Politische und kulturkritische Schriften; Kleine Prosa
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Albin Zollinger Werke

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https://archive.org/details/politischeundkul0006zoll

Albin Zollinger Politische und kulturkritische Schriften Kleine Prosa Herausgegeben von Gustav Huonker

Artemis

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Diese sechsbändige Ausgabe der Werke Albin Zollingers twird gefördert durch die Stiftung Pro Helvetia, den Regierungsrat

des, Kantons Zürich und den Stadtrat von Zürich. An den vorliegenden sechsten Band leistete außerdem die STEO-Stiftung Zürich einen Beitrag.

Band 6 {= Schriften) der Artemis-Ausgabe von Albin Zollingers Werken

© 1984 Artemis Verlag Zürich und München Printed in Switzerland ISBN 3 7608 05663

..... Politik

Nachklang zu den Manövern Lächerlich, würde man sagen, wenn es nicht viel zu traurig wäre. Diese Berichterstattungen von vorgetäuschten Schlachten, gemachtem Kriegszustand schillern in ihrer eigenen verlegenen Zweifelhaftigkeit. Man schreibt spaßhaft und nimmt es doch ernst. Man nimmt es ernst und wagt sich doch nicht über den Spaß hinaus. Fühlen die Herren so etwas wie Scham, regt sich ein halbes Gewissen, ahnen sie die Ruchlosigkeit ihres Spiels? Krieg zu spielen ist verbrecherischer als Krieg zu führen. Aber wir sind noch weit entfernt vom Friedensbewußtsein. Noch immer laufen die Weiber, wo eine Uniform auftritt. Noch gebietet das Kalbfell. Noch gilt die Fahne mehr als der Fähnrich. Im ewigen Schweizer regen sich alte Instinkte; von seiner Hellebarde läßt er im Schlafe nicht. Haben wir Grund, monarchische Vererbungen anderer zu verspotten, solange wir selber der alten Haut nicht entschlüpfen? Vorurteile sind schlimmere Herrscher als Könige. Denn was den Vätern gut war, ist den Söhnen verderblich. Schäme ein jeder von uns sich jedes gefallenen Schusses, jeder Gebärde der Gewalt, dieser Kurzweil von Kindern, die nicht wissen, was sie tun! Wir hassen nur eines,

den Feind in uns selbst! Der Krieg kommt uns vor wie ein Aschermittwoch. Lächerlich stehen nicht die Verspotteten da, wohl aber die spottenden Narren.

Ein Volk ohne Waffen

In der «N.Z.Z.» schreibt der bekannte Psychologe und Menschenfreund Heinrich Hanselmann «Gegen den Krieg und für das Militär» hörenswerte Dinge, allein wie es mir vorkommt, auf der Basis so tragischer Irrtümer, daß es ange-

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bracht erscheint, mit deren Diskussion nicht hinter dem Berg zu halten. Der Formel «Gegen den Krieg und für das Militär» wird ein Schatten von Verlegenheit immer anhängen, auch wo sie geistvoll und nicht bloß phrasenhaft interpretiert wird. Dr. Hanselmann betrachtet als eine der höchsten Aufgaben der Erziehung «die Erziehung des Individuums zur Gemeinschaft». Diese Erziehung möchte er der Volksschule nicht überbinden, weil dieser die wichtigsten Voraussetzungen für sie fehlen: das Zusammenleben und Zusammentun in fast allen lebenspraktischen Dingen. Was ihr zukomme, sei Wissensvermittlung, Bildung des Verstandes. Nach meiner, der Ansicht eines Lehrers, dürfte darin schon aus dem Grunde

eine Schiefheit stecken, weil das Alter der Volksschulbildung, siebentes bis vierzehntes Altersjahr, an sich nicht die intellektuelle «Jahreszeit» des Kindes, vielmehr die materiellspirituelle Entwicklung ist, also die Zeit ethischer und phantasiemäßiger Bildung. Gegenüber dieser Veranlagung unserer Schüler kommen wir ın Verlegenheit mit zweischneidigen Paradoxen, wie «Gegen den Krieg und für das Militär», durch deren bloße praktische Existenz in unserer Umgebung, auch wenn wir, dem Willen der Machthaber dienstbar, vor dem Problem des Krieges wie vor dem Storchen-

märchen unsere Erzieheraugen verschlossen halten. Die Stätte der Erziehung zu Selbstbeherrschung, Selbstopferung, Horchen und Gehorchen, zum Schweigenkönnen, zu Mannszucht und Unerschrockenheit, vor allem aber auch dazu, zu tun, was man nicht gern tut, dieser Ort sei das Militär. Wollte Gott, es gäbe die Anstalt, in welcher die

Mutterbüblein gestählt, die kleinen Haustyrannen gedrillt und hochfahrende Nichtsnutze zum Gehorsam gezwungen würden! Wir wollten gerne bereit sein, im Militär, meinetwegen einem hypothetischen idealen Militär der Zukunft, diesen Zuchtmeister anzuerkennen, wäre es nur nicht leider so

eingerichtet, daß eben Mutterbüblein und Haustyrannen in der Regel diejenigen sind, die ein Interesse daran haben, sich in die schöneren Höhen der Galons, der Daunenbetten und

Fünflibersolde hinaufzuretten. Wir haben damit noch lange nicht gesagt, daß nicht auch in der Truppe, dem Gros der Unmaßgeblichen, blindlings Gehorchenden,

Gehorchenmüssenden,

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wohlbemerkt

nicht

unbedingt freiwillig Gehorchenden, welche erst die Bildungsfähigen wären, sich Schlaumeier und Lauskerle befänden; allein ich wollte die Mütter und Ehefrauen darüber befragen, welche wohltätigen Wirkungen sie an ihren Henkermeistern nach deren spartanischer Eisentäufe konstatieren: Eine anfängliche Verdutztheit und nachfolgende Erholung von Demutstrapazen. In der Regel! Selbstverständlich hat der Militärdienst lobenswerte Begleiterscheinungen; aber um die Hohe Schule der Erziehung zu sein, brauchte er die Voraussetzung eines menschlich und sittlich mustergültigen Cadres, weil nur der Gehorsam vor der geistigen Überlegenheit wahrhaft bildende Kräfte in sich birgt, nicht aber die Knute, die bestenfalls tierische und Sklavenauflehnung zeitigt. Was indessen den Durchschnitt des Offiziersmaterials anbetrifft (es gibt Offiziere, die wir verehrten), so hat, was etwa zu unseren

Ohren kam, eben derselbe General Wille

sich nicht allezeit schmeichelhaft darüber ausgesprochen. Gemessen also an den zugestandenen Früchten und von ihnen abgesehen, ist das Hcer eine, sagen wir einmal, viel zu kostspielige pädagogische Institution, als daß sie sich lohnen würde; ihre strategische Seite, deren Für oder Wider heute nichts anderes als Glaubenssache sein kann, stehe hier nicht zur Diskussion; wir wollen lediglich einen Satz unseres Kontrahenten noch in Betrachtung ziehen, nämlich den blendenden Aphorismus: «Mit der gänzlichen Abrüstung kann nur der Schwächste oder der Stärkste beginnen.» Oder der Edelste, wäre eine allenfalls auch nicht leichtzunehmende Ergän-

zung.

Der Krieg als Genius Frank Thieß, der rührige Geburtshelfer einer neuen Nation, ließ sich vor einiger Zeit wieder einmal gnädig abschätzig über die Schweiz und ihre Möglichkeiten, will sagen Unmöglichkeiten, aus, indem er ungefähr sagte, daß für dieses satte,

saturierte Land (wir wissen es nachgerade!) keine Hoffnung bestehe, in absehbarer Zeit wieder etwas Nennenswertes in

der Kunst hervorzubringen. Nur ın Deutschland geschehe heute so etwas wie die Entstehung einer neuen Dichtung (als ob nicht mit jedem Dichter eine solche entstünde), und zwar 9

als Frucht des Krieges und der nachfolgenden Elendsjahre. Sonst pflegen es weniger die Künstler zu sein, die sich Krieg und Kriegsgeschrei ins Knopfloch stecken; nicht um zu disputieren, nur vergleichsweise führen wir hier einen anderen Deutschen an, dessen Wort auch etwas gilt in der Landsgemeinde: Jean Paul: «Der Krieg, sagt ihr, entwickelt und enthüllt

große Völker und große Menschen, so wie sich bei Regenwetter ferne Gebirge aufdecken. Sonach hätten wir denn lauter große Völker; denn alle rohen kriegten bis in die Bildung hinein; die Zaims und Tunarioten, welche bei den

Türken für ihre Rittergüter im beständigen Kriegsdienste und als Kinder in Körben und als Greise in Sänften beim Heere sein mußten, wären ein Kongreß vereinigter Geisterriesen. Wo aber stieg denn das größte kriegerische, das römische Volk, welches Jahrhunderte lang weniger im Blute der Völker watete, als auf dem Blute schiffte, endlich aus? Unten

am Throne der römischen Kaiser als Krongewürm. Der lange peloponnesische Krieg machte keine Sparter, aber wohl Lykurg: große Völker entstehen nur an großen Menschen; und eine große Idee, eine Gesetzgebung entwickelt die Völker ganz höher als ein Schlachtenjahr; und Preußens Monarchie

wurde nicht von, oder im, sondern hinter dem

kurzen Kriege, und trotz demselben von dem langen Frieden gebildet. Nur erscheint uns die Wintersaat des Friedens so leicht als Sommersaat des schwülen Kriegs; aber der unsterbliche Krieg mit Xerxes erschuf nicht erst die Griechen, sondern sie ihn, und er setzte sie voraus.

Was man noch außer den Wirkungen des Friedens mit denen des Krieges verwechselt, ist die Ursache des letzteren oder die /dee, um welche man ihn führt, die aber wieder dem

Frieden zugehört, z.B. der Religion oder der Verfassung. Bekamen denn die friedliebenden Schweizer ihre Wunderkräfte der Tapferkeit gegen Österreich und Frankreich von langen Kriegen, oder nicht vielmehr von Vaterlandliebe her!» «Der Friede verweichlicht die Völker, sagt einer der Gemeinplätze, wo Irrtum und Wahrheit sich friedlich nebeneinander aufhalten und mit sich Versteckens spielen... Was... verweichlicht und die Festungswerke der Seele schleift, kann Krieg und Friede gleich gut zuschicken, nämlich die Herr10

schaft des Genusses über die Idee. Der Körper sei siech, weich, weichlich

und weiblich:

setzt z.B. ein Mutterherz

hinein, so ist er eine Bergfestung, und die Kinder werden durch keinen Sturm erobert. Entzündet in der Jungfrau Liebe — wie in Hannibal Römerhaß -: Sie geht auch über die Alpen und kann sterben und töten. (Entzündet im Dichter Liebe: er wird auch ohne Kanonen auf seinen Einfall kommen. A.Z.) $ . Übrigens find ich der großen Menschen nach Verhältnis mehr im kurz-lebenden Griechenland als im langkriegenden Rom, und wir hätten von Glück im Unglück zu sagen, wäre seit der Französischen Revolution nur jede Schlacht die Mutterzwiebel oder die Wehmutter eines neuen großen Mannes geworden; und hätte man für die gefüllte Schädelstätte eines Schlachtfeldes stets einen großen Kopf erkauft.»

Militärgericht über einen Dichter

Der Referent müßte seinen Eindruck entstellen, um die Sache etwa symbolisch auszumünzen: Die Verhandlungen über den Dienstverweigerer Albert Ehrismann gestalteten sich zu einem ordentlichen kleinen Kammerkonzert gegenseitiger Rücksichtnahme und Toleranz. Hier bemühte man sich offensichtlich, einem Sonderfalle gerecht zu werden, die echueicingen von Geist und Gesetz er gen. Im Bestreben, dem sympathischen Delinquenten goldene Brücken zu bauen, deutete man seine Träumerei allzusehr

nach der Richtung des Unklaren, Unverbindlichen hin. Wenn Ehrismann sagt: Ein geistig regsamer Mensch unserer Tage bürgt nicht für die Anschauungen, die er späterhin haben wird, so ıst das natürlich etwas anderes als die halbe

Reue eines unsicheren Sünders. Allein auch die Richter versäumten, von dem Verteidiger, Traugott Vogel, freundlich geöffnete Törchen zu passieren. Psychisch dienstuntauglich nannte er seinen Poeten und vermehrte die Dispensationsgründe damit um eine unstoflliche Spezies, deren Existenz von der Militärmedizin allerdings nicht so bald wird wahrgenommen werden. Schon dieses psychologische Exerzitium mochte die Män11

ner in Feldgrau nervös auf Taten gemacht haben: An ihrem nächsten Opfer aßen sie gewissermaßen einen Rettich. e

Demokratische Handhabung der Volksschule Wir wollen von niemandem

Unfehlbarkeit

erwarten,

auch

von einer Respektsperson wie dem Staate nicht; da der letzteren unser unmaßgeblicher Tadel nicht im Ernste wird schaden können, sei es unternommen, die Möglichkeit zu erwägen, ob die Segnungen der Demokratie auch ihre Schattenseiten beispielsweise für eine so zarte Sache wie die Jugenderziehung haben möchten, oder, um uns der Aufrichtigkeit zu befleißigen, wir bringen freundliche Aussetzungen an, zu denen wir uns aus weidlicher Erfahrung berechtigt glauben. Kann man sich vorstellen, daß die Mitwirkung des Staates bei den Künsten in einem anderen als allenfalls administrativen Sinne fruchtbringend ausfiele? Das Diffissile muß unter allen Umständen dem Individuum anheimgestellt bleiben. Die Masse ist an sich eine Verlegenheit, und organisiert vermag sie nur in der großen Linie zu wirken, also in der Abkürzung, aber nicht in der Nuance. Es müßte möglich sein, große Richtlinien zu entwerfen, unter denen die persönliche Initiative sich entfaltet. Wo der Staat sich kleinlich in die Details mischt und sie durch Gesetze befestigt, wird er zum wenigsten hinderlich. Die Gefahr des Fortschrittes ist in unserem Lande nicht größer als die der Verknöcherung, der heilige Eifer wird nicht ebensoviel verderben wie Trägheit und Meetier. Nun sind Behörden von Natur aus mißtrauisch und unschöpferisch. Wie könnte das Unschöpferische anders als mißtrauisch sein? Es glaubt fortwährend seinen Besitz in Gefahr, und was bleibt ihm nach dessen Verlust? Hingegen der schöpferische Geist sieht allerenden Pfade und Herrlichkeit, er ist von sträflichem Draufgängertum, er ist der Widersacher und Erbfeind des Schemas. Wir erlauben uns keinerleı böswillige Behauptungen; aus schmerzlicher Zeugenschaft heraus versichern wir, daß der Geruch des Künstleri-

schen Pest und Beelzebub für Kanzleinasen vorstellt. Dem Unbekannten Gott des Irrationalen sind keine Schubladen 12

errichtet. Der Künstler aber und seinesgleichen besteht über und über aus nichts wie Irrationalem, das ist ja gerade sein Merkmal. Wie kommt der Geselle hieher? Nun, wir meinen,

daß kein Geringerer als Pestalozzi sich der Poeterei schuldig machte. Wir haben schon immer dafür gehälten, daß der unkünstlerische Erzieher als ein ausgemachter Greuel dahinlebt, als ein Kreuz der Jugend und seine eigene Widerlegung. Wir sind nicht aus Liebhaberei dieser Ansicht, wir schätzen und lieben die Wissenschaften,

beurteilen sie aber als eine

ledigliche Apperzeptionsmethode des menschlichen Geistes im Gegensatz zu dem, was wir das Künstlerische nennen wollen und das nicht ausgeübt, sondern erlitten wird und von Gott kommt. Es ist die Art der Propheten in ihrer höheren Begabung als der sekundären der Prophezeiung, die Art des mythisch Organischen und Ganzen, und dieser Art sind auch Kinder in all ihrer Keimhaftigkeit. Was seiner Erschaffung noch so nahe steht, kann nicht anders als ihres Geistes sein; Kinder

sind in einem unmündigen, aber nichtsdestoweniger grundsätzlichen Sinne schöpferisch. Ihr ganzes Tun ist irrational, närrisch. Zum Erzieher kann man gar nicht allzusehr Künstler sein,

welcher Vorwurf mir von Spatzenseite zur Erwägung vorgelegt wurde. Was aber als ein Meerwunder von Kindern angestaunt, also von sich ausgeschieden wird, das ist der folgerichtige Mann und Dogmatiker. Das Dogma irgend einer Gebärde oder Redegewohnheit wird als Symbol für ihn aufgeschnappt und ausgeschlachtet. Nie und unter keinen Umständen wird die Jugend sich über einen Märchenerzähler lustig machen! Für Mären und Lieder ist jedes so klug wie der Klügste, oder hat man es anders vernommen? Der analytische Aufsatz, der Aufsatz von außen, die allgemeine methodische Traktierung «von außen», eben die rationale Form, hat mehr Kindlein umgebracht als der König von Bethiehem. Massengräber, würden wir sagen, wenn wir uns so durchaus klar über die Frage wären, ob die breite Masse nicht zu diesem vorzeitigen Tod aus den Bedingungen ihres Erbes verdammt ist. Das Volk — jedermann weiß, was «das Volk» ist! — birgt schöpferische Exemplare, ist als Ganzes aber offenbar werkblind, Gott helfe mir; das zeigt sein Zuschnitt auf Nachbeterei, Moden,

bei

gewohnheitsmäßiger

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Verleumdung

alles

wirklich Neuen in den Künsten gerade so, wie in Lebensformen

und Politik. Das Volk ist die Straße voller Hindernis,

wenn auch immerhin nichts geringeres als die Straße! Das menschliche Hirn stellt seine Entwicklung, schätzen wir, Mitte des zweiten Dezenniums im allgemeinen ein; was nachfolgt, ist Aneignung neuer Kenntnisse allenfalls, aber nicht Ausweitung der Möglichkeiten. Tragödie, dieser Niedergang etwa der späteren Jugend! Eitelkeit und Banausentum sprießen hoffnungsvoll mit dem Flaum, die lieblichsten Formen lösen sich in der Väter Bildnis auf. Dieser selben Väter (man schenke unserm Kummer einige Nachsicht), die zwar mit Schnauzbärten herumlaufen, aber mit Gottes Hilfe

nichts besseres als Kindsköpfe und Gernegroße sind. Dieselben, die Bier trinken — rauche Stumpen und Zigarren -, anhand einer, irgend einer, aber handfesten politischen Überzeugung in fremdwörtergebrauchende Kommissionen hineingelangen — man erkennt sie alle an einem gewissen bescheiden beiläufigen Gebrauch der Wörter Komitee, Interpellation, Rekurs, sie ventilieren die und die Frage, unterziehen einem Augenschein, es scheint bei ihnen nicht der Fall zu sein, sie möchten in einer wohlwollenden oder bedeu-

tungsvollen Weise belieben, unter ihnen gibt es Dinge wie Rückantwort, Proponent, Unterfertigte, Alinea, Physikater statt Psychiater. Manches

Gemüt

übersieht es in Nachsicht,

ein anderer

lehnt die Oberherrschaft solcher Demokratie in dem Augenblick ab, wo sie anfängt, seiner Arbeit gefährlich zu werden, denn gerade die Unmaßgeblichen sind nicht immer auch die Demütigsten; ein allenfalls vorhandener lebendiger Mensch in seinen Mängeln nimmt schon ihre Verwunderung tragisch, fühlt er doch seine Entwurzelung in dieser Welt der Suggestionen, dieser Welt, die dem kleinen Manne gehört. Diesen Pflegern und Inspektoren reicht es gewöhnlich kaum zu viel mehr als zur Beurteilung so zweifelhafter Götzen wie Disziplin und Betrieb und zur Erinnerung an ein fossiles Ideal von Schulmeistern, an dem sie ihr Opfer messen. Freundliche Gäste sind bestenfalls harmlos, und man fragt sich, wozu die kostspielige Anlage problematischer Aufsicht, nur damit die Demokratie gewahrt bleibe in einem Lande, wo keine Monarchen, aber Idole in ihrer Ehre gekränkt werden. Überzeuglingen und Prinzipien sind dem Freien 14

Gefängnisse, dem Bürger aber Festung und Religion. Den schweizerischen Holzboden gerbt die üble Lauge der Opportunität, das bekommt ein im Staatsdienst verquickter Träumer zu spüren: Nützlichkeit, Verwendbarkeit sind das einzige, was die Dinge legitimiert; das Beste ist derweil selten nützlich. Falsch angesehene Pietät — wie vieles ist falsch angesehen! — soll den Zugang zu Mördergruben bedecken. Während es mir zur Pflicht gemacht ist, die Händel und Stinkpfuhle moosiger Jahrhunderte bestmöglicher Vermittlung zu unterziehen, zwecks Erlangung des ewigen Seelenheils, soll ich mich wohl unterstehen, in Gegenwart behördlicher Kontrolle mich über so etwas wie Mißstände rezenter allerheiligster Verhältnisse zu verbreiten; man wird es mir freundlich bedeuten, daß Revolutionäre und Dichter, um den Vorzug der Namhaftmachung zu erlangen, allermindestens gestorben zu sein haben.

Es gibt einen edlen Zweifel, zu dem schon die fortgeschrittenere Jugend anzuhalten ist, Vorsicht vor der eigenen Untrüglichkeit und derjenigen der Allerweltsweisheiten; Ketzereien und Unfug sind ganz einfach im Interesse der freien Bahn auszurotten, wir sind an der Arbeit, Nebel zu lichten und Aussichten klarzulegen. Die Gewaltigen aber wittern Aufruhr. Sie stecken Lehrprogramme und Stundenpläne um uns ab, an denen wir unser Mütchen kühlen und den Atem

verbrauchen mögen, Programme und Pläne, Überzeugungen und Prinzipien, Festungen und Religionen. Wessen versehen wir uns in der Botmäßigkeit von Männern, die mit Acht und Bann über uns herschreiten, wenn wir, um etwas zu nennen,

pazifistischer Privatüberzeugung leben? Ich will nicht gerade behaupten, daß ein Pädagoge mit der Abfassung von Gedichten seinem Ansehen schadet, aber zweifelsohne kann es

als erschwerender Umstand in jederlei Schwierigkeiten von Bedeutung werden, in die er sich etwa verwickeln sollte. Wir anerkennen die Notwendigkeit von Konzepten, auch die der Ordnung, aber wir bedauern die Schwerfälligkeit und Behinderung, mit der sich eine fröhliche und bewegliche Sache wie die Schule in einem Betriebe schleppt, dem es so häufig an Großzügigkeit mangelt, wir beklagen den Verlust der Kräfte, welche die Selbstbehauptung gegen Dünkel und Stumpfheit einsetzt.

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Geschichte in Zeit und Vergangenheit Seitdem sich wieder Weltgeschichte ereignet — in der guten alten Zeit vor 1914 war es doch recht windstill geworden -, kommt uns schmerzlich im eigenen Erleben zum Bewußtsein, was wir früher allenfalls überlegend gemutmaßt hatten: daß die Geschichte in ihren Gegebenheiten und Auswirkungen zwar etwas Komplexes, Endliches, aber nicht deshalb auch Meßbares ist, daß wir also von der Vergangenheit ein in der großen Linie möglicherweise richtiges Bild besitzen, uns darüber jedoch nur unter Voraussetzung einer ansehnlichen Leichtfertigkeit beruhigen können - auf allen Strecken des Herkommens sind gewissenhafte Zweifler an der Arbeit, das Bekannte noch besser zu explorieren. Das Zurückliegende bleibt nicht fest, sondern ist von jeder Gegenwart aus wieder zu revidieren; Dinge, die an der Oberfläche erscheinen, dämmern unserm Auge auf einmal auch unter Wasser der Vergangenheit auf- bevor nicht der Schlußpunkt hinter das Epos gesetzt ist, schwebt es im Ungewissen, hat es noch keine Wahrheit in sich. Aus diesem Grunde ist das Vergangene nicht tot, sondern lebt und verwandelt sich nach Maßgabe dessen, was an der Spitze vorgeht. Die Einsätze, wie sie

liegen, sind gar nichts und alles,jenachdem in der Mitte die Kugel rollt; eine Weile hängt alles im Bedeutungslosen, höchstens der Glaube hat noch eine beschwörende Kraft — die Laune des Schicksals, die natürlich keine Laune, sondern

das mathematische Ergebnis aller Antriebe und Widerstände und im letzten Sinne vermutlich von uraltersher transzendent konzipiert ist, dieses Schicksal wählt und verwirft, ändert die Werte, gruppiert die Leidenschaften um, nur um sie alle fortlaufend aufs neue zu verleugnen — und so verläuft das mit Hindernissen,

dahın und daher, einer Endabrech-

nung zu Gottes oder des Teufels Gunsten entgegen. Was wäre noch weniger berechenbar als die Läufe der Geschichte? Nicht einmal die Menschheitspsychologie gibt eine Führung durch ihre Entwicklung; die genaueste Kenntnis aller ihrer Polaritäten, die minutiöseste Errechnung der Gegenschläge hilft wenig zu prophetischen Festlegungen, die Unzuverlässigkeit von Analogien in historischen Fragen vollends ist zur Genüge erwiesen. Prophetie, selbst die bloße

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Durchdringung des Augenblicklichen scheint nur in den Verbindungen des Mystischen zu gelingen. Was aber fangen wir nun an, die wir da hinauf nicht reichen? Die Erscheinungen an sich sind niemals die Wahrheit, ihre andere Hälfte liegt im Betrachter, sie muß verschieden sein nach den Bedingungen dessen, was er ist, dessen,

was er erlebte und hinter sich hat. Von daher kommt die unheilvolle Verwirrung unter dem Menschengeschlecht. Die Wahrheit zu suchen, ist uns nicht nur ein angeborener Drang; die Notwehr zwingt uns auch dazu, es ist die Orientierung von Schiffbrüchigen, die zwischen Ersticken und Hoffnung dann und wann aus dem Wellengetümmel ausblikken. Allein, es gibt die bare Wahrheit nicht; es gibt höchstens die Wahrheit des dunklen Dranges, doch die ist, wie gesagt, dunkel: Wahrheit sehen die Fanatiker und Einfältigen, aber schon die Vielfalt und Gegensätzlichkeit dieser ihrer Wahrheiten stellt sie in Zweifel. «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» — selbst diese Wahrheit zeigt sich der Welt nur in Auslegungen, die Krieg und Krieg und Krieg nach sich zogen. Vielleicht gäbe es die Übersicht, aber sie liegt über unseren Höhen. Wir tappen uns durch das Dunkel der Täler. Möglich, daß die Ahnung der Genies sich an dem Lichte orientiert, das herüberscheint. Aber die politischen Genies widersprechen einander. Möglich, daß das Fluidum über der Herde sie richtig weist. Aber im einzelnen narrt dieses Fluidum. Die Geschichte der Väter liegt uns einigermaßen bloß, dank ihrem Abstand, dank ihrer verhältnismäBig abgeschlossenen Entwicklung, dank dem Fleiß der Forschung. Die Archive unserer Zeit, die rein sachlichen Umstände dessen, was wir selbst zu beurteilen haben, wer

öffnete uns diese? Wir tragen keine Verantwortung für die Notwendigkeiten der Vorfahren, und doch lägen uns diese begreiflicherweise klarer als unsere eigenen, erst in der Bildung begriffenen Verhältnisse. Was schiert es uns, ob Desmoulins etwas mehr oder etwas weniger recht hatte mit dem, was er von seiner Tonne herunterrief? Aus dem Überblick, den wir gewonnen haben, sehen wir, daß er summa summarum im Recht war. Die Härten, die sich aus der Durchfüh-

rung seiner Ideen ergaben, die Ungerechtigkeiten sind verschmerzt. Für unsere eigenen Anhängerschaften hingegen tragen wir die volle blutige Verantwortung. Mit Hilfe der 19

Abrundung wurde die Vergangenheit vereinfacht, die Dichter taten ein übriges zur Herausarbeitung ihrer Tugenden und Laster. Von nahem besehen sind es keine ausgemachten Bösewichter oder Heroen mehr, welche die Weltgeschichte formen. Die Träger der Vergangenheit stehen vor uns mehr oder weniger zu Recht etikettiert mit allen ihren Werken samt Wirkung und Nachwirkung derselben. In einem gewissen Grade hat sich die Zeit um sie zur Ruhe gelegt. In einem gewissen Grade sind sie Monument ihrer selbst geworden. Die Lebenden — Schöpfer gleich welcher Art — leben von unserem Kredit, den wir ihnen gewähren. Sie vergeben keine andere Bescheinigung als das Feuer ihrer Augen. Ihre Werke entwickeln und wandeln sich. Die Wahrheit der Gegensätze sieht. Der, welchem Toleranz nicht nur eine bequeme Gebärde, sondern Atemluft, die sublimste Form der Freiheit ist,

der hat einen schweren Stand. Die Verwandtschaft der Gegensätze gestaltet die Dinge noch schwieriger. Wie wenig eine Wahrheit, ihre Komplementärfarbe gewissermaßen, wahr ist, beweist die Tatsache, daß diese Gegenteile immer nach einiger Zeit ihrer Unterdrückung in der Geschichte wieder obenauf kommen. Sie haben keine Ruhe im Grabe, sie sind nicht umzubringen, und sie treten immer wieder dort hervor,

wo

die Bedingungen

am

ungünstigsten

für sie zu liegen

schienen. Unter solchen Verhältnissen haben wir zu leben; es

ist uns nicht gegeben, einen Augenblick zu ruhen in dem Platzregen, als der uns das Auftreffen der Zeit erscheint, dieser Zeit, die aus der Unendlichkeit anströmt und welcher

Meister zu werden wir doch die pressante, an Verantwortung ungeheuerliche und nie und unter keinen Umständen nachholbare Aufgabe gestellt bekommen haben.

Opera buffa

PORTIER, bohnert im Morgendunkel den Saalboden. Früh wenn die Sterne krähn, Eh die Hähne erwachen, Muß ich hier unten stehn, Muß die Böden machen.

Böden machen tu ich gern, Lieber als schlafen,

Weil sowieso gestern Die ganze Nacht Gäste eintrafen.

Es istja so bequem Sich nicht ausziehn zu müssen.

Gehen ist angenehm Zirkulationslosen Füßen.

Von Gesetzes wegen Abwechslungsweise Hab ich einen Kollegen. parlando. Aber er hät nu d’Uniform a und isch im übrige Kasserolier. Wir bleiben ja auch fein Sti-hi-i-ille, Weil wir sonst hinausgehein, Ersatz gibt’s die Fülle. Der dieses Lied erdacht Vom frohen Schaffen, Ist der wo die Böden macht, Wenn andre Leut schlafen.

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Einer muß es Ja tun, Morgen oder heute. Und so gibt’s in der Welt denn nun Zweierlei Leute. Die einen sind die Gwöndliche Gmüeter, Die andern sind die Mehbessere Blüeter.

Welches ist der Unterschied Zwischen ihnen?

Die einen tragen den Dreck usen, nid? Die anderen wieder inen.

ZIMMERMÄDCHEN. Jokeb! PORTIER. Herrgottechäferli? O du Liebs, bisch du au scho wider uf dine Herrgottechäferlibeine? I chume; häsch dänk wider e Burdi, wo di schier zumene Fragezeiche chrümmt. Heb di am Täusli! ZIMMERMÄDCHEN. Vergält’s Gott, Jokeb; bisch immer en Bra-

ve gsi und muesch dänn defür emal e hölzigi Frau ha, wenn’d groß bisch. PORTIER. Mammi, wie mängsmal mues i na schlafe bis i törf hürate? ZIMMERMÄDCHEN. Schlaf du solang’d chascht, nachher hät’s sowieso demit gschället. PORTIER. Aber Vreneli, das hett ı nie vo dir dänkt!

ZIMMERMÄDCHEN. Was? Wurum? PORTIER. Daß du scho nümme an Storch glaubscht. ZIMMERMÄDCHEN. Me füehrt’s uf dä Industrierauch zrugg, daß die Sorte Vogel immer meh usstirbt. PORTIER, mit Beziehung auf ihren Wäschestoß. Chröttli, gäll du tuesch da öpedie echli wundernäusle? ZIMMERMÄDCHEN. Me gseht’s wäme nüd lueget. PORTIER. Und us däm Bischpil schlüßischt du uf d’Verhältnis im internationale Eheläbe? Vreneli, Vreneli, da hät dir jetzt aber dini Unschuld wider emal en Streich gspilt. Meinscht du würklich, es göng überall eso hitzig zue wie imene Grandhotel? Wänn

das wär, dänn würdid

d’Manne

vomeselber

ufhöre politisiere. Aber si politisiered na bös, wie Figura 20

zeigt, und das lat druf schlüße, daß si ufere andere Site

tugedhaft läbed, nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kräfte. Sie haued nur uf der Durchreis echli über d’Schnuer, so an ire Abrüschtigskonferenze und etzetera. Drum chunt, wider nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kräfte, a däne Konferenze entsprächend nüt use. Ich glaube efäng, die Herre Abrüschtigsspezialischte würded sälber ztod verschrecke, wänn’s dur irgend en tumme Zuefall nümme drumume chämed, de Chrieg würkli abzschaffe. ZIMMERMÄDCHEN. Wurum eigetli, Jokeb? PORTIER.

Wägerum?

Lueg, Vreneli, da bin ich jetzt über-

fraget. Ich bi sinerzit nu ı di sibet und acht Klass, wie sett ich da chöne wüsse, wiemer’s macht, daß eim’s Ei nüt vertütscht,

wämer’s gheie lat. ZIMMERMÄDCHEN. Me süt’s dänk ichli härt. PORTIER. Hartgsotteni Steckgrind sind’s uf jede Fall, die Metzgermeischter wo setted de Vegetarismus ifüere. ZIMMERMÄDCHEN. Du bisch en Grüsel. Ich glaube jetzt aber glich na an guete Wille mindestens vun e paare. PORTIER. De Präsidänt Wilson isch eine vo dene gsi; aber dä isch usem europäische Raritätekabinett völlig erlediget usecho, und de Henderson haltet’s nu drum eso lang us, wil er enere Rasse aghört, wo di körperlich Ertüchtigung sid Jahrhunderte

betribt. Aber es sell mich nüd wundere,

wänn’s

eines Tages heißt, er heig jetzt uf sim Landguet au agfange Flüge fange. Öppis will de Mänsch schließlich am Schluß vo sım Läbe ı der Hand ha. ZIMMERMÄDCHEN. Vil Lüt finded das Theater iıGämf e Komödie; mir chunt’s je länger je meh als Tragödie vor. D’Fraue setted emal ischrite, s’wär höchschti Zit. PORTIER. Nimm mer’s nüd übel, Vreneli; aber vu säbem

Glaube bini dänn au kuriert. ZIMMERMÄDCHEN. Sid wänn? PORTIER. Sid du mir gseit häscht, wievil dütschi Dame ’s Ahänkerli vum Hitler underem Chopfchüssi vergässed. Bitt fiir uns! ZIMMERMÄDCHEN. Jokeb, du bisch ja de reinscht Pessimischt. PORTIER. ’s git schlimmere Mischt. ZIMMERMÄDCHEN. Wurum wänd’s dänn eifach nüd? PORTIER, mit der Gebärde des Geldzählens. Cherchez la femme.

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Apropos, wil mer grad vu de Fraue reded, Vreneli: Wurum häsch du eigetli nüd ghüratet? Du wärisch doch wie gmacht zum Husmüeterli. ZIMMERMÄDCHEN. I han i miner Praxis echli zvil gseh, Jokeb. PORTIER. Lueg, dänn isch es dir jetzt gange wie mir: Ich bin usem gliche Grund nüd Bundespräsidänt worde. ZIMMERMÄDCHEN. Ja gäll, du kännsch d’Mänsche au.

Schämdi. PORTIER. Me ghört’s wämer nüd loset. BEIDE. Uns macht ihr nichts vor,

Ihr mögt euch zieren, Mit eurem Dekor, Mit euren Manieren. Ihr seid was Besseres, Seid etwas Kesseres Mithilfe von Puder. Sonst seid ihr Luder Und menschliches Tier Genau so wie wir.

ZIMMERMÄDCHEN. Jokeb, es chunt weiß Gott scho so en Grasheuer; ich mues em ja Kafı aneschtelle, ’s Nelli möcht mit sim Pfnüsel nachli im Bett blibe. PORTIER. Mit wem seisch?

DER BERLINER, in Strümpfen, die Bergschuhe in der Hand. Hörense mal, junger Mann, is denn in dem verdeixelten Aquarium noch keene Laus uff de Beene? PORTIER. Läuse pflegen den Aufenthalt im feuchten Elemente tunlichst zu vermeiden, mit Ihrer Erlaubnis —

BERLINER. Bewilligt. Aber sagense mal, kennen Sie denn das in dem Hirtenlande hier nicht, daß das menschgeborene Wesen zum Antritt des Tages sich den Staub von den Schuhen klopft? PORTIER. Nein, dieser Brauch ist bei uns noch nicht eingeführt. Bei uns werden die Schuhe vom Hausknecht, respektive der Hausfrau geputzt. BERLINER. Schön. Kann ich von Ihnen den Weg zu dieser hochmögenden demokratischen Instanz erfragen? Wie Sie

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sehen, finde ich hier noch den halben Lindenhof an meinen

Absätzen. PORTIER. Wir sind in unserem Betriebe auf Hochtouristen eben nicht eingestellt. Drückt auf eine Klingel. Sie wollen heute gewiß den Käferberg machen? BERLINER. Ist das zu erreichen? Wie kommt man da hin? Ist Führer nötig und überhaupt Gefahr? PORTIER. Ein Führer ist immer gut, auch wo keine Gefahr ist. Darf ich Ihnen außerdem einen Propagandaminister bestellen? Dopplet büezt, hebet besser, wie der Volksmund sagt. BERLINER.

Na, kommen

Sie mir bloß nicht mit dem Volks-

mund! Volkpopolos! PORTIER. Roßpopolos. Der Schuhputzer, ein zartes Kerlchen, etwas verschmiert, mit einem

Bürstchen in der Hand, tanzt herein und führt seinen schlafträumenden lieblichen Tanz aus. Zum Schluß mit den Bergschuhen ab. Vreneli trägt Service auf. BERLINER.

Bei uns

draußen,

wissense,

da ham

mer

den

Volksmund aber gründlich abjeschafft. PORTIER. Denjenigen der Hochtouristen auch? Stimmt das oder ist es ein Greuelmärchen, daß sie im Reich die sechzig

Millionen Münder in einen einzigen umgegossen und das Volk inzwischen zu meckern angewiesen haben? BERLINER. Es ist ja doch bloß der Neid, der aus eurem Keyserlingschen Minderwertigkeitsgefühl herausredet— PORTIER. Das ist nun wohl wieder die deutsche Treue, daß ihr ihn, seit er in Doorn sitzt, einen Kaiserling nennt. Im

übrigen: Velofahrer habt ihr, das muß euch der Neid lassen. BERLINER. Nehmen Sie es nur symbolisch, daß Ihnen auch in der Tour de Suisse ein Deutscher den Meister gezeigt hat. PORTIER. Wir nehmen überhaupt alles symbolisch. Auch daß er Geyer heißt. BERLINER. Muskeln, Stahl und Tempo - voila l’Allemagne! Wie lächerlich schneckenhaft geht hier alles in diesem noch

undurchlüfteten Stück Deutschtum! PORTIER. Ja wissen Sie, das hat seinen Grund bekanntlich darin, daß wir eine Hauptstadt haben, die Bern heißt. Sonst wären wir auch weiter.

BERLINER.

Gedulden Sie sich: Großdeutschland 23

1935 wird

auch Sie, obgleich Sie das mit sozusagen nichts verdient haben, in die Glorie seiner Volksgemeinschaft aufnehmen. PORTIER. 1935? BERLINER. 1935. PORTIER, die Uhr ziehend. Wir haben jetzt November. BERLINER. 1935. So lange müssen Sie sich schon gedulden. Da seine Schuhe kommen, setzt er sich.

PORTIER. 1935? Getöse von Kanonen und Maschinengewehren, das zuletzt in frenetisches Ovationsgeschrei übergeht. Man vernimmt RUFE. Heil! Heil! — Nieder mit der Demokratie! — Nieder mit Parlamentarismus und Liberalismus, nieder mit der Korruption! An die Laterne mit allen Pazifisten! — Wir wollen unseren Führer sehen! — Heil! PORTIER, kratzt sich im Nacken. Momol. In den Hintergrund ab.

DER HANDLUNGSREISENDE singt sein Schimpflied.

Durch ihr Spelunkenmaul Atmen die Städte Bier. Höllenhund, grinselnde Götzen: faul Wirtegetier. Haben sie Charon das Leichentuch Aus dem schlammigen Nachen genommen? Ewig bin ich in Lakengeruch Auf meinen Träumetrümmern geschwommen. Ach, sie liefern die Nacht so dünn

Wie ihre Heuchlerbrühe. Fadenscheiniges Schlummergespinn, Schlotternde Morgenfrühe. Rote Nase und Atemdampf Mögen mir lieblich zünden, Wenn ich in hallende Gassen stampf, Meine Narrenbotschaft zu künden. Setzt sich zum Frühstück.

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DIE FRAU VON VIERZIG ist eingetreten, drückt sich dämonisch schleichend in dem Raume umher, ohne den Reisenden zu beobachten, läßt sich schließlich auf einen Stuhl mitten auf der Szene nieder und spricht ihren Song. Ich weiß nicht, was es mit mır ist,

Aber ich kann jetzt auf einmal so nicht weiter. Ich verwende Gewalt und verwende List Und finde das reinlicher und gescheiter Als immer hübsch, wie es immer war,

Seitdem mich im Pensionate Papa in Empfang nahm, Jahr um Jahr So zu tun, als ob alles in Ehren gerate. Es will mir scheinen, ich habe genug, Respektive, ich kann mir nicht länger An alle Tag Alltag, Lug und Trug, Und ich will mich alldem nicht mehr Ich möchte jetzt wieder einmal, nach Wachsblumigen Freundlichkeit, nein: Ich möchte einmal wieder fühlen! Nicht immer nur glücklich verheiratet

genügen

fügen. der kühlen

sein.

Ja, glaubt ihr denn, ich bin ein Stück Talg, Und wie meint ihr das mit der Mutter? Ist das ein Kübel für Kehricht, ein Balg Der Geduld, so etwas wie Butter?

Herrschaften, ihr haltet mich allzuknapp Und plündert doch selber wie Bienen. Schließlich fiele euch auch keine Verzierung ab, Wolltet ihr mich jetzt einmal ein wenig bedienen. Es will mir scheinen, ich habe genug,

Respektive, ich kann mir nicht länger An alle Tag Alltag, Lug und Trug, Und ich will mich alldem nicht mehr Ich möchte jetzt wieder einmal, nach Wachsblumigen Freundlichkeit, nein: Ich möchte einmal wieder fühlen! Nicht immer nur glücklich verheiratet

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genügen fügen. der kühlen

sein.

Was man so sagt, ist recht und gut,

Doch es gibt andere Kategorien. Auf einmal schwemmt ungefragt unser Blut Über alle die Philosophien. Wer weiß denn sicher, daß was wir so

Von Pflicht und Gesetzen sagen, Nicht nur eine Burg ist, in die noch so froh Wir uns ducken, weil wir die Wahrheit nicht wagen? Es will mir scheinen, ich habe genug, Respektive, ich kann mir nicht länger An alle Tag Alltag, Lug und Trug, Und ich will mich alldem nicht mehr Ich möchte jetzt wieder einmal, nach Wachsblumigen Freundlichkeit, nein: Ich möchte einmal wieder fühlen! Nicht immer nur glücklich verheiratet Was aber such ich, warum

genügen

fügen. der kühlen

sein.

bin ich fort,

In meinen Jahren zu schwärmen? Ich hab einen Mann, der in Zeitungen dorrt, Und mich wird nichts mehr erwärmen. Ich will euch sagen, was für ein Galan Mich alte Närrin entführte: Eines Tages blickte der Tod mich an, Er war es, der mich mit Schauern berührte.

Es wollte mir scheinen, ich hätte genug, Oder ich könnte mir länger nicht mehr genügen An immer nur Alltag, Herzensbetrug, An den schönen verschonenden Lügen. Doch es ist jetzt zu spät, nach alle der kühlen Wachsblumigen Freundlichkeit, nein: Wer wird jetzt noch hingehn und fühlen, Statt geborgen und sogenannt glücklich zu sein.

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DER POET mit Blatt und Gänsekiel tritt wolkenwandelnd herein.

Die ihr wandelt in seligen Sternen, Götter Griechenlands, Steht mir bei!

Ihr Guten, wo wend ich, getroffen Von eurer Unsterblichkeit und im Herzen Unstet, und unkundig der Sprache der Menschen, Doch mächtig Edleren Wortes und Hörig der Schönheit Und mit dem Male Des Geistes gezeichnet Auf meiner Stirn,

Und Und Und Von Und

da sie niedrig sind, blind eurer Größe listigen Spott den Söhnen Hesperiens haben, da sie gering sind:

Ihr Guten, wohin soll ich mich wenden? Siehe, Zum Leiden bestimmt Mit dem Male des Geistes, Und edleren Wortes Denn des gemeinen alltäglichen mächtig, Der Schönheit hörig, und unstet im Herzen Suchen sie einsam,

Die Söhne Hesperiens, Suchen sie herbstlich, Ihr edleren Genien, Suchen sie trauernd Philomenens Hain. Denn es vermesse der Mensch

sich nicht...

Setzt sich korrigierend an einen Tisch.

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DER NEUE AHASVER fällt sozusagen auf die Szene. Ich bin der,’der sich fürchtet! Ich irre von Meer zu Meer. Ich bin der, der sich flüchtet,

Ich bin der jüngste Sohn Ahasver! Manchmal haben die Hunde Plötzlich ein scharfes Gefühl Für das Finstere in der Stunde, Es wird ihnen ängstlich und schwül.

Das Der Die Die

Schleichen erschreckt sie Lawine, bevor es sich regt. Schlange weckt sie, sich im Dunkeln bewegt.

Die Und Ich Ich

Erde hat Höhen tiefe Schründe und Meer, muß gehen und gehen, fürchte mich sehr.

Wie Wie Im Im

könnt ihr sitzen, könnt ihr bleiben? Wetterblitzen, Windetreiben!

Ich sah einen König Von Kugeln fallen, Und wenig, wenig Fehlt ihnen allen! Sie gehen auf Stelzen Aus Dolch und Gewehren Und winden und wälzen Die Erde in Speeren.

Sie lassen Tauben Schön sanftmütig steigen. Der Mensch soll glauben Und dienen und schweigen. 28

Sie reisen in Fräcken, Zylindern und Handschuh Und knicksen und lecken Von Thule bis Mandschu.

Und kommen leutselig, Die Professoren, Und reden ölig. Davon wird dann das Kindlein Frieden sah Die armen Narren, Sie meinen es redlich.

Sie haben den Sparren Zu tun, was schädlich.

Sie zappeln am Drahte Und glauben zu wandeln. Im Apparate Stehn andre, die handeln. Ich bin der, der sie fürchtet, Ich fürchte sie sehr. Ich bin der, der sich flüchtet,

Ich glaube nicht mehr! Weshalb muß denn immer, Wenn etwas geschafft ist, Ein Schein und Schimmer Von Hoffnung errafft ist —

Weshalb muß dann gleich wieder einer dran glauben, Und alles ist glänzend für die Katze gewesen? Sie schießen auf Tauben,

Und davon soll schließlich die Welt genesen.

Fehlt es mir denn im Kopf? Seh ich Gespenster? Bin ich der einzige Thomas und Tropf, Und seht ihr nicht auch das Gewitter im Fenster?

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Meisterhaft ist es aufgezogen! Wenn es sich langsam und lautlos braut, Kommt es ih desto prächtigerm Bogen, Wird mit Titanenschlägen laut. Bin ich der Fürchtemacher? Es geht immerhin einiges in der Welt vor! Bin ich der Widersacher? Liegt’s euch nicht auch wie mit Trommeln im Ohr? Zugegeben, ich bin einer, der nicht gerne stirbt. Ich hatte noch allerlei anderes im Programm. Auch bin ich der Meinung, daß man nicht das Leben erwirbt,

Um es vor allem wieder abzugeben, ich bin doch schließlich kein Lamm. Wenn es für wirklich was Ernsthaftes ist: ich schwöre,

Ich werde es nicht einen Pappenstiel achten. Aber nur so um eine obskure Ehre, In deren Namen sie massenhaft schlachten....

Denn sagen Sie: was hat es damit zu tun, Daß leider Gottes die paar Hyänen und Füchse, die offiziell nicht beißen,

Und die es schon immer gegeben hat und allezeit gibt, ım Stillen nicht ruhn, Bis die verhetzten, erhitzten Massen zu ihrem Vorteil sich

wieder zerreißen? Meine Lieben, es gibt sie, die für Geschäfte

Kaltschnäuzig von Gas und Kanonen fachsimpeln, Und Lehrstühle gibt es, fachmännische Kräfte, Die das Ganze mit Philosophie noch bewimpeln.... Erschrickt vor dem LAUTSPRECHER, der herabruft: Achtung, Achtung! In seiner gestrigen Rede vor dem Untersuchungsausschuß über den amerikanischen Waffenexport äußerte der Präsident der Soley Armaments Company, Ball, zu seiner Verteidigung wörtlich: «Der Waffenhandel ist ein Geschäft wie ein anderes...»

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AHASVER. Der Waffenhandel ist ein Geschäft wie ein anderes!

CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften:

Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften!

RUNDFUNK. Es verlautet denn auch, daß aus Kreisen kompro-

mittierter Regierungsmitglieder eine Sistierung des Verfahrens angestrebt wird... AHASVER. Es verlautet denn auch, daß aus Kreisen kompromittierter Regierungsmitglieder eine Sistierung des Verfahrens angestrebt wird! CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften: Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften!

RUNDFUNK. Dem gegenüber stellt der ehemalige Direktor der Militärluftfahrt der USA, Mitchel, folgende Forderungen: Wir brauchen fünfzig große Bomben-Luftschiffe, um Japan angreifen zu können; mindestens fünfzig Militär-Luftschiffe sind nötig, um die japanische Hauptstadt und alle wichtigen Zentren des Inselreiches in Schutt und Asche legen zu können. Wir müssen immer daran denken, daß Japan unser gefährlichster Gegner ist; wenn wir Luftschiffe und Flugzeuge bauen, müssen wir berücksichtigen, daß wir im Falle eines Konfliktes mit Japan in der Lage sein sollten, das Inselreich innerhalb weniger Stunden mit Bomben zu belegen und die militärische Energie des Landes zu vernichten... AHASVER ... in der Lage sein sollten, das Inselreich innerhalb weniger Stunden mit Bomben zu belegen! CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften: Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften!

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RUNDFUNK. Oberst Smooth, Generalstabschef der Truppen von Hawaii, war gleichzeitig Agent der Maschinengewehrfabrik Thompson sowie einer Gasbombenfabrik. AHASVER. Sowie einer Gasbombenfabrik! CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften: Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften!

RUNDFUNK. Die Untersuchungskommission für die Rüstungsindustrie brachte in Erfahrung, daß sich die Federal Laboratories Company und mehrere Flugzeugfabriken dahin geeinigt haben, das Verbot der Waffenlieferungen für den Chacokrieg durch Ausübung eines Drucks auf dıe Mitglieder des Kongresses möglichst zu verhindern. Der Präsident der Federal Laboratories Company, John Young, verkaufte nach Cuba im ersten Halbjahr 1934 Tränengas- und andere Bomben im Werte von 400000 Dollars. AHASVER. Sowie einer Gasbombenfabrik! CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften: Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften!

AHASVER. Such! such! Erwürge den Fluch! Dem derzeitigen Drachen Fahr in den Rachen! Nicht fürchten, nicht fürchten, Nicht Zagheit züchten! Sich selber erlösen, Nicht Dummheit dösen! Ich zerr dich heraus, Du Fratze, du Graus!...

Fährt zurück vor der Erscheinung zweier aalglatter Weltleute, die mit dem Seidenhut in erhobener Hand links und rechts aus den Kulissen hervortreten.

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DIE RÜSTUNGSMAGNATEN.

Hier sind wir. Gefällig? Ihr seht uns gesellig, Mit sanften Gesichtern Und Augenlichtern, Familienväter,

Mehrfache Wohltäter. Wir stiften Denkmäler Und Hospitäler, Wir fördern die Jugend Und jegliche Tugend. Man kann uns nicht nehmen,

Man würde sich schämen. Gut, noch so gern! Meine Herrn: Wir liquidieren. Wir fabrizieren Ohnehin mit Verlust. Nicht gewußt? Aber meine Herrschaften: Wofür glauben Sie, daß wir alles haften! Das ist heutzutage nicht mehr wie weiland. Außerdem sehnen wir uns nach dem Eiland Privaten Behagens. Auch sind wirja leidend. Wir sagen’s Indessen, daß wir jetzt, scheidend

Für alle Weiterungen nicht verantwortlich gemacht sein wollten: Brotlosigkeit und Revolten. Wir haben Sie darauf aufmerksam gemacht. Für heute wünschen wir allerseits eine ruhsame Nacht. CHOR. Sie meinen es nicht böse, Sie machen nur in Geschäften: Erlöse, Herr, erlöse Uns von des Satans Kräften! AHASVER. Und für heute wünschen wir allerseits eine ruhsame Nacht. Schrecklich lachend.

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DER WIRT stürzt heraus. Ja, hören Sie, Sie da; was sind denn Sie für eine fröhliche Nummer? Was glauben denn Sie, was Sie hier für*ein Dach über sich haben? Sie glauben wohl, Sie sind hier in einer Kroatenzentrale, wie? Sie machen mir ja meine Kundschaft noch schwermütig. Jetzt scheren Sie sich aber mit einer Geschwindigkeit von Null Komma plötzlich zu Ihrem höllischen Schutzpatron, wenn ich bitten darf, Sie Knoblauchapostel, Sie Anarch-, Kommun- und Pazifist, was Sie sind. Glauben Sie, ich unterhalte hier mitten in der

Schweiz einen Schlupfwinkel für Schweizer? Wäre Wasser in den See getragen. Ich brauche mein Wasser für den Wein. Bringen Sie Ihre Havasse in Örlikon an, dort gibt es dem Vernehmen nach so ein Etablissement mit dem schönen Namen Werkzeugmaschinenfabrik. Im übrigen kennen wir in der Schweiz das nachgewiesenermaßen und glücklicherweise nicht, es widerspricht unserem

demokratischen,

neu-

tralen und auf allgemein humanistischer Grundlage geschulten Geist, und insofern als es vorkommt, daß Kriegsmaterial bei uns fabriziert wird, tun wir es nur, damit es die andern nicht tun und unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß

es neutrales Kriegsmaterial zu sein hat, das Armbrüstlein garantiert dafür. So stehn die Sachen, wenn wir uns ausnahmsweise in meinem reputierlichen Hause mit Politik befassen sollen. Grundsätzlich vermeide ich es unter Gästen, von denen man ja nie sogleich wissen kann, welcher politischen Konfession sie anzugehören geruhen. Gewiß, auch ich, das darf ich getrost aussprechen, bin für den Frieden; allein, das heißt noch nicht, daß ich mit Pazifisten oder irgend einer

Sorte Abstinenzlern etwas zu schaffen haben will, verstanden. Die wahren Kriegshetzer sind nicht die, welche Munition herstellen, sondern die, welche es ihnen ausbringen. Junger Mann, es ist um den Frieden Europas nicht halb so schlimm bestellt, wie Sie in Ihrer antiquarischen Lebensauffassung argwöhnen,

und selbst wenn,

so stünde

es Ihnen

besser an, sich einen arischen Rückenzwick zu geben; denn für Freiheit und Gleichheit zu sterben ist auch dann eine hehre Sache, wenn es gar nicht um Freiheit und Gleichheit geht. Die Zeiten des Individualismus sind ein für allemal vorbei; Ihr privates Leben, junger Mann, geht Sie einen Kabis an, desgleichen Ihr privater Tod; lassen Sie das ruhig die Sorge der verantwortlichen Instanzen sein, Sie machenja 34

doch keine Weltgeschichte. Machen Sie mir also noch weniger hier eine Allerweltsgeschichte. — Ach, unser junges Glück ist auch schon munter! DAS HOCHZEITSPÄRCHEN, verschlafen, aufgepudert, tritt zur allgemeinen fröhlich-spaßhaften Ermunterung ein, kichert, lacht, scharmiert. CHOR, unisono. Ich bin ja heut so glücklich... .”

AHASVER fluchtartig ab. Vorhang.

Rebellion der Stillen

Ich bekenne mich zu denen, die bis zur Charakterlosigkeit Selbstbeherrschung geübt haben. Das gleiche Gefühl, das mich bisher zu schweigen ermahnte, gebietet mir heute zu reden. Ich will mich dabei geflissentlich über alle Einflüsterungen der persönlichen Bescheidenheit hinwegsetzen und es mir auch verbieten, meine private Bequemlichkeit zu schonen. Wenn ich hier eine Art politisches Bekenntnis ablege, so tue ich es nicht in Überschätzung der Maßgeblichkeit meiner Ansichten, sondern in dem Glauben, daß ich es unserem

Lande schuldig sei. Wer mir die geringe Bedeutung meiner ungefragten Person vorhalten sollte, dem müßte ich antworten, daß ich, wenn

nicht als Geist, doch als Staatsbürger,

jedermann in dem Recht zu reden, gleichgesetzt bin. Meine Natur, die ich mir nicht selber gemacht habe, verweist mich auf stillere Gebiete als die des politischen Kampfes; allein,

nachdem schon demnächst die Steine zu reden anfangen werden, ist es erlaubt, daß ıch das Mittel meines Handwerks in anderer als der mir primär zustehenden Verwendung gebrauche. Meine, wie ich hoffe, gut schweizerische Achtung vor der ehrlichen Überzeugung jedes Mannes forderte von mir das

Verbleiben in den anrüchigen Gebieten der Neutralität gegenüber allen äußeren Parteien. Dieser Dienst ist keineswegs so bequem, wie ihm gemeinhin nachgesagt wird. Der 12. Dezember beglückte mich mit der sichtbaren Demonstration einer inneren

Partei, der ich alle die Zeit, ich will nicht

einmal sagen, ohne mein Wissen, angehört hatte. Wer wird es mir verargen, daß dieser Tag meiner Wenigkeit daher als ein Markstein in der Geschichte unseres Landes erscheint. Mindestens gebietet er mir, jetzt zu handeln, das heißt, denen zu Hilfe zu gehen, denen uneingeschränkt zuzustimmen das Gewissen mich endlich ermächtigt. Die Partei, der zuzustimmen mir möglich geworden ist, dürfte ungefähr das geometrische Mittel der mir bisher am ehesten gemäßen Bekenntnisse auf ihrer ungewobenen Fahne stehen haben. Diese Partei hat am 12. Dezember in nicht durchwegs erstklassigen Vertretern aber summa summarum auf eine Weise zur Öffentlichkeit gesprochen, von der ich mir einredete, daß nun wirklich nur die abgefeimteste Böswilligkeit ihr noch

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mißtrauen könnte. Die «Neue Zürcher Zeitung» hatte von einem Votanten unschmeichelhafte Dinge zu hören bekommen, das ist wahr; ich lebte der Naivheit, ihr zuzutrauen,

daß sie der Gerechtigkeit anderen Rednern gegenüber trotzdem fähig sein würde. So senkrechte, ehrliche und geistvolle Männer wie den Demokraten Maag, den jungen Lehrer Werner Schmid und den stillen Walter Lesch, sagte ich mir,

wird man ohne die handgreiflichsten Brutalitäten nicht umlegen können. Die «NZZ» legte sie samt und sonders wie die ganze Veranstaltung mit Eleganz auf das Schulterblatt. Das Echo in der bürgerlichsten aller bürgerlichen Zeitungen zeigte mir den Umfang der Richtigkeit einer anderen Erkenntnis, der ich bis dahin mißtraut hatte. Es ist lächer-

lich und kommt nicht in Frage, über die Berechtigung der Demonstrationen gegen die «Pfeffermühle» zu disputieren; wer das Programm sah, griff sich an den Kopf, was denn in diesen künstlerisch hochwertigen Leistungen verbietenswert sein sollte. Aber noch angenommen, der Zorn der Jünglinge wäre berechtigt gewesen, indem er sich beispielsweise gegen das Angebot unserer Kinos oder gegen eine so schmierige Sache wie das «Grüezi» gewendet hätte, so verurteilten wir ihre Stahlrutenjustiz. Der heldische Schneid aus Berlin kommt einigen Schweizern lächerlich vor. Oder dürfen wir das im eigenen Hause nicht mehr sagen? Man rede sich doch nicht ein, daß übermäßige Devotion Leute, die es an sich haben, andere essen zu wollen, in ihren

Entschließungen besänftige, das Gegenteil pflegt der Fall zu sein. Wer sich ins Freie begibt, riskiert naß zu werden, das

weiß der unheldischste Lyriker, und ausgerechnet die Kämpen Wallhalls bedürfen nun solcher Schonung. Das schreibe ich abkürzend auch gleich an die Adresse jenes Bürgertums, welches sich in der Verunglimpfung der Terroristen so behagte, dann aber nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihnen pünktlich zu entsprechen, genau wie die starke Mama, die nach vorausgegangenem Lamento hingeht und dem Söhnlein das Trottinet kauft. Was soll unsereins sich für einen Vers darauf machen, daß die Mehrheit in Gemeinden und Kantonen der Erika Mann jetzt einhellig die Türe weist? Zum ersten einmal erglüht man in Schamröte über Schweizerart, und gleich darauf erinnert man sich, wie das Bürger-

tum andernorts die Freiheit zuletzt an den Faschismus ver3%

riet. Noch

bin ich der Überzeugung,

daß es bei uns die

Minderheit ist, der man es zutrauen darf; aber ein Bürger-

tum, dem es in der Entmutigung der Gewalttäter ernst ist, läßt sich das auch etwas kosten. De facto haben die Fronten bereits einen Sieg zu buchen, und es vermehrt nur die Jämmerlichkeit des Anblicks, daß die alten Herren sich ihrerseits ihrer Stärke rühmen. Wem die Kundgebung mit der Tendenz derjenigen von «Geist oder Knebel?» zur «glatten Enttäuschung» geworden ist, weiß Gott, dem sage ich für meine Person schleunigst lebewohl, mit ihm verbindet mich nichts; mir ein Bild von

seiner

«selbständigen

Stellung

zwischen

Frontismus

und

Marxismus» zu machen, dafür fehlt mir die Phantasie. Wer

bei so viel Respektierung persönlicher Gegensätzlichkeit nicht auskommt, der muß einen verdächtigen Standpunkt zu schonen haben. Wer es fertig bringt, eine Stimme wie die Werner Schmids aus sachlicher Andersgläubigkeit ironisch zu bagatellisieren wie der Referent der «N.Z.Z» es tut, der besitzt meine ganze Verachtung. Ihm kann es unmöglich um die weitherzigen Postulate der Demokratie gehen; er hat sich aus der Vereinigung derer, die ihre Parteipostulate vor dem Gemeinsamen des Willens zur Freiheit zurückzustellen verstanden, selber ausgeschlossen. Täuschen wir uns nicht darüber: Die Schweiz wird sich nicht von selbst erhalten — entweder wir eilen ihren umbrandeten Prinzipien zu Hilfe, indem wir uns zu ihnen bekennen,

oder sie versinkt vor unseren erstaunten Augen. Ich behaupte, daß niemand, der vonLiberalismus oder Diktatur, Unfreiheit oder Freiheit, Teutonentum oder Menschlichkeit, Faust

oder Geist das Zweite gewählt hat, es sich noch sehr lange erlauben darf, ein privates Geheimnis daraus zu machen. Es hat sich gezeigt, daß der Einfluß der Schwätzer und Droher zu leicht genommen, die Unverletzbarkeit der Wahrheit, die Macht des Stillschweigens überschätzt werden können. Man hat das Verhalten der Menschheit in der Verdunkelung der Nachkriegsjahre schlecht beobachtet, wenn man nicht um die Verheerungen weiß, welche Angst, Psychose und die numerische Macht in der Welt hinterlassen. Man fühle sich nicht allzu sicher, zeuge vielmehr für das Bedrängte — und bedrängt ist die Geistesfreiheit.

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Presse ohne Kinderstube

Ich weiß nicht, ob es mir allein so ergeht oder ob ich im Namen noch anderer spreche, wenn ich bekenne, daß die bei uns aufgekommene Art der Wahlpropaganda jeden anständigen Menschen in Versuchung bringt, sich melancholisch verekelt von allem, auch von den Entscheiden wegzuwenden. Wenn jeder jeden zum Schurken erniedrigt, welchem sollen wir dann unsere Stimme geben, dem Schurken oder dem, der

als einziger kein Schurke zu sein den Anspruch erhebt? Dieser speienden, fluchenden, lügenden unerzogenen Gesellschaft von Raufbolden aller Lager sollen wir zur Regentschaft über uns verhelfen? Nie wird der erschreckende Zustand des politischen Lebens unter uns offensichtlicher als bei Gelegenheit von Abstimmungen. Es fehlt uns jetzt bloß noch, daß auch die Geschäftspropaganda — Anzeichen dafür sind vorhanden — dazu übergeht, von offener Verunglimpfung der Konkurrenz profitieren zu wollen. In der politischen Auseinandersetzung ist längst mit dem letzten Rest jener Mäßigung aufgeräumt worden, die der tieferen Einsicht, der Gerechtigkeit und Moralität selbstverständlich zu sein pflegt. Der Unfehlbarkeit dieser Leute macht kein Bewußtsein von der Vielschichtigkeit der Wahrheiten das Urteil schwierig. Ist denn die Welt nach der Phantasie eines Schauerromanciers konzipiert, der nur Engel und Teufel sieht? Was für den Künstler Voraussetzung ist, daß er die tragische Verflechtung von Gut und Böse, Recht und Irrtum im

Menschen

erkenne,

darüber

setzen

sich Politiker mit

entweder skrupelloser oder dann dummer Forschheit hinweg. Die Freiheit des Christenmenschen geht nicht so weit, daß er im Straßenbahnwagen spucken und Maulschellen austeilen darf; es hat mit Pressefreiheit nichts zu tun, daß

wir, als Leser und Staatsbürger, die Forderung auf Anstand unter Zubilligung aller sachlichen Entschiedenheit stellen. Es gibt da Dinge, welche einfach verboten und strafbar sein sollten, billige Witzchen mit Personennamen beispielsweise, um ein ganz harmloses Beispiel zu nennen. Man wirft solche Zeitungen plötzlich ekelnd von sich. Niemand greift gern in Spucke. Soll man wirklich glauben, dal3 diese Presse ein Publikum und Einfluß auf die Gestaltung der Dinge besitzt? Nur ein Erzpessimist wird daran zweifeln, daß eine Sache,

39

die sich anders als durch die Wahrheit oder doch die Bemühung darum nützen will, nach der allem Schein gewährten Frist in sich selbst zusammenfällt. Die Weltgeschichte wird nicht ganz nur vom Menschen gemacht. In Sorge um dieses Volk, das von Wölfen umlagert, sich in Parteihader zerfleischt, möchte man die Gewalt haben, es zur Erkenntnis

seiner Lage zu bringen: «O Freunde, nicht diese Töne! sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!» Wenn das im Geknall der Pressekampagnen zutagetretende Wildwest unsere ganze Wahrheit ist, dann gehen wir schlimmsten Ereignissen entgegen, die uns nicht von außen, sondern aus eigener Verschuldung kommen. Wir haben Leute unter uns, die das einsehen; aber sie wollen die Volksge-

meinschaft mit der Hilfe von Stahlruten und Schlagringen aufrichten. Müssen die Prüfungen von außen kommen, um uns von unseren Kleinlichkeiten abzubringen? Sollen wirkliche

Feinde

uns

lehren,

was

wir

am

Bruder

haben?

Ist

Diktatur das einzige Mittel, die Presse in Schranken zu halten, oder haben wir die Erziehung, uns ihrer mit Anstand zu bedienen? Entscheidendes wird davon abhängen.

Spielregel Kein eigentlicher Bewunderer der Boxkunst, finde ich doch, daß wir auch in der geistigen Auseinandersetzung so etwas wie Spielregeln einzuhalten hätten von der Art derjenigen, die den Kämpfern gebietet, sich nach kleinen Mogeleien wie auch am Ende jeder Runde auf eine Startlinie zurückzubegeben. Wir kämpfen wie Hunde verbissen und verkrallt, ohne Möglichkeit zur Selbstbesinnung und Gerechtigkeit, es hagelt auf uns und selber hageln wir auch, kein Mensch zählt unsere Strafpunkte, nur der Widersacher vergilt sie uns mit gleicher Münze; schließlich, in all den zerdroschenen Augen und

Nasen

und

Zahnreihen,

soll ein

Mensch

sich noch

auskennen; in einen wohlfunktionierenden Magen zu hauen ist wirklich, auch von höheren Gesichtspunkten aus betrachtet, nicht fair, irgend eine gute Stelle wird an unserem bestgehaßten Feinde doch sein, wir aber lassen ihm sehr bald keine einzige mehr, wir brauchen ihn hundertprozentig gemein, über die Unmöglichkeit des Vollkommenen nachzu20

denken,

wie gesagt,

erhalten

wir nicht die Zeit, denn

hagelt, wir hageln, ihr hagelt. Und mich immer von Herzen gerührt: daß einem Händedruck auseinandergehen! den Chefredaktoren des «Volksrechts» cher Zeitung» erlebte!

es

noch ein Anderes hat die Kontrahenten mit Daß ich das noch von und der «Neuen Zür-

Geistige Landesverteidigung Geistige Landesverteidigung? Das ist ein Wort, das oft, aber doch wohl meist nur mit ungefährer Vorstellung in dieser Zeit der Verwirrungen gebraucht wird, und es dürfte berechtigt sein, auf seine konkreten Forderungen hin einmal gefragt zu werden. Wir alle haben das unmittelbare Bewußtsein dafür, daß,

nach der materiellen und geistigen Verflochtenheit der Dinge, eine Sache wie das Vaterland nicht allein und nicht einmal primär von seiner erscheinungsmäßigen Seite her zu behandeln ist; wir wissen aus der Geschichte zur Genüge, daß die Überentwicklung zum Stofflichen auf Kosten des Auftriebes aus der Idee den Untergang aller irdischen Formen bedingt: auch ein Vaterland kann ausschließlich mit Bajonetten in der Verteidigung nicht gehalten werden; das Vaterland ist, wenn es mehr als eine Interessengemeinschaft darstellt, nicht ein bloßes geographisches Gebiet, das mit einem hinlänglichen Einsatz äußerer Mittel verteidigt werden kann; es hat Leben und Tod in sich nach dem Stand seines Geistigen, abgesehen davon, daß der Schutz einer nur materiellen Gemeinschaft sich völlig erübrigt, nicht wünschbar erscheint. Nun ist es aber nicht so, daß das Geistige einer Nation diese aus seiner Kraft in allen Fährnissen bewahrte;

der Leib muß natürlich intakt bleiben, aber größer und grundsätzlicher als die Gefahr von außen ist die des Siechtums aus dem Innern, und die Verletzlichkeit dieses Innern

ist gewiß ebenso groß wie die einer einzelnen Seele. Es braucht nicht dargelegt zu werden, welchen Angriffen die Landesseele heute ausgesetzt ist. Man kann sich dem gegenüber so verhalten, daß man die eidgenössische Idee, die Idee der Freiheit, vertrauensvoll ihrer eigenen Kraft überläßt;

durch Beobachtung derjüngsten Geschichte und erwägend, #1

daß eine Idee sich eben nur nach Maßgabe der menschlichen Erkenntnis auswirkt, kommt der Nachdenkliche dazu, sich um die Zukunft unseres Landes Sorgen zu machen. Vieles Unmögliche ist möglich geworden, wir haben uns über den Standort der Menschheit bitter getäuscht, wir sehen uns vor. Die Erde wankt im Gigantenkampf, den Fortschritt und Reaktion, Freiheit und Knebelung, Geist und Barbarei miteinander austragen. Der Ausgang vor der Ewigkeit ist uns nicht fraglich, wohl aber der vor der Zeit, für die uns die Verantwortung gegeben ist. Diese Verantwortung hat eine Richtung nach dem Nationalen und eine nach dem Menschheitlichen; unsere Möglichkeit der Wirkung geht vom ersten aus. Es ist erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit wir für die ganz einmalige Situation der Schweiz in dieser Zeit haben; es erweckt manchmal den Eindruck, als ob, zum Nachteil der Welt und unserer selbst, alles verpaßt und verwartet, über den Sorgen und Händeln des Tages der große Sinn unseres Landes vergessen würde. Ist es denn so, daß wir Erfinder und Spezialisten politischer Freiheit aus historischer Dekadenz die Witterung in Dingen der Freiheit verloren haben? Nicht allein, daß die große Mode antidemokratischer Propaganda — von rechts und von links — bedenkliche Verheerungen im politischen Bewußtsein unseres Volkes oder doch seiner Vertreter angerichtet hat; es ist nicht leicht, einer Weltpsychose gegenüber auf die Dauer seine Unabhängigkeit zu bewahren, nicht jedermann hat die Überlegenheit, aus Kenntnis der Geschichte treu zu bleiben — wir lassen überdies das Feld unserer europäischen Verpflichtung sozusagen völlig unbestellt. Wo sind die Bodmer und Breitinger, die großzügigen Staatsmänner des nachkommenden Liberalismus, die ihrer Menschenfreiheit dadurch die tiefste Rechtfertigung gaben, daß sie sie in den Dienst der europäischen Wahrheit stellten? Sie riskierten den Zorn aller Machthaber und verschafften ihrem Ländchen ungewollt Ehre und Geltung. Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren; wir retten uns vor der Geschichte bestimmt nicht anders als dadurch, daß wir den Mut zu uns selbst, zu dem, was wir historisch geworden sind, bezeigen, keinesfalls mit Anpassung an alle Welt, Rücksicht auf alle Welt; wir sind, vielleicht durch Genf,

ein wenig zu weltmännisch, durch die materiellen Schwierig42

keiten allzu nachgiebig geworden. Es ist einmal nicht abzuleugnen, daß wir durch unsere Staatsverfassung das sind, was offiziell heute schlecht im Kurse steht, nämlich polynational, humanistisch und pazifistisch. Darin stehen wir, soviel ich weiß, einzig und in aller Bescheidenheit gesagt beispielhaft da; wir sind im Kleinen ein verwirklichter Völkerbund, die Gewähr dafür, daß es das gibt; wir sind in der Hochburg unseres Gebirges geradezu ein Refugium der ganzen zerborstenen und verschollenen Weltauffassung, die nach dem Weltkrieg Sehnsucht und Hoffnung der Völker geworden war; sie ist ihnen noch einmal gründlich zerschlagen worden. Wir sind all das aber nur noch bedingt, auf Zusehen

hin, je nachdem,

was

wir daraus

machen.

Wir

haben zuzulernen, die Augen offen zu behalten; der Weg zur Freiheit geht von Falle zu Falle, sie kommt mir vor wie ein Gegenstand, von welchem im Lauf der Jahrtausende Hülle um Hülle genommen wurde, sie besteht in letzter makelloser Reinheit bei weitem noch nicht und nirgends. Wo sind die Männer, welche die versprengten Einheiten des Kampfes um eine bessere Weltordnung sammelten und organisierten, der Weltordnung, die uns besser als die auf Kanonen und Knute begründete entspricht? Niemand sieht auch nur die Notwendigkeit einer deutsch-europäischen Zeitschrift ein, für welche die Schweiz allein noch das Forum sein kann — hoffen wir es denn allein zu schaffen, können wir auch nur eines einzigen Kombattanten entraten in der zunehmenden Verdüsterung über den Kontinenten? Wahrlich, es zeugt von wenig Selbstbewußtsein und Glauben, wenn wir das Feld so billig abtreten. Wir müssen uns dessen bewußt sein, daß unsere ganze Art sich in der Defensive befindet. Wir stärken sie schwerlich dadurch, daß wir die Requisiten der Väter, Halbarte und Morgenstern, mit dem Fabrikations-Armbrüstchen

schablonieren;

wenden

wir

uns

zu-

nächst einmal gegen die Gefahr aus der eigenen Denkfaulheit, gegen grassierenden Materialismus, gegen das spezifisch eidgenössische Übel, das Handgreifliche auf Kosten der geistigen Unwägbarkeiten zu überschätzen: Ein Stand von Verantwortlichen muß aufgerufen und zur Erkenntnis der Stunde gebracht, der Persönlichkeit muß wieder Geltung verschafft werden in der Stickluft der Verleumdung, der Krämerei; die Autarkie in der Autarkie muß Raum geben,

43

wir müssen

miteinander reden, uns gegenseitig ein wenig

Kredit schenken, die materiellen Besitzer müssen um Gottes-

willen einsehen, daß nur die Kultur, das Fluidum geistigen Bewußtseins;

nicht eine Fortifikation aus Bankhäusern

ein

Land legitimiert und am Leben erhält, die Kategorien alles Geistigen müssen an Einfluß gewinnen, sofern wir uns nicht auf die Seite der Dinosaurier schlagen wollen.

Zum Thema

Was ist uns Grund, heute so besonders und mehr als jemals auf die Notwendigkeit geistiger Landesverteidigung zu dringen? Man beginnt, und wir dürfen Entscheidendes davon erhoffen, im Schweizerlande einzusehen, daß auch eine Na-

tion nicht vom Brot allein lebt, eine gute Handelsbilanz ihre Existenz nicht garantiert. Jeder Leib ohne Geist zerfällt, ein politisches Gebilde ohne tragende Idee hat den Untergang in sich. Diese Idee ist nun fraglos unserm Staatskörper immanent und lebt hierin besser als davon, beschwatzt zu werden;

darüber freilich, daß unsere Demokratie keineswegs so makellos dasteht, wie es dem oberflächlichen Blick oder dem

Genügsamen erscheint, dürfen wir uns wohl Gedanken machen. Es gehört zur geistigen Landesverteidigung, daß wir nicht unbesehene Behauptungen, sondern Leistungen in die Welt setzen, politisch und kulturell. Geistige Landesverteidigung wird noch auf lange hinaus, bevor sie sich gegen einen äußern Gegner zu wenden hat, bei uns intern beschäftigt bleiben. Kulturpropaganda, von Ministerien ausgehend, riecht unseren Nasen zu sehr nach schlechtem Gewissen. Das aber trifft zu, daß der Unselbständige, in den Wirren und Leiden seiner Spanne Zeit, der Suggestion und ebenso leicht dem Irrtum verfällt, historische Übergangserscheinungen für neues Gesetz zu nehmen, und hier ist Belehrung am Platze; Festigkeit und Selbstvertrauen aus gutem Gewissen waren noch immer die besten Bollwerke. Geistige Landesverteidigung ist Ermöglichung der nationalen Selbstgestaltung, politisch und geistig. Geistige Landesverteidigung wendet sich deshalb, noch eher als Gegner äußerer Einflüsse,

die einem gesunden Organismus wenig anhaben können, gegen den Feind im Innern: gegen Eigennutz, Heuchelei, 44

Denkfaulheit. Die differenzierteren Disziplinen, deren Möglichkeiten im Kleinstaat nach Gesetz der Proportionalität zusammenschrumpfen, sind in der unfreiwilligen geistigen Autarkie auf die Einsicht der Verantwortlichen angewiesen. Es müßte der Nation eine gern erfüllte Ehrenpflicht sein, Leistungen, die das Ausland heute verweigert, im eigenen Interesse zu übernehmen.

Fur unsere Arbeitslosen

Der Schweizer im besonderen hat eine leidliche Sucht, das

Fremde vor dem Eigenen zu bevorzugen. Das gilt für Hosenknöpfe ebenso wie für Bücher, Theaterstücke und Ferienkinder. Wir haben viele und berechtigte Teilnahme für die Not aller Emigranten und Kriegsopfer, verfallen aber so leicht in den Fehler, darüber die weniger auffälligen Unglücklichen der eigenen Gemeinschaft zu vergessen. Die im Wirtschaftskriege Verwundeten und Gefallenen, unsere Arbeitslosen, erheben nicht Anspruch auf die Gloriole von Freiheitskämpfern und sind es doch so oft in einem übertragenen Sinne durchaus. Um Hab und Gut gekommen durch den Verlust ihres Verdienstes, tragen sie nicht nur die Demütigung bestenfalls eines Almosendaseins,

sie stehen

überdies

in der

Fremde einer Vereinsamung, deren Schrecken nicht greifbar, daher um so drückender sind. Es ist auszurechnen, daß die

Lage eines Arbeitslosen — von einigen geborenen Faulenzern reden wir nicht - sich im Seelischen weit verheerender noch als im Leiblichen auswirkt. Sich zu betätigen, ist ein Grundbedürfnis, ja das Leben des Lebens; welche metaphysische Art des Leidens und der Eifersucht muß in der Seele dessen überhandnehmen,

der, schuldlos

abseits der Wirksamkeit

geschoben, die Brüder an ihre Arbeit, zum Verdienst und seinen Annehmlichkeiten gehen sieht! Kein Wunder, wenn er in der Verbitterung seiner Muße die abwegigsten Dinge spinnt. Es ist schon eine fast übermenschliche Leistung, in seinen Verhältnissen die tägliche Geduld und Beherrschung zur Verträglichkeit aufzubringen. Ihn tröstet kein heroisches Bewußtsein, er hat wenig Teil an den Sensationen unserer bewegten Zeit, und doch trägt er ihr typisches Schicksal in den unsichtbaren Reihen der Millionen, die warten, schon 45

beinah nicht mehr hoffen, vergessen hinweggehen werden. Was können wir, an welche die Not der Zeit noch nicht so

sehr herangetreten ist, für diese Verkürzten tun? Das Geringste und Billigste: Ihnen in jeder Form bedeuten, daß wir ihrer gedenken. Oft ist es weniger das harte Herz als unsere Gedankenlosigkeit, was uns lieblos macht; darum begrüßen

wir planmäßige Aktionen, durch die versucht wird, größere und die weit ergiebigeren vielen kleinen Quellen der Hilfe zu erreichen. Es ist schon so, daß der Arme dem Armen beiste-

hen muß; er allein weiß aus der Erfahrung, wie es sich in der Haut des Bedürftigen lebt. Seine Gabe hat auch nichts Erniedrigendes, weil sie nicht vom Wohlmeinen, sondern aus dem Verständnis kommt. Niemand hat ein Anrecht darauf, von der Planke, die noch einen Bruder trägt, dem Ertrinkenden zuzusehen; man verlangt nicht das Leben von uns, nur das Scherflein, das unseren Kräften angemessen sein dürfte. Das Wenige Vieler wird wohl ausgeben.

