eine aus den politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Zeit argumentierende Beschreibung oder gar Erklärung des politischen Erfolgs der nationalsozialistischen Bewegung ist das allerdings nicht. Anstelle einer solchen Erklärung beschwor Plessner atmosphärische Stimmungen und Spannungen der Zeit, die die nationalsozialistische Bewegung, die sich selbst in einem hochgradigen revolutionären Spannungsfeld befand, mit politischen Verstärkereffekten für sich nutzen konnte. Kämpferischer Enthusiasmus, spekulative Tiefe und das Ungenügen am Bestehenden waren für Plessner die Kehrseiten der deutschen Sekundärtugenden von Ordnung, Disziplin, Pflichterfüllung und einem Dienst an der Sache um der Sache willen. Einer politischen Bewegung, der es gelang, die Spannungen, die in dieser Komplementarität lagen, in ihrem Sinne zu mobilisieren, so war er sich sicher, würde sich damit ein ungeheures Energiepotential erschließen. Der Kampf um die politische Besetzung des Nationalen war so auch ein Kampf um Bewegungsenergie. Diesen Kampf hatten die Nationalsozialisten in Deutschland ganz offensichtlich für sich entscheiden können. Auf die nationalsozialistische Beschwörung nationaler Mythen des Deutschseins72 und den Versuch, ihre völkische Revolution als Mobilisierung vorgeschichtlicher, natürlicher Urgründe deutschen Seins auszugeben, reagierte Plessner mit dem Ver weis auf die begrenzte Reichweite einer Analogisierung von Natur und Geschichte : Ein Reser voir sei „nichts ohne seine Staumauer und ohne seine Zuflüsse. Die elektrische Energie bildet sich nicht ohne das Gefälle und die Umsetzungsmöglichkeit von Energie in Energie. Was in solcher Konstellation aus Regen und Bächen in Elektrizität umgesetzt werden kann, bleibt in aller Formveränderung sich gleich : Natur. Historische Konstellationen sind grundsätzlich anderer Art. Hier geht es um Einflüsse, Traditionen und Überlieferungen, echte und falsche, Träume und Erwartungen. Die Vorstellung von dem, was man sein will, und der Appell an die Phantasie [...] wirken zugleich nach vorwärts und rückwärts. Sie rufen die Quellen, sie rufen den Regen, sie schaffen den Stau.“73 Das grundsätzlich Andere historischer Konstellationen sah Plessner darin, dass diese sich im Unterschied zur Natur in ihrer Formveränderung nicht gleich blieben. Geschichte war Formveränderung – nicht einer immer gleichen Substanz des Historischen, deren Formen lediglich variierten, sondern einer Formenvielfalt, die sich jeder Substantialisierung verweigerte. Hineingestellt in den Zusammenhang deutscher Geschichte und damit in eine Kontinuität nationalgeschichtlicher Ambivalenzen, versprach die nationalsozialistische Bewegung mit ihrer politischen Radikalisierung des völkischen Denlich dargestellt. In dieser Komplementärbeziehung war Hitler „weit weniger der große Widerspruch der Zeit als deren Spiegelbild“. Erst der „Zusammenbruch der Ordnung, die Angst und Veränderungsstimmung der Epoche [...] spielten ihm die Chance zu, aus dem Schatten der Anonymität zu treten“. Fest, Hitler, S. 22 und 24. 72 Vgl. Münkler, Die Deutschen. 73 Plessner, Nation, S. 14.

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kens eine nationalstaatliche Erneuerung des deutschen Reichs. Eine Zeit, deren komplexe Krisen andere politische Parteien ratlos ließ, fand die Nationalsozialisten vorbereitet. In der bewusst provozierten Unregierbarkeit der Weimarer Republik waren die Nationalsozialisten neben den Kommunisten die einzigen, die von den zeitgeschichtlichen Turbulenzen und der Spirale der Radikalisierung profitierten, indem sie sich selbst an die Spitze dieser Bewegung setzten. Bei Plessner findet sich diese Konstellation in schon bekannter Metaphorik wieder : In der „Stunde der Ratlosigkeit“ konnte die gemüthafte Tiefe der politischen Idee des Volkes „Energien erwecken, die nur das entsiegelnde Wort brauchen, um eine Revolution zu entfachen“.74 Diese politische Mobilisierung völkischer Energien war der nationalsozialistischen Bewegung gelungen. Der Nationalsozialismus war für Plessner weder historischer Zufall noch marginaler Unfall der deutschen Geschichte, sondern eine durch die zeitgeschichtlichen Konstellationen und Kräfteverhältnisse wirksam gewordene Möglichkeit, die in der inneren Logik deutscher Entwicklung lag. Im Nationalsozialismus als einer möglichen Konsequenz deutscher Geschichte sah er eine überzeugende, wenn auch vorläufige, Lösung ihrer nationalgeschichtlichen Spannungen in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Nicht politischer Staats - oder Handstreich, demagogische Überrumpelung oder terroristische Ausschaltung der Gegner, auch nicht propagandistische Raffinesse oder dumpf - rassistischer Antisemitismus waren für ihn in ihrer effektiven strategischen Kombination die entscheidenden Gründe des politischen Erfolgs der Nationalsozialisten. Diesen Erfolg sah er stattdessen darin gegründet, dass die nationalsozialistische Bewegung den Deutschen die Lösung solcher Probleme überzeugend in Aussicht gestellt hatte, mit denen sie assoziativ die Vorstellung eines problematischen Seins deutscher Existenz verbinden konnten. Die Argumentationsfigur der „verspäteten Nation“ war dabei das Synonym für diese problematische Existenz der Deutschen. An ihr entwickelte Plessner eine paradoxe Konstellation gleichzeitiger Ungleichzeitigkeiten von Kompensationen, Antizipationen, Verfremdungen, Beschleunigungen und Verspätungen. In ihr verklammerte er ideengeschichtliche, politische, religiöse, kulturelle und ökonomische Entwicklungen der deutschen Geschichte zum ganzheitlichen Gebilde einer „verspäteten Nation“. Solche historisch weit zurück reichenden Probleme verhinderter nationaler Identitätsfindung, die sich mangels historischer Lösungen und in der Fortschreibung einer prekären nationalen Situation inzwischen zu metaphysischen Tiefenstrukturen und Mythen deutschen Seins verfestigt hätten, seien von der nationalsozialistischen Bewegung in ihrer politischen Programmatik völkischer Erneuerung übernommen und erfolgreich zur nationalen Mobilisierung des deutschen Volkes eingesetzt worden. 1935 bescheinigte Plessner dem deutschen Volk, „ein Bewusstsein von dem revolutionären Sinn seiner Existenz erlangt“75 zu haben. In dieser Situation wür74 Ebd., S. 57. 75 Ebd., S. 50.

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den die Deutschen verstehen, warum es ihnen unmöglich war, „in der Gegenwart zur Ruhe zu kommen“.76 Was aus dem Bewusstsein revolutionärer Existenz, den das deutsche Volk im Nationalsozialismus gewonnen habe, folgen werde, müsse den politischen Entwicklungen Deutschlands überlassen werden. Allerdings war Plessner zuversichtlich, dass die revolutionäre Hochstimmung des deutschen Volkes im Nationalsozialismus nicht lange anhalten werde. Seine Affinität zu universeller Weltbürgerlichkeit, so gab er sich überzeugt, konnte nur zeitweise im Überschwang pseudoradikaler und metaphysischer Dogmatik still gestellt werden. Der „konstitutiven Unruhe“ der Deutschen ordnete Plessner die Revolution als die „natürliche Explosivform“ ihrer politischen Existenz zu. Mit der Permanenz völkischer Mobilisierung habe der nationalsozialistische Staat versprochen, diese Unruhe auf Dauer zu stellen und ihr eine politische Bewegungsform zu geben. Aus dieser Unruhe hatte er seine Energie bezogen. Aus ihr habe sich der aktionistische Zwang zur ständigen Überbietung der eigenen politischen Rhetorik und einer Radikalisierung der politischen Ziele der Bewegung gespeist, die sich programmatisch nicht still stellen lasse. Diese irritierende These behauptet eine nationalgeschichtliche Tiefenstruktur und Anschlussfähigkeit des Nationalsozialismus an deutsche Geschichte als Geheimnis seines politischen Erfolges. Sie stellt den Nationalsozialismus in den Zusammenhang von Entwicklungen, die weit in die deutsche Geschichte zurückreichen. Die nationalsozialistische Bewegung wird nicht länger als Verführerin und Betrügerin des deutschen Volkes, auf das sie sich in ihrer völkischen Revolution zu Unrecht berufen habe, in Gegenstellung zur deutschen Geschichte gebracht, sondern als authentischer politischer Ausdruck von nationalen Frustrationen und Imaginationen, von gesellschaftlichen Stimmungen und Erwartungen in ihrer symbiotischen Verklammerung anerkannt. Hitler und die nationalsozialistische Bewegung haben nach dieser Interpretation den Deutschen nicht die politische Macht aufgezwungen, sondern ihnen ist eher umgekehrt diese Macht von der historischen Entwicklung Deutschlands selbst zugespielt worden. Im Nationalsozialismus hat sich aus dieser Sicht eine deutsche Entwicklung vollendet, die im 17. Jahrhundert begonnen hatte und die im historischen Kompromiss des Bismarckstaates zwischen Nationalstaat und Reichsgedanken für kurze Zeit in ihrer politischen Dynamik still gestellt wurde, um schließlich nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Versailler Frieden den Deutschen einen einzigen Weg aus ihrer verzweifelten Lage übrig zu lassen : „den Weg zur Erneuerung ihres Reiches aus der Idee seines natürlichen Lebensgrundes, des Volkes : die völkische Revolution“.77 Das deutsche Volk als der natürliche Lebensgrund des Reiches hat nach dieser Interpretation in der nationalsozialistischen Revolution zu sich selbst gefunden. Mit der Würdigung der nationalsozialistischen Machtergreifung als einer völkischen Revolution auf der Höhe ihrer Zeit erkannte Plessner ihre nationalgeschichtliche Bedeutung an. Dem Nationalsozialismus schrieb er eine philoso76 Ebd. 77 Ebd., S. 57.

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phische Tiefendimension zu, die über seine Spezifik als politische Bewegung und Ideologie hinauswies. Diese Separierung unterschiedlicher Bedeutungsebenen zielte auf eine klare Trennung dessen, was historische Subjekte in konkreten politischen Konstellationen zu verantworten hatten von dem, was sich auf einer anderen tiefenstrukturellen Ebene durch ihr Handeln vollzog, ohne sich ausschließlich ihrem Handeln zu verdanken. Plessners Heraushebung einer existenzphilosophisch - völkischen Bedeutungsebene des Nationalsozialismus gegenüber seiner politischen Programmatik blendete die auch 1935 schon unübersehbaren nationalsozialistischen Verbrechen aus. Seine geschichtsphilosophische Interpretation stellte den Nationalsozialismus in den Zusammenhang einer Nationalgeschichte der Blockierungen, Verfremdungen und ideellen Ersatzbildungen verfehlter deutscher Entwicklungen in der ausdrücklichen Absicht einer dramaturgischen Steigerung der in ihm sich akkumulierenden Gefahren. Dessen politische Erfolgsgeschichte gewann mit dieser Interpretation zwar einerseits eine gleichsam schicksalhafte Bedeutung. Aus rationalitätstheoretischer Perspektive wurde der Nationalsozialismus jedoch andererseits als politischer Ausdruck einer strukturellen Gefährdung westlicher Gesellschaften bestimmt. Damit wurde seine Gefährlichkeit nicht relativiert, sondern aus einem nationalen in einen europäischen und aus einem gesellschaftspolitischen in einen modernetheoretischen Zusammenhang hinein erweitert. Diese Interpretation läuft dennoch Gefahr, den Nationalsozialismus in der philosophischen Verfremdung aufzuwerten und ihm Bedeutungen zuzuschreiben, denen gegenüber seine ideologischen Konzepte und verbrecherischen politischen Praktiken als marginal und temporär zurück zu treten drohen. In der Zusammenführung nur bedingt vereinbarer Elemente war die nationalsozialistische Bewegung für unterschiedliche Entwicklungen offen. So stand etwa die Rhetorik des völkischen Aufbruchs als einer Revolution in Permanenz der Tendenz einer Konsolidierung der Revolution als Zügelung ihrer radikalen Elemente und Einbindung traditioneller Eliten der deutschen Gesellschaft gegenüber. Die Ausschaltung der SA im Konflikt mit der Armee um die künftige militärische Vormachtstellung im nationalsozialistischen Deutschland zielte auf die Entscheidung dieses Konflikts in Richtung einer ordnungspolitischen Etablierung des Nationalsozialismus.78 Mit dem fehlgeschlagenen Attentat des 20. Juli und Hitlers Zweifel an der Richtigkeit seiner damaligen Entscheidung gegen die SA und für das Militär schlug das Pendel schließlich wieder in die Richtung der radikalen Fraktion der nationalsozialistischen Bewegung aus. Im „totalen Krieg“ und der „Endlösung der Judenfrage“ setzte sich die permanente Revolution als rücksichtsloser Vernichtungsfeldzug im Namen einer höheren Ordnung fort. Als Hitler schließlich in seinen letzten Tagen angesichts der auch von ihm nicht mehr zu leugnenden Niederlage des Nationalsozialismus realisierte, dass das deutsche Volk an der von ihm formulierten historischen Mission scheitern würde, stimmte er ohne Bedenken auch der Vernichtung des deutschen Volkes 78 Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht.

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zu, das sich offensichtlich als zu schwach für die ihm zugedachte Aufgabe erwiesen habe. Plessner sah die nationalsozialistische Machtergreifung als eine Revolution nicht gegen, sondern im Anschluss an Entwicklungen deutscher Geschichte. In ihrer völkischen Revolution, so seine These, hätten die Nationalsozialisten eine Verknotung deutscher Entwicklungen zum nationalen Problemstau gelöst und die politische Schubkraft der von dieser Lösung frei gesetzten Energien für ihre eigenen Zwecke zu nutzen vermocht. Mit dieser These wandte er sich gegen eine Erklärung des Nationalsozialismus zum historischen Unglücksfall, der aus der Normalität deutscher Geschichte herausfalle. In der ideellen Überhöhung stellte er nationalgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus heraus, die diesen als folgerichtige, wenn auch nicht einzig mögliche Konsequenz deutscher Geschichte erscheinen ließen. Dabei suchte er jene für die deutsche Geschichte spezifischen ideengeschichtlichen, politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen zum ganzheitlichen Gebilde einer „verspäteten Nation“ zu verklammern, deren Spannungen, Defizite und Konflikte der Nationalsozialismus zu lösen versprach. Dieser Erklärungsansatz verwies auf die Akkumulation tradierter problematischer Konstellationen der deutschen Geschichte zu einer Situation, in der sich entscheiden musste, ob und in welcher Weise Deutschland Anschluss an den Entwicklungsstand der europäischen Moderne finden werde. In dieser Zuspitzung der nationalgeschichtlichen Situation zur notwendigen politischen Entscheidung über die Zukunft Deutschlands lag ein ganzes Spektrum möglicher Lösungen. Entweder würde Deutschland in der fortgeschriebenen Abkopplung vom Westen weiterhin auf einem eigenen Entwicklungsweg bestehen oder es würde im reflektierten Anschluss an die westliche Moderne die notwendige Erneuerung des politischen Humanismus initiieren. In seiner geschichtsphilosophisch - geistesgeschichtlichen Analyse des Nationalsozialismus spielte Plessner beide Möglichkeiten als Risiken und Chancen deutscher Entwicklungen für Europa und die westliche Moderne durch. Seine Präferenz für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“79 auf der normativen Basis eines in seinem Universalitätsanspruch erneuerten politischen Humanismus, der durch die politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus der strukturellen Lähmung zu neuer politischer Handlungsfähigkeit gefunden hatte, war dabei eindeutig. Ob der Westen in der Lage sein würde, den im Nationalsozialismus liegenden Gefährdungen seiner eigenen Existenz politisch angemessen zu begegnen, ließ Plessner offen. Seine begrenzten Möglichkeiten, auf diese komplexe Gefahrenlage aufmerksam zu machen, nutzte er durch die Konstruktion eines Worst - Case - Szenarios deutscher und europäischer Entwicklungen, in dem aus der rassenpolitischen Aufkündigung universalistischer Vernunftmoral und Humanität nur Krieg und Vernichtung folgen konnten.