Neutralität

Die freisinnige Parteileitung hat eine Warnung in Hinsicht auf die Geldsammlungen zugunsten der spanischen Freiheitskämpfer ergehen lassen. Täglich, wenn man jene gewisse freisinnige Presse liest, schlägt einen das Beleidigende ihrer Berichterstattung ins Gesicht. Haben wir so etwas wie einen spanischen Gesandten in der Schweiz? Was sich der Mann wohl denkt, wenn er sieht, wie offen etwa das Leibblatt unserer Bundesräte sich auf die Seite der Insurgenten stellt? Die «Neue Zürcher

Zeitung», die immer auf Recht und Gesetz pocht, vergißt oder übersieht fröhlich, daß sie es bei der spanischen Regierung immerhin, ob gern oder ungern, mit einer rechtmäßig, nicht einmal unter Druck gewählten Behörde zu tun hat. «Im Lager der Aufständischen» ist ihre unvermäntelte Position, die Meldungen der Regierung folgen beiläufig, in Kleinschrift, den Schwanz macht ein Anhang von Greuelmeldungen nur über die bösen Roten. Wir wollen von empfindungsmäßiger Parteinahme einmal ganz absehen, das Ding in aller Laienhaftigkeit, da die Fachleute so schlimm entgleisen, von seiner rechtlichen Seite 46

und das bescheidentlich nur mit Bezugnahme auf uns selbst betrachten: Wo soll es mit einer Republik enden, deren «Offentlichkeit» nicht nur sachlich den Kampf auf Leben und Tod einer Republik sabotiert, sondern auch formell die Voraussetzung der Republik, die Gültigkeit von Volksentscheiden verleugnet? Man greift sich an den Kopf und glaubt sich verhört zu haben, allein es ist schon so, diese Herren bekennen sich heute offen zu ihrem Willen, nicht die Staats-

form der Freiheit, sondern jene x-beliebige Staatsform zu retten, unter welcher Latifundien an Land oder Banknoten

gesichert erscheinen. Gottfried Keller, Dichter und Staatsschreiber, sammelte Geld und Waffen für den polnischen Freiheitskampf. (Ach so, das ıst etwas anderes!) Wir sehen nicht nur, in der Vorsichtigkeit, an welcher Europa zugrundegeht, dem Todeskampf der Freiheit untätig zu, wir schweigen noch obendrein zu den Schandtaten im eigenen Lande. Trauer und Verachtung.

Der Fall Muhlestein

Das erste Opfer des schweizerischen Faschismus ist bereits gefallen. Es ist kein geringerer als Hans Mühlestein. Ich hatte keine Gelegenheit, die Verhandlungen des Divisionsgerichtes zu verfolgen, aber ich war zufällig bei dem strafbaren Vorfall zugegen und kann bezeugen, daß die Anklage eine rein lächerliche Sache ist. Mühlestein hatte in Zürich-Oerlikon an einer Kundgebung zugunsten der legitimen spanischen Regierung mit dem bekannten Feuer seines Idealismus gesprochen. Wir warteten nach Schluß mit seiner Frau auf den belagerten Referenten. Er kam schließlich mit vielen Entschuldigungen für die Verspätung, verursacht von der Interpellation durch einen jungen Arbeitslosen, der ıhm den Wunsch nach Spanien zu fahren vorgetragen hatte. Das war damals noch vor dem bundesrätlichen Erlaß betreffend die Reisläuferei nach Madrid, so daß ich mich frage, durch welche Umstände der Vorfall heute unter Strafe gestellt werden kann. Ich erinnere mich genau, daß Mühlestein mit einigem Bedauern davon sprach, dem jungen Manne, dem er aus dem eigenen Idealismus heraus nichts anderes als Idea47

lismus zutrauen konnte, nicht besser raten und helfen gekonnt

zu haben.

Es war

die Zeit, da viele von

uns

sich

fragten, ob es erlaubt sei, in seinem Lande geruhlich Iyrısche Verse zu schreiben und sein tägliches Brot zu essen, statt dem Heldenkampf der Freiheit zu Hilfe zu eilen. Wir, die wir in Gewissensbissen die Byronsche Versuchung verspürt haben, stellen uns einhellig mit unserem Bekenntnis zu dem Verurteilten, von dem wir wissen, daß er seine Maßregelung

mit der erlaubten Überlegenheit hinnehmen wird. Die Gelegenheit, dem unbequemen Revoltierer, dessen Ausfälle wir gewiß nicht in ihrem ganzen Umfang decken, eins auswischen zu können, ist von unseren «Patrioten» gerne und bald ergriffen worden. Zu allen Zeiten hat es das lebendige Leben mit den ungefährdeten Hütern der Überlieferung zu tun bekommen, das ist so in der Ordnung, genau wie der Umstand, daß es ihnen vor dem Lauf der Geschichte nichts hilft.

Aus Mühlesteins Handlung eine «Schwächung der Wehrkraft» herauszulesen, ist so an den Haaren herbeigezogen, daß sich die Diskussion erübrigt; wenn die gewissen Herren, was zu befürchten stand, die bundesrätlichen Verfügungen einseitig nach einer Richtung hin zu mißbrauchen gedenken, dann

sind noch

Vertreter der Demokratie

ım Lande,

die

ihnen auf die Finger schauen und im Interesse der Demokratie nichts unvermerkt durchgehen lassen werden. Für meine Person bin ich nicht wie Mühlestein Marxist, sondern ganz unzeitgemäßer-,

altmodischerweise

Demokrat; doch glaube

ich nicht an die Demokratie im Heroglas, und wenn ich für meine Sympathie zwischen politischem Pharisäer und der Unruhe

des Rebellen

zu wählen

habe, dann

brauche

ich

mich nicht zu besinnen. Lieber Mühlestein, kindsköpfischer Feuergeist, Sie gehen, wenn es dazu kommt, ein wenig für viele von uns ins Gefängnis. Wir weilen in Gedanken bei Ihnen. Die Vorstellung, daß ein Mensch Ihres Geistes zu den Sträflingen gesteckt worden ist, hat etwas für Ihre Richter vernichtend Erheiterndes an sich und zwingt zum Vergleich mit der Groteske der übrigen europäischen Rechtszustände, in welchen Geist nicht für, sondern gegen den Delinquenten spricht. Daß wir nun auch so weit sind, hat uns tief erschreckt; es verpflichtet uns, die weiteren Versuche der laten-

ten Barbarei im eigenen Lande wachsam zu verfolgen und gegen den Maulkorb aufzustehen, bevor seine Schnallen 48

geschlossen sind. Das Kassationsgericht, das über Ihren Fall noch zu entscheiden hat, besteht hoffentlich aus Männern von Größe.

Das Urteil gegen Dr. Hans Mühlestein rechtskräftig Hans Mühlestein muß seine Stimmkarte abgeben und nach St. Maurice. Wir könnten uns damit abfinden, wenn auch alle andern, die am Untergang des schweizerischen Vaterlandes erfolgreich arbeiten, in das Urteil mit einbezogen

würden: Gewisse Patrioten der Politik und der Wirtschaft.

Präzisierung

Mein Kommentar zur endgültigen Verurteilung Dr. Hans Mühlesteins ist manchenorts mißverstanden worden in dem Sinne, daß man eine Art Widerruf daraus herauslas. Ich kann das allenfalls von dem Verurteilten selber verstehen,

dem es in seiner Lage natürlich schwer gemacht ist, solche Auslassungen anders als bitterernst aufzunehmen. Die Worte «wenn auch alle andern, die am Untergang des schweizerischen Vaterlandes erfolgreich arbeiten» meinte ich mit ironischer Beziehung auf die Denkweise der Richter. Ich glaubte in meinem früheren Text unmißverständlich genug Partei genommen zu haben, um mir den schmerzlich sarkastischen Ton erlauben zu dürfen; da es wohl möglich ist, daß in den Gemarkungen der Politik eine andere Sprache als die der Dichter gilt, bleibt mir nur, des bestimmtesten zu wiederholen, daß meine Auffassung über den Fall Mühlestein sich höchstens in der Weise verändert hat, die Hoffnung auf einen Rest von Gerechtigkeit in dieser Sache auch noch zu verlieren. Hätte die Glosse deutlichkeitshalber so wie sie gemeint war in Anführungszeichen gestanden, so wäre wohl niemand auf den Irrtum verfallen, die Wendungen «auch» und «erfolgreich» meiner eigenen Gesinnung zuzutrauen.

49

Unsere Presse

Es gibt Schweizerblätter, die von der spanischen Regierung abkürzend nur als von den «Roten» sprechen. Sie machen sich die Sache nach nördlichem Muster leicht. Wir hätten nichts dagegen, daß die «N.Z.Z.» einmal auch den Brief eines

hohen

deutschen

Militärs

abdruckte,

wenn

dieser

Mann die Schnoddrigkeit seines Umgangs ablegen und sich an die in Demokratien noch erlaubte Genauigkeit halten wollte. So redet er in der Sache Spaniens nur von «bolschewistischem Verbrechertum»,

«bolschewistischen

Schlächte-

reien» und «bolschewistischen Brandstiftern». Wir rechten nicht mit ihm, wir rechten mit diesen schweizerischen Zei-

tungsleuten, die auf Grund ihrer Bildung natürlich sehr wohl wissen, daß der spanische Bürgerkrieg etwas Originaleres als nur eine Filiale der russischen Revolution ist. Kein Mensch auf den Redaktionen unserer bürgerlichen Blätter glaubt im Ernst daran, daß Spanien so viele Bolschewiken hatte, ein Jahr gegen die Spezialisten des Krieges, die Militärs, standzuhalten; dagegen wissen sie, daß das, wenn es zuträfe, in diesem klassischen Lande der Ausbeutung seine guten Gründe hätte. Empörender als die Demagogie von Leuten, dieja die wahren Absichten ihrer Entstellungen längst nicht mehr verhehlen, häßlıcher als die Maske eines Imperialisten ist die Unwahrhaftigkeit unserer Krämer, denen es um viel mehr als ihre investierten Kapitalien in dieser Frage nicht geht. Es ist schmerzlich zu beobachten, daß ein Mann von der Sach-

kenntnis im Historischen und dem feinen Geiste Nationalrat Dr. Albert Oeris in seinen «Basler Nachrichten», nur weil sie das Blatt der Oberen Zehntausend dieser Stadt sind, dem

Tone höhnischen Triumphs Eingang gewährt: «Wie dem auch sei, der Krieg ist für die Roten verloren.» So etwas liest man ohne Verwunderung nur in der gleichgeschalteten Presse von Diktaturstaaten. Möglich, daß der Krieg auch für die Roten verloren ist; aber er ist es dann nicht minder für die

mit Todesmut ringenden Enterbten und Entrechteten, verloren einstweilen zugunsten der Großgrundbesitzer, Bankiers und der landbesitzenden Kirche, und in solchen Zusammen-

hängen zu frohlocken, steht einem Angehörigen der wohlbehüteten Schweiz über die Maßen schlecht an. Derselbe Artikel enthält den unglaublichen Satz: «Daß es Franco 30

nicht zusagen kann, in eine vollkommen zerstörte Hauptstadt einzuziehen, liegt auf der Hand, und im übrigen hätte er es schon längst tun können, wenn ihm daran gelegen wäre.» Solches Großsprechertum ist uns von den Schulbuben und den «Führern» her bekannt. Nein wirklich, Franco hat bisher vor Madrid nur Boccia gespielt.

Die beiden Spanien

Möglicherweise ist es der verdiente Lohn, daß die Parteilosen es in dieser Zeit schwerer als alle anderen haben. Sich einer politischen Kirche zu verschreiben, müßte süß wie die Flucht in Mutters Schoß sein. Die Selbständigkeit gegen Revolutionäre zu bewahren, ist heute verfänglicher und erfordert mehr Selbstverleugnung, als nach rechts nein zu sagen. Das einstmals königliche Attribut Idealist hat den Dolchstoß der Lächerlichkeit bekommen. Unter der Jugend, die sich bekanntlich frühe übt, gibt es das beliebte Spiel, dem Ahnungslosen ein Fetzchen Papier an den Rücken zu heften: «Ich bin ein Esel.» Gegen die Wirkung daraus ist ihm nicht wieder zu helfen. Es hat sich neben dem der Naivität (Demokrat — alter Sekundarlehrer) aber bereits ein anderer Sinn des Bekenntnisses zur Demokratie herausgebildet: der des unscheinbaren Mutes, der aussichtslosen Treue. Es pflegen nicht immer die schlechtesten zu sein, die dem Neuen mit

Skepsis begegnen. Oft sind es die, welche zweifelten, als es noch ketzerisch war. Nicht jeder ist ein Dramatiker, der die Weltgeschichte nach der Vereinfachung Himmel und Hölle, Erzengel und Satan zu sehen vermag. Verflucht die Stunde der Versuchung, wo auf einmal ein Zug der Menschlichkeit in die Züge des Antichrists kommt. Insofern als die Vergangenheit übersichtlich vor uns liegt, ist es vielleicht nur mit Hilfe der Täuschung aus dem Abstand ermöglicht. Nun, die großen Verläufe werden ersichtlich bleiben und auf die Lage des Kommenden weisen. Jeder von uns ist heute im höchsten Grade verantwortlich; das ist es, weshalb wir, gegen die eigene Bequemlichkeit, unsere Haut auf Märkte tragen, die wir vordem nicht besuchten. Der Wagenführer der alten Zeiten durfte sich weitgehend auf den Instinkt seines Tieres a

verlassen; den am Volant sichert keine erkannte Richtung vor dem heftigen Schluß, wenn er einnickt. Ich wiederhole es immer aufs neue: es ist Sorge um unser Land, die mich zu reden treibt. Es braucht keines Prophetentums, die Gefahren zu sehen, ich bilde mir nichts darauf ein zu sehen, was viele sehen. Am Ende sind wir, die wir schreien, bloß die Schwächlicheren, die zu schweigen nicht

ertragen. Leistung und Heldentum sind möglicherweise bei denen, die die Not dieser Zeit in sich verarbeiten. Was wissen

wir über Spanien? hielt ein Freund wohlmeinend meiner Absicht zu diesem Sonderheft entgegen. Weiß Gott, ich kenne sie, die vexierende Art der Wahrheiten. Allein, dürfen

wir uns beruhigen bei der Tatsache, daß ehrlicher Glaube, heilige Aufopferung in allen Lagern vorkommen? Das darf ein Schafhirt, Schuster, usw. Als ob die zerrissenen Kinder

Guernicas nichts als Politik wären! Dichter bleibe bei deiner Herzallerliebsten, die vergasten Frauen Harrars sind Politik! Ich schreie Protest gegen die Leichtfertigkeit, zu tun, als läge Spanien auf dem Mond. Ich schreie Protest dagegen, daß man die Stadtverdunkelung zu einem Volksgaudi macht. Damals klangen die Gläser bis über Mitternacht hinaus. Ein Dichter entsetzt sich über den Romantismus dieses Volkes. Ist ihm die Welt zum Kino geworden? Haben die hundert Jahre Frieden es in die Sicherheit gewiegt zu glauben, das Nervenkitzelnde, das man vom Polstersitz aus auf der Lein-

wand verfolgt, bliebe in alle Ewigkeit «jenseits von uns»? Es ist nicht der Angsthase in mir, der das fragt, es ist der, den

die Möglichkeit solcher Frivolität empört. Wie oft, und zum Teil gewiß verzeihlicherweise, redet man sich hierzulande mit dem Spruch von «Heiri was Hans» aus der Sache. Wir brauchen zu keinen unverbindlichen Behauptungen Zuflucht zu nehmen, um zu sagen: In Spanien ist nicht Heiri was Hans. Geschichtlich ist dort nicht Heiri was Hans, auch

wenn hüben und drüben Dinge vollbracht werden, die uns nicht freuen. Ohne die «Stimme des Herzens», die verschieden berät, über Gebühr ernstzunehmen, dürfen wir uns doch

jener Intuition anvertrauen, die aus dem Born des Unterbewußten mehr als aus dem kleineren des Bewußten strömt. Bei den meisten von uns ordnet das Unterbewußte ja richtiger als das Bewußte. Irre ich in der Meinung, daß im Schweizervolk Hoffnung zu Franco (und diese vor allem 32

materieller Herkunft), Begeisterung der Liebe aber zum Volke hält? Doch, über Spanien wissen wir objektiv allerhand. Wir wissen nicht allein über die Zusammenhänge mit Zinkund Quecksilberminen, nicht allein darüber, daß sein Rebellengeneral Schub um Schub Afrikaner, Spende um Spende italienischer und deutscher «Freiwilliger» benötigte, um — bis auf den Tag nicht mit dem überrumpelten Haufen militärischer Laien fertig zu werden, der da nicht einverstanden war. Ich erlaube mir, daraus entscheidende Schlüsse zu ziehen. Ein Mann, der uns versichert, daß er lieber zwei Drittel des Volkes ausrotten, als ıhm seinen Marxismus erlauben wolle, erscheint mir hausbackenem Demokraten als ein sonderbarer Nationalist und Volksfreund. Welche Ideologie rechtfertigt die leibliche Vernichtung ihres Objektes? Keine, denn wenn es eher stirbt als sie anzunehmen, läßt es

der Inquisitor an der schuldigen Geduld mit ihm fehlen. Demokratie

müßten

ist die unansehnliche

dafür

Verständnis

Politik der Geduld;

aufbringen.

Die

wir

rechtmäßige

Mutter des salomonischen Gerichts trat ihr Kind lieber ab,

als daß sie es aufteilen ließ. Sich aufzuopfern hat nur der Angegriffene ein Recht; nun aber besteht auch darüber kein Zweifel, wer die sozial weiß der Himmel nicht übermäßig radikale spanische Volksregierung (Volksregierung durch legales Mehr der Abstimmung) tätlich angefallen hat. Ein wenig sehen wir in der Beurteilung einer Sache auch deren Freunde an. Dies nun geht lediglich aufs Gefühl: das moderne Heroengebaren stinkt mich an. Nicht als Marxist, der ich nicht bın, aber als Demokrat

und Schweizer kann ich die

Herren Diktatoren aus Herzensgrund nicht ausstehen. Sie sollen uns mit ihren hochtönenden Worten kommen. Wir wissen nachgerade, was deren Sinn ist. Ach, mir klopft unser konzilianter Außenminister auf die Achsel. Ich lächleja auch nicht mehr über Völker, die sich knechten lassen, ich lächle

nicht mehr, seit wir im eigenen Lande nichts gegen das Demokratiewidrige vermögen, das hier geschieht. (Ignorierung von Volksbeschlüssen, Parteilichkeit in der Verurteilung von Spanienfahrern, Mißbrauch des Postgeheimnisses, Begünstigung der Aufständischenpropaganda, voreilige Anerkennung des abessinischen Raubes, Schwanken unserer Botschaft in Spanien). Und da bin ich nun bei den Zusammenhängen. Es geht uns selber sehr an, wenn wir, als eine

33

der letzten Demokratien, so weit sind, dem Verteidigungskampf einer werdenden ohne brüderliche innere Anteilnahme zusehen zu können, wenn wir, was schlimmer ist, den Vernebelungsmanövern gar zu verdächtiger Regie erliegen und uns das Urteil mit den Schlagworten anderer erleichtern. Ein rechtlicher Mensch sieht nicht zu, wie die Urteilsschwachen mit Böhlimännern und Popanzen verhetzt werden, wo eine Sache weit über den Tag und seine Begleitumstände hinaus in ihrer Linie verfolgbar ist. Wie ich es drehe und wende, es bleibt mir unerfindlich, wie ein demokratisches Volk sich auf die Seite der summa summarum Großgrundbesitzer, Bankiers, Monarchisten, Militärs und Her-

renpfaffen schlagen sollte. Gut, es gibt in Spanien, und nicht ganz zufällig, Bolschewiken — sind sie schlimmer als die Usurpatoren, welche das Sengen und Brennen nicht mehr nötig haben, weil sie seit langem am Ruder stehen? Es gibt schöpferische Kapitalisten, auch heute noch; aber es gibt ungleich viel mehr Krämer und Spekulanten, heimliche Usurpatoren, die mit Vorliebe edle Begriffe wie Vaterland und Religion zum Schild ihrer Machenschaften nehmen. Sie täuschen uns hoffentlich nicht auf die Dauer. Sie täuschen uns auch nicht über Spanien. Ein Volk von der liebenswürdigen Intelligenz des spanischen, ein Volk, das seine Kunst hervorgebracht hat, ist kein Volk von Banditen, und dieses Volk hat in den Schützengräben gewiß nicht die Zeit, sehr über die Paragraphen seiner künftigen Staatsform nachzudenken; es weiß nur eines aus dem Todesmut seines Herzens: nicht wieder die Knechtschaft der überstandenen Jahrhunderte. Ich stehe hier einer literarisch-künstlerischen Zeitschrift vor, und dessen eingedenk, redlich genug, mich in den Grenzen meiner Kompetenzen zu halten, überlasse ich die politisch-wirtschaftliche Beweisführung Zuständigen, indem ich auf unsern paar Blättern das Zeugnis der Künstler anrufe, zum Beweise dafür, daß nicht nur Museenschänder auf der Seite jener Ringenden stehen, die voll Entsetzen auf die Gleichgültigkeit der Welt blicken. «Alles, was etwas wert ist, wiegt und von Bedeutung ist im Felde des Schrifttums, der Wissenschaften und der Künste», sagt der Spanienkenner, dem ich für seine Förderung dieses Sonderheftes zu Dank verpflichtet bin, «steht auf der Seite der Regierung, der

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Volksfront, und gegen die aufrührerischen, vaterlandsverräterischen Militärs», und er belegt die Behauptung. Wem Gewährsmänner nichts bedeuten, der lese doch immer nach, was ein Genius wie Goya, seines Zeichens ein Hofmaler,

damals schon hinter der Fassade des weltlichen und kirchlichen Herrentums erblickte — nicht viel anderes als etwas früher der große Franzose Caliot. «Los desastres de la guerra» nennt Goya seine Mappe, «Les miseres de la guerre» heißt die von Callot. Die Zeichnung des problematischen, aber unbezweifelbaren Genies Picasso entstammt einer Kartenserie, welche demnächst zugunsten der französischen Spanienkinderhilfe herausgebracht wird. Der Schweizer Max Hunziker hat in Blättern von schlichter Größe für das leidende Spanien bezeugt. Wie hängen sie alle diesem schon legendären Lyriker Federico Garcia Lorca an, der, von den Phalangisten erschossen, in der Liebe des Volkes nun wahrlich als «in einer Wetterfahne begraben» ruht, nämlich immer in der Strömung. Da unsere bürgerliche Presse sich nicht genug tun kann darin, die anarchistischen Bilderstürmereien auszumalen, ist es vergnüglich, etwa in der «Hora de Espana», einer vorbildlich aufgemachten Monatsschrift, um die wir die Bolschewiken beneiden, von der Liebe und Umsicht zu lesen, mit welcher die Schätze des Prado aus dem Bereich der Gefahr geflüchtet wurden. Was zum Chauvinismus die Anlage hat, ist gerade das, was sich als Hüter der Kunstwerke aufspielen soll. Der Geschmack alleroberster Chauvinisten ist uns bekannt, wir mischen uns nicht in

Politik, indem wir das sagen. Die Zeit ist jämmerlich und groß zugleich, der spanische Freiheitskampf das sichtbarste Abbild davon, und es wird schon erlaubt sein, am Jahrestag des Brudermordes einmal das mühsam bewahrte Schweigen zu brechen und die Stimme gegen diese Mehrheit bürgerlicher Schreiber zu erheben, welche sehr wohl erwägen, was mit der Hilfe täglicher Wiederholungen vor einem Volke zu erreichen ist. Wenn sie, in bewußter Spekulation auf das selbst in Linkskreisen überhandnehmende Mißtrauen gegen Rußland, von der Volksfront frischweg nur als von den «Roten» reden, dann ist das von einer kaum mehr glaubhaften Frivolität. Von jeher war es das Wesen des Bürgertums, daß es, in Dingen der Kunst genau so wie gegenüber der Geschichte, die Größe immer 33

erst dann anerkannte, wenn sie historisch geworden war. Dann freilich nahm es ungesäumt auch das Monopol darauf und gab sich für deren Beschützer aus. E)

Es geschehen Zeichen... Wahrlich, ich sage euch: Die Regierung eines Kleinstaates, die ihren Stolz so weit vergißt, daß sie heute die Sanktionen der Großmächte zugunsten Abessiniens, morgen deren Ungnade mitmacht, indem sie des afrikanischen Fürsten klugen Protest glaubt unter den Tisch wischen zu dürfen, hat unser Vertrauen verwirkt. Identifiziert sich das Schweizervolk mit solchen Gebärden der Großmannssucht, mit solchen Symptomen politischer Heuchelei, die unserem Wesen fremd ist? Eigentlich, fällt mir auf, fangen die Volksabstimmungen an, bei uns selten zu werden.

Die schweizerische Neutralität Ergebnis einer Rundfrage

Wir haben einer Reihe kompetenter Persönlichkeiten nachstehende Rundfrage unterbreitet, aus welchem

Grunde, ist

darin gesagt. Wir glauben, die durchschnittliche Ableitung aus den Antworten in einem Satze aus Fritz Fleiners «Schweizerisches Bundesstaatsrecht» zusammenfassen zu können, wobei wir freilich gestehen, daß der Kern unserer

Frage nach wie vor im Ungewissen schweben bleibt. Wenn uns angeraten ist, uns der Diskussion europäischer Fragen zwar nicht zu enthalten, sie aber mit Takt zu betreiben, so

bleibt der gute Wille des Partners, unseren Takt als solchen zu empfinden, immer noch ein nicht zu berechnendes Relativum. Unser Jahrhundert der emotionellen Politik, der Politik des absolutistischen Einzelnen, genießt eine gewisse erfrischende Unmittelbarkeit und Unverstelltheit der geschichtlichen Vorgänge. Was immer vom Standpunkt des Völkerrechtes oder aus der persönlichen Überzeugung heraus dagegen zu sagen ist, Hitlers Unbekümmertheit, ihm faul Erscheinendes mit einem Fauststoß über den Haufen zu werfen — Kristallisationen von Versailles! — hat neben anderem auch 36

etwas von dem Ansprechenden und Einleuchtenden des Natürlichen an sich. Es ist vielleicht nicht zum kleinsten Teil dieses volkstümlich Elementare, in seinem Wesen Künstleri-

sche etwa der nationalsozialistischen Bewegung, was vor der ermüdenden,

vexierenden,

hierarchischen

Mathematik

der

Geheimdiplomatie unter den Völkern Anhang findet. Diese Völker schnappen nach Ozon in der Stickluft des europäischen Mißtrauens, des europäischen Spekulantentums, das solche Riesentriebe wie Kreuger und Stavisky auf Kosten der Ahnungslosen getrieben hat. Alles Künstlerische hat etwas Laubhaftes an sich. Darf gesagt werden, daß die breiten Massen das Künstlerische vor allem in seiner Form als Kitsch annehmen? Die Weinkrämpfe der Diktatoren gehen den Frauen zu Herzen, die Einfachen billigen die Wahl von Spitzweg zum Nachteil Barlachs. Was uns an dieser Stelle beschäftigt: Wie gefährlich sind Europa die Weinkrämpfe der Diktatoren! Im Gottesgnadentum ihrer Impulsivität kehren sich die Künstler-Politiker unserer Tage an Verträge ebensowenig wie an die Freiheitsgesetze menschheitlicher Diskussion. Der Völkerverkehr hat etwas eigentümlich Privates angenommen. Man trifft mit seiner Liebe oder seinem Haß nicht mehr die Anonymität eines Staatsgedankens, sondern das ein wenig eitle, von Zweifeln nicht unangefochtene, daher auf Lob erpichte repräsentative Künstlerherz. Das Herz, welches, durch keine parlamentarischen Verumstän-

dungen behindert, über das Schwert in der Hand gebietet. Die Luftschutzgardinen sind ein Novum unseres Inventars geworden. Thema

Hochverehrte

Herren!



Unser

aller Gewißheit,

daß

die

Zustände im heutigen Europa grauenhaft zu nennen sind, hat in einem Artikel Thomas Manns dieser Tage befreienden Ausdruck gefunden. Dem fühlenden und denkenden Menschen ist das Leben in dieser Zeit beinah unmöglich geworden. Reden wir von den handgreiflichsten Dingen, denen der Politik. Es führt uns sogleich zum Thema. In welchem Maße nämlich dürfen wir von diesen Dingen reden? Wie reden wir von dem, was

uns auf dem Herzen

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brennt, wie reden wir

etwa von Spanien ohne schon demnächst mit den Strafparagraphen der dringlichen Bundesbeschlüsse in Konflikt zu geraten? Im strengsten Sinne des Wortes sind gewiß wenige von uns neutral geblieben in den Händeln dieser verworrenen Welt, und, Hand aufs Herz: könnte ein Mensch es sein, darf

er es sein, und welches sind die Grenzen der geistigen Auseinandersetzung, die nicht überschritten werden sollen? Das ist die Frage, die ich Ihnen, hochverehrte Herren, vorlege in der Absicht, Ihre maßgebliche Aufklärung de Öffentlichkeit zu vermitteln! Diese Öffentlichkeit besitzt gewiß so wenig wie ich persönlich in ihrer Mehrheit genaue Erkenntnisse darüber, ob unsere historische Neutralität nur

in ihrer Anwendung auf das Militär oder in Verfolgung der Konsequenzen auch beispielsweise für die Presse verbindlich gemeint sei. Abgesehen von der Tatsache, daß der unbeschränkten Meinungsäußerung auch bei uns bereits die Axt an die Wurzeln gelegt ist, rechtfertigt sich eine Klarlegung der Verhältnisse im Interesse des öffentlichen Lebens durchaus. Es liegt auf der Hand, daß Neutralität oder ihr Gegenteil nicht erst bei den Kanonen beginnt. Kanonen gehen ja nie von selber los. Haben wır also zu den Problemen, welche die Welt bewegen, zu schweigen? Führt diese Neutralität, ein

Postulat

der

Menschlichkeit,

Staatsklugheit

ebenso

in ihrer Auswirkung

wie zu

einer

höheren

Sklavenvorsicht,

Opportunismus, Unmündigkeit? Nimmt sie die Verantwortlichkeit von uns, macht sie das Mitdenken überflüssig, oder, was schlimmer wäre, verweist sie uns auf das zweifelhafte

Gebiet der unverbindlichen dialektischen Spekulation? Dann verwünschte ich sie, denn sie wäre der Untergang der Nation. Ich sähe in ihr die Ursache unserer berüchtigten «Verschweizerung». Verlangt man im Ernst von mir, daß ich «neutral» dabeistehe, wenn ein Gassenbengel den Schwächern verhaut? Wer darf solches von meiner Rechtlichkeit verlangen? Wer darf es in der Demokratie der Menschenfreiheit? Die Rücksicht auf das Allgemeinwohl? Es trüge den Kern der Verderbnis in sich. Geht es auf dem Wege der Abstraktion, unter Vermeidung des Beispiels? Er führt vom Boden der Tatsachen ab. Da wir die Neutralität aber wollen, aus Staatsklugheit und Menschlichkeit, bringt sie uns in die schmerzlichsten Gewissenskonflikte. Welches ist die Handhabung der Neutralität? 36

Banausen am Werk

Während die Welt sich mit Recht über die Vernichtung spanischer Kunstgüter aufregt, geht durch Deutschland eine zweite kalte Revolution, diesmal nicht gegen Marxisten und Juden, sondern gegen die «kulturbolschewistische» Kunst, und niemand hat dafür mehr als ein paar spaßhafte Worte des Kommentars übrig, während in Tat und Wahrheit ein Autodafe über das arme Land geht, gegen das die Welt aufstehen müßte. Nachdem in München das «Haus der Kunst», ein Säulenbau ä la Parthenon (im zwanzigsten Jahrhundert!) mit großem Bombast eingeweiht wurde, bei welcher Gelegenheit Künstler wie Lovis Corinth, Kokoschka, Paula Becker-Modersohn in einer Sonderausstellung von «entarteter Kunst» mit der Bezeichnung «Schweine» vor der deutschen Öffentlichkeit am Pranger zu stehen hatten, eröffnete man in der Eifel eine Kunstschule unter dem Patronat ausgerechnet des Herrn Generaloberst Hermann Göring, und gleichzeitig begann eine «Säuberungsaktion» im öffentlichen und privaten Kunstbesitz, mit der Absicht, ihn nach dem Geschmack des weiland Dekorationsmaler Adolf Hitler zu frisieren. Das Schicksal der verfemten Werke liegt ganz in der Hand des Herrn Generalobersten.

Es ist auszurechnen,

was ihnen bevorsteht. Solange die Haudegen bei ihrem Fach blieben und Politik machten, durften die Künstler schwei-

gen; da sie ihren Germanengeist nun auch in Bezirken walten lassen, für die wir zuständiger sind als sie, hätten wir einmütig unsere Stimme gegen sie zu erheben. Es rächt sich heute, daß die Geistigen keine Weltgewerkschaft herausbildeten, deren Wort sogar Staatsmänner nicht bagatellisieren könnten.

So haben wir zuzusehen, wie Barbaren sich über

jene Kunstproduktion hermachen, welche dadurch, daß sie über den Niederungen von Akademismus und Kitsch stand, gerade den Geist des Lebendigen vertrat. Nirgends manifestiert sich der Instinkt des Faschismus so deutlich als Reaktion wie in seinem Fanatismus für Marmor und Abendrot. Die lahme Nachahmung, die öde Wald- und Wiesenpoesie von Pinsel und Feder des Spießbürgers tritt ihr molluskisches Regiment nun gar mit staatlicher Protektion an. O geschlagenes Jahrhundert!

39

Offener Brief an Jakob Schaffner Sehr geehrter Herr Jakob Schaffner! - Es ist Ihnen in Zürich, anders als in Ihrer Vaterstadt Basel, zu reden nicht verboten

worden; in Benützung der Ihnen zugestandenen demokratischen Rechte sei es erlaubt, Ihnen auf Ihre Ausführungen auch mit einigem Widerspruch zu antworten. Wenn Sie den einhelligsten und spontansten Applaus unter Ihrem großen Auditorium mit der Erklärung ernteten: «Nun, meine Freunde habe ichjetzt hier!» so gestatten Sie die Feststellung, daß ich mit meiner Wenigkeit, und ich befand mich darin gewiß nicht allein, die Gemeinde jener Ihrer Freunde in dem Saale vertrat, die es ablehnen, eine jahrzehntealte Verehrung des

Dichters um des Politikers willen von heute auf morgen über Bord zu werfen. Diese Kapriole, auch wenn sie modern ist, mache ich nicht mit; ich machte sie bei Hamsun

nicht mit

und mache sie beim Dichter des «Johannes» nicht mit. Dabei teile ich freilich nicht Ihre Ansicht, daß die Echtheit Ihres

Dichtertums die Richtigkeit Ihrer Dialektik verbürge. Dagegen spricht schon allein die Tatsache, daß andere Dichter von eben dem «Ahnungsvermögen», auf das Sie sich in unrichtiger Anwendung ein wenig zu viel zugute tun, zum Gegenteil Ihrer Konklusionen gelangt sind. Der Zufall wollte es, daß ich eine Stunde vor Beginn Ihres Vortrages noch die neueste Broschüre Thomas Manns las. Dieser Dichter ist auch nicht einer von jenen, die nur mit Registermark ein wenig hineingerochen haben; allein er scheint ein anderes Deutschland als Sie gesehen zu haben. Ahnungsvermögen. Reden wir zunächst nicht von Deutschland, reden wir von dem, was uns eher angeht, von dem, was bei uns selber nicht Wohlgeruch ist. Sie haben, Jakob Schaffner, sozusagen alles aufgezählt, was einigen von uns anderen an den Zuständen im Vaterland ebenso verhaßt ist. Nicht allein jener Saal voll mehr oder weniger jugendlichen Frontisten weiß um die faulen Stellen unseres Staatskörpers. Bei Gott, Sie haben zu fünf Sechsteln Ihres Vortrages wie ein Kommunist geredet, es klang mir bekannt ans Ohr in diesem Saale, in welchem nur die Fahne gewechselt werden muß wie ein Vorzeichen vor der Relativität der Wahrheiten. Sie haben die Dinge mit der Apartheit des dichterischen Wortes beim Namen genannt, nicht ohne Entgleisungen in seine unmittelbare Nach-

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barschaft, die Drastik der Demagogie, wie noch zu belegen sein wird. Es gehört zum Sektierer, daß er auf seinen Kummer nicht wenig eitel ist. Sie, verehrter Jakob Schaffner, reiten da herein mit Neuigkeiten, von denen Sie sich einbilden, daß sie nur aus dem Aspekt einer reineren Welt gewonnen werden konnten. Sie spielen den liebenswerten Prinzen, der, seine empfindliche Dichterhaut riskierend, in die Dornburg der Schlafenden eindringt, um sie zu erlösen. Wenn

Ihnen die Heimat nicht, wie Sie sagen, eine Insel im Südmeer ist, dann wissen Sie doch hoffentlich auch ein wenig darum, daß es noch einige außer Ihren helvetischen Parteigenossen gibt, welche den Kampf gegen Krämergeist, Ungeist, Spekulantentum, Monopolismus, Opportunismus entschlossen aufgenommen haben. Diese Art «Front» geht mit ihrem Schützengraben zickzackig durch alle Lager, redliche Jugend gibt es bei Demokraten, Kommunisten,

Sozialisten,

Jungbauern, Jungliberalen so gut wie bei unsern Nationalen, die darauf brennen, die Volksgemeinschaft mit der Hilfe der Stahlrute einzuführen. Sie haben, Jakob Schaffner, das Schreckbild der bolschewistischen Revolution über ihrer heldischen Versammlung heraufbeschworen und Beifail damit geerntet. Sie haben das engelreine Antlitz des Dritten Reiches dagegen gehalten und Beifall damit geerntet. Ich, der ich hergekommen war, Sie vorurteilslos anzuhören, erinnerte mich ebenso vorurteilslos an die Umstände eines Volkes, das

aus jahrhundertealter Knechtung erwacht, und ich hätte überaus gerne in dem Augenblick Ihr dichterisches Ahnungsvermögen tätig gesehen, das Verhalten eines solchen Volkes ein klein wenig zu verstehen. Iwan hatte sein Sichelmuster von feudalen Stiefelabsätzen aufgestempelt bekommen.

Es war gewiß nicht schön, was Iwan tat; aber er tat

doch nur, was Sie ein paar Sätze Ihrer Rede früher den Monopolisten nicht minder herzlich versprochen hatten: sie unter

dem

Absatz

zu zertreten,

«daß

es knallt».

Mit der

Humanität der deutschen Revolution möge man uns lieber nicht kommen; wir haben noch nicht darüber schlüssig werden können, was wir zu unserer Bedienung vorziehen sollen, offenen Kampf oder den Stacheldrahtschleier von Konzentrationslagern. Angenommen noch, Sie seien in Deutschland mit der Sanierung der Wirtschaftsformen so weit fortgeschritten, daß

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es allfälligen Bonzen verunmöglicht ist, sich Villen auf Capri zu kaufen: dies vorausgesetzt, was ist wirtschaftliche Freiheit ohne geistige Freiheit? Gewiß nicht das bessere zweier Übel. Von den eigenen Verhältnissen wenig erbaut, haben wir einstweilen keine Veranlassung, Sie um Ihre deutsche Freiheit zu beneiden. Das schon gar nicht, und es ist gerade was uns erbittert, daß Sie, unsere

Überheblichkeit

tadelnd, in

unserer Mitte ein Beispiel propagieren, das anzuzweifeln wir alle Berechtigung haben. Zwar warnen Sie vor der bloßen Nachahmung; das sei Ihnen ausdrücklich angemerkt. Allein wie sieht schon die Rechtfertigung dieser Mahnung aus! «Aus dem eigenen Blut und Boden» sollen wir uns erneuern. Made in Germany. Nicht alle schwatzen Ihnen das so kritiklos nach wie jene Versammlung Ergriffener, welche in Beifall tobte, als Sie Ihren Spaß vom dienenden Gelde aufgetrumpft hatten. Sie wissen so gut als ich, daß der naivste Phrasendrescher noch nicht behauptet hat, das Geld an sich vermöchte zu dienen. Sie aber ernten Jubel mit der Plattheit, zu sagen: Man trage doch einem Goldklumpen auf, eine Fabrik zu bauen! Mich hat die Ahnungslosigkeit dieses Beifalls ebenso erschreckt wie Ihre Genügsamkeit, ihn einzukassieren. Tragen Sie Ihrem «Arbeitsvolk» auf, eine Fabrik zu bauen! Es wird Sie zwingen, sich mit dem Ungefähren Ihrer Unterscheidungen ein wenig mehr abzugeben. Es wird sich erweisen, daß die Wahrheit vielschichtiger ist, als wir sie aus dem Munde politischer Dogmatiker kennen. Wenn Sie aber, was Sie natürlich tun, zum Arbeitsvolk auch den sich plagenden Ingenieur, den schöpferischen Menschen überhaupt rechnen, dann dringen Sie ins Gebiet vor, wo Sie es naturnotwendig mit dem Gelde zu tun bekommen. Bauen Sie dann ohne Geld eine Fabrik! Nachdem wir in unserem interessanten Jahrhundert so ziemlich alle möglichen Staatsformen zum Vergleich beieinander haben, dürfte es augenfällig geworden sein, daß bei dem Stande der menschlichen Art die idealste Gemeinschaft die Mängel des Individuums an sich aufweist: also auch, in Potenz, den unschönen Hang zum Materialismus. Ich bin der letzte, ihn beschönigen zu wollen; ich wehre mich lediglich dagegen, daß er als Auswuchs der demokratischen Staatsform dargestellt wird. Die Demokratie

ist auch, aber nicht bloß «eine Geldwirtschaft

mit aufgeklärter Phrase». Eine Demokratie ist so entwick-

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lungsfähig wie etwas anderes. Chaque me&daille a son revers. Die Diktatur hat das ihre. Sehr geehrter Herr Jakob Schaffner, wir haben Sie gehört, wir haben Ihnen widersprochen; die Anwendung von allem soll uns ermuntern, unbekümmert um Lob oder Tadel von außen an uns zu arbeiten, mit «Initiative» und «Referendum», für die Sie nur Spott und Hohn übrig haben, ein

Maximum von Gerechtigkeit zu erzwingen. Ein Kind in Freiheit zu erziehen, ist schwieriger und unänsehnlicher als Drill mit dem Beistand der Knute; allein, nur in Freiheit wächst es nach seiner Natur, aus seinem «Blut und Boden»,

wenn Sie wollen — wir haben auf keine Hellebardiere gewartet, welche die Lebensnotwendigkeit unserer Väter in uns knüppeln: die menschenmögliche Freiheit. Über unsere Gefahren haben Sie uns sehr viel Zutreffendes und Kluges gesagt, für das wir Ihnen Dank wissen!

An den Mann, der den Hut nicht abnahm

Gewiß bin ich nicht der einzige, den es drängt, Ihnen für Ihre stille Erklärung, durch die Sie halbwegs anklagen, halbwegs sich entschuldigen, teilnehmend im Geiste die Hand zu drücken. Sie bringen Ihr privates Schicksal um seines symbolischen Gehaltes willen mit Recht vor die Öffentlichkeit, ohne große Hoffnung freilich einer Erscheinung gegenüber, die auch im Lande der Freiheit, im mißverstandenen Namen der Freiheit, Macht gewonnen hat. Sie übersahen die Nationalfahne aus Verträumung in persönlichem Herzeleid und wurden dafür gemaßregelt von Leuten, die sich neuestens Wunder was auf ihre Form des Chauvinismus zugute tun. Es ist noch nicht sehr lange her, daß wir derlei Vorfälle, da sie uns aus Berlin oder Rom gemeldet wurden, mit überlegenem Lächeln beurteilten. Damals sahen wir Schweizer die Fahne noch als das, was sie ist, als Symbol einer Gemeinschaft, zu der man sich bekennen durfte ohne

Verpflichtung zum Fetischismus eben dem Symbol gegenüber. Das Tödliche der Faschismen sahen wir gerade darin, das Sinnbild über die Sache, die Idee über die Person zu

stellen. Im Raum unserer grundschweizerischen humanistischen Toleranz

war

ein Unfall des Privaten, wie er in so

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tragischer Weise Ihnen widerfuhr, aus der Idee heraus unmöglich. Uns deckte sich die Idee vom Ganzen mit der Idee vom Bürger; für die Faschismen hebt die eine die andere auf. Gewiß war eine Verdeutlichung der Gesten in dieser Zeit der Gefahr erlaubt und notwendig; allein es tritt nun die sonderbare, auch anderwärts beobachtete Erscheinung ein, daß der

Angegriffene das Gesicht des Angreifers annimmt, Dinge, zu deren Abwehr wir antraten, zu unserer eigenen Gewohnheit werden. Hierin scheint eine ganz eigentümliche, luziferische Gesetzlichkeit zu walten, vor der wir auf der Hut sein müssen. Ich denke jetzt an mehr als nur den Vorfall mit der Fahne. Wer ein Leben lang für die Interessen der Heimat eintrat, den erschreckt im Innersten die Form von Erfolg, die

ihm heute beschieden ist. Riskieren wir mit Bewußtsein den Tadel der Materialisten von rechts und links in der heute wieder völlig anders begründeten Sorge um die Idee der Schweiz, die uns wohl zur Vaterlandsliebe verpflichtet, überspitzten Nationalismus aber, chauvinistischen Dünkel und Gewalthaberei als ihrer Absicht entgegengesetzt in sich ausschließt.

Ansprache zum Abschied eines Hauptmanns gehalten gelegentlich des Kompanieabends einer Territorialeinheit

Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten!

Den Auftrag, an diesem Abend ein paar Worte zu sprechen, fasse ich so auf, daß ıch versuchen soll, das Erlebnis unserer

dreimonatigen Gemeinschaft in einem Querschnitt darzustellen, und zwar aus dem Aspekt des einfachen Soldaten. Persönlich entlaste ich dabei auch ein wenig mein Gewissen; denn ich gehörte zu den Stillen im Lande, die zur allgemeinen Erheiterung beizutragen leider nicht die Gabe hatten. So mache ich denn hier Auslegeordnung wenigstens über die militärischen meiner Betrachtungen, die anzustellen ich mir etwa die Zeit nahm. Was ist das Wesen dieser sonderbaren Situation, durch welche die Männer eines Landes aus Familie und Beruf, aus Annehmlichkeit und Freiheit und ziviler Selbstherrlichkeit herausgenommen und in den Organismus eines Männerbundes mit der möglichen Verpflichtung zum Tode zusammen-

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gezogen werden? Ob wir es uns bewußt werden oder nicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ob es voller Plackerei

und Dreck und Mißvergnügen für uns gewesen sei, wir können dem Ausnahmezustand eines Aktivdienstes seine heimliche Größe und eine vereinfachende, reinigende Wirkung nicht absprechen. Sie zeigt sich nicht zunächst in jenem Bombast, durch den ihn die Verherrlicher zu Hause entstel-

len; der Soldat bekommt eine eigentümlich feine Witterung für alles Unechte

und falsch Pathetische dessen, was so in

Zeitungen über ihn geschrieben steht; ja, er kehrt in die Stadt zurück nicht ohne mannigfache Verstimmung über die Kompliziertheiten und Selbstsüchte alles Zivilen und, ob er es wahrhaben wolle oder nicht, es begegnet ihm wohl gar, daß er sich am Ende nach der bitter verfluchten Gefangenschaft des Dienstes, nach seinem Strohlager, zurücksehnt und noch nach Jahren von den tausend Gelegenheiten des Spaßes unter Kameraden als von etwas Einmaligem und Unwiederbringlichem erzählt. Denn das, was wir ein wenig summarisch Kameradschaft nennen, ist es doch, was anders als durch diesen Zusammenhang im Dienste

wir der Gemeinschaft nicht zu erleben bekommen. Das Vaterland als Fahne und Nationalhymne ist recht für den Feiertag, für die Schützenfeste, die in ihrer Hauptsache Spiel und Freude bleiben; alle Wahrheit aber ist rauh, alle Pflicht unansehnlich, aller wirkliche Dienst macht Anspruch auf unsere Entsagung, unsere Mannhaftigkeit, und sein Lorbeer ist spärlich. Es ist etwa mit dem Christentum oder der Liebe nicht anders. Fahne und Gesang sind recht für die Hochzeit; die Liebe aber hat das Salz der Bewährung zu fressen. Das nun, daß wir auf unserem Posten das Salz der Bewährung nicht im privaten Gebrauch, sondern selbstloser im Dienste des Überpersönlichen, des Gemeinsamen und der Gemeinschaft fressen, ist der entscheidende Unterschied unserer Leistung. Sie lohnt es uns. Sie lohnt es uns einmal mit der Fähigkeit, die sie uns gibt, über viele zivile Kompliziertheit hinauszuwachsen und Dinge um ihrer selbst willen, nicht zu unserem persönlichen Vorteil zu tun. Die stille Selbstverständlichkeit, mit der jeder jetzt Verdienstlose auszukommen sucht — und hier sind Frau und Kind vor allem in das Heldentum mit einzubeziehen -, ist wahrhaft der Anfang einer menschlichen Größe, zu der wir im privaten Leben wohl tausendfach

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Gelegenheit, aber selten die Aufraffung haben. Hierin ist uns der Dienst in aller Form Erzieher. Es soll einer kommen und Sonderbedingungen für seine werte Person in unserer Mitte stellen! Er macht sich lächerlich und unmöglich. Ein Kollektiv von Käuzen, Träumern, Raufbolden, Aufschneidern, Wanderpredigern, Witzbolden ist möglich und macht gerade das Zusammenleben zu dem bunten Außergewöhnlichen, das es ist — der Egoist läuft bald als Rad für sich, und das nicht zufällig: Das Heer ist seiner Bestimmung nach eine Institution der Gemeinschaft im Dienste des Überpersönlichen. Also ist es auch seine Zelle, das Kantonnement, und die - im Bürgerlichen leider allzu mätgelban geübte — Praxis der Gemeinschaft zeitigt im Kantonnement denn auch ersichtlich ihre schöne Frucht: eben diese Kameradschaft, das

Privileg allen Arbeitsdienstes, ein Ding, das nirgends sonst zustandekommt. Das Berufsleben hat seine Rivalitäten, Eifersüchteleien, seinen Brotneid; die Annehmlichkeit des Pri-

vatlebens hat ihre inneren Unzulänglichkeiten, ihre Blasiertheiten. Das Kantonnement erfrischt sich aus sich selbst an seiner höheren Art des Gemeinsamen und schafft jene unbeschreibliche

Atmosphäre,

jenen allabendlich

die wir Kameradschaft

sprudelnden

nennen,

Born von Vertraulichkeit,

Witz und Schabernack selbst unter bestandenen Herren, die

zu Hause Herr Direktor oder Doktor, hier aber einträchtiglich geschlagene Hiobe sind. Keiner, der nicht ein hartgesottener Hypochonder ist, entzieht sich dem Zauber dieses improvisierten Feuerwerks von Schelmerei der Soldaten, die alle Ambition, allen Stand, allen Anspruch von sich getan haben und nur noch menschliche Menschen sind. Sehr menschliche Menschen sogar mit allen ihren Schwächen; jedem wird das Anrecht auf einen Teil davon gegeben, das lange Zusammensein ermöglicht es, daß irgend eine Tugend, irgend eine verbindende Eigenart eines Jeden offenbar wird, und zuletzt gehören die Menschlichkeiten dazu, und wäre es nur zur Entschuldigung der eigenen. Es ist nicht der Spaß allein, es ist die gemeinsame Arbeit für niemand und alle, es

ist das Gefühl von Familie, das selbst dem Kompaniehund fühlbar wird, es ist das mehr geahnte als stets bewußte Haus der Heimat, zu dessen Schutz wir die unpathetischen Dinge tun.

Zugegeben: wir vergessen tausendmal die Art und Not66

wendigkeit unseres Hierseins — wer begriffe den Unsinn der Welt, das Ziel dieses geisterhaften Weltkrieges, den offenbar niemand will - und wir sollten wollen! Es ist nur löblich, daß

uns die Phantasie dafür fehlt. Wofür wir freilich die Phantasie aufbringen

müßten,

ist das, daß

paradiesisch

geht im Vergleich

Frauen

Kindern

und

und

es uns

zu den

Greisen,

immer

noch

Männern, ja zu

die die Zeit mit der

Wirklichkeit des Krieges heimsucht, und wenn wir bedenken, daß wir unsere Vorzugsstellung letzten Endes mit nichts, mit keiner menschlichen Überlegenheit verdient haben, dann vergeht uns schon gar aller Mut, über irgend etwas zu klagen. Es ist wahr, die Maßleidigkeit erzeugt Mißverständnis, der Privatmensch in uns pocht auf sein rechtliches Recht, ganz alle menschliche Schwäche geht denn doch nicht in Kameradschaft auf, und der Grenzkoller

meldet sich an. Die Havasitis tut ihre verheerende Wirkung in den Schlachtreihen. Es kommt hinzu, daß die Kameradschaft Stufungen hat, Stufungen zwischen Soldat, Unterofli-

zier und Offizier, allerlei Überschneidungen reiben sich, auch wenn ohne Lüge gesagt werden kann, daß in der Kompanie das beste Verhältnis zwischen den Stufungen besteht. Wir sind ältere Herren und somit von einem gewissen Verstande, den anzuerkennen unsere Führung sich nicht zu vornehm fühlt. Nicht immer und überall war es so, daß der «Bürger im Wehrkleid» auch als solcher geachtet wurde, ‚und doch ist es beinahe der einzige Punkt, in dem der schweizerische Soldat keinen Spaß versteht, darin nämlich, daß er in seiner Menschenwürde unverletzt bleibe. Ob er seines Zeichens Professor oder Straßenknecht sei, er trägt das menschliche Antlitz, ist dem Höchstgesetzten irgendwo gleich und hat ein genaues Gefühl dafür, daß die militärische Subordination nicht mit Hörigkeit seines Menschentums verwechselt werde. Es ist mir kein Fall bekannt, wo dieses

Gefühl ernsthaft, mit Absicht oder gar System, bei uns verletzt worden wäre, und ich glaube im Namen meiner Soldatenkameraden zu sprechen, wenn ich an dieser Stelle Unteroffizieren und Offizieren den herzlichsten Dank für die taktvolle, gerechte Behandlung ausspreche, deren sie uns würdigten. Unsere Gesinnung kann ihnen nicht verborgen geblieben sein, des helvetischen Maules ungeachtet, das auch im Soldatenrock nicht aus der Übung kommen will — so

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wenig wie uns die redliche Absicht und Bemühung der Vorgesetzten verborgen blieb. Wenn wir unsern Herrn Hauptmann lieben und verehren, so geschieht das in natürlicher Auswirkung seines rücksichtnehmenden, aufmerksamen,

dabei, wohlbemerkt,

tüchtigen Wesens.

Sein stramm

aufforderndes Auge, zusammen mit dem gütigsten Lächeln des männlich-menschlichen Soldatengesichts, war uns unverstellter Ausdruck

seiner inneren Art, für die Vertrauen

und Hochschätzung zu empfinden uns leicht fiel. Der Soldat in seiner Laienhaftigkeit spürt sehr wohl die wahre Autorität eines Heerführers, dessen Befähigung es nicht nötig hat, sich mit theatralischem Gebaren Ansehen zu verschaffen. Es ist wie in allen Dingen: letztes untrügliches Maß ist immer der Mensch, Fassaden täuschen nicht auf die Dauer. Unsere Offiziere, von denen wir den Eindruck bekamen, daß sie in

verstehender Wahlverwandtschaft um unsern Kommandanten standen, fügten sich wohl in den Ring der Kameradschaft, die zusammen mit dem Zauber der graubündischen Landschaft das Unvergeßliche unserer Bergwacht bleiben wird. Wir verlieren unseren Herrn Hauptmann. Wir verlieren ihn nicht aus unserer Erinnerung. Er war ein selbständiger, zum Vorteil seiner Soldaten mutiger Offizier schon in Zeiten, als es nicht wie heute Parole war. Das ruhige Gewissen darüber, seiner Pflicht genügt und doch oder gerade deshalb die Anhänglichkeit und Hochschätzung seiner Kompanie unwandelbar

besessen

zu haben,

mache

ihm seiner-

seits die Erinnerung angenehm. Was uns betrifft, so verabschieden wir uns von ihm aufrichtig betrübt, aber glücklich im Gefühl unserer Dankbarkeit.

Sturm über Europa Wenn die Menschen noch nicht rebellieren, tut es schließlich die Natur. Windstärke 30, Sintflut, Leichen. Die Zivilisation

rast mit 400 Stundenkilometern. Sein eigenes Werk reißt den Rennfahrer aus dem Sitz in den Tod; sein eigener Zyklon schmeißt den Menschenwurm hoch und beiseite. Die Völker häufen die Mittel, sich Lebensraum durch Tod und Vernich-

tung zu schaffen. Der Ring schließt sich, das Ende fügt sich 68

in den Anfang: Wieder herrscht Uranos, und Uranos fraß seine Kinder.

Der Krieg und wir

Mit dem Krieg ist es wie mit jedem Verbrechen: es kommt alles darauf an, nicht den Anfang im Laster zu machen. Das Grauenhafte ist, daß der Mensch sich an alles gewöhnt, der

Gewöhnung aber eine sanktionierende Tendenz innewohnt; sehr bald findet man

sich damit ab, daß Schurken Kinder

und Frauen hinmorden, nur der Mund protestiert noch dagegen, auch das Herz im Verhältnis der geographischen Entfernung der Geschehnisse (Asien ist uns schon irgendwie nicht mehr ganz wirklich); aber das Gewissen verblaßt, wir schlafen, essen, putzen unsere Zähne unangefochten von der Marter

der Hunderttausend;

selten stellen wir es uns

so

richtig vor; die Druckerschwärze entwirklicht alles, sogar der Film bleibt letzten Endes jenseits von uns. Es wird uns trotz aller Vorbereitung sehr erstaunen, wenn eines Tages die Bomben tatsächlich krachen. Erst wenn Bern in Schutt und Asche liegt, werden wir ganz begriffen haben, uns aus letztem Herzensgrund empören; vorher ist es eben nur Madrid oder Hankau, eine Gegend auf dem Mond. Nun liegt schon darin, daß wir so fatalistisch von der Möglichkeit des Krieges denken, ein Teil dessen, was wir meinen: der Ergebung in etwas, dem aus allen Kräften zu widerstehen ein Erfordernis unserer Sittlichkeit ist. Die gemeinte Form der Dienstverweigerung ist geistiger Art und geht alle an, vor allem auch die Frauen; die Front der innerlich Friedenswilligen geht durch die ganze Welt und könnte eine induzierende Macht sein, welche die Gewalthaber spürten; allein diese Gewalthaber, meist intuitive Menschheitskenner, wissen wohl um ihre schwache Widerstandskraft, wissen auch, wie sie zu brechen

ist. Der geistige Bakterienkrieg, dessen sich Rüstungskapital und Faschismus mit Erfolg bedienen, um die Unselbständigen im Gewissen zu schwächen, hat die Menschheit mit allerlei Zweifeln infiziert. 3X 3 = Krieg, sagen die Generäle, und durch die Wirkung aller Frechheit schlägt sich das ins Gehirn. Japan frißt China, noch bevor es Mandschukuo verdaut hat, und dahinter steht dann das moralische Recht

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von «Volk ohne Raum». Die hypnotischste Macht aber hat die Heroisierung des Krieges. Die eigenartige Unselbständigkeit des, Menschen, eine seiner tragischsten Eigenschaften, wagt nicht, der Parole «für Gott und Kaiser» die Gefolgschaft zu verweigern. Kaiser ist auswechselbar. Auch ein Plakat des Teufels ist immer zur Stelle. Das der Zeit heißt Bolschewismus, und so tritt das Groteske ein, daß T'schankaischek, der Gegner des chinesischen Bolschewismus, im Namen des Antibolschewismus angegriffen wird. In Wahrheit fürchtet Japan das Gegenteil, Chinas nationale Erstarkung unter Tschankaischek. Aber Bären sind dazu gemacht, der Menschheit aufgebunden zu werden. Die Erfahrung lehrt, daß, wenn nicht geglaubt, Lügen doch erwogen werden und die Sicherheit schwächen. Der «höhere Zweck» heiligt die abscheulichsten Mittel. Hätten wir nie damit angefangen, Bombardierungen für möglich und irgendwie erlaubt

zu halten, dann

wären

wir nie in die Blutschuld

unserer Gewöhnung versunken. Man weiß ja, einmal heißt ad infinitum. Heute profitieren die Gewalthaber noch von der Nachsicht der Allgemeinheit; aus dem Grunde sind wir an allen Greueln der Weltgeschichte mitschuldig. Allzubald sind wir so weit, sie innerlich

hinzunehmen;

die mit der

feinen Witterung fühlen das. Die mit der feinen Witterung handhaben mit Fertigkeit das mächtigste Kampfmittel, die Diffamierung. So haben sie den Pazifisten lächerlich gemacht. Was läßt sich nicht alles lächerlich machen! Auch Schiller ist mit Leichtigkeit lächerlich zu machen. Auch den König der Juden lächerlich zu machen, fiel den Kriegsknechten nicht schwer. Die Menge ist ja so unsicher. Die Unsicherheit der Menge ist der Sand, auf welchen die Plutokraten aller Zeiten ihre Herrschaft gebaut haben. Bis das Ferment der geistigen Reife diesen Sand zum Block verschmolzen hat, liegt, so Gott will, ein besseres Haus in den Plänen vor.

Der Griff nach der Substanz

«Unsereiner schwimmt mit Würde stets als reiner

Goldfisch durch das Blut so rot.» GOTTFRIED KELLER

In ihrer Nr. 75] vom 27. April 1938 brachte die «Neue Zürcher Zeitung», das vornehm führende Blatt der Habenden, aus Berlin die Meldung von einer Verordnung Görings, wonach sämtliche in Deutschland wohnenden Juden, sowohl deutscher wie ausländischer Staatsangehörigkeit, zur Anmeldung und Bewertung ihres in Deutschland oder im Auslande liegenden Vermögens verpflichtet worden seien. Bei hohen Zuchthausstrafen im Unterlassungsfalle, selbstverständlich. Würdevoll zurückhaltend bemerkte die «Neue Zürcher Zeitung» dazu: «Die neue Verordnung Görings und Dr. Fricks leitet Maßnahmen ein, die in ihrer Gesamtheit zweifellos auf nichts anderes als auf die Konfiskation des Vermögens der Juden... hinauslaufen werden.» Und weiter: «Die Ausbeutung der unergiebigen Erzlager, wie sie z.B. die Reichswerke Hermann Göring AG in bewußtem Gegensatz zu privatwirtschaftlichem Denken unternahmen, und die Einrichtung der gigantischen Produktionsanlagen für die Ersatzstofferzeugung, verschlangen ungeheure Summen und stießen sich an Finanzschwierigkeiten, die früher oder später durch einen Griff nach der Substanz der Privatwirtschaft gelöst werden mußten. Die erste Maßnahme dieser Art richtet sich, wie das im Zuge der Rassenpolitik des Nationalsozialismus liegt, gegen das Vermögen der Juden.» Kein einziges Wort der moralischen Mißbilligung oder gar Entrüstung über diese «Maßnahmen», die selbst nach Ansicht der «NZZ» zweifellos auf nichts anderes als auf die «Konfiskation» des Vermögens der Juden hinauslaufen! Oder soll etwa die «moralische» Mißbilligung der «NZZ» darin zu erblicken sein, wenn sie im gleichen Zusammenhange registriert: «Damit büßt das Kapital der jüdischen Unternehmungen seine Rentabilität fast vollständig ein, und dann wird auch der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, in dem auch

71

der übrige jüdische Besitz, Häuser, Grundeigentum usw. unhaltbar wird.» Wenn sich ‚das jüdische Kapital in Deutschland in den düstern Schatten der Unrentabilität begeben muß, dann freilich ist zu begreifen, daß es für das von Gott Mammon herausgegebene Tagesevangelium uninteressant wird. Heißt doch dieses Gottes erstes und höchstes Gebot: «Lege Dein Kapital so rentabel wie möglich an!» Insoweit ist also das achselzuckend bekundete Desinteressement der «NZZ» am fernen Schicksal der jüdischen Vermögen in Deutschland durchaus verständlich und in der klaren Linie ihrer Logik liegend. Auf den ersten Blick beinahe unbegreiflich ist dagegen die Haltung des Blattes, für das sonst das Recht auf uneingeschränkten Besitz des (ganz gleich wie erworbenen) Privateigentums als eines der heiligsten und unantastbarsten gilt, angesichts der kaum verhüllten brutalen Beschlagnahmung der jüdischen Vermögen durch die mit ständig leeren Taschen als die zukünftigen Herren der Welt sich gerierenden nationalsozialistischen

Machthaber.

Dieses Blatt, das noch

heute mit sittlich aufgemachter Entrüstung die Aufnahme der normalen Beziehungen zu Sowjetrußland ablehnt, weil in Rußland

zur

Zeit

der Revolution,

also vor

mehr

als

zwanzig Jahren, einige schweizerische Kapitalisten um ihre Vermögen erleichtert wurden, dieses Blatt findet es — wir haben nun volle zehn Tage vergeblich darauf gewartet! — mit keinem Worte für notwendig, angesichts eines weit schwererwiegenden Eingriffs der Nazi in die bürgerlichen Privatrechte nach moralischen Sanktionen oder etwa gar nach einem Abbruch der Handelsbeziehungen zum Reiche der Willkür Görings zu rufen. Dabei gehen wir bestimmt nicht fehl, wenn wir annehmen,

die «NZZ» würde ganz ungehemmt von Raub und Diebstahl und Buschkleppertum sprechen, wenn die Nazi statt an unserer Grenze in irgendeinem amerikanischen Duodezstaate regierten, wenn sie nicht unsere größten, säumigsten und

arrogantesten Schuldner wären, und wenn es sich bei ihrem neuesten Beutezug auf die Taschen der ihnen Ausgelieferten um reinarische Opfer gehandelt hätte, statt bloß um — Juden! Die «NZZ» ist bekanntlich so tolerant, daß sie auch den Juden volle gesellschaftliche Gleichberechtigung zubilligt,

2

soweit sich diese dankbar dazu hergeben, der «NZZ» Schleppenträgerdienste zu leisten. Diese Toleranz hört aber genau dort auf, wo die Interessen jüdischer Kapitalien diejenigen «arischer» Gelder berühren. Und das ist im vorliegenden Falle so zu verstehen:

Wenn

der Nazi nicht zahlt, so

bedeutet das für die «arischen» Paladine der «NZZ» eine Katastrophe. Wenn er kein Geld hat, dann kann er nicht zahlen, also möge er schauen, wie er zu Geld komme! Wenn

er von dem den Juden abgenommenen Gelde auch nur einen Bruchteil an die Genußberechtigten der berühmten «eingefrorenen Milliarden» zahlt, so wird ein Aufatmen durch die

hintergründlichen

Gefilde

der

«NZZ»

gehen,

und

kein

Mensch wird sich darum kümmern, ob es sich um ehrliches

oder um geraubtes Geld handle. Wir wollen diskreterweise

darauf verzichten, die Entrü-

stungsschreie der «NZZ» zu zitieren, die sie damals von sich gab, als die schweizerische Arbeiterschaft ihre Forderung nach Abgabe eines kleinen Bruchteils der kapitalistischen Vermögen erhob. Aber wir können uns die Feststellung nicht verkneifen, daß die «NZZ» aus den angedeuteten Gründen heraus das an Hunderttausenden von in Deutschland wohnenden Juden begangene Unrecht stillschweigend zur Kenntnis nimmt, also die Moral des bekannten Liedes «OÖ

heiliger Sankt Florian, verschone unsere Häuser, zünd’ lieber andre an!» zu ihrer eigenen macht. Ob aber die Wirtschaftsmoral der «NZZ» nicht doch über einen kleinen Rechenfehler stolpert? Ob das nächste Opfer der Nazi nicht doch die «Arier» unter den ausländischen Kapitalisten sein werden, die im Dritten Reiche noch Gelder stehen haben? Heute sind es die deutschen und ausländischen Juden, morgen werden es die restlichen Ausländer sein, deren Taschen sich in Griffweite der Nazifinger befinden. Die eigenen Kapitalisten können sie nicht wohl ausplündern, denn das hieße, die eigene Futterkrippe leeren. Warten wir also ab, welche Moral die «NZZ» dannzumal

entwickeln wird, wenn der Nazi erst einmal die jüdischen Millionen verdaut hat und neuen Appetit verspürt. Es könnte sein, daß

die «NZZ»

beim

nächsten

«Griff nach

der

Substanz» eines weitern Ausspruches Gottfried Kellers sich zu erinnern Veranlassung hätte:

73

«Was du nicht willst, das man dir tu’,

Das füg auch keinem andern zu!» Laß die Gesinnung merklich sein, So ıst der halbe Sieg schon dein. Zu diesem Wort lacht manch ein Schuft,

Der sich auf den Erfolg beruft; Doch du erlebst, daß er wird wandern, ’s trifft eben einen nach dem andern!

Kulturpolitik Aus der Werkstatt

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Echo im Hirtenland

Als ich die Schweizer

Sondernummer

der «Literarischen

Welt» gelesen hatte, fühlte ich mich, unbekannt warum, auf

das Dichterhaupt geschlagen; es war mir elend zumute, ich verspürte Kater, ich war nicht zu sprechen, es war mir alles verleidet. Ich fühlte mich von Nazareth, ich war, mit allen lieben Verskollegen, nur ein Bauer, sieben Stund hinter dem Mond hervor; ich hatte versäumt, mich über den derzeitigen

Wind zu orientieren, ich hatte unter der Käsglocke dahingelebt - irgendwo zehntausend Meilen Richtung Pommerland registrierte mein Seismograph nachträglich die Erschütterung ganz ungeheuerlicher, nie dagewesener, endlich eingetretener Geschehnisse im Tintenfaß. Es war ein beseligender, impulsiver Entschluß von mir, unverweilt die Bestellung auf einen Eisenbahnwaggon neuer Literatur ab Station Berlin zu telegraphieren, um mich des Evangeliums, der Erleuchtung, der Prophetie teilhaftig zu machen; ich fragte mich nur um des Kuckucks, wo der Ort denn zu liegen habe, die Märchenmitte, von der ich in meiner Schafheit nichts vernom-

men hatte. Ich hatte doch auch gelesen, ich war von Anfang Abonnent aufjene Tribüne gewesen, von der es mir jetzo mit Posaunen des Gerichts an die Nase scholl: ihr Kuhmelker seid nichts, ihr seid im Hintertreffen geblieben, euch schwant nichts von der neuen Weisheit, ihr habt euch einander nicht

einmal totgeschossen! Und das muß wahr

sein.

Beispielsweise

ich bin ein

Schweizer, der noch immer verbohrt, vernagelt, die Fäuste

im Ohr gegen jederlei noch so gerechte, noch so gelehrte Begründungen des Kriegs zetert: ich will nicht, ich mag nicht, der Teufel wird ihn holen! Von der geistigen Schweiz ist diesbezüglich durchaus gar nichts zu erhoffen; wir kriegen nie wieder, wir mögen nicht, die Ahnen haben alles getan. Au weh, so übergeht uns die Weisheit? Dann blasen wir ihr. Seit wann wären Schönheit, Wahrheit, Poesie, Erkenntnis,

Heiterkeit, Schwermut Großstädterinnen geworden? Der Weg nach Hesperien geht weder über Paris noch über NewYork, trotz Jud Süss und allen fleißigen Tausendsassas, die sich jetzt interviewen lassen; der Frühling sproßt überall und ganz launenhaft, und es wird unter keinen Umständen eintreten, daß der Himmel

nicht mehr der Himmel

77

und die

Wassertiefe keine Wassertiefe mehr sein wird; wir erlauben uns, an der Pforte unseres lebendigen Herzens ebenso nah und ebenso fern dem ewigen Born zu stehen, den die Lauten, die Betriebsamen, die Dreimalgescheiten in Pacht genommen zu haben wähnen. Es ist die Art der Reinen Toren, daß sie sich vor der Welt gering erscheinen — eure Witzigkeiten, eure veralteten neuen Schlagwörter sind uns zum voraus wohlbekannt; ihr unterschätzt unsere Wachheit und verkennt unsere Ruhe: die Stille vermag wohl den Lärm, nicht aber der Lärm die Stille zu erkennen. Euren Fortschritt haben wir, als eine Äußerung der Zeit, am eigenen Leibe auch erfahren; aber wir überwanden ihn in Scham und Zorn wie eine Seuche. Wir haben zur Genüge gezweifelt, bezweifelt; aber wir haben keine Philosophie daraus gemacht, sondern die Klarheit abgewartet. Wir haben wie irgendeiner auf unseren Fußböden gelegen in Schmerzen, über deren Herkunft wir nicht sogleich klug zu werden verstanden; aber wir rühmen sie nicht, wir tadeln sie auch nicht, wir haben

uns erhoben und spüren vor uns das Nahende, das nicht nur dem Geschwätz, das sich der Demut in ungleich tröstlicherer Gestalt nähert. Alle Fragwürdigkeit unserer musischen Betätigung ist uns, abseits der Heerstraße, sofern es solche Abseitigkeit bei der Beweglichkeit heutiger Vermittlung noch gibt, zum Überfluß bewußt geworden; o, wir haben nicht bloß die

Kühe muhen gehört, mit Verlaub: ihr habt die Schwabenstreiche bis dato nicht vollführt; wir machen uns anheischig,

noch welche zu unternehmen. Heute sind wir allzumal Sünder; aber gerade weil wir nicht an den Fußball glauben, gerade weil wir nicht gewillt sind, die Alleinseligmachung dieser Zeitlichkeit einzusehen — das Stilleliegende dahinter ist uns überaus wesentlicher, der Ausblick durchs Herz ist uns

ketzerischerweise noch immer und in alle Zukunft maßgebender als die Naseweisheit der Megaphone. Wir sind in der Tat an Jahren nicht jung; mit Zwanzig die Stühle der Väter umzuwerfen, gelüstet uns wohl wie andere; aber wir loben später die Vorsicht, die uns hinderte; in aller Form: wir

finden die Väter auch Menschen! Wir segnen Bung, uns zurückgeschoben, uns verhauen, uns gemacht zu haben. Wir hoffen zu Gott, unsere tung und Verehrung des Alten werde uns nicht unseres Neuen einbringen. Nein, wir werden 78

ihre Anmaunschädlich warme Achdie Ungnade es uns nicht

einfallen lassen, plötzlich mit den Ohren uns vorwärtsbewegen zu wollen; wir werden dabei verbleiben, mit den Augen zu

sehen,

mit dem

Herzen

zu

erkennen

und

unter

dem

Haarschopf zu wissen.

Kann ein schweizerischer Schriftsteller

vom Ertrag seiner Feder leben? Lieber Kollege, würde ich ihm sagen: Glück zu, Glück zu; es kommt immerhin vor! Der Titel «Freier Schriftsteller» erfüllt mich mit einer Art verzweifelter Bewunderung: Wie fangen Sie es nur an, was muß ich tun, um... Denn ich stelle mir

das schlaraffisch vor, das ganze Vermögen an Zeit für die innige, müh-selige, ernsthafte, zerbrechliche Beschäftigung des Dichtens frei zu haben. Ich bin weder faul noch geldgierig; wenn ich daran denke, wie so manche Villa am Meer unbenützt mit geschlossenen Läden steht, so meine ich weniger das dolce far niente als die Unmenge Stille in jenen Gärten! Gesucht eine Mansarde, ein Kellerloch, eine Dunkelkammer, wo nicht das Radio seine Schnauze hineinsteckt!

Es maust mir die sauer ersparten, listig versteckten Brosamen Zeit, und da ist kein Gericht, das mich schützt, ich sage

schon gar nichts, sie hätten ihr Gaudium mit dem Narrenhäusler, der Schadenersatz für zerklimperte, zerjodelte, zerhandorgelte, zerwetterprognoste Stille verlangte. In der Stille stecken beiläufig meine Schätze an Tiefsinn, muß man wissen; Verse sind wie verfluchte Ratten, die nicht aus ihren

Löchern wollen, sobald sich nur ein Grashalm bewegt. Nicht umsonst werden Dichter immer wieder mit dem Gänsekiel vor der Nase gemalt. Ich rede hier von der Stille, einem Synonym für Zeit, wie von einem ernsthaften, zinstragenden Wert, der bis vor die Bankdirektoren zu Recht besteht; das

sieht beinahe so aus, als schlüge ich nun doch Kapital aus ihr. Ich leugne nicht, daß es mir manchmal gelingt, ein Gedicht zu verkaufen: aber ich amortisiere noch immer die Spesen meiner literarischen Vergangenheit: Papier, Schreibmaschine,

Briefmarken,

Briefmarken,

Briefmarken.

Meine

Mutter schüttelte den Kopf und glaubte mir gut zu raten, indem sie sagte: «Gib es doch auf.» Sie unterschätzte das

79

Ding: Ich brachte es sogar zur Betreibung eines Verlegers, der mir hundert Franken vorenthielt. Dieser Prozeß schmeichelte

mir ‚außerordentlich.

Man

wird

mir

raten,

meine

Produktion zu steigern, den Umsatz zu erhöhen. Abgesehen davon, daß das in sehr grundsätzlicher Weise mit-dem oben erwähnten Vorrat an Stille zusammenhängt - ich unterrichte "tagsüber eine Volksschulklasse — wird der Sanierungsvorschlag einigermaßen problematisch durch die angehäuften Materialien, deren Weggang sich verzögert. Was wollen Sie: Keyserling, Frank Thiess und einige begnadete Schweizer haben uns den deutschen Kredit verdorben, und die heimi-

schen Blätter, mit Ausnahme derjenigen, die grundsätzlich keine Honorare bezahlen, bringen nurmehr Valery und Ortega y Gasset. Ich bin weder Valery noch Ortega y Gasset, es fallt mir nicht ein, das zu behaupten. Ich bin nur, als ein rechter Schweizer, ein wenig zu stolz zum Hausieren und Betteln, und mit zunehmendem Alter verliert man den Elan

des Ehrgeizes. Ich hege aufrichtige Verehrung für meinen Verlag, Grethlein & Co., der sich sein Vertrauen auf mich sogar etwas kosten läßt, nämlich die Herstellung meiner Bücher, die niemand

kauft, obschon sie nachweisbar nicht

schlechter sind als manches, was Geld einbringt. Es möchte derweil erscheinen, als neigte ich hier zum Sarkasmus; er wäre mir zu wenig originell: Ich lobe mir meine Alltagspflicht, der ich außer Heulen und Zähneknirschen noch manches verdanke: Mein ehrliches Brot, etwas Sandballast,

Gelegenheiten der Liebe und Gelegenheiten der Selbstzucht.

Brief an Paul Lang

Sehr geehrter Herr Doktor, ich nehme es Ihnen übel, daß Sie (im Literaturblatt vom 10. September) die Denkart des einen oder andern unter den schweizerischen Schriftstellern vor dem Publikum verallgemeinern, so als wären Geschäftsgeist und Verwöhntheit unser nationales Kennzeichen. Man würde nachgerade meinen, wir vermöchten uns vor Literaturpreisen, zwangsweisen Staatsunterstützungen und den Verfolgungen der Mäzene in der Schweiz seit einiger Zeit nicht mehr zu retten, und es hat nun bloß noch gefehlt, daß ein

Schriftsteller selber das Gerede von unserer 80

Saturiertheit

und hinterwäldlerischen Bequemlichkeit vermehrt. Sie wissen so gut als ich, daß jeder von uns froh ist, wenn man ihm da oder dort ein paar Zeilen abkauft. Den Schweizer Schriftsteller möchte ich sehen, der einen «Glücksfall, weit über die Grenzen des Landes bekannt zu werden», aus finanzieller Unersättlichkeit abweist; ich vermute, es ist keiner von uns so wohlgeboren, daß er sich so etwas leisten kann, ohne daß

innere Gründe oder die sauren Trauben ihm diese Sprache eingeben. Sollte der gravitätische Hahn aber tatsächlich unter uns leben, dann sagen Sie den Leuten doch bitte auch das andere, daß eben die Kastanienbrater, die ihre Tage noch mit dem unzeitgemäßen und geschäftlich aussichtslosen Gewerbe der Abfassung von Gedichten hinbringen, unausgerechnet genug sind, neben den Unkosten seelischer Art auch noch die ökonomischen der Drucklegung ihrer Verse auf sich zu nehmen, wenn es sich mit der Hilfe des einen und

anderen Umstandes lenken läßt. Diese Taisache scheint mir die Verhältnisse unter uns weit zutreffender zu veranschaulichen als Ihr Beispiel eines imaginären schweizerischen Auflagenkönigs. Nun werden Sie mir freilich antworten, daß es den Adep-

ten einer so epigonalen Kunst auf ihre Kastaniennase recht geschieht, wenn sie den Goldschnitt aus dem eigenen Sack zu begleichen haben, sie, die den Schrei des schweizerischen Rundfunks

nicht hören wollen, den Schrei nach dem Hör-

spiel, berufen, «die absterbenden Formen des Gedichts und des Romans» abzulösen. Ferne sei es von mir, die Aussichten einer so demokratischen Erfindung wie des Radios belächeln zu wollen, doch fürchte ich, daß ihr das Schicksal aller auf Masse und Konfektion arbeitenden Institutionen nicht erspart bleiben wird: ihre feineren Liebhabereien in Gottes Namen hintanstellen zu müssen im Dienste des Kunden, der da Beethoven zum Kartoffelsalat und das idealste Hörspiel mit der Ungeduld auf das nachkommende Jodelquartett

vernimmt. Ich stelle ihrer Behauptung (über die es sich hinund herreden ließe) diejenige derer entgegen, welche vor dem Megaphon noch nicht auf den Bauch gefallen sind: Daß einmal ein wahrer Hunger nach dem Originalen, Unverstellten, Unvermittelten, Unmultiplizierten, nach der Ehrlichkeit

des warmen Nahen, sprühend Menschlichen die Besten ergreifen wird, nachdem

das Sündenmaß

81

des Lärms voll, die

Anmaßung der Maschine unerträglich geworden ist. Es ist rein lächerlich, sich in geistigen Dingen nach so minderwertigen Kriterien wie Zeitgemäßheit oder Nachfrage richten zu wollen, so unmöglich wie die Vorstellung, daß einer seinen Gaul auf die Ausdehnungen des Geschirrs zusammenstückt. Ich sage das keineswegs im Tone olympischer Vornehmheit, sondern unter der höflichen Voraussetzung, daß es auch heute noch der Maßgeblichen genug gibt, die, und wäre es auch nur nach Feierabend, den Fortbestand des Musischen,

das sich irgendwie immer ähnlich bleiben wird, in ihrem Innern ermöglichen. Ich suche leidenschaftlich den großen Film und ergebe mich ihm dankbar, wenn er wirklich einmal ausnahmsweise seine Versprechungen hält und nicht zum so und so vieltenmal durch eine nicht weiter zu umschreibende Abwesenheit

des

Seelischen,

Zusammenhaltenden

ver-

stimmt; es hat noch selten an der Leistung des Verfassers, immer an der Kunst des Regisseurs gelegen, wenn die Sache nicht klappte. Was hat der Ionfilm mit dem Dichter zu tun? möchte ich geradezu fragen. Der Stoffe für den Tonfilm gibt es in zehntausend Romanen und Novellen und «wahren Geschichten» genug, es braucht außerdem nur den Kerl, der sie in eine andere Dimension übersetzt, sie gewissermaßen «in Licht komponiert»,

und das sind die Rene Clairs, eine

Spezies für sich, die meines Wissens anderes zu tun haben, als Dichter abzumurksen. Der Ionfilm braucht keinen «Monologgewaltigen», wie Sie ihn fordern und prophezeien, sondern im Gegenteil Meister des Schweigens, die ihre Freude an Voluminöserem als Dialogen haben. So viel ich läuten gehört habe, ist es aber nicht so, wie Sie fröhlich dahersagen: Es hinkt nicht das Geld der Idee, dämlicherweise vielmehr

die Idee Rene Clairs dem schnauzigen Gold seiner Geber nach. Denn Filmproduktion kostet noch mehr als der Druck von Gedichten. Armer Rene Clair! Mit Kollegengruß Ihr Albin Zollinger

82

Schriftsteller, Liebhaberschriftsteller

Lieber Herr Bührer. Absatz 3 Ihres Artikels «Faschismus und Schweizer Schrifttum» gehört nun wieder zu den Dingen, die meinen unbedingten Widerspruch hervorrufen. Aus guten Gründen! werden Sie mir antworten und den getroffenen Hund meinen. Ihr origineller und sympathischer Kopf schafft denn doch auch Ideen zutage, die man füglich hochfahrend nennen darf. Man kann darüber, wer von Spitteler oder dem Vettergötti

faktisch,

nicht nur

nachprüfbar,

auf die Welt

wirkt, zweierlei Meinung sein, ohne daß man es zum Gegenstand

verdiktischer

Konklusionen

macht.

Es walten,

wie

nicht abzuleugnen ist, im Leben des Geistigen gewisse undurchschaubare Gesetze, die sich so plausiblen Formulierungen, wie Sie sie lieben, nicht fügen. Doch werden wir uns darüber schwerlich einigen. Was mich hier aufzutreten veranlaßt, das ist Ihre Neubildung vom «Liebhaberschriftsteller», als welchen Sie den berufstätigen Schriftsteller ausrufen. Es fehlt mir nicht an Sinn für spekulative Metaphern; allein Ihre Ausführungen über uns «Dilettanten, die sich nebenbei in hoher Dichtkunst versuchen» überschreiten die Grenzen des Beweisbaren ebenso wie des Anstandes unter Brüdern. Sie werfen da nur so um sich mit «nicht imstande sein», «nicht die Fähigkeit haben», ohne sich einmal durch den Kopf zu schicken, daß andere Leute möglicherweise gar nicht die Notwendigkeit dieses «Imstandeseins» anerkennen. Was ist am Faschismus, zu dessen Bekämpfung Sie Ihren Artikel schrieben, das entscheidend Verdächtige? Seine banausische Art, über Anderer Ansichten hinwegzugehen (marxistische «Verbrecher»). Sie setzen mit stets der gleichen Selbstverständlichkeit voraus, daß Sie die allein maß-

geblichen Auffassungen über Dinge der Feder haben. Wer sie nicht

teilt, den

führen

Sie in die obskure,

nie eigentlich

genauer untersuchte Zelle des Ästhetizismus ab. Zahllose Male haben Sie, lieber Bührer, sich dazu bestellt gefühlt, das

Wesen Anderer an Ihrem eigenen unbestreitbar wackeren und aufrechten Wesen zu messen; es wundert mich eigentlich, daß Ihnen das nicht schon aus dem Grunde verleidet, als die Methode zur Zeit so verbreitet ist. So wenig als es mir einfallen wird, um von unserem Beispiel zu reden, Ihre und

83

meine ehrlichen Absichten, Ihre und meine Hinneigung zu den Mühseligen und Beladenen, Ihr und mein Streben nach Wahrheit,

Ihre und

meine

schmerzende

Anteilnahme

an

dieser Zeit einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen, so wenig bin ich gewillt, verbindliche Behauptungen darüber aufzustellen, ob das Dichtertum im Haupt- oder Nebenamt ausgeübt werden soll und ob, wer das letztere «wählt», vom

Vertreter des anderen in die Kategorie eines Liebhaberdichters verwiesen werden darf. Die Notwehr mit Beispielen soll mir zu billig sein; wir befinden uns in guter Gesellschaft mit Lehrern, Ärzten, Bauern, Arbeitern, die im Nebenamt

zu

dichten weder ehrenrührig noch schädlich fanden. Sie werden gerne einschen, daß wir in der Sicherung unseres bürgerlichen Berufes nicht ausschließlich auf Rosen liegen. Daß wir ihm oft genug mit Heulen und Zähneknirschen dienen. Daß uns das Dasein eines freien Schriftstellers zum Exzeß des Neides hinreißen kann. Daß wir verwegene Träume von einem rettenden Bombenerfolg nähren («ach, nur einmal noch im Leben!»),

bei Gott, nicht des Mammons

wegen,

sondern damit wir die Arme für unser Korn freibekämen. Den meisten von uns Liebhaberschriftstellern wird es so gchen, daß sie zwar sattsam zu schreiben, aber nicht die Mittel davon zu leben hätten, sofern wir ihm die Sorgfalt und Ehrlichkeit

zuwenden

wollten,

die wir ıhm

zu

schulden

glauben. Sollten Sie mir daraufhin antworten, daß es ja gerade das sei, was uns zu Liebhaberdichtern mache (uns «nebenbei in hoher Dichtkunst zu versuchen»), so stünden

wir eben einmal wieder in der tragischen Gegend, wo Männer in ihrer Verschiedenheit keine Einigung finden. Dies dahingestellt, bleibt nachzuholen, was Sie im Glück Ihrer Schriftstellerfreiheit nicht wissen können: daß es nicht unbedingt nur Wohlleben und Feigheit zu sein braucht, was uns in unserer Fron auszuharren gebietet; ganz im Gegenteil fassen wir es als unsere Pflicht und Schuldigkeit auf, uns nicht zu vornehm für ein ehrliches Handwerk zu fühlen, da

wir schon Weib und Kind zu ernähren haben und von Künstlers zigeunerischem Vorrecht auf diesbezügliche Laune keinen Gebrauch zu machen gewillt sind. Das ist nun auch schon der Ort, wo ich Ihnen sagen muß, daß wir es eben ehrlicher finden, dem Irdischen mit Irdischem zu dienen, statt auf einem Standesbewußtsein, welches gerade Sie,

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lieber Bührer, bei vertauschten Rollen einen Standesdünkel

zu schimpfen gewiß nicht ermangelten, setzköpfig zu beharren zum Schaden unserer Versöhnlichkeit und unserer Arbeit. Warum fangen Sie Bauern mit so blendenden Vergleichen wie dem von Dichter und Bäcker, da ein Blick auf die

Literaturgeschichte ihn in die Knie zwingt? Das ist es ja, was mich empört, daß Sie vor Leuten, die Ihnen Liebe und Glauben schenken, ehrabschneidende Beweise führen in Dingen, die sich so hausbacken nun schlechterdings nicht belegen lassen. Es wäre uns ein leichtes, den Segnungen der Freiheit, die man uns wahrlich nicht anzupreisen braucht! auch solche der Bindung entgegenzustellen. Bührer sollte

dem tätigen Kontakt mit allen Arbeitenden doch eigentlich eher das Wort reden. Ich trete Ihrem Einwand mit der Versicherung entgegen, daß wir durch die Augen der uns anvertrauten Kinder auch allerlei erblicken. Vielleicht sind unsere Lehrtätigkeit und Ihr Aktivismus nur verschiedene Arten, die pädagogische Provinz im Eidgenossen zu bestellen. Die Bindung behindert nicht nur, sie spornt anderseits auch an und zwingt zur Konzentration. Schriftsteller und Liebhaberschriftsteller!' Sind Sie denn die schweizerische Akademie, welche Titel vergibt? Alles, worauf Sie die Unterscheidung gründen, ist nichts als persönliches Dafürhalten. Da mich mein Schriftstellertum nicht ernährt, und es ernährte mich auch nur kümmerlich, unter keinen Umständen in

diesem Land der unaussprechlich wagemutigen Zeitungen, in der Schweiz, die ein gezähltes Exemplar belletristischer Zeitschriften nicht hat: was in aller Welt spricht dafür, daß ich den Rest mit Journalismus bestreite? Es spricht sogar Wesentliches dagegen. Für meine Person; andere mögen es ihrer Konstitution nach anders halten. Es ist eine Frage des Temperaments,

nicht des Talentes oder gar Charakters, ob

wir es uns gemäß finden, auf die Tonne zu steigen oder mehr in der Stille zu wirken, unsere Früchte länger oder kürzer auszutragen, introvertierend oder extravertierend die Tage zu verbringen. Ihrer eigenen Auslegung nach ist für den Liebhaberschriftsteller das noch schmeichelhaftere Prädikat eines Liebhabermenschen zu folgern. Ist Ihnen Authentisches darüber zu Ohren gekommen, was wir unter unserer Käseglocke erleben? Daß wir nicht gleiche Verwendung wie Sie davon machen, ist kein Zeugnis gegen unsere innere Beteili85

gung an der Zeit. Daß ihre Beurteilung uns schwerer als Ihnen fällt, unsere Erkenntnis weniger geradlinig als Ihre verläuft, mag summa summarum noch einmal aufs Konto des Temperamentes gesetzt sein. — Aber ich muß Sie ja mißverstanden haben: Für das übrige Ihrer Darlegungen schulde ich Ihnen Dank. Herzlich Ihr Albin Zollinger

Mitarbeit an Zeitungen und Zeitschriften Die Antworten auf den Artikel von Elisabeth Thommen haben mich aber einmal erstaunt. Nun sind doch wieder die Schriftsteller schuld daran.

Daran,

daß wir nichts in den

Zeitungen haben. Wir sind faul. Man entbehrt unser Angebot. Ich möchte im Nachfolgenden, nicht, weil ich es gerne tue, sondern, weil ich es der Sache glaube schuldig zu sein,

etwas von meinen einschlägigen Erfahrungen erzählen. Es ist schwierig. Einmal haben wir immer unterlassen, über die Details Buch zu führen, und dann: unsere Verteidigung riecht natürlich nach Selbstlob. Man kann nicht sich selber verteidigen, ohne eine gewisse Achtung vor diesem Selbst. In der Achtung eines Schriftstellers ist man aber natürlicherweise geteilter Meinung. Wenn kein Angebot da ist, wie kommt es denn, daß wir auf das Erscheinen selbst einer Kleinigkeit immer durchschnittlich zwei Jahre zu warten haben? Ich möchte niemanden durch öffentliche Nennung beleidigen; die Redaktoren werden sich schon bei der Nase nehmen, und die Kollegen haben meine Zeugen nicht nötig, sie glauben mir bei ihren eigenen. Wenn ein Stück Prosa von mir bei der Redaktion liegt, selbstverständlich ohne daß ich entweder Empfangsbestätigung, Honorar oder Ablehnung erhalten habe, so heißt das, daß ich in meiner Anständigkeit diese Redaktion so lange nicht mit einer zweiten Sendung behellige; außerdem aber steht mir das Betreffende ebensolange Zeit nicht anderweitig zur Verfügung. Ist das Werk, siehe da, eines Tages erschienen, so werde ich promptestens mit einem neuen auftreten, um ein rechter Jude zu sein. Die deutsche Schweiz mag ein halbes Dutzend einigermaßen zahlende Zeitungen

86

haben; gehen ab diejenigen, die uns im Laufe der Jahre unmißverständlich ihre Ungnade zu erkennen gegeben haben. Hat man noch den Rappel, vorwiegend lyrische Gedichte zu verfassen, so schrumpfen die Möglichkeiten abermals. Ein verseliebender Mann wie Hugo Marti hat dann immer auch das Recht, den Kollegen Soundso spielerisch zu finden. Die Chancen fallen noch einmal. Bührer ist unkultiviert und politisch; kommt nicht in Frage. Zollinger ist artifiziell und «für die breiten Massen zu schwierig», er wandelt in den Wolken;

lassen wir ihn dort wandeln,

es sind noch

zwei

Fortsetzungen Axel Munthe da. Sie glauben, mir wunder welche Schmeichelei zu sagen mit dem dutzendmal gehörten «leider ist Ihre Novelle für unseren Leserkreis viel zu feinsinnig». Wir haben es eben mit dem demokratischen Popanzen, mit der zahlenden Vox populi zu tun; Dante, mit dem ich

mich deshalb noch lange nicht verglichen habe, richtete sich bekanntlich ausschließlich nach den Verlautbarungen der Vox populi. Der «Schweizerspiegel» antwortete mir auf meine erste Annäherung, ich möchte auf der Redaktion zur Entgegennahme von Weisungen darüber vorsprechen, wie eine Novelle auszusehen habe, um im «Schweizerspiegel» zu erscheinen. Ich habe die Vierzig hinter mir; erhalte aber immer noch Angebote mit gedrucktem Ablehnungsformular zurück. Von einem gewissen «literarischen Alter» an hat ein Autor im Vaterland Anspruch darauf, nicht mehr so wohlwollend mitleidig behandelt zu werden, wie er es sich tatsächlich bei uns gefallen lassen muß. Wir haben nicht behauptet, die einzigen Denkenden im Lande zu sein, hingegen sagen wir, daß unsere Feder nicht weniger zu gelten hat als die der Doktoren. Über Schoeck habe ich nichts zu befinden,

weil darin «unser Musikkritiker beauftragt ist». Ich schrieb aus trauerndem Herzen einen Artikel für Ludwig Renn im Konzentrationslager; eine Basler Zeitung schickte ihn mit der Bemerkung zurück, daß sie dafür ihre Sachverständigen hätte. Unsere Rezensionen gelten für unobjektiv, gefühlhaft, übertrieben, und das trifft sogar zu; sie sind gleichwohl richtiger als die unverbindliche Lauheit der berufsmäßigen Besprecher. Ich tu’sja schon gar nicht mehr! Im Schreiben erlahmt mir die Hand beim Gedanken an die Plackerei nachher: die Bettelei von Redaktion zu Redaktion. Dabei hat Elisabeth

Thommen

durchaus

87

recht mit der Behauptung,

daß einer Redaktion keine Verzierungen abfallen, wenn sie sich dem Schriftsteller einmal anregend oder sogar bittend nähert. Das tun meist nur die Anfänger unter den Redaktionen, und wir haben die Ehre, alle Jahre wieder ein neues Unternehmen mit unsern Würmern zu füttern, unter Be-

rücksichtigung der selbstverständlich noch nicht sehr konsolidierten Zahlungsfähigkeit des Verlages. Wenn wir dabei mit unserer Mitarbeit die Türen nicht einrennen, so geht die Zeitschrift samt unserem schönen Namen bald wieder zum Frieden des Herrn ein. Warum habe ich mir aber auch die obere Plattform des Landes durch Mitarbeit in der sozialistischen Presse verriegelt! Sollte jemand so, wie ich selber vorzeiten, behaupten, daß unter dem Strich die politische Gesinnung nicht angesehen werde, so kann ich das Gegenteil schriftlich verbürgt vorweisen. Ich hatte einmal den Ehrgeiz, mir einen Namen machen zu wollen. Ich habe den Ehrgeiz nicht mehr. Allerlei anderes hat in der Welt an Bedeutung gewonnen. Die Gnade oder Ungnade unserer unaussprechlich wohlwollenden bürgerlichen Presse ist mir gleichgültig geworden; aber sie soll wenigstens nicht unwidersprochen in der Welt herumbehaupten, daß unsere Mitarbeit mit keinen Kniefällen und Drohungen zu erringen sei. Wir haben gelitten an eurer Gnädigkeit. Wir haben uns auf euren Staubstuben niederdrücken lassen von eurer Ironie. Wir haben deshalb nicht aufgehört, unsere Verse zu machen; wir wissen, ihre Zeilen-

länge paßt nicht in eure Spalten, und wir verbrauchen kein Porto mehr an sie. Unsere Meinung hat euch nicht interessiert, wir waren in ihrer Äußerung zu temperamentvoll, nicht wohltemperiert wie eure Rücksicht auf den lieben zahlenden Bürger. Und da von euch kein Hund zu leben vermag, brauchen wir unsere Zeit im Broterwerb auf.

An jenen Bücherfreund! Genau ihn meinen wir nämlich. «Es gibt auch andere, die in der Arbeit Geist tätigen.» Haben wir jemals Anspruch darauf erhoben, das Monopol auf den Geist zu besitzen? Wir sind soziologisch mit der Ungenauigkeit solcher Etikettierungen als Geistesarbeiter bezeichnet worden und vor dem 88

Bürger in seinem Ressentiment nicht dafür haftbar. Wenn der Bücherfreund uns nicht kennt, so braucht das ja nicht ohne weiteres unsere Schuld zu sein. Er liebt es immer, uns mit der Größe der Großen heimzuschicken. Er ist derselbe,

der die Großen zu ihrer Zeit ebenso heimgeschickt hätte. Er ermahnt uns zur Bescheidenheit: «Eine große Bescheidenheit tut uns allen not.» Was kann er von unserer Bescheidenheit wissen, die sich ganz anders als die demütig aussehende Bescheidenheit zerknirscht! Das ist es ja gerade, wogegen wir uns endlich auflehnen: diese allergnädigste Duldung von der Seite des Büchergönners, der sich in den Mußestunden seiner gewichtigen Existenz zwar nicht zu uns, aber doch zu den Großen herabläßt. Wenn der verträumteste von uns Träumern merkt, was die Stunde geschlagen hat, soll er noch mit dem Finger auf seinem Munde wandeln und Bescheidenheit üben, denn

sein Zorn

wird ihm als Hochmut,

seine

Leidenschaft als Auflüpfigkeit von dem wohlmögenden Bücherfreund angekreidet werden. Dem Träumer geht es nie um die eigene Person, ihm geht es ausschließlich um die Sache seines Traums.

Allein, was weiß der Bücherfreund,

der Bürger davon! Wenn dem Träumer im Staub dieser Zeit, die eine andere als die Zeit Gotthelfs und Kellers ist, einmal der Atem ausgehen will und er nach Luft und Freiheit schnappt, dann erhebt gleich der Bücherfreund seine Hand, um ihn in die gebührende Bescheidenheit zu verweisen,

zurück in die Botmäßigkeit einer Gesellschaft, in der die Geschäfte und Nichtgeschäfte des Bürgers herrschen.

Schweizerisches Schrifttum

Sehr geehrte Kollegen! Aus

der

Presse

ist Ihnen

vielleicht

bekannt,

daß

der

Schweizerische Schriftstellerverein zur Gewinnung von Geldmitteln einen Kreis sogenannter «Freunde des Schriftstellervereins» zu sammeln begonnen hat. Die Werbezentrale beauftragte mich, wenn möglich den Lehrerverein Zürich zur Mitwirkung zu gewinnen. Nicht allein, daß uns der Vorstand in der liebenswürdigsten Weise entgegenkam, ein Mitglied desselben leitete die Angelegenheiten außerdem an den Kantonalen Lehrerverein weiter, indem er mich gleich89

zeitig bat, für den Pädagogischen Beobachter einige Erweiterungen zu dem nachfolgenden Zirkular des SSV zu schreiben. Wir sind beiden Lehrervereinen für dieses Verständnis zu großem Danke verpflichtet. Weshalb und wozu braucht der Schriftstellerverein Geld? Um die Maschinerie eines überorganisierten Interessenverbandes zu ölen? Niemand wird Schriftstellern besonders viel gewerkschaftliche Betriebsamkeit zutrauen. Wir haben nicht einmal zu verhüten vermocht, daß unsere Bundessubvention

um ungefähr ein Fünftel gekürzt wurde. Das geschah uns ın einer Zeit, wo die Schweiz von einer landesfremden Litera-

turproduktion überschwemmt, Schweizer Zeitungen und Schweizer Bücher im großen deutschen Sprachgebiet hingegen so gut wie unmöglich geworden sind. Das Wesentliche an diesem Umstand ist nicht sein Beigeschmack von Demütigung, zu spät werden eines Tages die Folgen im GeistigMoralischen unseres Volkes eingesehen werden. Ich bin sicherlich der letzte, der einer Heimatkunst im engstirnigen Sinne das Wort reden möchte, wir ersticken im Kleinbürger-

lichen ohne den großen Weltwind; aber «vom Nahen zum Fernen» ist auch ım Bezirke der Kunst ein Gesetz, das nicht

ungestraft mißachtet wird. Unser Volk lese ein halbes Jahrhundert lang die Baronen- und Assessorenromane unseres Feuilletons: nur der Leichtsinn wird behaupten, daß sich daran sein Empfinden nicht verfälsche. Die Wirkung wird noch katastrophaler sein als die im allgemeinen Verfall des Geschmacks ersichtliche: im Sieg des Basars wird die alte einfache Echtheit untergehen. Zu sagen, daß noch kein Schweizer einen brauchbaren Feuilletonroman fertiggebracht habe, blieb ausgerechnet einem schweizerischen Schriftsteller vorbehalten. Welchen Feuilletonroman bringt der Schweizer nicht fertig? Er bringt nicht fertig den unverbindlich spielerischen, geschäftlich wohlberechneten Literaturroman, den Edelkitsch, der nach Qualität aussieht, etwa

so wie ein in Marzipan raffiniert nachgeahmter Apfel. Das Wesen des Schweizers ist auf Qualität angelegt nicht nur im Uhren-, Schokolade- oder Maschinenfach, sondern Gott sei

Dank einstweilen auch in seinem Schrifttum. Man wirft uns unsere übergroße Ernsthaftigkeit und Schwere vor. Sind es aber nicht gerade die typischen schweizerischen Eigenschaften? Es ist verständlich, daß man seinen Spiegel zuweilen 90

haßt und die Erfrischung des Gegensatzes sucht; aber auf die Dauer ist es verderbenbringend, der kritischen Selbstbetrachtung auszuweichen. Wer in der Schweiz sogenannte Feuilletonromane schrieb, der hatte bestimmt einen papierschweizerischen Großvater. Wir andern sind so schrullig, verschattet, grüblerisch und einsam wie unsere alemannische Landschaft es ist. Wir sind moralisch wie Albert Steffen, boshaft verschnörkelt wie Robert Walser, tiefbohrend wie Humm, pädagogisch wie Traugott Vogel, eigenwillig wie Konrad Bänninger und noch in den Höhen der Klassik basellandschaftlich wie Spitteler. Ein Roman wie «Ott, Alois und Werelsche» ist nur insofern kein Feuilletonroman, als es typisch unser schweizerischer Feuilletonroman ist. «Unsereiner» von Iraugott Vogel ist seiner ganzen Anlage nach mit Händen zu greifen zürcherisch. Man mache ruhig den Versuch, sich einmal ein Jahrhundert lang ohne unsere Berikerbirnen und Usteräpfel mit kanarischen Bananen, Grapefruits aus Palästina und Spanischen Nüssen zu behelfen, man wird den Verlust der einen und anderen Kleinigkeit von Vitaminen an seinem Leibe zu spüren bekommen. Ein paar Worte darüber zu sagen, war nötig aus dem Grunde, als wir, wenn wir Hilfe moralischer oder materieller Art suchen, selbstverständlich gegen die Frage rennen:

Schön und gut, aber gibt es denn überhaupt ein Schweizer Schrifttum, das von Belang und notwendig wäre? Hier sind wir am leichtesten angreifbar, denn es steht uns nicht an, uns

anders als durch unser Werk zu beweisen. Unserem Werk aber steht man mit ebenso echt eidgenössischem Mißtrauen gegenüber. Was sollen wir dagegen tun? Kann ein Land von der Ausdehnung der Schweiz permanent Gotthelfe hervorbringen? Kann es das zahlenmäßige Kontingent eines Millionenvolkes wie der Reichsdeutschen stellen? Wenn bei uns durchschnittlich ein wesentliches Buch im Jahr erscheint, dann ist die Leistung Deutschlands bereits übertroffen. Und es erscheint ein wesentliches Buch pro Jahr. Daß sie vor Presse und Publikum mit einer Novitätenbeachtung in die Vergessenheit abtreten, ändert nichts an der Bedeutung von Büchern wie «Ott, Alois und Werelsche», «Die Bestimmung der Roheit» von Steffen, «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe», «Geschichten», «Gedichte» von Robert Walser, «Das Menschlein Mathias» von Ilg, Vogels «Unsereiner», «Matka

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Boska» der C. I. Loos, «Stille Soldaten» von Bänninger, «Polly» von C. F. Vaucher, «Stufen zum Licht» von Walter Hauser, aller Arbeiten der Regina Ullmann, «Die Jostensippe» von Kuhn, um nur beinah zufällig aufzuzählen. Von dem Feuilletonisten Robert Walser, einem seltenen, reinen Dichter, den eine kommende Zeit wieder ausgraben wird, schrieb Eduard Korrodi mit Grund, daß Deutschland eine Doublet-

te davon nicht besitze. Ein so notwendiges Buch wie die «Jostensippe» (Geschichte des schweizerischen Zerfalls, 1934 erschienen!) geht bei uns wie alles sozusagen unbeachtet vorüber. Wissen Sie, daß unsere Lyriker die Herstellung ihrer Bücher aus der eigenen Tasche bezahlen? Nehmen Sie irgendeines in die Hand, es wird schon nicht anders sein. Ich habe mein Bändchen «Gedichte» dem Verlag fix und fertig abgeliefert: Druck, Papier, Einband, alles bezahlt. Uber das Versandporto der mehr als hundert Rezensionsexemplare (gratis abzugeben!) erhielt ich prompte Rechnung zugestellt. Das kann sich ein Festangestellter leisten, nicht aber der freie Schriftsteller, der mit 80 Fr. Monatsverdienst

auskommen

muß, wie ich von mehr als einem weiß. Wir bringen heute kein Buchmanuskript ohne die Übernahme von 200 bis 300 Exemplaren Garantie mehr an. Von R. J. Humm, einem unserer talentiertesten Jungen (40 Jahre), liegt ein unbeschreiblich

schöner,

kleiner

Roman

«Die

Inseln»

vor;

er

kann nicht gedruckt werden, bevor der Verfasser die genügende Zahl Subskriptionsexemplare eingetrieben hat. Auf diesen Humm sicherte sich seinerzeit ein Weltverlag wie S. Fischer, Berlin, das Optionsrecht. Hat Humm versagt? Versagt hat die Kultur des deutschen Sprachgebiets. Rudolf Kuhn, in dem sich der Schweiz ein (nur nach der Seite der Routine gefährdeter) bedeutender Erzähler vorbereitet, lebt, von einem Sturz in den Bergen seit Jahren Patient, so viel ich weiß, arm in Leysin. Der hochbegabte Dichter-Bildhauer Erich Weiss findet keine Mittel, seine herrlichen Marionetten ans Licht zu bringen. Wozu braucht der Schriftstellerverein Geld? Nicht, um Faulenzer zu ernähren. (Die Tatsache, daß von Literaturstiftungen in der Schweiz Namhaftes geleistet wird, sei dankbar anerkannt.) Was der SSV anstrebt, ist, für Bücher von Wert die Drucklegung zu ermöglichen. Die «Freunde des Schrift-

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stellervereins» sollen ein solches Buch als Gegengabe für das Jahresabonnement erhalten. Im Unterschied zu der kleineren romanischen hat die deutsche Schweiz keine einzige literarische Zeitschrift von Niveau. Nicht eine! Es hat sich nie eine halten können. Die Finanzierung einer solchen Zeitschrift liegt ebenfalls im Programm des SSV. Nun sind 20 Franken Jahresbeitrag vielleicht viel. Wir glaubten annehmen zu dürfen, daß sie dem Einsichtigen nicht zu viel seien. Wo, wenn nicht bei den sichergestellten Gebildeten, dürfen wir mit einiger Erwartung anklopfen? Es handelt sich vorläufig um Ihre Anmeldung, die entgegengenommen wird vom Sekretariat des SSV, Dr. Karl Naef, Oetlisbergstr. 40, Zürich. Zur Durchführung unserer Pläne brauchen wir eine Schar von einigen hundert Freunden. Daß die Lehrer in diesem Verein der Großherzigen recht zahlreich vertreten sein möchten, ist der Wunsch und die Hoff-

nung Ihres Sie höflich begrüßenden Kollegen Albin Zollinger

Vorsatz

Die aus Felix Moeschlins «Flugblatt» hervorgegangene «Zeit» soll als Monatsschrift ausgebaut werden. Mit rühmenswertem Opfermut erhält der Verlag das Unternehmen in diesen schweren Zeiten aufrecht. Er gelangte an einige von uns Schriftstellern mit der Bitte um geistige Unterstützung des Vorhabens. Er kam damit einem Bedürfnis unsrer selbst entgegen: Wie lange haben wir die Zeitschrift, deren Ausgestaltung wir nunmehr versuchen dürfen, entbehrt! Was ist das für eine Zeitschrift? Wir besitzen Familienblätter die Menge, zwei oder drei Tageszeitungen von Wagemut, aber keinen Ort, wo die Leistung von höherem Anspruch einigermaßen systematisch gesammelt erscheint. Das Einzugsgebiet der Schweiz ist nicht umfangreich; ihre literarischen Absatzmöglichkeiten gehen heute auch nicht mehr darüber hinaus. Das bedingt die denkbar schwierigsten Lebensumstände nicht nur des schweizerischen

Schriftstellers, sondern auch

einer Zeitschrift, durch die er sprechen soll. Eine wunderliche Neigung dazu, alle künstlerische oder literarische Tätigkeit als persönlichen Ehrgeiz zu übergehen, ist in dem prak98

tisch nüchternen, spöttisch diesseitigen Menschenschlag der Eidgenossen allzu verbreitet. Wie alles, ist auch der Bezirk der Dichtung von der Privatwirtschaft mit Beschlag belegt, in redlicher Absicht sogar, da der Staat sich um Belange der Käsewirtschaft ungleich mehr als um solche der Literatur bekümmert. Wer zahlt, befiehlt: Welche Ungeheuerlichkeit, daß das unterm Strich verwaltete allgemeinste Gemeingut der Menschheit, eben die Dichtung, von den Gnaden einer Finanzpartei zu leben hat! Man darf behaupten, daß es nicht die schlechtesten

unter den schreibenden

die zur einflußreichen,

Schweizern

weil zahlungskräftigen

sind,

Presse des

Vaterlandes aus dem Grunde keinen Zutritt mehr haben, als

ihre weltanschauliche Überzeugung sie in Gegensatz zum politischen Teil dieser Zeitung bringt. Von diesem ganz unwürdigen Umstande abgesehen, wird hierzulande eine ebenso rührende als erbitternde Rücksicht auf die Ansprüche der sogenannten «breiten Massen» genommen; danach beurteilt, muß

Helvetien

eine wahre

Schilfhütte sein. Uns be-

drückt das große Maß der Wohlanständigkeit und Vorsicht, dem wir uns fügen sollen, die angebliche Denkfaulheit des Publikums entmutigt. Das Schöpferische verdirbt ohne Freiheit zum Irrtum, Kunst ist die Dirne nicht, die sich mit Hinz

und Kunz zu Bett legt, etwelche geistige Anstrengung muß dem Leser zugemutet, eine Minderheit strebend Bemühter ausfindig gemacht werden können in einem Lande, welches zu dauern hofft, schon gar in Zeiten wie den unsern, die mit

Heidideldum und Geldsack nicht zu bestehen sein werden. Nicht als ob Geist sich einzig im Mittel der Kunst manifestierte; doch ist es nicht minder snobistisch, ihr Teil durch

herablassende Bagatellisierung oder händlerischen Materialismus zu schmälern. Es ist wahr, die Schweiz trug etwas, was mehr als eben ein Familienblatt vorstellte, nie auf die Dauer; ob es Pestalozzis «Ein Schweizerblatt», ob es «Die Schweiz», Moeschlins «Schweizerland» oder Walter

Muschgs «Annalen» waren, die Treue der Abnehmer hielt sie leider nicht, auch wir sind uns dessen und seiner War-

nung bewußt: Nicht etwas Versäumtes, etwas vielfach Versuchtes unternehmen wir, um nur die Bemühung fortzusetzen. Niemandes Verdienste auch in der Gegenwart sollen von uns herabgesetzt werden, unsere Meinung geht dahin, daß die bestehenden Unternehmungen der Art ihrem Wesen 94

nach einseitig sein müssen: Magazine sind ohne ihre Leichtigkeit keine Magazine mehr; die «Neue Schweizer Bibliothek», das verdienstliche Werk Robert Jakob Langs, dürfte in

ihrer Anlage zu starr sein, die «Neue Schweizer Rundschau» ist vorwiegend essayistisch, «Corona» den Göttern des Olymps vorbehalten. Wir können nicht hoffen, ein intelligenteres Feuilleton als mehrere unserer Tageszeitungen zu machen, noch etwa Peter Meyers umsichtige Orientierung über Dinge der Kunst in den Schatten zu stellen; was uns vorschwebt, ist die Möglichkeit einer Vereinigung so vorzüglich spezialisierter Gebiete in einem Heft, das einen Querschnitt durch unsere Leistung aufbewahrt und über die Dinge des Tages, Gott gebe, munter Buch führt. Es handelt sich, wie ersichtlich, sozusagen um eine Veran-

staltung der Autoren und Künstler selber (da es doch wohl jemand wagen muß!), um etwas wie Notwehr in dieser Zeit, da alles Geistige und Freiheitliche leider besonderen Grund hat, sich seiner Haut zu wehren. Also ein Refugium der gekränkten Leberwürste, Schmollwinkel verkannter Genies? Man möge es dünkelhaft nennen, daß wir in höchst patriotischer Sache zu handeln glauben, eben aus der Erwägung heraus, daß noch kein Land der Weltgeschichte seine geistigen Provinzen ungestraft hat vergrasen lassen. Von einer geschäftlichen Spekulation kann bei der Art des Gegenstandes keine Rede sein; der weitere Verlauf muß erweisen, in

welchem Maße wir für unsere Absichten Zustimmung und Mithilfe finden.

In eigener Sache Ich muß, um das Grundsätzliche zu klären, nicht zur Vertei-

digung meiner Person, mit zwei Worten auf eine Besprechung unserer Zeitschrift in der «NZZ» eingehen. Es ist richtig, was Herr Dr. Korrodi sagt: Jene, die die kulturelle Isolation der Schweiz aus purem Grimme gegen Deutschland preisen, werden im eigenen Lande die paar Zeitschriften, die wir besitzen, deshalb noch lange nicht fördern. Daß wir eine literarisch ernstzunehmende Linkspresse in der Schweiz nicht haben, ist mir so selbstverständlich, daß ich es zu sagen vergaß. Daß diese Linkspresse noch

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intoleranter als die bürgerliche genannt werden muß, unterliegt ebenfalls keinem Zweifel. Das vervollständigtja gerade unsere Notlage. Wie darf Herr Dr. Korrodi diese Notlage ernsthafter Männer mit Ausdrücken wie «Märtyrerkrone» ironisieren? Wenn er nach allem nicht gemerkt hat, daß es mir, so wahr ich lebe, um mehr als mein bißchen Privatperson geht, dann gibt es hiefür nur zwei Erklärungen: entweder die Möglichkeit solcher geistigen Leidenschaft ist seinem Pessimismus unfaßbar oder er weigert sich zu verstehen. Die Unversöhnlichkeit eines Mannes von seinem Geiste hat mich tief erschreckt. Glaubt er nach allem, ausgerechnet mir entgegensetzen zu sollen, daß nicht Geld, sondern der Geist Rang und Ehre der Literatur bestimmt? Was anderes habe ich denn in dem getadelten «Vorsatz» postuliert? Ich lege ein Heft mit den gewiß nicht politisch anrüchigen Autorennamen Ce£cile Ines Loos, Hermann Hiltbrunner, Traugott Vogel, Leopold Hess vor, ich gebe, nicht ohne Bangen, der Hoffnung Ausdruck, Zustimmung und Mithilfe zu finden;

das alles aber schützt mich nicht vor der Verdächtigung, dem dichterischen Leben der Schweiz «großmütigen und mannigfachen Ausdruck in dieser Zeitschrift» zu versagen. Ich gestehe, daß mir die Annahme der Beiträge überhaupt keine Sache der Großmut ist; wer einen Amtsposten in den Bezirken der Dichtung antritt, übernimmt die Verpflichtung zur Gewissenhaftigkeit und Unabhängigkeit vom bloß Persönlichen. Ich kann mir vorstellen, daß etwa Paul Lang, mit dessen Politik ich nicht einig gehe, sich in der «Front» kritisch mit dem streitbaren Teil unserer Zeitschrift auseinandersetzt. Sollte er mir in der Folge ein Hörspiel anbieten, von dem ich finde, daß es eine Dichtung sei, dann wird nichts, auch nicht der Tadel der Absolutisten links, mich daran hindern, es in der «Zeit» abzudrucken, und zwar

freudig. Aus dieser Einstellung kommt meine Charakterlosigkeit, «gegen dieselben Blätter zu polemisieren, deren Feuilleton ich mit meiner Feder bereichern möchte». Ich hielt bis vor kurzem das Feuilleton für etwas wie eine öffentliche Anlage, ein Gemeingut, besonders in der Demokratie; ich sehe aber ein, daß es unrichtig war und ich da verboten spazieren ging.

96

Anmerkung der Redaktion zu: Bernard von Brentano:

Über das Herausgeben von Zeitschriften Es sei uns gestattet, bei Gelegenheit dieser Thesen, um deren Fixierung wir Herrn Brentano baten, die eigenen Absichten ein wenig zu umschreiben. Eine Zeitschrift, wenn wir sie ganz nach unserer Vorstellung davon gestalten dürften, müßte so etwas wie eine permanente Anthologie sein. Wir werden

uns

aus

dem

Grunde

nicht

scheuen,

neben

der

Tagesproduktion auch die Vergangenheit zu Wort kommen zu lassen. Ein so herrlicher Dichter wie Robert Walser ist noch viel zu wenig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit eingegangen. Wir werden, möglicherweise zu seinem persönlichen Verdruß,

immer

wieder

auf ihn und

das

Schweizertum,

dessen Gebilde er ist, hinweisen. Eine Art «immanente Repetition» der Geistesgeschichte muß, zum mindesten in der Andeutung, dem Vortrag verwoben werden. Eine Zeitschrift ist immer eine zutiefst pädagogische Angelegenheit. Was ihre . Debatte betrifft, so versprechen wir uns keine Unfehlbarkeit der Behauptungen: Originalität und Mut bewegen sich in diesen Blättern auf ihre bewußte Verantwortung.

Ein Wort an den Leser

l. Kann eine Zeitschrift in jeder Nummer mit jedem Beitrag jeden Geschmack treffen? Das kann sie naturgemäß nicht, will es auch nicht. 2. Kann eine Monatsschrift mit lauter Meisterwerken gefüllt werden? Es wird viel Gutes, aber wenig Vollendetes geschrieben. Sie kann es nicht. 3. Wir haben nicht die Absicht, «schöne Bildlein zu zei-

gen», wir machen kein Kinderbuch. Wir sehen uns unter dem, was sich gestaltet, um, in der Auffassung, daß wir den Betrachter unterschätzten, wenn wir ihm bloß das Bequeme,

Längstbekannte vorsetzten. Er hat sich auf manches gefaßt zu machen, nur nicht auf das, was uns selber als Mache und

Konjunkturfabrikat erscheint. 4. Ebenso kindlich, wie im Zorn auf eine mißlıebige Zeichnung gegen uns zu rebellieren, ist es, die Zeitschrift 97.

einer bei uns oder von uns verfochtenen Meinung wegen abzubestellen. Solches Verhalten zeugt höchstens für den Mangel an Überlegenheit des Kritikers. 5. Für jene, die in der Kunst einen Lehnstuhl sehen, ist «Die Zeit» nicht gedacht. Für jene, die eine Diskussion nur dann billigen, wenn sie sich Punkt für Punkt in ihren eigenen Auffassungen darin bestätigt finden, ist «Die Zeit» nicht gedacht. 6. Die Zeitschrift, die wir vorhaben, darf keine gekaufte

Ware sein; sie verpflichtet den Leser ebenso wie die Schriftleitung und erfordert beider redlichste Bemühung. 7. Hält nicht den empfindenden und denkenden Menschen von heute sein Geschmack davon zurück, alles zu diskutieren, was an den Biertischen im Überfluß diskutiert

wird? Was sollen wir schon zu Spanien sagen? Alle wissen wir, daß es grauenhaft ist. Die Schriftleitung der «Zeit».

An unsere Leser

Mit diesem Hefte haben wir uns leider von unseren verehrlichen Lesern zu verabschieden, denn es ist das letzte, das wir

herausgeben dürfen. Eine Schar Getreuer hat durch mehrere Jahre hindurch mit Vertrauen und Nachsicht zu uns gestanden und den Versuch einer schweizerischen Zeitschrift von der Art ermöglicht. Diesen sei unser herzlicher Dank ausgesprochen. Wenn die Bemühung einen dauernden Erfolg nicht einbrachte, so denken wir zunächst an das eigene Versagen und entschuldigen es nicht mit der redlichen Absicht, die in keiner Sache genügt. Offen bekennen wir freilich eine gewisse Bitterkeit gegenüber der schweizerischen Presse, die uns, da wir weder rechts noch links standen, sondern die Unab-

hängigkeit unseres Urteils wahrten, sozusagen auf ihrer ganzen Breite ignorierte. Man fühlte sich nicht verpflichtet, ein solches Unternehmen moralisch zu stützen. Wir genossen die Aufmerksamkeit nur privat in der Form des mannigfaltigsten Zuspruchs, wie man es besser machte. Da diese Ratschläge sich leider wechselseitig aufhoben, das Ding dem einen zu heiß, dem andern zu kalt, dem zu literarisch, jenem

zu politisch war, hielten wir es für geraten, den eigenen Kopf

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durchzusetzen und mit den vorhandenen Mitteln das uns Notwendigscheinende zu gestalten. Wir sind nicht unglücklich, die Arbeit abgeben zu dürfen, vorausgesetzt daß unser Verstummen eine eindringlichere Stimme auf den Plan ruft. Dieses freilich halten wir noch heute für eine dringende Notwendigkeit im Interesse unseres Schrifttums ebenso wie des Schweizervolkes. Verlag und Schriftleitung «Die Zeit»

Eine Literatur-Zeitschrift des SSV

Es ist eine bekannte Tatsache, daß wir seit Muschgs Annalen keine deutschschweizerische literarische Zeitschrift mehr hatten. Die Neue Schweizer Rundschau, deren Qualitäten unbezweifelbar sind, beschränkt sich vorwiegend auf das Essay. Das Heer der Familienblätter komınt für differenziertere Dichtung nicht in Frage, und das Feuilleton der politischen Zeitungen hat seine natürlichen Beschränkungen in sich, abgesehen von einer Besonderheit, auf die ich zurückkommen werde. Es bleibt meine Überzeugung, daß eine Nation nur dann ihre Berechtigung hat, wenn sie nicht bloß lebt, wirtschaftet und sich quantitativ erweitert; sie muß die Blüte einer Kultur ermöglichen. Die vorhandene Geistigkeit eines Landes ruft nach einem Sammelpunkt, einem Forum, von dem

aus sie sich zu allen wendet. Es genügt nicht, daß wir unsere literarische Produktion in den Tageszeitungen zersplittern, wir brauchen ein Mittel, sie im Querschnitt gesamthaft aufzuzeigen. Im Feuilleton der Tagespresse kann das schon deshalb nicht geschehen, weil, das ist leider heute ein Faktum, dieses Feuilleton nach politischen Parteien geteilt ist. Die Leser des «Volksrechts» hören nur Jakob Bührer, die des «Bund» nur Rudolf von Tavel, wenn ich diese Namen als Programme nennen darf. Das ist eine Versündigung an der Dichtung ebenso wie am Publikum. Eine Zeitung von Gewissen müßte über ihrem Feuilleton wirklich und im Sinne des Wortes einen Strich gezogen haben; denn die Literatur ist Allgemeingut, öffentliches Gebiet, unteilbares Reich, und niemand, auch nicht der allmächtigste Verwaltungsratspräsident, hat ein Recht darauf, das Getier dieser Landschaft 99

nach seinen Neigungen und Abneigungen zu scheiden. Die Weltanschauung, soweit sie sich polemisch und spekulativ äußert, soll»sich ihr Organ aussuchen; der Dichtung müßte ihr königliches Passe-partout gesichert werden. Von den Besitzern politischer Zeitungen ist es nicht zu erhalten, darüber geben wir uns keiner Täuschung hin; die Zeitschrift, die in ihrem belletristischen Teil das Material ausschließlich von seiner qualitativen Beschaffenheit abhängig macht, ist vor allem aus diesem Grunde ein dringendes Erfordernis. In den Tagesblättern geht alles ephemeristisch vorüber, wir brauchen die anthologische Monatsschrift, die einen Überblick über das literarische Schaffen aufbewahrt. Man

wird

mir

antworten,

dafür

hätten

wir die Neue

Schweizer Bibliothek. Ich kenne heute die Taktik ihrer Leiter: durch gewisse Konzessionen an die Masse des zahlenden Publikums soll die Verbreitung auch der Qualität ermöglicht werden. Diese Methode mag das wirtschaftlich Richtige sein, und es müßte versucht werden, neben dem verdienstlichen

Werk Robert Jakob Langs ein zweites in einem exklusiveren Sinne zu unterhalten. Da es mir angeboten wurde, versuchte ich es in der «Zeit», um der Sache willen mit beschränkten materiellen Mitteln,

indem ich vor allem auch darauf drang, durch eine bestimmt gerichtete, unretouchierte Diskussion in Verbindung mit der Zeit und ihren Notwendigkeiten zu bleiben. Unter Verzicht auf klassische Glätte und ästhetische Bequemlichkeit bemühte ich mich, für Demokratie

und Freiheit, Menschen-

würde und Rechtlichkeit, für die Minderheit der unabhängig Denkenden einzutreten, ohne das Hauptziel aus den Augen zu verlieren: der positiven Leistung ein Forum zu erhalten. Die Möglichkeit, vom Kommunisten bis zum Frontisten jedem in seinem Künstlertum gerecht zu werden, ist bewiesen. Leider ist die Zeit einer dermaßen idealistischen Bestrebung wenig günstig; ihr Weg zwischen den Parteien hindurch fand die Förderung weder von rechts noch von links, Kritik und Rebellion wurden nicht als das, was sie waren, a Äußerung redlicher Sorge, sondern als Nörgela aufsefaßke die Presse schwieg dazu sozusagen auf ihrer ganzen Breite, ohne auch nur unsern guten Willen anzuerkennen. Dies war eine typisch schweizerische Verhaltungsweise: statt die Klärung der Dinge mit männlicher Auseinandersetzung zu be100

treiben, verblieb man im Ressentiment, im Argwohn, bei den bloß persönlichen Verhältnissen. Das ist heute weniger alsje erlaubt.

Wir müssen

dazu kommen,

die Dinge, nicht die

Person, in den Vordergrund zu stellen. Da die Prätorianer des Materialismus im Vaterland rührig sind, dürfen wir umso weniger schlafen. Wir brauchen ein Organ des geistigen Menschen, in dem die Belange der Kultur unabhängig von Sonderinteressen verfochten werden. Bei der privatwirtschaftlichen Beschaffenheit der Tagespresse ist es notwendig, daß dieses Organ Eigentum der Schaffenden sei. Die Zeitschrift des Schriftstellervereins ist ein altes Postulat. Das von Felix Moeschlin gegründete «Flugblatt» wurde in verschiedenen Formen vom Verleger Feuz in Bern jahrelang mit großen Unkosten durchgehalten. Dieser seltene Geschäftsmann

ließ es sich nicht zu viel sein, immer wieder

neue Maßnahmen

zur Ausgestaltung des Heftes zu versu-

chen. Er ist auch heute noch willens, uns seine Arbeitskraft

zur Verfügung zu stellen, nur muß die Gemeinschaft die vorerst unvermeidlichen Verluste tragen. Nach allen möglichen Versuchen der Sanierung greife ich heute auf den Schriftstellerverein,

indem

ich ihm

beantrage,

einen

Teil

seiner Mittel für die gemeinsame Sache flüssig zu machen. Ausdrücklich: die gemeinsame, nicht meine persönliche oder die Sache eines Geschäftsmannes. Ich habe die Redaktion unter persönlichen Opfern und aus Notbehelf gemacht, wohl wissend, daß sie letzten Endes nur einem Fachmann zustand; da ein solcher zunächst nicht bezahlt werden kann,

muß sie interimistisch freiwillig besorgt werden. Von irgend einem unter uns; es erleichtert mich, wenn ein Kollege mich ablöst. Die Einzelheiten müßten besprochen werden, denn eine Abhängigkeit zum Nachteil des Gegenstandes darf sich aus der Umstellung nicht ergeben. Herr Feuz übernähme die Herstellung zum Selbstkostenpreis, der Verein die Unkosten nach Abzug der Abonnementssumme, einen Betrag von jährlich 4000-5000 Fr. bis zu dem Zeitpunkt, wo das Unternehmen sich selber trägt. Die Zeitschrift, mit einer vom Schriftstellerverein bestellten Leitung, stünde unter dessen Patronat, und es ließe sich erwägen, in welcher Form sie etwa unter den «Freunden des SSV» abzusetzen wäre. In ihrem heutigen Stand besitzt sie nur etwa 500 Abnehmer. Ich habe Sonderhefte über «Das Kind», «Neutralität», 101

«Schweizer Theater», «Spanien» veranlaßt und hatte solche beispielsweise über «Welschland», «Tessin», «Romanisch» vor; es ließe sich denken, daß der Satz zu Sonderdrucken,

Lyrischen Blättern, Sammelausgaben verwendet würde; die Möglichkeiten sind mannigfaltig, ich hoffe, mit dem Wenigen angedeutet zu haben, wie fruchtbar das Projekt in den Dienst unseres Bereiches gestellt werden kann. Ich habe mich in der «Zeit» nicht gescheut, auch französischen Text aufzunehmen;

warum

sollten wir eine Zeitschrift des SSV

nicht so

ausgestalten; daß wir sie mit Beiträgen unserer welschen Brüder mischen? Technisch ist der vorgeschlagene Weg nicht verbindlich; die Möglichkeit, etwa den «Geistesarbeiter» zu dem geforderten Organ auszugestalten, kann ebenfalls erwogen werden. Jedenfalls, sehr verehrte Kollegen, ist es meine Überzeugung, daß die Sache bedacht und diskutiert werden muß; ihrer mannigfaltigen Schwierigkeiten bin ich mir wohl bewußt, aber haben solche jemals von der Verpflichtung, sie zu überwinden, enthoben? Ich bitte Sie daher höflich, meiner Anregung, die ich dem Schriftstellerverein als Antrag einreiche, Ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit zu schenken.

Möglichkeiten des Schriftstellervereins Wenn ich zum Thema noch das Wort ergreife, so geschieht es nicht, um die Postulate zu erweitern; ich möchte sie lediglich mit dem Bekenntnis unterstützen, daß ich, von einer ganz andern Seite kommend, sogar in meiner Eigenschaft als Iyrıscher Wolkengänger, ebenfalls ihre Dringlichkeit empfand. Ich habe dem Bild von Sanftmut und Weltfremdheit,

das ein Lyriker darzustellen hat, mehr als eine Verzierung abgebrochen im Laufe der letzten Jahre. Ich kann es nicht ändern; bewilligen Sie, wenn nicht dem Lyriker, dem Staats-

bürger und Moralisten in mir das Recht darauf, sich um Dinge der Öffentlichkeit zu bekümmern. So gewiß als es wahr ist, daß wir unser Wesentliches im Werk zu leisten haben, ist es doch anderseits mit Händen zu greifen, daß der

Ernst der Zeit uns zu Dingen verpflichtet, die nicht getan werden, wenn wir sie nicht tun. Die Liebe zum Vaterland,

das in Europa ein letztes Vaterland der Menschenfreiheit 102

und Menschenwürde ist, gibt uns die strenge Haltung von Eltern, denen das Wohlgeraten ihres Kindes Herzensangelegenheit ist. Als denkende Menschen, als Menschen von Verantwortungsgefühl, bestehen wir auf dem Recht, den Lauf der Dinge urteilend zu betrachten. Als Geistesmenschen fühlen wir nicht nur den Drang, sondern die Verpflichtung, Ziele abzusehen und vorzuzeichnen. Als Demokraten denken wir hoch von der Bestimmung der Staatsgemeinschaft; sie ist uns Gegenstand einer Liebe, die eifert und wacht, denn wenn wir einen Nächsten nicht wesentlich in seiner Art bestimmen, so ist doch der Staat die Person, die zu formen uns gegeben ist. Reichlich viele Hände drücken daran herum und nicht alle in der redlichsten Absicht, weshalb es nicht wundernimmt, daß unsere gute Helvetia einer abstrakten Plastik mitunter mehr als dem Idol der Mütterlichkeit und Gerechtigkeit gleicht, als das wir sie gerne sähen. Vor allem droht ihr die Gefahr, zum bloßen Münzbild herabzusinken. Das ist keine geringere Gefahr als die des Untergangs. Es gibt für einen Staat kaum eine andere Gefahr, als die von innen. Der gesunde Baum übersteht jeden Sturm, oder doch sproßt er allein wieder nach, allen Gewalthabern zum Trotz. Es ist kein Argument zu sagen, unsere Kraft liege allein in unseren dichterischen Werken. Abgesehen davon, daß diese Werke in unseren Schubladen nicht eigentlich zu ihrer Wirkung gelangen, sind wir doch nicht hier zusammengekommen, um ein Gedicht abzufassen: die Mehrzahl eines Dinges ist immer etwas anderes als das einzelne, als Gremium der Träumer haben wir andere Obliegenheiten als die des Träumers. Und damit bin ich beim Gegenständlichen meiner Ausführungen angekommen. Mein Vorschlag wollte sein, daß wir dem Bau unserer Vereinigung als Gewerkschaft, als welche er, unter Führung unseres lieben Feuergeistes Moeschlin, wahrlich seine Pflicht getan hat, ein neues Stockwerk aufsetzen und ihn zu einer Art Ouria spiritualis ausbauen, mit etwas Fassade ganz ruhig, es gibt Fassaden, gegen die nichts einzuwenden ist. Eine Instanz ist zu schaffen, welche die Koordinierung der geistigen Kräfte des Landes an die Hand nimmt, und dies mit Autorisation des Bundes, in quasi amtlicher Funktion, daher auch aus Mitteln des Bundes. Wir müssen als Korporation über die interne, ge-

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werkschaftliche Tätigkeit hinauskommen zu derjenigen einer richtunggebenden Initiativstelle, im Interesse der Kultur unseres Landes, dessen geistige Kräfte diffus durcheinander wirken. Auch wenn wir keine Propagandaministerien ersehnen, müssen wir in diesen Zeiten die Notwendigkeit führender Absicht gerade im Abstrakten der geistigen Belange erkennen, ganz abgesehen davon, daß wir die wichtigsten Aufgaben rein gewerkschaftlicher Natur mit den bisherigen Mitteln nicht mehr weiterbringen. Es wird sinnlos sein, noch weiterhin Musterverträge zu entwerfen, wenn es uns nicht gelingt, die Übel im Verlagswesen von der Seite des Grundsätzlichen her zu beheben. Es ist nachgerade nur noch larmoyant, sich über die Zumutung von Druckzuschüssen zu beklagen; unsere Verlage sind gewiß selber auch nicht zu beneiden, wir müssen zusammensitzen, wir müssen Untersu-

chungskommissionen bestellen, um auf Besserung zu sinnen. Ich kenne mehr als einen initiativen, tüchtigen Mann voll Verlegerideen, des guten Willens ist beinahe zu viel vorhanden wie aller Arbeitskraft in diesem absurden Jahrhundert; der Unternehmungen sind so viele, daß keine mehr bestehen kann. Der Buchhandlungen sind so viele, daß wir deren Mietzinse mit Druckzuschüssen bezahlen. Sollen wir diese Zustände mit den Händen ım Schoß beklagen? - sollen wir nicht eher versuchen, ihrer auf irgend eine Weise Herr zu werden? Ich kenne einen jungen Menschen, der sich daran gemacht hat, privatim Bildungskurse für den Buchhändlernachwuchs durchzuführen, so gut, als es mit wenigen Mitteln eben gehen will. Solchen Bestrebungen müßte der Sukkurs des größeren Verbandes zu Hilfe kommen. Der privathändlerische Buchvertrieb sollte in einem geistigeren Sinne beeinflußt werden. Eine so dringende Sache wie die Jugendzeitschrift wird hierzulande von den Warenhäusern dilettiert. Für das Schweizerische Jugendschriftenwerk muß die Schuljugend selbst um ein Almosen angegangen werden. Die Zürcher Marionettenspiele werden lumpiger 500 Fränklein wegen sistiert, im Kindertheater wird nichts versucht. Unsere Lesegesellschaften kolportieren minderwertige Nazi-Literatur, der Feuilleton-Schund strömt über die Grenzen herein, und es ist angeblich nichts dagegen zu tun. Dürfen wir Faschismen gegenüber die alleinseligmachende Demokratie ausspielen, solange wir ihnen noch so mancherlei zu unserm 104

Vorteil

nachzumachen

hätten?

Wir

laufen

Gefahr,

ihren

Gleichschaltungen gegenüber einen ebenso ausschließlichen Föderalismus zu entwickeln und die federalen Bindungen zu vernachlässigen. Wir streben aber doch hoffentlich nicht aus dem Bundesstaat zum Staatenbund zurück. Richtlinien auch des kulturellen Lebens wollen bedacht und angeregt sein, Aufgaben der Gemeinschaft harren der Lösung. Um der Nation willen, Kolleginnen und Kollegen, haben wir die Verpflichtung, uns das Ruhebett übertriebener Bescheidenheit zu versagen. Um der Nation willen haben wir Forderungen durchzusetzen. Sozusagen täglich ergeben sich Situationen, wo die Wachsamkeit, die Initiative, die Ermahnung, das

moralische Veto, der Ratschlag einer mit Ansehen und Machtbefugnissen ausgestatteten geistigen Instanz in Funktion zu treten hätte. Die Theaterfrage Zürichs wird eines Tages wieder akut werden. Wer ist dann da, den Entwicklungen die Richtung zu geben? Werden dann wieder nur Magistraten und Geldleute ihre Hand auf die Sache legen? Das Zürcher Bühnenstudio wackelt auf den gebrechlichen Füßen der Privatinitiative, ohne die so wünschbare und nötige Stützung durch die Allgemeinheit. Wir müßten Kenntnisse und Vorschläge zur Hand haben, um im entscheidenden Augenblick die Theatersache vor Verlegenheitslösungen zu schützen. Wiedervereinigung von Oper und Schauspielhaus, mit einer eidgenössisch subventionierten Schauspielschule in den Räumen des Stadttheaters wäre zu erwägen. Ich brauche alle Finger meiner zwei Hände, um Ihnen die Buchmanuskripte aufzuzählen, die, gerade weil ihre Qualitäten sie unpopulär machen, keinen Verleger finden. Die editorischen Finanzriesen fühlen hierzulande keine andere Verpflichtung als die, das Absatzgebiet geschäftsmäßig auszubeuten. Niemand ist da, ihnen das Handwerk zu legen. Bei uns hat man Sinn für die Notwendigkeit technischer Laboratorien, nicht aber dafür, daß eine schöpferische Literatur dergleichen Luxus ebenfalls verlangt. Vor hundert Jahren galt eine Universität zweifellos als Luxus; nach der Denkweise der Krämer ist sie es heute noch. Die Bücher Adrien Turels oder Ludwig Hohls oder die subtilere Lyrik haben ihre Funktion in unserer Kultur, auch wenn sie weniger meßbar ist als die der Heimatkunst.

Allein, Turel und Hohl und die subtilere

Lyrik bleiben unter dem Scheffel liegen, wandern aus oder 105

ziehen sich, so sie können, am eigenen Zopf aus dem Sumpfe wie jener Freiherr. Turel verzeihe es mir, wenn ich auf seinem Beispiel noch weiter verweile. Dieser kenntnisreiche, erfinderische, überreiche Kopf ist, so macht es den Anschein, in der schweizerischen Kulturgemeinschaft wirtschaftlich nicht einzubauen. Ich bin grundsätzlich der Ansicht, in unserem wenig umfangreichen Lande habe sich der Dichter sein Brot anderswie als mit der Feder zu verdienen, weil die

literarischen Einnahmequellen für alle schlechterdings nicht ausreichen. Aber es gibt die Ausnahme jener typischen Schriftsteller, die man sich in einem bürgerlichen Berufe nicht denken kann und will. Sie müßten nicht hungern, wie mehr als eine unter unsern Begabungen hungert. Es müßte mit allem Nachdruck mindestens darauf gedrungen werden, daß sie die Möglichkeit bekommen, in Halbtagsarbeit oder durch rationelle Verwendung im Lehrapparat, da sie sich durch Äquivalente eines staatlichen Diploms ausweisen, zu Brot und innerer Ruhe zu kommen. Ich rede von keinen Abstrakta, ich rede davon, daß schöpferisch begabte Menschen ein Dasein in Kümmerlichkeit unter uns leben. Die Nation sollte sich solche Verschwendung nicht leisten. Das sprachliche Deutschtum müßte sich in der Not Verbindungen schaffen, durch die es wieder zu Atem kommt. Wir müßten vielleicht versuchen, ein Fenster nach England und Amerika, eines nach Skandinavien aufzustoßen. Ich sehe die

Lage nicht ausschließlich negativ, sondern gleichzeitig voll großer Möglichkeiten. Die Schweiz, als letzter Hort des freien Deutschtums, kann die Führung in entscheidenden Maßnahmen bekommen. Das von dem Dichter Hofmannsthal mit Unnachgiebigkeit erzwungene Salzburg der Festspiele kann nach Zürich gebracht werden. «Die Amerikaner werden kommen!» versicherte er in seherischem Optimismus. Das in Konfusion geratene Verlagswesen müßte mit Umsicht in internationale Zusammenhänge gestellt werden. Die Faschismen sind rührig darin, die Vergangenheit ihrer Nationen ans Licht zu heben. Die Demokratien in Defensive brauchen den Wettlauf nicht mitzumachen; ein Weniges an Demonstration ist ihnen wohl erlaubt und dienlich. Die Lebensläufe großer Schweizer, seien es Staatsmänner, Ingenieure, Künstler, Pioniere, sind in volkstümlichen Darstel-

lungen des weitesten zu verbreiten. Was darin getan wurde, 106

geschah allzu beiläufig, zu wenig planhaft und mit unzulänglichen Mitteln. Wir haben mustergültige Ausgaben nur zweier unserer Klassiker, sie sind zu kostspielig, sie dringen nicht durch. Sieht man nicht höheren Ortes ein, daß Gotthelf ein Flakgeschütz als Verteidigungswert wohl aufwiegt? Faschismen fragen für ihre Inhalte nach keinem Kostenpunkt und kommen dabei wahrlich auf ihre Rechnung; es sieht beinahe so aus, als riskierten wir für die unsern nur Worte.

Wie aber sollen wir für all das wirken, ohne ein Organ, über das wir zu unserem Ausdruck verfügen, durch das wir Einfluß auf die Öffentlichkeit nehmen? Sie wissen, wie dezi-

miert unsere Publikationsmöglichkeiten sind. Die Presse des Landes ist dem Schriftsteller wenig gefügig, ist ihm nicht, wie sie es müßte, Instrument, das er spielen kann; er wird es müde, sich ewig refüsieren zu lassen. Wir haben unsja auch nicht einmal

darüber

unterhalten,

ob die Praxis

unseres

Feuilletons, so wie sie ist, die einzig mögliche und richtige sei, ob es richtig sei, beispielsweise,

unter

Dichtern

eine

Selektion nach Kategorien der Politik vorzunehmen, ob es richtig sei, den Dichtern eines «schwerblütigen nachdenksamen Volkes» (Encyclopaedia Americana) ihre schwerblütige, nachdenksame Artung als Unterlegenheit gegenüber dem Angebot der aufgepfefferten internationalen Feuilleton-Industrie anzukreiden.

Der Föderativstaat,

dessen Nachteile

einmal vom genialischen Sarkasmus zu der Karikatur ausgezeichnet werden können, die Ramuz entworfen hat, braucht

die anthologische Zeitschrift seines Schrifttums, die einen Querschnitt, eine Synthese sichtbar macht, nicht allein des Literarischen,

sondern,

in der Abbreviatur,

des gesamten

Kunst- und Geisteslebens. Die Öffentlichkeit aller Sprachgebiete erfaßt das Gesamte nicht aus sporadischen Außerungen der föderativen Presse. Die Zeitschrift, die ich mir vorstelle, müßte, von einem überlegenen Kopf unter Mitarbeit der Fachleute geführt, geschickt und verständlich über das Wesentliche orientieren. Sie müßte im Preis erschwinglich sein. Auf der ganzen Welt bestehen Zeitschriften von Ernsthaftigkeit nur durch Subsidien eines Gönners. Der Gönner unserer eidgenössischen Zeitschrift kann nur die Eidgenossenschaft sein. Man scheue die Bindungen nicht zu sehr. Einer Zeitschrift des SSV, die sogar einem Verlag in Kommission gegeben werden kann, sind Richtung und Ge107

sicht nicht unmöglich, wenn wir ihren Leiter mit der Vollmacht des Verantwortlichen ausstatten. Unsere welschen Kollegen

haben,

in ihrem

doch

kleineren

Gebiet,

immer

wieder den Mut und die Geschicklichkeit gehabt, ihre Zeitschriften auferstehen zu lassen. Durch öffentliche Mittel mindestens bis zu ihrer Konsolidierung getragene Zeitschriften der drei oder vier Sprachgebiete müßten Fühlung untereinander nehmen. Wir übersetzten unsere Genfer und Waadtländer, Tessiner und Romanen mit guten Proben ins Deutsche, bei Gegenrecht; das brächte uns einander nahe,

ergäbe eine wirkliche Anschauung von Dingen, die anders doch weitgehend nur in der Luft der schönen Phrase hängen, gegen die ein Skeptiker wie Ramuz rebelliert. Die Zeitschrift müßte von großer Verbreitung, eine Stimme der Kompetenz, ein Organ des eidgenössischen Gewissens, ein Ausweis unseres Könnens

sein. Haben

wir all das nicht, so dürfen wir

ruhig die Sitzung aufheben, nach Hause gehn und Kartoffeln anbauen.

Die Notlage des schweizerischen Schriftstellers

Da erhebt sich vorher die Frage, ob es ihn überhaupt gibt. Die Redaktionen klagen, die Verlage klagen, es laufe nichts ein. Sie warten auf ihren Gotthelf. Anderseits

schreibt

mir da einer, für dessen Talent ich

mich verbürge: «Im Januar habe ich wieder 50 Pressesendungen ausgeführt ohne eine Annahme; genau fünfzig, programmäßig... Dabei habe ich noch Geld für gut einen Monat, soll außerdem die Wohnung wechseln, die Schreibmaschine

abzahlen,

und ich bin bedroht

durch

die nicht

bezahlte Rechnung des Spitals.» Für Gotthelfe wird die Kraft eines Jahrhunderts zusammengenommen; ein Land vom Umfang der Schweiz ist aus Rechtfertigungen der Proportion nicht verpflichtet, stets ein Genie auf Lager zu haben.

Wir

erinnern

uns

überdies,

daß

den

Fachleuten

Gotthelf zu Gotthelfs Zeiten auch noch nicht Gotthelf war. Die Schweiz besitzt neben Ramuz, dem Größten der Leben-

den, in Monique Saint-Helier eine Dichterin großen Formates. Das genügt. Mehr soll man von uns nicht verlangen oder einmal umgekehrt in der Sache argumentieren und sich 108

sagen, es fehle am Holz, wenn keine Früchte daran reifen. In der Literatur hat immer der Apfel die Schande zu tragen, wenn er kümmerlich ausfällt. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß wir nichts leisten. Eigentlich dürften sie das nicht, bevor dem Vorhandenen die letzte Gerechtigkeit widerfahren ist; Begabungen, von denen Robert Walser die lauterste ist, leben bei uns in Not. Die «Geschwister Tanner» und «Der Gehülfe», voll Radiumgehalts der Poesie, werden unsere Generation vor der Weltliteratur legitimieren. Sie sind in ihrer Art ohne Vergleich. Das genügt. Wir wollen

nicht ungerecht sein; die Schicht der anspruchsvollen Leser ist in unserem Land entsprechend seiner Kleinheit zu gering, um das Exklusive zu tragen. Gedruckt wird bei uns alles, es sei denn in irgendeinem Sinne ungewöhnlich. Es gibt in der Schweiz so viele Verlage (und Buchhandlungen), daß keiner sich richtig entfalten kann. In Großstaaten ist es so, daß die Verlage schlechtgehende Bücher um ihres Wertes willen mit ihren Verdienstobjekten bezahlen. Bei uns ist ein Brief wie der folgende, wörtlich zitierte, typisch für die Situation: «Unsere Lektoren haben Ihre Gedichte sowie Ihren Roman gelesen. Übereinstimmend haben sie die künstlerische Höhe Ihrer Werke hervorgehoben; ihre Antwort aber auf unsere Frage nach den Aussichten des buchhändlerischen Erfolges war

derart zurückhaltend,

daß wir uns

nicht haben

ent-

schließen können, eines Ihrer Werke herauszugeben.» Niemand bringt heute mehr einen Gedichtband an, er bezahle ihn denn. Aber nicht einmal Zahnbürsten werden mit Beigabe eines «Fünflibers» verkauft. Sogar für Romane wird Sicherstellung für 100 bis 300 Exemplare vom Autor verlangt. Fragen Sie irgendeinen darüber. Man kann diese Zustände unmoralisch

nennen;

man

muß

Verständnis

auch für den

Verleger haben, der in kleinen Verhältnissen arbeitet. Nach Deutschland können wir aus ehrenhaften Gründen nicht mehr. Bleibt uns nichts, als unsere Arbeiten in die Schublade

zu legen, und die Pessimisten behalten recht. Die Buchhändler, die sich gern als Funktionäre des Geisteslebens fühlen,

meinen den Händler mehr als das Buch. Ein Blick in ihre Schaufenster, ein Blick in den Katalog des schweizerischen Buchhändlervereins, in welchem die besten Namen nicht, die Kassenautoren aber in großer Aufmachung stehen, genügt zum Beweis dieser Feststellung. Ich zitiere darüber 109

noch einmal einen Verlagsbrief. «Die Gedichte gefallen mir sehr gut. Ich finde sie schr schön; aber ich könnte damit nicht viel machen. Ich weiß das aus Erfahrung. Ich bin ganz sicher, daß ich kaum ein Sortiment (Buchhandlung) finden würde, das sich für das Gedichtbuch einsetzen würde. Bei mir würden die Sortimenter, weil es sich um eine kleine Sache handelt (an der nichts zu verdienen ist), nur vereinzelte Exemplare bestellen, würden sie ins Lager legen und sich kaum mehr darum kümmern.» Hermann Hiltbrunner lagert zwanzig Bände Versmanuskript. Ich höre die Spatzen lachen. Das Beste der zwanzig Bände in einen zusammengenommen, erschlägt vermutlich die Spatzen. Ich mache mich

anheischig, dem schweizerischen Buchmarkt ein halbes Dutzend wertvoller Bände mir bekannter Autoren zu vermitteln. Das genügt. Nun lebt der Mensch nicht vom Geist allein; der eine hungert sich durch, der andere verzehrt seine beste Kraft in einem Brotberuf. Vom geistig Schaffenden wird immer

erwartet,

daß

er es «um

der Sache

willen»

ohne

materiellen Anspruch sei. Behandelt er das Geschäftliche als Geschäft, so wirft das ein schlechtes Licht auf sein Künstler-

tum. Der Künstler hat in weltlichen Dingen dumm zu sein, so will es die Legende. Und er ist es; immer wieder arbeitet er um der Sache willen kostenlos oder um Hungerlohn. Allererste Tageszeitungen schämen sich nicht, einem Zeichner fünf Franken pro Blatt anzubieten. Man müßte doch endlich einsehen, daß, wie alle Kultur-

belange, wie die Volksschule etwa, die Literatur kein Geschäft sein kann, sondern finanzielle Stützung verlangt. System im Verlags- und Buchhandelswesen, mit Kontingentierung meinetwegen, müßte zum Vorteil aller organisiert werden. Großverdiener

des Schrifttums,

die ihr Material

der

Heimat entnehmen und im Ausland verlegen, müßten durch irgendeine Form des Finanzausgleichs belastet werden können. Mit Recht nennt der «Schweizerspiegel» die Lehrmittelverlage, deren sicheres, dem Buchhandel entzogenes Geschäft sie zu Gegenleistungen verpflichtete. Das kleine Dänemark, sogar die USA, deren Kultur gewisse Europäer glauben

belächeln

zu

sollen,

unterhalten

ihre wesentlichsten

Künstler mit Staatsrenten. Das sind utopische Verhältnisse, im Vergleich mit denen die Ehrengaben, für die wir so sehr zu danken

haben,

an Grandiosität

110

verlieren.

Die Dichter

wünschen ja nicht für sich, sie wünschen für ihr Werk, ihr

Werk aber ist Schau des nationalen Wesens, und von ihr sagt die Bibel: «Wo keine Schau ist, verwildert das Volk.» Und die Zeiten sind nicht dazu angetan, sich dergleichen zu leisten.

A propos Landesausstellung «L’observateur de Geneve» bringt einen Aufsatz P. de Vallieres «Besoin de grandeur», in welchem Dinge gesagt werden, die wir zuhanden der Landesausstellungskommission, in Erweiterung unseres Artikels «Für neun Millionen Franken Hohlraum», auszugsweise hier notieren. «Die Weltausstellung 1937», sagt de Valliere, «trug auf ihrem Giebel die Inschrift: «Kunst und Technik — eine Parole, die Raum genug gegeben hätte, alle schweizerischen Eigenheiten in ihrer Darstellung zu umfassen. Die schweizerische Kunst wurde stiefmütterlich behandelt. Wir hätten unserm Kunstschaffen ungleich deutlicheren Ausdruck geben können, auf allen Gebieten: in der Malerei, Bildhauerei,

Glasmalerei, im Kunstgewerbe, in denen wir viel zu zeigen haben. Norwegen hat es mit Erfolg getan, obwohl die Quellen seiner Kunst spärlicher als die unseren fließen. Die paar zufälligen Muster von Malerei an den Wänden, die bildhauerischen Wachtposten vor den Toren genügten nicht, um eine Atmosphäre der Kunst zu erzeugen... Dabei gibt es diese Größe, die wir bloß nicht zu sehen verstehen... So ist eine der lebendigsten Quellen nationalen Stolzes aus unserem Gedächtnis entschwunden: der Vorrat großer Männer, der Schöpfer, der Führenden, der Inhaber höchster Überlieferungen, Leben, die unserer Jugend Vorbild und Gegenstand der Nacheiferung sind. Man muß sie aus ihrem Schatten ziehen.» Dann verbreitet sich de Valliere über die Bedeutung des Klosters St. Gallen als Kulturzentrum des hohen Mittelalters, spricht von seiner Bibliothek, die heute noch eine der wertvollsten des Abendlandes ist. Er nennt das Zürich der Bodmer und Breitinger, Basel mit Konrad Witz und Hans Holbein, die Schweiz der Rousseau, Constant, Pestalozzi, Dunant.

und

«Und wir bleiben, bei allen unseren Ohnmächten

Fehlbeträgen,

in der

Weltgeschichte 111

das klassische

Land, in dem die Freiheit der Person und die Menschenwürde ihr sicheres Asyl gefunden haben.» Der Übersetzer merkt an, daß die Entwicklungsgeschichte dieses Asylrechtes etwa, bis auf unsere Tage fortgeführt und an einer Landesausstellung sichtbar gemacht, der Schau eine Originalität verliehe, die aus der Art solcher Veranstaltungen fiele, desgleichen die ungeschminkte Darstellung etwa dessen, was um die schweizerische Kunst herum läuft. Leider scheint zu sagen notwendig, daß die «Genossenschaft Schweizerische Landesausstellung 1939 Zürich» schon in der Ausschreibung ihres Wettbewerbes zur Erlangung von Entwürfen für Plastik anfechtbare Prinzipien verrät. Wir haben an dieser Stelle auf die neun Millionen Franken hingewiesen, die für Baulichkeiten der Landesausstellung budgetiert wurden; man spricht von phantastischen Projekten der Sensation, einer Schwebebahn über den See beispielsweise. Da verstimmt es denn nicht ohne Grund, in den genannten Wettbewerbsbestimmungen Dinge zu lesen, die unseren Befürchtungen um die geistige Seite des Unternehmens durchaus recht geben. «Die Ausstellungsleitung ist sich bewußt», heißt es da, «daß die vorgesehenen Entschädigungen (für Werke der Plastik) nur ein Minimum darstellen, und daß von Seiten der Wettbewerbsteilnehmer ein ideeller Beitrag an das nationale Werk der Landesausstellung verlangt wird. Andererseits kann sie darauf hinweisen, daß die Aufstellung von Plastiken im Ausstellungsgelände für die betreffenden Künstler von ganz bedeutendem propagandistischem Wert ist.» Aus solcher Logik heraus müßte eigentlich PKZ seine Mäntel in Bezahlung der Reklame, die er mit seinem Firmenschild hineinnäht, gegen dasselbe «Minimum» abgeben. Sein Konsument ist anständiger als die Verwalter des «nationalen Werkes». Diese sollten wissen, daß nicht nur der Schneider, sondern auch ein Bildhauer neben den Lebenskosten nicht unbeträchtliche Materialspesen zu tragen hat. Allein, er ist eben nur ein Bildhauer, nur ein Künstler, die

Gepflogenheit, ihn mit Luft zu ernähren, eine allgemein schweizerische Behandlungsweise. Das Schlimmste an Mißachtung der Künstlerpersönlichkeit hat seinerzeit der Stiftungsrat des Tonhalle- und Kongreßgebäudes Zürich geleistet. In seinen «Schlußbestim142

mungen» zu einem Öffentlichen Ideenwettbewerb über die Gestaltung des plastischen Schmuckes schrieb er wörtlich: «Die Stiftung als Veranstalterin des Wettbewerbes behält sich für das weitere Vorgehen und die Wahl des ausführenden Künstlers vollständig freie Entscheidung vor.» Das heißt, ein Bildhauer muß also unter Umständen

seine Ein-

willigung dazu geben, daß ein anderer sein Werk ausführt. Solcherart wird bei uns mit dem Recht des.geistigen Eigentums umgesprungen. «Die Stiftung», heißt es anschließend, «ist beispielsweise nicht verpflichtet, eines der angekauften Projekte ausführen zu lassen.» Anderseits werden auch hier «die angekauften Projekte unbeschränktes Eigentum der Stiftung.» Das wäre mir noch schöner, wenn sein Bargeld einen Verleger dazu berechtigte, einem angekauften Buchmanuskript in Ewigkeit die Drucklegung zu verwehren. Und niemand, offenbar auch nicht der Bund schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten, steht hierzulande gegen diese Gewalthaberallüren auf. Der kleine Moritz stellt sich den Kapitalismus in Form eines zylindertragenden Herrn auf dem Geldsack vor; Inbegriff des Kapitalismus ist solches anmaßliche Verfügungsrecht über die Leistung des ökonomisch Wehrlosen. Wo dieser Kapitalismus von staatlich subventionierten Unternehmungen geübt wird, erscheint er uns als doppelt lieblich.