79 Zur zeitgenössischen Debatte vgl. Lützeler, Plädoyers.

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Die Beziehung Deutschlands als einer „verspäteten Nation“ zur industriegesellschaftlichen und kulturellen Moderne stand am Vorabend des Nationalsozialismus weniger als akademische, sondern als politische Frage, sich mit einem nach außen handlungs - und durchsetzungsfähigen Staat im Ensemble der entwickelten Industrienationen zu behaupten und nach innen die Pattsituation konkurrierender Parteien zu beenden, die nationale Einheit politisch zu institutionalisieren und ein erfolgreiches soziales Krisenmanagement in Aussicht zu stellen. Durch die Konditionen des Versailler Vertrages wurde die Diskrepanz zwischen der weiterhin angenommenen weltgeschichtlichen Mission der Deutschen und ihrer faktischen weltpolitischen Bedeutungslosigkeit noch verstärkt. Mit ihrem Versprechen nationaler Einheit und politischer Stabilisierung überzeugte die nationalsozialistische Bewegung Geldgeber aus Industrie und Finanzen, sie aus eigenem Interesse großzügig zu unterstützen. Die Diskrepanz zwischen der angenommenen weltgeschichtlichen Mission der Deutschen und ihrer faktischen weltpolitischen Bedeutungslosigkeit nutzte die nationalsozialistische Bewegung zur Beschwörung einer nationalen Aufbruchstimmung, mit der sie unterschiedliche soziale Schichten ansprach, die ihre Hoffnungen auf einen Ausweg aus der Krise und eine Besserung ihrer sozialen Situation in der Programmatik der nationalsozialistischen Bewegung gespiegelt sahen. Eine politische Bewegung, die für diese Konstellation eine überzeugende Lösung anbot, konnte mit einer breiten Zustimmung der deutschen Bevölkerung rechnen. Plessners geschichtsphilosophische Verortung des Nationalsozialismus entwickelte eine subtile, disziplinär übergreifende und historisch breit angelegte Analyse der Gründe des politischen Sieges der nationalsozialistischen Bewegung und seiner nationalgeschichtlichen Plausibilität. In diesem Zusammenhang war für ihn die Annahme einer mythischen Gründung des deutschen Nationalcharakters historisch nicht weniger wirkungsmächtig als die politische Programmatik der nationalsozialistischen Bewegung. Erklärungsrelevant war hier für ihn vor allem ein für Deutschland tragisches, den Anschluss an moderne Entwicklungen auf Dauer blockierendes Ungleichgewicht zwischen einer ins Universelle ausgreifenden weltbürgerlichen Gestaltungsabsicht von Geschichte und der realpolitischen Fragmentierung deutscher Entwicklungen.

4. Nationalsozialismus und deutsche Kultur : Was ist deutsch ? An Thomas Manns vielschichtiger Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus und deutsche Kultur lässt sich zeigen, wie Bürgerlichkeit, Politik und Innerlichkeit als Achsen des spekulativen Diskurses um die Bestimmung des Deutschen funktionierten. Zunächst sprach Thomas Mann den Nationalsozialisten in der starren Entgegensetzung des Deutschen und des Undeutschen das Recht ab, sich überhaupt auf deutsche Kultur und Geschichte zu berufen. Mit der Annahme eines anderen Deutschland hielt er den Nationalsozialismus als zeitweilige politische Unterdrückung von Bürgerlichkeit, Humanität und poli-

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tischer Vernunft normativ auf Distanz. Auch nach dessen Marginalisierung durch nationalistische Demagogie und politischen Terror bestand für ihn kein Zweifel daran, dass diesem anderen Deutschland die Zukunft gehören würde. Eine solche kompromisslose Entgegensetzung des nationalsozialistisch Undeutschen und des geistig Deutschen bürgerlicher Vernunft hatte Thomas Mann 1930 in einem nationalen „Appell an die Vernunft“ formuliert. An die Adresse des Nationalsozialismus gerichtet hatte er rhetorisch gefragt : „Ist das deutsch ? Ist der Fanatismus, die gliederwerfende Unbesonnenheit, die orgiastische Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause ?“80 Natürlich nicht. Deutsch war das Andere, waren eben Vernunft, Besonnenheit, menschliche Würde und geistige Haltung. An einer solchen Position auch nach der innenpolitischen Konsolidierung des nationalsozialistischen Systems festzuhalten, hätte allerdings bedeutet, eine Mehrheit der Deutschen als undeutsch zu stigmatisieren und antifaschistische Konzepte bereits im Vorfeld des Politischen scheitern zu lassen. Die demokratische Erneuerung Deutschlands aus eigenen nationalen Kräften wäre dann nicht mehr denkbar gewesen. Ähnlich hatte Horkheimer in einer kritischen Diskussion des Verhältnisses von Deutschland und Nazismus gegen die Annahme der „Einheit der Tradition des deutschen Militarismus, der Geistesverfassung des deutschen Volkes und der Nazi - Diktatur“81 argumentiert. Diese Annahme biete keine hinreichende Grundlage für die kulturelle Erneuerung und den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg, sondern rechtfertige die Zerschlagung Deutschlands durch die Alliierten. Für ihn war nicht erkennbar, woran ein Projekt der kulturellen Erneuerung Deutschlands anknüpfen sollte, dass sich einem monolithischen Block von deutschem Militarismus, deutschem Geist und Nazismus gegenüber sah. Ein solcher Block musste natürlich, sollte er tatsächlich existieren, zerschlagen werden. In der Gegenthese, die zwischen deutscher Politik und deutscher Kultur einen Antagonismus setzte, sah Horkheimer dann die ebenfalls inakzeptable Entlastung der deutschen Kultur von ihrer Mitverantwortung für deutsche Politik. In beiden Thesen suchte er nach dem Körnchen Wahrheit, das diese nach der Relativierung ihres absoluten Wahrheitsanspruchs enthielten. So gebe es zwar keine Einheit von deutschem Militarismus, deutschem Geist und Nazismus, wohl aber eine historisch gewachsene Nähe zwischen ihnen. Zwar sei der Nationalsozialismus nicht einfach die politische Formierung des deutschen Volkes. Wohl aber gebe es „mit dem Deutschtum einhergehende Züge, wie etwa den Hurra - Patriotismus, den Untertanengeist, die selbstgefällige Sentimentalität und den Eigensinn“82, die dem Nationalsozialismus mentalitätsgeschichtlich entgegen - und zugearbeitet hätten. Diese Züge rechtfertigten es jedoch noch nicht, den Nationalsozialismus als politische Formgebung einer deutschen Mentalität 80 Mann, Ansprache, S. 269. 81 Horkheimer, Erneuerung, S. 186. 82 Ebd., S. 190.

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zu kennzeichnen und damit gesellschaftliche Gründe seiner Entstehung und politischen Durchsetzung zu vernachlässigen. Horkheimer sah in solchen mentalen Merkmalen „nur die deutsche Spielart eines Musters, das universell geworden ist : aggressive Mittelmäßigkeit, Selbstgerechtigkeit, pseudo - aufgeklärte Fortschrittlichkeit, die konformistische Vorstellung, alles im eigenen Lande und Volk sei grundsätzlich gesund“.83 Die widersprüchliche Vielschichtigkeit deutscher Geschichte und Politik war für Thomas Mann als konstitutives Element des Faustischen in die deutsche Seele als eine Eigenart deutscher Mentalität eingeschrieben. Eine sich eindeutigen Bestimmungen entziehende Ambivalenz hielt er als nationale Tugend und eigentliches Wesen des Deutschen fest. Sich „selbst als das gute Deutschland zu empfehlen, ganz im Gegensatz zum bösen, schuldigen dort drüben, mit dem man gar nichts zu tun hat“84, kam Thomas Mann in einer Rede über „Deutschland und die Deutschen“ aus dem Jahre 1945, dieses Mal als amerikanischer Staatsbürger und vor amerikanischem Publikum gehalten, nicht mehr in den Sinn. Nun erzählte er seinem Publikum eine „melancholische Geschichte deutscher Innerlichkeit“, die sich im Verhängnis des Nationalsozialismus tragisch erfüllt habe. Politisch sei diese Geschichte um das Unverhältnis der Deutschen zur Politik organisiert, die Politik als eine Kunst des Möglichen in der Vermittlung von Idee und Wirklichkeit nie beherrscht hätten. Unfähig, sich mit dem Leben als einem Kompromiss zu arrangieren, neigten die Deutschen zum Rigorismus des Absoluten und der endgültigen Lösungen. Das hatte spätestens dann verheerende Konsequenzen, wenn sie einmal in die Verlegenheit kamen, Politik betreiben zu können. Dann wurde ihre mit spießbürgerlichem Universalismus gepaarte nationalistische Weltfremdheit als provinzielle deutsche Weltbürgerlichkeit barbarisch : Dann nämlich glaubte der Deutsche sich „als Politiker [...] so benehmen zu müssen, dass der Menschheit Hören und Sehen vergeht – dies eben hält er für Politik. Sie ist ihm das Böse, – so meint er denn um ihretwillen recht zum Teufel werden zu sollen.“85 Ausdrücklich lehnte Thomas Mann nun die historische Objektivierung der deutschen Spaltung als ihre mögliche Differenzierung guter und schlechter, ins Verhängnis führender und Zukunft versprechender Traditionen ab : Es gibt „nicht zwei Deutschland [...], ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute.“86 Als Deutscher sei man noch als Gegner der politisch Schuldigen unausweichlich mit dem Phänomen deutscher Schuld konfrontiert. Der gute, gerechte Deutsche in der weißen Weste, der seine Hände in Unschuld wäscht, und der die Gerechten an seiner Seite mit dem unbeteiligten Wissen um die Gründe des deutschen Verhängnisses guten Gewissens dazu auffordern kann zu vernichten, was als „deutsches Unwesen“ nur Unglück über die 83 84 85 86

Ebd. Mann, Deutschland, S. 262. Ebd., S. 273. Ebd., S. 279.

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Welt gebracht hat, für Thomas Mann war er ein Mythos. Das Faustisch - Dämonische sah er nun als Ausdruck eines tragischen Ineinander von „berechnetster Ordnung“ und „chaosträchtiger Wider - Vernunft“.87 In dieser irritierenden Gemengelage habe ein hochtechnisierter Romantizismus die irrationale Verherrlichung vitaler Lebenskräfte und ihre Entgegensetzung gegen das bloß Moralische eines abstrakten Humanismus politisch abgelöst.88 Das Faustische war bereits von Oswald Spengler zum deutschen Lebensgefühl eines imperialistischen Sozialismus stilisiert worden. Der faustische Typ war der Mensch, der sein Leben einer Mission geweiht und es unter den moralischen Imperativ einer Aufgabe gestellt hatte. In den Zusammenhang ewigen Werdens gestellt, hätten ihn Entwicklungen angezogen, die durch die Gegenwart eines gesättigten Seins nicht zur Ruhe kommen konnten. Der faustische Mensch musste kämpfen, über winden, sich durchsetzen. Gegen das Nebeneinander pluraler Vielfalt, das er nicht ertragen konnte, suchte er als Wille zur Macht nach Alleinherrschaft.89 Als „konstitutive Unruhe“ der Deutschen, als ihre Unfähigkeit, in einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zur Ruhe zu kommen, fand sich diese Bestimmung bei Plessner wieder. Für Thomas Mann war der „faustische Typus“ die Quintessenz einer mentalitätsgeschichtlichen geistigen Bilanzierung des Nationalsozialismus und seiner deutschen Gründe und Wurzeln. In einer tragischen Geschichte deutscher Innerlichkeit stand er bei ihm für die nicht nur äußere Zerrissenheit und Spaltung Deutschlands. Auch Victor Klemperer hatte einen gemeinsamen und dauernden Grundzug innerhalb des deutschen Charakters ausgemacht, in dem Bestes und Schlimmstes zusammen kämen und apodiktisch festgestellt, dass „es einen Zusammenhang gebe zwischen den Bestialitäten der Hitlerei und den faustischen Ausschweifungen deutscher klassischer Dichtung und deutscher idealistischer Philosophie“.90 Am Nationalsozialismus wurden schließlich die Ambivalenzen der Moderne selbst am deutschen Beispiel durchgespielt, das dann trotz aller nationalen Spezifik exemplarisch genommen wurde. „Deutsche Misere“, „Sonder weg“ und „historische Verspätung“ wurden zwar immer noch als katastrophische Verdichtung einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zur nationalen Explosivlage und als die entscheidenden Bedingungen und Gründe für die nationalgeschichtliche Plausibilität und den politischen Sieg des Nationalsozialismus genommen. Zugleich aber wurde in diesen Entwicklungen eine Krise der ( west )europäischen Moderne und des politischen Humanismus als seines Wertesystems diagnostiziert. In der deutsch - europäischen Verschränkung war den deutschen Entwicklungen nun eine rationalitätstheoretische und zivilisationskritische Dimension eingeschrieben. In der geschichtsphilosophischen Umkodierung deutscher Defizite, Ambivalenzen und Paradoxien zu einem „deutschen Son87 88 89 90

Ebd., S. 265. Vgl. ebd., S. 278. Vgl. Spengler, Untergang, Erster Band, S. 438 f. Klemperer, LTI, S. 157.

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derweg“ wurde der deutsche Anschluss an den entwickelten Stand der Moderne zum Versprechen einer möglichen Lösung ihrer Krise durch einen europäischen Neuanfang unter deutscher Führung. Thomas Manns These der nicht auseinanderdividierbaren Ambivalenz des Deutschen stellte Plessner nicht zufällig seiner Einführung von 1959 in die „Verspätete Nation“ voran.91 Auch ihm ging es darum, einen Zugang zum Ganzen deutscher Geschichte zu finden. Gegen eine mögliche Aufspaltung deutscher Geschichte in voneinander unabhängige progressive und reaktionäre Parallelgeschichten des Guten bzw. Bösen bestand auch Plessner auf ihrer Einheit. Risiken und Chancen, Misere und Aufbruch, Mythos und Vernunft könnten nicht unterschiedlichen Traditionen zugeordnet werden, sondern gehörten einer Geschichte an, in der sie als Spektrum von Tendenzen und Möglichkeiten deutscher Geschichte aufeinander reagierten. Thomas Manns Annahme, es gebe nur ein Deutschland, ergänzte Plessner durch das Bestehen darauf, nur die besten Ideen kämen zur Wirkung – einer Wirkung, die zum Bösen, aber auch zum Guten ausschlagen könne. Die tatsächliche Richtung der Wirkung von Ideen sei nicht von diesen Ideen selbst und allein abhängig, sondern von geschichtlichen Konstellationen und einer ebenfalls historisch bedingten Verknüpfung, Überlagerung und wechselseitigen Projektion von Geistes - und Realgeschichte. Dabei gelte es, die Vielfalt der dabei möglichen Projektionen in der pathetischen Überhöhung von unterstellten guten oder bösen Absichten zu Heilsversprechen und apokalyptischen Erwartungen ebenso zu untersuchen wie den glücklichen oder unglücklichen Ausgang anders intendierter Projekte. In Plessners Verknüpfung von Geistes - und Zeitgeschichte funktionierten die politischen und sozialen Bedingungen als Horizont, in dem sich die Ideen entfalten konnten oder durch den sie an ihrer Entfaltung gehindert wurden. Zugleich entschieden diese Ideen über die Legitimität der politischen und sozialen Entwicklungen, die aus einer anderen Perspektive den Horizont ihrer Entfaltung bildeten. Nur die besten Ideen, so Plessner, wurden in einer solchen symbiotischen Horizontverschmelzung wirksam. Dabei könnten nur jene Ideen, die sich als historisch wirkungsmächtig erwiesen, für sich beanspruchen, zu den besten zu gehören. Ob Ideen eine Chance hätten, historisch wirksam zu werden, werde durch ihren geistigen Gehalt bestimmt. Die Richtung ihrer Wirkung dagegen werde durch die geschichtlichen Konstellationen der jeweiligen politischen und sozialen Bedingungen entschieden. Diese seien verantwortlich für die konkrete Resonanzfähigkeit von Ideen, also dafür, in welcher Weise und Radikalität sie für politische und ideologische Zwecke mobilisiert werden könnten. Solche Konstellationen seien das Ergebnis ganz unterschiedlicher Einflüsse und in jedem Falle mehr als die unmittelbaren Gegebenheiten einer historischen Situation.92 91 Plessner, Nation, S. 11. 92 Vgl. ebd., S. 15.