Volk ohne Schau

Jetzt hab ich genau das Wort, das sagt, was ich in Sorge ums Vaterland immer meinte, wenn ich von der Notwendigkeit einer literarisch-künstlerischen Zeitschrift sprach. Es steht in der Bibel, Spr. Sal. 29, 18 und heißt: «Wo keine Schau ist, verwildert das Volk.» Eine Landes-

ausstellung ist aber gewiß nur der unterste, materiellste Teil dieser Schau. (Sie führt sich, mit einer neuerlichen Lotterie, zu der man von staatswegen das Volk verleitet, erbärmlich genug ein!) Die Schau entfaltet sich im Geistesleben, vor allem in der Dichtung. Dichtung ist Schauen, nicht bloßes Sehen. Das Wesen des Schauens ist Synthese, Gegensatz des analytischen Sehens. Nirgends so wie in der föderalistischen Schweiz ist eine Zusammenfassung der Teile dringlich. Das 113

liegt in der Richtung dessen, was Ramuz meinte. Man denke doch ein wenig über dieses erstaunliche Wort nach: «Wo keine Schau ist, verwildert das Volk.»

Dichter und Publikum

Die literarische Presse übertreibt ihre Rücksicht auf den ‚sogenannten Publikumsgeschmack. Wie ein Franzose richtig bemerkt hat, ist dieses Publikum weder so gescheit, noch so

dumm als von ihm angenommen wird. Der richtige Anspruch an sein Verständnis wird, zum mindesten in gebotenen Abständen, die Kräfte ein wenig forcieren nach der Absicht aller Erziehung, denn Erziehung mehr als Unterhaltung hat die Presse, in der Demokratie ganz besonders, ihrer höheren Bestimmung nach zu sein. Die Privatwirtschaft, der auch die Kunst ausgeliefert ist, macht immer wieder ein Handelsobjekt aus dem Geistigen, dirigiert es nach Gesichtspunkten der Einträglichkeit, statt ihm die Führung zuzugestehen. Dichtung ist so zu nehmen, wie sie aus ihren inneren Gesetzen wächst; es hat sich der Leser zum Dichter, nicht

der Dichter zum Leser hin zu bemühen. Die Kunst ist einer weichlichen und zutiefst ungläubigen Welt zum Genußmittel herabgesunken; sie ist weder dem ernsthaften Künstler noch dem demütigen Betrachter nur eine Angelegenheit der Kurzweil, von beiden fordert sie den Einsatz der ganzen Bemühung, des letzten Ernstes. Im schweizerischen Feuilleton hat die kompromißlose Anstrengung beinahe gar nichts mehr zu suchen. Es will nur die Liebenswürdigkeit, nur die Leichtigkeit, nur «das Feuilleton». Mit noch so respektablen Versen und schweizerischer Schwierigkeit soll man ihm nicht kommen. In der «Encyclopaedia Americana» sogar wird aber der Deutschschweizer zutreffend als «ruhig und gedankenvoll» charakterisiert. Das notiert unsere Journalistik bezeichnenderweise nur über dem Strich, ohne es unterhalb gebührend und zum Nutzen der Offentlichkeit zu praktizieren. Immer sind wir den Redaktionen als Schriftsteller zu «ruhig und gedankenvoll», eben wenn wir echt, wenn wir Ausdruck

unserer nationalen Art bleiben. Was in der Mode bis zur Lächerlichkeit selbstverständlich ist: sich dem Angebot zu fügen, verweigert man auf dem Hoheitsgebiet der Kunst. 114

Jede noch so närrische Hutform, die Paris diktiert, wird Jahr

für Jahr in gedankenloser Hörigkeit angenommen, und ausgerechnet den Produkten der Geistigkeit gegenüber beruft sich diese selbe Abnehmerschaft auf ihre berühmte vox populi, und die Verwalter der Künste beugen sich ihrem Gebot. Diese Verhaltungsweise kommt aus ihrem Unglauben, ihrer Unernsthaftigkeit, aus der Meinung, Kunst sei etwas von (außerdem politisierenden!) Menschen Gemachtes. Nur schlechte Kunst ist von Menschen gemacht, die gute ist verwirklichte, durch Genie, das heißt Gnade offenbarte Weltwahrheit. Johann Sebastian Bach ist Sternenhimmel in einer anderen Dimension festgelegt, und gerade Bach war

seinen Zeitgenossen weder «leicht» noch unmittelbar «angenehm». Der Künstler, um der Kunst willen, vergebe seiner Würde

nichts.

Schriftsteller und Presse

Es ist klar, daß ich mich in einem Kurzreferat nicht auf Einzelheiten, weder des Gegenwärtigen noch des Wünschbaren, einlassen kann; ich habe das anderswo getan und beschränke mich an diesem Ort auf die generelle Betrachtung. Es wird dabei nicht ohne Ritzung von Hoheitsrechten, bei

der umsichtigsten Behutsamkeit nicht ohne Kollision mit Gegenständlichkeiten abgehen, auch wenn ich grundsätzlich und mit gutem Gewissen beteure, keine Personen, vielmehr eine Sache hier zu meinen, eine Sache zudem, die mir um

ihrer Bedeutung willen am Herzen liegt, und die ich wie einen wertvollen Nächsten gern bei guter Gesundheit sähe. Ich habe mich darüber seit langem und oft nicht nur mit Schriftstellerkollegen, sondern noch lieber mit dem, was in einem gewissen Sinne deren Gegenpartei darstellt, mit Presseleuten besprochen; die Unterhaltungen haben mich in der Materie wissender, also toleranter, aber nicht ruhig gemacht; es konnte mich wenig trösten, die grundsätzliche Zustimmung auch der Gegenseite zu finden; der Optimismus aufs Mögliche blieb beinah das einzige, was mich von ihr unterschied. Denn er, der Mann von der Druckerschwärze, sieht schwarz, doch hatte er immer die Leutseligkeit, dem

115

Poeten das Recht auf seinen unhaltbaren Idealismus zuzubilligen. Er sieht schwarz in der Richtung auf den Tross der literarischen Produzenten, der ihm so gar nicht als ein Tross erscheint, er ist ja kein Don Quijote; er sieht schwarz hinsichtlich der Belehrbarkeit der Ökonomen,

welche das De-

partement finanzieren, er sieht zum drittenmal schwarz gegen den leibhaftigen Tross der Leserschaft. So ein Idealredaktor,

wie Sie ihn träumen,

sagen

mir die Redaktoren,

möchte ich gar zu gerne sein; er war mein eigener Vorsatz, aber damals ermangelte ich der Erfahrung. Seien wir gegenseitig gerecht: einem Land vom Umfang der Schweiz trifft es aufs Jahrhundert ein dichterisches Genie. Wir aber lesen von jeder Miene, daß wir nicht Gottfried Keller sind. Das kränkt umso mehr, als wir es selber wohl bedenken. Anderseits muß, wer von uns ein Genie ist, wis-

sen, daß ein Land wie die Schweiz ihm nicht die Möglichkeiten eines größeren Raumes bieten kann. Es ist nicht völlig gerecht, ihr ewig den Umstand anzukreiden, daß ihre Begabungen auswandern mußten. Die Reisläuferei im Militärischen, Wirtschaftlichen,

Technischen,

Künstlerischen

mag

einer Unzulänglichkeit unserer staatlichen Konstitution entspringen; ich vermute, daß sie sehr positive Auswirkungen und eine höhere Absicht in sich hat. Wie kämen wir anders zu Kolonien? Unsere Tanks gehen auf Taubenfüssen. Ich muß sagen, mir schwindelt beim Gedanken an die Höhe, die wir in Europa heute nicht allein geographisch, sondern auch verantwortungsmäßig einnehmen, heute, wo wir — man wird einmal in hundert Jahren über diese einzigartige Situation staunen — das letzte kleine Refugium freien Deutschtums geworden sind. Welche Bürde und welche Gnade! Es ist uns weder Bürde noch Gnade, so lange als wir’s nicht inne werden. Die Gelegenheiten haben es an sich, daß sie verpaßt werden können; die verpaßten Gelegenheiten des Menschen verändern das Leben dieses Menschen; der Menschheit verändern das Leben der Menschheit,

die die

eines Staates kosten ihn schließlich das Leben. Um nicht zu sagen ich hoffe, will ich sagen ich fürchte, die Schweiz steht

und fällt mit der Reinhaltung ihrer Idee, und welche andere wäre

das, wenn

nicht

die ihrer Freiheit,

in welcher

die

höchsten Menschheitsgüter: Würde und Unantastbarkeit der Person, Gewähr ihrer freien Entwicklung und Entfal116

tung, Adel der Kultur und Humanität beschlossen liegen. Vielerlei Anzeichen deuten leider darauf, daß die Kenntnis

seiner selbst einem Volke nicht mit Selbstverständlichkeit erhalten bleibt; inmitten unserer Relativitäten und Differenzierungen ist es uns schwerer als dem einfachen Volk unsrer Ahnen gemacht, das Bewußtsein für unsern Weg, unsern Sinn beisammenzuhalten;

wir sitzen in vierdimensionalem

Theater, in welchem wir unter Simultanspektakeln zu wählen die Möglichkeit und Versuchung haben. Die jungen Rudenze aller Zeiten ließen sich vom Gepränge Eindruck machen; der Schneid der Abbreviatur, die Suggestion der Symbole verhieß ihnen mehr, als ihnen bei der Langsamkeit des Schwierigen, in der Geduld zum Organischen, von der Schlichtheit des Notwendigen beschieden war. Wo die Unterweisung aus allen Himmelsrichtungen kommt, wo die Lüge in Versen spricht, wo die Wissenschaft phantasiert, wo die Taten in der Maske einherschreiten, verliert der Mensch

die Orientierung; Lebensnot und Lebensunrast tun ein übriges, ihn zu verängstigen. Da ist es nur eine Maßnahme der Arbeitsteilung, daß man den Schuster schustern, den Lehrer lehren läßt; ich meine damit unter anderm, daß ein geistiges Machtmittel wie die Presse als solches erkannt und in höhern Dienst als den für Interessengruppen gestellt werden muß. Privatinitiative ist etwas sehr Schönes, wo sie Gewissen hat

und sich um mehr als nur materiellen Gewinn bemüht. Auf keinem Gebiete so wie auf dem geistigen macht der bloße Händler eine schlechte Figur. In dem Sinne, daß sie so weitgehend dem mehr oder mindern Händler verpflichtet sind, bleiben Redaktoren Proletariat wie wir Federfuchser, die in keiner Weise auch nur den Preis ihrer Ware bestimmen, was jedem Drechsler gegeben ist. Somit Herzlichkeit und Eintracht unter Leidensgenossen. Standesbewußtsein der vornehmsten Art müßte uns verbinden. Wir müßten einig sein in der Leidenschaft für das Geistige, der Gottheit mehr als dem Kaiser gehorchen. Man nenne mir einen Schriftleiter ohne redlichen Willen. Ich kenne keinen. Aber ich kenne die armen Hasen zwischen zwei Flinten. Eine blindgeladene kommt hinzu, die in der Hand des Abonnenten, der überdies unentschlossen ist, wie mir dünkt. Er knallt Pfeffer und Salz und sehr gelegentlich Rosenwasser. Er knallt beides so oder so, gegen Fuchs oder Hase. Da kommt es 117

schon nicht mehr drauf an; Fuchs oder Hase bestimme die

Richtung. Zielbewußtheit macht lange Gesichter. Spaß beiseite: ehrenwerte Praktiker lächeln wehmütig zu unserer Forderung auf Erziehung durch Presse. Ich unterschätze ihre Erfahrung nicht. Pädagoge von Beruf, kenne ich die Ermüdungserscheinungen, aber auch die Notwendigkeit, nicht zu verzweifeln. Über Pestalozzi hinaus haben wir fortgefahren, durch Beeinflussung zu wirken. Wir gäben eine schweizerische, wir gäben eine Spezialität der Demokratie preis, ließen wir die Bemühung fahren. Der Anwalt des Geistigen scheue auch nicht die Gefahr, einmal ein wenig über die Köpfe weg zu reden; erfahrungsgemäß wird Halbverstandenes mit Hilfe der Wunderfitzigkeit eines Tages ganz besonders und allein verstanden; man hält den Speck hoch, um den Sprung zu üben. Erschreckend ist die Erbötigkeit einer doch weitgehend imaginären Leserschaft gegenüber. Das Publikum, sagt ein Franzose, ist weder so intelligent noch so dumm, als man es einschätzt. Kunst des Redaktors ist Kunst der Dosierung, Wechsel im Anspruch ein Mittel seiner Taktik. Nur damit, daß er dem Dichter Weisungen gibt, versündige er sich weniger oft, als er es tut! Über den Punkt hat der große Goethe ein für allemal Klarheit geschaffen, indem er sagte: «Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, daß er niemals bringt, was

man erwartet, sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung, für recht und nützlich hält.» Auch er hat wohl zwei Ohren und dies nach verschiedenen Richtungen, allein er bedarf ihrer dringend für die launische Stimme der Muse, er gerät auf zwei Gleise, er wird zum Esel Buridans, sobald er sich nicht entscheiden kann.

Dem trage der Redaktor Rücksicht. Seine Ängstlichkeiten, Vorschläge, zarten Andeutungen bis roten Striche haben etwas so Zermürbendes an sich. Aus lauter schweizerischer Gewissenhaftigkeit glaubt er die Verantwortung für alle dummen Sprüche von Heraklit bis Hamsun in seinem Blatte übernehmen zu müssen. Dazu setze ich schließlich meinen Namen unter ein Fabrikat meiner Hand, daß Prügel nicht minder als Rosinen des Lobes an die rechte Adresse gelangen. Meiner Auffassung nach krankt unsere Presse wie so manches Schweizerische an einem Übermaß der Korrektheit. Ich muß ihr einen Zuschuß von Wagemut und Schlin118

gelhaftigkeit wünschen. Dafür ist man bei Dichtern wohlversehen. Aber den Dichter erblickt man hierzulande im Zeitungswesen genau so gerne wie die Geiß im Gemüsegarten. Sonderbar eigentlich in einem Lande, wo jeder vor dem Gesetze gleich und von Staates wegen dazu gehalten ist, sich um Dinge der Öffentlichkeit zu bekümmern. Herr Eingesandt hat den Vortritt. Herr Eingesandt ist so etwas wie die Personifikation dieses Unpersönlichen, das umgeht und seinen ungemeinen Respekt einheimst. Wenn ich der Presse zurufe: Die Tore auf dem

Schriftsteller!, so weiß ich auch

schon ihre Antwort:

Herzen

Von

gern der Qualität; wir

suchen sie mit der Stallaterne. Wie ist es, da beide im Recht

sind, mit diesem Widerspruch? Die Reinzucht der Qualität ist auch anderswo selten. Davon abgesehen, spezifizieren die Redaktoren den Begriff auf das Feuilletongerechte. Bis hinauf zu Ramuz seien wir darin ungeschickt. Ich bezweifle es nicht; ich sehe höchstens nicht ganz die Verbindlichkeit dessen, was als feuilletongerecht gilt, ein. Es ist mir zu sehr Schablone. Es ist mir nicht schweizerisch typisch. Da die Tagesproduktion gering ist und ich selber in die größte Verlegenheit käme, wenn morgen auch nur ein halbes Dutzend Zeitungen Qualität von mir verlangten, müßte meiner Ansicht nach die Reserve organisiert werden. Ein Vertriebsbüro, vom Schriftstellerverein oder dem Forum helveticum geführt, müßte Mittel und Wege suchen, die schauerlichen,

landesverräterischen Agenturen qualitativ (was leicht wäre) und wirtschaftlich (eine härtere Nuß) zu konkurrenzieren. Unsere Landpresse bringt gern zum Ankaufspreis von fünf Franken den tausendsten Nachdruck eines Machwerks von

Gert Rotberg, aber nur im äußersten Falle gratis den Zweitdruck von «Ott, Alois und Werelsche».

Nun besteht unter

Schriftleitern die Ansicht, daß das Feuilleton der Tagespresse überhaupt nicht der Ort für literarischen Anspruch sei. Ich denke selber, daß es sich vor Exklusivität zu hüten hat.

Aber ich komme nicht von der Vorstellung des Schriftleiters als diskretem Erzieher ab. Wie sehr könnte ihm hierin der Schriftsteller nützlich sein durch Betrachtungen, die er ihm liefert, durch

Kurzweil

vorzüglicher

oder

der Bekenntnisse,

abschreckender

durch Analysen

literarischer

Beispiele,

durch Debatte. Doch der schweizerische Autor sei mühsam,

ja faul, sagt man mir, er sei ein Dachs, von dem nichts zu 119

bekommen sei. Hat man ihn nicht auch ein wenig dazu gemacht? Ich rede aus der Erfahrung von Jahrzehnten, wenn ich sage, daß man es schließlich müde wird, ein Leben lang Bumerang zu spielen; Porto und Rückporto summieren sich außerdem. Es gehört schon zur landläufigen Haltung dem Künstler gegenüber, daß man ihn nicht allzu wichtig nimmt. Ich denke im Gegensatz dazu an ein Plakat, auf welchem sich ein Land mit nichts mehr und nichts weniger als seinem Märchendichter identifizierte, indem es der Welt nur Andersens Bild und seinen Namen Dänemark vorwies. Ich bin der freilich unbescheidenen Überzeugung, daß der schweizerische Schriftsteller weitgehenden Einfluß auf die Presse bekommen müßte, auch über dem Strich. Der Anblick von Partei- und Interessengezänk ist einer so hohen Sache unwürdig. Sofern wir nicht nur an eine nationale, sondern auch an eine menschheitliche Bestimmung der Schweiz glauben, müssen wir bei der heutigen Lage der Dinge mehr alsje darauf dringen, daß unsere Repräsentation in den augenfälligsten Institutionen: Rundfunk, Film und Presse so hochqualifiziert als menschenmöglich sei. Die Schweiz hat weltanschaulich nichts als das Beispiel der übervölkischen Einheit darzustellen; nach diesem Gesichts-

punkt, nicht primär nach solchen der Opportunität, hat sich die publizistische Wirksamkeit zu richten; es müßte dazu kommen, daß nicht allein das Flugzeug der Swissair, sondern auch das Schweizer Blatt Vertrauen der Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit in der Welt genösse. Wie aber sprang man doch mit uns um in der Angelegenheit etwa der sudetendeutschen Frage: sensationellste Schlagzeilen von heute wurden morgen in einem beiläufigen Notizchen dementiert, die Rekorde der Aktualität verhinderten die primitivste Einsicht in die Fakten, und vor allem wurde nichts durchgehalten, der Eindruck von Endgültigkeit, die Wirkung von Fatalismus nie durch Fortführung der Meldungen aufgehoben. Man

beläßt uns

im Glauben,

das mit Österreich

sei nun

doch in der Ordnung; man hat es vorher wie nachher an genügender und sachlicher Unterweisung fehlen lassen, und das kann folgenschwer werden für Eigenes wie Fremdes. Weshalb schickt man nicht dem Reporter, dem Spezialisten der Eile, den Betrachter auf die Spur, den Schriftsteller und

Dichter, dessen Auge das Tieferliegende sieht? Er hat bei uns 120

entweder keine oder eine Last von anderer Arbeit, man traut ihm nichts zu, ohne ihm doch Gelegenheit, sich zu üben, zu geben; er lebt dahin im Partikularismus der Vorurteile, er ist uns in diese Schublade zu kantig, in jene zu rund, er ist uns

zu verträumt oder zu politisch - er schreibt Bücher, für die er den Druck bezahlt. Ein Mißverständnis möchte ich vermieden wissen: das der Absicht engstirniger Autarkie. Schweizerisch sind wir nicht dadurch, daß wir geistige Inzucht treiben, schweizerisch werden Theater, Rundfunk, Film und Presse gerade dadurch, daß sie wohl das Gewicht auf die schweizerische Leistung legen, aber das Beste des ganzen Erdkreises hinzunehmen, Freiheit durch Offenheit der Betrachtung dokumentieren. Ich kann mir neben der parteimäßig dirigierten reichsdeutschen

Presse eine andere vorstellen, der als weit-

herziger, aber wissender Propagandachef ein Geist wie Professor Karl Meyer auf diskrete Weise vorstünde. Im Forum helveticum installierbar, hätte ein geistiges Zentrum die Presse nicht zu kommandieren, wohl aber mit System einer staatspolitischen Absicht zu bedienen. Ein Stab von Historikern,

Nationalökonomen,

Journalisten

und

Schriftstellern

belieferte es mit Artikeln, deren beste von der gesamten Presse als moralisch verbindlich angenommen würden und so eine Art Swiss cooperation über den Parteien die umfassende Infiltration mit demokratischem Gedankengut, die permanente Unterweisung in Staatskunde und Geschichte, Kraft und Ruhe durch Bewußtheit unterhielte. Sich im Haß auf fremde Ideologien zu verkrampfen, ist nicht nur unsrer unwürdig, es ist beinah ein Beweis von Unsicherheit; schaf-

fen wir Sicherheit durch Nachdenken, durch Klarlegung unseres Weges — mit dem Mittel gerade der Presse. Es hat mich dieser Tage über die Maßen interessiert, einen ersten Pressemann mit wehmütigem Neid davon sprechen zu hören, daß in französischen Zeitungen kulturpolitische Beiträge von Dichtern zum Programm gehören. Von der Art ist das, was ich in diesen kurzen Worten umreißen wollte: daß der Mann der Feder auch bei uns, dichtend und sichtend, in der Presse zur Mitwirkung gelange. Die Aufmunterung ergeht an beide Teile.

121

Schweizerisches Verlags- und Buchhandelswesen

Es ist sinnlos, darüber zu klagen; man muß seine Verhältnis-

se überdenken und Reformen versuchen. Immer wieder argumentiert man gegen unsern Utopismus mit dem Schlagwort von der Kleinheit des schweizerischen Absatzgebietes. Ohne mir darüber Illusionen zu machen, anerkenne ich den Einwand nicht, so lange wir für 22 Millionen Franken deutsche Druckschriften einführen. Ein Markt, der sie verschleißt, kann respektabel genannt werden. Ich beantrage, daß der Schriftstellerverein, als erster Interessent in der Materie, die Prüfung dieser Einfuhr organisiert, [das] Verbot des Entbehrlichen und Schädlichen von den Bundesbehörden erwirkt und die diesbezüglichen Forderungen der «Tatgemeinschaft der Schweizerjugend» ausdrücklich und nachdrücklich unterstützt. Zweitens. Es gibt im Lande zwei oder drei editorische Großunternehmungen, welche das Gebiet rein nur nach Geschäftsprinzipien ausbeuten (dies in seinem wörtlichen Sinne verstanden), ohne ein Minimum der Verpflichtungen zu übernehmen, die einem Nutznießer des Schrifttums erwach-

sen. Ich meine die Anstalten, die mit spekulativen «Illustrierten» und mannigfaltigen (wären sie es nur!) Versicherungsblättchen die Kaufkraft für ihre Zwecke blockieren. Die Zustände bei uns sind anarchisch zu nennen. Es muß das Bewußtsein dafür geweckt werden, daß Literatur als etwas Komplexes nicht in die Faktoren der Rendite und kulturellen Leistung zerlegt werden darf. Wir verlangen nicht, daß Carossa verboten werde, wir beanspruchen für die einheimische Produktion lediglich die Mittel, mit denen heute die Einfuhr geistigen Kokains bezahlt wird. Man rede sich doch nicht ewig mit der Schwierigkeit solcher Maßnahmen aus; sie sind nicht utopischer als die Kontrolle des Arbeitsmarktes, und

gesetzgeberische Schönheitsfehler wie der, daß ein Deutscher in Zürich keine, von Berlin aus aber alle Verdienstmöglichkeiten bei uns hat, sind grotesk genug, um raschestens korrigiert zu werden. [Wer] aus literarischen Dingen Vorteil zieht, übernimmt automatisch die Pflicht der Gegenbindung in dem Sinne, daß er sich im Maße seiner Kraft an den Risiken beteiligt, so wie es jedem Großverleger etwa des alten Deutschland selbstver122

ständlich war. In unserer Praxis der Ängstlichkeit ist es so, daß der Verleger sich alles, was über die empirisch gewonnenen Sicherheiten hinausgeht, vom Autor materiell glatt garantieren läßt. Gewiß, unter den derzeitigen Umständen kann er nicht anders, wenn reden wir ja oben davon, Angeklagt seien überhaupt die genannten Pfiffikusse,

er bestehen will; aus dem Grunde diese Umstände zu verändern. nicht die Buchverleger, sondern die einzig das sichere Geschäft

belegen, alles andere, falls sie es versuchen, sogleich fallen lassen, wenn es sich nur geistig, nicht auch materiell bewährt. Lassen wir in dieser Betrachtung das Wohlergehen des Schriftstellers ganz unerwähnt: es ist dem Kulturleben an sich nicht tragbar, daß seine Anwälte nur Händler seien. Gerade die wesentliche Kunst war zu allen Zeiten und überall zunächst kein Geschäft; auf die Weise verkümmert sie bei uns schon im Entstehen, das ist das Übel, das uns zu

rebellieren verpflichtet. Daß wir darüber hinaus, zu arbeiten, auch noch bezahlen (vom Verdienen wollen wir jetzt ebenso wenig reden), ist schlechterdings unwürdig und unmoralisch. Wenn die Fachleute des Vertriebs keine Abhilfe versuchen, nötigt das die Fachleute der Produktion, ihnen Winke zu geben. Ich bin nicht für Verbote, aber ich bin für gesunde Verhältnisse, die durch Regelung geschaffen werden. Es ist kein gesunder Zustand, wenn wir so viele Verlage (und Buchhandlungen) haben, daß keiner von ihnen mit Anstand bestehen kann und auch noch die materielle Leistung auf den Produzenten zurückfällt. Wir können die Firmen nicht aufheben,

das ist klar, aber wir könnten,

was

ich schon

immer vorschlug, uns als Gewerkschaftsmitglieder um einen tüchtigen Verlag, mit dem zu verhandeln wäre, verbindlich zusammenschließen auf Grund von gegenseitigen Vereinbarungen. Die kommende, vom Bund fürstlich subventionierte Zeitschrift, sowie den Lehrmittelverlag bekäme er ebenfalls zugesichert. Die Buchhandlungen betreffend, müßte von uns mindestens initiiert werden, daß den Papeterien, die mit ihren siebzig Rappen für ein Kondolenzkärtchen hinlänglich verdienen, der Buchverkauf untersagt wird. Und so wie die Wirtschaftspatente nicht ad infinitum vergeben werden, 123

müßte die Zahl der Buchhandlungen in vernünftiger Proportion zum Gebiet gehalten werden. Ich weiß nicht, in welchem Umfang meine Vorschläge haltbar sein können, ich weiß nur, wie jedermann, um die Tatsache der Verlegenheiten und wäre dafür, statt ewig intern zu jammern, daß wir, zunächst in vorberatender Kommission zusammen mit Verlegern, Buchhändlern und staatlichen Verwaltungsleuten, zusammensäßen, um einen Anfang zu machen. Ich stelle den Antrag auch darauf.

Das schweizerische Feuilleton

Zweck der nachstehenden Ausführungen ist, die Situation im schweizerischen Feuilleton vom Standpunkt des Schriftstellers aus zu erhellen, durch Konfrontierung mit der Ansicht des Feuilleton-Redaktors wenn möglich Klärung und ein besseres Arbeitsverhältnis zu schaffen. Die Kritik soll generell genommen werden als Zusammenfassung von Einzelbeobachtungen, die nicht auf jede Zeitung angewendet werden können, mit Ausnahme einiger prinzipieller Dinge, die meiner Auffassung nach Allgemeingültigkeit haben. Daß man uns Autoren nicht mit Überschätzung verwöhne, ist gut und schweizerisch, die Haltung von resignierender Geringschätzung unserer Leistung gegenüber jedoch kränkend und weder gerecht noch klug. Wir haben mehr als sieben magere Jahre deutscher Hegemonie hinter uns, in denen es uns zur Gewohnheit wurde, nicht mitzuzählen, weder auflagenmäßig noch der Geltung nach. In der Folge einer Hausse schweizerischen Schrifttums (von Keller bis Federer) kam die Baisse ihrer Einschätzung, die gewiß nicht durchaus ein Wertbarometer, sondern Reaktion auf die vor-

ausgegangene Bevorzugung war. Was ich der schweizerischen Kritik vorwerfe — die Ausnahmen sind selbstverständlich! - ist die Tatsache, daß sie die Mode dieser Negation ein wenig zu freudig und eifrig mitmachte und noch weitertreibt, nachdem die Literatur des Reiches zerfallen und ihrer imponierenden Großartigkeit verlustig gegangen ist. Was ich meine, ist schwierig zu formulieren, weil es, ausgesprochen, den Eindruck des chauvinistischen Dünkels erweckt; riskieren wir das im Interesse der tieferen Wahrheit, die ums Ganze

123

unserer Kultur, nicht primär um die Person des Autors geht. Da ist zu sagen, daß er in der schweizerischen Presse durchaus drittrangige Bedeutung genießt, im Unterschied etwa zu Frankreich oder Rußland. Wortführer ist bei uns der Parteipolitiker; selbst in kulturellen Dingen wird die Äußerung des Schriftstellers hierzulande wenig ernstgenommen, dem puritanischen Geist des Landes bleiben die Künste irgendwo immer verdächtig und halbwertig, und ihre Verwalter nun, statt sich aus Leidenschaft für das Geistige, wenn nicht für das vorhandene Schrifttum, auf die Seite ihrer

Disziplin zu schlagen, gefallen sich in einer müden Ironie, in mutloser Abhängigkeit vom Anspruch des Parteimannes und des Abonnenten, reden von der Relativität und Unzeitgemäßheit, vom

verlorenen

Posten des Musischen,

betreiben

kurzum ein Gewerbe, an das sie längst nicht mehr glauben. Geistiger als jene Geistigkeit, die ängstlich nur darauf bedacht ist, sichja nicht mit Begeisterung zu blamieren, geistiger und mutiger war der vertrauensvolle Eifer eines J. V. Widmann, der gerne fünfzig Autoren überschätzte, um keinen zu unterschätzen. Muß sich der schweizerische Schriftsteller einerseits fortdauernd seinen mangelnden Fleiß vorwerfen lassen, so ergeht es ihm doch anderseits so, daß er selbst in bestandenen Jahren nur selten irgendwo einen

Beitrag unterbringen kann. Immer ist er aus irgend einem Grunde nicht verwendbar; die Redaktoren tragen eine rührende Sorgfalt zu ihrem Feuilleton, es vor Aufregung zu bewahren; es sieht denn häufig auch entsprechend langweilig aus. Der Akademiker bestimmt seinen Ton, der Schriftsteller

sieht sich einer ermüdenden Front von Gnädigkeit und Vorsicht gegenüber, das Instrument ist nicht in seiner Hand. Ein Schriftsteller, der sich über Fähigkeiten ausgewiesen hat, darf aber mit Fug und Recht darauf Anspruch erheben, seine Stimme in der Presse anzumelden ohne viele Umstände der Bettelei und die Behinderung von lausenderlei Bedenklichkeiten. Der akademische Redaktor, abgesehen von seinem offenbaren Standesgefühl dem Schriftsteller gegenüber, ist voller Ängstlichkeit vor dem spekulativen Wort; er glaubt, die Verantwortung übernehmen zu sollen, die er dem Autor füglich überlassen darf. Es ist schon ein merkwürdiges Faktum, daß wir in der Schweiz nur die beiden Gegenpole des volkstümlichen Feuilletons einerseits und der exklusiven Zeitschrift wie «Corona» 225

anderseits haben, für die wir hinwiederum nicht kanonisiert

und gestorben genug sind. Hinzu kommt die unselige Aufteilung nach Gesichtspunkten der Politik, welche die Möglichkeiten noch weiter dezimiert. Liegt es in der Natur der konservativen Organe, der Veränderung zu widerstehen, so charakterisiert unsere Linkspresse auf der andern Seite ein Maß der Ungeistigkeit, dem gegenüber es kaum eine Hoffnung gibt. Das größte Blatt des Proletariats, das für bessere Lebensbedingungen des arbeitenden Menschen zu wirken vorgibt, bezahlt dem geistig Schaffenden 7 bis 3 Rappen Zeilenhonorar. Betrüblicher ist die Beobachtung dessen, was hier dem Volke als Dichtung vorgesetzt wird, betrüblicher die Verbonztheit allen Urteils auf dieser Seite. In der weltanschaulichen Diskussion auf zwei oder drei mittelständische Kampfblätter angewiesen, die in unserm kleinen Lande klein und wenig einflußreich sind, haben wir so gut wie keine Stimme im Lande: von links trennt uns die Bescheidenheit jener Ansprüche, von rechts die Strafe für Rebellionen, deren wir uns schuldig gemacht haben. Denn unser Feuilleton ist ja nicht geistiges Reichsgebiet, es ist Privateigentum, dessen Betreten uns verboten werden kann und wird.

In einem

kleinen

Lande,

wo

einer des andern

Niere kennt, bekommen die zwischenmenschlichen Dinge im einen oder andern Sinne eine ungebührliche Bedeutung. Objektivität und Neutralität in außerkünstlerischen Belangen, die man vom literarischen Verwalter verlangen muß, sind ihm naturgemäß sehr schwer gemacht. Was er aber einsehen sollte, ist die Tatsache,

daß die Literatur nicht ihm oder

seiner Zeitung gehört. Wer, wohl gar aus geschäftlichen Gründen, eine literarische Abteilung auftut, muß sich darüber klar sein, daß er öffentliches Gebiet in Verwaltung nimmt, ihm also Verpflichtungen der Überparteilichkeit erwachsen,

sein Material

nach keinen

andern

Kriterien

als

denen der künstlerischen Qualität zu betrachten. Anders vermittelt er ein Zerrbild des Geisteslebens, genügt er seiner Aufgabe nicht. Wenn ich den politischen Teil einer Zeitung angegriffen habe, darf ihr politischer Redaktor mir entgegentreten, nicht aber mir das Feuilleton sperren, ebenso wenig

wie der Erziehungsdirektor mir für Kritik in seinem Ressort das Begehen der öffentlichen Straßen verbieten kann. Das privatwirtschaftliche Denken hört an den Gemarkungen des 126

Geistigen auf. So wenig wie der Schriftsteller selbst, ist ein Schriftleiter gegen Kritik gefeit; der Groll, mit dem er sie beantwortet, kann nicht anders als drollig wirken. Einen Schriftleiter zu kritisieren, ist schon

beinah

so etwas wie

Hochverrat und wird mit Landesverweisung bestraft. Nach der Versicherung der Redaktoren suchen sie nichts sehnlicher als die Qualität. Sie suchen aber, befürchte ich, weit eher als die Qualität das Brauchbare, nämlich das, was

nach wenig verbürgten Gerüchten im Publikum gefragt ist. Hierin äußert sich eine zweite Seite ihrer Geringschätzung des Autors: sie hören auf den Abonnenten mehr als auf ihn. Sie berufen sich dabei auf ihre Verpflichtung dem Brotherrn gegenüber. Allzu willig, weil die geistige Leidenschaft und Überzeugung fehlt, nehmen sie das Schlagwort vom Publikumsgeschmack zum Schild ihrer Arbeitsweise. So diktiert auf einem ungeheuer wichtigen Gebiet der kleine Mann. Aus Selbstachtung, wenn nicht aus Verantwortungsgefühl, müßten die Schriftsteller sich gegen diesen Zustand auflehnen. Die Schwierigkeit, die Praxis zu ändern, wäre nie entstan-

den, hätte der Konsument sich von Anfang an der Notwendigkeit gegenübergesehen, sich seinerseits einzurichten. So hat er sich angewöhnt, die Beine vor sich hinzustrecken, beruft er sich bei der geringsten ihm zugemuteten geistigen Anstrengung auf seinen Abonnementsbetrag; die Prostitution der Dichtung blüht. Er hätte dazu erzogen werden müssen, sich als den Lernenden zu empfinden; jetzt hat der Fachmann, der Dichter, das Nachsehen; gedemütigt, unwillkommen, ein überzähliger Hausierer, irrt er von Tür zu Tür;

der Modereisende ist unvergleichlich besser dran, seinem Diktat fügt sich alle Welt jeden lieben Frühling; über dem Dichter hängt das Gericht der vox populi, er soll sich fügen! Nur ausnahmsweise findet er im Zeitungsmann einen Anwalt, die meisten findet er in der Dienstbarkeit der Geldgeber, sie halten ihm ihre Rezepte entgegen, verlangen Leichtigkeit, Unterhaltung, verlangen Neutralität von ihm. Man kann mir antworten, die Tagespresse sei überhaupt nicht das Organ für Dichtung. Die Richtigkeit dieser Behauptung erschütterte zunächst einmal die Position der Literaturkritiker selber. Die Verwaltung eines Feuilletons von Unterhaltungsware verlangt keinen Doktorgrad. Die Voraussetzung angenommen, ergäbe sich ein katastrophaler Ar127.

beitsmangel für die Literaturgelehrten. Die schweizerische literarische Zeitschrift müßte ihnen als dringendes Erfordernis erscheinen. Wer die Auffassung hat, das Feuilleton sei nicht der Ort für Dichtung, muß die schweizerische literarische Zeitschrift propagieren, muß jeden ernsthaften Versuch zu ihr des lebhaftesten unterstützen. Bei keiner Gelegenheit ist das im Ernst geschehen. Ein automatischer, müder Betrieb charakterisiert unser Feuilleton, Berufsmäßigkeit erfüllt ihre Pflicht ohne viel Temperament, nicht eben sehr interessiert, allzu wohlanständig. Das schweizerische Geistesleben befindet sich in einem Aufruhr verschiedenster Probleme; es

ist erstaunlich, die Widerwilligkeit und Gezwungenbheit eines großen Teils unserer literarischen Presse zu beobachten. Kein Thema wird durchbesprochen, es fehlt zu allem anscheinend an Textraum. Als unser Vereinssekretär Dr. Naef seinen ausgezeichneten Vortrag über schweizerisches Kulturleben hielt, erschien einzig im «Bund» ein Referat darüber. Ich nenne das Beispiel unserer letzten Generalversammlung, über deren Verhandlungen die größte Schweizerzeitung mit ein paar trockenen Notierungen hinwegging, während sie die Traktanden jedes Gewerbevereins seitenlang bespricht. Was uns bewegt, findet in der Presse keinen Widerhall; alles ist wie in Watte gesprochen. Wir müßten ein bißchen weniger auf Herrn Hitler schimpfen, dafür die eigene Wäsche waschen, der Sack ist weiß Gott nicht leer. Unser

Feuilleton ist großenteils so unschweizerisch, so landesfremd, wie es die Kinoprogramme sind. So wenig wie im Theater wollen wir chauvinistisch-narzißistisch nur das von Schweizern Geschriebene, kein Mensch spricht davon; aber

es will uns nicht in den Kopf hinein, daß das schlechte Gedicht von Ernst Glaeser auf Kosten des guten von Albert Ehrismann in der NZZ stehen soll. Ich anerbot Manuel Gasser von der «Weltwoche» im Namen einiger Kameraden, ihm periodisch Artikel über Probleme des schweizerischen Geisteslebens

zu

liefern;

es war

nichts

zu erreichen,

der

Raum bleibt einigen illustren Emigranten vorbehalten. Wir sind für kameradschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ausländer; wo er aber wuchert, wehren wir uns mit Recht unserer Haut; das ist so wenig faschistisch, wie das Gegenteil demokratisch ist. Unsere Genügsamkeit und Bescheidenheit hat ihre natürlichen Grenzen; wir fühlen uns nicht berech-

128

tigt, dem Gehaben des einen und anderen Literaturdiktators dauernd mit Stillschweigen zuzusehen, wir sind der Meinung, er täusche sich über seine Funktion. Es bliebe noch über die journalistischen Umgangsformen ein Wort zu verlieren; sie entsprechen im allgemeinen durchaus dem beschriebenen Verhältnis. Alle singen dasselbe Lied darüber, daß sie, von den Verlagen gleich wie von Redaktionen, Monate, Jahre lang keine Antwort auf Einsendungen erhalten. Wenn es wahr ist, daß im Betriebe «nichts läuft», das Angebot ausbleibt: wie kommt es, daß man nicht Zeit findet, das wenige zu erledigen? Die Verlage verpatzen uns Jahr um Jahr mit ihrer Säumigkeit das Erscheinen unserer Bücher (in Hitlerdeutschland ist die Entscheidungsfrist gesetzlich auf 6Wochen angesetzt, bei uns muß man froh sein, in 6 Monaten Bescheid zu erhalten); unsere aktuellen Artikel verpassen ihre Wirksamkeit durch Liegenbleiben auf den Redaktionen, kommen zurück und sind gratis für die Katze gearbeitet. Soweit als es wahr ist, daß wir untätig sind, haben uns die Redaktionen dazu erzogen; schließlich wird man es müde, sich ewig refüsieren zu lassen. Daß unsere Beiträge schriftlich als angenommen bestätigt werden, dann aber weder erscheinen noch zurückkommen, ist durchaus an

der Tagesordnung, ebenso anderseits, daß man aus unsern Büchern ohne Quellenangabe, ohne Anfrage oder Mitteilung, oder gar Honorierung nachdruckt. Wildwestliche Zustände auf diesem Gebiete fechten den biederen Schweizer nicht an. Immer wieder erwartet er vom Geistesarbeiter, daß

er «um der Sache willen» gratis arbeite. Um der Sache willen kann er sich das Brotessen abgewöhnen. Er schnauft zu kostspielig. Die «Korrespondenzbüros» sind billiger. Wir müßten überlegen, wie durch Zentralisation des Vertriebs von Dritt- und Viertdrucken Ramuz, Vogel, Vallotton, Inglin, Walser, Steffen, Bührer materiell verbilligt werden könnten. Man zieht die Fünfzigstdrucke aus Pommern vor.

Jakob Frey, Zschokke, Pestalozzi, Toepfer, sogar Gotthelf und Keller sind keineswegs publizistisch erschöpft und stünden dem einfacheren Feuilleton, das keine Originalbeiträge bezahlen kann, so wohl wie Sternberg und Courths-Mahler "an. Zusammenfassend möchte ich sagen, daß es an redlichen Bemühungen gewiß nicht fehlt, im ganzen aber das schwei129

zerische Feuilleton mir als wenig beweglich erscheint, der Kameradschaftlichkeit unter Autoren und Redaktoren ermangelt und im Sinne persönlichen Ressentiments allzu privaten Charakter hat. In Frankreich gilt es als Selbstverständlichkeit des Anstands, einen Dichter als Dichter unabhängig von seiner Weltanschauung zu achten und zu berücksichtigen; die repräsentative Schweizerzeitung macht ein Feuilleton ohne die Namen Humm, Ehrisman, Gerber, Zollinger, einfach weil diese ihr politisch nicht genehm sind. Mit dem Hinweis auf dieses Schulbeispiel dessen, was ich als unhaltbar und verderblich erachte, schließe ich das Expose.

Bildnis des Dichters

Der Lebende ist nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern zum mindesten, wenn er nicht gerade arbeitet, sich selbst problematisch; wer von uns, die das Gewerbe der Dichter betreiben, weiß, daß er ein Dichter wirklich ist? Die Unwägbarkeiten, die ihn ausmachen,

bleiben nicht einmal der Größten

unangetasteter Besitz; da Sie uns liebenswürdigerweise aber auffordern, von uns zu erzählen, so werden Sie es auch mir,

das Gesagte vorausgeschickt, nicht als Hochmut anrechnen, wenn ich dann und wann auf das eigene Beispiel greife, die eigenen Gegebenheiten zur Grundlage der Betrachtung mache, in der freilich etwas spekulativen Hoffnung, sie möchten tief genug gegründet sein, das Gewicht etwelcher Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit zu tragen. Die Beziehung «Erlebnis und Dichtung» steht unter einem regenbogenfarbenen Geheimnis; wer es ergründete, durchschaute das Wesen der Kunst. Ich glaube nicht, daß sie durchschaut worden ist, ich hoffe sie auch nicht auf eine Formel zu bringen; aber es ist verlockend, in ihr Dunkel zu zünden, und sie verträgt die ausgedehntesten Streifzüge in ihren Ländereien, ohne die Verlegenheit von Grenzen zu entblößen. Immer wieder ist die Reichweite des Dichters eingeschränkt oder vergrößert worden, der Schriftsteller, sein Halbbruder, bewegt sich in seinen Randgebieten herum, wird oft genug nicht vor ihm erkannt oder, erkannt, ihm sogar vorgezogen — so wie die Figur des Dichters vor der Welt gilt, gerade so ist sie: Groß und klein, mächtig und neben-

130

sächlich, und das auch heute noch. Dem Dichter Dante ist das Ansehen eines Gottes zuerkannt; aber niemand hat

Dante gelesen. Die Produkte des Wurstmachers sind unserem täglichen Fortkommen ungleich bedeutungsvoller. Trotzdem wird niemand Ernsthafter behaupten, der Wurstmacher

sei größer als Dante.

Größer

nicht, aber nötiger,

werden Sie meinen schiefen Vergleich berichtigen. Ich denke, sogar das läßt sich anzweifeln. Der Dichter hat sich als ein rätselhaftes Vitamin erwiesen, dessen Fehlen sich in einer

unheilvollen Verkümmerung

an der Menschheit

auswirkt.

Kraft seiner vielleicht nicht einmal besonderen, wohl aber

besonders entwickelten Anlagen besitzt er Verbindung mit dem Nährgrund des Unendlichen. Er ist unser sechster Sinn, unsere vierte Dimension. Ich glaube nicht an das Gottesgnadentum irgend einer Kaste oder Person, also auch nicht des Künstlers; tausend anonyme Liedersänger, Märchenoder Mythenschöpfer im einfachen Volk haben die Fähigkeit betätigt, die ihn berühmt macht, es kann sich zwischen ihnen

nur um einen Gradunterschied der Begabung, nicht um Gnadenwahl handeln, wobei allerdings geniales Maß, wie anderswo auch, den Anblick der Göttlichkeit bieten mag. Ein menschliches, wohl gar allzu menschliches Wesen, das

aber mit verfeinerter Witterung in das Göttliche hinüberreicht, ist der dichterische

Mensch,

auf die menschlichen

Hilfsmittel angewiesen, vom Erlebnis diesseitiger undjenseitiger Dinge abhängig, in einer Weise freilich, die noch näher zu untersuchen sein wird. Während nun aber der gewöhnliche Mensch das Erlebnis gewissermaßen im Selbstgebrauch aufzehrt, hat der Dichter, möglicherweise zufolge der großen Nachbarschaft des Vergänglichen und Ewigen in ihm, das Berufsmerkmal,

daß er die Masse dessen, was ihm wider-

fährt, zum Material seiner ununterbrochenen inneren Tätigkeit nimmt; es gehört nicht ihm selbst, er gehört umgekehrt ihm, es tyrannisiert ihn, verfolgt ihn, wuchert in ıhm, um seine sonderbaren Früchte zu treiben. Gleich wie die Stoffe der materiellen Nahrung, welche in den Organen des Körpers zerlegt, chemisch verwandelt und für höchste Zwecke sublimiert werden, geht das Erlebnis durch die Seele, erlebt

seine Analysen und Synthesen, unter Abgabe des Zufälligen und Aufnahme des Gleichartigen zur Herausarbeitung des Symbols. Diese Chemie ist undurchschaubar, ich werde 131

mich gar nicht bemühen,

in sie einzudringen;

mir soll es

genügen, wenn ich vermag, ihre Tatsache sichtbar zu machen. n Um mich ihr von irgend einer Seite zu nähern, erwähne ich die sogenannte «wahre Geschichte», die, in ihrem Rohzustand, so viel unwahrer als die unwahrscheinlichste, aber

dichterisch konzipierte Erfindung, etwa eines Märchens, wirkt. Zugegeben, es wird großenteils schon die stilistische Unzulänglichkeit solcher Erzählungen sein, die uns mit Argwohn erfüllt; insofern ist die Erscheinung lediglich technischer Art. Ich erweitere die Beweisaufnahme daher um das Beispiel der Reportage, des Tatsachenberichts der Zeitung, der, raffiniert und was immer, doch nicht das ist, was wir,

mit Auszeichnung, dichterisch nennen. Ausnahmen hievon erscheinen nur als solche, durch die Tücke des Umstandes, daß die Sachlichkeit, ein primäres Merkmal der Größe, der

Art der Reportage so ähnlich sieht. Das Dichterische ist mit blumigen Eigenschaften wie Poesie oder Schönheit nicht identisch, wenn auch vermutlich ebenfalls weitläufig verwandt. Es ist, wie die Seele, wie das Leben im Körper, nicht

aufzeigbar, ein Geheimnis, eine Bewegung mehr als ein Agens, und scheint mir nun eben der Tragzeit, die allem Leben vorangesetzt ist, bezeichnenderweise verpflichtet zu sein. J. P. Jacobsen schrieb einem Freunde: Bete für mich, damit ich mein Buch nicht zu früh beginne! Vielschreiber schreiben nicht deshalb schlecht, weil sie zu wenig Zeit auf die Niederschrift verwendeten, sondern weil sie, in Versündi-

gung gegen das keimende Leben, alles als Frühgeburt aus sich entlassen. Die Dauer dieser Schwangerschaft ist verschieden; nach Rilke beträgt sie minimal siebzig Jahre. So sehr nun der Sohn seinem Vater gleichen mag, so wenig sind Vater und Sohn dasselbe. Das Verhältnis zwischen Erlebnis und Dichtung ist das von Vater und Sohn, wenn man wenigstens davon absieht, daß diese beiden immerhin generell gleichartig, Erlebnis und Dichtung hingegen die Transsubstantiation aus einem Zustand in einen andern sind. Niemals kann sich der schöpferische Geist darin genügen, das mehr oder weniger Belangvolle ihm Widerfahrene, so wie es ist, mitzuteilen; allem gibt er den Abdruck seiner Hände, das Wesen seiner Seele mit. Diese Seele, ein Königreich der Erinnerung, sieht nichts mehr einzeln, sie sieht 132

alles im Zusammenhang

mit allem, namentlich auch dem,

was von der inneren Seite der Wirklichkeit herscheint und was nur im Menschen bewußt werden kann. Hierzugegen muß die Ursache der Gnadenlosigkeit alles Maschinellen, Photographischen, Seelenlosen, nur Rationalen gesucht werden. In dem Maße als ein künstlerisches Werk von Vision ausgeweitet erscheint, hat es Dauer in sich; Vision aber ist eben diese innere Erscheinungsweise, deren vertiefte Richtigkeit wir fühlen. Sie ist nicht eine Fähigkeit des Kopfes, noch des Herzens,

noch der Sinne, wohl aber aller zusammen,

sobald sie harmonisch ineinander wirken. Daraus erhellt sogleich, daß ein guter Kopf, ein empfindendes Herz oder Welterfahrung für sich allein noch keinen Dichter machen, und

damit

sind

wir

bei der

willkommenen

Stelle, diese

letztere besonders ins Auge zu fassen. Goethe bekennt, daß er nie über den augenblicklichen Stand

seines

Erlebens

hinaus

habe erfinden

können,

und

doch wird man ihm nicht Mangel an Phantasie, noch übertriebenen Naturalismus seines Werkes vorwerfen können. So sehr also der Künstler vom Erlebnis abhängig ist, so willkürlich geht er hernach damit um. Die Erklärung liegt darin, daß für ihn das Schwergewicht der Erfahrung eben nicht außen, sondern innen liegt. Nicht die Größe des Geschehenen, die Heftigkeit seiner Auswirkungen in ihm ist bestimmend für das, was er daraus macht. Es ist beinahe mehr die

Fähigkeit zu erleben als das Erlebnis selbst, was er braucht. Größen, wie relativ sind die! Wir alle haben es erfahren, daß Schicksalsschläge uns nicht halb so wie Geringfügigkeiten zu

erschüttern vermochten. Grundsätzlich sind also Bedeutung und Nebensächlichkeit des Erlebnisses zu bedenken. So viel Odysseus erlebte, es machte ihn nicht zum Dichter; niemand zweifelt daran, daß Homer seinem Geschöpf an Erlebnis unendlich überlegen war; wie hätte er es sonst glaubhaft zu machen vermögen? Und doch lebte er sehr wahrscheinlich ohne große Veränderungen seiner äußeren Umstände auf der Insel Chios im Jonischen Meer, kontemplativ und einsam. Der Lauf der Welt war ihm von Anbeginn bekannt. Seine ganze Kindheit war ein Tumult von Erlebnis gewesen. Er wußte Bescheid über Ithaka in Erinnerung an seine Knabenträume. Weshalb schreien unsere Kleinen im Schlafe auf, da wir

133

uns doch gehütet haben, sie mit den Gebilden unserer Angst zu erschrecken? Weil diese selben Gebilde auch in ihnen aufstehen. Die Phantasie hat ihren Sitz im Blut. Das Kind, dem Traum der Menschheit noch am nächsten, noch davon

duftend, wechselt beständig von der einen in die andere Welt hinüber. Beide sind ihm noch gleich wirklich, das heißt, es macht spielende Fortschritte in der Erfassung auch der gegenständlichen, deren Sensationen nicht aufhören! Da ist ein Hund,

der in der Nacht

bellt, ein Käuzchen,

das im

des Erhängten klagt. Nach den Regengüssen Baum schwemmt das Wasser Birnblust und Käfer durch Rädergeleise. Eines Tages schlägt der Blitz in ein Bauernhaus; wir betrachten Schiffbrüchige, die auf einem Stück Mast in der Salzflut treiben; morgens wirft Großvaters Stallaterne Kreise von Licht an die Schlafkammerdecke, das erzeugt eine wunderlich

melancholische

Wollust

in uns:

Nicht

erkennend,

aber lyrisch empfindend erleben wir das Symbol der eigenen Lebensfrühe. Stifter hat gesagt, daß, um zu wissen, wie der Hahn

kräht

oder

ein Haus

brennt,

wir an

das Erlebnis

unserer Kindheit zurückdenken müssen. Die Kindheit ist der Erlebnisgrund par excellence, der Künstler vielleicht ganz einfach ein Mensch, dem es durch ein Wunder gelingt, sich den geisterhaften Zustand des Kindes zu erhalten oder doch zeitweise in Erinnerung zu rufen. Der Zustand des Kindes ist der des unangefochtenen Glaubens an die Realität aller Dinge, einer Realität, die es nahe und warm umgibt. Kraft

seiner Unbeschriebenheit erlebt es noch alles in seinem Urzustand, dunkel und voller Zusammenhang. Der Dichter ist umso mehr Dichter, je allgemeiner diese Verzauberung in ihm ist. Gewöhnlich kommt und geht sie, nach unerforschbaren Gesetzen, kommt und geht seine Gabe, in das Innere der Natur zu blicken. Anker Larsen hat das

sehr schön und sehr richtig als «Das Offene» bezeichnet. Da erstaunt uns auf einmal die Art und Weise, mit der ein Boot

abends über das Wasser nach Hause schaukelt mit einem Ruderer und einer Frau, die müde sitzt. Nun ist es plötzlich zugleich der Einbaum des Pfahlbauers; so wie wir mitunter in eine geisterhafte Windstille der Zeit hineingeraten, die haargenaue unmögliche Wiederholung einer schon einmal empfundenen Lage zu erleben den Eindruck haben, so überspringen wir in unserem Aufenthalt jetzt ein paar Jahrtau134

sende, erinnern wir uns des Gefühls, mit welchem ein erster Mensch es sich einfallen ließ, von seinem Element, der festen

Erde, sich auf das andere hinauszuwagen. Wir erinnern uns in gespiegelter Spiegelung sogar seiner Erinnerung, welche erbhafter Art und unbewußt war: das Wohlbehagen, das er empfand, ging auf Wiegengefühle,ja weiter in den Raum des mütterlichen Fruchtwassers und also tief in den Kosmos zurück. Ein Mensch hat vielleicht siebzig Jahre lang Wolken gekannt, in seinem einundsiebzigsten erlebt er sie eines Tages. Nach meiner Erfahrung ist die schöne Krankheit mit dem Wohlgefühl einer festlichen Fiebrigkeit verbunden. Es gibt alsdann nichts, das nicht das Herz entzückte: Tramfahren ist wonnevoll, eine Seiltänzeranlage schwimmt zierlich im Himmel, und alles steckt voller Tiefsinn. Ich stehe nach Feierabend auf einer Straßeninsel in Oerlikon, ein Mistfuhrwerk knarrt vorbei, nichts eben Poetisches im Grunde; allein

es beschäftigt mich, fordert mich deutlich auf — und das ist nun möglicherweise das, was den dichterischen Menschen von den übrigen Sterblichen unterscheidet: daß er den Drang verspürt, das in ihm lebendig Gewordene mit den Mitteln der Sprache zu gestalten. Um ein Beispiel zu zeigen, das Ergebnis fiel so aus:

Dungfuhre Das kommt im Abend an mit schweren Gäulen,

Farbe von Brot, grauschumrig, Bernsteinrauch, Vom Staube angebleichter breiter Bauch Und Beine, Büschel, hornige Borkebeulen. Die Fuhre, die ein Ragt wie ein Berg, Wie Licht in einer Hängt die Laterne

Träumer leise lenkt, dampfend in Moos und Mooren, Hütte nachtverloren

im Gebälk versenkt.

Nun schwingt die Betzeitglocke drüber hin, Es riecht auf einmal nach den fernen Feldern, Nach ihren Stoppeln, Furchen, Füchsen, Wäldern, Es riecht nach Kindheit, Rübenlichter blühn.

135

Nicht umsonst weist es in die Kindzeit zurück: es ist an sich die Beschwörung der kindlichen Erlebnisweise. Gegenstand dieses Erlebnisses sind Landschaft, Wetterveränderungen, Licht und Dunkelheit, Farbe, Wind, Sternhöhe und die

Tiefen der eigenen Brust. Wir sehen, es ist uns vorgearbeitet, zur eigenen haben wir die Erinnerung der Menschheit mitbekommen; ich vermute,

daß wir den Großteil unseres Materialbedarfes aus diesen Gemarkungen beziehen. Welches aber ist der sonderbare Ort, wo das Vergangene und das Gegenwärtige sich vereinigen, auf welche Weise verweben wir das Fortlaufende in das Bestehende,

wie helfen wir Ernüchterte

und von

der Ge-

wohnheit Verdorbene uns weiter? Daß es nicht spielend geschieht, empfinden wir an der Stelle, wo sich der Augenblick an unserem Herzen aufstaut: ich meine die Zone von Dumpfheit, die sich überall zwischen uns und die Welt legt. Immer schieben wir eine Bugwelle Enttäuschung vor uns her, will sich unser Inneres dem Äußeren nicht anbequemen. Dieses Äußere trifft hart und andersartig an uns auf, es scheint unseren inneren Proportionen nicht zu entsprechen. Vor den Zaubern des Traums verblaßt das am Tage Mögliche, in den hochherrlichen Zeiten der Jugend hat sich die Phantasie andere als die jetzt vorhandenen Maße angewöhnt. Die Behutsamkeit des Geschehens beunruhigt den für Erlebnis so Wohleingerichteten. Er, der Vertiefer des Gefühls, der Mehrer der Möglichkeiten, leidet an der Spärlichkeit seines Schicksals; er erinnert sich, vorzeiten heißer

geliebt und gehaßt zu haben: er sucht die Schuld an sich selbst, findet sich unbegabt zum Erlebnis, nicht eingerichtet für Lust und Leid, zweifelt die Normalität seiner Beschaffen-

heit an — es ist die furchtbare Zone zwischen Dämmerung und Tag, wo sein Himmel unter den Einbrüchen der Bewußtheit

zerschellt, das Gefühl nicht mehr

ausreicht und

streikt. Ich habe den an der Diskrepanz zwischen äußerem und innerem Leben Leidenden in dem Roman «Der halbe Mensch» zu zeichnen, das Phänomen zu distanzieren und zu

überblicken versucht. Das Erlebnis bildet in diesem Buche den Gegenstand verbissener Anfeindung, Beschwörung, Erwartung, ohne daß es sich erweichen läßt. Ich habe bemerkt, daß in dem neuen großen Romane, an dem ich seit Jahren arbeite, im Grunde dasselbe Thema verfolgt wird, nur auf 136

dem umgekehrten Wege: Wenn der sich halb vorkommende Mensch aus Sehnsucht entsagte, bricht der, auf den seine Bürde weitergewälzt worden ist, ins Erlebnis auf, um sich daran zu ernüchtern. Beide erfahren insofern dasselbe, als es

sich ihnen jedenfalls in der Vergangenheit völlig verklärt. . Vergangenheit und Zukunft sind unsere Lieblinge, während "wir am Augenblick meistens leiden. Bestenfalls betäubt er durch seine Heftigkeit. Aber die Vergangenheit nimmt alles in die Harmonie ihrer Ferne auf. Ich glaube nun eine gewisse strukturelle Verwandtschaft von Erinnerung und Dichtung feststellen zu sollen. So wie das Erlebnis in der Erinnerung Reife und Einordnung in Zusammenhänge höherer Art erlangt, erfährt es bis zu seinem Wiederhervortreten in der Dichtung eine nicht genau zu beschreibende,

aber offensichtliche

und

unerläßliche

Ver-

wandlung. Retouche ist gewiß nicht die Bezeichnung, mit der sie gerecht umschrieben wäre. Es istjaauch nicht so, daß die Erinnerung uns das Bittere und Dunkle vertuschte; aber sie gibt ihm eine andere Stellung im Verbande des Ganzen. Unser Auge hat Zeit gewonnen, sich daran gewöhnend die Helligkeit auf seinem Grunde zu entdecken. Die Notwendigkeit der Dauer zwischen Empfängnis und Geburt des Kunstwerkes scheint mir bemerkenswert und aufschlußreich zu sein. Etwas Wesentliches muß in ihrem Verlaufe geschehen. Eine so naturalistische Sache wie der Krieg brauchte zehn Jahre, um zur Darstellung zu gelangen. Sie erinnern sich des vorwitzigen Hohns, durch den die Kritik in den Jahren nach Friedensschluß ihrer Allwissenheit Ausdruck gab: Es sind keine Dichter da, unser Erlebnis zu gestalten! Eines Tages ist das allergrößte je getätigte Literaturgeschäft in dem Artikel zu machen. Die Betriebsamen freilich, die waren wie überall

sofort zur Stelle; niemand spricht mehr von ihnen, während die Dichter: Alverdes, Hemingway, Giono immer noch ihre Kunst daran nähren. Sogar die Sachlichkeit eines Ludwig Renn blüht nicht im Schützengraben selber. Oder sollte ich in dem besonderen Falle irren, dann gestatten Sie mir das Beispiel etwa Jean Gionos mit seinem Roman «Die große Herde», in welchem das Erlebnis des Krieges zur apokalyptischen Vision gesteigert erscheint. Ich will es mir an dieser Feststellung nicht genügen lassen, sondern dem Geheimnis der dichterischen Wirkung mit einigen Worten nachgehen.

137

Wenn, was Giono in dem genannten Buche einmal schildert,

eine Kindsleiche von einem Schweine aufgefressen wird, so ist das an ‚sich gewiß keine erhebende Vorstellung, und dennoch erhält es eine, wenn auch grausige, doch als tiefsinnig empfundene Bedeutung durch seine Symbolkraft in den poetischen Zusammenhängen, die darauf angelegt sind, die Verflochtenheit von Leben und Vernichtung, Sinn und Unsinn, Fülle und Vergeudung, Schönheit und Fäulnis sichtbar zu machen in einem umfassenderen als dem nur intellektuellen, einem abgründigeren als dem soziologischen Verstande. Der Dichter, im höchsten Sinne neutral, das heißt gerecht, verschließt seine Augen vor der anderen Seite der Erscheinungen nicht, obgleich sie die Beurteilung schmerzlich erschweren. Er stellt Geburt und Tod, Korn und Granaten, Aufgang und Abstieg, Lust und Marter, Eis und Sonne,

Gottheit und Kreatur in einer Weise gegeneinander, daß sein Werk der Schöpfung zu gleichen beginnt, gerade weil er deren Erlebnis so völlig in sich verwandelt hat. Natürlich hat er irgendwo Schafe lechzend im Staub ziehen sehen, allein es war notwendig, die Beobachtung seiner überscharfen Sinne gewissermaßen in ihre Teile aufzulösen, einzeln im Wesen ewiger Bedeutung zu imprägnieren und, verfärbt an aller übrigen dunklen Erkenntnis, zu dem epischen Zuge wieder anzuordnen, wie er in dem Buche, überlagert von unheimlicher Verkündigung, jetzt für alle Zeiten daherströmt. Mit den Fähigkeiten des Intellektes ist das nicht zu machen, weil das Gebiet weiter reicht; die Erfühlung geschieht in den nach innen unendlichen Räumen der schöpferischen Seele, Auswahl und Ordnung in der Werkstatt des Kunstverstandes. Giono hat den Krieg, das Höchstmaß stofflichen Geschehens, erlebt: wer wagt es nach ihm noch zu schreiben? Es leuchtet ein, daß das mehr Gefühlsmäßige, Dämonische unserer Seelenmasse sich vererben läßt; wie aber steht es mit

ihrer Erfahrung in den Auswirkungen dieses motorischen Zentrums? Hat es der Dichter selber betätigt, hat er gelebt oder leben gesehen, besitzt er außer lyrischen auch epische Kenntnisse, kennt er die Welt und die Menschheit?

Ich glaube, daß er im praktischen Falle meistens ein schlechter Psychologe, argwöhnisch und übertrieben sein wird, indem er den Nächsten allzusehr aus seiner Phantasie

heraus beurteilt: im Bereich seiner Arbeit ermöglicht ihm 138

eben diese Phantasie die genauesten Unterscheidungen, Operationen und Evolutionen; es zeigt sich auch hier, daß er in seiner selbstgeschaffenen Welt doch eigentlich allein zu Hause ist. Nimmt man noch seine Begabung zu ergänzen hinzu und bedenkt das ungeheure Lager seiner sinnlichen Eindrücke, so ahnt man die Fülle der ihm gegebenen Möglichkeiten, da ja das Epische aus dem Lyrischen, die Tat aus dem Gefühl hervorgeht: er, der die Wurzeln alles menschlichen Tuns in sich hat, braucht sie nur in der Vorstellung keimen zu lassen, um den verwegensten Einfällen der Wirklichkeit zuvorzukommen. Wie anders als mit seiner Einbildungskraft kann die Erscheinung erklärt werden, daß so ein Jean Paul in Krähwinkel sitzt und ein Imperium nicht nur, sondern das Universum befehligt? Es ist ein Vorwurf, der dem introvertierten Schriftsteller immer gemacht worden ist: daß er sich schreibend um das wahre Erleben herumdrücke. Mir scheint, eine tragische Grundbedingung seiner Existenz wird ihm damit zur Schuld gestempelt. Rein materiell: seinem Inneren anheimgegeben, in die Dinge versponnen, die aus ihm selber wachsen, wie fände er noch Zeit und Aufmerksamkeit für solche, die ihn von außen versuchen? Ihnen sind die Stillstände seiner Fruchtbarkeit vorbehalten, und von denen muß er doch wohl hoffen, daß sie nicht überwie-

gen. Abgesehen von dem Grade, in welchem das Temperamentssache ist, sind die Gezeichneten immer Mönche ihres Gottes, in ihrem eigenen Leben geschieht nichts, es gibt davon nichts zu erzählen, es sind die Manzoni, Dickens, Schiller,J. P. Jacobsen, Ramuz, Undset, die ein unbewegtes

Dasein mit ihrer Erfindung beleben. Oft genug ist sie nur Wunscherfüllung: Selbsterfüllung, Verwirklichung von Unmöglichem, Auskneifen in theoretische Tat, auch das teilwei-

se. Das materielle Erlebnis ist eben immer nicht nur ein Zuwachs, sondern zugleich eine Verausgabung, wofür das Urbild der Tat, die zeugende Hingabe, als Gleichnis diene, mit ihrem augenblicklichen Zerfall der Illusionen, der die Erfüllung auslöscht. Mit gebührendem Vorbehalt verstanden, kann behauptet werden, daß, was getan, auch erledigt

und keiner weiteren Sublimation mehr bedürftig ist; der Dichter wird die Welt erleidend eher als tätig erleben und seine Männlichkeit mehr im Geistigen bewähren; ein Lebenskünstler wie Goethe sogar rationierte seine vitalen Ver139

ausgabungen, zog sich bis zur Feigheit oder Knausrigkeit ängstlich unmittelbar vor Abschluß der Verpflichtungen jedesmal in sein Genie zurück und machte hierin auch bei seiner Verheiratung keine Ausnahme; er übergab sich einer Frau, die auf viel mehr als seine Bürgerlichkeit nicht Anspruch erhob. Daneben hat es die Ausnahmen zur Bestätigung der Regel natürlich von jeher auch gegeben: Die Francois Villon, Byron, Stendhal, Rimbaud, Malraux — bezeichnenderweise scheinen es vor allem Franzosen gewesen zu sein, welche nach außen

ebenso wie nach innen zu leben

Geschick und Reserven besaßen. Der Franzose ist ja ein Weltmann auch in seinem Werke. Sobald wir vermeiden, den Begriff Erlebnis zu sehr in der Bedeutung des Abenteuers zu verstehen, kommen wir dem für den Dichter Erforderlichen näher. Im Ganzen ist zu sagen, daß, sowie er zwar nie zu viel weiß, dieses Wissen aber nicht tiefer liegende Quellen in ihm verschütten darf, er nicht genug Erfahrung sammeln kann, wobei eine professionelle

Sonderart,

Erfahrungen

zu

machen,

sich ganz

von

selber ergibt. Sein wesentliches Erlebnis, so scheint es zum mindesten, ist überhaupt nicht das materielle, welches viel

zu verborgen, unberechenbar, ja zufällig und beiläufig auf ihn einwirkt; sein großer Augenblick ist die Inspiration, sie läßt ihn im Glück erglühen, sie setzt er an den Anfang seiner Zeitrechnung, sie ist ihm wirklicher als alle Wirklichkeit, wie denn auch diese Wirklichkeit nur die Verwirklichung von etwas ungleich Wirklicherem ist. Die Dinge dieser Überwirklichkeit ihrem

himmlischen

Zustande

wieder

anzunähern,

ist Ja möglicherweise des Künstlers Beschäftigung. Denken Sie an das, was die Griechen, was Michelangelo aus der Menschenform gemacht haben; in der Dimension der Sprache inkarnieren sich göttliche Unsagbarkeiten. Ist es nicht sonderbar, wie hartnäckig die Menschheit an das Transzendentale glaubt, der Grieche an die immerhin nirgend greifbare Realität seiner Götter, der mittelalterliche Christ an den

himmlischen Marmor, der Zeitgenosse neusachlicherweise an seine okkulten Wissenschaften. Eine Landschaft bewegt uns dann am gewaltigsten, wenn sie uns in der Überschienenheit etwa von Albrecht Altorfers Visionen entgegentritt: wir finden darin unser Inneres abgebildet, es ist ein Seelengebiet, das wir erblicken, eine höhere Wirklichkeit, eine 140

Wahrheit. Die Kamera findet dergleichen nicht, während das menschliche Gemüt hier erst seine wahren Entdeckungen macht. Anton Bruckner— auch einer, der äußerlich nicht das Geringste erlebte — schrieb Musik auf, die gar nicht den Eindruck menschlichen Erzeugnisses erweckt; sie ist eine Naturerscheinung, eine reale Sache, Aufleuchten himmlischer Küste, die tongewordene Ausstrahlung derjenseitigen

Wirklichkeit. > Es scheint fast, als ob die Inspiration durch das glückhafte Zusammentreffen einer irdischen und einer himmlischen Erinnerung zustandekommt: das zu Geist sublimierte Erlebnis entzündet sich am Blitz einer ewigen Erkenntnis — die Flamme der Dichtung schießt auf. Daß es freilich bei der Sache nicht immer so wunderschön und bequem zu- und hergeht, die Erkenntnis vielmehr auch einmal wie ein Dieb auf Umwegen sich bei uns einschleicht, dafür möchte ich Ihnen aus der eigenen unmaßgeblichen Praxis ein Beispiel zum besten geben, umso mehr, als es auch in anderer Beziehung meine Behauptungen abschließend veranschaulichen mag. Zur Zeit der Grenzbesetzung sah ich einmal in Basel einen hübschen jungen Neger vorübergehen. Der dunkle Punkt blieb mir im Gedächtnis liegen und beschäftigte meine Phantasie, wenn ich auf Wachtposten frierend mich den einzigen erlaubten, weil unsichtbaren Ausschweifungen des Kopfes hingab. Es war ein rein optischer Eindruck gewesen, und im Malerischen spann sich die Sache weiter. Ich legte den Schwarzen in ein Marmorbassin voller Herbstlaub; so gefiel es meiner durchaus kitschigen jugendlichen Vorstellungsweise. Nach Hause entlassen, fing ich an, eine Geschichte um das Bassin herum zu erfinden. Die Notwendigkeit einer aristokratischen Blondine ergab sich wiederum aus Farbigkeitsgründen. Ich hatte vielleicht sechzig Seiten geschrieben, als mein Interesse plötzlich seine Richtung änderte, oder, wie ich eigentlich sagen muß, endlich einsetzte. Ich erkannte in einer Nebenfigur, dem Bruder der Blondine, zu meinem Erstaunen einen Zwillingsbruder oder Doppelgänger von mir; wir begrüßten einander erfreut, fingen an, unsere Geheimnisse,

Nöte, Gedanken,

Schwärmereien

zwischen

uns

auszutauschen. Das landschaftliche Szenarium war in Frankreich auf das Beste ausgesucht — zwar hatte ich diese 141

Landschaft

im Leben

nicht gesehen;

kurz, ich beschloß,

Frankreich in dem Buche zu beschreiben. Ich wechselte außerdem, Seite sechzig, aus der Gegenwart in das siebzehnte Jahrhundert hinüber, fuhr also ganz unverhofft bis zur späteren Überarbeitung des bereits Entworfenen in einer anderen Handlung, in anderer Garderobe, anderen Personennamen, anderen Zeiten fort. Ich hatte in der Geschichte

einiges über den damals herrschenden Sonnenkönig gehört, ich las gelegentlich eines der folgenden Militärdienste in einer Baracke am Hauenstein aus dicken Büchern noch mehr über ihn; aber damals lag mein Manuskript bereits fertig vor, und ich stellte nur sozusagen noch fest, daß die Weltgeschichte ganz ordentlich nach meinen Wünschen verlaufen war. Schließen Sie aus dem nicht mehr, als daß wirklich der Schriftsteller, um einen Mord schildern zu können, weder ein Mörder noch ein Ermordeter sein muß. Zwar hegte ich, als

ich «Die Gärten des Königs» schrieb, durchaus die Meinung, zur Zeit Ludwigs XIV. auch schon gelebt zu haben; da es indessen erwiesen ist, daß ich nach dieser Theorie zu wiederholten Malen an zwei Orten zugleich gelebt haben müßte, nehme ich an, daß mir die Einbildungskraft da einen

Streich gespielt hat. Es kommt

auf all das nicht an; die

Hauptsache war, daß die Unbewußtheit mich an das Gefäß geführt hatte, das meinen Überschwang aufnahm; obwohl in

fremde Verhältnisse und in die Tiefe der Jahrhunderte versteckt, liegt persönlichstes Erlebnis in dem übrigens Gott sei Dank vergessenen Erstling: Ich Träumer hatte damals angefangen, mir im Kampfe gegen die sozialen und politischen Mißstände den Kopf einzurennen und stellte mir, freilich ohne dessen schon bewußt zu werden, die erfreuliche Pro-

gnose an meinem Landjunker, der in seiner Haut verrückt wird. Man hat, ich glaube mit der Absicht eines Komplimentes, meine literarische Art als unschweizerisch bezeichnet, weil ich, zivilerweise wie künstlerisch, keine Bergschuhe

trage; wer genauer hinblickt, wird alles in meiner Dichtung voll schweizerischer Hügeligkeit, alemannischer Dämmerung finden, die Themen meiner Bücher: Provinzialismus, Lebensbehinderung, Weltsehnsucht, Gründlichkeit, republi-

kanische Auflehnung sind schweizerische Themen. Das aber ist freilich wahr, daß ich, gerade weil ich das in der Natur so

142

sah, alles hinter Duft

und

Ferne

setzte, nie unmittelbar

nachzeichnete und wie in der Kindheit über der Alltäglichkeit der Schornsteine auf einmal Griechenland, unaussprechliche Seelengegend erblickte. Wandere du durch das Land Und vergiß es, So steigt es dir schön Wie ein Abendgewölk in der Seele empor. Im Dunkel Glüht von versunkener Sonne

Siegreich das stille Gebirge Noch einmal auf.

Übersetzung von Lyrik Ich erschrecke immer, wenn es um Übersetzung von Gedichten geht. Ich möchte beinahe sagen: Sie istjaunmöglich! Die paar Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Die paar Ausnahmen scheinen mir, in der Schnelligkeit geurteilt, auch immer von Dichtern besorgt zu sein. Das Gedicht eines Fremdsprachigen nachzudichten, ist fast ebenso unmöglich, wie die Liebe eines anderen nachzulieben. Es ist so sonderbar und ist im Grunde eben nicht sonderbar: Die getreueste Nachformung im Wort verhindert es nicht, daß die Kopie dem Original meistens nur so wie die Rückseite des Teppichs seinem Avers gleicht (so sagte einmal jemand sehr zutreffend). Der herrlichste Dichter erscheint dann so, daß man seinen Ruhm,

wenn

man

ehrlich ist, nicht recht verstehen

kann. Wie wunderbar ist: «De ces grands yeux si fervents et sı tendres, De cette bouche ou mon cosur se noya»! Kann man das übersetzen? «Ou mon caur se noya» ist unendlich viel mehr als «der mein Herz betaut». Und das schwermütige Melos des Französischen, dieser unvergleichlichen Sprache, könnte höchstens durch eine Färbung Romantik der auf andere Art nicht minder gewaltigen deutschen Sprache angedeutet werden. Sehr geehrter Herr, alles das sage ich nicht gegen Sie, sondern generell gegen das bewundernswert mutige Unterfangen, Lyrik zu übertragen.

143

Geheimnis der Lyrik

Um meine Ansicht von der Sache befragt, sah ich vor allem das eine: Sie bleibt ein Geheimnis, das in Ewigkeit nur mit Ahnungen zu umspielen ist wie das Lebendige selber. Die Sektion wird es nie erfassen und kaum auch nur seinen Sitz bestimmen; was wir gewinnen können, ist die Richtung darauf hin; sie freilich läßt den menschlichen Geist nicht ruhen. Die Kunst als Trieb, der schon den Primitiven, instinktgebunden sogar Tier und Pflanze und Mineral im Atom bewegt, ist Geheimnis des Formwillens, durch welchen

die Welt entstand; Ursprung und Absicht darin sind Geheimnis. Die religiöse Art der Kunst an sich springt demnach in die Augen; Religion aber ist Geheimnis. Sie ist der Grund, aus dem wir uns im tieferen Sinne ernähren. Zum leichtesten Medium Gottes reicht die Materie über die Stege

aller Abstufungen. Es scheint notwendig zu sein, daß Gottwesenheit sich inkarniert; im Wort der Lyrik wächst Schöpfers sublimste Vegetation: Künstler, als solche, Gott auch in seiner materiellen Hälfte anerkennen und

alle des die se-

hen, lehren Weltfröhlichkeit nicht im Sinne von Wein, Weib

und Gesang, sondern durch Begeisterung, durchs Lob von Schönheit und Symbol; sie vermitteln Vitamine unserer höheren Ernährung. Vollendete Kunstwerke beruhen daher immer auf idealer Proportion von Geist und Materie, eben weil sie auf beiden stehen. Form wird uns nur an der Materie ersichtlich, und sei diese Materie so zart wie der geformte Laut im Wort. Sein Drang zur Form ist des Künstlers Weltfröhlichkeit und Religiosität zugleich. Unsere Teilhaberschaft an der Materie ist stabiler als die am Esoterischen, das die meisten von uns nur besuchsweise,

durch Gnade mehr als die Bedingungen unserer Konstitution erfaßt. Daher mag die eigentümliche Abhängigkeit des Dichters rühren.

Er kann seine Gabe forcieren, herausfor-

dern, durch Fleiß und Hartnäckigkeit in Fluß bringen, in einem gewissen Grade; Dauerzustand der geistigen Empfänglichkeit ist nur dem Genie gegeben; wir andern werden ihrer streckenweise teilhaftig, im übrigen sind wir Sterbliche, die Brot essen, ihr Kragenknöpflein suchen, irgendeinen Bürgerberuf ausüben und den höheren Zustand für endgültig verloren ansehen. Wie alle andern erblicken wir Stein und 144

Stern und Gewölk, aber nicht mehr, keinen Zusammenhang, kein Symbol, die Seele ist uns erblindet. Die Sehnsucht, eine

gewissermaßen asketische, männlich strenge Entbehrung, scheint eine der Grundveranlassungen von Dichtung zu sein. Das, was ich als «lyrisches Klima» bezeichne, hat etwas Herbstliches an sich. Es ist schwer zu beschreiben; unabhän-

gig von Gunst und Ungunst des Äußeren, tritt der Dichter in eine spürbare höhere Zone ein, in eine kristallene Luft von Reinheit und Transzendenz: plötzlich sieht er wieder, die Geheimnisse liegen ihm offen, er steht überhaupt vor dem «Offenen»,

wie es Anker Larsen genannt hat, er liest eine

Welt der Symbole, das Geringste wird ihm Symbol. Eine eigentümliche innere Leichtigkeit, eine wissende Verzückung schenkt ihm die Einfälle im Vorbeigehen. Er hat keine Macht in der Sache; schon die Entstehung von Lyrik schwebt im Geheimnis. Er kommandiert die Dinge nicht, sie kommandieren ihn. Der dichtende Dilettant geht mit hausbackenem Werkzeug willentlich an ein Gewerbe, das sein Gefallen gefunden hat. Er ist der ganz Undämonische, der Schlangenhäute bändigt. Weshalb erwähne ich ihn? Weil an seiner Tätigkeit so recht sein Gegenteil, der Dichter in seinem Geheimnis aufgezeigt werden kann. Ich meine unter dem Dilettanten ja nicht bloß den reimenden Stümper; der Dilettant muß auch in dem Raffinierten erkannt werden, dessen trügerischste Erscheinungsform der Akademiker ist. Es kann in der Unbeholfenheit der dichtenden Köchin Dichtertum stecken; die Zaube-

reien des Akademikers, oder richtiger des Akademisten, sind unter allen Umständen das Gegenteil von Dichtung. Es ist einmal bloße Form, bloßes Schema des Erlernbaren; es gibt eine Art Musikalität, die erlernbar ist, sogar der Anschein von Tiefsinn kann nachgeahmt werden. Wie vieler Dilettantismus ist in der Welt zu Ansehen gekommen! Wie viele von denen, die im Volke so für Dichter gelten, sind Verbalisten ohne einen Funken des Dichtertums. Seien wir ehrlich: sie sind, wie alle Scharlatane, auch gar nicht immer leicht als solche zu erkennen. Oft ist ihre Bedeutung umgekehrt proportional zum Tempo und Umfang ihres Erfolges. Dieser Erfolg hat einen seiner Gründe darin, daß der Dilettant notwendigerweise Epigon ist, heißt das, er ist noch etwas weniger als ein Epigon. Der Epigon hat ein Quantum Schöp145

ferkraft, Dilettant und Akademist haben gar keine; nichts Neues an ihnen stellt Ansprüche, sie schockieren nicht, wie die Begabung es tut, mit dem Ungewohnten; sie erobern

lauter eroberte Stellungen, sie erobern sie mit Leichtigkeit. Wirkliche Künstler haben immer, wie das einmal jemand nannte:

etwas

Provozierendes.

Schneeschatten

Der

Maler,

der als Erster

blau malte, weil er sie mit dem Auge des

Fachmanns für Farbe so sah, provozierte den Laien, dem der

weiße Schnee eine Binsenwahrheit war. Was dem Beschauer als verhaßte Moderne, als Abirrung von der Wahrheit erscheint, ist in Wirklichkeit (ich rede jetzt nur vom ernsthaften Fall) immer eine Korrektur zugunsten der Wahrheit.

Hier haben wir ein Unterscheidungsmerkmal zutage gefördert: Der Akademist gehorcht einem Lehrer, der Künstler einzig und allein, manchmal gegen eine ganze Welt, der Natur. Die Natur des Lyrikers umfaßt die äußere wie die innere Landschaft. Vor ihr steht er mit einer Fähigkeit, die ihn vom Nichtkünstler unterscheidet (es gibt hierin natürlich Gradationen), mit der Fähigkeit des Staunens. Das Kind sagt: «Schau, Mami, das Schneckenhäuschen!» Ihm ist es Wunder

und Geheimnis. Der Mami ist es nicht das geringste Wunder noch Geheimnis. Sıe ist die Verarmte, sie hat vom Baum der

Erkenntnis gegessen. Es war Camoens keine Kleinigkeit, sein Manuskript übers Meer zu retten; es ist ungleich seltener, daß ein Mensch jene Kindlichkeit, die noch erstaunt, über Wasser der platten Aufklärung behält. Solch ein Mensch ist dann ein Dichter. Er ist der von Grund auf Ehrfürchtige; im Staunen liegt immer auch Ehrfurcht. Jene Atmosphäre des Geheimnisses,

innerer

die ich das lyrısche Klima

Zustand

von

erstaunender

nannte,

Ehrfurcht.

ist ein

Auch

sein

Kommen und Gehen ist Geheimnis. Nur wer an ihm teilhat, kommuniziert wirklichen Lyrismus, jenen Gott-Äther, der

ebensosehr empfindbare Wahrheit als Geheimnis ist. Der Gehalt eines Gedichtes kann nicht anders als in der Form des Gedichtes, wahrscheinlich sogar nur in dieser Form dieses Gedichtes erfaßt werden, also nicht etwa in einem philosophischen Exzept, so wie Musik nicht erschöpfend in eine andere Kunstform übertragen werden kann. Programmusik kann inhaltlich mit Worten angedeutet werden, Johann Se' bastian Bach in keiner Weise. Je reiner Lyrik ist, desto weniger kann sie anders als eben durch die bestimmte Kon146

stellation der Worte, der Laute, der Rhythmen gesagt werden. Hierin besteht auch die Sewuietigkeit der Übersetzung von Lyrik in eine andere Sprache.

Il pleure dans mon caeur Comme il pleut sur la ville... das ist doch in anderer Weise kaum wiederzugeben. Diesen regnerischen Gleichklang pleure, coeur, pleut, der irgendwie den Eindruck des Grauen evoziert und der voller Reim steckt, hat nur das Französische, ebenso die sinnhafte Asso-

nanz von pleut und pleure. Die zwei Zeilen sind eine wahrhafte technische Erfindung, einmalig, es ist Urlyrik, höchste Kunst und präziseste Einfachheit zugleich. Im Unterschied zum Akademisten, der in klassischen Formen zu exzellieren

pflegt, folgt die gehorsame Sensibilität des Lyrikers auch in der Fassung seinem flutenden Material; er schafft dem besonderen Gehalt die besondere Form, mit den Mitteln des Rhythmus, der Klangfarbe, des Reims, der Phrasierung. Ich habe, meine Damen und Herren, möglicherweise den

Eindruck erweckt, als dürfte Lyrik nichts mit Philosophie, dagegen um so mehr mit dem Gefühl zu tun haben; und in dieser Unstimmigkeit fühle ich mich unbehaglich. Vielleicht ist bei genauem Besehen das vollkommene Gedicht dasjenige, das in idealer Proportion der Verflechtung Ratio, Gefühl, Musik, Farbe, Linie, Rhythmus,

innere und äußere Figur,

also alles enthält. Gescheit dichtet der Akademist, gefühlvoll der Dilettant. Die Gescheitheit eines Claudius ist aber von ganz besonderer Art, derjenigen Kants nicht zu vergleichen. Die Gescheitheit des Lyrikers ist unscheinbar, weil ganz in Schönheit der Bilder versteckt. Die Wahrheit einer mathematischen

Formel

erstaunt;

die in einem

Vers enthaltene

mathematische Richtigkeit entzückt, ohne eigentlich gesehen zu werden. Der Lyriker ist ein umgekehrtes Prisma, welches die Farben zum Strahl vereinigt; seine Intelligenz ist synthetischer Art. Er führt aus der Diaspora in die Heimat zurück, in ihm kristallisiert die Lösung zum Kristall. Künstler sind Maurer, die dem Zerfall der Weltkathedrale entgegenarbeiten. Sie sind höchst wichtig, aber wenig ernst genommen, wie so manches Wesentliche. Der Malerei gegenüber hält sich hartnäckig die irrtümliche Meinung, sie hätte zu photographieren; als Lyrik gilt vor breiten Schichten nur das 147

Gefühlhafte. Das ist ein zu geringer Anspruch, schuld an der Einschränkung möglicherweise die Bezeichnung Lyrik, die ich im Grunde für unzulänglich halte. Sie geht auf Lyra, Harfe, zurück. Diesem Ursprung zufolge wäre das primäre Kriterium das der Sangbarkeit, was meiner vielleicht unrichtigen Ansicht nach nicht zutrifft. Dichteste Lyrik widersteht sogar der Vertonung; sie ist so autonom, daß sie nur mit Hilfe einer gewissen Brutalität in das Kleid der Musik gezwungen werden kann. Mir ist die immanente Musikalität etwa von Goethes «Abendlied» ungleich melodiöser als der gesungene Tonüberbau. Für die Zwecke des Komponisten eignet sich das nicht allzusehr verdichtete, gedichtete Libretto wie das Volkslied besser als Lyrik, die ohne Ergänzung vollkommen ist. Vertonbar ist ein — verübeln Sie mir die scheinbar pietätlose Behauptung nicht! - hinsichtlich seiner Lyrik primitives Gedicht wie «O mein Heimatland» (Gottfried Keller selber hat es bedeutsamerweise verworfen); unvertonbar ist das lyrische Juwel «Augen, meine lieben Fensterlein...», und welche Musik gäbe es, die das Melos der unsterblichen Strophe Goethes nicht erschlüge: Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz. Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz! Das Beispiel zeigt, daß die Gefühlskomponente vorherrschen kann; herrlichste Stücke der Lyrik leben davon, aber doch meist in einer Sordiniertheit, die aus Bezügen der Zusammenwirkung resultiert. Viel guter Lyrik eignet eine sonderbare Temperiertheit, vor welcher der Gefühlshungrige zurückscheut. Lyrik ist eben nicht bloßes Genußobjekt; Kunst ist nicht bloßes Genußobjekt, sondern sublimstes Mittel der Erkenntnis. Durch sie reichen wir in eine Dimension, die uns mit dem Verstande einerseits, dem Gefühl anderseits uner-

reichbar bleibt. Auch Musik ist nicht bloßes Genußobjekt; Johann Sebastian Bach ist im Lunapark nicht an seinem Ort; er baut Gotik, die zur Gottheit erhebt. Wer über die Erde hinausheben will, neigt immer dem Dithyrambischen zu. Die Lyrik nimmt die Mittel des rationalen Worts und der gefühlhaften Musik zusammen. Wenn Musiker etwa Beethoven 148

dafür tadeln, daß er zur Krönung seiner Neunten das Wort hinzunahm (Freude, schöner Götterfunken...), so rechnen es ihm Lyriker dafür um so höher an: Ganze Klarheit erschließt doch erst das Wort! Das Wort macht den Menschen zum Menschen. Die reine Lyrik philosophiert nicht eigentlich und ist doch auch nicht bloße Musik; beider Fusion in ihr erzeugt eine dritte Art, eine orphische Funktion der Deutung; die in Zeichen spricht, dadurch in den Bereich der Magie gelangt und irrationalen Wesens wird. Sie ist nur dem Gläubigen verbindlich, Materialist und Rationalist müssen sie belächeln,

sie erscheint ihnen als feminin spielerisch; nun haben die Priester von jeher Frauengewand getragen, und Pythia war ein Weib. Sie deutete in traumhaftem Rausch; der Lyriker,

über dem raunenden Abgrund des Kosmos, deutet aus traumhaftem Rausch heraus. Seine Sprüche sind zwei- und vieldeutig wie die delphischen Orakel, in ihren sublimsten Spekulationen gewagt und nur einem sichersten Sinn erfaßbar. Er spricht in Bildern umfassender als in logischen Deduktionen, er operiert mit Symbolgehalten; die Symbole sind die mystischen Lettern des Buches, aus welchem er liest,

dieses unerschöpflichen Buches mit seinen tausendfach beschriebenen Seiten. Das lyrische Klima ist der Zustand jener traumhaften, hellsichtigen Berauschung. Ein lateinischer Kopf wie Valery denkt taghaft in Iyrischer Mathematik, während etwa der Österreicher Trakl, der Inbegriff des genialen Lyrikers, grottenhaft lallt und aus Räumen des Schlafes mehr als aus der Himmelsbläue bezieht. Valery, wäre er nur ein Sprachmathematiker, wäre bestimmt kein Lyriker; immerhin, beide Möglichkeiten sind gegeben, die rationale Lyrik wird gern zugunsten der orphischen unterschätzt, eben aus jener Bevorzugung des Gefühlhaften, das nur eine Seite des Lyrischen ist. Lyrik als Deutung der Welt in Zeichen ist eine verbindliche Disziplin und als solche der Logik, wenn auch wiederum in besonderer integraler Form, durchaus verbunden. Es kann also auch die Ratio darin dominieren, das lyrische Produkt etwas wissenschaftlich Lineares, Konstruktives und Kühles annehmen; es unterschei-

det sich von der akademischen

Mache immer noch durch

Geheimnis seines inneren Lebens, durch Sinn seiner Zeichen und Zusammenhänge. Seine Abstraktion noch ist von luzi-

149

der keit wie der

Bildhaftigkeit. Man kann es ruhig sagen: Geheimnishafligist das Erkennungszeichen von Lyrik. Nun gibt es natürlich, es neben der Weissagung die Kartenschlägerei, neben Somnambulität die Betrunkenheit gibt, neben dem Geheimnis die Geheimtuerei; sie meine ich nicht, sie-gehört zu den Requisiten des Akademisten. Ich meine nicht das Dunkel der Ungenauigkeit, nicht das Geheimnis des Verworrenen, nicht die Unwissenheit des Salbaders, ich meine das Geheimnis der Präzision im Sternenraum. Im Geheimnis der Lyrik waltet das Weltgeheimnis; seine Fassung hat so genau zu sein wie das Uhrwerk der Welten selbst, wie die Gesetz-

lichkeit im Kristall. Diese Genauigkeit zu erreichen, ist die eigentliche Mühe und Schwierigkeit, mit der es der Dichter zu tun bekommt. Zur Gabe des Sehens muß die Gabe des Ausdrucks kommen, erst sie macht den Dichter. Das Handwerk des Ausdrucks ist nicht Gabe allein, son-

dern keine geringere Arbeit als die, die eigene Form zu finden und mit den Gesetzlichkeiten des künstlerischen Handwerks in Übereinstimmung zu bringen. Aus solchen Erwägungen heraus wird es völlig verständlich, wenn der japanische Meister der Malerei, Hokusai, mit neunzig Jahren von sich sagte, nun fange er an, etwas zu können, oder

wenn Rilke behauptet, daß man früher als sechzigjährig nicht zu dichten anfangen sollte. Die Verlegenheit ist die, daß man, im Groben gesprochen, nur arbeitend zu arbeiten lernt, und so sind wir, sehr verehrte Leser, auf Ihre Toleranz

gegenüber der Menge unserer Gesellenarbeit angewiesen. Der Prozeß ist ein Läuterungsprozeß insofern, als es sich in ihm, wie in aller Entwicklung, darum handelt, das meisterliche Minimum der Mittel zu erreichen. In allen Kategorien treibt der jugendliche Mensch Verschwendung am Material; die Überlegenheit des Meisters besteht in der Handhabung jenes Minimums, welches den Gehalt vollauf und erst eigentlich erfaßt. Die Kunst besteht im Weglassen, ist gesagt worden;

die Kunst

auch eines Turners

besteht darin, mit

einem Minimum an Aufwand ein Maximum der Leistung zu vollbringen; sein Gelingen entzückt mit der Eleganz des Vollkommenen. Der Dilettant, sei es der Turnerei, der Malerei oder der Poeterei, überwindet niemals die Verschwendung; er häuft das Material und das Detail, er macht, um

vieles zu sagen, viele Worte und sagt deshalb gar nichts, er 150

handhabt nicht die Magie der Andeutung. Es ist unrichtig zu denken, etwas so Schwebendes wie die Lyrik erlaube die Willkür der Mittel. Gerade sie lebt von der äußersten Genauigkeit. Dichten ist Mathematik des Wortes, Ökonomie nach Gesetzlichkeiten der Kristaliographie. In jedem einzelnen Falle handelt es sich darum, sozusagen einer Platonschen Idee die adäquate Leibform zu geben. Das geschieht mit mehr oder weniger Gelingen, selbst bei den Meistern, die nur verhältnismäßig wenig Göttlichkeit des Selbstverständlichen erreichen. Aus diesem Grunde ist bei aller Unmenge der Produktion die Welternte gültiger Kunst wenig umfangreich.

Trösten

wir uns

am

Sternenhimmel,

der zu seiner

Ganzheit mit ersten Größen nicht auskommt. Unsere Siege zählen überdies doppelt gegenüber etwa dem des Salzkristalls, der keine andere Wahl hat als seinem inwohnenden

Zwange nach vollkommen zu wachsen, heute und in Ewigkeit derselbe, derweil es des Menschen Vorrecht ist, sich am

Unerschöpflichen seiner Möglichkeiten von Fall zu Fall zu bewähren. Das Schneckenhäuschen ist kein Verdienst der Schnecke, sie kannja nicht anders, während das Straßburger Münster das unsterbliche Verdienst Erwin von Steinbachs ist, denn er hätte auch anders können, er hätte auch eine

Unzulänglichkeit bauen können. Es ist durchaus müßig, die Vollkommenheit der Natur gegen die Stückhaftigkeit des Menschenwerks auszuspielen; dem Menschen allein darf sein Werk, als ein Werk, das in den Gefährdungen aus Freiheit entsteht, in einem bestimmten Grade als Verdienst

angerechnet werden, um deswillen er ja auch Gottes lieber Sohn ist, an welchem er Wohlgefallen hat. Er gibt ihm nicht Freiheit vom Gesetz, er gibt ihm nur Freiheit, das Gesetz zu erfüllen, welche Freiheit der Salzkri-

stall nicht hat. Seine Gesetze sind sogar unerbittlich, und das mehr oder weniger ewige Leben der Leistung hängt von ihrer Erfüllung ab. Nun formuliert sich ein Versgebilde ja nicht oder nur selten mit der Leichtigkeit des Vorbestimmten; seine Verwirklichung geht im allgemeinen mühsam vor sich, Mephisto bietet seine Erleichterungen, seine rascheren Siege an; der Dichter wird in der Wüste versucht, für Herrschaft den Geist zu verraten. Was der ganzen Erscheinung eines Dichters ais Schlimmstes widerfahren kann: auf das gleichlaufende Geleise der Routine, der Selbstnachahmung zu gera151

ten, das droht ihm in jedem Einzelwerk. Er fühlt es genau, wenn er, aus Ungeduld, aus Verzweiflung, den Boden der Wahrheit

verlassen,

sich auf den Karren

der Konvention

gesetzt hat. Das genaue Sehen, das genaue Hinhören erfordert die letzte Aufmerksamkeit, die Wahrhaftigkeit der handwerklichen Arbeit, manchmal

ein fast unmenschliches Maß

der Treue und Bemühung. Es gibt dafür den quantitativen und den qualitativen Lohn, den Erfolg vor der Welt und den allein gültigen vor dem Bericht der ewigen Gesetze. Diese ewigen Gesetze sind keine akademischer Art, es sind vielmehr die Grundgesetze allen Schöpfungsprozesses, deren Befolgung gerade vor dem Akademischen bewahrt. Sie bewirken die eigentümliche Erscheinung, daß das wahrhaft Lebendige, das wahrhaft Schöpferische sich durch alle Jahrhunderte hindurch gleicht, der Chinese Li-Tai-Pe am Beginn der Zeitrechnung dem Europäer unserer Tage aus dem Herzen spricht. Das Manierierte ist nicht neuartig, sondern ausgefallen; Neuartigkeit entsteht einzig durch das schöpfungsmäßig Unveränderliche. So ist das Geheimnis der Lyrık ein doppeltes: das inhaltliche Weltgeheimnis und das der unio mystica im Formalen. Denn das Eigentliche über dieses Formale ist damit, daß man es rational zu fassen versucht,

nicht gesagt; es wäre das, was den Akademiker, nicht das, was den Dichter macht; dieses bleibt seiner Ursache

und

seinem Walten nach im Geheimnis verborgen. Man hält das Dichten gern für eine kurzweilige, freiheitliche Sache; in Wahrheit hat es von der unerbittlichen Konsequenz des Schachspiels mehr als von einem Sonnabendgang durch die Blümchenwiese. Zwischen Lyriker und Mathematiker besteht nur eine Komplementärgegensätzlichkeit. Wie ähnlich ihre Nöte sein können, bezeugt ein erstaunlicher Ausspruch des Mathematikers Leonhard Euler, der sagte: «Meine Ergebnisse hab ich schon, ich muß aber die Wege zu ihnen finden.» Der Mathematiker stöbert die Formeln der Physik auf, der Lyriker ihre seelisch-geistige Entsprechung. Ein Quarzkristall ist in die Hand zu nehmen, seinen Proportionen sind Gleichungen und diesen genetische Kausalitäten zu entnehmen; die Kristallität eines Versgebildes ist sublimerer Art, sein Spannungsmodell abstrakt und das Medium völlig ätherisch. Theoretisch muß dem Dichter die Strophe als Ganzes wie hinprojiziert einfallen. Das ist denn auch gar

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nicht selten der Fall; ich selber habe Dutzende von Gedich-

ten sozusagen ohne Aufenthalt und Korrektur wie aus der Luft abschreiben können. Was ich im «Salzsee» hernach bloß aufzuschreiben hatte, stand eines Morgens beim Erwachen von irgendher an der Zimmerdecke über mir wie eine Fatamorgana, eindringlich, verweilend, eine Aufforderung. Man darf sich fragen, kann denn eine Einheit von Sinn und Ausdruck zustandekommen, wenn der Dichter Fixpunkte wie den Reim, diese bestimmenden Kristallecken, anzuvisieren hat? Ist es nicht auch im besten Falle so, daß er ein wenig «dem Reim nach dichtet» auf Kosten dessen, was er sagen will? Hier liegt ein erstaunliches Geheimnis der Form. Sie ist so wenig zufällig wie die Welt selber, sie ist wie sie prästabilisiert. Die Möglichkeit des Radioempfanges bestand seit Urzeiten; die dazu gehörende Apparatur mußte gefunden werden. Jede Gedichtform ist die Erfindung, die Findung des gegebenen Wortapparates zu einer Idee, in ihrem Ganzen wie im Detail. Der Dichter fühlt wohl, ob er zur Urkonstruktion vorgedrungen sei oder ob er daran vorbei erfunden habe, geredet habe statt auszusagen. Der Dichter, der streicht und feilt, tut nichts anderes als der Ingenieur, der seine Erfindung auf ihre knappste, ökonomischste Form

reduziert. Also einmalig und gesetzmäßig ewig, steht das Gedicht als ein Faktum; in seiner esoterischen Realität liegt seine Zauberwirkung. Ein Gedicht ist ein Lebewesen, strahlende Entelechie. Kunstwerke sind energetische Zentren, welche die Welt verändern. Die funktionelle Wahrheit des Straßburger Münsters bliebe auf eine magische Weise auch dann, wenn es die Bomber in Trümmer gelegt hätten. Die funktionelle Wirkung Dantes besteht auch dann, wenn er nicht gelesen wird. Das dichte Wort des Gedichts ist von der Art des Radiums. So wie die Ziffer der ausgeschriebenen Zahl, ist die Metapher des Gedichts dem Prosawort an Suggestivkraft überlegen. Das Gedicht ist nicht Statthalter, sondern die Majestät selbst. Das Gedicht ist Unmittelbarkeit, dunkle Berührung des Weltgeistes.

193

Sollte man Dichter sein...

Sollte man Dichter sein, wie ein Mensch etwa Kaufmann ist,

nämlich unter ständigem Diktat seiner Bestimmung, so bin ich des bestimmtesten keiner. Ich sage das ohne Eitelkeit und nicht sehr gewiß darüber, wie ein wirklicher Dichter in Wirklichkeit beschaffen ist; im Grunde bin ich des Glaubens,

daß, ungeachtet aller Gegenbeispiele, das Genie ein Vielschreiber sein muß und gerade der lyrische Mensch täglich und stündlich mit dem Urgrund der Natur kommuniziert. In meinem Fall tue ich das keineswegs, oder doch nicht in einem Sinne, der durch Schöpfung ersichtlich wird; es scheint so zu sein, daß ich sechs Tage ruhe, um am siebenten

in aller Eile nachzuholen. Diese Ruhe ist dann nicht einmal fruchtbare Träumerei, ist weder die Festlichkeit des Baumes

zur Blütezeit noch seine Geduld über den Sommer - sie ist schlechterdings Gottverlassenheit, Abwesenheit aller Erhebung, ist Alltag in des Wortes unverwegenster Bedeutung, ist bestenfalls Pflichterfüllung (mit Ausnahmen), ist Zahnbürste, Tramfahren und Brotberuf, der mir dann Floß und Rettung wird. Gerät mir zu dieser Zeit eins meiner Bücher in die Hand, so staune ich baß, einmal! dergleichen vermocht zu haben; es kommt mir, nicht das Buch, aber der Zustand, ganz unwahrscheinlich und etwas verdächtig vor, eine zarte

Hitze ergreift mich, schlechtes Gewissen und der Argwohn, der Ewigkeit Dokumente in die Hände gespielt zu haben; ich halte mich an den Trost, daß nur wenige es merken würden. Jedenfalls erfüllt mich ganz das Gefühl, nie wieder rückfällig zu werden, es fällt mir schwer, mich der dichterischen Ver-

fassung auch nur zu erinnern, ein wenig bedaure ich’s wohl, denn es ist Buchdruckerschwärze, Aufhebens und ein leiser Geruch. von Lorbeerblatt um die Sache, und die Furcht

davor, ohne Spur von diesem Stern abzugehen, mag auch in dem musischen Triebe stecken. Nun, er hat mich so völlig verlassen, daß ich eher die Quadratur des Zirkels als einen Vierzeiler zustande brächte; weder fällt mir etwas ein, noch

wüßte ich, wie damit fertig zu werden; in meinem Leben habe ich kein Gelegenheitsgedicht gemacht, jeder Vereinsaktuar kann es besser. Schade, es wäre schön gewesen, so ein richtiges «(Euvre» aufzuhäufen, schön, in die Literaturgeschichte einzugehen, schön, nach dem Tode noch von Schul-

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kindern auswendig gelernt zu werden. «Sie sind Dichter», sagt man einem dann wohl obendrein, und man bestätigt es mit der Armesündermiene

eines Polarfahrers, von dem es

noch nicht an den Tag gekommen ist, daß er sein Fähnchen nicht eigentlich bis zum Pol getragen hat. Dann eines Tages geht eine Art Reif durch den Sommerglast; von

nun

an ist die Welt anders,

in ihrer Grellheit

gebrochen, irgend etwas, irgendein kosmisches Tor geht zu, ein Schatten

bleibt

über

dem

Himmel,

der Planet

läuft

gleichsam langsamer, nähert sich einem Ziel, einer kühlen Küste da oben, ein Kreis scheint sich zu schließen, ich muß nur immer an die Kindheit denken, an ihren Schneegeruch,

an ihre Rübenlichter - an der Stelle im Sternenraum war ich schon einmal, geht es mir geisterhaft durch den Sinn. Und plötzlich am Morgen hat sich Nebel vor die Fenster gestopft, es riecht nach Herbst, man trägt einen mystischen Schatten im Dunst herum, und, o Wunder und Seligkeit: Herbstzeitlo-

sen, die alten Herbstzeitlosen! Man wird ein Septembermensch, und der Septembermensch ist anders. In seiner weicheren Seele treiben Marienfäden, in seiner Verträumt-

heit steigt der Äußern scheint ganz tief herab, alles ist anders,

blaue Rauch von nur ein Gleichnis, der Nachthimmel die Stille flüstert.

Herbstfeuern; alles im die Herbststerne hangen blickt wie eine Pupille — Es ist lyrısches Klima;

Lieder, wie Herbstzeitlosen, kommen von selber.

Ich habe drei Bändchen Lyrik veröffentlicht, jedes entstand im Laufe eines Herbstes. Das jüngste trägt, wie sich’s gebührt, nun auch seinen Namen: «Stille des Herbstes.» Allein, es kommen auch Montezuma und der Jüngling Vieuchange und der Chor der Gänse darin vor, alte Zeiten vergessener Liebe — im Herbst, in der Himmelsbläue ist alles: Wenn nichts wäre: in dir ist alles,

Herrlichkeit der gespannten Leere, weite Gelassenheit Blühenden Blau’s, o du Ozean,

Der uns bewegt Mit den mildesten Wassern, Dünungen himmlischer Voll Jenseits: Horizonte In dir ist alles.

193

Es fing eines Tages in mir zu dichten an, Fetzen von Einfall beunruhigten mich: linkisch, in verlernter Hantierung begann ich ayfzuschreiben, es gelang schlecht, ich konnte es nicht mehr, ich versagte, verzichtete, vernichtete. Und hier

ist das Bekenntnis meiner Lügenhaftigkeit anzubringen: Ich schrieb da von einem Riede und hatte es doch nur im Schulgarten beobachtet: versamender Schilf. Ein leibhaftiges Wunder, dem ich Zeuge geworden war. Die Seele baute es in eine Landschaft der Erinnerung hinein. Die Seele schaltete und waltete souverän mit Eindrücken des Unterbewußten,

verknüpfte, verpflanzte, Geisterhaftes kristallisierte sich in die Stille aus — heißt das, die Stille, die Umgebung des schöpferischen Prozesses, war die eines zürcherischen Cafehauses; hier ging ich die vierzehn Tage meiner Herbstferien hinein und dichtete von morgens sieben ein Viertel bis zwölf Uhr punkt, wo es dann aus und vorbei und der restliche Tag eine Einöde, Unsinnigkeit und Langeweile war. Ich erschlief mir die Inspiration, die zuverlässig und mit Regelmäßigkeit kam, ich fabrizierte die Gedichte, der Wahrheit die Ehre, ich schrieb eins nach dem andern auf, manchmal hatte ich die Wahl über ihrer fünfe, die mir einfielen; ich setzte den

Schlußpunkt hinter das eine und fuhr sogleich mit dem nächsten fort — doch blieb es die Regel, daß ich an einem Vierzeiler ebenso viele Stunden arbeitete. War es dann aufgeschrieben, so gab es keine Korrekturen mehr daran, es saß. Ich schrieb von Staub und Sternen, Salzseen, Päpsten, vom Meer, von Rodin, von Italien, Mexiko, von Herbstwäldern — alles das nicht in der Natur, deren ich jetzt nicht mehr

bedurfte, die mich eher in meinen Konzeptionen störte; ich schrieb alles auf meinem Cafehausmarmor. Es kam vor, daß die Sache sich über das Vertragliche hinauszog, die Jazzkapelle anrückte mit ihrem Radau: innen war Stille wie zuvor, nichts brachte mich aus der Fassung. Die Ferien gingen zu Ende, ich dichtete weiter in der Straßenbahn, im Wartesaal

der SBB, während der schriftlichen Beschäftigung meiner Schulklasse (sagen Sie’s keinem Menschen!) — und plötzlich war

es Schluß

damit, es kam

nichts mehr, das Reservoir

hatte sich erschöpft, ich hatte auch Ruhe, ich wollte nicht unverschämt sein, denn es war eine Seligkeit gewesen. Weshalb ich dieses Gedichtbuch schrieb? Ich weiß es nicht. Sie sehen: das einemal kann man nicht, das anderemal muß man. 156

Weshalb Lyrik? Die Frage nach dem Sinn der Lyrik ist die nach dem Sinn von Dichtung überhaupt. Sie ist in einem letzten Sinne nicht beantwortbar,

ist beinah

Glaubens-,

Erlebnissache,

doch

steht fest, daß das Organ für sie geübt werden kann. Die Behauptung, unsere technisierte, sportive Welt habe die Lust auf Verse verloren, wird oft wiederholt, ich _weiß nicht, mit

welcher Begründung, vermutlich in Überschätzung einer guten alten Zeit, die es für wesenhafte Lyrik niemals gegeben hat; denn Hölderlin so wenig wie Mörike und Keller oder Meyer oder Trakl haben etwas anderes erlebt, als daß ihre Auflage nicht weggehen wollte. Diesbezüglich braucht sich keiner von uns zu schämen. Für Lyrik muß ein Verleger auf lange Sicht kalkulieren, sonst tut er übel und unrecht. Für Lyrik, wenn sie von mehr als den paar Narren, die solche verlangen, gekauft werden soll, ist es Voraussetzung, daß gerade der Buchhändler ihr seinen sanften Zwang zugute kommen

läßt in dem

Sinne, daß

er sie unauffällig,

aber

ausdauernd wie ein Sektierer sein Traktätchen an den Mann zu bringen sucht; so wird er bewirken, daß mancher, der zu

ihrer Gottseligkeit von sich aus nicht heimgefunden hätte, sich ihrer holden Wirkung inne und fähig wird, in Versenkung und innerer Sammlung die ergänzende Dimension in der Hast der Tage zu finden. Soll man ihm aber dafür nicht eher zu Musik oder Gottesdienst raten? Es schließt ja das eine das andere nicht aus; mir will es so scheinen, als ob

Lyrik beides in sich zusammenfaßte: das Bezwingende der Musik und die Klarheit des rationalen Wortes. Zusammen haben sie eine gotische Wirkung, die Seele zu erheben; das Gedicht mit seinem Maß, mit seinen Voluten und Symmetrien, seinen Farben und Dämmerungen hat an sich etwas vom Dom; aber sein Stein ist nicht stumm, er spricht aus, er

ist Orgel und Priester dazu. Dieser Priester bezieht wohl das Geheimnis, das Unendliche der Schöpfung in seinem Worte mit ein; im ganzen ist er ein menschlicher Priester, der sich

zu den kleinen Dingen neigt, in Bildern der irdischen Erscheinung spricht, sich des Herzens mit seiner Lust, seinem Leid annimmt, nicht indem er für uns alle trinkt: indem er

für uns alie aussagt. Das Privateste sagt er aus und erlöst damit das Geheimste Aller aus seiner Stummheit; für uns 19%

schreibt er die Schönheit, für uns deutet er die Zeichen der Natur, dem Herzen des Liebenden leiht er sein Wort, in seinem Bekenntnis erkennt sich der Blindgeborene. Der

Dichter geht mit seiner Leyer über die Seelen hin wie der Landmann mit dem Pflug übers Feld; er lockert auf und sät Geist. Was den Menschen zum Menschen macht: daß der Untergrund der Natur in ihm Bewußtsein erlangt, in ihm allein, nicht in der Pflanze, nicht im Tier, das liegt so manchmal und auf weite Strecken hin verschüttet; hier

kommt Leben»,

der Dichter und singt sein Lied «vom er ruft es herauf, er erweckt

die Toten

begrabnen aus dem

Grabe, er hält ihnen den Spiegel des Lebens vors Antlitz, daß sie sich ermannen und wieder Menschen werden. Nichts Unsinnigeres daher, als zu sagen: Was will er in dieser Zeit? Diese Zeit gehört der Gewalt, diese Zeit ist eine Zeit des Stahls, diese Zeit hat keine Zeit für Besinnlichkeit! Ich denke, es ist just die Zeit, die des Arztes bedarf. Die Zeit

verlangt wohl die Aufpeitschung, die Hast, den Kitzel, die Ablenkung; aber hat je der Morphinist etwas anderes heftiger als Morphium begehrt? Der Kranke will nie, was ihm zuträglich ist. Man glaube dem Dichter; er selber wird oft an seiner Tätigkeit irre, er kommt sich frivol vor mit seiner Schönheit, seinem Wohllaut inmitten von Lüge, Gewalttat,

Hunger und Schmerzensschrei. Allein, haben nicht die Amseln auf Schlachtfeldern weitergesungen und wohlgetan? Der Zitronenfalter, der am Schützengraben vorüberflügelte, die Schlüsselblume an zerrissener Scholle begegnete dem Sterbenden als Erscheinung einer überwirklichen, elysischen Wahrheit, deren er sich erinnerte, so daß er im Lächeln hinüberging, getröstet darüber, daß Amselgesang, Falter und Schlüsselblume ewig, die Kanonen vergänglich waren. Fürwahr ein ungleicher Krieg: Amselgesang gegen Kanonen, und doch haben die Amseln die Kanonen zum Schweigen gebracht. Fürwahr ein ungleicher Krieg: Verse gegen die Versprechungen dieser Welt! Es ist wahr, sie bringen kein Brot; aber auch die Amseln brachten es nicht, und doch vergaß der Ergriffene seine Krume über ihrem Liede. Es gibt leibliche und geistige Verlangen; insofern als der Leib unüberwindlich ist, ist er es durch den Geist, und wär es der

Geist der Freiheit. Auch wo er den Namen nicht ausspricht, der Dichter ist Geist der Freiheit. Der Mensch, wo er Kunst

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übt, genügt seinem Drang zur Freiheit. Der Mensch, der auf Kerkerwände zeichnet, demonstriert das Prinzip seiner Königlichkeit, seiner Freiheit. Wer in der Welt den Geist vertritt, vertritt immer die Freiheit. Oder wäre es Zufall, daß die Tyrannen aller Zeiten den Geist verfolgten ünd doch, in instinktivem Respekt vor ihm, den Scheingeist, die lahme Epigonie mit ihrem klirrenden Lorbeer bedachten? Gesang bleibt dem Sklaven als letzte Freiheit. Ich glaube,

die Schweiz

hat ihren

besonderen

Grund,

Dichtung, dieses scheinbar negligeable Vitamin im Volkskörper, aufzunehmen. Nicht allein, weil jede Form der Freiheit unter uns eine Heimstatt finden soll - deshalb auch - der Schweizer bedarf der Dichtung als des Gegenprinzips seiner Schwere und Erdgebundenheit. Seine Gefahr ist, das Greifbare zu überschätzen. Als Hochlandmensch in die Bedingungen eines wenig verschwenderischen Bodens hineingestellt, umschlossen von Grenzen, die ihn abschnüren können, klammert er sich an den Wert in seiner Hand; so ist er ein Realist geworden, ist er verläßlich, tüchtig, genau und treu, was alle Welt gern an ihm sieht; aber Treue und Verläßlich-

keit neigen zur Hypochondrie,

Genauheit und Tüchtigkeit

führen ıhn leicht dazu, ein Kleinlichkeitskrämer, ein Pützler

und Materialist zu werden. Wir haben das Hochgebirge, das mehr blockiert als hinaufweist, wır haben weder die Ebene noch das Meer, wir müssen das Offene künstlich hereinbrin-

gen, wir schaffen den Raum der Bläue in der Dimension des Geistigen, und das entspricht durchaus unsrer Nationalität von Nationen, die ein Geistiges, nicht Natur, die aus dem

Willen entstanden ist. Es läßt sich aus diesem Grunde kaum verstehen, daß der Wille nicht weiter geht zu den eigentlichen Dingen der Geistigkeit, die bei uns ohne viel Anerkennung, ohne viel Hilfe von seiten des Staates am Rande gedeihen. Ich verkenne nicht einige gute Gründe dieser Zurückhaltung: Stipendien machen keine Dichter, es liegt uns nicht, in geistiger Repräsentation zu machen, man beläßt die schönen Künste ihrer Freiheit. Aber ist es nicht anderseits so, daß ein Künstler eben nicht vom Geist allein

lebt, seine materiellen Bedingungen in einem Lande von der Ausdehnung der Schweiz denkbar ungünstig und die Zeiten der Sorglosigkeit im Europa des organisierten Antigeistes seit langem vorbei sind? Die Presse, dem abgehetzten oder 259

flüchtigen Abonnenten dienstbar, verschließt sich der eigentlichen Dichtung, unsere Zeitschriften, soweit sie bestehen, sind entweder seichte Familienblätter oder snobistische Exquisitäten, zu denen nur möglichst tote Koryphäen Zugang haben; der Verdienst des Autors ergibt noch nicht die Mög-

lichkeit zum

Leben eines kleinen Beamten; so hungert er

entweder oder verbraucht seine Kraft in einem Brotberuf,

und das in einer Zeit, wo sogar Diktatoren Gelder in der Absicht verschleudern, wieder Rehe in ihren Stacheldraht-

wäldern anzusiedeln. Mit Hartnäckigkeit muß den Verantwortlichen beigebracht werden, daß die Demokratie ihre Aufgabe nicht erfüllt damit, daß sie sich über wirtschaftliche Krisen hinweglaviert; es möchte ihren Widersachern passen, feststellen zu können, daß die abgeleierten Demokratien nicht einmal das mehr hätten, worin sie ihre Überlegenheit sähen: Menschlichkeit und Kultur.

Sprache und Wesen Wer das Lob der deutschen Sprache singt, wird zunächst versucht sein, das Lob der menschlichen Sprache überhaupt anzustimmen. Es war zu Anfang des Jahrhunderts, daß ich,

ein Büblein von zehn Jahren, im argentinischen Weizenmeer stehend, zum erstenmal die Übermacht des Instinkts erlebte, ein Gefühl ausdrücken zu wollen, das Gefühl von alldem, meiner Einsamkeit in dem Korngeruch, meiner Verlorenheit

in Myriaden. Des Schreibens und Lesens nicht kundig, ahnte ich wohl den Salzozean, der vorzeiten hier Wogen geschlagen, nicht aber das Weltmeer der Dichtung, einer Ausdehnung, in die mich zu recken ich nur als Ohnmacht der Sehnsucht empfand. Die Gnade der Sprache ist wie alle Gnade kaum beschwörbar, dem Fleiß nur bedingt, einem Verdienste nicht so sehr als der Befähigung zujener heiligen Nüchternheit

erreichbar,

die, still von

Stürmen,

nur noch

spiegelt. Denn ich rede ja nicht von der Mitteilung, dem mehr oder weniger hausbackenen Werkzeug täglicher Verständigung, ich rede von der Sprache als von jener unio mystica ım Wort, jenem Glücksfall der Deckungsgleichheit, jener Entsprechung in Zeichen, dem leiblosen Leben der Sprache, das in seiner Geisthaltigkeit, seiner radiumhaften

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Strahlung als eine der stillsten Gewalten bestimmend und formend im Wandel der Menschheit mitgeht. Ich unterscheide dabei wohl zwischen Eingebung und Ausdruck, die Laune des einen ist nicht die Laune des andern, günstigenfalls gehen sie zusammen, sie gehen auf Streckeri zusammen; dazwischen ist es die müh- und peinvolle Arbeit des Suchens, Annäherns, Erlauschens, der Weg der Tücken und Fallen, Scylla und Charybdis von Schein und Ersatz, ist es der Gang

über Regenbögen. Etwa nicht? Es wird Sprachen geben, die französische mag von der Art sein, die gebrauchsfertig vorliegen; die deutsche will stetsfort erschaffen werden, auf sie selbst trifft zuerst das Wort ihres größten Souveräns zu: Was du ererbt von deinen Vätern

hast, erwirb es, — um

es zu

besitzen? Hier zögere ich schon. Die Meisterschaft im Finden ändert nichts an dem Erfordernis des Findens, und wenn kein Meister vom Himmel fällt, fällt keinem Meister etwas

vom Himmel. Goethe erhob Anspruch auf ein Verdienst nur in seinem Zusammenhang mit dem Fleiß und meinte damit eine Zeilenzahl vermutlich weniger als den Fleiß in der Arbeit der Treue, das immerwährende Wach- und Wahrsein,

die Steinklopferarbeit dessen, der keine Konglomerate in seine Straßen einlegt. Was ich meine, hat mit Originalitätssucht nichts zu tun, auch nicht etwa mit einer Künstlichkeit

der Sprache; sie meine ich gerade nicht, ich meine die Genauheit, die knappstmögliche Entsprechung, die Einfachheit, in dieser letzteren freilich hinwiederum nicht bloße Simpelkeit des Gedankens, was gemeinhin für einfach gilt;

die Natur hat auch das Skurrile, das Beziehungsreiche, Vielgetönte; das Ganze seines Ausdrucks wird als skurril, beziehungsreich, vielgetönt erscheinen, die Macherschaft seines Teils unterscheidet sich in nichts von der des Geradlinigen und Großen: Der Ausdruck trifft oder fehlt. Die Untersuchung darüber, welcher von Matthias Claudius und Georg Trakl oder Adalbert Stifter und E. Th. A. Hoffmann richtig sei, kann man sich füglich sparen: richtig ist immer die Richtigkeit eines Ausdrucks, und diese Richtigkeit dann höchstes Gericht über das Ausgedrückte. In diesem Sinne unter andern ist Dichten Gerichtstag halten. Insofern als ein Dichter nicht nur spiegelt, sondern aus Seelenschätzen hinzugibt, demonstriert er Gericht über sich selbst und reiht sich in Rangordnungen ein. Mit Ausdruck, mit Sprache an 161

sich in der Meinung, daß er sich genau fassen kann, ist nicht selten der Mindere besser vergabt als der Reiche und wäre es auch nur durch den Umstand, daß er weniger zu meistern hat; gibt es nicht eine Linkischheit von Großen, eine Mühse-

ligkeit Pestalozzis, unendlich rührend anzusehen und erdrückend in ihrer Wesenhaftigkeit beim Vergleich mit kleinen Zauberkünstlern des Wortes. Nun, ich kann nicht von

Sprache reden, ohne vom

Wesen

zu reden; Sprache und

Wesen sind mehr als Haut und Fleisch eins, und das ist die

Größe der Sprache, gerade der deutschen Sprache, daß sie so viel verrät. Weshalb verrät sie so viel vom Besondern und Allgemeinen, weshalb rührt sie einer nicht an ohne im Glockenstuhl der Gestirne laut zu werden, weshalb ist sie so

unerbittlich, offensiv und gefahrvoll ebenso wie gefährlich? Sie, die von ihrem Jünger Selbstentäußerung im Gehorsam fordert, gehorcht ihm dafür in der Dienstbarkeit mehr nur als seines Willens: auch seines menschlichen, volklichen, landschaftlichen Unterbewußtseins. Sie hebt einen ganzen

Raum herauf, denn wie ihrer wenige ist sie reich an Möglichkeiten der Erfassung. Sie fordert aber nicht allein Gehorsam, sie fordert auch den Wagemut, ihre Höhen und Tiefen zu bestehen, oder Hals und Bein darin zu brechen. Trägt sie den Sanften sanft, so stürmt sie gern mit dem Ungestümen, ihr Wesen hat etwas Ikarisches, ihr Wikingersinn ist auf Trophäen aus, die ihr nicht fremd zu Gesichte stehen; weltof-

fen und doch voller Dämmerungen ihres romantischen Grundes, angegrünt aus Landschaftstiefe, blau überstrahlt von

Gedankenhöhen,

ist sie so

recht

ein Raum

für das

Eigenwillige und Mannigfaltige. Klärte die Latinität sich zur Linie

einer

Akademiestadt

überm

Lande,

so blieb unser

Norden bei seiner alemannischen Hofsiedelung, blieb er bäuerlich-kriegerisch, nicht ohne Ritterideal, nicht ohne höfischen Mittelpunkt, im ganzen aber auf Provinzen einsam, eigenbrödlerisch und darauf eifersüchtig. Ich kann nicht von Sprache reden, ohne vom Wesen zu reden: unseres, scheint mir, zeichnet uns kein geruhliches Schicksal vor. Wir sind die, welche immer wieder auf den Anfang zurückzugehen haben; unser Sprachwerk ist jedesmal eine Neugründung, unserem Wesen ist die Vollendung im Sieg weniger als der Selbstzweck der Anstrengung gemäß, unsere Einheit ist komplexerer Natur als die Uniformität eines Reiches, unser

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Tribut bleibt wesentlich nur so lange, als Freiwilligkeit und Freiheit der wagenden Persönlichkeit ihn darbringen, im einzelnen wie im ganzen. Wir Hüter der Quellen und Pässe schon gar binden uns nicht im Besonderen; von der Scholle her bäuerlich, haben wir auch das Gefälle näch allen vier Meeren in uns, haben wir unter uns so Gott will nicht unbeachtet das Sinnbild der Eis- und Ätherhöhe, des verbindlichen Geistigen über Europa. Der eine wird wohl und zu Hause sein in den Bauerngärten der Heimatkunst; er ist ehrenwert und notwendig — das Ganze unseres Ländchens ist in der Idylle nicht untergebracht, das Ganze hat, wir dürfen

uns dessen rühmen, Erhebungen ins strahierende Allgemeine. Hier in dem ohne andere Machtvollkommenheiten den Geistigen, in dem sich die Völker uns weiterer Nachbarschaft

Menschheitliche, abReich ohne Grenzen, als die des umfassenberühren, fühlen wir

verbunden,

sprechen wir, und

wäre es auch nur lesend, die Sprache der Edelsten unserer Verwandtschaft. Sie ist trotzdem fürwahr keine bläßliche Übereinkunft; die deutsche Sprache ist das wundervolle Lebewesen, im Pulsschlag einer Mitte strömend, die sich aus ihren Bezirken unwandelbar tätig erneut. Es ist die Sprache, jener Tönungen fähig, in denen die Mannigfaltigkeit geistigen Wesens auflebt: die stratosphärische Strömung Hölderlins, die Dissonanz der Droste, Billingers Phantasiegewalt,

das Ultraviolett Georg Trakls. Welches Spektrum der Arten, welcher Bestand an Kraft und Zartheit deutscher Sprache, welche Heimatlichkeit eines Reichs über Bürgerpapiere und Politismen

hinaus,

welche

Realität der Eintracht,

Perma-

nenz eines ungeheuchelten Friedens, Besitzergreifung hinüber und herüber, Austausch der höchsten Güter! Fängt nicht die Tragik dort an, wo der Mensch das Attribut seiner Königlichkeit, die Sprache, von sich wirft und zu Mitteln der Gewalt greift? Fängt nicht ebenda auch seine Unwürde, ja sein Ende an? Im kristallenen Ozean des Sprachegewordenen steigt das Unvergängliche unseres Wesens; besseren Beitrag hat keiner zu geben, wahrhaft geben kann nur das Geschenk,

und Geschenk

ist das, daß das Eigene, Unver-

wechselbare, in seinem Wesen Ganze gegeben wird.

163

Das Schaufenster Sag mir, was du gerne liest,

Und ich sag’ dir, wer du bist.

Ein kurzer Aufenthalt in einer welschen Stadt vermittelte uns die flüchtige Bekanntschaft mit dem Schaufenster einer modernen Buchhandlung, wo in der obersten Reihe, gleich-

sam als Herz- und Seelenfänger, folgende Bücher aufgestellt waren: N. Segur: «Mystere charnel». Laurent-Keller: «Le baiser de ’homme vierge». N. Segur: «L’appel du desir». Th. Monny: «L’amant sans tendresse». N. Segur: «La fleur du mal». Lavrence: «L’amant de lady Chatterley». J. Bonmariage: «Les seins de Madame Breuilly». Ovide: «L’art d’aimer». Ch. Quinel: «La cite des femmes». Goudu: «La tache originale». ***. «Puberte. Journal d’une Ecoliere». Goglay: «Chez les mauvais garcons». Ch. Royer: «La femme cousue». Also nichts als «Erotik» oder Druckerzeugnisse, die schon dem Titel nach diese wenigstens vermuten lassen. Leider hatten wir keine Zeit, die Titel der übrigen Bücherreihen genau aufzunotieren. Abgesehen aber von ein paar Wörterbüchern, waren es fast durchweg Abenteuer- und Kriminalromane sowie namentlich «exotische» Reisebeschreibungen. Natürlich durften auch «allgemein verständliche» Einführungen in «Wissenschaft» der Handlesekunst und dergleichen nicht fehlen. Betonen

möchten

wir, daß es sich im betreffenden Falle

nicht um ein Schundgeschäft handelt. Der arme Buchhändler hat gewiß ganze Stöße von Balzac und Flaubert, France und Zola auf Lager, von den Klassikern gar nicht zu reden. Immerhin gönnte er dem schlechten Geschmack seiner Kunden auch Ovid und Lawrence... Nein, nicht der Spiegel ist schuld an der Fratze unserer Gegenwart. Wie sie geworden 164

ist, welche

Kräfte

sie hervortreiben

und

nähren,

ist eine

andere Frage. Hier wollten wir nur signalisieren. Warum wird das hier erzählt? Weil nicht zugelassen werden darf, daß die Trägheit, mit der Europa die Verhöhnung des Nobelpreises zur Kenntnis nimmt, am Ende nicht nur der Auszeichnung, sondern sogar auch dem Ausgezeichneten schadet. Es war denkbar und in manchen Fällen erforderlich, daß aus dem Gefühl der Verantwortung für sein persönliches, unabsehbares Schicksal über Ossietzky nicht geredet wird; aber welches Übermaß von Verantwortungslosigkeit, ihn durch die Verleihung des Nobelpreises erst in das grellste Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken, seine mächtigen Feinde erst so zu beschämen und dann den zum Kampfsymbol gewordenen Mann einsam in den Händen eben dieser Feinde zu lassen! Die Gesellschaftskreise um die Nobelstiftung — ihre Preise überreicht der schwedische König — haben ohne Frage die Macht, dem Manne ihres Vertrauens Gesundung, Sicherheit und Selbstverfügung zu verschaffen. Sie müssen diese Macht endlich wirksam werden lassen. Denn indem sie Carl v. Ossietzky für alle Welt sichtbar, auch für die feindliche Welt, zum Botschafter der europäischen Friedenspartei machten, übernahmen sie die umfassende Verantwortung für sein persönliches Schicksal. Mögen sie sich dieser sehr ernsten Verantwortung endlich bewußt werden!

Bücher Autoren Künstler

Bücher

Ohne Zweifel wird eine Zeit, in der man Bücher liest, einmal

wiederkommen. Warum sollte eine so süße oder furchtbare oder fromme Nötigung, wie die Gestaltungsbegier, in den Wind verströmen? Was wissen die Dichter von ihrer Berufung? Sie lallen, was ihnen der Wohllaut im Herzen orgelt. Vielleicht wissen sie darum, daß dieser Dienst keinen Lohn einträgt von einer Welt, die sich heilen muß, und ein Heiltrank, nein, das war die Kunst doch nie. Niemals ging die

Vollkommenheit aus sich hinaus der Ohnmacht zu Hilfe. Und unter den Schwestern ist die Dichtung die strengste. Ihrer Musik haben nicht alle Jünger Ohren; mit ihrer ziellosen Willkür, die sich nicht rechtfertigt, prüft sie die Treue

hart. Gott hat es aber klug gemacht, den Übergang in diese Zeit zu legen, wo er wenige verwundet: welcher von uns wäre noch kindlich genug zum Dichter! Allesamt glauben wir nicht an die Kunst. Das Ewige überfällt uns nur heimlicherweise. Dann klingen so fremde Gesänge auf, die wir noch nicht verstehen, nur fühlen; eben die Harmonien, die uns mit

Schauern berühren, mit Erinnerung und Tränen. Damit es den letzten Sinn umfassen möge, ist das Erhabenste immer des Sinnes bar. Nicht eine Tugend besitzen, vielmehr eine Tugend sein. Bis daß unsere Erde nicht die letzte Eitelkeit vergessen hat, wird sie den Frieden nicht erlangen. Der Friede ist bei der Gerechtigkeit; Gerechtigkeit fließt aus der Demut; nur dieser teilt der Gott sich mit, und er ist die Harmonie.

Brief an Herrn Simon Tanner

Geht es denn auch an, noch aufein Werk zurückzukommen, das Sie vor Jahren in die Welt gaben, so langen Jahren, daß Sie es sich am Ende verbitten dürfen, in der Weise eines Neulings beredet zu werden, so, als hätten Sie nicht verdient,

in die Stille dieser Vergangenheit einzugehen unterm Lorbeer der Meisterschaft! Nämlich ich war nahe, es aufzugeben, an die Möglichkeit eines Dichters zu glauben, und mehr, ich zweifelte an der Einsicht der Menschen, daß sie sich von der Art eines solchenje ein Bild zu machen verstün169

de. Nun verpflichten Sie mich zu Dank, sich der Wahrheit angenommen zu haben, ganz einfach dadurch, daß Sie ein Dichter sind, in aller Schlichtheit und Stille.

Ja, das beweist mir Ihre Größe, Simon, daß Sie geringer als der Geringste sind und es auch sein wollen: Nein, Sie wollen nichts auf dieser Erde; Sie wollen auch nicht, daß Sie

etwas wollen. Sie haben ein wachsames Ohr auf die leiseste Stimme, die zum Behagen verführt, und Sie schütteln die Rosenschlingen mit einem putzigen Schrecken von sich, um wieder nichts mehr zu haben, Sie armes Leuchtkäferchen in

den Lauben des Lebens, Sie dumme Nase und tapferer Tagedieb. Sie wissen zu wohl, daß alle Welt dem Schlangenblick des ersten besten Zwanges verfällt; Sie sind dem Getümmel entsprungen und haben sich in die Büsche gehockt, nicht um den Fasching hier zu betrachten, wie Sie wohl könnten; Sie leiden es ganz einfach nicht, einer andern Nötigung zu gehorchen als nur derjenigen aus Ihrem innern Sternlicht. Vor lauter Fülle erscheinen Sie stupid; Sie dürfen es sich leisten, einer schönen Frau die Stiefel zu glänzen; aber einmal ist Ihnen auch Schuheputzen nicht adlıg genug, Sie werfen

es dahin, wenn

die Zeit für Sie da ist, den Über-

schwang zu meistern, was Sie wiederum auf eine bescheidene, kindliche Art vollbringen, als sähen Sie es selber nicht, wie fieberisch geschäftig Ihr Müßiggang ist. Alledem gemäß ist das Buch Ihres Daseins ein Buch ohne Sinn und Absicht. Sie werden damit nicht reüssieren — wie kommen

Sıe uns, liebwerter Herr? Was hoffen Sie zu voll-

bringen ohne etwelche buddhistische Nebel und Inbrünste? Verzollen Sie Ihre Habe, Sie Springinsfeld! Aha, auch eine noch so bescheidene Fabel haben Sie nicht vorzuweisen, oder

soll das von Belang sein, was Herr Simon Tanner und Geschwister an Nichtstun vollbringen? Die Menschheit ist ernsthaft geworden; die Dichter haben es schwer. Wie könnten mir Ihre letzten Verwandlungen bekannt sein, Herr Simon? Wenn ich mir aber dächte, Sie könnten eines Tages plötzlich geweckt worden sein aus Ihrem schönen Traumwandel, wenn es möglich wäre, daß Sie vielleicht zu dieser Stunde irgendwo säßen in einer Stadt oder auf einem Feldstein oder jenseits des Meeres, über die Stille erstaunt, mit der die Welt Sie beleidigt, in diesem Falle gedachte ich Ihnen zu sagen:

170

Es ist mir wenig Schöneres begegnet als der Blumenbusch Ihrer Dichtung! So wie Sie mir nicht werden begründen können, warum Sie gerade dies und dieses gerade so und nicht anders hinschrieben, sowenig vermag ich, falls Sie mich fragen sollten, Ihnen Rechenschaft zu geben, warum ich es ergreifend finde, wenn Sie auf Ihre Weise sagen: «In dem kleinen Dorfe schneite es am Morgen». Es ist in allen diesen Blättern so etwas von den Lichtregungen einer Schneefrühe. Was da aufblinkt an zarten Wunderlichkeiten,

hat samt und sonders keine Berechtigung in sich, und wehe ihm vor jenen, die seine erhabene Weisheit nicht beglückt. Ein Dichter stößt die süße Bedrängnis sich vom Herzen mit einem Kinderlächeln, alles was ihm da fremdher kommt, willkürlich, aber blau von dem Licht des Ewigen. Sie nehmen die kleinsten Dinge vorweg, tränken sie aber mit Ihrer inneren Fernsicht, schieben sie voreinander und durcheinan-

der, lassen sie aneinander klingen und sich übergolden, und ist kein Wort aus diesem Born, das nicht neue Tiefen und

Farben und Wehmut

und unaussprechliches Zwielicht be-

schwörte, Sie Dichter von der Unschuld Gnaden. Sie haben nichts außer der Liebe, darum nahen sich die leisesten

Geister auf Sie herab: Die weißen Wolken über die Straßen von Paris! Bildströme von so verblüffender Schönheit gehen weit erhaben

über Lehre und Sinn ; sie enthalten in sich

mehr als alles. Wehe dem Werk, das seine Tugenden so schlecht vereinigt, daß ihrer eine ins Gesicht fällt. Schaffen ist Gehorsam.

Wer einen Willen durchsetzt, lehnt sich auf.

Ein Dichter will nichts, er folgt nur seiner Weisung. Zu dieser Zeit, Simon, ist Ihre Demut schlecht angesehen. Sie leiden

wohl gar Hunger. In Liebe und Ergebenheit Ihr Albin Zollinger.

Robert Walsers Roman

«Der Gehülfe»

Die Auslandschweizer kehren entweder heim oder gehen, wie Jakob Schaffner, endgültig ab. Nach «Geschwister Tanner», von welchem Walserschen Roman - wir gedenken auf dieses Juwel zurückzukommen — Max Rascher in Zürich eine ER

Neuausgabe besorgte, erscheint nun auch «Der Gehülfe» in einem schweizerischen Verlage, anziehend aufgemacht. Ich möchte versuchen, Walser einmal von einer ganz anderen Seite als beabsichtigt beizukommen. Von der Seite dessen nämlich, was ich seinen Verismus zu nennen mir die Freiheit nehme. Ich habe herausgefunden, daß Walsers unbeschreiblicher Zauber für mich letzten Endes auf seine pedantische Unbestechlichkeit zu sehen und zu sagen zurückgeht. Man muß Briefe seiner Hand gesehen haben, um der so eigenartigen Schrulligkeit dieses Bankbeamten ein wenig auf die Schliche zu kommen. Er schreibt einem gewöhnlich auf ochsenblutfarbene Umschläge mit kallıgraphisch schülerhafter, zittrig morbider Schrift, in welcher die ganze Hinterhältigkeit des zart Poetischen, schleierhaft Frozzelnden dessen, was er einem mitteilt, aller Welt sichtbar vor

Augen steht. Das Verschlagene, spitzzüngig Humorige seiner Liebenswürdigkeit ist eine in ihrem Wesen schweizerische Rache für Lebensbehinderung aus der Versponnenheit des träumenden Hirtenjungen. «In Gottfried Keller ist ein beständiger Gebrauch der anmutigen Ironie, der (Hugo von Hofmannsthal) schließlich ungeduldig macht.» Diese eidgenössische Boshaftigkeit ist bei Walser von einem solchen Raffinement, daß sie an der Gefahr undichterischer Satire und in ihrem Ausdruck an der Geziertheit dicht vorbeistreift. Den Ungeduldigen wird sie vertreiben, bevor er zum Geheimnis seiner Innigkeit vorgestoßen ist. Den Grobschlächtigen bringt seine Kleinkrämerei, seine stelzige Umständlichkeit in Harnisch; er sieht mit keinem Auge das Ziel solcher Umschweife über die hundertste und tausendste Banalität, er fühlt sich genasführt, springt auf, und Walser kichert in seiner ganzen Lausbübigkeit hinterher. Um den Getreuen dafür seine letzten blauen Tiefen aufzutun, wenn der Stänker

weg ist. Er teilt mit den größten Dichtern diese eigentümliche neugierige Sachlichkeit seinem Stoff gegenüber. Er ist kein «Priester der Schönheit»; auch wenn er schwärmt («Dieser schöne, liebe, lange Sommer!»), tut er es immer in

seiner referierenden, herumträumenden Art; die poetischsten Schilderungen verschont er nicht vor seinen feststellenden, scheinbar nüchternen, aufsatzhaften (eines seiner Bücher heißt «Aufsätze») Attributen: «Hin und wieder kam eine Kirche, eine steife, glatte, neue, oder eine eindrucksvolle,

172

ruhig dastehende alte mit Efeu am zerbröckelnden Gemäuer. Joseph ging an einem Polizeigebäude vorüber...» Aber auch seine Ehrlichkeit ist nicht Vorsatz, sondern Notwendigkeit, kindhafte Offenheit für das Tiefste der Schönheit, die er mit episch-Iyrischer Geduld im Laufe seiner Wanderung beiläufig aufbaut. Die Trockenheiten, mit denen er, wo andere überwallen, seine Mitteilung immer wieder auf den Boden des tatsächlich Gesehenen hinabdrückt, machen die Schönheit erst vollends durch Wahrheit schön; ich kenne keinen Dichter (außer, in einem anderen Sinne, vielleicht Heming-

way), der den Adel des Alltags, den Schmelz der Gegenwart so ohne Blasphemie sichtbar zu machen verstünde. Dabei scheint es nicht seine Absicht zu sein, diese Poesie ist ihm so sehr selbstverständlich, daß er sie nur wie ein Land einmal

mit dem Blick überfliegt, auf seinem spintisierenden Gang zu den Dingen, die ihm am Herzen liegen. Dies sind, ich sage das allem anderen Anschein zum Trotz, Dinge der Handlung, die, in ihrem

gebräuchlichen

Verstande,

bei Walser

soviel wie gar nicht vorhanden ist, so daß mit gutem Grunde umgekehrt auch behauptet werden könnte, er schiebe ein Geripp solcher Handlung nur zu dem Zwecke vor, seine Blumengirlanden daran aufzuhängen. Er ist bestimmt ein Mensch,

der «nicht zu fassen, nicht bei seinem Worte zu

nehmen» ist. Wer ihm poetisch kommt, den ernüchtert er mit einem Säufergelächter; wer ihn sozial nehmen zu sollen glaubt, dem antwortet er aus seiner aristokratischen Seele heraus, während

doch niemand,

schon zu der Zeit, da es

nicht Mode war, wie er abgründige Feststellungen über das Bürgerliche zu machen die Art und das Leben hatte. Das alles, auch daß er, wie sein Joseph, wo er zu den Malträtie-

rungen des Kindes Silvi einfach schweigt, zuletzt die Dinge, auf die er lossteuerte, in einem eigentümlichen Desinteressement wieder auf sich beruhen läßt, das alles kommt davon

her, daß er in einem ganz ausnahmsweisen Maße Dichter ist. Irre ich in der Behauptung, daß in seinen Büchern, die doch des Eros über alle Zeilen voll sind, auch nicht ein Fall von

Liebesgenuß auftritt? Wie käme er in seinem sublimeren, kosmischen Liebesgenie dazu, das Begehrenswerte in der Weise tätlich anzufallen! Er ist wie ein Fluidum, ist Hölderlins «Vater Aether», der alles Geschaffene in seinen Poren

durchdringt; er ist wahrhaft allgegenwärtig, Orpheus, der 173

das Tote zum

Hades

Leben

bezwingt.

zurückruft, die Bestien bändigt, den

Er ist für mich ein ganz großer, reiner

Dichter, nicht weil er sänge, sondern weil sein Herz die Welt tatsächlich umfängt, weil er nicht an die Dinge heran-, weil er aus ihnen heraustritt, weil er die Erscheinungen in ihrer

Gegensätzlichkeit auf seiner Liebe trägt. Er ist von Reife süß und still. Man verfolge doch, wie er, durch das Mosaik seiner

sukzessiven Notierungen, eine Figur wie diese bürgerliche, holde, leise fragwürdige bis barbarische, rätselhaft nichtige Frau Tobler darstellt. Man merke auf den ereignislosen Gang seiner Handlung, etwa bei Gelegenheit des Tobierschen Ausfluges, wo alles sich anders als nach dem Schema der Literatur, wo alles sich nach der erfühlten Richtigkeit und Tatsächlichkeit des wirklichen Weltwesens anordnet: Wie Joseph herumträumt, seine Memoiren aufschreibt und abbricht («ich gehe lieber baden»), dann das Mittagessen mit Silvi und dem Küchenwütrich und das unvorhergesehene, psychologisch so einzig richtige Verhalten Josephs dabei («Das Kind, eifrig bemüht, dem Befehl der Tyrannin und Unterdrückerin nachzukommen, stellte sich zuweilen, wenn es etwas vom Tisch herunterzunehmen hatte, auf die Zehen

der kleinen Füße, erfaßte mit den beiden Händen je eine Schüssel, einen Teller oder ein paar Bestecke und trug so Stück für Stück demütig und sorgsam, und den Küchenwütrich stets anschauend, an den Platz hinaus, wo die Sachen gereinigt werden a Es tat dies so, ak trüge es in den Armchen und Händchen jedesmal eine kleine, dornige, feuchte Krone, die von den eigenen Augen schimmernd nass geweinte Kranz des frühen und unabänderlichen Kinderleides.» Joseph, wie gesagt, greift nicht ein, so wie jeder von uns es im Haß des Herzens zu schreiben sich die Lust bereitet hätte; im Leben pflegen wir ja doch gewöhnlich dann eben zu schweigen, in einer wunderlichen bedrückenden Ratlosigkeit; das Tragische davon geht mit in die Stimmung ein, samt der Herzensteilnahme, welche der Dichter durch keine

Korrektur sich abreagieren ließ; das ist das wahrhaft Aktivierende der Tendenzlosigkeit, die viel tiefere Wirkung des nicht bloß handgreiflichen Dichterischen, die Souveränität der Wahrheit! Auf allen Gebieten wohnen der zuchtvollen Beherrschung die größten Kräfte inne.) Wenn Joseph mit der Köchin allein in der Villa zurückbleibt, so liegt allerlei 174

Naheliegendes zu erzählen auf der Hand; ach, unser Poet ist nicht so dumm, es sich nicht auch einfallen zu lassen! «Er fürchtet, ich würde mit Pauline, seiner Dienstmagd, anban-

deln», läßt er Joseph beiläufig sagen; aber dieser Joseph hat weniger romanhaften Läuften seines Inneren Zu gehorchen, und es ist einfach erstaunlich, welche inneren Reichtümer

Walser dort mit «Erfindung» weiterhelfen, wo die Sache jeweils an ihrem epischen Ende angelangt zu sein scheint. Von der Beschreibung jenes Kinderleides wendet sich Walser, ohne deutlicher als durch diese Geste das Unerträgliche seiner Beklemmung auszudrücken, in einen Wald hinweg. «Joseph ging in den Wald hinauf. Der Weg dahin war sehr hübsch und sehr still», fährt er im nächsten Abschnitt

fort. Dieses launige Überspringen in eine ganz andere Stimmung ist ein Hauptmittel der inneren Bewegung in seinen Büchern. Es erinnert mich an Schuberts unbeschreibliche Modulationen. Übrigens nimmt er alles Verlassene zu seiner Zeit wieder auf, um es weiter, und immer in seiner originalen, pedantisch unbeirrbaren Art der noch tieferen Wahrheit entgegen, zu verändern. Diese Silvi wird wieder aufgenommen, nicht als ein Gegenstand der Sentimentalität; der Dichter bringt sie in Kontrast zu ihrem Schwesterchen, dem Liebling der Familie (wie strahlend weiß er dieses Geschöpf in wenigen Andeutungen zu zeichnen! «...denn aus allen Ecken

tönt und

flötet und

bittet es: Dorli,

liebes

Dorli!

heraus, daß man glaubt, es müsse eine schneeweiße Konditorei in unmittelbarer Nähe sein»). Silvi, die «Verschuggte», dagegen «ist dünn und doch plump. Sie scheint von Charakter, wenn man bei einem Kind von einem solchen sprechen darf, mißtrauisch, und in der Seele scheint sie falsch und verlogen zu sein.» Man sieht, er macht es sich nicht bequem. Er bleibt bei der Wahrheit der Animosität gegen das Kind, welche doch irgendwo herkommen muß. Welche Folgerungen des Verständnisses aber weiß er darüber hinaus wieder zu ziehen! «Silvi kann nicht bitten, sie ist zu schüchtern, zu verschlagen dazu, sie getraut sich nicht recht, es zu tun, aber

um bitten zu können, muß man ein unbändiges, kräftiges Vertrauen zu sich und zu andern haben. Wenn man den schönen Mut zu einer flehentlichen Bitte finden soll, muß eines zum voraus von der Erfüllung derselben fest, ja felsenfest überzeugt sein, aber Silvi ist von niemands Güte über175

zeugt, da man sie nur zu rasch und zu unvorsichtig an ganz anderes gewöhnt hat... Es ist überhaupt mit der Silvi ganz eigentümlich, es ist einem fast unmöglich, sie lieb zu haben, wenn man sie sieht. Die Augen beurteilen sie sogleich schlecht, nur das Herz, wenn man eines hat, sagt hinterher: Arme, kleine Silvil» Es gäbe ein Buch über dieses Buch zu schreiben, wollte man seine Schönheit einigermaßen erschöpfend belegen; aber das Wesentliche ist mit des Dichters eigenen Worten gesagt: «...nur das Herz, wenn man eines hat, sagt hinterher: Arme, kleine Silvil» Der Verismus, von dem ich sprach, ist kein materialistischer, kein blutnasses Seziermesser; er ist ein Wahrheitsfanatismus in den Gründen des Traumhaften. Mit somnambuler Geradlinigkeit und Sicherheit wird eine

Landschaft voller Atmosphäre gebaut; in ihrem Seelischen erkennen wir uns selbst, im Geographischen die Heimat: die Schweiz,

Kanton

Zürich,

Bärensweil,

ihre

flaumigsten

Heimlichkeiten, einen Spiegel unseres Kauzigen, Bärbeißigen, Verträumt-Lebendigen, Bombastischen. Nichts wäre nun aber verfehlter als die Vermutung, daß es sich bei Walser um einen unverbindlich daherplaudernden Lyriker handelte, der in Ermangelung von Einfällen oder der Gestaltungskraft sich an Hand seiner Malereien um einen eigentlichen Inhalt herumdrückte. Der Roman schildert den langsamen Verfall einer bürgerlichen Familie; die Art und Weise, ın der Walser diesen fortschreiten läßt, ist, wie beiläu-

fig gesagt, auch seine Kunst der Charakteristik, nicht anders als meisterhaft zu nennen. Dies zu belegen, wäre leicht, aber

infolge der Unerschöpflichkeit der Zeugnisse eine Aufgabe für sich. In gewissem Sinne ist dieser Träumer ein geradezu raffinierter Könner. Mit den sparsamsten Mitteln der Andeutung in Symbolen weiß er die Stimmung von Unheil ins Dämonische zu steigern. Und dabei: welche wohlbewußte Technik des Parallelismus, der Reprise, des Umgangs im Kreise oder, richtiger gesagt, in der Spirale! Wenn beispielsweise der Gehülfe am Schlusse, arm wie zuvor, mit eben dem

Vorgänger auszieht, der in einem früheren Abschnitt der Handlung seine antithetische Stellung in dem Geschehen bezogen hatte. Das Bangen des Lesers erfindet immer voraus, aber immer führt der Dichter seine Entwicklungen anders, und immer findet man: der Wahrscheinlichkeit ge176

mäßer.

Der Bankerotteur

Tobler erschießt sich nicht, im

Leben pflegt die Tragik in neunundneunzig von hundert Fällen ja auch nicht so wohltuend rational auszugehen; die Spannung geht über das Ende des Werkes hinaus, schwingt im Leser nach wie all das Geheimnis, alle die zarte Dynamik,

all das Unausgesprochene, all das Behutsame dieser wundervoll keuschen Dichtung. Es kommt nicht zum Exzeß des Gehülfen, die Liebe zu seiner Herrin bleibt in ihrer eigentümlichen Weise subaltern, in der Waage gehalten von eben der menschlichen Liebe zu dem Herrn: «... er liebte aus dem Grunde seines Herzens diesen Menschen», von dem er viel mehr als Demütigung nicht erfuhr. Er hatte nur seine Zigarren geraucht, seinen ewigen Kaffee getrunken, hatte mit dem Auge des Dichters in die Untergründe seines poltrigen Wesens geblickt und genug gesehen, um ihn in die Fülle seines liebenden Gefühls einzuschließen. Walser ist von Grund auf ein «Poverino», Vertrauter der Armen; um zu den Säufern und Zuchthäuslern zu gelangen, benötigt er keiner literarischen Jovialität; aber er ist darüber hinaus auch ein Dichter, dessen Gerechtigkeit vor dem «Bürger» nicht halt macht: den Besitzer dieser gartenspiegelnden Glaskugel, den Erfinder der Reklameuhr, den renommierenden Bonvivant und Konkursiten liebenswert zu gestalten, das gelingt nur den Zaubermächten eines begnadeten reinen Dichters. Die Schweiz weiß bis auf den Tag nicht, was sie an ihm hat. Es tut mir leid, die übliche Wohltemperiertheit mit den Superlativen meines Urteils ärgern zu müssen; doch ist Walser für meine Begriffe so über alle Beschreibung wunder-

voll, daß ich mit mehr Vernunft nicht von ihm zu sprechen vermag. Weil er kein (Euvre von sechzig Romanbänden aufgestellt hat, ist es ihm nicht verstattet, als repräsentativer schweizerischer Dichter zu gelten, und doch hat er in seinen paar Büchern mehr Dichtertum als einige Dutzend Preisträger zusammen, und was den Schweizer betrifft, so möchte ich wohl wissen, welcher von allen denn herzinniger bodenständig wäre als dieser Maler schweizerischer Landschaft, schweizerischer Kauzigkeit und Innerlichkeit. Man lese ihn nur endlich.

177

Othmar Schoeck

Meister unter den Zeitgenossen zu sehen, hat etwas von den Erhebungen des Märchens an sich. Sie bringen die Luft heroischer Vergangenheiten herüber; Olympier kommen mit ihnen in Reichweite, sie bewegen sich festtäglich, aber schlicht in den Räumen ihrer gemeinsamen unendlichen Wohnung, die über Hellas steht. Es ist etwas Seltsames um diese Geistesheimat, deren Geruch die Begnadeten mit jeder Handbewegung um sich verbreiten. Oder wären es nicht dieselben Gründe, die aus irgend einer Verlorenheit der Odyssee, in einer Wunderlichkeit

an römischem

Bildwerk,

über tausend Schubertschen Modulationen oder durchs Wassergrau der «Elegie» sich blaugolden, erschütternd fremdher und wiederum doch auch heimatlich auftun? Das Bedeutende erweist sich an dem Ewigkeitslicht, das eine Schöpfung hat oder nicht hat und das über alle Verwirrung der Begriffe hinweg dem Gefühl Gewißheit gibt. Dem Verstande ist die Welt schwer, das Herz bewältigt sie spielend. So ein Naseweis und Springinsfeld von Genie kommt daher, stößt alle Tafeln um und stellt sein Werk in die Welt. Und siehe da, es erscheint wieder wie vordem so einfach, so neu

und alt, so selbstverständlich und richtig. Die maßgebenden Revolutionäre sind geborene Aristokraten, weil sie die Erbreihe einer ebenso lückenlosen als unabsehbaren Ahnenschaft in sich bewahren und eine Weltgeschichte verkörpern, die neben den Erstarrungen des Ersichtlichgewordenen als . deren Urbild herlief. Aus diesem Reichtum tritt das Genie,

gewöhnlich sehr wider Willen und mit der Folge vieler Schmerzen, in Gegensatz zu seiner Umgebung. Seine Wahrheit, die es an den Uranfängen holt, steht im Anschein der Lüge; je inbrünstiger es sich ihrer Stimme verschreibt, desto ferner entschwebt es dem Glauben der Menschen. Nun aber gibt es Lieblinge der Götter, welche die Ausnahme verwirklichen und so anmutig durch unsere Mitte schreiten, daß wir uns ihnen auf Leben und Sterben ergeben. Das sind die Troubadours, denen sich die Tore öffnen, das sind die ewigen Jünglinge, welche die Jugend auf ihre Schultern hebt, die Prinzen, deren Einzug das Alter mit Rührung und Lächeln umsteht. Denn männiglich fühlt, sie sind bezeichnet, für sie gilt keine Theorie, auf sie passen Zweifel und Zwiste nicht 178

mehr, sie stehen außerhalb der Bemühungen der Fleißigen: sie, die Müßigen, Absichtslosen, die einzig Nimmermüden.