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Entschieden nahm Plessner damit die Ideen selbst gegen ihre Wirkungsgeschichten in Schutz. Dabei unterstellte er eine wirkungsgeschichtlich nicht diskreditierbare Kernsubstanz von Ideen, die zwar gegenüber ihrer möglichen politischen Instrumentalisierung nicht resistent waren, von ihr aber auch nicht in ihrem geistigen Gehalt beschädigt würden. Aus seiner Sicht konnten auch gute Ideen unter bestimmten Bedingungen verhängnisvolle Wirkungen entfalten, ohne dadurch in ihrem auch für andere Wirkungen offenen Gehalt diskreditiert zu werden. In der Rekonstruktion ihrer Wirkungsgeschichten sei es möglich, auf diese Ideen zurückzukommen und sie in neue Konstellationen zu stellen. Nicht die Ideen seien verantwortlich für die Wirkungen, die sie entfalteten, sondern die Kontexte, die ihre Wirkung zum Guten oder Bösen ausschlagen ließen. Für die von ihnen in die Welt gesetzten Ideen und ihre Wirkungsgeschichten seien die Intellektuellen nur bedingt verantwortlich. Diese Behauptung einer Unschuld der Ideen gegenüber ihrer Wirkung und Verwendung entlastete sie zumindest partiell von der Verantwortung für das Schicksal der von ihnen in die Welt gesetzten Ideen. Ideen konnten vielfältige Wirkungsgeschichten haben. Ihr geistiger Gehalt stand zu diesen Wirkungsgeschichten, die nicht auf einen Nenner zu bringen waren, in keinem eindeutigen Ableitungszusammenhang. Gute Ideen zeichneten sich aus Plessners Sicht dadurch aus, dass sie im Unterschied zu schlechten Ideen historische Konstellationen auf authentische Weise zum Ausdruck brachten. An ihnen stellte er nicht eine moralische, sondern eine methodische Qualität heraus. Die Qualität von Ideen entscheide sich durch ihre Fähigkeit zu authentischem Ausdruck, nicht durch das von ihnen repräsentierte moralisch Gute oder Böse. Deshalb könne der Nationalsozialismus in der überzeugenden Verknüpfung deutscher Real - und Ideengeschichte durchaus für sich beanspruchen, in ihm erfülle sich das „Schicksal deutschen Geistes“, ohne dass dadurch die zur Plausibilisierung dieser Verknüpfung herangezogenen Ideen und Theorien durch ihre vermeintliche Nähe zum Nationalsozialismus diskreditiert würden. Diese konzeptionelle Absicherung der Ideen gegen ihre möglicherweise verhängnisvollen Wirkungsgeschichten hat Konsequenzen für die geistes - und kulturgeschichtliche Kontextualisierung des Nationalsozialismus. Wird nur den besten Ideen Wirkungsmächtigkeit zugeschrieben, wäre auch eine Geistesgeschichte des Nationalsozialismus darauf verpflichtet, solche guten Ideen in der nationalsozialistischen Weltanschauung wieder zu finden. Dem Nationalsozialismus wären damit ideelle Gehalte zugestanden, die seinen Verbrechen relativierend entgegengesetzt werden könnten. In seiner Einführung zur „Verspäteten Nation“ kam Plessner auf dieses Thema zurück : Im „Fremden, Rohen, Gewalttätigen der Aktion, die vorgab eine Revolution zu sein, um ihren verbrecherischen Charakter zu verdecken“, sah er nun eine Entartung dessen, was zum Besten des deutschen Geistes und seinen „lebendigen, zukunftsträchtigen Möglichkeiten“93 gehörte.

93 Ebd., S. 13.

Nationalsozialismus und deutsche Kultur

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Für Hannah Arendt war der Nazismus definitiv kein deutsches Problem. Das „Gerede vom ewig gleichen Deutschland und dessen ewigen Verbrechen“94 hatte aus ihrer Sicht lediglich den Effekt, Skepsis gegenüber den Naziverbrechen zu produzieren, die dann als Gräuelpropaganda abgetan werden konnten. Insbesondere das „Schreckgespenst vom Nationalcharakter Deutschlands“95 und seiner historischen Vergegenständlichung im Faschismus verschließe die Augen vor der europäischen Krise, die im Nazismus politisch zum Ausbruch gekommen war. Jeglicher Versuch, den Nazismus mit der deutschen Geschichte zu identifizieren, würde diesen unnötiger weise nationalgeschichtlich aufwerten. Eine nationale Tradition, auf die sich der Nazismus zu Recht berufen konnte, gab es für Hannah Arendt nicht. Weder ließ sich der Nationalsozialismus in der politischen Geschichte Deutschlands verankern, noch hatte er geistige Wurzeln in der deutschen oder europäischen Geistesgeschichte. So war es für sie „völlig abwegig, den Nazismus aus einer speziellen deutschen Charakteranlage oder aus der deutschen Tradition erklären zu wollen. Zum Nazismus gehört kein Teil der westlichen Tradition, sei er deutsch oder nicht, katholisch oder protestantisch, griechisch oder römisch. Weder Thomas von Aquin noch Machiavelli oder Kant oder Hegel oder Nietzsche [...] tragen die geringste Verantwortung für das, was in den deutschen Vernichtungslagern geschehen ist.“96 Als radikale Verneinung jeder Tradition scheint der Nazismus hier aus dem Nichts entsprungen, und in der Tat ist es für Hannah Arendt der „Mahlstrom des Vakuums“97, dem der Nazismus seine politische Existenz verdankt. Es sei die offene Anerkennung dieses Vakuums, des fast gleichzeitigen Zusammenbruchs der sozialen und politischen Strukturen Europas, und die Fähigkeit, das Volk in Übereinstimmung mit seinen Gesetzen zu organisieren, auf der die psychologische Anziehungskraft des Nazismus und sein politischer Erfolg beruhten.98 Im Nazismus sah sie die Transformierung der Ideologie des Nihilismus zum politischen Programm, das aus dem „Traum, die Leere schaffen zu können“99, die Vernichtung tatsächlich verfolgte. Gegründet auf der im multinationalen Fronterlebnis des Ersten Weltkrieges konzentrierten tatsächlichen Erfahrung der Zerstörung habe diese Politik die Fiktion eines „deutschen Nationalcharakters“ aufgegeben und durch die weit beunruhigendere Entstehung eines Menschentyps ersetzt, „den die Angst vor Vernichtung selbst in eine zerstörerische Macht verwandelt“100 hatte. Diese konzeptionelle Gründung des Nazismus in einer negativen Anthropologie des destruktiven Charakters schloss seine Isolierung zu einem spezifisch deutschen Phänomen aus. Dennoch sah auch Hannah Arendt eine mit „der spä94 95 96 97 98 99 100

Arendt, Das „deutsche Problem“, S. 10. Ebd. Ebd., S. 11 f. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 14 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14.

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ten Entwicklung der Deutschen als Nation“ zusammenhängende besondere Ansprechbarkeit Deutschlands zum „Bruch mit allen Traditionen“101 als Grund dafür, dass der Nazismus hier, und nicht in einer der anderen europäischen Nationen an die Macht gekommen war. Aber auch wenn es in Deutschland „leichter gewesen sein mag, europäische Traditionen [...] zu zerbrechen“, die hier aus Mangel an demokratischer Erfahrung noch gar nicht voll ausgebildet waren, so stand für sie doch gleichzeitig auch fest, dass diese Traditionen „zerbrochen werden mussten“.102 Wie Plessner so stellte auch sie einen Zusammenhang zwischen der Krise des europäischen Wertesystems und der aktivistisch nihilistischen politischen Lösung dieser Krise im Nazismus her. Auch aus ihrer Sicht hatte im Nationalsozialismus eine europäische Krisensymptomatik politisch Gestalt angenommen, die Europa die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als normative und politische Überlebensfrage aufzwang. Weder also war der Faschismus mit Deutschland identisch, noch würde diese Krise der europäischen Moderne mit der Zerschlagung Nazideutschlands beendet sein. Wer sich den politischen Risiken, Miseren und Mythen deutscher Geschichte nicht stelle, so Plessners Überzeugung, werde keinen Zugang zu den in ihnen gebundenen Energien nationaler geistiger Erneuerung Deutschlands finden. Nicht durch die Unterdrückung der besseren deutschen Traditionen sei der Nationalsozialismus zum Zuge gekommen, sondern dadurch, dass er sich der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Komplexität angenommen und sich ihrer bemächtigt habe. Seine geistige Überwindung konnte so nicht aus der Befreiung eines unterdrückten besseren Deutschland folgen, sondern musste sich mit jenen politischen, religiösen und sozialen Kräfte der deutschen Geschichte auseinandersetzen, aus deren Zusammenspiel der Nationalsozialismus hervorgegangen war. Eben diese Auseinandersetzung führte Plessner in seiner „Verspäteten Nation“.

5. Rasse und Geschichte : Zum biopolitischen Rassismus des Nationalsozialismus In der Anknüpfung an einen bereits etablierten Diskurs der rassenbiologischen und eugenischen Differenzierung von höher - und minderwertigem Leben hatte der Nationalsozialismus Rassenpolitik zur Staatspolitik gemacht. Die nationalsozialistische Ideologie konnte dabei an eine verbreitete ingenieurtechnische Mentalität anknüpfen, Entwicklungen nicht der Eigendynamik ihres Selbstlaufs zu überlassen, sondern wo möglich und als im Interesse der Volksgemeinschaft kulturell durchsetzbar, in bevölkerungspolitische Entwicklungen einzugreifen, sie entweder zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Sie forderte die als Angehörige einer höherwertigen Rasse ausgezeichneten Deutschen dazu auf, sich in der Behandlung ihnen als minder wertig bezeichneter Rassen und Menschen 101 Ebd. 102 Ebd.

Rasse und Geschichte

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vom Diktat von Moral und Religion, von Mitmenschlichkeit und Empathie frei zu machen und ohne moralische Ressentiments ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil zu verfolgen. Dabei erleichterte die Entwertung religiös gegründeter moralischer Gesetzgebung die Ausbildung der ideologisch eingeforderten selektiven Entmenschlichung und moralischen Indifferenz. In seiner Antrittsvorlesung vom 30. Januar 1936 an der Universität Groningen sprach Plessner über die „Aufgabe der philosophischen Anthropologie und ihre Bedeutung für die Gegenwart“. In der philosophischen Anthropologie, so sein Ausgangspunkt, sei im Wissen um die Gefährdung und den Wagnischarakter des Begriffes der Mensch als Mensch angesprochen.103 Auch die zweifellos vorhandenen „Gegensätze zwischen den Auffassungen der Religionen, Kulturen und Völker in puncto Mensch“104 würden nicht gegen einen solchen Allgemeinbegriff des Menschen sprechen. Die Gewagtheit und Rückhaltlosigkeit des Menschengedankens werde durch die politische und ideologische Bekämpfung der „Humanitas“ noch unterstrichen. Der moderne irrationalistische Nationalismus schrecke nicht davor zurück, „den Wert des eigenen Volkes zur ausschließlichen Maxime seines Handelns“ zu machen, „ihm die Idee der Menschheit nachzuordnen“ und „für biologisch gehaltene Rassenqualitäten und ihre Züchtung als Voraussetzung, ja als Sinn menschlicher Existenz anzusprechen“.105 Mit der ideologischen Reduzierung des Menschen auf sein unmenschliches triebhaft - tierisches Wesen sah Plessner die Ideen von Humanität und menschlicher Verantwortlichkeit selbst bedroht. Dringender denn je stand für ihn die Frage, bis zu welcher Grenze der Mensch sich als Mensch in Frage stellen konnte, ohne dadurch sein Menschsein aufzugeben. Ohne sich direkt auf das nationalsozialistische Deutschland und seine Rassenpolitik zu beziehen, machte Plessner dennoch unmissverständlich klar, welche praktische Gefahr dem Humanismus und der Menschheit drohte. Es gelte, „der ständig rücksichtsloser werdenden Anmaßung der Politiker, Ökonomen, Ärzte, in Sachen Sterilisation. Eugenik, Rassenpolitik, Menschenzüchtung, d. h. dem Können des Menschen, sein Schicksal zu spielen, eine Schranke zu setzen“.106 In Deutschland habe die weltliche Substituierung des heilsgeschichtlichen Bewusstseins als Verfall gegolten, dem sich die Historie durch ihren Bezug zur biologischen Entwicklungsgeschichte entzogen hatte. Als Antwort auf diesen Verfall suchte deutsche Geschichtsschreibung ihre eschatologische Erwartung an einen „Rest von Sinn“ im Rekurs auf „Triebe und Triebveränderungen, Vererbung und Rasse“107 neu zu organisieren. Nach der Diskreditierung eines emphatischen Freiheitsversprechens suchte sie nun im Anschluss an naturgesetzliche Erklärungen einen „Halt am Sein diesseits von Gut und Böse“108 zu 103 104 105 106 107 108

Vgl. Plessner, Aufgabe, S. 36 f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 42. Ebd., S. 50 f. Plessner, Nation, S. 131. Ebd.

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finden. Dieser Rückgang auf die Naturgeschichte wurde als Befreiung von Einschränkungen eines ausschließlich am eigenen Interesse orientierten Handelns gerechtfertigt. Geschichte diesseits von gut und böse, und doch befreit von den Unwägbarkeiten moralischer Entscheidungen zwischen gut und böse, hatte sich von den kulturellen Codes moralischer Verpflichtungen frei gemacht und stattdessen den naturgesetzlichen Plausibilitätskriterien rassischer Reinheitsgebote und biologischer Vervollkommnung überantwortet. Plessner verwies auf spezifische Korrespondenzen zwischen geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklungen, die in Deutschland die politische Ideenbildung auf eigenartige Weise geprägt hätten. Während in den westeuropäischen Staaten und den USA der Vernunft - und Menschheitsglaube der Frühaufklärung und ein christliches Ethos als Gegentendenz eines biologischen Naturalismus gewirkt hätten, so dass hier „die Übersetzung biologischer Theorien über Rasse und Rassenmischung, Vererbung und den Zusammenhang körperlicher Eigenschaften mit seelisch - geistiger Veranlagung in praktische Politik“109 verhindert wurde, hätten solche geistigen Hemmungen in Deutschland nicht bestanden, weshalb hier die politische Ideenbildung ungeschützt der Biologie, dem Darwinismus und der Rassentheorie ausgesetzt gewesen sei. Das Zusammenspiel naturwissenschaftlicher Vulgarismen in der Romantik und ökonomischer Zielsetzungen im Massenstaat habe ideengeschichtliche Verzögerungseffekte und Vermittlungen politischer Ideenbildung hier nicht wirksam werden lassen. In seiner Auseinandersetzung mit dem biopolitischen Rassismus des Nationalsozialismus vermied Plessner jede ideologiekritische Polemik. Stattdessen fragte er nach den geistespolitischen Gründen der kulturellen Plausibilität einer dezidiert biologischen Bestimmung von Menschsein, wobei er sich vor allem für die kulturellen Kontexte der Ersetzung universeller Konzepte durch das Konzept der Rasse interessierte. Seine kritische Auseinandersetzung mit biologischen und kulturellen Rassismen stellte die Reduktion universeller Vernunft durch den selektiven Partikularismus des mit universellem Geltungsanspruch antretenden Konzepts der Rasse in den Mittelpunkt. Die ideologiekritische Verdächtigung von Vernunftphilosophie und Humanismus, so seine These, hatte die rassische Diskriminierung menschlicher Gattungsvernunft vorbereitet. Nach der kulturellen Entwertung der Philosophie und der durch sie repräsentierten gattungsgeschichtlichen Universalien der Vernunft sei dadurch die Verantwortung für die systematische Ordnung des historischen Materials der Ökonomie und Biologie zugefallen. Dem, so Plessner, korrespondierte eine veränderte Sicht darauf, was Menschsein im Wesentlichen ausmacht. Dabei habe die Ersetzung universeller Werte durch reine Tatsachenerkenntnis den Boden für die systematische Entwertung der Menschen als möglicher Subjekte eigenverantwortlicher Lebensführung bereitet. Nach dieser Entwertung wurde ihnen eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit widerständigen Verhältnissen und menschlicher Gestaltungsabsicht entgegen gesetzten Umständen nicht mehr zugetraut. 109 Ebd., S. 132.