Von Hoch und Niedrig bejubelt zufolge der liebenswürdigen, einfachen Art ihrer Kunst waren Ludwig Richter, Mendelssohn,

Stifter, Hebel,

Schubert,

und

so ist es neuerdings

Schoeck, in unseren Tagen der Zersplitterung ein wahrer Trost an Kindlichkeit, Fülle der Gaben, Farbe, Kultur und

Beweglichkeit. Wo musiziert ein Zweiter aus den Tiefen aller Schönheit so neu und getreu, so bebend wahr und voll und so wohlgebaut im Kleinen und im Ganzen, daß unser kulturverdrossenes Herz wieder aufjauchzen lernt! Es gibt wieder Jünglinge, die zur Manifestation ihrer Verehrung toben, wenn der Meister sich zeigt, wie unlängst wieder bei den Aufführungen in Zürich und Winterthur; es gibt wieder Menschenmengen, die über strömendem Wohllaut die Skrupeln um den Fortschritt vergessen, sich darauf besinnend, daß es im Geistigen unseres Daseins nicht vorwärts, nur einwärts gehen kann, einwärts in die Unergründlichkeit der Seele, von deren Seite allein uns das Ewige berührt. Es gibt im Hinblick auf die Ornamentik und die grazile Beschwingtheit Parallelen zu Schoeck; aber bei keinem andern vibriert ein ebenso brennendes und bedeutendes Fluidum, dieselbe allgegenwärtige Nervenenergie, die sich heute lyrisch ausströmt, morgen dramatisch wuchtet, Dunkel und Lichter, Lust und Jammer gleich eigenartig belebt, Lust und Jammer dieses wiedergekommenen Romantikers und Malers und geniemäßigen Kindes mit dem Auge voll neuer Verschattungen, keiner bringt uns die Welt so in Herznähe. Was an ihm herkömmlich aussehen mag, unterscheidet sich von bloßer Kultur sehr wesentlich eben durch seine Richtung auf das Lebendige, das es wie ein noch hypothetisches Gestirn beeinflußt; aber während die Gewalten des Mystischen, wie sie das ja tun müssen, in den Hirnen Verwüstung anrichten, leiten sie den reinen Toren der Erwählung durchaus sanft und untrüglich. Es kommt nicht vor, daß Früchte irgend einer Art auf einmal ganz aus aller gewohnten Form herausfallen; selbst Erlöser gehen der Ungeduld nicht mit neuen Kronen und Thronen zuhilfe, sondern sind alle da, um die

Schrift zu erfüllen; sie erfüllen sie mit jener sonderbaren Strenge, weiche Grenzen auslöscht und die Wahrheit verdoppelt. Dieserart ist die vielleicht verdächtige Sinnenfälligkeit 179

Schoeckscher Lieder, deren Erfolg nicht der Erfolg vor der Masse, vielmehr der Sieg des Flammenden ist. Nicht umsonst schwang sich dieser dramatische Mann zu einer Geltung auf, die die Schweizer beglückt vermerken. In der Süße erster Melodien mottete die Glut, die eine «Venus» dann beinahe versengte und um Penthesilea hellicht auflodert. Man verkleinert diesen Musikanten, wenn man ihn nur für anmutig ausgibt; entscheidende Taten machten ihn längst zu mehr: zur Erfüllung kaum gewagter oder schon preisgegebener Hoffnungen, seien sie bloß patriotischer Farbe oder seien es die des allgemeineren Bedürfnisses, Genie zu erblicken.

Gottfried Kellers Stellung zur Heimatkunst Darüber hat A. Attenhofer in einer Broschüre seine Untersuchungen angestellt. Er verstand eine Menge Kellerscher Aussprüche zum Thema zusammenzutragen; so ergab sich eine Arbeit, die schon um ihrer Zitate willen lesenswert ist:

Man erstaunt auch bei dieser Gelegenheit über den wunderbaren Geist, der, wie Goethe, alles bedacht und mit einem unumstößlichen goldenen Worte formuliert hat. Es ist nicht anders zu erwarten, als daß ein so unbestechlicher Mann wie

Keller, ungeachtet er seinerzeit den Tribut des Festhüttenglaubens auch entrichtet hat, in dem kleinlichen Treiben um eine national abgestempelte Literatur nicht mitmachte - eine Mahnung zur Vorsicht für alle jene, die den Dichter von «OÖ mein Heimatland» (welches Lied er selber übrigens nicht liebte) leichtfertig für jederlei Helvetismus anrufen. Der Arger darüber, daß ihm schon zu seinen Lebzeiten das Wort im Munde verdreht wurde, murrt aus den klugen Verteidigungen, in denen er den Schein vor der Wahrheit, das Nichtswürdige vor dem Großen zurücksetzt. Er spottet der Auffassung, «als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe»; er sagt: «Bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er angehört.» Sonst drohe die Gefahr, «ein schweizerisches Buch zu den Berner Oberländer Holzschnitzereien, Rigistöcken und Gemshörnern usw. zu zählen». Auch heute ist der Ehrgeiz aufs schweizerisch Allzu180

schweizerische ein Eifer der Kleinsten, jener Lesezirkelversorger und Stallgeruchspropheten, auf deren Vereinsblättchen das Gärtchen aus Edelweiß, Schweizerkreuz und Alphornbläsern mit der Fröhlichkeit des Unkrauts floriert. Man könnte sich fragen, ob der Kampf dagegen sich besser lohne als der gegen irgend eine andere Naivität in der Welt; den großen Patrioten und noch größeren Dichter jedenfalls verdrossen diese Mistfliegen ihrer klebrigen Zutraulichkeit wegen gleichsehr wie das Heer der Schreiber, das schon damals seinen widerlichen Fleiß in unserem Lande entwickelte, in diesem

Lande,

das nur

dem

Ernsthaften,

nicht aber der

Unfallversicherungsliteratur ein Holzboden ist.

«Geist des Werdens»

Zu einer Zeit, da die Zurückhaltung seiner dichterischen Muse ihn heimlich vielleicht etwas ängstigte, sagte mir Konrad Bänninger einmal: «Eines habe ich jedenfalls gelernt: zu denken.» Die Tiefe und Eigenart dieser Fähigkeit ersieht man aus den Beiträgen ım «Flugblatt» und noch schöner aus dem eben erscheinenden Essaybuch «Geist des Werdens» (Rascher & Co., Zürich). Dieses Buch sammelt «Umrisse, Aufzeichnungen» zu einer «Welt- und Denklehre». Diese Philosophie eines Dichters ermangelt der Stetigkeit des Systems; seine Richtigkeit ist visionärer

Art, in den äußersten

Formulierungen

riskiert,

aber nachtwandlerisch unfehlbar, darf man wohl sagen. Seine intuitive Ratio bewegt sich weniger in der Linie als im Raum, man blickt in eine dreidimensionale Gedanklichkeit mit vielen scheinbar zufälligen Triangulationspunkten, an denen man das Unsichtbare «alles übrigen» aufgehangen weiß. Bänninger ist, auch als Dichter, auch als Mensch, der

Typus einer hintergründigen Erscheinung. Wie sein Fridericus-Auge, blitzt auch sein Wort von Geheimnis, immanentem Symbol. Seine weiträumige Bedeutung bezieht es von umfassender Schau. Wer die Welt besitzt, äußert nichts über

sie, ohne in nuce alles von ihr zu sagen. Ihre Geringfügigkeiten liefern dabei gerade die verbindlichsten Beweise. Man kann auch in Bänningers Lyrik eine eigenartige Zweipolarität des Simplen und des Artificiellen beobachten. («Weiße 181

Hühnchen», «Dies irae»). Hier lese man etwa die Betrachtungen über einen so harmlosen Begriff wie «Horizontal» nach. Am Kleinsten ist das Größte, am Substanziellsten das

Transzendentalste

abzulesen

für den, der Augen

hat zu

sehen. Es ist daher kein Zufall, daß das Buch einen Aufsatz

über Angelus Silesius enthält. «Gott hat nicht Unterscheid, es ist ihm alles ein: Er machet sich soviel der Flieg als dir gemein.» Aus dem «Tagebuch» spricht der schmerzliche Kampf eines verantwortlichen Intellekts. Uber «Eichendorfis Tagebücher» schreibt Bänninger eine eindringlich nachwirkende Rezension, deren Funkeln nicht allein vom Gold ihrer Zitate,

sondern auch von deren Verknüpfung und Kommentierung herrührt. Die späteren Arbeiten des Buches scheinen mir ruhiger konzipiert, vielleicht weniger spekulativ, aber von noch männlicherer Weisheit zu sein. Etwa «Eine Oxforder Rede über Dichtung». Da stehen Zeugnisse eines wundervoll gerechten Optimismus. «Jedes Geschlecht leistet, was es kann, und darf nicht neidisch, schwächlich

nach anderen

Zeiten schielen. Und müßte die Dichtung untergehen — nun, so würde die drängende Kraft ein anderes Instrument schaffen, um sich den Weg zu bahnen.» — «Solche Dinge kommen und gehen zu ihrer Zeit.» Alles in allem dünkt

es mich, als unterscheide

sich die

Philosophie dieses Buches von vieler anderer dadurch, daß sie über dem Disput, in den Regionen dichterischer Gültigkeit steht, das Produkt nicht der Meditation, vielmehr einer menschlichen Existenz ist. Eremitische Mühsal, Fleiß und Leiden und eine unbestechliche Intelligenz stehen dahinter, weshalb die Fragmente es wohl verdienen, mit einiger Auszeichnung in das schweizerische Schrifttum einzugehen.

Cäsar von Arx: «Der Verrat von Novara»

Seit jenem Samstag steigt es mir von Zeit zu Zeit aus dem Unterbewußtsein empor: Was hab’ ich denn Schönes erlebt? — Ja: Von Arx! Alle fünfzig Jahre einmal ist es mir vergönnt, mich im Theater ganz zu vergessen; diese fünfzig Jahre waren an dem Samstag wieder einmal herum. Ich hatte «Opernball 13» 182

seinerzeit nicht eben goutiert, der Titel «Verrat von Novara» erinnerte mich verdrießlich an die allzu vielen historischen Dramen der Schweizer. Schon wieder Novara? sagte ich mir. Eine siebenzigmal siebenmal ausgequetschte Zitrone? — Dann aber fing das so wunderfein an mit den bethlehemitischen Engeln und ging den ganzen meisterhaften ersten Akt ununterbrochen weiter in zarter und wilder Anspannung des Herzens — ohne Bruch, in weiser Verteilung-von Heftigkeit und

Stille, Trauer

und

Humor,

Wort

und

Farbe

- eine

unglaublich vollkommene Sache. Schade, daß es nun nicht fertig ist, seufzte ich. Die berüchtigte Fortsetzung mit ihrem Abfall wird kommen. Eine Weile sah es auch danach aus. Solange als sie da mit ihren Blechschwertern herumbramarbasierten. Dann erschien wieder der wunderbar unbewegliche Gretler mit seinen herabhängenden Fleischhänden und dem eingezogenen Finger daran. Das herznahe Menschliche, Immergültige nahm seinen Fortgang. Novara dient nur als Vorwand dazu. Gretler könnte auch im Gotthardzug angereist sein. Was für eine sonderbare Art Tragik verkörpert er! Er ist stumpf — lebendig — schlecht — gut, Pflanze ihres Grundes, die, entwurzelt, umkommen muß. Eher Morchel denn Lilie, gewiß; man wird es seiner armen Amei verzeihen,

eine Sache mit der Perle des bloß «menschlichen Wertes». Diese Amei zischt als eine glühende Kohle auf den Brettern herum, heftig aus schlechtem Gewissen, schlechten Gewis-

sens aus Unglück, unglücklich aus Begierde. Es werden da wiederholt die Finger verbrannt; es wird, unter einem un-

heimlichen, bedeutungsvollen und dann doch scheinbar im Leeren verlaufenden Schweigen, abgewartet. Das Dämonische, das in dem Stücke lebt, erscheint - so wie alles Unter-

gründige darin irgendwo im Wort und in der Situation sichtbar wird - in der Gestalt der schauerlichen Fastnachtbutzen. Schauerlich glotzt das Groteske dieser Masken in die Tragödie des Verräters. In der Demokratie hat sein Innerlichstes die Zeugenschaft der Öffentlichkeit auszuhalten. Der Hof, der Hof — das wird zu einer steckgrindigen, herzbebenden Sache («Du mit deiner Ehr! Und du mit deinem Hofl») Das ist die Unbeweglichkeit des Schweizers auch heute noch, dies Sichversteifen auf seine eingeborene Idee. Gretler ist freilich großes Format an sich; was aber seiner Figur das Vertraute und besonders Richtige gab, das kam ıhm aus dem

183

Landsmannsblut. Nie ist das deutlicher geworden als hier. Ich wäre der letzte, mir daran zu genügen, wäre dies Theater nur eben schweizerisch, aber auch von der schweizerischen

Unbeholfenheit:

Der Künstler hat nun einmal zu können.

Und was kann dieser von Arx! Er kann drei saubere, blanke Akte, gefüllt mit Substanz, Bewegung, Farbe, Stimmung innerer und äußerer Art, drei anwachsende Akte, denen man

wie auf den Fleck gebannt in der klärenden Wollust der Ergriffenheit gegenübersitzt. Ich schere mich den Kuckuck um theoretische Aussetzungen, die, so wie überall, auch hier

anzubringen wären: mir strömte das Herz, nach anderem frage ich im Theater nicht. Ich weidete überdies mein Auge und neigte das Ohr einem Wort von prachtvoller Knappheit. («Es hat noch nie eine Kuh mit den Augen gesoffen.») Der dritte Akt parodiert den ersten auf eine unerhört suggestive Weise durch Wiederholung des Bildes, des Wortes und der Handlung mit symbolischen Verschiebungen; neben der Lust des Refrains,

der Wehmut

des Volksliedes

ist es ein

schicksalhafter Traumtiefsinn, der sich daraus ergibt: das alles war haargenau schon einmal da! Das Unheil geht durch eine zwielichtige Schwebe der Umstände seinem Gesetz entgegen. Jede Kunstform ist Stilisierung; ich nenne solchen Einfall ausgesprochen dichterisch. Zugegeben, es kommen Augenblicke von zweifellos theatralischer Aufmachung, Mittel des primitiv Rührenden werden nicht verschmäht: Mögen jene es dem Dramatiker ankreiden, die, fänden sie das nicht

vor, es in der gleichen Gesinnung auf das berühmte Konto der schweizerischen Unzulänglichkeit im Theaterfach setzten — das Prinzip ist übrigens durchbrochen: das Bühnenstück ausländischer Herkunft wollte ich sehen, mit dem «Der Verrat von Novara» (ich wünschte der Dichtung einen Titel, der ihrer immergültigen Menschlichkeit besser entspräche) an Festigkeit des Baues, an Bewegtheit, Farbigkeit, innerer Wahrheit und an Gewalt der Wirkung (auf Kenner und Laien!) es nicht aufnehmen könnte. Die Schweiz hat ihr Drama.

184

Be a

«Stufen zum Licht». Gedichte von Walter Hauser.

Der Dichter des kleinen Buches ist katholischer Geistlicher, und er sagt es uns mit aller Unmißverständlichkeit, daß

unserer Liebe von seinem Munde «kein Gegengruß, kein leiser Widerhall» danken kann. Aber die Vertiefung, die er diesem Worte gibt, ist so überzeugend, daß es nicht verletzt. Und da er die Lieder immerhin druckt, wird.er den literari-

schen Gegengruß eines Weltkindes wohl genehmigen müssen. Ihre Reinheit enthebt diese Verse dem ideellen Disput. Verhielte es sich anders, so hätte ich, der ich nicht katholisch

bin, mich nicht darüber zu äußern. So aber gestehe ich, daß ich lesend mich vor dem Persönlichsten dieses Mönchs in Scheu zurückhielt und von dem rein Dichterischen wahrlich auf meine Rechnung kam. Was für eine Höhenklarheit nimmt uns da auf, welche Glut unstofflicher Inbrunst strahlt

uns an; keinen Augenblick nımmt man diese Gläubigkeit literarisch, sie unterscheidet sich gewiß in nichts von der eines Angelus Silesius, und ich möchte wohl wissen, warum

wir ihr weniger als einer mittelalterlichen Ergriffenheit zutrauen sollten. Natürlich denkt man, des Gegenstandes, nicht der Diktion wegen, an das Stundenbuch

Rilkes, aber

eher noch zugunsten des Novizen, nicht einmal bloß in Anrechnung seiner professionellen Zuständigkeit, sondern um der größern Einfachheit willen: Da ist, abgesehen von der Selbstverständlichkeit einer mühelos edlen Sprache, nichts Virtuoses, Vers-Akrobatisches, nicht annähernd dieselbe Bildweisheit freilich, nicht alle die Tiefen — aber die

eine Tiefe ist spürbar und, weil so vielleicht noch unmittelbarer da: die an neuerer religiöser Lyrik nur noch die mir so über allen konfessionellen

ganz unverschnörkelt, Tiefe Gott. Ich kenne Gertrud von Le Fort, Disput hinaus unanwie die Lieder des neuen Schweizers

fechtbar erscheint, Walter Hauser. Sie sind «ärmer», stiller, monologischer als die «Hymnen an die Kirche», von der heimlichen Überle-

genheit des ganz Einfachen. Die Klarheit des Bergabends wird in diesen Versen geradezu riechbar. Das irgendwo von Händen oder Lilien Ausstrahlende nimmt magische Bläue an wie das Elmsfeuer in den Anbetungen der alten Meister. Man spürt das Verbindliche hier wieder einmal als eine Kraft. 185

Ite missa est.

Geht hin! Laßt mich allein im zarten Licht

des Blutes, das geheimnisvoll geflossen. Der letzte Himmel schimmert aufgeschlossen und fließt mir ein in strömendem Gesicht. Und allem, was ich blutete und litt, ruft eine Stimme aus dem Leuchten: Amen!

Ich juble schweigend. Himmel ohne Namen und ohne Zahl frohlocken lautlos mit.

Es stimmt ein wenig wehmütig: wir sehen nur immer den Rücken dieses Priesters; seine Hinwendung zu Gott («O ich will endlos, maßlos mehr als ihr!») hat ihn, das spürt man leise erschrocken, der Welt entrückt, und wir erweisen ihm Ehre wie einem unaufhaltbar Dahinentschwindenden, nicht

wissend, ob es ihm irgend etwas sagen kann, daß wir seine reinen Talente rühmen. «Und ihre Sehnsucht wird verwehen

wie ein Duft, von dem niemand weiß.»

Tanzabend Jo Mihaly Ich habe etwas so Dichterisches von Tanz bis dahin noch nie gesehen. Dichterisch auch im Sinne von dicht: diese Tänze dauern alle vielleicht eine Minute oder zwei; aber das Motiv

ist so genial und der Ausdruck so strahlend, daß etwas darüber hinaus nicht zu sagen bleibt. Und als ehrliche Künstlerin läßt es Jo Mihaly dabei bewenden; sie geht, ohne — was leicht und üblich wäre — das Thema tänzerisch zu zerdehnen. Ihre Kraft der Konzentration allein beweist eine ganz große Künstlerschaft. Sie ist aber auch eine Dichterin. Man lese solche Titel: «Indianische Baumwollpflückerin», «Blume im Hinterhof», «Fische fürs Volk!», «Der Knecht, als er einen Acker bekam...» Alles ist überaus einfach, die Szene, die Gewänder, die Musik, die Motive. Und da baut denn diese Frau mit Hilfe ihrer Gliedmaßen und des erstaun-

186

ee K a a

lich verwandelbaren Gesichtes so etwas in der Stille auf, das

ist wie ein ebenmäßiges Gedicht. Sie macht mit den Händen so und so und so und stellt tatsächlich ein blondflaumiges Kindchen vor uns hin und führt es im blumengetüpfelten Vorhangwagen, leitet es an der Hand, und schon sehr bald wächst es mächtig an, es entwächst ihr; die Mutter geht wieder auf die Stelle ihres Ausgangs zurück, dorthin, wo sie mit zwei oder drei erstaunlich ausdrucksvollen Bewegungen geboren hat; die Arme knicken ihr wie zwei Flügel ab, wie ein Winterbaum steht sie vor dem Grau des Himmels, sinkt

wieder in sich zusammen, über die zwei schönen heiligen Hände, die leer sind. «Mütter», heißt das und nimmt aufder Bühne vielleicht zwei Minuten in Anspruch; aber alles was an Tiefsinn, Glück und Tragik im Muttertum ist, kniet sichtbar vor uns. Oder der Knecht Iwan bekommt einen Acker. Es wird da in der Tat mit ein paar verzückten Schritten

ein Acker

heraufbeschworen,

man

riecht

seine

braune Erde, die vorjährigen Stoppeln wackeln noch im Winde darauf; Iwan fängt jetzt zu pflügen an, er pflügt mit dem Stolz eines Königs und der Sorgfalt eines Somnambulen, und wie er sät, wird sein Gesicht ganz weiß vor Heiligkeit. Er segnet das Werk, er sieht es gedeihen, ergreift die Sense, und die Art, wie er flüchtig über seine Schulter

zurückblickt (es ist da, es gibt aus!), jagt einem Tränen in die Augen. Dann das Schönste: «Fische fürs Volk!» Ehe man sich’s versieht, hat sie Taue und Segel, Netze und Körbe,

Wasser und Himmel vor unseren Augen aufgebaut, die Kutter knarren in ihren Flanken, die Eisenringe und Ketten klirren, in öliger Lake tanzt eine Büchse. Jan hat es eilig mit Sortieren und Tranchieren, denn sein Volk entbehrt; aber er macht sich doch scherzhaft noch ein wenig mit seinen Schätzen kostbar, hängt sie an den Schwanzflossen vor uns auf,

lange und kürzere, violette und silbrige; schließlich hat er sie in Körbe auseinandergelegt — scheffelförmige Körbe nimmt er zwischen seine Beine und wirft und spendet, Zehntausende sind zu speisen, alles reckt seine Hände, jubelt und kreischt; er wirft noch einmal und noch weiter, zuletzt ein Prachtsexemplar für die Allerhintersten, Schüchternsten,

seine Lieblinge, nimmt seinen Korb und geht ab, jeder Zoll ein beglückter Spender. Es ist überhaupt etwas Ausstrahlendes, Radiumflaumiges im Wesen dieser Jo Mihaly; es steht 187

noch lange überall mit Blumen,

Käfern, Sternen, Weizen-

stroh herum — Spuren der Dichterin. Es gibt Anklänge in ihrer Kunst, aber nicht solche epigonaler Art; was einem darin bekannt vorkommt, stammt aus

der Urverwandtschaft alles Großen: der Bergprediger geht da herum, Käthe Kollwitz fällt einem dann und wann ein,

Tolstoi trägt seinen Prophetenbart über Geheimnis des Films spukt schon auf: recken der «Blume im Hinterhof» ist zung gezeigt — Kunst ist nichts anderes Wesentlichen, Dichtung.

Feld, aber auch das das mühselige Sichin Zeitlupenverkürals Verdichtung im

Saubere, intelligente, beseelte Arbeit war das, und ich kann nicht anders, als laut dafür zu zeugen, um so mehr als es nur eine kleine, wenn auch begeisterte Gemeinde war, die,

erstaunt genug, des stillen Ereignisses teilhaftig wurde. In jeder anderen Zeit hätte ein solches Talent sich sieghaft Bahn gebrochen, aber heute stehen Henker am Tor unsrer Tempel, und ein begnadeter Mensch wie Jo Mihaly steht einstweilen

als Blume im Hinterhof.

Walter Roshardt

Wir finden einen noch jung aussehenden, etwas vornüberhängenden Menschen mit warm träumenden Augen, in denen sehr oft während der Rede der Schalk hervorblitzt. Wir wünschen Zeichnungen zur Reproduktion von ihm, allein es zeigt sich, daß er davon keineswegs begeistert ist und eine ganze Weile überhaupt vergeblich nachgrübelt, wo solche Werke von ihm möchten aufzutreiben sein. Er pflegt sie nicht zu verkaufen,

sie entstehen

ihm

unter

den Händen,

und

wenn sie fertig sind, schenkt er sie weg, jemandem, den er liebt, und weil er damit nicht sparsam zu sein scheint, weiß er dann nicht mehr so genau, wo die Dinge hingekommen sind. Er ist der Ansicht, daß ohnehin allzuviel gedruckt wird. Derweil gibt er uns unaufgefordert eine Menge kostenlosen Ratschlag, Typographisches betreffend, der verliebte Fachmann spricht von seiner Materie, seinem Material. Er schleppt französische Druckschriften heran; aber seine Belehrung ist nicht hochfahrend, er kritisiert eben wie einer, der selber etwas kann, aufmunternd,

188

mit allem möglichen

e A

Verständnis für die Tücke der Umstände. Seine Intelligenz ist umfassend, am gescheitesten ist sein Humor. Keinesfalls will er etwas über sich geschrieben wissen. Daher kommt es denn

auch, daß wir nur seine menschliche

Person, nicht

seine Kunst, hier etwas umspielen dürfen. Daß wir Zeichnungen schließlich erhalten, verdanken wir offenbar nur meiner schüchternen Unnachgiebigkeit. Ich tue ihm leid, er bringt es nicht über sich, bei seinen Grundsätzen zu bleiben;

eine seiner Angaben jagt mich nach Wollishofen, eine andere an den Zürichberg hinauf. Er sinnt lange, es ist mit dem besten Willen nichts mehr zu finden; erst den nächsten Tag,

wie ich ihn noch einmal in seiner Wohnung aufsuche, wüßte er mir noch eine Adresse, wenn

sie ıhm nicht inzwischen

wieder entfallen wäre. Ich glaube, die Jagd ist auch für ıhn nachgerade spannend geworden. Wir sind zwei, die zusammen Räuber und Detek spielen. Da lebt noch ein Advokat an der Bahnhofstraße, auch die Stadt Zürich besitzt ein Blatt,

und ein Nervenarzt fällt ihm ein, auf dem Treppenabsatz. Wie ich alles beisammen habe, am Abend dieser wunderli-

chen Haussuchungen, blüht meine Umgebung von Schönheit. Die Originale sind von einer unvorstellbaren Zartheit und Meisterschaft des rein Handwerklichen. Sie leuchten wie Radium.

Max Herrmann-Neiße:

In diesem

schmalen

Bande

«Um uns die Fremde»

lesend, wundert

man

sich zu-

nächst über die große Einfachheit, ja Einfalt der Verse eines Mannes aus den großen Tagen der Berliner Intellektuellenliteratur. Ihre Eigenart besteht sozusagen darin, daß sie keine Eigenart haben. Sie sind so prätentionslos, so geradeheraus, daß sie uns ordentlich altväterisch anmuten. Sie scheinen mühelos geworden — worüber man sich bekanntlich sehr täuschen kann —, sie gehen von Ding zu Ding mit ausgestreckten Händen, zu den nächstliegenden Dingen: See, Möven, schwimmenden Hündchen, Frühkonzert, Geburtstag, 1933, London;

wer

es anfangs vielleicht ein bißchen

alltäglich in Vorwurf und Gestaltung fand, wird hineingenommen in die Strömung des sonderbar Substantiellen dieser ganzen Beichte. Die Macht des klagenden Herzens ist 189

unwiderstehlich, die Heimatlosigkeit so empfunden, daß für Ehrgeiz kein Raum mehr bleibt; aus diesem Grunde ergaben sich Gedichte von unbedingter Wahrhaftigkeit, unmittelbarer Wirkung, die Stimmung daraus wird um so nachhaltiger, als sie ganz unaufdringlich ist. Das gilt fürs Landschaftliche ebenso wie für das Seelische. Dieser Vaterlandslose hat sich in Zürich fühlbar entschädigt gefunden; sein Heiteres und Weltoffenes, sein Sonnabendliches und Pfingstliches entsprachen der eigenen Verträumtheit, und die Wehmut, aus der er dichtet, erscheint um so rührender, als dieses Zürich ihn

doch zuletzt nicht annahm. Unglückliche Liebe zürnt nie; den Heimatlosen scheint überhaupt die Bösartigkeit der Welt mehr zu verwirren als zu empören. Sie treibt ihn vollends ins Private, in die Zuflucht des eigenen Herzens. Der Lebenskamerad wird zum letzten, schwermütig umbangten Hort. «Wenn du mir fehlst, fehlt mir ein ganzes Leben.» So sehe ich Herrmann-Neiße, einen vermutlich ganz unpolitischen Menschen, als den irrenden Ahasver dieser Zeit; er hofft bis zum Unmöglichen auf Erlösung, rafft sich auch wohl einmal auf, die Dinge in ihr Positives umzudenken; allein er ist ja vor allem ein Mensch, kein Held noch Prophet, von der Gattung,

die in Europa entbehrlich geworden ist, der «Mann im ärmlichen Gewand», der scheu die Vögel auf seinem Finger

füttert: Sehr ungelenk begann er sich zu fassen, er lächelte verlegen und entschwand, und Jah von jedem guten Geist verlassen lag unbeseelt und arm und leer das Land.

Anmerkung der Redaktion zu: «Der arme Mann im Toggenburg» Mir persönlich scheint das Problem doch bei der Pietätsfrage zu liegen. Hay war es darum zu tun, ein Stück gegen Ausbeutung und Krieg zu schreiben; zur Plünderung des Dialogs berechtigt (?) er sich damit, daß er sein Drama unumwunden als eine Bearbeitung «nach den «Memoiren» des Uli Bräker» bezeichnet. Diese Memoiren sind für meinen Geschmack so ziemlich das herrlichste existierende Schwei190

zerbuch, wenigstens ist kein anderes mir so unmittelbar zu Herzen gegangen; das Kapitel «Aennchen» muß den schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur zugezählt werden, und ich bewundere den Optimismus eines Schriftstellers, der es sich zutraut, ob in dramatischer, Iyrischer oder irgendeiner Form, mit einem derartigen Naturstück in Wettbewerb zu treten. Wenn es ein Nachfahr tut, so kann es doch wohl nur mit der Absicht einer Verbesserung der Wirkung geschehen, das ist das unaussprechlich Beleidigende der vorliegenden Dramatisierung. Mich kränkt der Unglaube dieser Theaterleute, die meinen, dem Worte des Epikers helfend unter die Arme greifen zu müssen. Was ist schon die tendenzielle Macht des Kunstwerkes! Ich bin nachgerade versucht, dafür zu halten, daß es überhaupt nur den Weg über die Veränderung aus dem schlechthin Emotionellen gibt: wenn alle die Kriegsbücher der vergangenen zehn Jahre sich irgendwie an der Menschheit ausgewirkt haben, dann sicherlich durch andere als die Kräfte belehrender Anschauung. Man kann etwa an Jünglingen den Eindruck von Kriegsschilderungen feststellen; wer ehrlich ist, wird seine blauen Wunder erleben und nahezu so weit kommen, die Kunst überhaupt als eine Verführerin und Verfälscherin zu verfluchen: ein so unromantischer Chronist wie Renn ist für die Nachkriegsjugend in seinem Zauber der Art Karl Mays bedenklich nahegekommen: Mein Gott, die Dinge entfernen sich in die Verklärung, in die Unwahrscheinlichkeit, wie man will, dafür steht die ganze Weltlage zu Beweis, Völker des Krieges sind auf neues Gemetzel durchaus, wenn auch unfreudig, wieder eingerichtet. Es braucht wenig psychologische Einsicht, um eine Unlust zur Bußfertigkeit in den Nationen zu bemerken, sie sind sich bewußt, versagt zu haben und wollen es nicht weiter um ihre Ohren bekommen: Daß der Krieg dumm und grauenhaft ist, wissen Erwachsene ebenso, wie daß nicht gegen ihn aufzukommen ist in dieser Welt der Verhängnisse. Es gibt eine Grenze der Aufnahmefähigkeit für Serum. Glaubt im Ernste noch ein Prophet, daß

er der Menschheit in letzter Stunde das Gruseln vor dem Untergang beizubringen habe? Was getan werden konnte, ist getan; der Rest von Unvermögen bleibt tragisches Gesetz, und der Übereifer wirkt davor nur noch spielerisch oder frivol. 191

Man wird mir antworten, daß aber für die Aufdeckung der Ursache, der soziologischen Unvernunft nämlich, noch lange

nicht getan wurde, was getan werden konnte. Darauf hätte ich zu erwidern, daß der Dichter, um uns zu ergreifen, dann entweder eine ebenbürtige Fabel zu erfinden oder aber die

vorliegende mit zündenden Worten neuzuschaffen imstande sein müßte. Die mehr oder weniger geschickte Weise, den Dialog des Vorbildes über die Handlung zu verteilen, ıst denn doch zu lendenlahm,

um

uns den Mißbrauch

eines

unüberbietbaren Urbildes vergessen zu machen.

Gertrud Bürgi: «Liebes Davos!» Die Gedichte der Gertrud Bürgi kommen mir vor wie jene Rodinschen Gesichte, im Marmor schleierhaft abgeformt; nichts daran ist heftig, nichts hart, nichts eigentlich gegenwärtig, alles in der Tiefe des Traumes wie gefangen, leise leidend, und ebenso voll rauchhaften Zusammenhansgs, Iyrischen Schwebens - eine völlig reine, inbrünstige Welt. Kein Ehrgeiz lockt die Dichterin aus ihrer Stille heraus; sie wagt es, die allereinfachsten Sätze vor sich hinzusagen, scheinbar

altgewohnte Dinge von Wolken, Schnee, Enzian, von der Geisterhaftigkeit des Tages, anklingender alter Liebe. Nichts Außerordentliches an Gestaltung wird versucht, kein Tiefsinn ergrübelt; ein resigniertes, zärtliches Herz hängt seiner Klage, seinen Glücksinnigkeiten nach, umspinnt uns mit seiner Melodie. Diese Verse könnten gewiß auch anderswo spielen, allein der Titel, der sie mit umfassender Gebärde

hütet, gehört zu ihnen nicht flüchtig über die «Liebes Davos!» — der und weher Hinneigung

wie ein Rahmen zum Bild; man lese zwei zart verhaltenen Worte hinweg: reine Raum von Schnee und Bläue ist schon in ihnen, das Gefühl eines

Menschenlebens, ein hinschwindender Hauch! Schnee: Liebes Gewehe Ob Dächern und Baum,

So leise ich gehe, Ich stör deinen Traum, So leicht ich mein Herz Über dich hebe,

292

Ist es dennoch wie Erz Neben der Schwebe

Von dir. Taubenflügel Nur fliegen so Um einen Hügel, Frühlingsfroh, Oder Liebesgedanken In zarter Scheu Und Efeu Bebende Efeuranken...

«Der Krug». Gedichte von Gertrud Bürgi Gertrud Bürgi hat vielleicht nicht alle sieben Saiten aufihrer Lyra, oder sie liebt ein paar von ihnen so sehr, daß sie es vorzieht,

sie allein

und

dafür

mit vollkommener

Beherr-

schung zu spielen. Sie ist eine sylphische Erscheinung von zartester Sensibilität auf Leid wie Lust. Ihr liegt nicht der wuchtige, wohl aber der genaue Kontur, das Malen in feinsten Tönen; ihre Welt ist frühlinghaft rein, Freudigkeit von Seidelbast haucht hinein, das Kindliche in diesem Gemüt gibt sich der Neugier zum Schönen hin, plötzlichen, fast grundlosen Entzückungen: «Heute, dünkt mich, trägt der Tag knisternd blaue Seide.» Die Augen lesen einfach ab: Liebeslächeln des Himmels. In seinem Untergrund freilich dämmert das Blau nach Schwärze hinüber: die Kindlichkeit ist eine wiedererlangte Kindlichkeit, in der Wehmut zuckt es von alten Schmerzen. Den bewußten Geist, der formend in

diesen Sprachbildern waltet, rührt einmal das Gespensterhafte des menschlichen Seins an: «Steht die Zeit jetzt still?» Es ist aber die Unruhe einer Frau, der leise Unwille auf das

Störende in Geborgenheiten. «Leuchtend» scheint mir den Gesamteindruck dieser Verswelt wiederzugeben; sie ist in ihrem Innerlichen und Äußern zart gestuft. Aquarell mit wohlangebrachten farbigen Sparsamkeiten, verschwingenden Gefühlstönen, vollkommen einfach im Ausdruck, vollkommen

wahr,

Frauenlyrik

der besten Art, daher warm,

innerlich, unmittelbar ansprechend,

weshalb es denn gar

nicht verwundert, daß ein halbes Tausend dieses vorbildlich

193

ausgestatteten Büchleins in ein paar Wochen weg ging. Wir freuen uns dieser Erscheinung. («Der Krug» ist bei der Vereinigung Oltner Bücherfreunde erschienen.) Mutter

Sei still, man spricht den Namen Mutter aus. Das ist, als finde ein Verlorener nach Haus.

Als ging von einem Licht ein Leuchten durch den Tag. Als horche einer auf, der kaum mehr leben mag. Als glitten Hände zärtlich durch dein Haar. Als hebe eine Stimme, einfach, klar

Sich über eine Welt von Torheit, Lüge Und lege irgendwie ein hold Gefüge Von großer Liebe, heiligem Wissen ein.

Schweizer Bücherfreunde

Der Verein «Schweizer Bücherfreunde» versendet sein zweites Nachrichtenblatt. Danach is: Walter Muschg zum literarischen Leiter des Unternehmens gewonnen worden. Er gehört zu den leidenschaftlichen Geistern des schweizerischen Literaturlebens, die, jung und tatenfroh, sich der allgemeinen Apathie nicht ergeben, vielmehr, unter dem Schutt, auflüpfisch rumoren, möglicherweise weil sie sich tiefer als die Untergangspropheten beunruhigen, indem sie eben etwas zu verlieren haben. In dieser neuen Buchgemeinschaft scheint etwas von großzügiger Absicht, entschlossenem Plan aufgestanden zu sein. Der Laubgeruch allen Prospektierens liegt hoffnungsgrün darüber. Wir loben zum voraus die Niederlagen der Freudigkeit vor den Siegen der Skepsis. Im Verlag der «Schweizer Bücherfreunde» sind, in gepflegter Ausstattung, bereits Pestalozzis Fabeln und Robert Walsers schöner Roman «Der Gehülfe» herausgekommen. Hiltbrunners Thunerseebuch ist vorgesehen, Weihnachten bringt ein «Sagen- und Märchenbuch» für Kinder, 1937 eröffnet eine Biographienreihe «Geniale Schweizer» mit «Niklaus Manuel» von Hans Mühlestein. «Lebendige Schweiz» verspricht ein ebenso neuartiges wie notwendiges 194

Buch zu werden. Den Beschluß macht eine «Anthologie moderner schweizerischer Dichtung». Dem Kinderbuch soll besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Neuausgaben und Auswahlbände der großen älteren Autoren der Schweiz, auch der romanischen, sollen durch Berufene herausgegeben werden. «O’est de l’eau sur mon moulin!'» sagt Charly Clerc von dem Unternehmen. Wir unterschreiben das auch für uns.

Lyrische Blätter Ein Wettbewerb des Schweizerischen Schriftstellervereins ergab diese Ernte an Lyrik. Grundsätzlich bin ich gegen solche Rangabstufungen; denn die Kriterien, nach denen wir sie ansetzen, sind höchst labiler Art, im allgemeinen werden

sie bestenfalls Art-, keine Qualitätsunterschiede erfassen. Wie aber sollte man Arten gegeneinander ausspielen? Künstler müssen vor allem ehrlich sein. Max Amsteins «Zwölf Spitalgedichte» sind in der lapidaren Art gewisser neusachlicher Maler vorgetragen. Ich glaube, sie gehen um ein Haus mit Stahlmöbeln, der Dichter spricht mit möglichster Einfachheit und Gemessenheit; nach jedem, oder doch jedem anderen Vers steht ein Punkt. Er beschreibt in Reimen eine Operation, indem er einfach aufzählt, was geschieht. Die Kunst der Kunst besteht im Auslesen. Den geringfügigen Dingen, die Amstein so beiläufig daherredet, wohnt eine geheimnisvoll umspinnende Macht inne. Das Ganze wird ein Bild mit Raum

und Farben (sehr wenigen,

welche dafür eindringlich zeichnen). Die acht Vierzeiler über die Operation werden zum Schluß in ihrer Stimmung von Jenseitigkeit mit den ganz einfachen Worten zusammengefaßt:

Und alle diese weißen Menschen sind

In ihrem Tun wie aus der Welt getragen. So wie ein anderer versteht, das Erlebnis Spital in anschaulichen Briefen mitzuteilen, schreibt es Amstein in Versen auf, mit möglicherweise denselben Fragen, über die er meditiert 195

(«Wie war dem einen Menschen wohl zumute, der dieses Heilen erstmals unternahm?»), aber die Überlegenheit der Ordnung erweist sich als etwas Unumbringbares, die Linien und Lichter bleiben ins Gedächtnis gegraben, das Ungreifbare um sie geht ein in unser Gefühl. Amstein wirkt sympathisch durch seine technische Sauberkeit, hinter der doch so

viel mehr Bild und Gesicht als in manchen Nebeln steht.

pathetischen

Paul Ad. Brenner hat mich von jeher durch die Weichheit und Geschicklichkeit seiner Sprache erstaunt. Dieser junge Schweizer kennt keinerlei Schwierigkeiten des Ausdrucks. Er scheint über der Niederschrift eines Verses schon den nächsten und seinen Reim zu sehen. Diese Leichtigkeit, die vielleicht keine tatsächliche der Arbeit ist, verdrießt gelegentlich ein wenig durch Unbekümmertheit der Mittel, wenn der Gehalt die Apartheit eines Reims nicht so ganz rechtfertigen will: Wie ein kommender und vorgeschauter Bote meines liebenden Berichts. ...Daß in allem, was ich herbedinge,

Ich die Gärten meiner Kindheit singe! Aber «Die Gärten», die er in zwölf Sonetten aufbaut, sind von entzückendem Duft des Phloxes, der Tulpe, der Winde, des Unkrauts, der Beeren, des Gemüses — von edler Luft der

Gedanklichkeit, die sie umspinnt mit Erinnerung.

Dagegen malt Emil Gerber das Bildnis des verlorenen Sohns im ekstatischen Grün-Violett El Grecos ohne Ehrgeiz zur Schönheit, aufrührerisch und bitter: Und seine Not trieb ihn in alle Gassen, Er trug sein brennend Antlitz wie ein(en?) Schrei Durch Tor und Stiegen. Hoch auf den Terrassen Frug er, ob da nicht einer seiner Freunde sei. Doch alle Menschen waren ausgegangen, Und seine Glocke starb im leeren Haus. Im dunkeln Hofe bei den Wäschestangen Ging ihm die Kerze seiner Freundschaft aus.

196

Er klagt seine «Elegie» mit zerrissenem Munde, häßlich von Hohn: Ach, kein Heiliger zittert mehr in den Nächten. Aus dem Lichte des Abends ist Neon geworden... Dein ist nimmer die Welt, Jetzt sprechen Metalle im Haus. Dein ist nimmer das Herz,

Es hängt an den Drähten Hochspanniger Hirne In den Abend hinaus. Gerber geht mit einem Nachtgesicht anklägerisch, voll visionärer Erkenntnis durch diese Welt, in der er sich selbst und

die höchsten Freunde aus seinem Ungenügen, seiner Wahrheitssucht anfällt. «Den Bünden Luzifers um Stefan George», denen er zweifellos aus seiner Veranlagung angehört hat («Die Irrung d. V. S.»), ruft er eine diabolische Absage zu:

Als die Geier schrieen aus den Sümpfen Wies der Meister allen: taubes Ohr. Und sie banden auf den Tempelstümpfen Ihrer Stirn geweihte Tücher vor. Ich weiß nicht, ob manche

Dunkelheiten in seinen Versen

bloße Druckfehler seien. Allerhand Lyrik! H. W. Keller, von welchem die Lyrischen Blätter dieses Jahr ebenfalls zwölf Gedichte bringen, kannte ich bisher wenig. Was hier vorliegt, scheint mir ein liebenswürdiges, echtes lyrisches Talent von freilich noch nicht allzugroßer Eigenart zu bezeugen. Aber wie sympathisch wirkt heute schon allein der Mut eines Mannes, altmodisch zu bleiben, wenn er es,

Gott sei’s geklagt oder gedankt, eben ist. Ununtersuchten Krampf zu machen ist ja so viel leichter als die eigentliche Aufgabe der Lyrik: die Falter und Fledermäuse und Geister des Zwielichts, die Hintergründigkeiten menschlichen Gefühls einzubringen, das Unsagbare sagbar, das Ungreifbare greifbar zu machen. Bedeutsamer Schummnrigkeiten ist Kellers Lyrik bei rechtem Zusehen voll.

197

Und mählich wird es dunkel, Die Wolken ziehen dicht,

Da strahlt wie Sterngefunkel Von innen her ein Licht.

Ist es ein ungerechtes Vorurteil von uns, daß wir dem Komiker nicht glauben, wenn er uns einmal ernst kommt? Wir empfinden auch die dunkle mundartliche Dichtung irgendwie gemütlicher als die hochdeutsche; beiJ. P. Hebel so gut wie bei Lienert nimmt für mein Gefühl das nichtmundartliche Gedicht etwas Bläßliches, um nicht zu sagen Dilettantisches an — so geht es mir auch mit dem Fritz Liebrich dieser Blätter. Der ungereimte Vers darin scheint mir zu wenig durch eine immanente Musik gebunden, der gereimte von Pathos leicht aufgeplustert. Auf den ungewöhnlichen Mann deutet höchstens das Dunkle seines Auges, der Ernst eines Lebens, der aus ihm redet.

Die Lyrischen Blätter sind in der Art jener Panoramakarten gefaltet, die sich so reizvoll perpetuum mobile in der Hand durchstöbern lassen. Man besitzt an ihnen für Fr. 1.50 ein Bändchen von 60 guten Gedichten, sie lassen sich weiterschenken und erreichen hoffentlich die gute Verbreitung, die eine erste Serie davon gefunden hat. Zu beziehen beim Sekretariat

des

Schweizerischen

Schriftstellervereins,

Zü-

rich, Oetlisbergstr. 40.

Der Romantiker E. G. Rüegg Es war ein alter Wunsch von mir, einmal E. G. Rüegg mit Robert Walser literarisch zusammenzubringen. Ich liebe beide in ihrer Artverwandtschaft. Es gibt ein frühes Gemälde von Rüegg, «Die bösen Nachbarn bedräuen einen Buben», eine so grundromantische Eingebung aus dem Kindhaften, wie sie die alemannische Seele immer wieder träumt. Alle haben wir so einmal geträumt. Die Abendamselluft in dieses Malers Bildern, sein Herbst- und Jägergeruch rührt uns in verborgenster Erinnerung an. Er beschwört in herrlicher Reinheit die Welt aus der Nachbarschaft Eichendorffs, eine Landschaft mit Goldhimmel, Baumruten, Füchsen, Wilden-

ten, Stromern,

Kälbchen.

Sein Talent 198

ist liebenswürdig,

innerlich, nicht eben vielseitig, dafür geschlossen und voll wie das Robert Walsers, seines literarischen Bruders. Beide gehören sie zu denen, die nicht fortfuhren, als sie ihr Bestes

gegeben hatten. Sie verrieten sich nicht um der Geltung willen, sind daher in der Stille geblieben und besitzen die Liebe nur einiger Stiller, werden aber in ihren beseelten Werken noch lange fortleuchten, wenn die lauten Erfolge über sie hinweggegangen sind. Die paar Blätter dieses Heftes aus seinen Mappen herauszulesen, war eine saure Mühe, weil er unerschöpfliche Schätze des Gleichwertigen lagert. Ich mache in der Ausschließlichkeit gewisser Moderner nicht mit, die da glauben, nur das völlig Andere würde noch gelten; die Zeit wird auf manche ehrliche Leistung, auch wenn sie nach ihrer Art sich in der Linie des Herkommens hielt, wieder zurückkommen. Es war einmal eine Sache des Mutes, zur Moderne zu stehen; heute, da jene Haltung bereits zum Snobismus geworden ist, wollen wir es wagen,

für Lieblinge einzutreten, die ersichtlichermaßen nie zu den Riesen und Erdumseglern gehören werden. Wir sitzen ja auch nicht dauernd in den Metros und hochgeistigen Zirkeln, sondern lieben es zunehmend, die Abgelegenheiten der Moosgründe wieder aufzusuchen.

Arthur von Felten: «Die Juraviper» Es gibt ein Mittelmaß des Schlechten, das mit Stillschweigen übergangen werden kann. Das Anmaßliche muß beim Namen genannt werden, aus Gründen der Hygiene und der Moral. Die Neue

Schweizer

Bibliothek,

Schweizer

Druck-

und

Verlagshaus, Zürich, prämiierte in ihrem Wettbewerb um einen «Kurzroman» die Erzählung «Die Juraviper» von Arthur von Felten mit einem ersten Preis von 2000 Franken. Ihr Titel und ein Vorwort des Herausgebers Robert Jakob Lang versprechen viel Gutes davon. Ich freute mich auf den neuen

Mann,

erlebte aber an seinem

Werk

eine Überra-

schung der schmerzlichsten Art. Die Fabel dieses «Kurzromans» — ein Roman, wenn es einer ist, kann nicht kurz sein; früher nannte man so etwas bescheidener eine Erzählung — die Fabel läuft so: Die Bau-

199

ernmagd Afra, ein Findelkind, gewährt sich im Schlaf dem Knechtlein Kari aus dem Aberglauben heraus, daß der Bursch, der ihr die ersten Haselnüsse anbietet, der ihr zubestimmte

Gemahl

sei. Der Herrensohn

Urs, der ihrer

begehrt, stößt den Rivalen eines Nachts über einen Felsen hinunter in den Tod. Afra, um ihn der Tat zu überführen,

unternimmt Dinge, deren Glaubwürdigkeit wir einmal annehmen

wollen, verstrickt sich selber in den Anschein der

Schuld und wird nur durch die Bemühungen

eines guten

alten Schullehrers wieder daraus befreit. Sie muß trotzdem,

in Ausführung der obligaten Heldentat — Rettung einiger Kinder — zum Beschluß sterben. Die Kitschigkeit dieser Handlung spräche noch lange nicht gegen den Autor. Ein Dichter kann aus allem etwas machen. Das Mißgeschick Arthur von Feltens besteht darin, daß sein Stil dieser Kitschigkeit völlig gleich ist. Die Sprache eines Anfängers darf alle Mängel haben, nur nicht den der absoluten Banalität. Hier geht es Seite um Seite im Holterdiepolter jenes sattsam bekannten literarischen Jargons, der mit «Güllenloch», «Tschopen», «Gibigäbimarei», «Häfelibäbeli», ««Ich lauf euch nicht davon)» tat der Urs beleidigt», «Er

spie vor Wut, der Alte», mit «gen Rötelacker» und «ennet dem Tann» ein stinkverlogenes Bauerntum simuliert, das preisgekrönt zu werden wahrlich mit keiner Originalität verdient. Nur eine naive Art «Witzigkeit» und vollendeter Bombast beschwingen zuweilen die gnadenlose Prosa dieses prädestinierten Fabrikanten von Kriminalistik, dessen Debüt preisgekrönt zu haben ein Verdienst ist, um das wir niemand beneiden. «Aus der Umarmung winziger Gebilde entquollen in gleichmäßig beschwingter Wallung mächtige Schwaden (Wolken), die mit riesenhaften Partnern zu unvorstellbaren Dimensionen verschmolzen.» «Sie erlebten alle ein Wunder, als Urs,

der einzige Bub des Buchhofbauern, statt ein Geständnis abzulegen, im vertrauten Raum der eigenen Stube den Kampf aufnahm, energiegeladen und bedacht.» «Urs hetzte bissig, Doppelpunkt.» «Ist ein gefährlich Ding, tat die Uniform» (sagte der Polizist). «Die Mariann begriff es erst, als die Gibigäbimarei atemlos durch ihren Baumgarten watschelte und - fall nicht auf den Rücken, Mariann! — wollüstig (zwar mit h) stöhnte, die Tschuggerei sei auf der Suche nach dem falschen Luder; die Schlange soll — ich meinte, mich treffe

200

der Schlag! — den Krähenkari auf dem rabenschwarzen Gewissen haben. Und so was singt in der Kirche!» «Der Name fiel, rauh und überfällig, aus der Luft.» Seitenlang tut er es nicht unter dem Jambus, in seiner Bauerngeschichte. «Und Dank für Afra und den Zopf, der so köstlich schmeckte, weil er von Afra kam. Denn nur, wer selber unverdorben,

vermag so trefllich einen Zopf zu flechten, aus dem der Alte neben Ei und Anken auch die Liebe seines Kindes spürte. Zufrieden trank er einen Schluck, zermalmte auf dem Rest-

quartett der Zähne einen Kern und nickte seiner seligen Karoline zu, die aus dem goldverzierten Nußbaumrahmen herniederlächelte, als würde sie des Alten Pläne billigen und segnen; doch auch ein wenig rätselhaft und dunkel, als wollte spöttisch fragen sie: «Warum...» Es gibt neben dem «Restquartett» das «Kollektivgelächter», es gibt den «verblüfften Sohn

und

die dito Schwiegertochter»,

«das

Mieder,

dem

schneeweiß der schwellende Busen entquoll», «das zwiespältige Gefühl des Menschen, der in den Abgrund stürzt», «die

innere Glückseligkeit», «denn Urs lauschte schon im nächsten Augenblick seinem Blute, das der Erfüllung entgegenrauschte», «Afra rıß den Blick ins Leere», «da sein Blut nach Afra rasend tobte», die «naturverbundene Zweckbestim-

mung», die «heimatsichere Geborgenheit», «und überwuchtete schließlich mit der geschlossenen Masse unhaltbar die hügelige Waldlichtung», die «hoffnungslose Verzweiflung», «sie spürte die Kälte der Nacht; sie fror», «eine verzerrte Schnau-

ze (Urs) bleckte», «Scharf spannte der Dicke, ob Ton und Wallung echt seien», «der verrostete Schnauf des uralten Kastens», «Mit Recht, wenn heiß und rasch zwar, aber ehrbar das Blut auf ehrenhaftem Boden durch die Adern rollt», «Ihr

habt das Blut mißbraucht und auch den Boden! Sie werden beide (Blu und Bo!) Euch die Rechnung präsentieren.» Überhaupt: Die Fatalitäten dieser gewissenlosen Bilderwut! «Die Haselnüsse sahen in ruhiger Gelassenheit dem verschwindenden Leben nach.» «Schon wenige Tage später rauschte das normale Leben und Weben des Dorfes über den toten Kari hinweg zur Tagesordnung. Kein Gräslein hatte seinetwegen das Wachstum eingestellt, kein Sträuchlein nur ein Blatt rascher verloren.» «Noch einmal griffen Haselnüsse entscheidend ein. ...Da die Haseln die Menschen

leicht verhängnisvolle

kannten und wußten, wie

Mißverständnisse 201

entstehen...

Nur

deswegen offenbarten sie (die Haselnüsse) aus überschwenglichem Gefühl (der Haselnüsse) ihr Geheimnis einem kleinen Knirps.» >» Dem riesenhaften Aufmarsch der epischen Erfindung gemäß entledigt sich auch der Hosenknopf als Indizienbeweis seiner bewährten Aufgabe. Nämlich «die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf. Der Knecht, im Glauben, die Mutter sei

in den Abgrund gestürzt, trat an den Rand heran und spähte, sich vornüberbeugend, in die Tiefe. Da benötigte er wirklich nur noch einen ganz schwachen Stoß zum Sprung in die Ewigkeit.» «Man fand einen Knopf in der Hand des Toten!» stellte Afra sachlich fest (S. 58). «Kari klammerte sich fest an meinem Kittel. Beim Sturze nahm er den Knopf mit in den Abgrund.» Warum nicht, da er doch nur einen «ganz schwachen Stoß» «zum Endspurt in die Todesfahrt», wie es an anderer Stelle ebenso originell wie geschmackvoll heißt, «benötigte». Ob es solche Dinge sind, welche der Herausgeber an der Sprache dieses Machwerkes «bemerkenswert» findet? Es ist nichts Unverzeihliches,

dergleichen zu verfassen; die Sorte

Autoren handelt aus heiligen Eifern und ist sich keines Fehls bewußt; schlechterdings grotesk hingegen muß es genannt werden, wenn jemand sich Preisrichterwürde anmaßt und so offensichtlichen Mist als literarische Qualität ausruft. «Eine gelungene Synthese von Naturalismus und Romantik», nennt R. J. Lang diese widerwärtig manierierte Schreibe voll der dümmsten Behauptungen, die zu glauben der Erzähler uns zumutet, vom besagten Knopf bis hinunter zu der erstaunlichen Vergewaltigung; «und da Afra nicht erwachte, begann er das Mädchen zu liebkosen, indes das wahnsinnige Verlangen ihn wegfegte, wie die Staublawine einen morschen Lattenhag in Atome zermalmt. Und er nahm Afra, die es mit geschlossenen Augen und gelösten Gliedern geschehen ließ...» Das eine Beispiel dieses Lattenhages genüge für Dutzende unproportionierter Vergleiche, in denen des Autors Mangel an schriftstellerischem Takt, sein Mangel an Wahrhaftigkeit sich verrät. Die Schematik der Charakterzeichnung erinnert an übelstes Schmierentheater. Da ist die mit den ewig «grünschillernden Augen» («Aus dieser Ecke glommen zwei glühend schillernde Katzenaugen», eine halbe Seite weiter: «...starrte der Alte auf die grünen Glaskugeln, die

202

glühend, als würden sie von innen durchleuchtet, ihm entgegenschillerten.»), da ist die Krähenlisi mit der Schnapsflasche, da ist der Bauernsohn Urs, ein unmögliches Möbel kitschiger Verruchtheit, da sind die «Hüter des Gesetzes», denen der Theaterbart an der Wange wackelt, da ist «der liebe gute Sebastian: Der Alte fuhr in solchem Schreck herum, daß er mit dem Schädel an den niedern Querbalken der Türöffnung schlug. Die Sache war unheimlich. Eine Katze konnte nicht so lachen. Vorsichtig und - er gestand es sich ein — ein wenig ängstlich schritt er auf die glimmenden Leuchtkugeln (nämliche Buchseite!) zu, die unbeweglich ihm entgegenfunkelten. ... Afra! rief der Lehrer. Ein fürchterlicher Schrei peitschte ihn zurück, gellte schmerzhaft in den Ohren.» Ich hätte diesem Kurzschlußroman als einem Pubertätsprodukt keine Beachtung geschenkt ohne die besonderen Umstände, unter denen er uns vorgestellt wird, und wenn ich nicht fürchtete, daß wir mit diesem Arthur von Felten

leider einen erfolgreichen Schmierer mehr in der Schweiz haben. Zweitausend Franken für solches Debut! «Je preiser ein Stück gekrönt ist, desto durcher fällt es», sagte ein Schalk, ich denke, es war Spitteler.

J- J- Jehli: «Das Sporthaus zum Divan» Einmal wieder vor der Notwendigkeit, einen redaktionellen Vorrat abzutragen, machte ich mich auch hinter ein Manuskriptenbündel her, von dem ich annahm, daß es mit einigen Stichproben zu erledigen wäre. Es endigte damit, daß ich bis in die tiefe Nacht hinein Stück um Stück in freudiger Ergriffenheit durchlas. Die Sendung kam von einem Unbekannten aus den Graubündner Bergen, einem Lehrer und Bauersmann, welchem die ganze materielle und menschliche Existenz in die Brüche gegangen war. In rührender Treuherzigkeit und Bescheidenheit schrieb er von seinen vergeblichen Versuchen, irgendwo in den schweizerischen Redaktionen mit seinen Sachen unterzukommen. Was er dichtete, war von ländlicher Einfachheit, voller Naturwitz und echter dichteri-

scher Eingebung. Meinen begeisterten Gruß beantwortete Johann Jakob Jehli mit der Gabe eines soeben erschienenen kleinen Romans, «Das Sporthaus zum Divan». 203

Oha, dachte ich, von dem kitschigen Schutzumschlag des Büchleins ein wenig ernüchtert. Ich entfernte ihn, und nichts beeinträchtigte nunmehr den Eindruck eines Erzählers, von dem ich mit Bewußtsein behaupte, daß er als ein Volksdichter der besten Art in unser Schrifttum eingehen wird. Der gute Mann hat noch ganze Bände unediert zur Verfügung einer Leserschaft, welche sich deren Genuß hoffentlich nicht mehr lange wird entgehen lassen. Das Haus zum Divan steht vor seinem Ruin durch die Leichtlebigkeit einer verwöhnten Generation von Erben, seine Sanierung wird dem einfachen Landmädchen Stina übertragen, und diese Stina samt ihrem patriarchalischen Großvater Matthis Caveller kommt mir nun geradezu als das rettende Prinzip im weiteren Haushalt unseres Schweizerlandes überhaupt vor. Ich habe immer gesagt, die Schweiz

liegt auf dem

Lande;

daß es sie noch gibt, diese

gesundere Schweiz, dafür ist mir die ganze Konzeption dieses Volksbuches eine Gewähr. Es gibt sie noch, die aufrechten Caveller der schönsten Altmodigkeit und die Früchte ihrer Erziehung,

solche Stinas, deren Wesen

wir aus den

Werken Gotthelfs und Stifters kennen. Stina tritt ihr konziliantes, klug und warmherzig taktisches Regiment im Hause zum Divan sogleich an und erringt den raschen Sieg der Unschuld über die Anmaßlichkeit der Luxusgeschöpfe Anton und Rösli. Die Kunst Jehlis besteht nicht im Raffinement und in der Differenzierung des Ausdrucks, sondern in jener großen einfachen Linie, welche die Größe der Größten, zu denen er freilich nıcht gehört, ausmacht: Tolstojs, Uli Bräkers, Stifters, Gotthelfs, welche bereits hier zitiert wurden.

Ich gedenke mich nicht leichtsinnig in den Vergleichen zu vergreifen; aber ich müßte die Wahrheit unterdrücken, nicht zu sagen, daß der Gedanke gerade an Stifter mir im Lesen immer wieder aufgestiegen ist, und zwar gegenüber der unbeschreiblich schönen Einfalt dieser Rede, dieser Charak-

tere, dieser Empfindungsweise. Jehli beschreibt seine Gestalten recht wenig, aber wie deutlich stehen sie doch vor uns, der Achtzigjährige in seiner Rechtlichkeit und Kraft, dieses so ganz Gotthelfsche entzückende Geschöpf Stina, das bis zu den Fragen des Herzens hinunter kindlich auf sein großväterliches Vorbild hört. Was für ein Inbegriff hausmütterlicher Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit, Naturklugheit und Warmherzigkeit gegenüber der Modigkeit eines Wesens wie 204

Rösli, das in allen Zeiten doch vor der Unverwüstlichkeit wahren Weibtums verlieren muß! Es ist aber unverweilt zu sagen, daß die literarischen Anklänge nicht etwa aus der Nachahmung kommen, sie ergeben sich aus der Einheit des Modells,

nämlich

des Volkes; Jehli blickt nur auf dieses,

kennt es und liebt es und hat das Auge für die ewige Art jener Weisheit, welche Figuren wie seinen Matthis Caveller ebenso wie die schönen Stifterschen Greise erleuchtet. Diese Kenntnis gibt ihm auch seine Sprache, den Zauber der Schlichtheit, die wiederum an biblische Urgründe erinnert, so, wenn

der Großvater seine Rede mit den Worten beschließt: «Fürchte dich nicht!» Ja der ganze geradlinige und im Tempo sehr straffe Verlauf der Handlung hat etwas von der kunstvollen Wuchtigkeit der alten Mythen an sich. Auch läuft alles nach der erlaubten Geometrie der volkstümlichen Erzählung zum glücklichen Ende, der blaue Blick eines wissenden Optimisten übersonnt das Ganze, obwohl er antikische Tragik wohl zu schürzen versteht. Da er im Volke lebt und dem Volke «aufs Maul schaut», hat er Teil an der dichterischen Drastik seiner Ausdrucksweise: «Du bist als Hoffart und Grille zurückgekehrt», «Ich habe lange genug mein Verlangen nach dir zurückgehalten. Es ist grad so, wie wenn einer die Brunnenröhre mit der Hand zuhält und dann losläßt. Das schießt dann nur so heraus», «Du mußt wissen, daß das, was in einem Hause so laut getrommelt wird, nicht

geheim gehalten werden kann. Es dringt hinaus in die losen Mäuler. Die Schadenfrohen tragen es weiter, bis jeder Brunnenstock es auswendig weiß», «Parbleu, hatte da die parfümierte Pariserin zu räsonnieren und zu kommandieren. Der Stina war es zum Explodieren», «Nicht die Maus ist der Dieb, sondern das Loch», «Die Stina hatte heute viel zu tun.

Sie hatte es wahrlich wie die Mäuse im Kindbett». Alles in allem ein Buch, für das ich die lieben Leser von

Herzen bitten möchte: Kauft es und lest es!

Schmid-Ammann:

«Das Rätsel Deutschland»

Über der Lektüre dieses Büchleins wird einem bewußt, wie

rasch man doch die näheren Umstände derjüngsten Weligeschichte vergißt. Wer sein Gedächtnis aufzufrischen

205

wünscht, greife zu dieser knappen, sachlich-gerechten, aber in ihrer Haltung bestimmten Chronik des deutschen Nationalsozialismus.

Hermann

Hiltbrunner:

«Ein Buch vom Thunersee»

Dieses Buch hat weit und breit nicht seinesgleichen. Hätte ich einen nationalen Preis zu vergeben, ich spräche ihn diesem Wunderwerke ohne Besinnen zu. Die schweizerischen Ausschreibungen einer Nationalhymne haben kein Ergebnis gezeitigt; hier ist unserer Heimat ein Denkmal gesetzt, das bleiben wird. Diese Dichtung liegt von der literarischen Norm so einsam wie ein erratischer Block abseits. Kein Wunder: ihr Held ist die Natur, ihr Sänger ein von dieser Natur im Innersten ergriffener Dichter. So etwas kommt also noch vor, und hier unter uns: daß einer nicht links und nicht rechts, nicht auf die Sensationen

der Zeit, in anachronistischer Frömmigkeit einzig in den Anfang und Urgrund aller Dinge, ins Herz der heiligen Natur blickt. Das Pathos erlebt in diesen Buchseiten eine solche Rechtfertigung, daß niemand sich seiner mehr schämt. So wie er sich um vieles nicht kümmert, bleibt Hiltbrunner auch beim

Unzeitgemäßen seines Hohen Tones; vielleicht in keinem seiner Bücher ist dessen Rechtmäßigkeit so unanzweifelbar wie in diesem ersichtlich geworden. Das Pathos ist bei ihm nicht Aufplusterung, nicht Tünche; es ist die Stimme seines Wesens, sein Eigentum. Die Urdinge, um die es ihm geht, geben ihm ewig gültige Urworte ein. Es gehört ihm zu wie Hölderlin oder Schiller ihr Pathos zugehört hat. Wenn er vom «heiligen Bauern», von der zauberischen Art des Feuers spricht, wenn er «sein Haupt entblößt», dann ist es ihm so natürlich wie einem alten Barden, eben weil es seine Natur ist, weil es ihm heiliger Ernst ist, weil alles, alle Erkenntnis,

alle Ergriffenheit, alle Liebesinbrunst auch damit noch nicht in ihrem Ausdruck übersteigert wird. Das Pathos erscheint sogar als recht verhalten, von Demut gedämpft, von Zärtlichkeit scheu. Er macht sich die Schwärmereija auch nicht leicht: wie die süße Flora seiner Alpen gründet sie unmittel206

bar auf Granit, auf dem Urgestein seiner Wissenschaft. Es ist nicht zu beschreiben, welchen Zauber seine Träumerei auf

dem Untergrund dieser liebhaberischen Sachlichkeit gewinnt. Immer spricht er Wissenschaft, geht vom geologischen Relief aus, mißt in Milligrammen, müht sich um die physikalische Erklärung der Seefarben, kontrolliert streng in den Termini der Spezialgebiete — aber wie eigenartig dichterisch blüht es ihm unter den Händen hervor! Seine Gedanklichkeit hat die Poesie in sich. Er ist selber wie seine Felsen umweht von der Luft des Ewigen. Dieses so gegenwärtigen Ewigen, dieser überschaubaren Unendlichkeit. Dieser Unvergänglichkeit der Zeiten. Im Wolkengewoge verfolgt er das Werden der Welten. Ein Nebelmeer verwirklicht ihm über Nacht grönländische Eiszeit. Der Katalysator der Liebe hat dieses Amalgam aus Wissenschaft und Poesie ermöglicht. Ein seltenes Amalgam. Die Wissenschaftlichkeit spielt hier die Rolle jener Sachrichtigkeit, die ich bei Robert Walser einmal mit Verismus bezeichnete. Daraus wurde nun Gott sei Dank keine Nagelfluh, kein ärgerliches Gebröckel aus Lyrik und Trockenheit. Beide durchdringen einander in jedem Satze. Schon deshalb ist dieses Buch in seiner Art ganz einzigartig. «Ein Buch vom Thunersee!» Ich hatte mich auf eine Folge von Landschaftsschilderungen gefaßt gemacht, den dichterischen Prospekt eines Verkehrsvereins erwartet: es ist aber nicht zum Sagen, wie geschlossen, kunstvoll, dramatisch, beziehungsreich und farbig das aufgebaut ist! Kein Kapitel, kein Abschnitt, kein Satz fiele ohne Schaden am Ganzen weg. Und das in der Biographie einer Landschaft!

Einer wechselreichen,

zerklüfteten Landschaft.

Es scheint aber auch nichts Wesentliches an ihrem Bilde zu fehlen. In seiner Eigenschaft als Wallfahrer geht Hiltbrunner den Weg über die Schwelle zu seinem Heiligtum, dem «weitoftenen Thronsaal seiner versammelten Götter». Schon am «Tor»,

in Thun,

gräbt er nach

Stein- und

Broncebeilen.

«Tagtäglich werde ich meinen Blick rückwärtswenden in diese wunderbar stille, verschollene, versunkene Welt: zu Menschen mit dem Reichtum der wenigen Bedürfnisse, zu Wesen, in deren Seele die Dinge der Welt noch geordnet beieinanderlagen und problemlos umfaßt wurden — werde mich rückwärts wenden um des Gefühls von Frieden und

207

Ewigkeit willen, das von dorther aus- und in mich einstrahlt.» Dann baut er es alles auf, in heiliger Nüchternheit: «Sommervorspiel», «Spiele und Spiegelungen» (ein irisierendes Juwel von einem Buchkapitel!), «Schlechtwetterschönheit» (der regendunkle Kontrapunkt zum Vorangegangenen), «Täler», «Einklang», «Hochsommer», «Wasser und Eis», «Wolken, Steine, Blumen», «Herbstmond», «Heimkehr» -—

welch ein Kanon, welch Welche Bedächtigkeit und gen diese Steinplatten mit ander» — so liegen auch

ein franziskanischer Lobgesang! welche Bedachtsamkeit! «So lieder größten Fläche schräg aufeindiese Sätze und diese Kapitel

aufeinander, der Stein auf dem Fels, der Fels auf dem Berg,

der Berg auf dem Gebirge, «wunderbar geordnet, dachziegelhaft übereinandergeschichtet». Hinauf und herunter, hinüber und herüber steigt der Dichter-Geologe, wechselt den Standpunkt, um uns alle Perspektiven seines Liebeslandes zu suggerieren, schildert, erzählt, überlegt und prüft und malt, und in welcher Auslese, mit welchem prospektierenden Überblick, mit welchem Kunstverstand, welchen Intuitionen, welcher Wegsicherheit! Das hebt an, steigt zum Gebirge

auf, senkt sich ins Tal und verklingt in die Wanderung des Anfangs zurück («Melancholie ist der Grundzustand alles Seienden») — es kommen die Jahrtausende, die Urmenschen, die Alpen, der See, die Flüsse, die Höhen, die Tiefen, die Farben, die Geräusche, die Wolken, die Steine, die Blumen, es kommt schließlich das Tier und der Mensch; wenn man schon dachte, der Mann ist ein Sektierer seiner Landschaft, der Liebe zum Mitmenschen verschlossen, dann führt er auch ıhn noch an der Hand heran mit seinen Liedern, «dont

les paroles rient et dont la musique pleure», mit seinem patriarchalischen Ritual, mit seiner Arbeit, seiner Lustbarkeit, seinen Feuern, seinem ethnographischen Stempel im Gesicht, seiner gesetzhaften Bindung — mit einem Wort: eine Herrlichkeit von einem Buch! Hat schon jemand die Dinge so ergebnisreich auf den Kopf gestellt wie dieser Hiltbrunner, wenn ihn die Laune ankommt, einmal den Standpunkt seines «Vaters Äther» einzunehmen: «Das Liegende des Himmels ist die Erde, das Hangende der Erde ist der Himmel, und geht dieser Himmel in Wolken, so spielen sich in diesem Luftgestein Dinge ab, die uns an die geologischen Vorgänge auf der Erde erin208

nern...» und nun diese grandiose Vision der Erdfaltungen am Beispiel der Wolken, welche sich überschieben, zerfallen, ausebnen, diese herzerschreckende Nähe der Jahrmillionen,

Erdgeschichte im Tempo des Zeitraffers, Zeitlupe in Stein darunter, Grönland im Anfang und Grönland am Ende... «Ein paar Jahrtausende sind hier auf zehn Zentimeter zusammengepreßt. Zeit ist in Raum gelegt; zehn Zentimeter, eine Handbreit von dem, was uns so wichtig erscheint und was vor Gott oder dem Himmel so ewig nichts ist, liegt vor Dir, und wenn Du die nächste Schicht dazu nimmst und so

viel Zeit umgreifst, als die Spanne Deiner Hand zuläßt, dann beginnt es in Deinen Ohren zu sausen: ein gewaltiger Ton hebt an, ein Läuten wie von tausend Glocken... es sind die Meere der Vorzeit, die Du donnern, die Stürme der Urwelt, die Du brausen, die große Brandung, die Du rauschen

hörst...» Nun, mit Geduld ist hier gemessen: dieses Buch selber lag jahrelang in Schubladen herum, ohne die Einsicht eines Verlegers zu finden. Dafür haben wir es heute auch in dem seiner würdigen Gewande, das der «Verlag Schweizer Bücherfreunde, St. Gallen» seinen Publikationen zu geben den Ehrgeiz hat. Die Vignetten von der Hand des Thuner Malers Alfred Glaus sind subtil aus dem Satzspiegel heraus empfunden. Es ist eine Lust, zu sehen, daß dergleichen jetzt bei uns herauskommt;

die

«Schweizer

Bücherfreunde»

sind

eine

rein schweizerische Buchgemeinschaft, für die wir bei früherer Gelegenheit geworben haben. Sie hat uns auch die «Fabeln Pestalozzis» und Walsers «Gehülfen» geschenkt; zeichnen wir geistige Wehranleihe durch Unterstützung so edlen Bemühens!

Hermann

Hiltbrunner

Der Lyriker Hermann Hiltbrunner hat etwas von einem erratischen Block an sich. Er liegt in unserer Zeit, die er nicht sehr liebt oder die ihm gleichgültig ist, wie in charakterlosem Land andersartig und einsam. Im Vergleich mit der zimperlichen Detailliertheit der Umgebung erscheint der Findling als simpel und plump; im Vergleich mit der Zivilisation dieser Zeit ist Hiltbrunner undifferenziert. Urglet-

209

scher und Ewigkeit sind seine zwei Gegenstände,

Gegen-

stand seiner Liebe und Sehnsucht. Er sucht sie in Nordland,

Nordlicht., So wie er den Mut hat, bei der Einförmigkeit seiner Vierzeiler zu bleiben, hat er die Unbekümmertheit zur

Monotonie der Thematik. Welcher Apostel schämte sich je seines Herrn! Das Land ist die Enkelschaft des Urgesteins; die Simplizität des Dichters Hiltbrunner hat unsere Verästelung in ihrem Kern. Wodurch bleiben die biblischen Erzählungen aller raffinierten Zivilisationsdichtung überlegen? Dadurch, daß sie sie in sich enthalten. Hiltbrunner ist keineswegs weltfremd; seine Intelligenz erfaßt spielend alle Probleme gegenwärtiger Disziplinen; aus einem Zentrum her setzt er sie in ein eigenartiges neues Licht. Wie könnte ein solcher Mensch jemals Moden mitgemacht haben! Immer lebte er an der Wachstumsstelle des Menschlichen. Er entfernte sich nicht davon und blieb original unter Verzicht aufs Originelle. Die Dichtung ist ihm mehr als der Dichter. Seine Alttestamentlichkeit hat eine eigentümliche Radiumstrahlung. Künstlerisch (in seinen besten Sachen) wie persönlich überzeugt er durch Einfachheit des Elementaren. Antipode des Literaten, hinter dem er weit zurückgeblieben scheint, hat er den wahrhaften Gehalt, den man nur aus der Natur bezieht, Natur nicht als Äußeres der Landschaft, Natur als

Zusammenhang verstanden. Unbekümmert um die Geltung in dieser Welt, seiner Innerlichkeit zugekehrt, reift er Frucht wie der Baum, in Überfülle, deren Geschick ihn nicht weiter interessiert. Er, der in Eiszeiten denkt, kann warten.

Denker und Bedenker

Von Hiltbrunner erzählte Muschg einmal in seinen «Annalen» eine hübsche Anekdote. Freunde disputierten um den Sinn eines seiner Gedichte und wandten sich zuletzt um Aufklärung an ihn. Er antwortete in seiner poltrigen Art: «Aech was, ich maches und ihr verschtönd’s.»

210

Anmerkung der Redaktion zu einer Rezension Emil Gerbers Hier ist in dem Rummel um die Mundart zum erstenmal auf die Stelle verwiesen, wo auch meiner Überzeugung nach der Hund begraben liegt. Die Sprache von der Sprache aus retten wollen, heißt Scharlach an den Scharlachflecken behandeln. Wo das, was mit unserer Mundart vorgeht, wirklich mehr als ihre natürliche Wandlung ist, durch die sie im Lauf der Jahrtausende das Leben behielt, da kann ihr Verfall mit der Umsicht der Schulmeister nicht aufgehalten werden. Die Sprache hängt so sehr mit der seelischen Struktur eines Volkes zusammen wie der Atem mit dem Zustand der Lunge. Sie behielt ihre Plastik so lange, als es der Nation gegeben war, aus der Natur zu leben, in der Anschauung zu wirken; der Bauer war da schon immer am besten dran, der Handwerker gab dem

Material

seine Blutwärme;

heute, da die

Arbeit mit einem Minimum an Handreichung und mit einem Maximum der Glätte vor sich geht, nimmt aller menschliche Ausdruck dıe Art des Automatischen

an, weil

die gewonnene Muße demselben Betrieb wieder zugeleitet, im selben Betriebe mißbraucht und jeder schöpferischen Anwendung entzogen wird. Es ist das schauerliche Jahrhundert, da die einen Nachtschicht arbeiten, die andern ihren

Beruf am Müßiggang verlernen. Es ist das schauerliche Jahrhundert, in welchem Vielwisserei der Jugend für Menschenbildung und ökonomisches Erfordernis gehalten wird. Es ist das schauerliche Jahrhundert, das Stanzware von Dogmen über die Völker ausschüttet, das Denken gängelt und die Freiheit knutet. Es ist unser Vaterland aus Männerchorpatriotismus, die Demokratie begüterter Rechtsanwälte, das Tummelfeld von Merkantilismus und Schematismus, wo ein Volk seinen Mutterwitz, sein Sprachschöpfertum und eine Dichtung erhalten soll! Maßnahmen, da sie als mechanistisch bequem sind, werden hier willig in Menge verfügt; in der Schonung des Grundsätzlichen (denn im Grundsätzlichen stecken die Revolutionen verborgen) ist man sich an den höchsten Stellen einig.