Rasse und Geschichte

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In der Umkodierung historischer „Perspektivenbildung und Bewertung“110 wurde der Wert des Menschen jetzt an seiner Funktion für die Reproduktion ökonomischer oder biologischer Kreisläufe bemessen. In ihrer Eigenschaft als kulturell führende anthropologische Leitdisziplinen definierten Ökonomie und Biologie Menschsein am Maßstab seiner Funktionalität für die Sicherung ihrer reproduktiven Kreisläufe. Die Annahme einer die Grenzen und Endlichkeit des eigenen Lebens übersteigenden Vernunftordnung universeller Prinzipien wurde zum Relikt einer historisch überlebten, in ihren späten Verfallsformen zum Untergang verurteilten bürgerlichen Ordnung erklärt. Die Wirkungsmächtigkeit des Rassendiskurses lag darin, eine plausible Lösung der angenommenen Diskrepanz zwischen naturgeschichtlicher Bestimmung und dem kraftlosen Impuls historischer Selbstbestimmung in Aussicht zu stellen. Diese Suche nach einem dritten Weg wurde im nationalsozialistischen Diskurs als „anthropologische Wende in der Philosophie“111 diskutiert. Friedrich Seifert, Autor des im Folgenden referierten Textes, benannte dabei Jaspers, Heidegger, Scheler, Klages und Freud als Kronzeugen einer solchen Wende. Plessner, den aus rassischen Gründen aus Deutschland vertriebenen Protagonisten philosophischer Anthropologie, erwähnte er nicht.112 Gegen die „übersteigerte Rationalität und Intellektualität“, die zur „Missachtung und Vernachlässigung [...] des Triebhaft - Vitalen“113 geführt habe, plädierte Seifert in seiner Bestimmung der anthropologischen Wende für die grenzenlose Bejahung des Blutes und des Triebes und des im Natursinn Ursprünglichen, um der „Doppelstellung des Menschen zwischen biologischem Bestimmtsein und geistiger Spontaneität, zwischen Triebbedingtheit und [...] freiem Eigensinn“ als dem „ewigen abendländischen Kernproblem der Mitte, des Strebens nach dem ‚dritten Standort‘ [...] als Quintessenz der deutschen Sendung“114 gerecht zu werden. Auf eine solche, durch die nationalsozialistische Rassenbiologie verfolgte, anthropologische Gründung einer deutschen weltgeschichtlichen Mission zielte Plessners Diagnose des Nationalsozialismus als einer Biopolitik der Rasse. Im Rückgang auf „die naturhaft - vitale Grundschicht des Menschen“ und seine völkische Existenzform habe der Nationalsozialismus versucht, das Volk als „bluthaft - erdgebundene Einheit“115 im volksbiologischen Aufbruch zu mobilisieren.

110 Ebd., S. 113. 111 Seifert, Verständnis. 112 Allerdings war auch Plessner, wenngleich nur ausnahmsweise, im nationalsozialistischen Diskurs präsent. So wurde etwa in der „Zeitschrift für Rassenkunde“ noch 1936 in einem Text, der eine „rassenkundliche Geistesgeschichte auf biologischer Grundlage“ zu entwickeln versprach, die eine „kopernikanische Wendung der Geistesgeschichte“ einleiten werde, Plessner referiert, zitiert und namentlich erwähnt. Mandel, Geistesgeschichte, S. 267. 113 Seifert, Verständnis, S. 402. 114 Ebd., S. 410. 115 Plessner, Nation, S. 167.

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Die Abkopplung Deutschlands von den Trend setzenden westlich - europäischen Entwicklungen hatten deutsche Philosophen und Literaten mit ins Universelle ausgreifenden geschichtsphilosophischen Phantasien beantwortet. An diese Welterlösungsphantasien konnten die Ideologen der völkischen Revolution anknüpfen. Im Zusammenhang einer politischen Bewegung, die bereit war, aufs Ganze zu gehen, zielten sie in aggressiver weltanschaulich - politischer Rhetorik auf einen globalen gesellschaftlichen Umbruch im Horizont eines neuen Menschen bzw. einer neuen Rasse. So heißt es in einer nationalsozialistischen Publikation von 1939 : „Was der Mensch bestenfalls erreichen kann, ist, seinem Schicksal gewachsen zu sein. [...] Menschen [...] wirken sinnvoll nur dann, wenn sie pathisch getrieben, Exponenten des naturhaft notwendigen Werdens sind. Dann aber verwirklichen sie viel weniger eine intellektuelle Einsicht, [...] als vielmehr das dämonisch unbewusste Urgesetz eines Volkes, einer Rasse.“116 Indem sie eine unverbrauchte, ursprüngliche, bewusstlose Natur für sich reklamierte, trug die nationalsozialistische Ideologie die Auseinandersetzung um die politische Zukunft Deutschlands auf das Feld der menschlichen Natur, auf das Terrain des Lebendigen. In einer Blut - und - Boden - Metaphorik fand dabei die Suche nach vorgeschichtlichen Ursprüngen deutscher Existenz einen Ort, von dem die Erneuerung der lebendigen Kräfte nationaler Identität und Größe ausgehen sollte. Die zivilisationskritische Skepsis allen religiösen, geschichtlichen und geistigen Autoritäten, aber auch der Positivität des Faktischen gegenüber, reichte an diesen Ursprungsmythos nicht heran. Gelang es einem Staat, sich selbst auf der Linie dieses Mythos zu verorten und sich damit dem Sog des allgemeinen Autoritäts - und Traditionsverfalls zu entziehen, so war ihm „ein neues Fundament für sein Gehorsamsverlangen“117 sicher. Ein naturhaftes Sinnstiftungspotential führte dem Staat dann politische Bindungskräfte zu, die ihm selbst gleichsam natur wüchsige Autorität verliehen. Nicht länger auf die Vermittlung durch geschichtliche und kulturelle Traditionen angewiesen, trat ein sich fortschreibender Gründungsmythos an deren Stelle. Als Konsequenz eines ethnologisch angelegten universellen Ideologieverdachts wurde in einem rassischen Biologismus das Bewusstsein „zur bloßen Begleiterscheinung einer vitalen Unterschicht menschlichen Seins. [...] Der Unterbau fällt dementsprechend [...] in eine für Kategorien nicht erreichbare Grenzschicht der Natur.“118 Hier wird das Bewusstsein auf ein Sein reduziert, dem es ideologisch zum kulturellen Ausdruck verhelfen soll. Ausgangspunkt dieses Konzeptes von Ideologie ist das um das Bewusstsein gebrachte, reduzierte, verkürzte Sein, während sie für Plessner die konstitutive Fähigkeit des Menschen zum symbolischen Ausdruck beschrieb. Ein biologischer, „unterhalb der geschichtlichen Dimension in Blut und Erde“ liegender Unterbau wurde in der nationalsozialistischen Rassenideologie für die 116 Dettelbach, Genialisierung, S. 33. 117 Plessner, Nation, S. 133. 118 Ebd., S. 156 f.

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„besondere Gestaltung des Überbaus verantwortlich gemacht“.119 Mit der „Erneuerung der Rasse zum Ansatzpunkt einer antirationalen, antihumanitären, antichristlichen Wendung des Menschen“, mit dem „Glauben an die Macht des Blutes als der eigentlichen Wurzel und Bestimmung des Menschen“120, übernahm der Glaube an die schöpferische Gestaltungsmacht und die Verwurzelung des Volkes in der naturhaften Tiefenschicht der Rasse die quasireligiöse Funktion einer wissenschaftlichen Weltanschauung.

119 Ebd., S. 157 f. 120 Ebd., S. 208 f.

VIII. Plessners politische Philosophie – Anregungen und Kontroversen 1. Perspektiven einer Kritik des Totalitarismus Totalitäre Systeme haben in ihrer radikalen Kritik von Bürgerlichkeit die unbedingte Humanität universeller Wertesysteme durch selektive Mechanismen kultureller Zuschreibung aufgebrochen. Was sie den einen kraft ihrer Zugehörigkeit zu einer – als revolutionär, progressiv oder rassisch hochwertig ausgezeichneten – Gruppe exklusiv zuschrieben, wurde Angehörigen als konterrevolutionär, reaktionär oder rassisch minder wertig diskriminierter Gruppen ebenso ausdrücklich abgesprochen. Eine aufgeklärte Avantgarde des Fortschritts beanspruchte, auch gegen den Willen uneinsichtiger, zurückgebliebener, in ihrem Vermögen zur Einsicht in komplexe Zusammenhänge eingeschränkter Menschen in geschichtliche Prozesse zu intervenieren. Sie wollte diese Prozesse beschleunigen, ihre Entwicklungsrichtung umkehren oder Fehlentwicklungen abbrechen. Ihr Anspruch, exemplarisch die Verantwortung für die Entwicklung der Geschichte in Richtung einer Durchsetzung von Vernunft und Fortschritt zu übernehmen, konnte sich dabei zur Verabsolutierung eines für objektiv erklärten Weltlaufs steigern. Die Konstruktion eines außeralltäglichen Sinns menschlichen Lebens funktioniert in einem alltäglichen Erfahrungszusammenhang : Auf sinnlich anschauliche Weise soll erlebt und wahrgenommen werden, dass und wie der Alltag selbst eine außeralltägliche, historische oder revolutionäre Bedeutung annimmt. Ideologie steht unter dem Zwang nachzuweisen, dass sie eine Welt nach ihrem Bilde zu formen vermag. Menschen, die in dieser Welt leben, sollen in ihr tatsächlich das sehen können, was ihnen ideologisch zu sehen nahe gelegt wird. Geben sich die Dinge, Menschen und Prozesse nicht von sich aus in ihrer ideologischen Bedeutung zu erkennen, so werden sie durch lebensgeschichtlich plausible Bilder und Bedeutungszuschreibungen entsprechend kenntlich gemacht. Der Rigorismus der Vernunft ruft im Bestehen auf der Realisierung seiner Prinzipien den politischen Radikalismus auf den Plan. Die Utopie einer möglichen Umsetzung universeller Prinzipien in gesellschaftliche Realität kann Menschen, denen mit dieser Utopie vorgeblich zu ihrem Glück verholfen werden soll, als diejenigen erscheinen lassen, die ihrem eigenen Glück im Wege stehen. Sie mögen dem Alten, der Vergangenheit, dem historisch Überlebten verhaftet sein, oder aber sie wurden als zu schwach eingeschätzt, um ihren Egoismus, ihre Gier nach Besitz oder ihre Triebe unter Kontrolle zu bringen. Als „politischen Gegnern“, „kleinbürgerlichen Elementen“ und „rassisch minderwertigen Untermenschen“ wurde ihnen bedeutet, dass sie nicht damit rechnen konnten, das Experiment der Schaffung des neuen Menschen und der neuen Gesellschaft zu überleben.

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Vom „Virus des Zweifels“ befallen, durch „religiösen Eifer“, „sexuelle Perversionen“ oder „rassische Verantwortungslosigkeit“ diskreditiert, wird ihnen unter Umständen eine letzte Chance zur Besserung, Umkehr und Bewährung geboten – oder eben auch nicht. Verweigern sie sich der Radikalität des revolutionären Ausnahmezustandes, der auch ihr alltägliches Leben verändern soll, durch Gleichgültigkeit oder Unverständnis, so wird zunächst nachdrücklich an ihren gesunden Menschenverstand appelliert, nicht leichtfertig mögliche Vorteile in einer Zeit des Umbruchs zu verspielen, dessen Ausmaß ihnen möglicherweise nicht bewusst sei, der aber dennoch auch ihr Leben von Grund auf verändern werde. Im Zweifelsfall müssten sie auch gegen ihren Willen zu ihrem Glück gezwungen werden, bevor es sie verlasse und sie sich auf der Seite der „Unbelehrbaren“, der „Konterrevolutionäre“ oder „gemeinschaftsfeindlichen Schädlinge“ wieder fänden, mit denen unbarmherzig verfahren werden müsse, um den Sieg der Revolution nicht zu gefährden. Die Durchsetzung dieser Prinzipien zielt auf ihre Gleichschaltung zu verlässlich mobilisierbaren Angehörigen einer revolutionären Kampfgemeinschaft. Die Übersetzung utopischer Visionen in die politische Programmatik radikaler Revolutionen glaubt, ohne den Umweg über politische Vermittlungen auszukommen. Solche Versuche, eine Gesellschaft auf absoluten Werten zu gründen, endeten immer wieder im Albtraum der Selbstermächtigung einer revolutionären Avantgarde zur rücksichtslosen Verwirklichung ihrer Vision einer vollkommenen, von allen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten befreiten Gesellschaft. Die Führer einer solchen Gesellschaft galten als unfehlbar. Als Verkörperung absoluter Wahrheiten waren sie unantastbar und beanspruchten einen gottähnlichen Status. Mit ihnen war die Bewegung alles, ohne sie nichts. Der grenzenlosen Aufwertung ihres Lebens durch ihre ideologische Heiligsprechung schon zu Lebzeiten stand die Abwertung des Lebens aller Anderen gegenüber. Bei der politischen Verwirklichung ihrer absoluten Ideologie hatten sie uneingeschränkte Handlungsfreiheit. Rücksichten auf moralische oder religiöse Ressentiments gegenüber der von ihnen verfolgten Politik nahmen sie nicht mehr. Die Verkennung totalitärer Ideologie als rhetorische Übertreibung gab ihren Protagonisten den notwendigen politischen Spielraum zum Handeln. Solange ihre martialische Rede von biologischer Ausmerze und sozialer Vernichtung nicht ernst genommen wurde, hatten sie freie Hand zum Handeln. Ihre diffuse Vision von Endlösungen und historisch beispiellosen Umbrüchen, deren Radikalität alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen werde, und deren epochale Bedeutung erst künftige Generationen ermessen könnten, wurden dann als verbale Selbstermutigung eines emphatischen Aktionismus in unsicheren und turbulenten Zeiten wahrgenommen – als zeitweilige Übertreibungen und Entgleisungen einer Übergangszeit, die sich schnell wieder normalisieren werde. Die Entwertung der Religion als Begründungsinstanz moralischen Handelns, die auch die universellen Werte spekulativer Vernunft erreichte, konditionierte Menschen zur Bereitschaft, einen gottgleichen Führer in der Verantwortung für ihr Handeln zu sehen. Diese Inthronisierung eines Führers mit göttlichen Attri-

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buten ließ die Annahme eines Gottes über oder neben diesem Führer auf Dauer nicht zu. Auch der ideologische Monotheismus duldete keinen anderen Gott neben sich. In einer Gesellschaft, deren totalitäre Gleichschaltung keinen Raum für individuelle Entscheidungen ließ, war es umso wichtiger, Menschen das Gefühl zu geben, das Richtige zu tun. Für das, was ihnen äußerlich abverlangt wurde, sollten sie sich aus innerer Überzeugung entscheiden. Die gläubige Hingabe an die Sache, der sie sich verpflichtet hatten – der Glaube an die Unverbrüchlichkeit von Recht und Gesetz, die Unfehlbarkeit ihres Führers oder die fest gefügte Ordnung von Hierarchien der Verantwortung ersetzte für sie die reflexive Distanz zu ihrem Tun. Dieser säkularisierte Glaube an Vorsehung und Schicksal, an den Führer und die Deutschen oder auch an die Berge versetzende Kraft des Glaubens schlechthin, vermochte ähnliche Energien freizusetzen, wie der Glaube an Gott. Der in seiner konkreten Ausführung offen gelassene Wille des Führers mobilisierte die Eigeninitiative seiner Anhänger in der politischen Konkurrenz um die Erfüllung seiner Erwartungen. Die politische Etablierung autoritärer Regime und die Institutionalisierung totalitärer Ideologien wurden durch die Reduktion menschlichen Lebens auf seinen ideologischen Materialwert und die Diskreditierung des Humanismus im öffentlichen Bewusstsein vorbereitet. Der Bezug auf metaphysische, geschichtliche oder natürliche Autoritäten zur Begründung universeller Werte, die ohne diskriminierende selektive Kriterien der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses aus ihrem Geltungsbereich an ausnahmslos alle Menschen adressiert waren, war ideologiekritisch nachhaltig erschüttert. Ihren Anspruch auf uneingeschränkte Autorität leiteten die neuen politischen Führer totalitärer Bewegungen aus dem von ihnen selbst radikal vollzogenen Bruch mit den Traditionen bürgerlicher Vernunft ab. Stattdessen beriefen sie sich auf Rassen - oder Klasseninstinkte, aus denen die revolutionäre Bewegung ihre politische Energie beziehen werde. Die Schwächung des universellen Geltungsanspruchs gattungsgeschichtlicher Vernunft verschaffte den selektiven Universalismen von Rassen - und Klassenpolitik einen Spielraum, den sie zur politischen Durchsetzung ihrer Ideen zu nutzen wussten. In der Auseinandersetzung mit der internationalistischen Klassenkampfrhetorik der Kommunisten hatte der völkische Rassismus der Nationalsozialisten den entscheidenden Vorteil, sich als deutsche Bewegung profilieren zu können. Die Nationalsozialisten verstanden es am besten, die Schwäche des politischen Humanismus für ihre Zwecke auszunutzen. Insbesondere Hitler war sich sicher, dass die Westmächte Deutschland nicht ein zweites Mal verweigern würden, was sie ihnen 1918 aus Gründen der Stabilität Europas abgesprochen hatten : Das Recht auf nationale Selbstbestimmung in den Grenzen des deutschen Sprachraums. Die europäische Nachkriegsordnung war durch eine nationale Links - RechtsPolarisierung gekennzeichnet. In den politischen und ideologischen Kämpfen um ihre Gestaltung ging es insbesondere in Deutschland und Sowjetrussland nach dem Ersten Weltkrieg um mehr als das Aufbegehren gegen den Ausgang

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des Krieges oder den Kampf um politische Macht. Behauptet wurde in ihnen eine weltgeschichtliche Zäsur, die den neuen Menschen und eine seiner Vision endgültiger Lösungen menschheitlicher Probleme und Konflikte angemessene gesellschaftliche Ordnung herstellen sollte. In der Gegenstellung von Bolschewismus und Nationalsozialismus setzten sich die politischen Verwerfungen der Nachkriegszeit als Kampf um die politische Zukunft Europas fort. Gemeinsam war beiden Bewegungen die radikale Ablehnung der aus ihrer Sicht in ihren normativen Grundsätzen und politischen Konfigurationen überlebten bürgerlichen Ordnung. Als in ihren ideologischen Grundlagen konträre politische Bewegungen sagten sie der bürgerlichen Gesellschaft in je gegenläufiger Zielrichtung den Kampf an. Bei aller gegenläufigen Rhetorik von internationalistisch - proletarischer und national - völkischer Bewegung hatten beide doch einen gemeinsamen Gegner: den Kapitalismus, die bürgerliche Gesellschaft, die westliche Welt.1 Kommunisten und Nationalsozialisten nahmen sich wechselseitig nicht nur als Gegner, sondern zugleich als Konkurrenten im Kampf gegen die kapitalistische bzw. bürgerliche Gesellschaft wahr. In dieser Situation extrem gefährdeter Bürgerlichkeit – eines ideologischen, politischen und militärischen Zweifrontenkrieges von Bolschewismus und Nationalsozialismus gegen die bürgerliche Gesellschaft – war deren mögliches Ende nicht mehr auszuschließen. Die ideologisch komplementäre antibürgerliche Vernichtungsdrohung jedenfalls war ernst gemeint und auch ernst zu nehmen. Ernst Nolte hat die Zeit zwischen 1917 und 1989 als ideologisch gegründeten Weltbürgerkrieg bezeichnet : „Die millionenfache Massenvernichtung [...] ist nicht aus dem deutschen Nationalismus und auch nicht aus dem ordinären Antisemitismus herzuleiten, sondern einzig und allein aus dem Willen, gegenüber dem Hauptfeind an Radikalität nicht zurückzubleiben und die Welt nicht mehr bloß durch ‚soziale Vernichtung‘, sondern durch ‚biologische Vernichtung‘ von einem angeblichen Verhängnis zu befreien.“2 Diese Ersetzung kultureller und ideologischer Bestimmungsgrößen der nationalsozialistischen Shoah durch eine imaginäre Spirale der Radikalisierung akzeptierte die Irrationalität des historischen Vorgangs, der sich schlüssiger Erklärung durch den Bezug auf relevante soziokulturelle und politische Kontexte und Konflikte entziehe. In der Konkurrenz um ein zur bürgerlichen Gesellschaft konträres Konzept ging es sowohl in der national- sozialistischen als auch der internationalistischsozialistischen Bewegung der Bolschewiki darum, die Massen ideologisch zum Vernichtungskrieg gegen den objektiven Gegner dieses rassenbiologischen oder klassentheoretischen Sozialismus zu mobilisieren. Nationalsozialismus und Stalinismus wurden in dieser Perspektive als absolute Gegensätze behauptet, die sich dabei zugleich als Feinde auf demselben Felde gegenüber stünden. Beide kämpften in einem ideologischen Zweifrontenkrieg sowohl gegeneinander als auch gegen die bürgerliche Gesellschaft, der sie mit ihrer Vernichtung drohten. 1 2

Aus nationalsozialistischer Sicht vgl. Hancke, Aufstand. Zu einer ausgewogenen Einschätzung des „Krieges gegen den Westen“ aus linker Sicht vgl. Kolnai, War. Nolte, Weltbürgerkrieg, S. 126. Vgl. dazu auch Nolte, Bürgerkrieg.

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Ihr ideologisch konträrer Versuch, eine absolute Ideologie politisch zu verwirklichen, wurde durch den essentiellen Terror zur Reinigung der bestehenden Gesellschaften vorbereitet. In der Geschichte des bürgerlichen Zeitalters standen die Proletarier als die sozial Unterprivilegierten und Entrechteten auf der Verliererseite der Geschichte. In der Perspektive einer an nationalstaatlichen Entwicklungen und weltpolitischen Kräfteverhältnissen orientierten Sicht konnten sich die Deutschen in ihrer Geschichte der unfreiwilligen Abkopplung von industriegesellschaftlicher Moderne und Nationalstaatsgründung als völkische Proletarier Europas sehen. Messianische Phantasien rückten solche dezidiert antibürgerlichen Strömungen in die Perspektive eines bevorstehenden weltrevolutionären Umbruchs. Der absolute Geltungsanspruch selektiver, ideologisch begründeter Moral entfaltet seine Wirkungsmacht durch eine Kombination aus technokratischen und totalitären Praktiken. „Die Moral wird herrschen, aber sie erweist sich in der Praxis als Terror für alle, die sich ihr nicht fügen und unterwerfen.“3 Oder in zeitgenössischer Diktion : Das deutsche Volk lebe auf die Zukunft hin. Für die Deutschen der Gegenwart bedeute die „Freiheit zur Geschichte“ die grundsätzliche „Überordnung der Vernunft des Kommenden über [...] moralische Gedankengänge“.4 Mit Nationalsozialismus und Bolschewismus sind ideologisch konträre, strukturell jedoch spiegelbildlich aufeinander bezogene Versuche der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft gescheitert. In beiden Fällen wurden Menschen als Material eines gesellschaftlichen Großexperiments begriffen und zu Marionetten weltgeschichtlicher Teleologien instrumentalisiert. In einer Kombination von demagogischer Mobilisierung und terroristischer Gewalt wurde das Projekt der Züchtung bzw. Erziehung eines neuen Menschen bei gleichzeitiger Vernichtung als minder wertig oder reaktionär stigmatisierter Menschen verfolgt. Die Behauptung einer teleologisch abgesicherten Ver vollkommnung, Perfektionierung und Höherentwicklung der Geschichte ließ es nicht geraten erscheinen, sich diesem weltgeschichtlichen Umbruch entgegenzustellen. Zum Modell dieser sozialplanerischen Rationalität wurde das abgestimmte Zusammenwirken von Funktionsteilen eines hierarchisch gegliederten Organismus. Ohne das Ganze waren die Teile nichts. Umgekehrt hatten die Individuen nachzuweisen, dass sie für das Funktionieren dieses übergeordneten Ganzen von Nutzen waren. Das Individuum wurde nicht mehr als „frei in sich selbst beruhendes Lebwesen“5 gesehen, sondern als Teil des Volkskörpers. Mit Hilfe geschichtsphilosophischer Teleologien wurden letzte Zwecke und geschichtliche Endzeiten bzw. - lösungen simuliert. In dieser Hinsicht waren kommunistische Endzeitvisionen und nationalsozialistische Endlösungspraktiken gleich. In einem kulturellen Feld von Deutungen und Interpretationen wurden Wahrnehmungsmuster bereitgestellt, die sich unter dafür günstigen gesellschaft3 4 5

Koselleck, Traum, S. 101. Knittermeyer, Gesetz, S. 234. Kolbenheyer, Geistesleben. S. 4 f.

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lichen Umständen zur Wahnvorstellung einer wissenschaftlich begründeten welthistorischen Mission radikalisierten. Zur mentalen Einstimmung auf eine solche Mission gehörte die Simulation von Widerständen, die der Höhe der anvisierten Aufgabe wenigstens näherungsweise entsprachen. Der dabei ausgemachte Gegner war Teil der geschichtsphilosophischen Konstruktion, die den teleologischen Gang der Entwicklung verbürgen sollte. Szenarien von Klassen- bzw. Rassenkampf hielten eine Dynamik permanenter Mobilisierung der Gesellschaft in Gang. Der Humanismus der bürgerlichen Gesellschaft will seine Verantwortung für die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts häufig nicht wahrhaben. Stattdessen hält er Bolschewismus und Nazismus als pathologische Abweichungen von der Normalität der bürgerlichen Gesellschaft auf Distanz. Die rationale Planung, technische Durchführung und ideologische Begründung der Massenvernichtung der Juden und der bolschewistische Klassenkrieg gegen bürgerliche Elemente der proletarischen Gesellschaft haben in dieser Perspektive die normativen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nicht wirklich zu erschüttern vermocht. Dem gegenüber legte Zygmunt Bauman mit Rubenstein6 und anderen nahe, dass „innerhalb der Weberschen Begriff lichkeit von moderner Bürokratie, rationalem Geist, wissenschaftlicher Mentalität, Auslagerung von Werten in den Bereich der Subjektivität [...] kein einziger Mechanismus isoliert“ werden könne, „der nicht auch die Möglichkeit von Nazigreueln in sich trüge“.7 Der Holocaust konnte sich aus dieser Sicht „nicht nur auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft, sondern auch auf die organisatorische Effizienz ihrer Bürokratie“8 berufen. Zur Unterstützung seiner These führt Bauman die folgende, mit Weberschen Kategorien operierende Argumentation an : „Aus der Beamtenschaft gewann das hierarchische System das Organisationstalent und die bürokratische Gründlichkeit. Vom Militär übernahm die Vernichtungsmaschinerie Präzision, Disziplin und die Affektlosigkeit. Der Einfluss der Industrie machte sich in der Betonung von genauer Buchführung, Wirtschaftlichkeit und optimaler Verwertung sowie in der industriellen Effizienz der Todeslager bemerkbar. Die Partei schließlich durchtränkte den gesamten Apparat mit Idealismus, Sendungsbewusstsein und einem Gefühl historischer Bedeutung.“9 Der antitotalitäre Konsens, mit dem nach dem Ende der Konfrontation politisch und ökonomisch gegensätzlicher Machtblöcke auch das Ende des ideologischen Zeitalters und des um Ideologien angeordneten Weltbürgerkrieges bekräftigt wurde, war nicht zuletzt ein Bekenntnis zu den durch totalitäre Ideologien gefährdeten Werten bürgerlicher Vernunft und Humanität. Dieser antiideologische Konsens blendete zumeist aus, dass diese Ideologien und ihre totalitären Vernichtungspolitiken selbst auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft 6 7 8 9

Rubenstein, Cunning. Bauman, Dialektik, S. 24. Ebd., S. 27. Kuper, Genocide, S. 121, zit. in ebd.

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gewachsen waren. Behauptet wird nicht, dass die bürgerliche Gesellschaft selbst totalitär wäre, es sich also bei ihrem auf Pluralität und Toleranz, Freiheit und Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit basierten Wertesystem nur um die ideologische Verschleierung ihrer tatsächlichen Inhumanität handeln würde, wie von einer antikapitalistischen Fundamentalkritik unterstellt. Die Diskussion des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und totalitärer Politik zielt vielmehr auf ein Verständnis des Totalitarismus, das ihn auf Voraussetzungen und Entwicklungen bezieht, in denen sich die Herausbildung totalitärer Ideologien, Bewegungen und politischer Systeme vorbereitet hat. Damit soll zunächst die Verlegenheit vermieden werden, den Totalitarismus als das ganz Andere der bürgerlichen Gesellschaft zu konzipieren und damit seine Erklärung aus spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Konstellationen faktisch aufzugeben. In einem weiteren Schritt wäre dann konkreter nach jenen defizitären, in sich widersprüchlichen und konfliktträchtigen Konstellationen der bürgerlichen Gesellschaft zu fragen, in denen sich eine totalitäre Gegenbewegung als vermeintlich plausible Antwort auf als provozierend wahrgenommene Diskrepanzen zwischen geistig - weltanschaulichem Selbstverständnis und politischer Realität der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hatte. Mit der Säkularisierung verschoben sich auch die weltlichen Frontlinien, entlang derer die Auseinandersetzung darum ging, was den Konfliktparteien in unterschiedlicher Weise „heilig“ war. Wie in den Religionskriegen der Frühen Neuzeit, so ging es auch im „Weltbürgerkrieg der Ideologien“ im 20. Jahrhundert um die exklusive Beanspruchung, Verteidigung und aggressive Expansion einer als absolut, universell und in ihrem Wahrheitsanspruch und Wertesystem allen anderen überlegenen Weltanschauung. Ging es in den Religionskriegen im Streit der Konfessionen um die jeweilige Nähe oder Ferne zu Gott, so wurde der „Krieg der Ideologien“ bereits unter der Voraussetzung geführt, dass diese Frage gegenstandslos geworden und entschieden war : die Ferne zu Gott war durch Menschen nicht mehr zu überbrücken, oder, kurz : „Gott ist tot“. Tot war der Gott der Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Für die gottähnlichen weltlichen Gestalten, die an seine Stelle traten, galten andere Normen und Gesetze. Sie beschworen die göttliche Vorsehung, fühlten sich mit dem Schicksal im Bunde und behaupteten, mit ihrem Handeln den Willen Gottes zu erfüllen. Hitler, der sich als weltlicher Stellvertreter Gottes sah, benutzte eine solche religiöse Rhetorik immer dann, wenn es ihm darum ging, folgenschwere Entscheidungen zu rechtfertigen. Er beanspruchte für sich quasi göttliche Attribute – Gehorsam, Verehrung, Unfehlbarkeit, die Gabe der Vorsehung und der Setzung schicksalhafter Anfänge kraft seines Willens, die ihn darin unterstützten, die ihm von der Geschichte selbst übertragene Mission zu erfüllen.10 Würden solche Phantasien nicht auf Bedingungen treffen, die ihrer politischen Umsetzung entgegen zu kommen scheinen, so könnten sie als historisch irrelevante Äußerungen nicht ernst zu nehmender Sonderlinge, die es wohl zu jeder Zeit gegeben hat, abgetan werden. Eben das verbietet sich angesichts der 10 Vgl. Hesemann, Religion.

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breiten Spur des Todes, welche die missionarische Politik im 20. Jahrhundert hinterlassen hat. Die individuelle Pathologie der messianischen Führer allein vermag noch nicht zu erklären, weshalb sie historisch zum Zuge kommen konnten. Auch die Gründe derer, die ihnen enthusiastisch gefolgt sind, müssen für eine solche Erklärung berücksichtigt werden, ebenso wie die Loyalität der schweigenden Mehrheiten, die auch ohne weltanschaulichen Enthusiasmus bereit waren zu tun, was von ihnen verlangt wurde. Dabei verzichtet die Rede von individuellen oder sozialen Pathologien, von sadistischen Tätern oder kranken Verhältnissen gerade auf die Erklärung dessen, was als pathologische Abweichung von einer unterstellten gesunden Normalität stattdessen auf Distanz gehalten wird. Was diejenigen, die sich in den turbulenten Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zu anerkannter charismatischer Führerschaft profilierten, auszeichnete, war eben ihre intuitive Fähigkeit, sich an die Spitze dieser Umbrüche zu setzen und die Geschichte selbst auf ihre Seite zu bringen, anstatt sich in aussichtsloser Gegenposition zu geschichtlichen Entwicklungen daran abzuarbeiten, deren Richtung umzukehren. Ihre Vision eines Neuen bezog ihre Suggestivkraft gerade daraus, im Anschluss an atmosphärische Stimmungen der Zeit deren diffusen, sich gegenseitig außer Kraft setzenden und blockierenden Ausdrucksformen eine einheitliche Richtung zu geben, sie in der Fokussierung auf ein Ziel noch zu steigern und ihnen den eigenen politischen Gestaltungswillen aufzuzwingen. In einem Weltbürgerkrieg der Ideologien standen sich Bolschewismus und Nationalsozialismus als gleichermaßen antibürgerliche totalitäre politische Bewegungen gegenüber.11 Sowohl die nationalsozialistische Stigmatisierung der Juden als Verkörperung einer bürgerlich - christlichen Moral der Schwäche als auch die bolschewistische Identifizierung der Kulaken und anderer bürgerlicher Elemente als sozial überflüssig verwiesen in ihrer an den jeweils objektiven Gegner gerichteten Vernichtungsdrohung darauf, dass es in dieser ideologischen Auseinandersetzung um die bürgerliche Gesellschaft und den politischen Humanismus ging.12 Etwas Neues kündigte sich an, das „die letzte Hoffnung des weltfrommen Idealismus auf Ver wirklichung“ nunmehr durch die ökonomische Revolution zu zerstören drohte : der „Niedergang der bürgerlichen Welt“13, das Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Mit dem Bürgertum werde „die romantische Haltung inner weltlicher Weltoffenheit“ durch einen „neuen politischen Konfessionalismus“14 abgelöst. Dieses von Plessner für das bolschewistische Russland entworfene Szenario lässt sich auch auf das nationalsozialistische Deutschland übertragen. Die Herausbildung einer politischen Religion bedrohte in der Tat nicht nur religiöse Bewegungen, sondern die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Eine inner weltliche Heilser wartung, so Plessner, engte den liberal - romantischen 11 12 13 14

Vgl. auch Traverso, Gewalt. Zum Kommunismus vgl. Merleau - Ponty, Humanismus. Plessner, Nation, S. 79. Ebd., S. 79 f.