211

Hermann

Hesse: Neue Gedichte

Wie traurig immer das Los der Lyrik in dieser Zeit sein mag, eins hebt sie sternenhoch über alle Kunst empor: daß sie der Jugend heilig zu sein vermag. Schiller, Rilke, Hesse fanden bei ihr eine Parteinahme, für die sie das Leben gelassen hätte. Den Grote-Band Gedichte von Hermann Hesse liebte ich in meinen Jünglingsjahren samt dem Geruch seines Papiers mit dem Gefühl, das sonst nur Frauen im Manne erzeugen. Ich atmete in dieser Lyrik, sie sprach für mich aus, erreichte die letzten Gründe meiner jungen Unerlöstheit. Damit, daß ich gegenüber der eigenen Art argwöhnisch wurde, kam eine schmerzende Zwiespältigkeit auch in das Verhältnis zu meinem Dichtergott. Geraten wir ım Verlauf unserer Entwicklung nicht mit allen Epochen der Geistesgeschichte einmal in die Gegensätzlichkeit Vater und Sohn? Es gibt Zwiste, die nicht gelöst werden können, die erdauert sein wollen. War nicht gerade Hesse ein Meister darin, an Schmerzen und Geistesnöten zu reifen? Über die sommerverbrannte, von Stürmen zerwühlte Landschaft seines Lebens

legt sich Septembersüße. Durch die gelichteten Büsche voller Herbstfrucht blickt ihm überall das vertraute Gesicht des Todes. Gewiß, die Reife ist immer von dem leise Fragwürdigen aller Vollendung, von etwas umwittert, das der Instinkt des Lebens flieht; allein Hesses Kraft, das Mannesalter einer Landschaft zu malen, Sommer und Herbst, unterscheidet

ihn ehrenvoll noch lange von Stürmern und Drängern, die ihn wehleidig schelten. Sein Alter ist nicht mehr das der Auflehnungen, aber die Schmerzen haben nicht aufgehört, im besänftigten Melos seiner Verse zu zucken. Er baut seine Tomaten und pflegt seinen Weinstock; aber ein geistiger Himmel blaut in sein schütteres Haar, und er lebt unter uns

als die fast unwahrscheinliche Wirklichkeit einer Zeitengegend, welche Geister wie Hölderlin und Mörike hervorgebracht hat. «Mit Grüßen von H.H. «Mit Grüßen

...»

von H. H.» schickt mir Hermann

Hesse das

Juliheft der Fischerschen «Neuen Rundschau», die eine Erzählung «Indischer Lebenslauf» von ihm enthält. Nach ihrer

212

Lektüre kam

ich ins Sinnen darüber, ob der Dichter mir

noch etwas anderes als Grüße damit übermachen wollte. mit meisterlicher Geduld gesponnene Legende geht um Hessesche ewige Thema Welt-Jenseits. Ob mit Grund, fühlte mich angerufen. Meister, die Mahnung kommt nicht fremd, sie redet täglich aus mir selber! Was tut

Die das ich mir der

Mensch, der, zum Traum geboren, sich in die Händel dieser Welt mischt? Verrät er das Höhere, verrät er sich selbst? O

der täglichen Not aus dem Zwiespalt, in den ihn sein Sinn gerade fürs Schöne und Gerechte setzt! Der Weise vom San Salvatore predigt nicht aus der Blutleere, er kennt beides: «Frau Welt» und den «Vater Äther». Der Lebenslauf Dasas ist sein täglicher Lebenslauf; er aber, der Ältere, hat seine

Kräfte jenseits, während wir sie noch aufwärts schleppen auf der Seite der Versuchung. In welche Symbole kleidet er alle Wirrnisse, in denen wir stehen! Der die Welt auf sich nimmt,

belädt sich mit ihren Paradoxien, mit ihrem Zwang zur Schuld. Doch «es würde manches Jahr brauchen, um diesem jungen Menschen auch nur Haltung und Atmen (des Yogis) richtig beizubringen.» Welche Aussichten haben schon wir, Barbaren des Abendlandes! Es bleibt uns nichts als zu streben und zu reifen. Mehr als das Gold seiner Sprache macht das Vermögen, die Welt ins Symbol zu setzen, Hesse zum Inbegriff des Dichters.

Jakob Frey: «Ausgewählte Erzählungen» Einer der großen Bezauberer meiner Jünglingsjahre war Jakob Frey. Nur Josef Conrad hatte in der Folge noch einmal, in einem anderen Sinne, eine ähnlich suggestive Wirkung auf mich. In den Erzählungen des Aargauers waltet eine Dämonie der Spannung, die mich in ihren Bann zwang. Dem Schweizer wird immer wieder vorgeworfen, daß er kein Feuilleton zu schreiben die Eignung habe; Courths-Mahler und Gert Rotberg springen dafür bei uns ein. Ich behaupte aus der Erinnerung, daß es etwas dunkler Schweizerisches, dem einfachen Leser Gemäßeres als diesen Jakob Frey nicht gibt; aber er blieb lange Jahre überhaupt unverlegt und unerreichbar. Nun hat Carl Günther im Verlag Sauerländer eine vierbändige Ausgabe unter den Titeln «Menschen der

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Heimat», «Die Waise von Holligen», «Aus schlimmen Tagen» und «Ausgewählte Erzählungen» herausgebracht, der man die weiteste Verbreitung im lesenden Schweizervolk wünschen muß. Wollten nur die lasterhaften Korrespondenzbureaux für deutschen Schund ihren Eifer und ihre Mittel an den Vertrieb solchen Eigentums unserer heimischen

Literatur wenden,

«es sollte drum

nicht schlechter

stehn ums Land». Aber Verlage von der vornehmen Zurückhaltung des Sauerländerschen leisten, was ihr Gewissen sie heißt und verstehen es im übrigen nicht, den in unserer Zeit leider unerläßlichen Lärm für ihr Angebot zu schlagen, und so läßt man weiterhin die germanischen Ströme der Volksliteratur herein unter Berufung auf den Umstand, daß bei uns nichts Besseres zu haben ist. Man glaubt, sich das leisten zu können.

«Maß und Wert»

Wenn es auf den ersten Blick ein wenig verschnupft, in einer neuen Zeitschrift, auf die man mit Grund sehr hohe Erwartungen setzte, so viele Vorabdrucke «aus einem demnächst erscheinenden Buche» vorzufinden und das Ganze schon fast den Geschmack eines Verlagsprospektes angenommen hat, ist man nach genauerem Studium gerne bereit, nicht Verlegenheit, sondern wohlbedachten Plan in dem Umstand zu sehen. «Vorwort» (Thomas Mann), «Die preußische Ökono-

mie» (Erich Kahler) und «Zur Diagnose unserer Zeit» (Karl Mannheim) heben sich da heraus wie Fixpunkte einer Vermessung im Gebiete europäischer Werte. Die Absicht wird deutlich und schafft Befriedigung. Etwas unbewußt oder bewußt Entbehrtes wird in dieser Zeitschrift «für freie deutsche Kultur» verwirklicht. Allererste Köpfe machen sich dahinter her, die Wahrheit im Schein, die werdende Gestalt

im Chaos für uns zu erkennen. Das Ergebnis davon ist ein — ach wie willkommener und nötiger —- Zuschuß von Optimismus. Glück der Form, Verheißung eines Sinns! Maß und Wert. Was uns an den Intellektuellen Weimardeutschlands fast immer verdroß, ist hier überwunden: die Sturheit jenes Marxisten, der «sich gegenüber nur erst die andere Klasse, die zu bekämpfen war» sah «und noch nicht hinter ihr, in

214

ihrem Grunde die gewaltigere, objektive Dämonie, der heute alle ausgeliefert sind». Wo es wieder erlaubt ist, zu bezweifeln, daß «das ganze Problem in der Güterproduktion und Güterverteilung» liege, wo «die menschliche Krisis» nicht in eine «Krisis der Umstände» eingeschränkt und die «Frage nach dem Lebenssinn neu gestellt» wird, da erst fühlen wir uns wieder frei und in der Wahrheit, bei Maß und Wert. Wir wollten es nie glauben, daß Thomas Mann die Welt aufeine Formel gebracht hätte. Form ist nicht Formel. Sein eigener Beitrag «Lotte in Weimar. Ein kleiner Roman», das ist allerdings subtilste Form. Man liest von Satz zu Satz in Erstaunen und Entzücken, daß die Kostbarkeit immer dieselbe bleibt. Siebente Nüancen der Schalkheit, der Stufung, des Sinns, der Linie werden angetupft. Aber die Zeitschrift scheint nur Maß und Wert, nicht Kanonisiertheit zur Bedingung der Mitarbeit zu machen: Neben dem Meisterwerk von Novelle steht der rohgezimmerte, nicht «transponierte», von eigentümlichen Spannungen erfüllte Realismus eines Jungen, Josef Breitbach, «Die Rückkehr». Für meine Person finde ich mich in dieser Zeitschrift wie in einer neuen Gegend angelangt, in einem Dritten Europa, das einen gewissen «Marxismus» ebenso wie seine Reaktion hinter sich gebracht und die Höhe des wahrhaften Humanismus gewonnen hat, in der sich wieder atmen läßt. Mögen die Diplomatenkonferenzen weiterhin Theater machen; hier, um den großen Thomas Mann, sind die legitimen Vertreter jener Kraft aufgestanden, die, über die Köpfe der Betriebsamen hinweg, die Welt nach ihren größeren Gesetzen bewegt - seit langem zum erstenmal hat wieder das Wort der Geistigen ein Forum und somit Gewicht und Würde erhalten.

Lieber, verehrter Herr Dr. Diebold! Wenn ich Ihnen meine Ansichten über Ihr Buch, um die Sie mich baten, auf der Maschine schreibe, so deshalb, weil ich

mich schriftlich besser als mündlich ausdrücken kann und [um] bei der Gelegenheit aus dem Instinkt des noch jungen Redaktors gleich Unterlagen für eine eventuelle spätere Rezension heranszuschlagen. Ich habe diese zwei letzten goldenen Oktobertage in der 215

Stille meines Zimmers königlich unterhalten über der Lektüre Ihres Manuskripts zugebracht und freue mich, Ihnen als Fazit davon meine aufrichtigen, herzlichen Glückwünsche aussprechen zu dürfen. Auch meinerseits haben sich die gefühlsmäßig abschätzenden Spekulationen durchaus als richtig erwiesen. Ich glaubte in Ihrem Werk eine der meinen völlig konträre, daher von mir besonders geschätzte und beneidete künstlerische Wesensart feststellen zu sollen: Was Sie gebaut haben, ist im Gegensatz zu meiner monologischen Predigt ein runder und rechter Roman von der akkreditierten Art, gegen die es nichts zu sagen gibt, als daß sie leider nur wenigen von uns gelingt und gegeben ist, und die wir gewöhnlich mit der Ausrede zur sauren Traube machen, sie sei von den Meistern ein wenig zu lange schon legitimiert, um noch unsern ganzen Glauben zu haben. Ich dachte, ohne literaturkritische Ambition oder im Sinne des Epigonenhaften, meistens an Martin Salander, Bernard Brentano (wohl

mehr des Stoffkreises wegen), Fontane; die Figur Freytags erinnerte mich an einen ähnlichen Demokraten im «Blinden Seher» von Traugott Vogel, welchen Roman Sie ja schwerlich kennen. Das alles nur zur summarischen Einreihung. Die Qualitäten, die sie bestimmen, sind von der Art, die mir armem Lyriker niemals gegeben sein werden. Ich bewundere diese Beherrschung einer klassischen Form, die Sie mit großer Bewußtheit und nie versagendem Einfall durchhalten. Es gäbe ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie Sie eine Szene einführen, retardieren, mit vielen Antizipationen, Weiterungen, Parallelen, Vorstößen zum Ausgang zurückrunden, unter weislicher Verteilung von Rede und Darstellung, Spannung und Kontemplation, Schwarzgalligkeit und Licht, Bosheit und Menschlichkeit, Erbärmlichkeit und

Feuer, Bewegung und Ruhe. Die regelmäßige Umfänglichkeit Ihrer Kapitel scheint mir für großes Können, für Voraussicht und Reichtum zu zeugen. Sehr oft war es so, daß ich für meine Person wußte, es fiele mir schwer, nach der und der Ballung des Geschehens, der und der Auseinandersetzung, dem und dem Zusammenschluß noch weiterzuerfinden: ich habe bei Ihnen keine Verlegenheiten und keine Hilflosigkeiten feststellen können. Sie ziehen Ihre Entwicklungen, wie es mir vorkam, in der Weise eines Stativs immer

kleiner aus größer auseinander heraus bis zur präzisen Spit216

ze. Das, wie gesagt, wäre vergnüglich und lehrreich am Beispiel zu erweisen; Sie werden aber erraten haben, was ich meine. Ihre Kunst der Charakterisierung ist ganz hervorragend, für meinen Geschmack zuweilen sogar etwas allzu systematisch, so, wenn Sie die Figuren meistens immer sogleich bei ihrem Auftreten innerlich und äußerlich vorstellen. Niemand kommt freilich dabei zu kurz, und niemand ist

in Ihrem Werke so wie ein anderer. Das_bewundere ich neidlos, es gehört zu den Dingen, die ich in meiner Verblasenheit nicht oder nur zufällig einmal kann. Dabei sind die Typen bis zum Symbolhaften «getrieben» (im handwerklichen Sinne), bis an die Grenze des schon leise verstimmenden Plakatären. Ich, nach meiner Natur, könnte wohl nicht anders, als einen Amerikaner unamerikanisch darzustellen,

aus Scheu vor der Schablone. Wer in seinem Leben so viel wie Sie mit dem Drama zu tun hatte, wird hierin anders sein

und auch diesbezüglich den von Ihnen so viel besprochenen Mut zur «Banalität», zum

Gewohnten

üben. Ich habe die

gewisse Sorglosigkeit im Sprachlichen zunehmend über dem Interesse an den inneren und äußeren Entwicklungen der Erzählung vergessen; es schien mir, daß ein vorwiegend dialektischer Kopf, ein Schriftsteller mehr als ein Träumer, ein Kenner aller handwerklichen Geheimnisse, ein Mensch

von Herz und Verantwortungsbewußtsein zu mir sprach. Das durchgehende Symbol der Inflation, paradigmatisch für die Elefanteasis im Geistigen, Moralischen, Politischen, wie

sie unsere Zeit entstellt, gewinnt am Schluß mit dem Selbstmord Linkes dämonische Eindrücklichkeit. Wie Sie Schneiter plötzlich, unter Voraussetzung all dessen, was es erraten läßt, mit dem schwarzen Auge auftreten lassen, einen TIotenkopf, das gehört meines Wissens zu den Kunststücken aus unmittelbar dichterischer Eingebung. Man ist ungeduldig auf die Fortsetzung und neidisch auf den, der sie formen darf. Ich fragte mich, wer das Buch verlegen müßte. Es geht Deutsche

noch etwas

mehr als Schweizer

an, dem

Milieu

nach; doch möchten die Probleme, für Deutsche! wenigstens braune, durch die Hitlersche Korrektur überholt sein; der Schweizer wird an die Möglichkeit ähnlicher Erfahrungen erst dann glauben, wenn er sein Geld verloren hat. Entscheidend ist, daß das allgemein Menschliche, das unmittelbar

217

Ergreifende in dem Buche vor dem Politischen überwiegt. Es ist bunt, stereoskopisch, bewegt, interessant, spannend und voller, Menschlichkeit.

So ungefähr! Für das Vertrauen in mein unmaßgebliches,.weil möglicherweise durch mein eigenes Handwerk beeinträchtigtes Urteil danke ich Ihnen, lieber Herr Doktor, mit herzlichsten

Grüßen Ihr Albin Zollinger

Noch einmal Ramuz

C. F. Ramuz, der große Waadtländer Dichter, hat uns Unfreundlichkeiten gesagt, ähnlich denen, mit welchen sich

Keyserling

seinerzeit

in der Schweiz

unbeliebt

machte.

Hamsun und Jakob Schaffner bliesen ins selbe Horn. Zweierlei gibt mir zu denken. Einmal die Nervosität, mit der diese Kritik von uns aufgenommen wurde; dann der Umstand, daß die Schuljungen in der Ecke immerhin Ramuz, Keyserling, Schaffner und Hamsun heißen. Haben wir nicht die Großzügigkeit, Aussagen von Künstlern um ihres glühenden Kerns Wahrheit willen mit etwelchem menschlichen Kredit aufzunehmen? Künstler sind nun einmal keine Spezialisten der Wohltemperiertheit, ihre Heftigkeiten machen sie groß, und es stünde uns, die wir die Vorteile davon genießen, wohl

an, auch einmal ein Negativum der Erscheinung mit Würde zu schlucken. Ich selber finde es nicht sehr geschmackvoll, vom Ausland her auf die Heimat zu speien, die Berechtigung dazu ganz ununtersucht. Allein die Verwalter unserer Rechtspresse, die sich wie ein Mann gegen Ramuz erhoben, sind nun zu allerletzt diejenigen, welche ihm das zu sagen haben; charakterisiert es doch ihre ganze Haltung, daß sie aus unausgesprochenem Übereinkommen heraus jede interne Diskussion unterdrücken. Ihre Gepflogenheit ist es, einen Dichter günstigenfalls in der Unverfänglichkeit seiner Verse, nie aber in Rebellionen gelten zu lassen, die er sich als demokratischer Staatsbürger wohl einmal, und immer im Paroxysmus innerer Not, erlaubt. In der Sondernummer

218

«Schweiz» der Pariser Zeitschrift «Esprit», in welcher der ominöse Brief von Ramuz steht, findet sich auch der Satz:

«Nirgends haben die Schriftsteller weniger Einfluß auf das politische Leben.» Wir wollen nicht einmal vom politischen Leben reden; hat ein Schriftsteller bei uns (in der besagten gekränkten Rechtspresse) auch «nur» in kulturellen Dingen ein Wort mitzureden? Ja, solange er sich’s nicht einfallen laßt, die Vollkommenheit des Bestehenden zu bemäkeln! Dies zum Fall Ramuz aber nur beiläufig. Ein Aufsatz der «Neuen Schweizer Rundschau» behandelt ihn in der Weise,

daß er das gesamte Requisit der geistigen Schweizergeschichte gegen den Delinquenten aufführt, wobei man nur leider die Beobachtung macht, daß auch für seinen geistreichen und gelehrten Verfasser diese Geistesgeschichte vor der Schwelle der Gegenwart abbricht. Er sieht nicht, wie sehr er damit der eigentlichen Befürchtung des Waadtländers (denn daß es eine Befürchtung mehr als eine Behauptung ist, wird aus dem ganzen bitter-trotzigen Ton der Ramuz’schen Beichte spürbar) recht gibt. Einen Ramuz tröstet die glänzendste Vergangenheit nicht über das Vakuum der Gegenwart hinweg, Dichter sind in dem Grade Gegenwartsmenschen, als sie es nicht zu sein scheinen. Wenn wir es nun von

Literarhistorikern nicht verlangen, Lebende gegen einen Lebenden zu verteidigen, so steht eines fest: daß es in der vorliegenden Sache Positiveres für sie zu tun gegeben hätte, als eine Jeremiade der Gekränktheit anzustimmen. Es sieht beinahe so aus, als wäre niemand in der Lektüre des Heftes über den Stein des Anstoßes hinausgekommen, sonst hätte sich zweifelsohne die Verpflichtung ergeben, dem schweizerischen Publikum noch einiges mehr aus der Sondernummer der Pariser Zeitschrift mitzuteilen, um so mehr als sie doch

in ihrem ganzen Umfange von Schweizern geschrieben ist. Es hätte sich dann gezeigt, daß, was der Künstler Ramuz in der titanisch-cholerischen Laune seines Instinkts (in der sogar ein Gottfried Keller sich die eine und andere Übertreibung zuschulden kommen ließ) vor sich hinbrummt, etwa in dem Artikel «Federalisme et democratie» von Xavier Schorderet mit aller wünschbaren Wissenschaftlichkeit ausgeführt wird. Unter dem Titel «Necessite d’une culture» legt Arnold Kohler dar, welche Art Kultur in der Schweiz darniederliegt. Man liest die Begründungen mit Widerspruch (was man 219

Ramuz entgegenhalten muß: ist es anderswo anders? - freilich ein schlechter Trost! - denkt man auch über den Ausführungen Kohlers); die Schweiz hatte von Elisabeth Stagel bis zu Gotthelf und Albert Steffen gewiß so sehr «la tete mystique» als etwa das rationale Frankreich, und unsere Schulen sind nicht formalistischer als andere; die festgestellten Erscheinungen aber sind die, die auch uns bekümmern: Moralismus im verbalen Sinne, Akademismus, une «presse asservie» (geknechtete Presse), Konformismus («Die Tragik der Stunde ist gerade, daß sowohl der bürgerliche Konformismus als die Doktrinen des Autoritären, die uns zu verschlingen drohen, dahin führen, die Schweiz zu entpersönlichen: tatsächlich verraten sie das Genie des Schweizervolkes»), «l’esprit bourgeois, l’&conomie capitaliste, une paresse spirituelle... tout cela menace et compromet non seulement nos chances a venir, mais les bases politiques et morales sur lesquelles nous pouvions compter, et la mission meme de la Suisse». Der Beitrag Denis de Rougemonts, der das Heft redigierte, «Neutralite oblige», ein Meisterwerk positiver Kritik, hätte unverzüglich in die übrigen Landessprachen übersetzt werden und dem Schweizer vorgesetzt werden müssen; aber nach eidgenössischer Art verhustete man sich an einem bitteren Brocken und flüchtete sich vor Verpflichtungen des echten Patriotismus in Groll.

«Zürcher Illustrierte»

Ich hasse im allgemeinen die Illustrierten. Dieses Gefühl ist hintergründig und nicht leicht zu rechtfertigen. Ein Autor ist möglicherweise gegen das «Bilderbuch für Erwachsene» eingenommen, weil er die Billigkeit seiner Mitteilungsweise irgendwie als — nur zu erfolgreiche — Schmutzkonkurrenz empfindet. Kino und Illustrierte locken von der Versenkung, der Ernsthaftigkeit hinweg. Aber diese gewissermaßen brotneidische Erwägung (die freilich mehr als das ist) soll nicht zählen. Nirgends wie im unmittelbar wirkenden Bild wird die Spekulation auf die Sensationsgier ersichtlich. Das Glück des editorischen Spekulanten nährt sich am Ausmaß der Katastrophen; das zu beobachten, ist widerwärtig. Gott strafe diese nutznießenden Anomalienkrämer. Immer sind

220

sie natürlich auch dumm, was sich in ihrem Wiederkäuer-

tum, in den ewigen «Urnertypen», dem «Dichter in seinem Heim», am deutlichsten aber in dem völlig dilettantischen Textteil zeigt. Nun gibt es im Film die Renoirs und im Bilderbuch die Masereels, gegen die fürwahr nichts zu sagen ist. Bei den Illustrierten sind Verantwortungsbewußtsein und Qualität kaum zu finden. Schon rein technisch schlägt die «Zürcher Illustrierte» alle ihrer Art. Hier blickt nicht der Geldbeutel aus jeder Seite heraus; hier fühlt man das Walten einer vornehm pädagogischen Absicht, die Anstrengung verborgener Männer, welche das Wirken durch die Tat dem allgemeinen Moralisieren vorziehen und aus einem viel mißbrauchten Mittel das zu machen versuchen, was es seiner besseren

Bestimmung nach sein soll. Die «Zürcher Illustrierte» hat in manchen liebevoll und umsichtig ausgebauten Sondernummern

Sinn und

Geist unseres

Landes,

Probleme

der Zeit

darzustellen nicht nur versucht, sondern in überzeugender Weise vermocht, am schönsten wohl in ihren drei Nummern

über militärische, wirtschaftliche und geistige Landesverteidigung. Diese Leistungen verdienen es, von der gesamten Schweizer Presse hervorgehoben und unterstützt zu werden. Wenn man die Schwierigkeit, das Abstrakte für ein breites Publikum bildhaft zu machen, bedenkt, kann man nicht hoch genug von der Findigkeit dieser Redaktion denken, die es verstand, alle wesentlichen Seiten in ebenso charakteristi-

schen als originellen und ästhetisch ansprechenden Bildern schaubar zu machen. Ohne Besserwisserei kritisch in mahnenden Andeutungen (etwa über das Theaterwesen), liebenswürdig in der Anerkennung alles vorhandenen Positiven, wohlgewählt knapp in Bild und Wort, stellt sich das Ganze als ein überaus sympathisches, taktvolles und seltenes Angebot dar. Die Bemühung etwa, schwer faßbare Dinge der wirtschaftlichen Zusammenhänge augenfällig zu machen, zeugt von wahrer Höflichkeit dem Leser gegenüber, dessen Idiotie anderswo gerne zum Vorwand dafür genommen wird, das inhaltliche Niveau zu senken. Eine Illustrierte wird nicht dadurch schweizerisch, daß sie ewig eben Ringer und Schwinger, Trachtenmeitschi und Alphornbläser bringt (wenige von uns blasen das Alphorn); ein Reporter muß die Heimat

in Wirklichkeit,

nicht

221

nur

schlagworthaft,

erfaßt

haben, dann wählt er in der Fülle der Aspekte ein so typisches, uns allen heimlich teures Bild wie den «Blick von der Forch»ostwärts über den Greifensee nach dem Zürcher Oberland», um uns aus der Seele zu reden und aufzuzeigen, was schweizerisch wesenhaft ist. Mehr als solches Außerliche ist aber die ganze planvolle, subtile und durch Abwechslung vorsorgliche Redaktionsarbeit dieser Leute schweizerisch, dem internationalen Klischee abgewandt, ernsthaft, fleißig und männlich. Aus Gründen der geistigen Ernährung unseres Volkes muß

man

ihm wünschen,

daß es solche Gaben

erkenne und den erstaunlicherweise sogar in unserer Demokratie grassierenden Erzeugnissen wie der «Berliner Illustrierten» vorziehe; einsichtige, verantwortungsbewußte Männer bauen hier mit gutem Material Schutzwälle gegen die steigende Flut des Verhängnisses; sie seien respektvoll und dankbar mit Namen genannt: Textredaktor der «Zürcher Illustrierten» ist Dr. Friedrich Witz, Bildredaktor Ar-

nold Kübler.

Arnold Kübler:

«Der verhinderte Schauspieler»

Von dem als Dramatiker bekanntgewordenen Schweizer Arnold Kübler existiert seit ein paar Jahren ein Roman «Der verhinderte Schaupsieler», der es verdiente, aus seinem Dasein in Stille zu größerer Bekanntheit herausgehoben zu werden, gerade weil das Buch die Art, sich die Welt im Sturm zu erobern, nicht hat. Es gehört zu den verschwiegenen Werten, die langsam, aber nachhaltig wirken. Raben Drahtzaun, der aus bäuerlichen Verhältnissen und

aus dem «Krautdeutsch» Helvetiens kommt, gehorcht seiner Besessenheit zum «reinen Deutsch», das ihm zum Inbegriff der Form, zum Idol und Gral geworden ist. Er kasteit sich in der Schulung seines behinderten Organs, demütigt sich in den Anstrengungen des kleinen Schauspielers, gibt Vermögen und Frauen, den Frieden des Herzens an die Gewinnung des Ziels, dieses umfassenden Ausdrucks, in dem er die höchste

Menschlichkeit,

seinen

reinsten

Stil zu erreichen

hofft. Der Ehrgeiz mag so ausgefallen sein wie der aller Don Quijote; sein Glaube, seine Treue, seine Hingebung geben ihm die Größe,

um

der willen wir ihn ernst nehmen

222

und

lieben. Schon einmal hat ein Schweizer — Traugott Vogel in seinem Roman «Unsereiner» — das Hinausstreben aus der Enge, damals am Symbol des Lehms, den sich der Buchheld von den Schuhen streicht, dargestellt; bei Kübler ist es das Idiom, das Bäurische des Provinziellen, das in der Bemü-

hung um die Höhen der Universalität, der Hochsprache, überwunden werden soll. Drahtzauns «Theatralische Sendung» ist für den Kulturschweizer recht symbolisch. Das in der Heimat akkreditierte, gleich wie das Touristenschrifttum, dasjenseits der Grenzen für den Ausdruck des Schweizerischen gehalten wird, hat eine völlig einseitige Vorstellung von unserer Art erzeugt. Als ob wir alle im Sennenkäppchen herumliefen!

Der

Liebhaber

Eichendorffs,

der Liebhaber

Rimbauds gedeiht auch im schweizerischen Mittelland; seine Größten haben ins Bewußtsein einer übernationalen Allgemeingültigkeit aufgeragt und an ihrer Sehnsucht nach dem Gesamtdeutschen (im geistigen Sinne, wie ihn Gottfried Keller verstand) ein Ressentiment gegen die heimische Handorgelei genährt. Drahtzaun verschreibt sich seiner Vision mit der ganzen Ausschließlichkeit seiner Jugend aus dem Vorrecht der Jugend, für ein Ideal ungerecht zu sein. Wenn, wie in Drahtzaun, die Weltfremdheit sich im Hir-

tensohn auswächst - und auch in dieser Seite des Symbols ist Kübler für Schweizerisches typisch — dann nimmt sie geisterhafte Form an. Drahtzaun wandelt seine Spirale zur Höhe übers Theater, das ihm mißlingen muß, ins Archaische einer

italienischen Insel mit «Behausungen vorzeitlicher Inselbewohner, die niemand gesehen, von denen niemand geschrieben, die nichts hinterlassen als diese kargen Zeichen ihres einstigen Daseins. Wo waren sie? Wie weit fort in der Zeit? Verlaufen in der Ewigkeit!... War er selber noch in eines Menschen Gedanken? — Wie? Oder hatten sie ihn vielleicht aufgenommen,

zu sich genommen,

die alten Zeiten, diese

Ochsenkarrenzeiten, diese tausendjährige, beschriebene, immer nur Geist und Gedanke gebliebene Welt?» In Paris macht das Leben einen letzten Versuch, ihn dem Glück zu

erhalten; eine der holdesten mir bekannten Liebesgeschichten schildert die Bemühungen des Mädchens Kathrin, ihn aus seinen Ätherhöhen herunter in die Welt der Leibeswärme zu holen; er widersteht mannhaft, er geht eine Weile in

der Beleuchtung des hochfahrenden Ästheten, er, den die 223

Schmerzen aus seiner Verpflichtung beinahe umbringen. Er mietet sich auf der Höhe einer Wendeltreppe in einer Art Windfalleein, in der er sich mit der aufgehängten Wolldecke gegen den Tumult von außen so gut als möglich schützt. Auch das ein nettes Symbol! Und versenkt sich in Vergangenheit, Vergangenheit! «Drahtzaun kannte sein Deutsch, darum hatte er Ehrfurcht vor dem Französischen. Nun wußte er, daß ein Leben gerade genug sein kann, um die eine Sprache kennenzulernen.» Die Begegnung mit der wirklichen Welt kommt an dem Orte,

wo

seine

Rente

zu

Ende

geht!

«Ach,

es fiel ihm

manchmal schwer, zu leben, im Zimmer drin ging alles gut, aber der Umgang mit Menschen brachte Wunden.» Die Not zeigt ihm ein anderes Deutschland als das seiner Dichter, das Deutschland des «Volksbankrotts», das Berlin der verarmten Existenzen, der Säufer, Makler, Spekulanten. Das Zusammentreffen wird hart genug, «denn die Träumer, die sich an

ihre Jugendsüchte gewaltsam klammern, im Leben nicht wach werden, sondern auf den milden Inseln des Anfangs sitzenbleiben wollen, sind nicht nur gefährdet, sind auch eine

heimliche Gefahr für die Wachen.» All das ist in so edlem Fluß, mit Treue und Stetigkeit der Diktion erzählt, voll Subtilität des Details, voll gedanklicher Schönheiten und Klugheiten, voll stiller Spitzbübigkeiten, Dokumenten der schönsten Menschlichkeit. Wenn

es schlimm kommen

sollte, könnte die Geschichte

dieses schweizerischen Hans im Glück noch einmal tragisch sinnbildlich werden; vorerst macht sie keinen Anspruch auf so prophetische Bedeutung, und ihre Verschollenheit im Lande hat Gott sei Dank noch keinen andern Sinn als den des Bedauerlichen.

«Leben im Grund» von Traugott Vogel Lange bevor es für den Schriftsteller die Gefahr gab, in die Nähe von Blubo-Adepten zu geraten, hat der Dichter Traugott Vogel nichts anderes getan als die Heimat zu verherrlichen, dies sogar in Kritik und Zuspruch, zu denen ihn liebender Eifer verpflichtete. Unabhängig aus natürlichem Gefühl, hat er niemals Moden mitgemacht, weder menschli-

224

che noch politische noch literarische, und erlebte durch diese Konstanz seines Wesens so manche schließliche Rechtfertigung an den Orten, wo der allgemeine Sturm und Drang sich auf Grundwahrheiten des Menschlichen und Göttlichen besinnen mußte. Er war Revolutionär aus dem Herzen mehr als aus Theorien, nur so, daß er ihn vor einen Wagen spannte, den nicht zuschanden zu fahren er sich selbst zur Bedingung machte. So blieb seine Dichtung bei aller persönlichen Prägung durchaus altmodisch in ihrem Habitus, ein wenig hausbacken in der Umgebung von europäischem Raffinement; wer auf Neuheit um allen Preis, auf Kapriolen und

Extravaganzen aus ist, findet sein Futter nicht im bäuerlichen Garten dieses Schweizers. Auch sein neuer Roman, «Leben im Grund oder Wehtage der Herzen», welchen die »N. Z. Z.» im Vorabdruck brachte,

bleibt im Kreise des allernächsten Lebens, bei Dingen des Alltags von einfachen Menschen. Von allen bisherigen Büchern des Autors erscheint mir das vorliegende als das am bewußtesten gebaute, formal zuchtvollste, in seinem Ganzen wie im Detail. Der Wille zur Konzentration streift an die Askese; infolge der «Magerkeit», bei welcher das Werk erhalten bleibt, tritt sein Gedankengefüge mitunter beinah allzu spürbar hervor, neigt es zur Allegorie, deren Stil mit dem gegebenen des Realismus zu interferieren droht. Dieser verträgt ja Symbol nur in der Verborgenheit unterm Fleische von Epik. An solcher wird es bei Traugott Vogel so schnell nicht fehlen; es ist mehr der Moralist in ihm, der ihn treibt, die Ordnungen betonend, seine Erfinderlust zu bezähmen. Durch die Übersichtlichkeit der Linienführung und die Planmäßigkeit ihrer Verknüpfung bekommt der Roman ein wenig das Aussehen einer Novelle. Mit wundervoller dichterischer Kunst wird das Thema ein- und durchgeführt; von allen Seiten der Beziehung rinnen die Wasser, bis die Arche in aller Form flott wird; die Hımmel rauschen, der Wasserbutz

der Tiefen spielt in die Menschenverhältnisse hinein; von der klaren Tüchtigkeit bis hinüber zum Aberglauben, zwischen Jugenddrang und bewahrendem Trotz webt Schicksal. Josefine sieht Friedrich im Gewitter: neben der herrlichen Vision des «Urmeers» um den Albis wohl die grandioseste Partie. Wie immer im Volkhaften, spielt Dämonie bestimmend in das Verhalten

dieser Erdmenschen

225

hinein; das Leben

ım

Grund hat eine Dimension auch nach der Seite des Spukhaften; was einen Zuschuß an dichterisch Irrationalem in das Werk bringt. Angesichts einer so biblischen Figur wie der Werderin fragt man sich freilich: Gibt es das noch, ist das noch Teil unserer Wirklichkeit oder insofern Literatur, als eine Ver-

pflanzung von Vorgestrigem erforderlich war, sie herbeizuschaffen? Der Moralist greift auf vergangene Größe zurück, um sein Beispiel zu bauen. Traugott Vogel hat insgesamt etwas vom Konservativismus Gotthelfs. Auch die Herzigkeit einer Figur wie des Mädchens Theres wirkt in dieser Zeit fast nur noch als süße Reminiszenz. Allein, wie gern nimmt man sie an! Das Recht des Dichters, Frauenbilder zu erfinden wie

die bittere Erde sie nicht gibt, ist unseres Wissens unbeschnitten geblieben. Der alte Bauernknecht Seiler, ausgestattet mit allen Schnörkeln der Kauzigkeit, verleiblicht in greifbarer Lebenswahrheit alle Erdengeister um den Achhof. Ihm gegenüber vertritt der Held der Geschichte, Rudolf, Wasserbläue und Offenheit. Um ıhn sind die Attribute der Technik, mit denen er schaltet und waltet, um den Niedergang seines Erbes zu bannen; doch entläßt der Dichter auch ıhn in der Urgebärde des Pflanzens, er führt ıhn heim zum mütterlichen Gewerbe des Gärtners. Seine Härte und Tatkraft, seine

Rebellion gegen die Gemeinschaft, vor der er sein Eigentum verteidigt, hat Verwirrung und Leid übers Haus gebracht, und es zeugt für das Dichtertum des Verfassers, daß er die Lösungen nicht pedantisch besorgt, vielmehr die Spannungen über das Ende hinausreichen, die Erschütterungen nachschwingen und einen Rest von Tragik bestehen läßt. So bewahrt er sein Werk vor dem Solipsismus im bloßen Ästhetischen; es verbleibt in Zusammenhängen des Lebens, in das

es noch lange herüberwinkt. Das Ganze des Buches ist eine richtige Stangenkonstruktion; an welcher Stelle man

es auch trägt, es hält in sich

zusammen. Man könnte auch sagen, es habe den Bau eines Spinnetzes mit seinen Parallelismen, in der kreisartigen Struktur und in dem Minimum an technischem Verbrauch. Der große Guß gibt dem Dichter eine Sprache von epischer Ruhe ein, seine Erzählung läuft in der Strophigkeit des Volksliedes ab. Die Ambition ist gering und groß zugleich: sie will das

226

Volksbuch, nicht mehr und nicht weniger als das Volksbuch der Tradition. Hat denn jeder sein eigener Revolutionär zu sein? Mancherorts ist er nur Mode. Das entscheidende Revolutionäre des Künstlers wird allezeit in der Unverwechselbarkeit seines Schöpfertums liegen, und diese ist Traugott Vogels typischer Art mit Grund nicht wohl abzusprechen. Er hat ın Fritz Buchser einen wesensverwandten Künstler beigezogen, mit dem er sich über den Bildschmuck kameradschaftlich besprach. Das Ergebnis ist ein mustergültig aufgemachtes Buch mit einem zeichnerischen Akkompagnement von hoher Könnerschaft und einer Tonigkeit, die sich dem Satzbild ebenso wie dem Geist des Gehaltes einfügt - ein in jeder Beziehung schönes Buch.

Traugott Vogel: «Der Engelkrieg» Dieses moderne Märchen uralten Motivs hat seinen Schauplatz in Zürich und im Himmel. Das ist schon gleich für Traugott Vogel charakteristisch, ebenso wie die Verquickung Miltonscher Visionen mit dem Gebrauch etwa des Radioapparates. Dem schlimmen Helden der Geschichte droht das Gericht bald der Cherubim, bald der städtischen Schulpflege. Wenn es bei Mörike Blaubeuren sein darf, weshalb nicht bei Vogel die Vaterstadt? Der Wechsel von der einen Ebene auf die andere hinüber ist klug und überzeugend bewerkstelligt, die Verflechtung von «Realität» und «Jenseits» hat für mein Gefühl nichts Störendes, sondern einen eigenen Reiz, da sie dem Wesen dieses Dichters zutiefst entspricht; Realismus und romantische Fabulierlust sind Zettel und Einschlag seiner Dichtung. Das Gewissen verpflichtet ihn, seine Handlung auf der Erde und die ewigen Themen in der Gegenwart zu verankern. Er ist ein leidenschaftlicher Moralist mit dem Glauben ans Wort und an die Grundkräfte des Menschen. Sie in Gefahr zu sehen, spornt seinen Fleiß und seine Erfindung an. In der vorliegenden Geschichte hat der Dichter einen Zeitspiegel für die Hand der verstehenden Jugend geschliffen. Wenn je, so sind heute Engel und Teufel (vor allem die Teufel) ersichtlich, über das Symbol hinaus Gestalt geworden. Eine Figur wie der E. Th. A. Hoffmannsche Dr. Tansa hat in unserer Zeit wieder alle Glaubwürdigkeit für 827.

sich, Gott sei’s geklagt. Der luziferische Frevel hat vom Anfang der Tage an immer dasselbe Ergebnis gezeitigt; es augenfällig zu machen, ereiferte die Menschheitserzieher aller Zeiten. Traugott Vogel wendet sich mit besonderen Hoffnungen vor allem an die Jugend, und fraglos wird er bei ihr die ursprünglichst vorgebildeten Bedingungen des Verständnisses finden; Kinder leben in diesen Regionen von Natur aus. Hinzu kommt, daß Traugott Vogels spezifische Phantasie die Reviere mit irdischen Würzigkeiten auffrischt, so wenn der Knabe auf seinem Weg in den Himmel nicht bloß die obligaten Lilien, sondern überdies Johannisbeeren von elysischer Gesundheit findet. Vogels Wortwitz, seine Fähigkeit der antithetischen Erfindung sind bekannt, manchmal vielleicht sogar ein ganz kleinwenig zu offenkundig, stellenweise streift er die Gefahr der Abstraktion, Dichtung steht mit der Absicht nicht auf gutem Fuß, alles muß gerade Kindern wohlkaschiert und mit List eingehen, wenn es die ganze Wirkung tun soll. Die Geschichte hat in ihrer Wohlausgedachtheit etwas Technisches an sich, ihre Form

liegt in der Konstruktion, die keine Nebendinge duldet; das vertieft den Eindruck von Richtigkeit, Notwendigkeit und Schönheit des Ganzen wie des Details. Wenn der Autor, wie

hier, mit begabter Hand auch noch die zeichnerische Ergänzung besorgt und das Werklein vom Verlag so vorbildlich aufgemacht wird, dann entsteht ein Jugendbuch von seltener Einheit: «Der Engelkrieg» ist zum Weihnachtsgeschenk dieses apokalyptischen Jahres wie gemacht.

Traugott Vogel als Zeichner Die Zweiheit Dichtermaler oder Malerdichter ist in der schweizerischen Kunst sogar die Regel. In wenigen Figuren freilich bleiben beide Berufe als Berufungen nebeneinander bestehen; meist tritt der eine vor dem andern zurück, verkümmert zur bloßen Liebhaberei oder geht völlig ein. Der Ersatz zeigt sich im eigentlichen Gewerbe unmißverständlich: Die Dichtung gerade Traugott Vogels hat irgendwie etwas Gezeichnetes an sich, am deutlichsten noch in seinem

Erstling «Unsereiner». Der Schweizer ist weitgehend Augenmensch, Traugott Vogel in einem Maße, das ihm physisch 228

gefährlich wird; Reisen strapazieren sein Auge so sehr, daß es ihm leicht erkrankt. Eine allzu symbolische Augenkrankheit ist diesem körperlich scheinbar robusten, in Tat und Wahrheit überempfindlichen, von innen heraus anfälligen Menschen Geißel und Bedrohung. Es kommt hinzu, daß er durch seine vielseitige Veranlagung richtig übermenschliche Arbeitslasten schleppt. Wenn er, gemessen an der Muße, die ihm für seine eigentliche Bestimmung bleibt; ein Schwerarbeiter genannt werden kann, so ist er das nicht aus literarischer oder materieller Ambition (für die letztere gäbe es wahrlich klügere Gelegenheiten als die Dichtung!) — er lebt in der Fron

seiner Gesichte,

er muß,

er ist buchstäblich

ununterbrochen in innerer Tätigkeit. Der Schlaf, in den er steil wie ein Stein abfällt, ist sozusagen sein einziges Refugium vor den Beanspruchungen seines Geistes und seines Herzens. Selber redet er sich gerne mit der Behauptung aus, seine Nebenbeschäftigungen seien ihm lauter Erholung. Diese Nebenbeschäftigungen sind: eine wahrhaft mustergültige Kollegialität — die Angelegenheiten seiner Teilnahme am Werk der andern, der Jungen vor allem, auch unter Malern, sind so

weitverzweigt wie das Spionagesystem einer Großmacht; sein Schultheater — gerne riskiert er die Lächerlichkeit seiner Leidenschaften, denn ihm ist nichts zu gering; das Hörspiel, der Film, das Theater, auch die Jugendschriftstellerei will er mehr als Dependance, unterhalten zur Ergötzung seiner vielgeliebten Kinder, betrachtet wissen. So etwas wie eine heimliche und daher blutende Liebe ist ihm die bildende Kunst. Er hat mehr als einmal in schwermütiger Verschattung seiner Augen versichert, daß er bei ihr hätte bleiben sollen, und in der Tat, wer den Zeichner Traugott Vogel nur aus dem Buchschmuck seiner «Spiegelknöpfler» kennt, hat nicht den ganzen Eindruck seiner malerischen Begabung. Ich habe jene Illustrationen entstehen sehen. Es war im Frühling, das Manuskript lag für den Druck bereit; traumhafte Wochen hindurch gab der Dichter sich damit ab, Dutzende von Blättern mit der zeichnerischen Fixierung seiner Vorstellungen zu füllen. In einer Schale lag Seidelbast, ein Kind war ihm geboren worden, er lebte in einer kleinen Dachwohnung, die in die Sonne hinaufragte; hier saß er am Fenster und kritzelte hingegeben. Der Held seines Bubenbu-

229

ches, Toni, erhielt sein kindlich offenes Gesichtchen, Heiri

sein redliches, etwas beschränktes Haupt. Waldrinde duftete unter dem Bleistift hervor, ein Holzschopf knisterte von trocknenden Scheitern. Da standen «Diebe» (-sten Zahnbürsten) über eine Brandmauer Wiedikons herabgemalt. Eine Bettstelle, von einem Katergespann gezogen, stob in die Lüfte davon. Das Kompositum der Vogelschen Art: Naturalismus, Phantastik, Innigkeit und Humor, erstrahlte unver-

fälscht auch im Medium des Graphischen. Leider machten es Voraussetzungen der Reproduktion nötig, daß die Illustrationen auf Transparentpapier durchkopiert werden mußten. Das Schwebende und Aparte verlor zugunsten der linearen Klarheit. Kommt einmal die Rede darauf, so gräbt Traugott Vogel seine alten Mappen aus. Ihr Inhalt hat etwas von vergilbten Liebesbriefen. Mancher Meister hat keine besseren Erstlinge vorzuweisen, und es ist unschwer abzuschätzen, was aus Vogel auch in der Tätigkeit des bildenden Künstlers geworden wäre, hätten die Forderungen des Lebens nicht seine Kräfte blockiert. Erstaunlich ist seine porträtistische Fähigkeit. Ein Blatt wie «Jakob Bersinger», der Holzschnitt «Kolleg Essig» lassen nichts an Ausdruck des Typischen zu wünschen übrig. Immer wieder treibt es den Maler, das primelhaft Knospende junger Bauernmädchen in seinem Dufte festzuhalten. Die Reproduktion wird den Hauch von «Ewigkeit», dieses entscheidende Geheimnis jeder Kunstschöpfung, nur mangelhaft wiedergeben, fürchte ich. Man denke sich ihn hinzu, und man wird die Bedeutung dieser Fragment gebliebenen Welt ahnend erfassen, nicht ohne Wehmut im Gedanken an das Jahrhundert, das für die Kräfte der Zerstörung alle Mittel, für die des bauenden Menschengeistes nicht viel mehr als Almosen einsetzt.

Monique Saint-Helier: «Morsches Holz» Ein wahres Kunstwerk, also ein Kunstwerk, hat es an sich,

daß es in der Richtung auf die Richtigkeit neuerdings vorstößt. In dem Sinne ist es immer eigenwillig und revolutionär; indem aber das menschliche

Erlebnis zurückliegt, die

Wahrheit der Welt ein Ausgangspunkt ist, wird das Zeugnis darüber zugleich konservativ (mit Beziehung auf den Zug 230

zur Verfälschung) und allgemein. Guillaume Al£rac, der eine Schulstunde dadurch originell macht, daß er von den Formeln auf Selbstverständlichkeiten der Wahrheit zurückgeht, wird in diesem Buche ausdrücklich als «konservativ» bezeichnet. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie hier alles Allzubekannte revidiert wird, der Tod der Toten etwa, der

Reichtum Merkmal

der Reichen

oder die Kälte der Kalten.

Das

erscheint denn auch im Stil; die Reprise, in den

mannigfaltigsten

Verschlingungen,

beherrscht

das

ganze

Werk. Es hat etwas von Geflochtenem an sich, im Großen wie im Detail, in der Art wie Geschehnisse eingeführt,

überschnitten, weitergetrieben, retardiert und zum Schluß gebracht werden; die Teile leben vom gleichen Geheimnis der Beziehungen. Wenn Monique Saint-Helier am Beginn eines Kapitels beiläufig zeigt, daß auf dem Hofe Jonathan Graews wahrscheinlich Wäsche gehängt wird, dann kann man sicher sein, daß diese Wäsche am Schluß ihre Wiedereinführung, die eindrücklichste Vertiefung ihrer impressionsund bedeutungsmäßigen Anwendung erfährt. Wenn der Pastor Bertrand de la Tour, was ein anderer Pfarrer auch tut, seinen Regenschirm mitnimmt, dann soll man einmal verfolgen, was diesem Regenschirm für Aufträge an Symbol mitge-

geben sind. Dabei ist nichts von Dürre der Allegorik in dieser Dichtung, durch den Umstand, daß alle Bezüge die selbstverständlichsten sind. Genau so tiefsinnig sind Leben und Dinge der Wirklichkeit. Nichts in diesem peinlich genauen Buch wird ohne Sinn angeführt. Monique Saint-Helier hat noch die Uhrmacherhände ihrer Ahnen. Ihre Uhrmacheraugen, dazu alle Sinnesfähigkeiten der Gutsbesitzer unter ihnen; vor allem die Nase. Nie, ohne ihre Nase, wäre sie eine

solche Meisterin der Stimmung, der Atmosphäre. Die Nase ist es, die sie vor dem Peinlichen des Genauen bewahrt. Ihre Genauigkeit ist nicht herrschend, sondern dienstbar; dem Inneren dienstbar. So stimmt denn alles traumhaft wie an

einer Uhr. Nie kommt man darauf, Verdacht zu schöpfen; so wie diese Frau alles Gegenständliche weiß und kennt, regiert sie durch visionäre Erfassung der inneren Realitäten, — für die sie immer auch die exakteste Entsprechung im Sinnhaften sieht. «Den Mantel vorwurfsvoll beriechend, wanderte

der Kater vom Hut zum Schirm.» «Noch schlimmeres versuchte er mit der Hand zu entfernen und gab es auf.» In 231

diesem «und gab es auf» liegt dann ein Schicksal von Geschlechtern. Abstrakta sogar werden der Dichterin gegenständlich: «... er bückt sich, als sähe er auf den Fliesen etwas

glänzen... — die Hochzeit.» Ihre Bilder verblüffen durch Sachlichkeit: «Das seidige Krachen der Flammen», ein «Span» vom Wachs der Kerze, die «Krallen» der Distel, «... und die Stricknadeln machten mit großer Höflichkeit ıhr Stricknadelgeräusch», «... nach der Art der wartenden Hunde, die das Maul ein wenig aufsperren und innerhalb ihrer Haare darüber zu lachen scheinen, daß man langsamer geht als sie.» Es ist schon auch mit dieser Dichterin so: «Um sie herum lauerten die Dinge voll Wissen, voll Aufmerksamkeit und Geheimnis.» Jeder Autor gibt, ohne es zu wollen, einmal irgendwo in seinem Werk eine Analyse seiner selbst. Im Roman der Saint-Helier finde ich sie auf Seite 75: «Es war auffallend, wie die Augen Guillaume Aleracs fachmännisch werden,

sich dem

Gegenstand

unterordnen

konnten;

von

keinem Gefühl bewegt und doch voll Leidenschaft studierten sie einen Fall; jede Empfindung oder Teilnahme zog sich aus den Augen zurück; man hatte den Eindruck, daß sie nur noch zwei Instrumente waren — Auge gewordene Intelligenz — und daß nichts, was die Seele betraf, ihrer tragischen und

fast mechanischen Hellsichtigkeit verborgen blieb.» Diese Frau ist von einer sensiblen Intelligenz der Seele. Die Nüstern ihrer Intuition wittern die letzte Nuance der Beziehungen; sie vergißt nichts und holt alles auf, wiederholt und erweitert in tausend Variationen und Anspielungen. «Die gewöhnlichsten Dinge stehen plötzlich voller Botschaften; überall erblickt man Zeichen.» So ein Mensch ist dann ein Dichter, ein wahrhaftiger Dichter. Die Geduld

ist ein Merkmal

des Genies; sie kann auch

Treue, Gehorsam, Nötigung genannt werden. Dieses Buch hat nur für wenig äußere Handlung die Zeit. Von innerem Geschehen überbordet es. Inneres Geschehen heißt aber hier nicht Introversion, Reflexion, nicht einmal eigentlich Lyrik; es handelt sich um eine spezifisch neue Art indirekter Epik, wenn ich so sagen darf: Figur, Charakter, Schicksal entstehen wie von selbst durch dieses Zellenwachstum aus innen, aus der Fixierung der Beziehungen — denn anderseits, und das wiederum steht der Langeweile des Pedantischen entgegen, kommen aus der Annäherung der Spannungen Blitz-

232

schläge von maximaler Schärfe; die Andeutung umfaßt Visionen,

Schelmereien,

Weltwahrheiten,

Grauen,

Tragik,

Goldglanz der Schönheit. Die Dinge stimmen so unheimlich aufeinander, daß die Dichtung selbst mitunter schon in die Kreatürlichkeit einbezogen wird. Ihr erster Teil, eine verwikkelte, umständliche Geschichte, spult sich unverhofft in den launischen Satz zusammen: «Jungfer Huguenin rollte ihren Wolleknäuel auf.» 4 Es ist eins der Bücher, über dessen Lektüre man, wie in einer Liebe, den ungerechten Gedanken mitschleppt: Ach, alles Bisherige war doch eigentlich nichts im Vergleich damit! Seine Übersetzung aus dem Französischen, die R. J. Humm

besorgte,

kann

nicht anders

als meisterhaft

sein,

wenn sie den Eindruck solcher Präzision nicht störte.

Federico Garcia Lorca: «Zigeunerromanzen»

Ein herrliches und willkommenes Buch ist in der Verlagsbuchhandlung Stauffacher, Zürich, erschienen. Für diese hat ein Enrique Beck die «Zigeunerromanzen» Federico Garcia Lorcas ins Deutsche übertragen; wir haben so endlich eine größere Sammlung von Lyrik des genialen Spaniers bekommen. An ihrer Hand lassen sich allerlei interessante Betrachtungen anstellen. Federico Garcia, ein völlig unpolitischer Denker, wie man uns versichert, ist im Bürgerkrieg von den Falangisten erschossen worden. Man sollte denken, wir alle hätten die Kugel, die dieses seltene Herz traf, hören müssen, damals; doch was hören wir noch, in dieser Zeit. Eine

spätere Menschheit wird unsere Trümmer absuchen und erfahren, was alles darin zugrunde ging. Lorca war der Sänger des Volkes, geht in seinen Liedern unter dem Volke um, unvergessen und allbereits Mythos. Nun, falls die vorliegenden «Zigeunerromanzen» für diesen Dichter typisch sind, kann man das spanische Volk zu dem, was ihm liebenswert ist, beglückwünschen. Im deutschen Europa ist so etwas Angelegenheit der Kenner, nicht der Laien. Im deutschen Europa müßte dieser Sänger den eigenwilligen Avantgardisten zugezählt werden. Wer von uns dichtete:

233

«Und auf somnambulen Ambossen sangen die Hämmer des Reiters ung des Rosses Schlaflosigkeit»,

der bekäme es mit der Auflüpfigkeit der «breiten Massen» zu tun. Wer von uns dichtete: «Und sie verbergen im Kopfe eine vage Astronomie inkonkreter Pistolen», der hätte zuviel von der Gutwilligkeit der Leser verlangt, auf keinen Fall machte er sich damit populär. Der Gegenstand wohl, auch einzelne Lyrismen, machen die Volkstümlichkeit Lorcas verständlich, das Ganze hat nicht die Art dazu. Das

Ganze ist genial intuitiv, von der Launigkeit einer lyrıschen Sensibilität ohnegleichen, ohne Fügsamkeit des willigen Ohres sogar schwerverständlich, aus der Verwandtschaft Picassos, voll der kühnsten, wundervollsten Vergleiche: «Efeu schüttelnder Schauer umrankt sein verbranntes Fleisch», «Engel mit langen Zöpfen und mit Olivenölherzen», «Und eine kurze berittene Brise springt auf die bleiernen Berge», «In die Patronentaschen dringt Geflüster von Immortellen». Das Ganze ist ein Gefunkel von Spanierblut, «spanischer Geist arabisch-hebräischen

Stadt mit den Türmen Paraphrase

erhobene

Ausdrucks»,

«moschusduftende

aus Zimt», — ganz in dichterische Art eines Landes,

rational

nicht zu

erfassen, in obersten Wipfeln der Ahnung herrlichste Lyrismen blühend: «Deine Augen spiegeln fiebrig Landschaften trabender Reiter», «Und die nächtlichen Sterne wurden zu Immortellen», «Rinder und Rosen schliefen», «und war auf

der Suche nach Brot und nach Küssen», «Verhaltene Lymphe aus Brunnen treibt Stille aufin den Krügen», «Stille von Kalk und Myrten».

Kurz, herrlichste, reinste Lyrik, über

deren Genuß man sich fragt, wie denn nun dieser Liebling der spanischen Freiheitskämpfer vor dem Anspruch jener Doktrinäre besteht, die vom Dichter Verleugnung seiner eigentlichen Dimension und Politik eines Politikers verlangen. Die Übertragung scheint gut zu sein, denn man empfindet sie nicht als Übertragung. Das Vorwort aus der Feder eines persönlichen Freundes von Lorca hat ganz den Ton abgöttischer Verehrung, die alle Überlebenden dem großen Toten bewahren. 234

Aphorismen von Ch. Tschopp Bald da, bald dort in schweizerischen Zeitungen und Zeitschriften las man gelegentlich Aphorismen eines Ch. Tschopp, welche dadurch auffielen, daß sie noch richtige Aphorismen waren: elastisch von Spannung des Gedankenbogens, von knappem Schuß ihres Pfeils. Nun hat sich der Schweizer Spiegel Verlag ein richtiges Verdienst damit erworben, sie in einem aparten Bändchen gesammelt herauszugeben. Wo man hineingreift, rollt lötiges Gedankengold hervor. Wie höflich sind doch Aphorismen durch ihre schlagende Andeutung, die auch dem Leser Verstand zutraut; wie kurzweilig das Spiel, das Vorausgesetzte einer Sentenz retrospektiv zu entwickeln. Aphorismen sind zeichenhafte Titel ungeschriebener Bücher. Im vorliegenden Falle handelt es sich nicht selten um humoristische Bücher, das Seltenste und

Schwierigste, das Verdienstlichste in dieser Zeit. Sinnsprüche haben das spezifische Gewicht von Lyrik: zum selben Preis dasselbe Maß Extrakt, Kern ohne Schale. Man ist reell bedient mit solchem Wortlaut: Was man ersehnt, ist der

Feind dessen, was man besitzt. -— Mit dem Sperling in der Hand denken wir nur an die Taube auf dem Dache. — Dem geschenkten Gaul sollte man ins Maul sehen dürfen. — Ungeliebte Mädchen sind ungelesene Bücher. — Jemanden trösten heißt, ihn um die heilsame Verzweiflung betrügen. — Geben können ist seliger als annehmen müssen. — Man handelt selbst nach Notwendigkeiten und kritisiert die andern nach Idealen. — Die Jugend ist ein unerfüllbares Versprechen. — Es gibt Binsenirrtümer. — Gefurchte Stirn verrät nicht immer gefurchtes Hirn. — Die Theorie ist die nachgelieferte Voraussetzung der Kunst. Kleine Tugenden machen beliebt, große unbeliebt. — Der Krieg ist die Strafe für unsern «Frieden». — Im Geschichtsunterricht vertrocknen die Taten zu Daten.

— Paradoxa

sind wie Gewürze:

Nicht nährend,

aber reizend.

Meinrad Inglins «Schweizerspiegel» Das Attribut der Außergewöhnlichkeit gilt für dieses Buch in vielfacher Anwendung. Schon dem Umfang nach fällt es aus 235

den Maßen der Norm. Gehaltmäßig ist es ein ausgesprochen «öffentliches» Buch, eine Angelegenheit der Nation, nicht einer Liebhaberei. Ein Volk wird darin zur handelnden Figur, das Schweizervolk im Symbol seines Heeres. Außerordentliche Zeit in der Kulmination typischen Geschehens erhält ihr Denkmal, ein gültiges Denkmal, wie ich meine, durch des Künstlers Fähigkeit der Schilderung ebenso wie der Gestaltung von Idee im epischen Individuum. Ohne Not des Zwangs wird hier die Schweiz zum Modell von weltgeschichtlichem Vorgang, zum Schachbrett, auf welchem im Kleinen, dafür übersehbar, der Kampf in tödlicher Algebra

ausgefochten wird. In dem Sinne darf Inglins Buch sogar ein Weltspiegel genannt werden. Es hat aber auch etwas von der Perspektive des Mikroskops an sich. Die Veränderungen im Äußeren sind zu verfolgen am Atom der Ammannschen Familie. Das mag es sein, was diesem Epos als Eindruck der Gültigkeit, Ruhe und Größe eigen ist: daß es die Symbole in ihrem Schwerpunkt trägt, durch vollendete Organisation seiner gedanklichen Anlage kosmisches Gefüge bekommen hat. In epischen Realismus verkleidet, treten die Kreise und Parallelismen nicht an die Oberfläche; es wird schlechthin

erzählt, nicht Allegorie konstruiert; Weltspiegel auch seiner Form nach, erlaubt dieses Buch dem Einfachen Handlung, dem Aufmerksameren Idee der Geschichte zu erkennen. Nach der Art des guten Volksbuches übt es nur sanften Zwang der lehrhaften Führung aus, dirigiert es das Unterbewußte mehr als die taghelle Einsicht. Massen werden entscheidend über das Unterbewußte beeinflußt. Die didaktische Energie des Inglinschen Romans scheint mir Möglichkeiten zu enthalten, die von unabsehbarer Auswirkung sind,

wenn es gelingt, das Buch ins Bewußtsein der breitesten Schichten zu bringen. Dem steht nicht wenig sein hoher Kaufpreis entgegen. Das bringt mich etwas vorzeitig auf das Thema Verlag. Der «Schweizerspiegel» ist in Deutschland herausgekommen. In dem besonderen Falle erscheint mir das als ein kleiner Schönheitsfehler, den ich aber nicht so

sehr dem Autor als dem schweizerischen Verlagswesen ankreide. Dieses in Gehalt und Ton so spezifisch schweizerische Buch, das sich in seinem Anspruch darauf, ein Schweizerspiegel zu sein, nicht zu viel anmaßt, hätte, wie irgend ein Nationaldenkmal,

im Lande

behalten

236

werden

müssen.

So

_ hat es zwar das zehnte Auflagentausend in der Frist einiger Wochen erreicht, was aber ein externer mehr als ein interner Erfolg ist; durch den Währungsaufschlag ist das Werk für den Schweizer beinah unerschwinglich im Preis geworden, was seinem Absatz zu Hause nachteilig ist. Deutschland hat kein Interesse daran, die Chronik des schweizerischen Wehrwillens in verbilligter Volksausgabe zu verbreiten, die Eidgenossenschaft, will ich meinen, hätte es gehabt. Daß das gewaltige Thema der Grenzbesetzung bis heute auf seinen Gestalter warten mußte, begreift man nur in Kenntnis des Umstandes, den Ludwig Hohl einmal folgendermaßen umschrieben hat: «Das Geheimnis der Gestaltungsfähigkeit ist die richtige Distanzierung (die Brennpunktfrage) ganz allein! Der Brennort, der genau für Gegenstand und Erzählenden passende, ist winzig!» Das I'hema soll gerne gewartet haben, um in Meinrad Inglin den aus menschlichen und künstlerischen Voraussetzungen berufenen Chronisten zu finden. Inglin hat den Grenzdienst als Offizier aus der Geistigkeit des Dichters erlebt. Geschrieben ist der Roman in der Innerschweiz, wo der Dichter, aufmerk-

sam auf das Tun und Treiben auch der Städte, seit Jahren lebt. Seine innere Spannweite reicht vom Intellektuellen hinüber zum Bauern. Als unabhängiger Schriftsteller in der Lage, seinen Bienenfleiß an das Studium der Materie zu wenden, scheint er ordentlich Vollmachten der Vorsehung innezuhaben. Nachdem er in «Jugend eines Volkes» die Frühgeschichte der Eidgenossenschaft erzählt hatte, legt er im «Schweizerspiegel» nun einen Querschnitt durch die Struktur ihrer jüngsten Vergangenheit, und es dürfte ihm unausweichlich bestimmt sein, in einem kommenden Monu-

mentalwerk die Trilogie mit der Darstellung noch unserer Gegenwart zu vollenden. Wir hätten so den nationalen Epiker in seiner eigentlichen Mission, den Mythus seines Volkes zu notieren. Das Bild in diesem Schweizerspiegel enthält Züge, die vom Aussehen der Gegenwart abweichen. Das Faktum, daß Herrensöhne in der Zeit des Rundfunks kaum noch die Liebhaberei der Hausmusik pflegen, Offiziersgattinnen ihre Erfüllung überall eher als beim Lyriker suchen, ist für Wesentliches typisch. Inglin hat das Abklingen der liberalistischen Ära in der Figur des sympathischen Biedermannes Oberst Ammann meisterhaft demonstriert; die Neu-

237

zeit der Stockmeier hat er angedeutet. Hier liegen die weitern Notwendigkeiten. Der Vorwurf, Inglin habe zu schwarz gemalt, erstaunt mich. Für meine Person empfinde ich seine Darstellung als beglückend positiv, und ich sehe in seiner Befähigung, «zur Rückseite durchzudringen», ein Kriterium geradezu seines Dichtertums. Man betrachte daraufhin etwa seine Schilderung des Schützenfestes. In Kreisen pirscht er sich zu ihm heran, zeigt seine Außenansicht durch das Referat des intellektualistischen Städters, der im Namen einer Jugend zwischen Gestern und Morgen spricht, aus Liebe zögernd, aus Gewissen ironisch. Die meisten von uns sind hier stehen geblieben. Inglin, aus der Distanz seines Standortes, blickt tiefer. Er sieht die Wahrheit unterm Schein, sieht das Bewe-

gende des Rummels in diesem wehrhaften Instinkt eines Volkes, seinen Stachel zu schärfen. Er sieht die Größe der Einfachen: bei der Natur zu bleiben. Immer um seine Schützen herum erzählend, legt er das Wesen eines männlich tüchtigen, gutherzigen aber selbstbewußten Volkes dar. In

der Figur des Regimentskommandanten in Zivil etwa, der ein ungewöhnliches Resultat schießt, sein Gewehr «schweigend in den Rechen stellt und, die Arme verschränkt, die Rechte am linken Schnurrbartzipfel, die Schießenden zu beobachten beginnt, als ob nichts geschehen wäre». In Christian, dem geraden Bauern, durch dessen Sachkenntnis wir ein so imponierendes Bild der Vorgänge gewinnen. In dem Namenlosen, der richtig seinen letzten Schuß verpatzt, dann, «alle Schuld sich selber zuschiebend, mit der Rechten ver-

ächtlich abwinkt und zurücktritt». Es ist nur der Wahrheit gemäß, daß auch der «Aufschneider und Lärmer» mitfiguriert, der Schwadroneur, der, mit dem Handrücken auf eine

Seite seines Schießbüchleins klopfend, sich dagegen verwahrt, daß ihm «so en Soucheib» gezeigt werde. Das Beispiel kann für alle Teile und das Ganze des Buches stehen. In seiner Schilderung des Schützenfestes ebenso wie in der des Heeres und der soziologischen Einheit schwingt die Liebe des Dichters obenaus; das berechtigt ihn zu jedem billigen Maß der Kritik. Sie ist zugegebenermaßen nicht gering, aber meinem Gefühl nach richtig, sozusagen historisch belegt und in diesem

Buche

nie defaitistisch,

sorgender Liebe angewendet. 238

immer

mit Absichten

Wie gelänge es anders dem

Dichter, so zu packen, daß man

die zwölfhundert

Seiten

seines Werkes in einem Atem durchfliegt! Das Kapitel über das Schützenfest hat Partien von herzklopfender Spannung und innerster Aufwühlung. Divisionsmanöver werden zur dämonisch-tragischen Sache, die, episch in allen Bedeutungen der Beziehung angelegt, wiederum als Ausgang aufschlußreicher Betrachtungen genommen werden darf. Wenn es nämlich zutrifft, daß man in diesem Roman seitenweise nichts anderes als Chronik zu lesen glaubt, soll man nicht unterlassen, alle diese Dinge einmal in ihrer Stellung zu einander zu beobachten. Es zeigt sich so, daß es weniger eine dichterische Substanz des Details als vielmehr Perspektive der Konstruktion ist, was das Werk über bloße Historie hinaufin die Verbindlichkeit des Symbols hebt. Zu der Zeit,

da die Völker Europas in den Krieg eintreten, üben die Schweizer ihren traditionellen Sport auf dem Schützenfestplatz, absichtslos und arglos in Wirklichkeit, sinnbildlicherweise nach dem Ort in der Dichtung. Das Manöver steht prototypisch für die Funktion unserer Insel im Aufruhr. Eine Menge Gewaltmärsche, von denen das Buch rauscht, Alarme, die blind verpuffen, laufen im Feld dieses Kriegsspiels zusammen, dessen wahnwitzige schließliche Sinnlosigkeit den widerwilligen Soldaten Paul zum Streik aus cafard, das Offizierskader zu Orgien der Tollheit hinreißt. Die Monotonie der Pflichterfüllung, der beleidigende, im Innersten zermürbende Wechsel zwischen Todesbereitschaft und Erschlaffung im Spott, dieser eigentliche Opferdienst des unverwendeten Heeres, steht im Mittelpunkt der Betrachtung, ist symbolisch für die unansehnliche Selbstaufopferung unserer Demokratie. Dieses Heer ohne Taten geht am Rande der Schlachtfelder um als eine Kriegsordnung von Paralysierten, von sinnlosen Seelen. Das ist die wahrhaft einmalige Vision, die beschworen zu haben diesen trockenen Erzähler zum Dichter macht. Er hat dem Bilde des Krieges eine wesentliche Seite hinzugefügt. Hier, in der Spezies Tragik, der das neutrale Heer untersteht, wird die Dämonie des Krieges in einem besonderen Sinne deutlich: als Geißel der gebundenen Menschlichkeit. Die Schwerverwundeten, von denen Fred erlebt, daß sie ihm seine Zigaretten in Ermangelung von Fingern nicht abnehmen können, verweisen ihm seine hilflosen Tröstungen, mit denen er sie wider Willen verletzt — und

239

er, der Gesunde selber ist es, der die Kausalitäten erfaßt! —

aber trifft ihn die Perfidie der Sachlage nicht beinah noch tiefer? Er ‚wird schuldig aus Unschuld der Menschlichkeit. Wie laufen die Linien des Persönlichen und des Öffentlichen in dem Buche durcheinander? Den Obersten Ammann knickt das Manöver in seiner Existenz, so wie der Krieg das Bürgertum als Ideologie. Das Öffentliche ist nur gleichsam das pantographisch vergrößerte Persönliche. So hat man im Wechsel zwischen beiden nie das Gefühl, von einer Dimen-

sion in eine andere zu gehen. Das Öffentliche ist Großaufnahme eines Geschehens im Menschlichen. Die Einzelnen sind das in Faktoren zerlegte Ganze. Durch das einfache Mittel, Ammann einen welschen Verwandten zu geben und in den Söhnen die verschiedenen Parteien zu demonstrieren,

ermöglicht es sich der Autor, die Probleme der Schweiz in einer Familiengeschichte abzuwandeln. Und mit welcher Vollständigkeit tut er das! Beginnend mit dem Prolog der Kaisermanöver, in denen sozusagen auch die Großmächte den Krieg noch spielen — im retrospektiven Blicke bekommt die Idylle Zusammenhang mit dem Gespenstigen! — holt der Dichter so ziemlich alles hervor, was jene Weltjahre an Symptomatischem in der Heimat auf den Plan riefen: Grenzbesetzung, Entzweiungen, Ausgleich, Oberstenprozeß, Generalstreik,

Internationalismus,

Hilfswerk,

Grippe,

Volks-

sterben. Mit großer Einfühlungskraft, offenen Herzens und Geistes bestrebt er sich, Gerechtigkeit nach Links und nach Rechts zu üben. Es ist ihm deshalb Mangel an eigener Haltung vorgeworfen worden. Er hatte die Wahl, ein Tendenzbuch oder eine Dichtung zu verfassen. Ganz abgesehen davon, daß Inglin zu intelligent ist, sich bonzenhaft einer der Parteien zu verschreiben, handelte er nur aus Wahrhaftigkeit des Dichters, wenn er hellhörig keine der Stimmen unterschlug; indem er sie alle ernst nahm, mehrte er das spezifische Gewicht seines Werkes. Wo er mit seinem Herzen steht,

wird trotzdem klar ersichtlich. Er steht nicht bei politischem Bekenntnis, er steht bei Urdingen; es sind: das Prinzip der Mütterlichkeit, dargestellt in der episch großen Figur Frau Barbaras; das Prinzip der Erdverbundenheit, lebendig in Fred; das Prinzip der Religiosität, für das er in dem Lyriker Karl Stamm eine wahrhaft erschütternde Verkörperung vor Augen hatte. Als Staatsbürger hat er sein mannhaftes Be-

240

kenntnis in den Worten des Oberstdivisionärs mit aller wünschbaren Präzision formuliert: «Der rechtzeitige Gefechtsabbruch, mein Sohn, ist eine unserer wichtigsten und

notwendigsten Bewährungen. Er fällt draufgängerischen Leuten nicht immer leicht. Wir haben ihn an der Grenze vier Jahre lang geübt, während die andern Draufgänger daheim auf dem Papier gegen innere und äußere Feinde sich heldenhaft austoben durften. Wir haben hundertemal scharf geladen und mußten immer wieder entladen, wir haben prachtvolle Sprünge angesetzt und mußten sie immer wieder abbrechen. Wir wurden der Teilnahme am weltgeschichtlichen Sturm, an großartigen Taten und Abenteuern, an nationalem Ruhm und Heldentum nicht gewürdigt, das Schicksal hat uns übergangen - also, verflucht nochmal, beherzigen wir diese Lehre

und

halten

uns

nicht an das Schicksal,

sondern an die Freiheit! Das scheint ja überhaupt eine unserer Aufgaben zu sein, wenn ich mich recht erinnere. Die vornehmste Aufgabe des uns angemessenen Staatswesens! Sie verlangt unter anderm allerdings den Verzicht auf das verlockende, von prächtigen Vorstellungen begleitete Machtgefühl, an dem wir entweder als Anhänger einer siegreichen Internationale oder als Bürger einer mächtigen Nation teilhaben könnten. Für unsere lebenskräftigen simplen Leute also eine nicht minder schwierige Aufgabe als für die Gebildeten! Man löst sie, indem man sich bezwingt und bescheidet, indem man Maß hält und das Gleichgewicht wahrt. Das ist nichts Geringes! Das geht nicht ohne beständigen Kampf gegen die schwungvollen Ansprüche der extremen Lager und der eigenen Heldenbrust. Ein schwerer Kampfin so unruhigen Zeiten, aber der einzige, der sich für uns lohnen dürfte.» Offenbar ohne Ehrgeiz zu dem, was als «dichterische Schönheit» gilt, gibt Inglin minutiöse Reportage der Historie. Aber es ist entscheidend wichtig, dabei zu bemerken, daß sich die

Stofflichkeit des Erfundenen in nichts von der des Chronikalen unterscheidet. Die Phantasiegeschöpfe sind genau so glaubwürdig und plastisch wie die authentischen Gestalten. Die Erfindung fällt nicht ab, wenn der Verfasser vom histori-

schen Bericht zur eigenen Fabel übergeht. Hingegen ist erstaunlich sein Geschick, die beiden von einander profitieren zu lassen. Zwischen Gertrud und dem Lyriker Pfister hat sich in besinnlichem Zusammensein die Herzensgemein241

schaft angesponnen, als der Ehemann eintritt. Er ist Offizier und hat «im straffen Gesicht einen Ausdruck verhaltenen Zorns» über die Meldung, mit der er kommt: in Sarajewo ist das Thronfolgerpaar erschossen worden. An dieser Stelle geschieht vielerlei. Es wird das Persönliche durch schroffe Kontrastierung zum Allgemeinen in Problematik versetzt, die Welt des Soldatischen grenzt sich gegen den Individualismus des Geistesmenschen ab, Tragik von Kommendem kündigt sich blitzhaft an, und die Handlung marschiert einen ganzen Ruck. Diese Art steiler Vertiefung der Zusammenhänge, dieser Kniff, durch Grelle des Wetterleuchtens Übersicht zu geben, dieses Mittel auch, die Uferlosigkeit des Epischen zu fixieren, tritt in Abständen auf und ist Fähigkeit des Dichters ebenso wie die andere Gepflogenheit Inglins: ein Kapitel von seinem Schluß aus so in Beleuchtung zu setzen, daß seine Wissenschaftlichkeit dichterisches Geheim-

nis gewinnt. Das großartigste Beispiel hiefür ist das epische Objekt der Grippe in ihrer Funktion, die makabre Metaphysik der Kriegsmenschheit deutlich zu machen. «Offenbar habe ich Fieber», dachte er. «Ohne Fieber würde mir vermutlich alles so erscheinen, wie es immer war. Aber was heißt das: wie es immer war? Wie es mir sonst erschien,

natürlich. Jetzt erscheint es mir anders, nämlich so, wie es im tiefsten Grunde eben doch ist, unwirklich, sonderbar, phan-

tastisch. Oder ist es nicht phantastisch, daß ich hier Soldat zur Zeit eines großen Krieges um Mitternacht dem Stroh einer Baracke im Jura liegen sollte? Eigentlich Ja nicht ich es, der hier liegt, sondern ich bin derjenige,

als auf bin der

diese Lage durchschaut, derselbe, der ich im Innern heim-

lich immer war. Ich habe früher nur manchmal selbstvergessen mitgeträumt, was die andern träumten, jetzt wache ich wieder einmal auf... Sehr gut! Wie leicht vergißt man doch, daß das sogenannte Wirkliche das Fragwürdigste ist...» Es ist nicht das Ganze der Wahrheit, wenn gesagt wird, Dinge wie der «Füsilier Wipf» verdankten ihren Erfolg nur der Eitelkeit des Provinzialismus. Sich im Spiegel zu sehen, hat Sinn und Notwendigkeit darüber. Kino, Theater und Feuilleton müßten eine Lehre daraus ziehen. Es ist schwer zu sagen, durch welches Geheimnis die alten Barden, welche die innere Geschichte des Volkes heraufriefen, mythische Gewalt besaßen. Die grobschlächtigste Begründung mag

242

darin liegen, daß sie ihm Selbstvertrauen gaben. Nicht in der Anonymität leben zu wollen, ist ein Instinkt des Individuums wie des Kollektivs. Nicht als ein Volk von «Gletscherflöhen» zu gelten, ist ihm Lebensbedürfnis. Letzten Sinn aber erfaßt nicht die Wissenschaft, letzte Form gibt allein die integrale Kunst. Inglins «Schweizerspiegel» steht als Beschwörung unseres nationalen Wesens, als Vision von Geschichte im Paroxysmus einzig da; das Werk, so echt in den

Nuancen des Schweizerischen, hat die Unvergänglichkeit in sich. Das Kolorit verbürgte es nicht, käme nicht die Atmosphäre von Allgemeingültigkeit des Symbols hinzu. Die Welt wird diese Dichtung zur Kenntnis nehmen und sie den bleibenden Gestaltungen ewigen Menschentums beigesellen.

Kurt Guggenheim:

«Riedland»

In der Nachbarschaft meines Jugendlandes gibt es die stille Moorgegend des Namens Gaster. Ich bin nie hineingekommen, obwohl es mir als Traum vorschwebte, einmal von der

Höhe des Buchbergs, einer sehr einsamen, waldigen Halbinsel eiszeitlichen Herkommens in die Spiegelungen des Obersees hinabzublicken. Ich strich nur am Rande seines Geheimnisses herum und malte mir aus, etwa von Hurden in seine zauberhafte Landschaft hineinblickend, daß eigenarti-

ge, leise und gruselige Geschichten darüber zu erfinden sein müßten. Wußte ich doch, in seinem Innern war es alles, nur nicht elysisch, wie es sich der Ferne darbot: war es voll alter Überschwemmungen, schwelender Gifte, gurgelte es in seinem Morast, floß es mit stillen Kanälen, beschwieg es die Armut der Riedbauern, moderte es mit Kapellen eines etwas heidnisch unheimlichen Katholizismus. Nun hat Kurt Guggenheim die Seele dieses Riedlandes in eine wundervoll

bedachtsame,

eindringliche, von Dämme-

rungen geladene Geschichte eingekleidet. Sie ist etwas vom Dichterischsten, was ich an Prosa kenne, und ihrer ganzen Machenschaft nach so grundschweizerisch, daß ich ihr wünschte, der verdienten Liebe in der Heimat teilhaftig zu werden. Wenn wir die Provence durch Daudet, Norwegen durch Hamsun oder Fönhus, Dänemark durch J. P. Jacobsen,

Nordamerika

durch

Walt

243

Whitman,

Rußland

durch

Tolstoi, Finnland durch Sillanpää, [...] so haben wir, nach Gotthelf, eine ganze Reihe Gelegenheiten, schweizerische Landschaft im Buch gestaltet zu finden. Unter ihnen nenne ich in vorderster Reihe dieses «Riedland» von Kurt Guggenheim. Wenig, aber tief ins Menschliche greifende Handlung ist mit großer gestalterischer Kunst bewußt hingehalten, in Kreisen retrospektiv entwickelt, unter langsamer Lüftung des Geheimnisses, das die Gegend ebenso wie die Schicksale aus jedem Satz dieser seltsam hintergründigen Sprache anhaucht. Eine gewollte Stilisierung der ganzen epischen Anlage, die spiralige Bewegung nach dem Kern hin, eine Art Strophigkeit dieser Epik, angedeutet in subtil nuanciertem Refrain der Situationen, Bilder und Lyrismen, erzeugt nirgends den Eindruck des Künstlichen; diese Gefahr umgeht der künstlerische Takt des Dichters mit Überlegenheit. So entsteht in unserer Vorstellung ein Gebilde von vollkommener Geschlossenheit seines organischen Wuchses, eine Dichtung, welche die formale Richtigkeit der Novelle, das Atmosphärische des Gedichtes und die innere Welträumigkeit des Romans zugleich an sich hat. Etwas, das auf eine neue Weise intim und wundervoll lebt.