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Spielraum des freien Geistes ein und zwang „die bürgerlichen Staaten, sich dagegen zu verteidigen – sei es selbst um den Preis der eigenen ideologischen Freiheit – und sich einem politisch - philosophischen Dogma auszuliefern“.15 In ihrem Verteidigungskampf gegen antibürgerliche Ideologien und deren Vernichtungsdrohungen würden der bürgerlichen Gesellschaft eigene politische Dogmen aufgezwungen, mit denen sie ihrer Bedrohung geistig zu begegnen suchte. Sie bewegte sich in der ideologischen Verteidigungsstellung auf dem gleichen Terrain wie ihre Gegner und war eben deshalb noch in der erfolgreichen Verteidigung ihrer politischen Existenz davon bedroht, den möglichen Sieg durch die Aufgabe ihrer eigenen normativen Grundlagen zu bezahlen, so die Quintessenz dieser Argumentation Plessners. Die politischen Schwachstellen der bürgerlichen Gesellschaft können totalitäre Entwicklungen provozieren. Gerade in der radikalen Bedrohung ihrer Existenz durch totalitäre Bewegungen muss die bürgerliche Gesellschaft politisch handlungsfähig auf dem Boden ihrer normativen Grundlagen bleiben. Der Verlust geistiger und politischer Pluralität und deren Ersetzung durch eine verbindliche ideologische Gegendoktrin wäre in der Tat ein hoher Preis für ihr politisches Überleben. Die Pluralität der offenen Gesellschaft, demokratische Freiheiten und das Recht des Bürgers auf eine vor staatlichen Eingriffen geschützte Privatsphäre, eine Vielfalt gleichberechtigter Religionen, Ethnien und Kulturen, schließlich das Recht auf politische Organisation im Rahmen der geltenden Verfassung – all diese Errungenschaften bürgerlicher Demokratie und Liberalität erweisen sich unter dem Druck des kompromiss - und skrupellosen Angriffs auf die bürgerliche Gesellschaft als Schwachstellen ihrer Verwundbarkeit, die so nicht länger aufrechtzuerhalten scheinen. Gegen die Bedrohung ihrer Existenz wie ihrer normativen Ordnung, so Plessner, habe sich die bürgerliche Gesellschaft zur Wehr setzen müssen, wobei sie durch den neuen Konfessionalismus einer politischen Religion in eine Verteidigungsposition gezwungen worden sei. Diese Position machte die bürgerliche Gesellschaft empfänglich für eine politische „Logik des kleineren Übels“, in der sich der Nationalsozialismus trotz seiner gleichfalls aggressiven antibürgerlichen Rhetorik als „Retter des Abendlandes“ vor der bolschewistischen Gefahr der Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft profilieren konnte. Auch Plessner folgte der Argumentation einer existentiellen Gefährdung der bürgerlichen Welt durch Sowjetrussland zunächst : Es sei nachvollziehbar, dass das bürgerliche Deutschland sich durch den Bolschewismus in seiner Existenz bedroht sah. Unter dem Eindruck einer bolschewistischen Vernichtungsdrohung habe es in der nationalsozialistischen Bewegung ein mögliches Bollwerk gegen den Bolschewismus gesehen. Der vom Nationalsozialismus ausgehenden tödlichen Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft habe sich das deutsche Bürgertum dadurch völlig ausgeliefert. Einen weiteren Schritt in diese Argumentationsrichtung ging Ernst Nolte. Seine Annahme einer ursprünglich bolschewistischen Ver15 Ebd., S. 80.

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nichtungsdrohung gegen das Bürgertum erklärte den Nationalsozialismus zur nachvollziehbaren, wenn auch zu weit gehenden Reaktion auf diese Vernichtungsdrohung. Zwischen ideologischem Überbau und ökonomischem, gesellschaftlichem, biologischem oder rassischem Unterbau, so Plessner, wurde mit der Rückführung dieses Überbaus auf eine als unmittelbar, ursprünglich oder elementar ausgezeichnete Basis ein eindeutiger Zusammenhang hergestellt, der kulturelle oder institutionelle Vermittlungen für im Prinzip verzichtbar erklärte. In struktureller Hinsicht bestand für ihn kein Unterschied zwischen der Marx’schen Annahme, mit der einfachen Durchschaubarkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse erledige sich die Notwendigkeit rechtlicher, politischer und institutioneller Vermittlungen des Zusammenlebens der Menschen und der rassistischen Unterstellung des Nationalsozialismus, alles Menschliche müsse auf „seine natürliche Existenz durch Blut und Boden, als das dem Bewusstsein verborgene Diesseits“16 relativiert werden. Sowohl die marxistische Rückführung menschlicher Existenz auf die Klasse als auch die nationalsozialistische Rückführung auf die Rasse hätten den Zweck verfolgt, je unbezweifelbare Wirklichkeiten zu schaffen, die in letztinstanzlicher Begründung jeglicher Kritik entzogen waren. Klasse und Rasse galten dabei als nicht weiter reduzierbare Basisphänomene quasi naturhafter, natürlicher Unmittelbarkeit, von denen die kulturelle Verdopplung zum ideologischen Überbau differenzierter Ausdrucksphänomene ihren Ausgang nehmen sollte.17 Auch die Marx’sche Theorie, so Plessner, bewege sich mit der Annahme eines natürlichen Unterbaus, d. h. einer Naturgegebenheit gesellschaftlicher Verhältnisse, im Rahmen einer solchen Rückführungslogik. Ausdrücklich lehnte er es jedoch ab, Marxismus und Nationalsozialismus als ideologisch spiegelbildliche Kehrseiten eines naturwüchsigen Totalitarismus einander anzunähern oder gar gleichzusetzen : „Mit dem historischen, dialektischen Materialismus hat diese Entlarvung“, diese Rückführung des Menschlichen auf die nackte Vitalität des Untermenschlich - Tierischen „nichts mehr zu tun“.18 In beiden Fällen duldete der neue Mensch neben sich keine biologisch minderwertigen Rassen oder historisch überlebten Klassen. Für eine gewisse Übergangszeit mochte ihnen noch ein eingeschränktes Existenzrecht in der neuen Gesellschaft zugestanden werden. In dieser Zeit konnten sich Einzelne noch durch Assimilation, Klassenverrat oder Exil vor dem kollektiven Vernichtungsurteil retten, das über sie als Angehörige einer für biologisch minder wertig, sozial rückschrittlich oder historisch anachronistisch erklärten Gruppe von Menschen verhängt worden war. Am Ende stand jedoch unweigerlich ihre soziale oder physische Vernichtung. Ein Platz in der neuen Gesellschaft war für sie auf Dauer nicht vorgesehen. Ihr gesellschaftlicher Status wurde ihnen von Anfang an unmissverständlich signalisiert : Sie waren überflüssig. 16 Ebd., S. 159. 17 Vgl. ebd., S. 157. 18 Ebd.

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Nationalsozialismus wie Bolschewismus können als ideologisch gegensätzliche, in unterschiedlicher Akzentuierung gleichermaßen auf deren kulturellen und gesellschaftspolitischen Kern zielende Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden. Die Fundamentalkritik des emphatischen Emanzipationsversprechens der bürgerlichen Gesellschaft zielte auf dessen faktische Widerlegung durch eine gegenläufige Realität. Auf marxistisch - bolschewistischer Seite standen die strukturelle Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung einer Mehrheit der werktätigen Bevölkerung sowie politische Repression im Interesse der ökonomisch Herrschenden im Zentrum der Kritik von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft. Dagegen rückte die nationalsozialistische Ideologie die vermeintliche Schwächung, Degenerierung und Zersetzung der Volksgemeinschaft durch Rassenmischung und die moralische Hemmung des natürlichen Daseinskampfes um die Durchsetzung der Rechte des Stärkeren auf Kosten der Schwächeren in den Mittelpunkt ihrer Kritik der „verjudeten“ bürgerlichen Gesellschaft. Auf den inneren Widerspruch des gesellschaftlich nicht einlösbaren, dennoch in seiner gesellschaftspraktischen Desillusionierung immer wieder erneuerten, bürgerlichen Anspruchs einer nach Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gestalteten Gesellschaft fairer Gegenseitigkeit reagierte diese Kritik mit der Komplementärstrategie rassenbiologischer bzw. klassentheoretischer Selektionsverfahren. Ein ideologisch selektiver Humanismus ersetzte den Universalismus der Bürger - und Menschenrechte und entwickelte gleichzeitig Strategien der Mobilisierung und Rekrutierung von Mitgliedern seiner „Kampfgemeinschaft“. Nicht allen wurde eine Zukunft zugestanden, und diejenigen, denen sie im ideologischen Prinzip als Möglichkeit versprochen wurde, hatten durch ihre aktive Beteiligung an der Verfolgung und Vernichtung der von einer solchen Zukunft Ausgeschlossenen erst die Berechtigung ihres Anspruchs auf Zugehörigkeit nachzuweisen. Sie mussten unter Beweis stellen, dass sie bereit und in der Lage waren, sich zu dem, wozu sie ideologisch erklärt wurden, selbst zu machen – zu Angehörigen einer überlegenen Rasse oder Klasse, die sich aktiv an der Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Unterlegenen, Minderwertigen, Lebensunwerten und sozial Überflüssigen beteiligten. Während im Nationalsozialismus Rassenanlagen der Menschen als naturgegebener Ursprung und Selektionsprinzip wirksam wurden, waren es in der kommunistischen Ideologie soziale Herkunft und Klassenzugehörigkeit, die über die Zukunft der auf diese Weise klassifizierten Menschen entschieden – darüber also, worin ihre künftige Bestimmung bestehen sollte und ob sie überhaupt eine Zukunft haben würden. Die ideologischen Konzepte Rasse und Klasse reagierten auf das strukturelle Dilemma westlicher Demokratien, ein auf Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit gegründetes Emanzipationsversprechen weder politisch einlösen noch aufgeben oder relativieren zu können. In dieser Situation drohte die gesellschaftliche Vision emanzipatorischer Selbstbestimmung zur rhetorischen Hülse und ideologischen Leerformel der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Die ideologiekritische Offenlegung ihrer vermeintlich verlo-

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genen Emanzipationsrhetorik konnte als plausible Antwort auf diese strukturelle Paradoxie erscheinen. Als Einheits - und Zugehörigkeitsversprechen adressiert an die ideologisch ausgezeichnete Gemeinschaft der überlegenen Rasse oder führenden Klasse, und damit als dezidiert selektiver Humanismus auf den Ausschluss, die Stigmatisierung und schließliche Vernichtung derjenigen gerichtet, denen die Zugehörigkeit zur rassisch reinen bzw. klassenlosen Gesellschaft ausdrücklich verwehrt wurde, schien diese Vision im tödlichen Ernst praktischen Vernichtungswillens tatsächlich zu halten, was sie versprach : Ein Paradies auf Erden für diejenigen, denen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gleichen zugestanden, die Hölle für diejenigen, denen sogar das Existenzrecht verweigert wurde.

2. Wertdemokratische Gleichstellung der Kulturen als Alternative zu eurozentrischer Hegemonie Dem eurozentrischen Hegemonialanspruch setzte Plessner die Pluralisierung der vielfältigen und vielschichtigen Facetten kulturellen Menschseins entgegen. Auf die Demütigung des Anschlusses für minderwertig befundener Völker und Nationen an ein überlegenes Wertesystem antwortete er mit dem Plädoyer für einen europäischen Wertewandel, in dessen Ergebnis universelle Prinzipien des Humanismus durch ihre kulturelle Kontextualisierung zugleich relativiert und in ihrem universellen Geltungsanspruch erneuert werden sollten. Konfrontiert mit dem universellen Geltungsanspruch von westlichem Menschenbild und Humanismus und der Geschichte seiner kulturimperialistischen Verallgemeinerung fragte Plessner danach, wie sich die „Vereinseitigung des Menschlichen“19 zu einem als exemplarisch ausgezeichneten Menschentum vermeiden ließ. In der kulturellen Hegemonie westlicher Rationalität sah er die Kehrseite einseitiger globaler Herrschafts - und Abhängigkeitsverhältnisse. Der universelle Geltungsanspruch des westlichen Menschenbildes sei zur anthropologischen Rechtfertigung dieser weltpolitischen Konstellation missbraucht worden. In einem gegen die Differenzen der Völker, Rassen, Staaten, Kulturen und Individuen indifferenten Allgemeinbegriff Mensch, so Plessner, wurde am Maßstab einer ethnozentrischen Humanitätskonzeption eine natürliche Gemeinsamkeit aller Menschen behauptet. Kulturelle Differenzen und unterschiedliche Traditionen können Ausgangspunkt einer Kultur der Verpflichtung auf ein gemeinsames Menschsein sein. An die Stelle anthropologisch begründeter Hegemonie kann kulturelle Pluralität treten. Die Selbstverständlichkeit, in der üblicher weise von westlicher Rationalität und Menschenbild als Maß aller Dinge ausgegangen werde, müsse durch die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Kulturen ersetzt werden, unter denen die ihre Eigenheit und Vorzüge behauptende westliche Kultur sich neu verorten müsse. 19 Plessner, Macht, S. 193.

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In den 1930er Jahren forderte Plessner Europa dazu auf, den universellen Geltungsanspruch seines Wertesystems durch diplomatische Zurückhaltung und verständigungsbereite Offenheit gegenüber den im Prinzip ebenso berechtigten universellen Geltungsansprüchen kulturell anderer Wertesysteme nachzuweisen. Kulturelle Perspektiven, die jenseits des europäischen Wertehorizonts lagen, würden dann nicht länger als Bedrohung des eigenen kulturellen Führungsanspruchs gefürchtet oder als Gelegenheit einer missionarischen Bekräftigung dieses Führungsanspruchs gesucht, sondern könnten als mögliche Ergänzung und Bereicherung einer pluralen Weltkultur im Wechselspiel gleichgewichtiger Perspektiven wahrgenommen werden. Plessner war überzeugt davon, dass sich der universelle Gehalt westlicher Rationalität „im Zurücktreten von seiner Monopolisierung der Menschlichkeit“ erweisen müsse. Nach dieser Perspektivenverschiebung werde sich „das Fremde zu seiner Selbstbestimmung nach eigener Willkür entbinden und mit ihm in einer neu errungenen Sphäre von Freiheit auf gleichem Niveau das fair play“20 beginnen. Diese Zurückhaltung gegenüber der Versuchung, den um kulturelle Selbstbestimmung nach dem Ende politischer Fremdbestimmung ringenden Völkern die Übernahme westlicher Werte nahe zu legen, davon war Plessner überzeugt, würde sich für die westliche Kultur als Zugewinn von Perspektiven und Sichtweisen auszahlen, die ihr in der Blockierung durch hegemoniale Autarkie nicht zugänglich waren. Der europäische Humanismus hatte die Gründungsgeschichte seines universellen Wertesystems zur Definitionsmacht über die Bedingungen seiner Geltung fortgeschrieben. Der Objektivitätsanspruch westlicher Rationalität sollte dessen weltoffene und darum weltverbindende Vorbildlichkeit und Überlegenheit unterstreichen. Mit der Öffnung der ökonomisch, kulturell, ethnisch und religiös gegeneinander abgeschlossenen Welten zum globalen Großraum der einen Welt, die den gleichen universellen Kategorien westlicher Rationalität unter worfen wurde, hatte der Westen tatsächlich die Vielfalt der Kulturen zur verbindlichen Rationalität eines Wertesystems verbunden. Dem begegnete Plessner mit der Reformulierung einer politischen Verpflichtung auf Universalität, die frei von Ambitionen eines missionarischen Kulturimperialismus auf eine kulturell ausgrenzende Vorabbestimmung dessen, was als menschlich gelten sollte, verzichtete. Ein Humanitätskonzept, das lediglich die natürliche Gemeinsamkeit aller Menschen her vorhebe, sei zu schwach, einem ethnozentrisch reduzierten Humanismus zu begegnen. Nur die Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit einer Vielzahl von Kulturen, in denen sich Menschsein auf unterschiedliche Weise kulturell spezifisch ausdrücke, werde dem universellen Geltungsanspruch des Humanitätsprinzips gerecht. Nur in der Partikularität und Pluralität sich aneinander relativierender und durcheinander ergänzender Perspektiven könnten sich dessen Möglichkeiten entfalten.21 Gegen die eurozentrische Vormachtstellung des westlichen Wertesystems hatte Plessner die These von einer „wertdemokratischen Gleichstellung aller Kul20 Ebd., S. 228. 21 Vgl. ebd., S. 221.

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turen“22 gesetzt. Der in der europäischen Moderne geprägte Begriff des Menschen „als einer gegen religiöse und rassenmäßige Unterschiede indifferenten weltbildenden Wirklichkeit“23 erlaubte es, die Bejahung der eigenen Kultur mit dem Verzicht auf ihre Verabsolutierung zu verbinden. Die „universalgeschichtliche Ortsbestimmung des Menschen“24 sah Plessner dabei als Medium kultureller Selbstbestimmung, in dem Erfahrungen, die sich historisch bewährt hatten, zu universellen Ideen und Werten verallgemeinert wurden. Der universelle Geltungsanspruch anthropologischer Wesensbestimmungen des Menschen, religiöser Vorstellungen und moralischer Normen bezog seine Plausibilität aus ihrer Anerkennung und fraglosen Geltung in konkreten kulturellen Kontexten. Diese Verknüpfung von Universalität und Partikularität legt die Möglichkeit nahe, die Differenz der Kulturen und ihrer unterschiedlichen Vorstellungen exemplarischen Menschseins ließe sich aus der Komplementärperspektive ihrer jeweils behaupteten kulturell übergreifenden universellen Bedeutung überbrücken. Der interkulturelle Vergleich anthropologischer Bestimmungsversuche des Menschen zeigt neben dem, worauf sich Menschen unterschiedlicher Kulturen im Prinzip einigen könnten, auch Unterschiede und Unvereinbarkeiten im kulturell spezifischen Verständnis von Menschsein auf. Dabei ist die Herausbildung von Toleranz und Pluralität als Elementen einer Kultur des Umgangs mit Differenzen eine eigene interkulturelle Kulturleistung, die als solche Anerkennung verdient. Plessners Annahme der „wertdemokratischen Gleichstellung aller Kulturen“ zeichnete die unbedingte Anerkennung menschlicher Würde und mitmenschliche Empathie als Menschen gemäße Haltung aus. Die europäische Fähigkeit zur Selbstdistanz, die den Blick auf das gleichwertige Anderssein nichteuropäischer Kulturen erst öffnete, verbot die Haltung moralischer Indifferenz gegenüber anderen Kulturen ebenso wie die Attitüde der Überlegenheit der eigenen kulturellen Lebensform. Nationalismus und chauvinistische Überheblichkeit dagegen ließen das „universalhistorische Bewusstsein an der Unüberbrückbarkeit der Kulturkreise und ihrer Perspektiven“25 zerbrechen. Nicht kulturelle Differenzen, sondern die Annahme einer anderen Kulturen überlegenen Perspektive des Menschseins waren verantwortlich für die Behauptung unüberbrückbarer Gegensätze zwischen den Kulturen. Gegen diese eurozentrische Tradition eines selektiven Universalismus setzte Plessner die kulturgeschichtliche Öffnung des universellen Geltungsanspruchs, die über den Moralismus der kulturimperialistischen Kritik des Westens hinausgehend, das Gemeinschaft stiftende Potential kultureller Universalien betonte. Die ethnozentrische Auszeichnung europäischer Kultur beantwortete Plessner mit der Forderung eines Wettbewerbs der Möglichkeiten des Menschseins.

22 23 24 25

Vgl. ebd., S. 186. Ebd., S. 148. Plessner, Nation, S. 113. Ebd., S. 112.

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Damit stellte er sich der „Vereinseitigung des Menschlichen“26 durch die Monopolisierung des westlichen Menschenbildes entgegen. Gegen mögliche aggressive Versuche der Behauptung der akut gefährdeten kulturellen Hegemonie des Westens hoffte er auf Einsicht in den historischen Anachronismus eines solchen Anspruchs. Der Westen solle sich auf seine besondere Verantwortung für menschheitliche Entwicklungen besinnen und diese Verantwortung durch eine politische Verpflichtung auf Pluralität und Gleichheit in der Differenz wahrnehmen. Zum Problem wird dabei die Frage, ob und wie sich die Einheit der menschlichen Gattung in der Differenz kultureller Vielfalt als Prinzip der politischen Gestaltung des Zusammenlebens der Kulturen durchsetzen ließe. Wie also ließe sich aus der Annahme einer „natürlichen Gemeinsamkeit“ aller Menschen in der Anerkennung ihrer vielfältigen kulturellen Differenzen eine politische Kultur der Verpflichtung auf die gemeinsame Gestaltung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle Menschen entwickeln ? Ein kulturelle Unterschiede als irrelevant ausblendender Allgemeinbegriff Mensch, der in seiner Humanitätskonzeption die natürliche Gemeinsamkeit aller Menschen lediglich behaupte, ohne sie durch plausible Kriterien sichern zu können, so Plessner, wäre zu schwach, diesem ethnozentrisch reduzierten Humanismus zu begegnen. Die hier angemahnte Selbstverpflichtung weltbürgerlicher Solidarität war historisch belastet dadurch, dass das rhetorische Spiel mit gattungsgeschichtlichen Universalien häufig den Auftakt zum expansionistischen Ausgriff in die Weite des im Namen der Humanität zu erobernden imperialen Raums gebildet hatte. Die Globalisierung der Welt zum kapitalistischen Weltmarkt und kulturellen Geltungsraum westlicher Werte war als Hegemonialanspruch des Westens diskreditiert. Auf Universalität gegründete Konzepte des Politischen hatten sich in der Realität immer wieder als totalitärer Geltungsanspruch politischer Diktaturen herausgestellt. Die Erneuerung des normativen Gehalts dieses Humanitätskonzepts, das als Anmaßung eines überlegenen Modus von Menschsein und als Rechtfertigung von Herrschafts - und Unterdrückungsverhältnissen wahrgenommen wird, ist nur als Verschränkung einer moralisch glaubwürdigen, politisch effektiven und gesellschaftlich nachhaltigen Umgestaltung der Weltgesellschaft denkbar – als Ausgleich von Entwicklungsunterschieden und Lebenschancen nach dem Prinzip fairer Gegenseitigkeit. Plessners Versuch einer konzeptionellen Neugründung philosophischer Anthropologie als politischer Anthropologie reagierte auf diese historisch problematische Konstellation mit der Reformulierung eines geistigen Führungsanspruchs Europas. Dabei müsse Europa die Berechtigung dieses Führungsanspruchs dadurch nachweisen, dass es auf den Anspruch politischer Hegemonie verzichte. Nur durch machtpolitische Zurückhaltung könne Europa den verallgemeinerungsfähigen, auch für andere Kulturen relevanten, Humanismus seines Wertesystems unter Beweis stellen. Ohne sich der politischen Verpflichtung sei26 Plessner, Macht, S. 193.

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ner normativen Universalien zu entziehen, müsse es sich davor hüten, anderen Kulturen sein Wertesystem aufzuzwingen und Interventionen in die kulturellen Eigenheiten und Angelegenheiten anderer Völker und Kulturen zu ihrem vermeintlich Besten unterlassen. Die Absicht, ihnen durch solche Eingriffe zum Anschluss an den entwickelten Stand der eigenen, zivilisatorisch überlegenen Kultur zu verhelfen, sei verfehlt und als postkolonialer kulturimperialistischer Interventionismus zu Recht diskreditiert. Im Wissen um die Möglichkeit der normativen Rechtfertigung globaler Hegemonie durch den universellen Gehalt des eigenen Wertesystems wird Europa dazu aufgefordert, auf die Wahrnehmung eben dieser Möglichkeit zu verzichten. Plessners Aufforderung zu machtpolitischer Zurückhaltung und Offenheit für die Vielfalt kultureller Äußerungen des Menschseins hat nichts von ihrer Relevanz eingebüßt. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass allein der Westen der Welt verallgemeinerungsfähige und -würdige Werte zu bieten habe. Der Rest der Welt galt als Expansionsraum westlicher Werte. In unbefragter Selbstverständlichkeit ging der Westen von seiner nicht nur machtpolitisch - ökonomischen, sondern auch kulturellen Überlegenheit aus. Aus dieser Haltung heraus wurden expansionistischer Imperialismus und Kolonialisierung als missionarische Expeditionen zur Verbreitung westlicher Werte gerechtfertigt. Aus der Perspektive des universellen Geltungsanspruchs westlicher Kultur wurden nichtwestliche Kulturen als defizitär und zurückgeblieben wahrgenommen. Die Fähigkeit, das ihnen Fehlende aus eigenen Kräften zu ergänzen, wurde ihnen abgesprochen. Nur mit Hilfe westlicher Eingriffe in stagnierende Entwicklungen, so die weit verbreitete Überzeugung, würden sie ihre Defizite wettmachen können. Dabei werde ihr durch westliche Interventionen forcierter Anschluss an das Niveau entwickelter Industriestaaten zugleich ihre kulturelle Gleichschaltung am Maßstab westlicher Kultur mit sich bringen. Plessner fragte danach, wie sich der Anspruch auf Universalität des westlichen Wertesystems mit dem Verzicht auf seine Verabsolutierung gegenüber außereuropäischen Kulturen und Weltbildern vereinbaren ließe. Vor dem Hintergrund der begründeten Kritik an der über Jahrhunderte global behaupteten Vormachtstellung des Westens suchte er die Zukunftsfähigkeit des westlichen Wert - und Kategoriensystems neu zu begründen.27 Dabei stellte er sich die Frage, wie die kulturellen und gesellschaftlichen Vorzüge des westlichen Modells gegenüber seinen radikalen Kritikern geltend gemacht werden könnten, ohne dass der Westen erneut ethnozentrisch in die missionarische Rolle der Übertragung des eigenen Gesellschaftsmodells auf andere Kulturen und Gesellschaften verfiel. Plessner suchte nach einer Möglichkeit, den universellen Geltungsanspruch des politischen Humanismus aufrechtzuerhalten, ohne daraus die Rechtfertigung kulturimperialistischer Interventionen gegenüber vermeintlich kulturell zurückgebliebenen Völkern abzuleiten. Zugleich wandte er sich gegen einen Relativismus, der den universellen Geltungsanspruch der Bürger - und Menschenrechte mit dem Verweis auf historisch gewachsene gegenläufige Traditio27 Vgl. ebd., S. 186.

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nen in anderen Gesellschaften und Kulturen aufzugeben bereit war. Dieser Versuch trifft den Kern interkultureller Globalisierung, dessen Übersetzung in eine Politik des Zusammenlebens der Kulturen nach dem Prinzip fairer Gegenseitigkeit noch immer aussteht. Das Wertesystem universeller Bürger - und Menschenrechte beansprucht Geltung für ausnahmslos alle Menschen, für Männer und Frauen, Junge und Alte, voll Leistungsfähige wie geistig oder körperlich Behinderte, und das unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen, oder nationalen Zugehörigkeit ebenso wie von ihren kulturellen, sexuellen oder sonstigen Präferenzen und Eigenheiten. Ein kulturrelativistischer Ansatz legt nahe, diesen universellen Geltungsanspruch im Konfliktfall der Verletzung dieser Rechte mit dem Verweis auf kulturelle Eigenheiten anderer Völker aufzugeben, deren Handeln, Denken und Fühlen ein universelles Wertesystem fremd sei. Er erklärt Bürger - und Menschenrechte zu unzeitgemäßen kulturimperialistischen Überbleibseln einer okzidental - eurozentrischen Vergangenheit, die im Zeichen interkultureller Globalisierung besser aufgegeben werden sollten. Das Bestehen auf ihrer universellen Geltung sieht ein solcher Ansatz als kulturelle Eigenart westlicher Gesellschaften, die für außerwestliche Gesellschaften und Kulturen nur eingeschränkt verbindlich und gültig sein könne. Die Grenzen zwischen Völkern und Kulturen sind fließend geworden. Bevölkerungsbewegungen entlang des Wohlstandsgefälles von Süd nach Nord bzw. von Ost nach West belegen die unverminderte Attraktion des Westens. Das globale Ungleichgewicht von Sicherheit und Humanität, von Bildungs - und Lebenschancen ist als Problem ersten Ranges weltweit anerkannt und verschärft sich dennoch weiter. In dieser Konstellation wird die Selbstkritik des Westens und seine Bereitschaft, sich aus historisch gewachsenen Vormachtstellungen auf die Position des kulturell Gleichen unter Gleichen zurückzuziehen, dadurch unterlaufen, dass er in die Verantwortung für die vernünftige Gestaltung einer Weltinnenpolitik zurückgerufen wird – durch global eskalierende Krisen, Bürgerkriege und Konflikte ebenso, wie durch weltweite Menschenrechtsverletzungen und Bürgerrechtsverweigerungen. Angesichts der nicht nur globalen, sondern auch nationalen und regionalen Vielfalt von Religionen, Ethnien und Kulturen scheint jeder Anspruch auf ein universelles, allgemein anerkanntes und kulturell verbindliches Wertesystem anachronistisch zu sein. Und dennoch könnte gerade dieser plurale Horizont ethnischer Vielfalt und kultureller Differenzen dem politischen Humanismus westlicher Prägung mit seiner normativen Auszeichnung von Toleranz, Gleichheit und Pluralität, von Freiheit und Gerechtigkeit eine neue Chance eröffnen. Wo jeder darauf angewiesen ist, in seiner Eigenheit von allen anderen anerkannt oder geschätzt, wenigstens aber toleriert zu werden, könnten auf dem Prinzip fairer Gegenseitigkeit gegründete Anerkennungsverhältnisse eine realistische Chance haben. Ist die Herausstellung eines Eigenen gegenüber einem Anderen, das als bedrohlich auf Distanz gehalten oder dessen Nähe als Versprechen eines Ausgleichs eigener Defizite gesucht wird, nicht mehr nötig, so scheint dessen

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Plessners politische Philosophie

Anerkennung in seiner Differenz zum Eigenen möglich, ohne daran überhöhte Befürchtungen oder Erwartungen zu knüpfen. Erst die Dramatisierung kultureller Differenzen zu unvereinbaren Gegensätzen lässt den Kampf der Kulturen als unvermeidlichen Modus ihrer Begegnung erscheinen. Ausgangspunkt einer solchen Rhetorik ist häufig, dass universelle Werte exklusiv für die eigene Kultur beansprucht und anderen Kulturen abgesprochen werden. Unterschiede zwischen den Kulturen gelten dann nicht mehr als Varianten im kulturellen Spektrum universeller Humanität, sondern sie werden als unvereinbar gegeneinander abgegrenzt. Das fragile Zusammenleben der Völker und Kulturen muss immer wieder den Test der Vereinbarkeit des Unterschiedlichen bestehen : des Verzichts auf kulturelle Hegemonie und der Toleranz und Akzeptanz auch solcher Lebensformen, die den eigenen Präferenzen entgegenstehen. Auch jene Lebensformen zu tolerieren, deren kulturellen oder religiösen Hintergrund ich nicht teile, die mir unverständlich sind und fremd bleiben und die mir die Zugehörigkeit und Einsicht in ihre Binnenwelt verweigern, ist wesentlich schwieriger und erfordert eine ungleich höhere Bereitschaft, Differenzen zuzulassen, als die Tolerierung dessen, was mir als ähnlich aus meinen eigenen Lebensverhältnissen ohnehin vertraut ist. Nicht die gönnerhafte Herablassung zum vermeintlich Minderwertigen, auch nicht das distanzierte Goutieren des exotisch Anderen oder das gleichgültige Nebeneinander einander fremder Kulturen, sondern das Bewusstsein, in der gegenseitigen Anerkennung ihres Andersseins verlässlich miteinander auskommen zu müssen, kennzeichnet Toleranz nicht aus idealistischer Gesinnung, sondern als lebensweltliches Prinzip. Im Horizont geteilter Verantwortung für gemeinsame Probleme würde die Vielfalt möglicher Perspektiven auf das Universelle der Vielschichtigkeit der kulturspezifischen Bestimmung universeller Werte entsprechen. An der Aushandlung verpflichtender Maßstäbe eines abgestimmten gemeinsamen Handelns im Blick auf menschheitliche Probleme müssen sich die betroffenen Parteien gleichberechtigt beteiligen können, damit verbindliche Entscheidungen von allen Beteiligten als fair, abgewogen und gerecht wahrgenommen und akzeptiert werden können. Plessners „wertdemokratische Gleichstellung der Kulturen“ war gegen den Eurozentrismus und die kulturelle Hegemonie des Westens gerichtet. Bei aller Kritik an einer ambitionierten westlichen Leitkultur bekannte er sich dennoch eindeutig zum Humanisierungspotential des westlichen Werte - und Gesellschaftssystem. Im zeitgeschichtlichen Kontext der geistigen und kulturellen Überwältigung Deutschlands durch den Nationalsozialismus und seiner Gefahren für Europa und die Welt nahm er eine Problemkonstellation vor weg, die sich erst jetzt in all ihrer Dringlichkeit zu vernünftigen Lösungen zeigt, wo diese Konflikte in einem veränderten weltgeschichtlichen Kontext sich nicht nur nicht erledigt, sondern noch an Gefährlichkeit, Unübersichtlichkeit und Komplexität gewonnen haben.

IX. Anhang 1.

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290

2.

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Sachwortregister

Anthropologie, philosophische 7–11, 16, 136, 166 f., 197–203, 211, 253, 255, 273 Anthropologie, politische 7, 9, 135– 137, 209–216, 231, 273 Anthropozentrismus, anthropozentrisch 17, 170, 174, 181 f., 194, 198, 211 Antisemitismus, antisemitisch 13, 222, 237, 241, 262 Biologie, biologisch 11, 13, 32, 97, 134 f., 157, 159, 161, 168, 184– 186, 200, 207, 210, 216, 221, 223, 237, 253–256, 260, 262, 268 Biopolitik, biologische Politik, biopolitisch 9, 17, 59, 134 f., 209, 220, 224, 252, 254 f. Deutschland und der Nationalsozialismus 25–27, 217–224, 234– 236, 238, 240–252, 276 Deutschland und der Westen bzw. Europa 23 f., 51, 58, 69, 82, 86, 89, 92 f., 96–99, 116–133, 125, 135, 147, 184, 217–224, 235 f., 244 f., 248 f., 252, 256, 261, 263, 276 Eigenart, deutsche 15–19, 22, 25, 27, 39, 47, 52–100, 103, 114, 180, 219, 237, 246–248 Eugenik, eugenisch 222 f., 252 f. Eurozentrisch 6, 17, 203, 270–276 Gemeinschaft und Gesellschaft 7, 20, 105, 139 f., 144 f. Gemeinschaftsradikalismus 9, 61, 85, 104, 139–146 Geschichte, deutsche 13–15, 19 f., 23, 25, 27, 47, 70, 75–77, 82, 86 Geschichtsphilosophie, geschichtsphilosophisch 17, 27–43, 47, 51, 53, 62, 75, 77, 79, 88 f., 91, 93, 95, 111 f., 153, 219, 248, 256, 263 f.

Gesellschaft, bürgerliche 27, 50 Fußnote 22, 61, 88, 95, 101, 103, 105, 116, 145, 204, 207, 220 f., 224, 262–269 Höher- und minderwertig 8, 21, 38, 111, 113, 118, 218, 252, 259, 263, 268 f., 270, 276 Holocaust bzw. Judenvernichtung 9, 20, 243, 262, 264 Humanismus, humanistisch 8, 16, 21, 26, 208, 210, 219 f., 248, 261, 269 f., 273 Humanismus, bürgerlicher 15 f., 25, 63, 217, 219f., 238 Humanismus, politischer 16 f., 23 f., 53f., 96, 101, 109f., 119, 125 f., 127–129, 131, 133–139, 147, 158 f., 161 f., 203–209, 210 f., 219 f., 223 f., 235 f., 238, 244, 248, 261, 266, 274 f. Humanismus, westlicher bzw. europäischer 110, 115, 127, 131, 211, 219, 270 f. Ideen von 1914 20, 79, 116–133, 135 Idealismus, deutscher 48, 59, 61, 66, 68, 79 f., 122 Ideologie 7, 9, 12, 16, 21, 51, 56 f., 125, 144, 150, 152, 157–163, 166f., 169, 171 f., 174, 179, 186, 208, 222, 256, 259 Ideologie, nationalsozialistische bzw. faschistische 13 f., 21, 25 f., 34, 89, 115, 117, 131 f., 222, 224, 234, 237, 243, 251 f., 256, 269 Ideologiekritik, ideologiekritisch 13, 16, 25, 62, 65, 70, 158 f., 161, 164– 169, 171–174, 176, 184f., 193, 213, 217, 235, 254, 260, 269 Ideologieverdacht 25, 40, 58, 70, 158, 166, 168, 172, 175–180, 185f., 217, 254, 256

Sachwortregister Jude( n ), jüdisch 9 f., 12 f., 20, 46, 224, 233 f., 236 f., 266 Krieg der Ideologien 262, 264–266 Kultur, deutsche 20, 22, 47 f., 50, 59, 61, 85 Maske 11, 74 f., 141, 157, 163–166 Mensch, neuer 32, 63,104, 113, 122, 134, 179, 218 f., 221, 226, 233 f., 238, 255–257, 259, 262 f., 268 Natur, menschliche 117 f., 135 f., 142, 157, 160–162, 166–168, 172, 191, 197–203, 206–208, 210–213, 217, 231, 255 f. Moderne, westliche bzw. europäische 14 f., 21–24, 45 Fußnote 2, 58, 61, 69, 75, 86 f., 93–97, 99, 106, 112, 114–117, 124, 133, 135, 143, 162, 174, 206–208, 210, 217–224, 236, 244 f., 248 f., 252, 263, 272 Nation, verspätete 60, 62, 69, 74, 79, 81, 85–100, 108, 235–245, 248 Nationalcharakter, deutscher 27, 70–85, 93, 239 f., 245, 251 Nationalstaat, deutscher 47, 76, 106, 108, 110, 131, 228, 242 Nationalsozialismus, philosophische Analyse des 12, 16, 21, 23 f., 26 f., 221, 229, 233, 235–245 Philosophie, deutsche 12, 16, 19–21, 41, 63, 52–70, 86 f., 90, 94, 113, 184, 228, 232, 256 Politik – Philosophie bzw. philosophische Politik 59, 135, 224–235 Politik, deutsche 17, 20, 47, 86, 114, 129, 246 Politik und Moral 133, 134 Fußnote 105, 144, 175–180 Rasse 9, 16 f., 21, 26, 93, 101, 111, 146, 157, 218, 224, 230, 252, 254, 257, 270

291

Rassenbiologie, rassenbiologisch 134, 218, 220, 223, 252, 254 f., 262 Rasse und Blut 13, 26, 104, 109, 111, 128, 184, 186, 199, 217–219, 234, 255–257 Rasse und Klasse 15, 157, 211, 218 f., 221, 261, 264, 268–270 Rassenpolitik, nationalsozialistische 9, 13, 21, 134, 217 f., 237 f., 244, 252–257, 261 Rationalität, okzidentale bzw. westliche 16, 22 f., 58, 96, 102 f., 126, 168, 205 f., 223, 270 f. Reich 14, 47, 55, 93, 101–115, 131 Fußnote 102, 218 Religion 45–52, 56, 58, 101, 110, 114, 165, 187, 205, 208, 253, 260, 265–267, 275 Revolution, nationalsozialistische, völkische, biologische 17, 105 f., 109, 111, 131 f., 218 f., 226 f., 235 f., 238–244, 250, 256 Romantik 16, 53, 62, 72, 76, 84, 101, 106, 113 f., 223, 236, 254, 266 Sonderweg, deutscher 13 f., 16, 19, 19, Fußnote 1, 21 f., 102 f., 236, 248 Totalitarismus, totalitär 17, 259– 270, 265, 268 Ungleichzeitigkeit, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 79, 85–100, 248 Universalismus 15, 17, 77, 79 f., 94, 97, 148, 157, 174, 211, 247, 269, 272 Vernunft, Zerstörung der 13, 16, 19, 24 f., 161, 167, 169 Volk, deutsches 13, 24, 55, 60, 67, 77 f., 101–116, 220, 241 f. Volksgemeinschaft 21, 66, 109, 111, 113, 115, 128, 143, 146, 218, 227, 252, 269

292 völkisch 7, 9, 17, 23, 50, 53 f., 60, 62, 66, 75, 77–80, 84, 90, 93, 98 f., 101–116, 121, 129, 131 f., 134, 136–138, 140, 206 f., 218–220, 223–229, 233, 235–244, 255 f., 261–263 Weimarer Republik 9, 17, 50, 106, 123, 136 f., 146–157, 224, 226, 241

Anhang Weltanschauung 12 f., 17, 49 f., 60, 63 f., 104, 113, 120, 143, 149, 227, 229, 235 f., 250, 257, 265 Weltbürger, weltbürgerlich 17, 19, 21, 26, 47, 53–55, 59, 61 f., 65– 67, 79–82, 85, 88, 90, 94 f., 97, 113–115, 117, 120, 122, 133, 140, 148, 186, 211, 219, 228 f., 242, 245, 247, 273 Weltkrieg, Erster 9, 17, 20, 23, 109, 116–133, 135, 140, 147, 221, 251, 261

Personenregister

3.

293

Personenregister

Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten.

Adorno, Theodor W. 22* Agamben, Giorgio 59* Alverdes, Paul 123*, 239* Anders, Günther 184* Arendt, Hannah 16, 178, 198, 209, 251 Aretin, Karl von 107*, Aquin, Thomas von 251 Bauman, Zygmunt 15, 264 Benhabib, Seyla 110* Benjamin, Walter 33, 36*, 98–99, 122, 152–153 Bering, Dietz 224* Berlin, Isaiah 34* Bertram, Ernst 99 Beyer, Karl 66* Bialas, Wolfgang 33*, 114*, 226* Bismarck, Otto von 111, 242 Blei, Franz 148 Bloch, Ernst 8, 39, 118–119, 121, 140, 142* Blumenberg, Hans 180* Böhm, Franz 219* Brieskorn, Norbert 101* Buber, Martin 142 Buytendijk, Frederik 10* Cassirer, Ernst 19, 83*, 165 Cohen, Hermann 120 Curtius, Ernst 152*, 153, 219 Dettelbach, Hans von 51*, 206*, 255* Dilthey, Wilhelm 8 Dietze, Carola 9–10*, 12, 13* Döblin, Alfred 152* Eilemann, Johannes 113* Elias, Norbert 37, 43 Engelbrechten, Fritz von 120* Engels, Friedrich 43 Eßbach,Wolfgang 145*, 201*

Faulenbach, Bernd 235* Fehrenbach, Elisabeth 107* Fest, Joachim C. 239–240* Feuerbach, Ludwig 43* Fichte, Johann Gottlieb 16, 19, 54, 60, 67, 76–77, 80, 90, 106 Fisch, Jörg 20* Fischer, Joachim 12*, 128*, 134*, 138*, 145*, 201* Flake, Otto 148 Flasch, Kurt 120* Forsthoff, Heinrich 85, 86* Freud, Sigmund 117–118, 193, 255 Freyer, Hans 121 Fulbrook, Mary 105* Furet, Francois 105 Gadamer, Hans - Georg 36* Gangl, Manfred 134*, 238 Gauchet, Marcel 160* Gehlen, Arnold 9, 12, 38, 134, 229– 233 Glockner, Hermann 113* Goebbels, Josef 79, 223 Gründel, Ernst G. 121*, 225–226 Günther, Hans R.G. 93* Habermas, Jürgen 28*, 30*, 48*, 205* Hammerstein, Notker 107* Hancke, Kurt 262* Hartmann, Nicolai 8 Hardtwig, Wolfgang 14* Haucke, Kai 68*, 135* Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 37, 39*, 54, 80, 86, 114, 251 Heidegger, Martin 8, 11, 46*, 98– 99, 123, 218, 229, 233*, 255 Heine, Heinrich 16–17, 90 Herder, Johann Gottfried 106 Herf, Jeffrey 222 Hesemann, Michael 265* Hildebrandt, Klaus 56* Hiller, Kurt 148–149, 151–153

294 Hitler, Adolf 13*, 15, 22, 25, 50, 121, 225, 229*, 233, 239–240*, 242–243, 248, 261, 265 Hölderlin, Friedrich 114 Horkheimer, Max 13, 14*, 22–23, 26, 52, 57–59, 61, 151–152, 246– 247 Huch, Ricarda 107 Huebner, Friedrich Markus 140* Husserl, Edmund 8 Jahnke, Helmuth 228 Jahoda, Marie 22* Janeff, Janko 229* Jaspers, Karl 46*, 118*, 124 Joas, Hans 45* Jung, Edgar Julius 122, 227–228 Jünger, Ernst 117*, 122–123 Kant, Immanuel 8, 60, 90, 158, 170–171, 175–176, 179–180, 186, 194, 195*, 197, 203, 211, 214, 251 Kaplan, Harold 21* Kersting, Wolfgang 102* Kierkegaard, Søren 63 Kießling, A. 115* Klages, Ludwig 255 Klemperer, Victor 248 Knittermeyer, Hinrich 263* Kocka, Jürgen 14 Kolbenheyer, Erwin 134*, 263* Kolnai, Aurel 262* König, Josef 9 Koselleck, Reinhart 35*, 106*, 112*, 263* Kötschau, Karl 222* Krieck, Ernst 66*, 78*, 109*, 111, 226 Krockow, Christian Graf von 13* Krüger, Hans - Peter 201* Kuper, Leo 264 Lehmann, Gerhard 82*, 226* Leonhard, Jörn 101* Lessing, Theodor 25 Lethen, Helmuth 145* Löwith, Karl 160* Lübbe, Hermann 120*

Anhang Lukács, Georg 8, 13–14, 16, 19–21, 24–26, 180*, 238 Luther, Martin 47–48 Lützeler, Paul - Michael 244* Kopernikus, Nikolaus 183 Machiavelli, Niccolo 251 Maier, Hans 51* Mandel, Hermann 255* Mann, Heinrich 150 Mann, Thomas 118*, 245–249 Mannheim, Karl 8, 153–155 Marcuse, Herbert 13, 14*, 26 Marx, Karl 17, 20, 31, 48, 50*, 63, 86–88, 96, 120, 165–167, 179– 180, 268 Mechow, Karl Benno von 239* Merleau - Ponty, Maurice 266* Merriam, Charles 22*, 23 Messerschmidt, Manfred 243* Michel, Wilhelm 140* Misch, Georg 8 Moeller van den Bruck, Arthur 82– 83 Moraw, Peter 107* Mommsen, Hans 223 Mühsam, Erich 55 Müller, Gerhard 226* Münkler, Herfried 239* Nagl - Docekal, Herta 28* Nietzsche, Friedrich 63, 99, 251 Nipperdey, Thomas 45* Nolte, Ernst 262, 267 Ossietzky, Carl von 150*, 155* Osterhammel, Jürgen 96* Otten, Karl 141* Pätzold, Kurt 218* Peukert, Detlev 132*, 222–223* Pinthus, Kurt 140* Pircher, Wolfgang 137* Rabinbach, Anson 24* Radbruch, Gustav 151 Raddatz, Fritz J. 90* Rauschning, Hermann 12

Personenregister Rawls, John 101* Reche, Otto 117* Rehberg, Karl - Siegbert 50* Richter, Norbert A. 137* Rickert, Heinrich 8, 71 Rubenstein, Richard L. 264 Rubiner, Ludwig 140 Safranski, Rüdiger 53* Schacht, H. H. 46* Scheler, Max 8–9, 11–12, 46*, 128, 134–135, 150, 255 Schiller, Friedrich 16, 67, 73, 80 Schmidt, Alfred 101* Schmidt - Rohr, Georg 104* Schmitt, Carl 8, 46*, 47, 72, 135, 137, 148, 155–156, 159 Schmokel, Wolfe 56* Schwarz, Hans 82 Schwarz, Hermann 128* Seifert, Friedrich 255 Sinclair, John 114 Sombart, Werner 71–72*, 143*

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Sontheimer, Kurt 227–228* Spengler, Oswald 20, 121, 225, 248* Steding, Christoph 89, 130 Stegemann, Hermann 128*, 147* Syberberg, Hans - Jürgen 229* Taylor, Charles 45*, 211* Toller, Ernst 141* Traverso, Enzo 266* Troeltsch, Ernst 8, 72* Tönnies, Ferdinand 139, 142 Tucholsky, Kurt 150, 151 Vaihinger, Hans 176, 177* Voegelin, Eric 134 Weber, Max 8, 20, 29, 45, 96, 167, 264 Windelbrand, Wilhelm 8 Winkler, Heinrich August 14, 107*, 131* Wolfenstein, Alfred 141*