Ludwig Hohl: Nuancen und Details «- Endlich verstand ich (und plötzlich), was meistens der Grund davon ist, daß man nicht einschlafen kann: man hat

keine Träume bereit.» In so einem Satz mit allem Drum und Dran liegt die ganze Art dieses Autors beschlossen. Der Gedankenstrich zu Anfang weist auf Verträumtheit eines Dichters ebenso wie auf Genauigkeit des Denkers, er deutet das Auftauchen aus unendlichen Zusammenhängen, er deutet das Vorausgegangene, die Gänze dieser Fragmente, aber auch etwas wie Jubel der Erkenntnis «(und plötzlich)» an; die beiden «endlich» und «plötzlich» spannen ganz in der Beiläufigkeit einen Bogen von Beziehung im Wesen des Erkenntnismäßigen — denn von diesem handelt das Büchlein — aber der Aphorismus selbst: von welch befreiender Grazie der Richtigkeit und wie dichterisch hintergründig ist sein Gedanke! So ist alles in diesem ungewöhnlichen Bändchen schauen244

der Betrachtung: langsam dahergesagt, aus Einsichten der Unbestechlichkeit gefolgert, scheinbar gewichtlos, scheinbar nichtig und plötzlich voll Tiefe eines unbewegten Teiches, eigentümliche Legierung von «Philosophie» und «Poesie», doch ohne eine Spur des Bastardischen, nicht’systematisch,

sondern organisch, von der Systematik des Organischen. Wie der Dichter, ob er von Großem, von Kleinem spreche, von Gestirnen oder «Utensilien», immer spricht er vom Ganzen. Immer spricht er vom Gewordenen in Anfeindung des Gemachten. Ausschließlichkeit des Liebenden, Hartnäk-

kigkeit des Gläubigen, Strenge des Wissenden ist in allen diesen asketisch gearbeiteten Sätzen. Wir wollen niemand etwas darüber weismachen: Reiselektüre ist das keine (oder dann ist sie es sehr!), Schnickschnack für Gefangene des Betriebes ist es nicht; dieser Prediger ist weder liebenswürdig noch entgegenkommend, er hat keinen Gott außer dem Geist der Wahrheit, dem er dient, um den er sich bemüht; er macht es dem Leser so wenig wie sich selber leicht. Wem es klar wird, daß er es da nicht mit Ungastlichkeit eines Kauzes,

sondern mit dem Ernst einer Sache zu tun hat, gelangt zu der Willigkeit, den Spekulationen nachzugehen, Kredit aus Weitherzigkeit der Achtung und das Recht auf Wagnisse der Konsequenz zu gewähren. Die Rücksichtslosigkeit des Zuendedenkens, die Eigenart des Sehens, die Zwanglosigkeit, aus einer originalen Position heraus am Gewohnten vorbeizudenken, sind Merkmale, die diesem Büchlein das Signum der Außerordentlichkeit verleihen. Es wird wenige, aber wertvolle Leser und Liebhaber finden, es legt den Grundstein zu einem (Euvre, das langsam wachsen und eines Tages mit imponierenden, unverrückbaren Proportionen als etwas Einmaliges im schweizerischen Schrifttum dastehen wird. Es hat den im Tempo und in der Nachhaltigkeit ausdauernden Sieg des Wesenhaften in sich. Ludwig Hohl wird jenen eigenartigen «Ruhrn in der Unbekanntheit» haben, der in die Tiefe, nicht in die Breite geht.

Mörike - redivivus

Im «Bücherblatt» habe ich die Ehre, auch zum Sortimenter

zu sprechen. Da bringe ich denn zunächst meinen Dank für 245

seine Mitarbeit an; ich binja kein Bestseller, demgegenüber er sich verpflichtet fühlen müßte - ich bin der Schwerenöter, der ihm meistens mit der Verlegenheit der Lyrik kommt. Der Lyriker erwartet vom Buchhändler keine Wunder; die größten Kollegen, mit der Ausnahme einiger Sonderfälle, erlebten die zweite Auflage nicht. Reden wir lieber grundsätzlich, nicht mit Bezug auf den Schwerenöter: Mörike, wenn er noch lebte, wäre er die Freude der Verleger und Buchhändler? Er wäre die Freude nur der Kenner unter ihnen. Sie empfingen ihn quasi privatim, geleiteten ihn an das runde Träumertischchen in der Ecke, dorthin, wo die paar Liebhaberausgaben liegen: Francis Jammes, Li-Tai-Pe, Adalbert Stifter. Eduard Mörike ergriffe nicht ohne Rührung ein Blatt in Bütten, eine zarte Vignette und das eine Gedicht «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang» in Handdruck enthaltend und: «Es ist und bleibt ein gutes Gedicht», würde der Verfasser sagen, «es ist wunderlicherweise sogar von mir — ach, ich war Jung, und die Jugend hat in all ihrer Dummheit schon ihren Schutzengel! Aber reden Sie als Buchhändler zu mir: Werden Sie das auch verkaufen?» «Ich fürchte, ich werde es eines Tages verkaufen und es dann selber nicht mehr besitzen», antwortet der Kenner und Buchhändler. «Es liegt mir daran, von Ihnen, Meister, nicht

Kaufmann

übrigens wird schon aus Liebe zur Ladenkasse

Liebe zu seinem Artikel haben. Das runde Tischchen hier,

sehen Sie, steht abseits der großen Auslieferung, abseits auch der Ladenkasse, hat scheinbar überhaupt nichts mit dem Buchhandel zu tun und ist dennoch, wie ich Ihnen sagen kann, seine Seele. Mit der Seele ist es ja so eine Sache. Schwer nachweisbar, unwägbar, nicht deutlich im Umfang ihrer Auswirkungen, hält sie das Ganze am Leben. Ein Buchhändler muß das runde Tischchen nicht nur einkalkulieren, sondern es irgendwo in sich haben. Bestsellers, Sensationen,

Schlager

hin oder

her, der Buchhandel,

als eine

Angelegenheit des Kulturellen, lebt im eigentlichen Sinne doch von den geistigen Werten, von der Radiumhaltigkeit der Dichtung. Angenommen, es spezialisierte sich einer auf bloße Bestsellers —- könnte er noch ein Buchhändler genannt werden? Noch eher wollte ich mich auf Gedichtbände spezialisieren, auf die Dichtung in Konzentration.» «Ehre dieser Gesinnung», lächelt Mörike. «Obgleich de246

ren Konsequenzen Ihnen das Genick brechen müßten, finde ich sie den Tatsachen gemäßer als die Auffassung eines anderen

Buchhändlers,

der mir sagte: «Wissen

Sie, Lyrik,

das ist ein Besonderfall» Mitnichten ist der König ein Ausländer. — Was ich Sie aber bei der Gelegenheit fragen darf: Mein «Maler Nolten» - es ist kein Roman, ich weiß, es ist nichts von allem... halten Sie dafür, daß man es so machen darf, einfach so schreiben, so dem Gefälle des Herzens nach, ohne sonderliche Rücksicht auf Schulvorschriften, Kategorien des Epischen und so? Der Lyriker kann ja nichts wollen, er kann nur müssen. Das Ergebnis, freilich, macht ihm nachträglich Kummer. Man findet es schlingelhaft: wenn nicht ungekonnt, dann zuchtlos. Was er wollte, das tadelt man ihm: was er nicht wollte, just das entbehrt man in dem Werke.» «Die Freiheit der Künste ist unbeschränkt, Meister, aber nicht jeder Weg darin richtig. Die Verantwortung dafür kommt dem Dichter, das Urteil darüber der Zeit in ihrer Unfehlbarkeit zu.» Ich hätte von mir reden sollen und sprach, bescheidenunbescheidenerweise, von Mörike. Ich habe dem Dialog nichts hinzuzufügen, als daß ich nur sein Grundsätzliches, nicht die Person in Beziehung zu meiner Wenigkeit gebracht wissen wollte.

Adrien Turel: «Weltleidenschaft»

Zu Adrien Turel als Lyriker stehe ich mit meiner ganzen Überzeugung. So unwahrscheinlich es mich selbst anmutet, daß dieser unschweizerisch

beredte, eminent vielwissende,

genial anregsame Gelehrte auch noch Lyriker sein könnte, ein Blick in seine Gedichte erweist es mir als erstaunliches Faktum. Durch lange Jahre sah ich sie nur im Manuskript, in vielgewanderten, ewig refusierten Durchschlägen, und begrüße es mit richtiger Erleichterung, sie nun in Buchform greifbar vorzufinden. Ich warne freilich zugleich davor! Die "Gedichte sind nicht im gewohnten Sinne «schön»; in Erwartung von Eigenschaften wie malerisch, musikalisch und gefühlvoll, kommt ein Leser nicht auf seine Rechnung. Für meine Person beneide ich Turel um seine Gabe, Lyrik auch 247

ohne diese landläufigen Voraussetzungen fertigzubringen. Man darf niemals tyrannisch, mit herrischem Anspruch lesen, man, wird damit gerade dem Wesentlichen, dem Zuwachs an Eigenem nicht gerecht. Auch Turel stellt die Bedingung, daß man ihn, nicht Lehrmeister hören wolle. An Rüstzeug setzt er nur ein Maß von Kenntnissen voraus. Der Behauptung, alle Lyrik müsse aus dem allgemein Menschlichen heraus verständlich sein, ist entgegenzuhalten, daß auch ein Dante außerhalb der christlichen Tradition dunkel bleibt. Turel denkt in Begriffen des Bachofenschen Mutterrechts, denkt außerdem in der wissenschaftlichen Konven-

tion. Innerhalb dieser Einheit gebraucht seine Lyrik ohne Fehltritt Terminologie der Technik. Soll der Dichter vom Hades, nicht aber vom

Cambrium

schreiben dürfen? Turel

ist ein ganz eigener Fall von universalem Wissen, und seine Lyrik schöpft beinah mühelos aus Gründen der Urzusammenhänge. So ist er Tiefsinn und Schönheit des Tiefsinns schon allein in seinen Titeln: Diana des Devon; Stern Algol, der Flamme Schatten; Ich hange nicht in Wassern des Silur; O Licht, du schöne Haut der Sterne; Ihr Daunen ungebore-

ner Jahre seid mein Nest; Saturn der Bauer pflügt zur Saat der Sterne... Sein Duktus ist von wunderlicher Eindrücklichkeit der Monotonie im Jambus, ein Mittel der Betonung nur die freilich dann umso dringlicher anredende Reprise. Mir ist ein Dichter, wer Bilder von der Art der folgenden sieht: «Ich suche mein Grab wie der Vogel sein Nest», «Dein Weinen treibe die Mühlen», «Wer seine Nächte hinter sich verbrennt: Wie Kohle alter Zeit», «Es beteten die Wölfe und die Teufel mit Geheul...», «Gern schaut ich mit Medusenaugen alter Kranken: Das alte Leben in der alten Flut»,

«Stehlt euch den Mottenkram vergreister Zeiten», «Saturn der Bauer pflügt zur Saat der Sterne». Turel dichtet ohne die mindeste Konzession ans Gewohnte, aus eigenem Blick und Wissen; daher wiegt mir sein Bändchen, was Dutzende einer

abgeleierten bloßen Musikalität nicht an Gewicht ergeben. Ich begrüße ihn in der Einsamkeit seines Wollens.

248

Max Rychner: «Freundeswort» Es ist schon

immer

vorgekommen,

daß

Männer,

die als

Kritiker eine bestimmte und endgültige Figur geworden waren, um die Mitte oder noch gegen Ende ihrer Lebenstage der Welt dadurch ein Schnippchen schlugen, sich ihr unversehens mit einer Leistung in der Kunst vorzustellen, zu deren bloßer Betrachtung sie bisher die spezifischen, den positiv schöpferischen komplementär entgegengesetzten Talente übten. Ihr Werk hat dann begründetes Mißtrauen zu überwinden. Im Falle Max Rychners zeigt es sich, daß er, nun dichtend, derselbe

Stadtmensch

bleibt:

ein leidenschaftlicher

Intellekt,

ein

im Bereich seiner Geistigkeit. Nur daß uns

seine sensible

Leidenschaftlichkeit

in einem

neuen,

ihrem

eigentlichen Lichte erscheint, dem des künstlerischen Temperaments. Seiner Spezies wird das Vorurteil entgegenstehen, das nur den Bauern gelten läßt, den Geistesmenschen aber in seinem Zusammenhang mit Asphalt diffamiert. Nun ist Kunst an sich eine Betätigung über die Natur hinaus; sie darf nicht nach ihrem Gegenstand beurteilt werden, darnach, ob sie sich mehr dem Boden oder dem Äther zuwende.

Es gibt von rational orientierter Dichtung höchste Beispiele; es gibt eine Bildhaftigkeit des Ungegenständlichen, eine Poesie des Gedanklichen, die zum saftig Unmittelbaren im Verhältnis des Weins zur Traube stehen. Rychners Gedichte dem Wein zu vergleichen, rechtfertigt sich aus dem Umstande, daß ihnen über die Beschaffenheit bloß verstandesmäßig, also literarisch konzipierter Verse hinaus ein geheimes Feuer innewohnt,

ein goldenes

Gefunkel

undeutbarer

Art, eben

das, was sie zu Lyrik macht. Wie abstrakt sie auch immer aussehen mag, sie glüht förmlich vor geistiger Inbrunst, und diese zehrt vom Herzenserlebnis. Ihre gefühlsbetonte Art spricht schon aus dem Titel «Freundeswort». Frauenliebe hat auch ihren Anteil, nicht den größten, bezeichnenderweise; es geht dem Dichter um geistlich männlichere Themen, die des Seins, des Menschseins, der Natur, der Vergänglichkeit, des Ewigen. Die schlackenlose Sublimation im Ausdruck wird als unmalerischer Intellekt mißverstanden werden, und doch ist sie voll innerer Figur, reich, im Deuten erschöpfend. Freilich wird alles in einem zweiten Raume

249

gesehen, die Natur flammt in Geistglanz, durch das Feuer menschlichen Temperaments hindurch. «Hoch in den Tag», das für mich zentrale Stück der Sammlung, wogt in vierunddreißig Strophen von klassischem Pathos daher, ohne Flauten seiner inneren Erregung, gleißend in heranrollenden Symbolen, eine Beschwörung des Ewigen und des Vergänglichen, «Fühllose

Welt, doch

wie von

uns

gefühlt!».

«Bel-

acqua» läßt die Gestalt des untätig Schöpferischen, des beredten Schweigers in römischer Laube durch alle Jahrtausende fort sitzen. Ein Gedicht voll Geheimnis lateinischer Klarheit. Der Mensch geht durch Rychners Vers als zugleich beseligende und furchtbare Erscheinung («Narziß»). Neigt dieser Mensch sich im Anblick der Quelle über das offene Buch der Natur, so singt er im «Lied beim Wein» aus heiliger Trunkenheit den Zustand des Gottähnlichen. Dergleichen erinnert mich an höchstes, ewiges Vorbild nicht durch Nachahmung, sondern durch seine Art. Es ist nicht im Sinne des Folkloristischen schweizerisch, es sucht die Höhen übernationaler Gemeinschaft, hat weimarische Luft eher als den Föhn,

obgleich es am

Heimatlichen

solches Schweizertum,

erlebt ist. Gebe

Gott, daß

die Haltung unserer Besten, in der

Welt auch wieder seine Gültigkeit und Auswirkung finde!

Gedichte von Urs Martin Strub Wenn

ein unbekannter

Name

auf einmal mit runder, mei-

sterlicher Leistung hervortritt, so ist das in zwiefacher Hinsicht eine tröstliche Erscheinung: Wir sind um die Gabe reicher, und das Vorhandensein eines zuchtvollen Mannes, der, seinem Gotte dienstbar, sich nicht übereilt, verbreitet einen klaren Schein im Lande. Urs Martin Strub verbleibt im Kreise dessen, was er kann; wie sehr aber kann er das; der

Brunnen ist sein Lieblingssymbol; er hat selber die Art des Brunnens: Tiefe, nicht Breite verbindet ihn den Dingen der Welt. Diese sehr schön gedruckten Gedichte stehen auch aus ihrem formalen Habitus in Reinschrift da: makellos gearbeitet, adelig durch Ruhe und Schlichtheit, voll Klarheit ihrer inneren Bildlichkeit. Strub liebt den einfachen Silbenfall, dessen sich aus der Not heraus auch Dilettanten bedienen; aber eben, wenn zwei dasselbe tun, wird es beim einen zur

250

|

Banalität, beim andern zum Wellenschlag des Erhabenen. Man wundert sich füglich, daß alte, ewige Formen in der Hand wirklichen Dichtertums immer wieder wunderbar leben, es ist das Geheimnis des Ungreifbaren, Dunkel und Licht des Weltgrundes, das großäugig aus ihnen blickt. Dieser Dichter zaubert die abendklare Landschaft Caspar David Friedrichs.

Schriftsteller über ihre neuesten Bücher

Die Redaktion des «Schweizer-Spiegel» hat einen guten Gedanken, wenn sie einmal auch den Autor einlädt, sich über sein Werk zu äußern; im allgemeinen wird ihm zugemutet,

jede mögliche und unmögliche Auslegung seiner Absichten stillschweigend entgegenzunehmen und vor dem Publikum gelten zu lassen. Aber was «will» ein Verfasser dichterischer Bücher? In meinem Roman «Der halbe Mensch» war es das zwangsmäBige Abstreifen einer Lebensnot, oder doch deren hilfesuchendes Lallen: Ich überband meinem Helden alles Bewußtsein besserer Daseinsmöglichkeiten, innerlich gemeint, Sehnsucht, Inbrunst, Ungenügen — «Die Göttlichkeit aller Dinge muß gefühlt werden», wie Lavater das nannte, und als Dinge sind die größten und kleinsten Erscheinungen zu verstehen: Jeder Sonnenaufgang, der Geruch einer moosigen Mauer, Gott, der nächste Mensch. Wir aber sind für gewöhnlich so dumpf, leichtfertigen Herzens, gar nicht von der heiligen Nüchternheit, wie sie den Dichter durchdringt, wenn das Göttliche ihn berührt. Das möchte summa summarum das Thema meines Buches sein; die Einkleidung: Etwas Grazie und

Melodie

der Sprache,

das Aufstöbern

zarter

Bilder,

magisch beschworene Landschaft, Lust und Leid der Herzen — Wanderung vorüber und irgendwo ins Blaue hinaus.

Gedichte und Novellen

So gut wie fertig sind ein Band Gedichte und ein Novellenband: «Bobertags Krieg gegen das Warenhaus». Am laufenden Schreibmaschinenband (gibt es wohl auch noch Dichter, 251

die etwas «unter der Feder» haben? Red.) ist ein Zeitroman, dessen Titel sich als das Endergebnis der dichterischen Algebra noch ergeben soll. Das Buch wird in allem so

ziemlich das Gegenteil des «Halben Menschen», nämlich initiativ gegenwärtig, handlungsreich, unanständig, objek- . tiv. Thema: Das sonderbare Problem Ehe, ihr Glück, ihre Tragik. Hätte ich mehr Zeit, so könnte die beglückte Menschheit das Werk in Kürze bekommen,

so aber wird es

noch Jahre auf sich warten lassen. So, ich höre förmlich das Aufatmen

Ihrer

Leserschaft,

nachdem

sie nun

Aufschluß

über meine allerwertesten Beschäftigungen erhalten hat.

Über «Die große Unruhe» Sehr verehrte Zuhörer! Irgendein Kapitel, das ich vorläse, vermöchte nicht, Ihnen das Typische meines Buches «Die große Unruhe» zu vermitteln, und das ist gerade das Typische. Ich habe deshalb vorgezogen, es Ihnen in einer kurzen Plauderei vorzustellen, ausgehend von meiner künstlerischen Absicht, zusammenfassend

in einer Art Selbstrezension,

für die ıch mir die

erforderliche Freiheit von Ihnen ausbitte. Zunächst sei angemerkt, daß ich auf das Buch, dem eine flüssige, ja elegante Sprache nachgerühmt wird, ein Jahrzehnt wenn auch nicht ununterbrochener Arbeit verwendet habe. An dieses Faktum ist eine Bemerkung zu knüpfen, die Grundsätzliches aussagt: Die Mühe des Künstlers soll seiner Leistung nicht anzumerken sein. Das ist seine erste Höflichkeit gegenüber dem Leser. Die zweite ist die, daß er ihm nicht mit Dreschflegeln winkt, vielmehr seiner Phantasie und seinem Verstande auch einige Möglichkeiten zutraut. Mit dieser Absicht begründe ich die gewisse Sparsamkeit meiner Mitteilung, die Willkür der Anfänge und Übergänge, meinen Verzicht auf säuberliche Rezepte, die Sprunghaftigkeit, meiner dichterischen Eingebung zu folgen. Zweierlei widerstrebte mir im Schreiben von Grund auf: einen Roman zu verfertigen und vor allem zu unterhalten. Ich sage mit Bewußtsein «verfertigen», denn etwas von der Zweckhaftigkeit, Hausbackenheit und Geschäftlichkeit darin scheint mir dem Bemühen anzuhaften, sich anders als aus seiner eigentlichsten

252

Natur

heraus

auszudrücken,

und meine

ist nicht die des

Epikers, sondern des konstitutionsmäßigen Lyrikers. Es wäre sinnlos und verhängnisvoll, sich über so entscheidende Voraussetzungen hinwegzutäuschen. Was zu vermeiden der Instinkt mich anhielt, hätte ich auch gar nicht gekonnt. Der Ehrgeiz, einen wohlkonstruierten, schulgerechten Roman von naturalistischem Habitus zu bauen, hätte mich dazu gezwungen, in einer Form zu dilettieren, die unerreichbare Meister gefunden hat. Nichts versucht mich, die Literatur um eine Stümperei der Art zu vermehren. Da mein Drang zu schreiben indes nicht ehrsüchtiger Herkunft, sondern eben ein Drang, eine Notwendigkeit, sei es auch nur klinischer Art, war, hatte ich meiner Natur meine Form zu finden. Indem diese Natur weitgehend auch den Inhalt bestimmte, fand ich, wenn ich sie fand, die Form auch des Inhalts. Es liegt auf der Hand, daß das Thema der Großen Unruhe, wie

ich es meinte, nicht in die Form eines ebenmäßigen Handlungsablaufs, nicht in das Gefäß einer klassischen Gattung zu fassen war: ein so von Grund auf lyrisches Bewegungsmotiv bedurfte des beweglichsten sprachlichen Kleides, einer Diktion des Sprunghaften, eines integralen Raumes, den gegensätzlichsten Ausschlägen gewachsen. Ich hatte den Mutterboden der sogenannten Wirklichkeit zu verlassen und mich, auf Gedeih und Verderb, in die vierte Dimension des Dichterischen aufzuschwingen. Das Ergebnis, eine Rhapsodie aus Schroffheit und Traum, Eile und Träumerei, Naturalismus und Surrealismus, Erde und Himmel, der wunderli-

che Bau aus Überschobenheit, Abbrüchen, parabolischen Perspektiven, Lichtquellen und Dunkelheiten, kann mit Leichtigkeit kritisch erledigt werden; man braucht nur die Formel des Epischen als verbindlich zu dekretieren, dann ist allda gewiß kein Roman, gewiß keine Epik, gewiß keine Form;

die Geister scheiden

sich dann

nach konservativen

und sucherischen Gläubigen. Mein Buch ist als für schweizerische Verhältnisse avantgardistisch bezeichnet worden. Wie dem auch sei, die Absicht dazu lag mir fern. Meine eine Verbissenheit richtete sich darauf, menschenmöglich genau darin zu sein, meinem Inneren adäquat zu formulieren. Mein Inneres bestand in einer Vision, wie ich den geistigen Raum im Unterschied zu der Abfolge situationsmäßiger Bilder im Epiker nennen mag, nicht ohne freilich sogleich

233

hinzuzufügen, daß die beiden Dinge einander ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick scheinen will. Welcher Dichter schüfe anders als aus Visionen heraus! Und welches ist die Wirklichkeit des wirklichkeitsnächsten Naturalismus! Eine Welt scheidet das geschriebene Blatt vom simpelsten Ereignis in der Dinglichkeit! Hieraus gedenke ich einiges zu meiner Rechtfertigung abzuleiten. Nämlich: Wer bestimmte die Grenzen dichterischer Freiheit der Transfiguration? Wo hörte die Richtigkeit des Epischen auf, und wo begann sie? Alle Kunst, selbst die grobschlächtigste, ist Stilisierung, Auswahl, Zusammenschau. Es ist im tadelnden Sinne gesagt worden, meine Personen sprächen alle dieselbe Sprache, nämlich die meine. Ohne wertmäßig vergleichen zu wollen: Sprechen nicht alle Personen etwa in Stifters «Nachsommer» die eine Sprache ihres Dichters? Wer verböte dem monologisch-lyrischen Dichter, sich unter Benützung des Selektionsgesetzes in einem Spektrum seiner Seelenvielfalt auseinanderzulegen? Es entsteht dadurch etwas anderes als objektivierte Epik, eine Gattung, die ihr gegenüber Nachteile, aber auch Überlegenheiten, Möglichkeiten hat, die anders nicht erreichbar sind.

Und was noch die Form betrifft: Form wird zu unrecht in ihrer Kongruenz mit dem Symmetrischen verstanden; Form ist aber schlechthin Entsprechung eines Inneren; in dem Sinne ist die bizarrste Orchidee nicht weniger Form als die Margerite; auch Barock ist Form. Schon aus Bescheidenheit nicht völlig gewiß über die Wahrheit meines Werkes, das mir noch allzu nah steht, übertrage ich die Vergleiche lieber nicht auf das Gebiet etwa des Musikalischen,

erinnere ich

nur andeutungsweise an den Fluß seiner Formprobleme und daran, daß oftmals in der Kunstgeschichte im Durchbruch neuer Formen der Untergang der Formen gesehen wurde. Ich versteife mich, wie gesagt, derweil nicht auf das Beispiel, wie es mir ohnehin nicht ansteht, mich im Ernste anders als

durch die fortwirkenden oder ausbleibenden Strahlungen des objektiven Werkes ins Recht oder Unrecht zu setzen. Wenn es meine Absicht nicht war, einen regelrechten Roman zu schreiben, so lag mir, sagte ich, in dessen Konsequenz nicht vor allem daran, zu unterhalten. Die Auffassung der Kunst als eines bloßen Unterhaltungsmittels entspricht der Haltung einer in Genußsucht und Schlendrian verkom254

menen Zeit. Daß alle Kunst auf sublimste Weise unterhält, ist nur ihr Mittel zum Zwecke der inneren Bildung - Bildung in ihrer Beziehung zum Bild. Zugegebenermaßen ist vieles, was gesagt werden muß, nicht, wie man es nennt: schön. Es gibt Kunstwerke, die durch Vorzauberung des Vollkommenen wirken; andere versuchen es durch Spiegelung der Unzulänglichkeit. Mit ziemlicher Vorsicht möchte ich die Hypothese aufstellen, daß in dem Buche, von dem die Rede ist,

aus beiden Komponenten eine Resultante versucht wird. Konvexe des Schönen stehen den Konkaven des Häßlichen gegenüber, Himmel und Hölle spiegeln sich wechselseitig in irrationaler Verflechtung. Die sich ergebende Welt ist flieBend,

reichlich

vexierend

und

von

einem

nur

ahnbaren

Zentrum. Gott wird kaum und mehr in den Verfratzungen des Menschlichen gemalt, sein Ort aber steht, wenn irgend

dem Verfasser der Kosmogonie ein wenig Gnade zu Hilfe kam, spürbar dahinter, oder in der Folge der Geschichte. Er ist das Ziel all der Unruhe, das Vakuum, das die Strömungen erzeugt. Man sieht: auch insofern nicht liebenswürdig, als das Buch keine Verhaltungsweisen angibt. Die dichterische Höflichkeit überweist sie der Befugnis des Einzelnen. Der Dichter ist etwas anderes als ein Religionsstifter. Er schreibt nicht Gesetzestafeln, er hat nur das Ahnungsvermögen eines Kompasses. Er jagt auf. Er rüttelt den Rost der Probleme. Er pflügt die Landschaft des Seelischen auf. Er löst Ketten der Gefangenschaft in Bequemlichkeiten, Sicherheiten, Schlagworten, Dünkeln, Vorurteilen. Er ist ein Anwalt des Lebendigen, des Wagnisses, er liebt das Feuer, die Gefahr. Er ist

ein Rebell der Dumpfheit und dem trägen Hindämmern gegenüber. Er sieht den Menschen auf Irrwegen lieber als ın goldenen Käfigen. Von Irrwegen und mehr oder weniger goldenen Käfigen handelt das Buch «Die große Unruhe».

Rudolf Kuhn: «Die Jostensippe» «Erbanlagen und Lebensbedingungen sind die beiden Faktoren, die das Geschick jedes Menschen bestimmen», könnte als Motto zu diesem Roman hingesetzt werden, der eine innige Beziehung zu unserer schweizerischen Gegenwart hat. Als jüngster Spross der Jostensippe, die seit Jahrhunder299

ten als Bauern im Glarnertal ihre Lebenskraft aus diesem Boden zieht, wächst Jörg auf, der das Erbe seines Geschlechtes in unserer unsicheren Zeit bewahren soll. Seine Mutter,

Christine, stammt dagegen aus altem Bergleutegeschlecht, aus welchem schon in frühern Zeiten viele ihre engere und weitere Heimat verließen. Finden wir in den Stammreihen des Vaters — wie eine genealogische Tafel belegt — vor allem Bauern und Priester, so ist es eine bunte Schau von Truppenführern, die in fremden Ländern kämpften, von Vögten und Flößern, Sängern und Poeten, die in der Stammtafel der Mutter aufge-

zeichnet

sind.

So gibt der aufstrebende

Großbauer Jost

seinem Sohne von seiner Härte und der mystischen Glaubenskraft seines Geschlechtes, und seine Mutter überträgt ihm das Erbe einer verfeinerten Kultur, dessen Wurzeln bis

in fremde Erde reichen. Im jungen Jörg erleben wir den Kampf der widersprechenden Erbmassen. Erleben Spiel und Gegenspiel der väterlichen und mütterlichen Anlagen, erleben die Tatsache,

daß wir noch weit mehr Enkel als Kinder sind! Wir spüren aber auch, wie jeder an sein Milieu gebunden ist und auch von ihm geformt wird. Der angeborene Tatendrang läßt Jörg das Getriebe seines Lebenskreises schmerzlich durchleben. Er sieht das Schicksal derer, die er liebt, an das große Weltgeschehen der Zeit gekettet, er erlebt den Kampf der Bauern um die Erde, der vordringenden Industrie gegen beharrendes Bauerntum, den krankhaft gesteigerten Lebenslärm der Kriegs- und Nachkriegszeit; er hört und empfindet die harte Forderung des Vaters und das verstehende Mitfühlen der Mutter und kämpft wie seine Altersgenossen um Weib und Erkenntnis. Bezeichnend sind aber auch seine Auseinandersetzungen mit einer ihn erstarrt dünkenden Religion und das Bemühen um ein ursprüngliches Gotterkennen. — Auseinandersetzungen, die heute kaum einem jungen Menschen erspart bleiben.

Allbuch oder Der neue kleine Brockhaus

Gut, aber mit Vorsicht zu genießen. Es wird versucht, an Stelle des Wortmonstrums

Konversationslexikon,

256

einer vor

2

200 Jahren ersonnenen Erfindung, die wirklich der Vergessenheit anheimfallen darf, eine Neubildung einzuführen: Allbuch als Buch über alles und für alle. Schöpfer der Bezeichnung ist Börries Freiherr von Münchhausen. Wie nicht anders zu erwarten, bietet der Verlag Brockhaus wieder ein sehr brauchbares Nachschlagewerk, das insofern einen Fortschritt darstellt, als es teilweise auch ein etymologisches Wörterbuch und den Duden zu ersetzen imstande ist. So weit kann man seine Anschaffung wirklich empfehlen, aber der Geist, der darin

herrscht,

wird

in der Eidgenossenschaft

weniger Anklang finden. Vor allem ist dieses Allbuch in der politischen Geographie sehr schwach. Bringt es da eine Tabelle über die Verbreitung der Deutschen in Europa, gruppiert nach dem Einteilungsgrund lebend «in eigenen Staaten» und «in Fremdstaaten Europas». Wohin der Appetit des tausendjährigen Dritten Reiches geht, wird hier stumm, aber unverblümt verkündet, indem zu den ersteren Österreich, Luxemburg, Liechtenstein

und die Schweiz gezählt wird, zu den anderen merkwürdigerweise neben der Tschechoslowakei Holland und Dänemark. Daß die West- und Südschweizer nicht zum deutschen Stamm der Alemannen gehören, wird unterschlagen. Für die Bewohner

Deutschlands,

die kaum

mehr über die Landes-

grenzen reisen dürfen und können, mag es ja glaubhaft gemacht werden nach dem Rezept «Seines Lebens», eine Lüge so lange zu wiederholen, bis sie als Wahrheit angenommen wird, aber ob der kleine Anrainer gegen Mittag hin mit dieser Fälschung einverstanden sein wird, ist eine andere Sache. Jedenfalls wird er für die Enthüllung auch a la longue gedachter politischer Ziele des Nationalsozialismus dankbar sein. So weiß er, wessen er sıch zu versehen hat.

In das Kapitel der Erlöserrolle, welche sich der Nationalsozialismus anmaßt, gehört auch die Zweiteilung, welche er für das Abendland vornimmt. Sie kommt im Stichwort Europa folgendermaßen zum apodiktischen Ausdruck, den wirja schon aus den letzten internationalen Debatten kennen: «Die liberale Demokratie... wurde seit dem Weltkrieg einerseits durch den russischen Bolschewismus, anderseits durch den

italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus abgelöst.» Frankreich, England, die Schweiz e tutti quanti werden demnach, da nichts anderes übrigbleibt, als IM

offene oder geheime Satrapien des Kommunismus hingestellt. Ein Taschenspielerkunststück! Der deutsche Gruß - unbestritten eine Nachahmung des einige Jahre früher auf der apenninischen Halbinsel eingeführten römischen — wird auf eine schon bei den alten Germanen gebräuchliche Grußform zurückgeführt, damit die deutsche Originalität gewahrt bleibe. Ein anderes Beispiel, damit der Humor zu seinem Rechte kommt: «Im nationalsozialistischen Deutschland fühlt sich der Arbeiter als vollwertiges Glied der Volksgemeinschaft.» Bitte abstimmen lassen! Aber ohne Druck. Lachen oder lächeln kann man auch, wenn erklärt wird: «Arier im völkischen, rassenkundlichen Sinn (also wohlgemerkt nicht wissenschaftlichen) sind Angehörige der alteinheimischen europäischen Hauptrassen, besonders im Gegensatz zu den Rassen, aus denen das jüdische Volk hervorgegangen ist. Zuweilen wird Arier auch mit der nordischen Rasse gleichgesetzt.» Ob auch heute noch, nach dem Verbot, daß Deutsche, wie Göring seherisch kundgab, «für alle Zukunft» keinen Nobelpreis werden annehmen dürfen, bleibe dahingestellt. Da wir nun schon bei den Juden angelangt sind, dürften einige Richtigstellungen angebracht sein, auch Empfehlungen bei Neuauflagen für unterlaufene Versehen. Hinter Max Liebermann steht in Klammern Jude; er wird sich darob nicht im Grabe umdrehen. Dagegen ist vergessen anzugeben, daß der Kapellmeister Leo Blech jüdischer Abkunft ist. Als Philosoph wird für die Marburger Schule Hermann Cohen (C-O-H-E-N), für die phänomenologische wird Husserl genannt, der reinrassiger Jude war, was man in der Redaktion bei Brockhaus anscheinend nicht weiß oder nicht wissen will. Klingt doch der Name genügend arisch! Daß Scheler eine jüdische Mutter hatte, verhinderte nicht, ihn anzuführen. Lustig ist es, daß Einstein folgender Sätze gewürdigt wird: «...wurde im Verlauf der nationalsozialistischen Revolution seines Amtes enthoben, ging ins Ausland, betätigte sich gegen das Dritte Reich und wurde ausgebürgert.» Es könnte zwar auch heißen: ...war seines Lebens nicht mehr sicher, wurde seines Vermögens beraubt, ließ sich, von vielen Ländern eingeladen, in Amerika nieder, das

258

es sich zur

Ehre

anrechnet,

ihm

die Mittel

zu

weiteren

Forschungen zu geben. In Amerika, so wird im «Allbuch» behauptet, das doch nicht alles weiß, wird der Antisemitismus durch Henry Ford vertreten. Was verschlägt’s, daß es heute nicht mehr so ist, daß er längst, ob aufrichtig oder nicht, Abbitte geleistet hat und sein Buch «Der internationale Jude», dessen Verfasser,

nebenbei gesagt, ein Deutscher ist, desavouierte, wovon man in Deutschland natürlich keine Notiz nimmt. Blutschande steht im «Allbuch» = auch Bezeichnung für Rassenmischung.

Auffallend ist dann, daß in einem Staate,

der so viel auf Blutreinheit gibt, als Kronzeugen für die «Kulturleistung der Deutschen» Treitschke und Nietzsche angeführt werden, deren Namen schon auf ihre slavische Herkunft verweisen, und H. St. Chamberlain, der als Engländer nur ein Wahldeutscher war, an den der Nationalsozia-

lismus nach Rosenberg «lebensvoll und unmittelbar» anknüpfen kann. A propos «Kulturleistung der Deutschen» wird ausgeführt: «Die Versuche, dem vielfältigen Kulturschaffen der Deutschen auch einen einheitlichen, stark politischen Untergrund zu schaffen, fanden erst ihre Erfüllung im Staat Adolf Hitlers, denn im neuen Reiche erfährt das gesamte deutsche Kulturschaffen eine einheitliche Ausrichtung (Ausrichtung in Reih und Glied, wohl wie beim Exerzieren. Warum nicht

gerade herausgesagt Gleichschaltung?) durch die nationalsozialistische Weltanschauung, vor allem durch die Besinnung auf die in der rassebedingten deutschen Seele liegenden Werte und deren Gestaltung.» Zum Schluß einige Zitate, zu denen sich jeder Kommentar erübrigt. Über deutsches Schrifttum lesen wir: «Die organisatorischen und propagandistischenMaßnahmen des nationalsozialistischen

Staates

haben

das

Ziel, den

deutschen

Schriftstelierstand vor dem Eindringen volksfremder und unzuverlässiger Kräfte zu sichern und eine Dichtung zu fördern, die von völkischem, blutsmäßig deutschem Geist und heldischer Gesinnung erfüllt ist und in der die Weltanschauung des nationalsozialistischen Menschen sinnbildhaft zur Darstellung kommt.» Auch in der deutschen Kunst soll, wenn auch «ferner», der

Held in den Mittelpunkt gerückt sein: «Im nationalsozialisti239

schen Deutschen Reich sollen die gesunden, irn deutschen Volkstum wurzelnden Kräfte zur Entfaltung kommen. Es entstand

zunächst

eine wirklichkeitsnahe,

beseelte

(als ob

Kunst unbeseelt sein dürfte!) Landschaftsmalerei... Erstrebt wird ferner die charaktervolle Gestaltung des deutschen Menschen und der heldischen Lebensauffassung.» Die höchste Stufe der Entwicklung scheint nun gar die deutsche Musik erklommen zu haben: «In der Gegenwart sind von Bedeutung die Lieder und Stücke der Hitler-Jugend, in denen der Geist der kämpfenden Gemeinschaft, der marschierenden und feiernden Mannschaft bündig zum Ausdruck kommt.» Nun sei des grausamen Spiels genug! Die gebrachte Blütenlese stammt aus dem ersten Bande des «Allbuchs», dem

noch drei weitere folgen, bis das Z erreicht ist. Was steht uns da noch bevor?

Frank Buchser:

Frank

Buchser,

den

«Ritt ins dunkle Marokko»

Gottfried

Keller

einen

wunderbaren

Erzähler nannte, schildert in diesem vor wenigen Jahren entdeckten und hier erstmals veröffentlichten Tagebuch seinen halsbrecherischen Ritt ins Innere Marokkos. Begeistert von den maurischen Baudenkmälern Südspaniens beschließt der junge Maler, ins Herz von Marokko, nach dem damals allen Europäern verschlossenen heiligen Fez, zu reisen. Als arabischer Scherif verkleidet, reitet er mit einem einzigen Diener, wie ein Heiliger verehrt, segenspendend von Duar zu Duar.

Mehrmals

faßt man

Verdacht,

der «Buchserstark»

wird sogar als Europäer entlarvt, aber es gelingt dem Verwegenen immer wieder, dem Tode zu entfliehen. «Mit dem wenig Arabisch, das ich spreche, als Heiliger durch dies Land zu ziehn, das heiß ich einen Streich, der mir einst in

meinen alten Tagen noch meinen Spaß machen soll», so schreibt er stolz in sein Tagebuch. Frühmorgens oder tief in der Nacht, im Zelt oder im Fonduk,

schrieb Buchser mit

rascher Feder die wechselvollen Erlebnisse jedes neuen Tages nieder. Die prickelnde Unmittelbarkeit einer Skizze, eine prachtvolle Anschaulichkeit, wie sie nur einem geborenen Maler und Erzähler glückt, eine von Seite zu Seite wachsen260

de Spannung floß in diese Blätter; der beschwingte Rhythmus eines kühnen Abenteurers, die farbige Sprachkraft eines Urwüchsigen erfüllt sie. Wie er malte, so schrieb Buchser hier, flott und frech, rassig und feurig, in einem Zug. Dieses Tagebuch ist sicher der wahrste Ausdruck Buchsers in seinem ganzen großen Werk, das unverfälschteste Dokument seines weltfrohen Wesens.

Spannung? Der Schriftsteller Kurt Guggenheim ist ein blonder kleiner Kerl voll geistigen Schabernacks. Wer ihn originell zu fragen glaubt, erhält immer eine noch originellere Antwort. Sozusagen alles sieht er anders als andere an, nicht aus Widerspruchsgeist oder Eigenbrödelei; es wächst ihm so, es sieht aus, als dächte er’s gerade daher. Wir redeten über den Feuilletonroman

und davon, daß

der Schweizer ihn nicht kann. Eben die donners Spannung. Wir sınd so besinnlich, so bernisch. Ich finde, das hätte doch seine Gründe, aus denen heraus

wir dem Schweizer Volk besser als die fremden Limonen entsprechen müßten. Desgleichen im Film. Immer Marlene, nie unser Gritli. Und ich schimpfe auf alle Instanzen. Er schimpft nicht. Er lacht aus seinem rosigen Gesicht heraus. Er hat gut lachen, die Politik interessiert ihn nicht. Er hat gerade ein neues Buch vollendet und ist voll seines Nelkengeruchs. Ich hab auch eins vollendet, bin aber schon beı den Verlegern, und hier riecht es anders. Immer die Spannung,

der Mangel an Spannung. Guggenheim lacht meinem Kummer ins Gesicht. «Ich bin gegen die Spannung im Roman», sagt er. «Ich bin für die Sammlung. Ich bin für Besinnlichkeit, für die Langsamkeit. Draußen hetzt es den ganzen Tag, da soll mich das Buch nicht auch noch hetzen. Überhaupt Spannung: Was können wir schon erfinden, das dem Zeitgenossen spannender als sein Fußballmatch wäre!» «Oder Madrid. — Sagen Sie’s doch dem lieben Leser, Guggenheim, das von der Spannung. Man muß es ihm sagen.» «Nichts soll man ihm sagen; man soll weiterfahren.» So fährt er denn weiter.

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Kleine Prosa

Das heimliche Zürich

Es gibt eins der Gärten, abseitiger Parke mitten im Getriebe, es gibt noch Kakteen- und Kapuzinerwinkel, geharnischte Wächter, die von den Brunnen herab ein trümmerhaftes oder

schon weggeräumtes Reich ein wenig nachtwandlerisch hüten; die Sonne wärmt Büchermärkte, deren verborgene Inhaber nicht wohl aus dem Dunkel ihrer Stuben, die Gelehrtenstuben sind, hervorbemüht werden; die papierenen Beete erhalten sich, wie man denken könnte, von der Nachmittagsstille und gelegentlichem wohlriechendem Regen, der hineinfällt; es gibt das Zürich der Waldsäume, die Höhe abendlicher Lampen im Wind, die Stadt der Schatten und Wasser;

mein Gott, es ist ein Ort, den die Stille trägt, gelegentlich wird es nachher ruchbar, welche Dinge in diesen Dachstuben reiften, Werke, die die Welt erfüllen; der Untergrund der Stadt ist die Klarheit, welche Teichrosen träumt. Die äußerlichen Verträumtheiten — Zunfthäuser, Treppen, Brunnen,

Standbilder — sind immer der Ausklang eines Lärms, das in sich gewendete Horchen nach verklungener Herrlichkeit, und es ist nun überaus unterhaltsam, den Ursprung solcher Wellen am Bug der Gegenwart zu bemerken; denn es läuft eine ewige Wende durch alle Erscheinungen, ein leises Gericht, in welchem die Früchte geprüft und geschieden werden.

Ein

Monument

oder ein Bauwerk,

eine Brücke,

ein

Park, eine Freske mögen einmal die Gemüter aufregen; kommt die Zeit, so stehen sie eingeordnet in das gute Bild des Gewohnten, sie borgen sich auch von dem Moose, trüben

sich unter dem Regen und nehmen über sich den feinen Schleier des Ältlichen-Überholten, Gediegenen, etwas Belächelten, Abseitigen — des Stillen. Wir mögen den harschen Fuß, der Idyllen austritt, verwünschen; aber ist nicht dieser Untergang der ewige Mehrer von Möglichkeiten? Der Tod ist der Bahnbrecher des Lebens. Gott strafe den Mammon, aber seiner Verdienste soll gedacht sein. Die Fürstenhäuser blieben nicht allein in dem

löblichen Ehrgeiz, ihre Schätze in Kunst umzuwandeln. Bankiers sind aus Metall gemacht, das Herz ist ein Tresor, aber irgendwo in ihrer Stahlkonstruktion scheint ein Wohlwollen für die Künstlerbande zu gedeihen, sie überlassen ihr Zigarren und Taler für den Gegendienst einer Malerei, eines 265

Bildwerks, eines Palastes. Gelobt sei die Großmannssucht,

die das Schöne nicht haßt. Am Ausgang der Bahnhofstraße, der heimeligsten und berühmtesten Straße Europas, steht auch Europas schönstes Haus. Kein griechischer Tempel ist edler gebaut als diese Börse, die sich nicht schämt, eine . Börse zu bleiben, die nicht um ihrer Anmut willen mehr sein

möchte, etwa ein Konzerthaus, als das sie ihren pikantesten Reiz, so schön und nützlich zugleich zu sein, verlöre. Schöne,

vornehme Frauen sind vor ihrem Kochherd am lieblichsten. Jene Bank, die ich meine, beliebt sich des Nachts zwei denkbar schlichte Lampen als Blumen vor die Brust zu stecken, wohl darum wissend, welch edles Spiel von Formen

alsdann die flaumige Front belebt; das Dunkel strömt aus den Toren, aber das ferne dämmrige Dachfries steht wie ein Schneegebilde vor der Nachthöhe, der Kalk löst sich in Rosen auf, alles steht leicht und frei und wie ein Busch in der Sternenluft. Mitunter einmal bleibt ein Poet mit erhobener Nase stehen, wenn es ihm plötzlich aufgeht, daß das schöne Seidenhaus am Paradeplatz in Hildesheim oder Rothenburg oder Nürnberg sich eben nicht zu schämen hätte, so korallenhaft kommt

es ihm vor in seinem

kühlen

Grau,

das aus den

Schatten der Tiefe gleichsam aufblickt in die Sonnigkeit des Himmels; verwogene Steinraupen eilen den Dachrand hinan, Löwen lehnen sich aufrecht an Pfeiler, um den Ernst des Gebäudes zu wahren, dieses gelassenen, heiterstrengen Werkes, das in sich selbst ausruht und in einem Rahmen bunt-

strahlender Fenster seinen feenhaften Inhalt entblößt. Apropos Auskleidung: In einem der Amtshäuser gibt es jetzt ein Vestibül

aus

Tausend-und-einer

Nacht,

eine

nach

innen

auskristallisierte Grotte von den Gnaden des Regenbogens: man

muß

nüchtern

um

diese Heimlichkeit

stolze

Gebärde

wissen,

schweizerischer

wenn

man

die

Sachlichkeit

durchschauen will. Vor den Toren der Stadt, in dem sauber

aufgemachten Garten eines Patrizierhauses siedelten sich einige Bronzen an, die keine Tugend, nichts Demokratisches verkörpern, aber in aller leichtfertigen Goldigkeit einfach himmlisch daliegen und dastehen und irgend etwas Verdämmertes lächeln und sinnieren. Ihnen deutet über Baumkronen hinweg eine Schwesterlibelle, die in den Blumen des Belvoirs ihrerseits ein Geheimnis tanzt. Im Kirchenpark von 266

Enge stehen zwei Sockelfiguren aus Jurastein, man möchte sagen das Abbild des Tröstlichen unserer Zeit, das Monument

der Gradheit,

von

unscheinbarer

Anmut,

die sich

entdecken läßt, heiter und gläubig. Die Hand ihres Schöpfers bosselt eine weiche krause Art von Putten, Fischen und sehr entrückten Frauen, die man da und dort auf Gräbern in Efeu

finden mag, wenn man gut sucht. Ich führe noch den «Jungbrunnen» im Kunsthaus an, zu dem man pilgern soll, sodann die beste Radierung auf Goldgrund,

die Platane

der Hohen

Promenade,

ich führe das

Gehänge der Alpen an, um die Verdienste einer Stadt aufzuzählen, in welcher der Fremde ein wenig ratlos aber achtungsvoll herumsteht, indem er wohl klug genug ist, deren Großtaten nicht an Denkmälern zu zählen, die sie im übrigen nicht zu entstellen brauchten, selbst wenn sie keine römische Marmorseligkeit, sondern nur das Leben anstrebten, welches erwiesenermaßen das schöne, vielsagend schweigende Volk der Steinbilder, auch heute noch, in die

Büsche bringt. Zurich

Was wäre Zürich ohne den Albis! Manchmal überdunkelt er uns wie eine javanische Palmenhöhe. Noch um Mitternacht brennt auf seinem Grate eın Licht, das in den Büschen heiter

macht wie der Schein eines Leuchtturms im Ozean. Der See ist an seinem Ende ein Bassin, mit Eisengeländern schön eingefaßt, von Alleen umrahmt - ein Bassin voller Dampfschiffe, Jollen,

Floße,

Bojen,

schwimmenden

Menschen,

Kohlenrauch, Sonnengeglitzer. Es gibt nichts Sonntäglicheres als den Stadtsonntag: Die Jünglinge kommen in Seglerhosen, das Glockengeläute schwimmt auf den Wellen. Wer die Woche auf Bureaustühlen, in Läden und Lagerhäusern, in Garagen, Werkstätten verbrachte, vergöttert Luft und Licht — an Sommersonntagen gleicht der See hier einem Jahrmarkt mit den Farben seiner Boote, Segel, mit widerhallender Musik der Grammophone. Die Stadt wird dann ganz still, die Schritte einiger Einzelgänger hallen durch sommerliche Gassen, in einem offenen Fenster lachen sie hemdärmlig, pfeiferauchend, ein Kanarienvogel hüpft nervös von Draht zu Draht, und über den Dächern türmt sich riesenmä-

267

Big bis ins Gewölk hinauf die Melodie aus dem Rundfunk. Gegen Abend strömt es dann wieder zurück aus Wald und Feld und Wasser, mit großen Sträußen von Buchenlaub, mit

Kerbelpfeifen, mit Ballonen und Tuten von irgendeiner Bauernkirchweih. Die Straßenbahnen laufen, die Speisehäuser . füllen sich, Lampen flammen auf, die Sohlen der Fußgänger klöppeln am Asphalt, der Strom der Autos donnert verhalten, mit einem grellen Köter von Töff inmitten — der liebe Betrieb der Stadt hebt wieder an. Zu Hunderten und Tausenden ergehen die Menschen sich in den Straßen; unterm Himmel aufgehängte Glühbirnen sprühen Licht darüber, die Neonröhren malen Tupfen von Grün, Rot, Violett, Gelb in die Glastiefen, die Kinos flammen wie Himmelstore, Sterne und Mond treten zurück vor so viel irdischen Lichtern. Im Walde ringsum, auf dem Zürichberg, Käferberg, an den Hängen des Uto, tragen Füchse ihre neugierige Nase heran, erblicken das Laternenmeer, schwingen das Bein und verziehen sich wieder dem Geruch der Ackerschollen entgegen —

hier unten sieht man nur ihre Felle in den Auslagen, geisterhaft wie in Aquarien, zusammen mit Persianern, Skunks, sibiırischem Hermelin, und die Wasserfälle aus Seide stehen

reglos in der Nacht der Läden; Rosenbüsche, Orchideen, Mimosen, Nelken, grünes Gehänge blicken übernächtig auf die Straße heraus; Warenhäuser dämmern wie Märchenpaläste aus Glas ins Gewölk empor, Bankgebäude knöpfen sich vornehm zu, in den Buchhandlungen ragt der Wald der Regale, sein Bücherlaub glänzt herbstfarben in der Straßenbeleuchtung. In den Zuckerbäckereien ist wenig Eßbares zu sehen; man stellt wunderhübsche Geschenkpakete — samt Adresse ins Ausland — man stellt Luxuspuppen, Blütenzweige aus Muscheln oder Goldpapier, man stellt Kopenhagener Porzellan hier in die Fenster, aber nur ja nichts Süßes, abgesehen von etwas Schokolade allenfalls. Die aristokratischsten Firmen haben Schaufenster so groß wie kleine Bühnen; es liegt ein Damenkleid, schmal zusammengerafft, wie eine Halsbinde darin, oder gar nur ein Namenszug in Metall. Jemand hat die Bahnhofstraße die schönste Europas genannt. Es ist ja auch eine europäische Straße, man hört dort Berlinisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Holländisch, Japanisch, gelegentlich sogar Schweizerdeutsch. Südwärts schlüpft sie über einen gepflästerten Hang geradewegs

268

unter den See, und wenn die Dampfer dort liegen in ihrer Wucht,

denkt

man

nicht anders,

sie würden

auf Rädern

hinaus in die Gassen fahren. Jene Fremden, die Zürich ein langweiliges Kaff nennen, haben mit ihrem Täschchen an der Hand ein wenig in der Bahnhofgegend herumgeschnüffelt, ein Pilsener Bier getrunken und wieder ihren Express bestiegen — sie sterben ohne eine Ahnung vom Wunder Zürichs: seinem Seeausblick! Ä Es ist wie mit so manchem: wer durchhält und ans Ende geht, wird durch die Erfüllung belohnt. Zürich hat nicht zufällig Blau und Weiß in seinem Wappen; immer blauer scheint es durch die Alleebäume, das Weiße von Segeln und "Wolken mischt sich hinein, und auf einmal geht der Blick über das ganze Schneegebirge auf; es thront gleichsam auf der Höhe des Sees, grüne Hügelzüge steigen zu ihm hinauf mit Dörfern,

Kirchen,

Fabrikschloten,

Straßen, Baumgär-

ten; Halbinseln ragen ins Wasser vor, in die schöne Schneespiegelung, welche die Felsenkrone noch höher macht: man denkt, Italien liege unmittelbar hinter den Gipfeln und Gräten, Bergmatten und Paßlücken, es scheint mit dem Gold von Orangen,

dem

Marmor

der Bildhauer, der Bläue des

Meeres daran hinauf! Noch glaubt man die farbigen Schlangen der Landsknechtsheere, den Igel ihres Speerwaldes herabwogen zu sehen! Wie viele zogen hinüber nach Rom zu den Päpsten! Heute rollen die Bahnzüge zum Gotthard, rechterhand unter dem Zimmerberg hindurch; ihr eiserner Lärm widerhallt noch lange in der Wassernacht, die Wildenten flüchten davor aus dem Schilf und sausen über die Kirchtürme hinweg nach Norden. Wer sich ein wenig auskennt, findet mit Leichtigkeit die Altstadt, das Zürich der Brun und Waldmann, aus der Häuserüberschwemmung heraus. Etwa von der Höhe des

Polytechnikums

gesehen, dehnt sie sich uferlos, spült ins

Sihltal hinein, rinnt mit Fabriken und Arbeitervierteln weit in die Limmatebene hinab, brandet über den Milchbuck

nach Seebach hinaus und hat den letzten Rebstock der Weingärten am Zürichberg verdrängt: seine Sonne gehört den Millionären, es ist die Gegend der Einfamilienhäuser, Straßenbahn gibt es hier nicht, jeder hat seine Limousine. Mancherorts kommen auch Hauslehrer mit ihrer Mappe, um die Herrenkinder in ihren Villen zu unterrichten. Diese 269

Villen gehen mit Glasveranden auf den Abgrund von Park, Seeufer und Gebirge hinaus; ihre Papageien machen runde Augen, wenn die Rauchbäume der Dampfer schräg ın den Luftraum 'heraufwachsen. Das Land sieht aus, als ob es schwimme, der See krümmt sich sichelförmig bhpal unddie Giebel, Türme, Kamine stehen dicht wie Schächfiruu: ineinander. Das eben ist das mittelalterliche Zürich, seine Dächer sind steil, die Gassen winklig und krumm, die schönsten Kirchen: Prediger, Großmünster, Fraumünster, Sankt Peter stehen alle auf dem Fleck beieinander, ebenso die Zunfthäuser, Rathaus und Helmhaus, die unvergleichlichen, wenn schon muffigen Bauten des Niederdorfes und um den

Lindenhof. Die alte Abgrenzung der Ringmauern ist noch sichtbar in einem Straßenband, das beim Bellevue beginnt,

über den Seilergraben zum Stampfenbach die Bahnhofstraße hinaufan den See führt. Was außerhalb liegt, ist neu und fast durchwegs von häßlicher Bauart, gleich wie die anmaßlichen Paläste, die an Stelle abgerissener Altmodigkeiten aufgeführt wurden:

dıe Amtshäuser

an der Limmat,

das Baukasten-

schulhaus am Hirschengraben, die Schnörkeleien ums Metropol. Die Wohnstätten der Vorväter sind wacklig geworden, sie schlagen Salpeter aus und faulen in ihrer jahrhundertealten Luft; ihre Form aber ıst edel geblieben, die Farben, die sie angenommen haben, sind gar nicht nachzumachen. Heute beherbergen sie Armut und wohl auch Verkommenheit, sie stinken aus ihren Treppenhäusern, die Glühbir-

nen brennen sogar an Sommertagen in ihren Höhlen; aber wie Bettler sind sie stolz auf ihre Ausweise vergangener Herrlichkeit: «Das Haus zum Sitkust. Letzte Wohnung des Bürgermeisters Hans Waldmann.» — «Ulrich Zwinglis Amtswohnung. Von diesem Hause zog er am 11. Oktober 1531 mit dem Heere der Zürcher nach Kappel aus, wo er für seinen Glauben starb.» — «Haus zum Loch. Nach der Sage einst Residenz von Kaiser Karl dem Großen.» — Man sehe sich einmal aufmerksam das Limmatquai an, beim Helmhaus beginnend, am Rüden, an der Safran, am Rathaus entlang: ein kleines demokratisches Rom zieht im Film vorbei, eine

Zeit stolzer Wohlhabenheit. Spätere Geschlechter bauten Adelssitze wie den Rechberg, den in seiner Einfachheit herrlichen Beckenhof, das Muralten-, das Arter-, das Landolt-

gut. Damit ging es 1798 zu Ende. 270

Der Ausdruck dessen, was nachkam, ist bürgerliche Ge-

schäftigkeit: Das Zürich der Banken und Warenhäuser bildet sich heraus, rein anblicksmäßig eine unerquickliche Sache die Bahnhofstraße

steht über dem Grab der Frösche, dem

aufgefüllten Fröschengraben, und Europa hin oder her, Himmelsportale hin oder her, die Gegend ist stellenweise noch immer ein trüber Teich, in dem zwar nicht Grabenwasser, wohl aber die ungesund aufgestauten Millionen faulen. Eine ärmliche Zeit wird sichtbar in der faden Architektur der Villen ebenso wie der Arbeiterviertel: In Wiedikon-Aussersihl gibt es Straßen von chinesischer Fremdheit, bedrückende Aufreihungen der Bedürftigkeit, Basar an Basar, Pinte an Pinte, Wohnkaserne an Wohnkaserne. Der Geruch von Knopfwaren und Trikotage schlägt sich einem auf die Seele. Die Armut hat gerade noch Geld zu Bier, in dessen Dunst sie sich vergessen kann. Schon erhebt sich das Heulen der Fabriksirenen. Ein Schweiß von Tau und Kaminrauch hat Mauern und Gestänge beschlagen. Anderseits gehen von hier die Überlandzüge aus, und es riecht immer irgendwie nach Meersalz um die Königskerzen am Bahndamm. Der Zürichberg blüht in der Abendsonne. Sie scheint durch die Tannen des Uetliberges, und die Dampfwölkchen über den Dächern leuchten hell davon auf. Die Röte des Himmels spiegelt sich in den Schienensträngen. Unaussprechlich rührt der Pfiff der Lokomotiven ans Herz. Der Klang eines Hörnchens überschlägt sich in der Glashalle des Bahnhofs. Gewaltig wie Meerdampfer stehen hier Züge nach Paris, Berlin, Antwerpen, Wien-Budapest, Genua. Stadtbuben berühren sehnlich ihre stählerne Flanke, blicken bewundernd zu den Lokomotivführern hinauf. Diese Männer werden

das Meer

sehen, denken

sie sich. Sie wollen

Lokomotivführer werden. Traurig bleiben sie auf dem leeren Bahnsteig zurück, die letzte Wagenwand verschwindet mit einem Ruck im Signalgehölz. Es geht die Sage von einem Tunnel zwischen Bahnhof und Sihlpost; da verkehrt, mit Schlußlichtern, eine doppelte Kolonne gelber Postwägelchen hinüber und herüber. Millionen Pakete am Tag! Oben geht alles automatisch mit Paternosteraufzügen, Rollstreifen, Drahtseilbähnchen, Verteilern. Die Autos drücken eine Schiene nieder, und wie von Zauberhand öffnet sich das

Portal. Postbeamte wollen sie werden. 271

Einstweilen beschäftigen sie sich damit, Steinchen in die Sihl zu werfen. Sie bringt gelbes Wildwasser. Sie duftet nach Wald und Försterhaus. Einer weiß von Zementröhren, durch

die man in die Unterwelt eindringen kann. Der See läuft unterirdisch weiter, die Stadt steht auf Grundwasser, ein Wunderwerk von Kanälen ist in der Tiefe. Die Fußgänger vernehmen auf einmal das Hallo von Knaben durch den Asphalt herauf. Es gibt einen großen Rummel mit Telephon, Polizei, Tränen, Umarmungen. Die Stadtjugend hat auch ihre Abenteuer. Sogar die Schule kann etwas Romantisches an sich haben - es gibt eine solche Menge Kinder und Lehrer in den Riesenkästen, daß man

sich darin wie ein Fabrikar-

beiter vorkommt. Es gibt Klassenzimmer mit Geranienfenstern, solche

mit Aquarien

und

Terrarien,

andere,

deren

Wände mit Plakaten tapeziert sind: da ist der Elefant mit dem rosa Flamingo des Zoologischen Gartens, da ist P.K.Z., die Sihltalbahn mit ihren Rehwäldern,

ein amerikanischer

Aufbau aus Brücken, Türmen, See und Gebirge — das Märchen Zürich! Die Plakatsäulen sind, besonders im Winter, um und um beklebt: Ein neues Kino, ein Cafehaus, die Kunsteisbahn wird eröffnet, im Theater spielen sie «Die Zauberflöte», im Schauspielhaus den «Sommernachtstraum», in der Tonhalle

tritt das Wunderkind Menuhin auf, Charly Chaplin im Roland, Greta Garbo im Capitol, Tom Mix im Olympia. Grasshoppers gegen F. ©. Lugano, Sonntag drei Uhr im Hardplatz. Steher hinter großen Motoren, Rennbahn Oerlikon. Auf Dezember vorangezeigt Sonja Henie und Rudi Schäfer. Der Lindenhof entblättert sich, regnet mit seinem Laub nach der Schipfe hinab. Graue Wolkenspiegelung macht die Limmat

tief, Möven kommen

an Land und stehen auf den

Geländern. Die Boote liegen auf den Floßen. Die Kapellen ziehen sich aus den Gartenwirtschaften

zurück, unter den

Bögen rührt schon der liebe alte Marronibrater in seiner Pfanne herum. Dem Zwinglidenkmal bei der Wasserkirche steht eine erschrockene Taube auf dem Haupt. Im Nebel um den Glärnisch geht etwas vor; seine weißen Heerscharen sind eines Tages bis zum Etzel vorgeschwärmt, es kommt Schnee in den Regen, der See schluckt ihn auf; aber den Brunnenfi-

guren bleibt er im Gelock liegen, und in der Morgenfrühe ist

272

.

überhaupt alles weiß, es wirbelt mit den Mövenschwärmen um die Wette von Flocken, als ob sie mit Riesenbesen den

ganzen Kanton auf seine Hauptstadt zusammenbürsteten. Darauf haben die Städter schon lange gewartet. In Scharen ziehen

sie aus, die reinsten

Rentierherden

mit ihren

geschulterten Skis und Stöcken. Sie verteilen sich über die Hänge des Albis und in das Schneegebirge, das zu der Zeit wie ein Blustgarten jenseits des Sees leuchtet. Auf allen Alphüttendächern strecken sie sich in die Sonne, naß und müde, von allen Gräten blicken sie in die Schneetiefe. Sie suchen mit ihren Augen den See und raten aus der Lage des Pfannenstiels auf ihre Stadt: das Heimweh zieht sie bereits,

die Feriengänger denken mit Wehmut an so manches, dessen stiller Gewalt sie sich nicht geachtet hatten. Alles was traulich und fein und unvergleichbar an dieser Stadt ist, umgaukelt ihnen das Herz: seine Tramglocken, sein Sonnabendgeläute, der Asphalt voller Herbstlaub, der Gummiglanz auf den Plätzen, die Verkehrspolizisten, Jelmoli, die Büsche im Tonhallegarten, Magnolienbäume, der Landungssteg am Zürichhorn, die Alkoholfreien mit ihrem Gugelhopf, die

Armutei sogar, wenn es die engere Heimat ist, Häuser mit Birnbaumgärten, Pferdeställe, die schneenassen Treppenhäuser der Schulen,

die Schiffswerft, die Galerien

an der

Limmat, die stille feine Luft an der Künstlergasse, ein Wind von Puder, ein warmer Schwall aus den Hotelküchen, dann der Geruch von Eisenbahn, Paläste voller Bücher, der lichte

Schein der Zeitungen und das unbeschreibbar Tröstliche gedankenheller Menschenstirnen. All das ist Zürich.

Kennwort: Die Eroberung von Zürich Da der Film in die Zeit einer Viertelstunde hineingehen muß, denke ich ihn mir durch Arbeitsteilung rationalisiert: Eine Reisebekanntschaft von fünf Köpfen (ein Reisesnob mit Gattin, ein Dichter, ein amerikanischer Reporter, eine mondäne junge Dame und ev. ein holländischer Architekt) brechen aus, um sich einzeln während eines Zwischenhaltes von ein paar Stunden Zürich zu «erobern». Dabei erweist es sich, daß fürs erste jeder das sieht, was zu sehen ihm nach seiner eigenen Art gegeben ist, und daß, mit Beziehung auf die

273

Einwohnerschaft,

wie allerwärts

herausklingt,

was

in den

Wald gerufen wird: der Grobian erntet Grobheit, der Liebenswürdige Liebenswürdigkeit. Beginnt etwa damit, daß bei noch blinder Leinwand «Zürich, alles aussteigen!» gerufen wird. Großaufnahme einer Landkarte, die entfaltet wird. In einem Bahnwagen: Rummel des Aufbruchs. Bereits kommt auch der Snob mit dem Schaffner in Konflikt. («Hab ich’s Ihnen nicht gesagt? Ein Volk von Rüpeln werden wir finden, wie es Keyserling für alle Zeiten charakterisiert hat.») Blicke durchs Fenster: Der

See, Pfannenstiel, die Schneeberge (die «Fassung» Zürichs). Start vom Hauptbahnhof. Der Snob erstürmt einen Rundfahrt-Car. Der Reporter (Blick über Semperbahnhof, Fernheizungsturm) rast im Taxi davon. Die junge Dame, in Not zwischen zwei sich kreuzenden Tramwagen, wird von einem hübschen Studenten aufgefischt und gleich in Verwahrung genommen. Der Dichter hat sich in sie verliebt und stapft in schwerer Bekümmernis durch die Bahnhofstraße davon, oh-

ne das geringste von der Stadt zu sehen (nur, infolge seines verträumten Wandels, Gezweige und Tramdrähte). Das Pärchen im Uetlibergbähnchen. Der Reporter auf der Zeitungsredaktion, im Kantonsratssaal (Sitzung), im Interview eines Straßenkehrers, beim Bankdirektor, Psychoanalytiker — oft in Verbindung mit den Beobachtungen der zwei auf dem Uetliberg; der Student zeigt dort seinem Schützling durch

ein Fernglas die Sehenswürdigkeiten (wo dann der Reporter oder der Rundfahrt-Car

oder der Dichter erscheint).

Der

Dichter ist traumwandlerisch auf einer Bank am Alpenquai angelangt, wo er in der Folge sitzen bleibt. Der Reporter gerät in einen Schulhof während der Pause hinein, besucht die Schule und erfährt in Heimatkunde von der Geschichte Zürichs: (Projektion) Urochsenwald, Pfahlbau, Pfalz, «Als Kaiser

Karl

zur

Schule

kam...»,

Fraumünster,

Kinder-

Chorgesang etc. — alles immer im wirbelnden Wechsel mit dem Auftreten der übrigen Akteure. Das Fernglas des Studenten hat ein Radiumauge, vermag der Stadt gewissermaßen in die Seele zu blicken: Waldschluchten des Sihltals entlang, Gemäldegalerien, Budenstadt Albisgütli, Banktresors, Neubühl, Modefenster, Cafes, Tiere des Zoo, Kunsteisbahn, Regatta. Der Dichter hat immer nur den Seeausblick vor sich: Möven, Boote, hat die Vision der Nacht mit

274

gespiegelten Sternen, sieht aus der Leuchtfontäne, aus Feuerwerk die Gestalt der Angebeteten hervortreten und über das Wasser sich ihm nähern; Liebesstunde, Magnolien, der Park mit Krokus, die Ufer im Maienblust. Der Snob hat sich

nach und nach durch seine Arroganz (die Nase immer zuvorderst) in dem Wagen unmöglich gemacht und wird geschmissen. Auf dem Berg ist getrunken worden, der Student erzählt von einem etwas sonderbaren Fußballmatsch (Großbild Förrlibuck), bei welchem beispielsweise einem der Spieler der Ball auf den Schultern sitzen bleibt, während der Kopf fortrollt und getschutet wird; ein anderer schickt inbrünstig den ganzen Unterschenkel, mit dem Ball verwachsen, von sich ins Goal. Der Dichter hat sich aufgemacht, glaubt unter den Straßengängern die Geliebte zu erblicken und schlägt sich erschrocken seitwärts (nach seinen hochgemuten Traumtaten). Zürichhorn.In der Folge sieht er an allen Menschen nur noch das Gesicht der Erträumten, auch

an den Denkmälern. Reporter bei Trudi Schoop in der Kleinkindergymnastik. Bei Escher-Wyss. Student schlägt Theater vor (Stadttheater, Roxy). Sie betrachten die Aussicht übers Bergland, Abstieg über das «Leiterli», Tennis im Waldegg, Waldwege. Samt und sonders verfehlen sie um ein Haar den Zug: Der Snob, weil er sich im «Kropf» bei Schweinsfuß und Sauerkraut versessen hat, der Reporter um den Kiosk («Zeitungsigel») beschäftigt, der Dichter verirrt sich und rennt konfus durch einen Sturm von Gassen (vage Bilder der Altstadt, Limmat, Schipfe) — der Student schiebt das Mädchen auf den schon fahrenden Zug: Abendgeläute, Dämmerung gegen das Limmattal, Königskerzen am Bahndamm, Lichter, Internationalismus, Abschiedsschwermut. Das Fräulein: «Ich

habe mich in Zürich wunderschön amüsiert!» Der Dichter: «Ja, es ist eine schöne Stadt.» Der Snob: «Mit einem Volk von Rüpeln.»

Kleine Beobachtung Man kann in der Stadt etwas geradezu Rührendes bemerken, das wir der Verwaltung zu verdanken haben. Der Staat entschlägt sich im allgemeinen der Sentimentalität und

275

denkt nur an die gröbsten Forderungen seiner durch Masse bedingten Sonderart. Das ist ihm nicht zu verargen, obwohl es ihm natürlich bitter genug vermerkt wird, derart, daß er, der Staat, den man sich als einen beleibteren, gesetzten

Herrn ohne große Liebhabereien noch überhaupt Emotionen wird vorzustellen haben, sich in seinem Wesen sogar beeinflussen ließ und kunstfreundlich wurde, was gar nicht seiner Veranlagung entspricht. Er läßt sich derweil beraten, zum Glück, so daß die Ergebnisse seiner Gefühlsanwandlungen nicht unbedingt verwerflich ausfallen: Es stehen wackere Bildsäulen da, er tut sich was zugute drauf; er neigt den Einflüsterungen modernen Puritanertums sein Ohr, kleidet sich in Farbe, huldigt vereinzelt Mode gewordenem Humor; seine öffentlichen Gärten wiegen sich mit Dolden und Kronen lieblich und eindrucksvoll - allein es sei von alledem nun abgesehen, dient es doch in der einen oder andern Form auch wieder nur der Nützlichkeit, dem naturgemäßen Liebling der Staatswohlfahrt. Auch gratis strömende Brunnen sind an sich nicht eben mehr bemerkenswert; wohl aber möchte ich mir den Behördenmann ansehen, der es für diskussionswürdig hielt, am

Fuße dieser Brunnen kleine Tröge für den Durst des Hundes anbringen zu lassen. Er soll leben, dieser Gerechte, der sich seines Viehs erbarmte! Er besaß die Einsicht, daß keine

Billigkeit dabei ist, die Wässerlein der Erde unter Asphalt und Zement zu vergraben und durch die raffiniertesten Patente hochmütig nur an die Nase der Menschheit empor zu leiten. Die Krone der Schöpfung hat die erste Wahl auf alle Erquickungen, aber die Bestimmung der Brosamen ist es, unter den Tisch zu fallen und auch die Geringen noch zu nähren. Die schöne, so gar nicht weiter belohnte oder auch nur beachtete Menschlichkeit, die hier aus Gestein hervorblühte, erscheint wie das Lächeln der Kindlichkeit im Antlitz einer untadeligen, ehrsamen Landeshauptstadt. Als ob

der Dichter in ihr sich zu dem kleinen Schabernack und Allotrıia ermannt hätte. Wenn sie nun vierbeinig antraben mit flüssiger Zunge, sturm vor der Sommerhitze, bemerken sie im Schatten die Schalen, die ihnen aufgestellt sind, und trinken mit dem guten Bewußtsein, es zu verdienen, daß solche Brünnelein

für sie fließen. Es ist nicht anders möglich, als daß ihnen 276

angesichts der aus dem Granit rinnenden Labe eine gewisse staatserhaltende Beruhigung über den Zustand der Welt wird. Es mag befremden, daß der eine oder andere Dackel sichtbar der Meinung huldigt, ihm und nur ihm füllten sich solche Pokale; sein Irrtum erhalte ihn! Minder begünstigte Existenzen jappen das Wasser diebhaft und listig oder aus erschütternder Draufgängerei. Viele kommen wie aus der Wüste just auf den Quell her, schnüffeln eine Weile besseres Dasein, ducken die Lider und galoppieren wieder weg. Was aber kein Kindskopf von Hund ist, das weiß Bescheid über die Herkunft aller Barmherzigkeit; es fletscht dankbar begeistert seine Zähne hinauf zu der wohltuenden Sache des Menschenherzens.

Wasserfontäne im Seebecken

Eine Diskussion über diesen Punkt wird hoffentlich nicht auf sich warten lassen. Alle, denen der unvergleichliche SeeAusblick Zürichs für den Privatgebrauch gerade anziehend genug erscheint, werden sich seiner Verschandelung durch solche Attraktionen für Kurgäste von Herzen widersetzen. Selbst wenn «tatsächlich mit der Verwirklichung dieses Projektes vielen Interessen und Kreisen gleichzeitig und dauernd gedient werden könnte, die Dampfschiffverwaltung und die vielen Bootvermieter eine Steigerung ihrer Einnahmen buchen» würden, dürfte das keine hinreichende Begründung für die Installation dieser Kinderei sein. Wer jemals seine Augen an dem zauberhaften Abgrund von Sternenspiegelung erlabt hat, stelle sich darin eine Leuchtfontäne von der doppelten Höhe des Corsogebäudes vor und frage sich, ob der liebe Gott diese Korrektur an seiner Landschaft verdient habe. Vergleiche mit Paris sind schon aus dem Grunde nicht angebracht, als Zürichs Gestade keine Kolonialausstellung sind. Davon abgesehen macht ein aus einem See aufsteigender Springbrunnen immer einen mühseligen Eindruck, weil selbst den Laien das physikalisch Widersinnige der Institution ärgert: aus eigener Kraft würde der See niemals diese Wassermassen über sich selbst hinauswerfen. Es ist die Geschichte von Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe zieht. Das schwimmende Weltwunder würde 2ER

außer einem fragwürdigen Schönheitssinn nur die Neugier auf den Mechanismus locken, und dafür ist jedes Stück Vaterland wirklich zu schade.

In der Corbusierausstellung

sieht man die Typen des Beschauers deutlicher als anderswo in Erscheinung treten. (Übrigens kann man nicht sagen, daß «das Volk» in der Schweiz sich nicht für bildende Kunst interessierte;

es kommt,

trotz



oder

vielleicht

wegen



mancher Enttäuschung in Massen immer wieder.) Da trollt sich der Haufe der Kleinbürger, die’s zu wissen meinen und ihren Humor demonstrativ, wenn auch ungefragt, zum besten geben in Bemerkungen, die man nicht unter den Scheffel stellt. Es sind die, welche zum Beschluß in die Säle der Meister gehen, um sich zu erholen, wie sie sagen; in Wahrheit erholen

sie sich erst

bei Bier und

Wurst,

denn

sie

verstehen die Meister wenn möglich noch weniger, und sie hätten in ihrer Zeit auch diese abgelehnt. Dann sind da die Demütigen, zu lernen eingerichtet, Lehrerinnen und Arbeiter, die es betrübt, nicht zu verstehen. Ihrer ist das Himmel-

reich. Dann die Snobs, welche das die Überwindung Giottos nennen. Eher wird ein Kamel durchs Nadelöhr... Etwa Kunstgewerbler, das Tellerhütchen weist darauf. Schließlich die Unabhängigen; sie anerkennen die Vitalität des farbigen Ausdrucks, finden das aber nicht alles, insofern als sie von

Kunst etwas mehr als das verlangen, Ausdruck der Zeit zu sein, abgesehen davon, daß sie die Formel von der Embryonalität dieser Zeit ablehnen. Und ein paar ehrliche Jünger, denen das Religion ist.

Cholerische Träumerei

Schöner Mond, du bist heute wie ein Jud, der Umgang mit dir macht einen Menschen lächerlich. Stehst dennoch als ein Sinnbild des ewigen Abseitigen, des abseitig Ewigen in der Morgenkühle, und deine Klarheit ist wahrer als unser Staub.

278

Da wir an die Unverwüstbarkeit des Lebens und an die Kraft des Geistes nicht nur blindlings, sondern aus der Erfahrung von Jahrtausenden glauben, kann uns die empörende Seite am Menschengeschlecht, die Düsternis der Zeit, die Drohung der Zukunft im tiefsten Grunde nichts anhaben: Und wenn sie die Erde in Dreißigjährigen Kriegen neuzeitlicher Ausstattung verwüsten sollten, wenn sie, wozu sie durchaus die Gabe haben, Europa buchstäblich zu Stücken schlügen - in irgendeinem Winkel der Kontinente wird doch die ungeheuerlich gewaltige, phantastisch schöne Sache der Völkergeschichte wiederum aufllackern und ihren Fortgang nehmen,

und wer weiß, wie beruhigt die Nachfahren

von

unserem Weltuntergang denken würden: die gewaltigsten Kulturen wurden vom Geschichtsgeist an die Ermöglichung des Neuen gewagt: so unerschöpflich ist Gott.

Wenn man sich einmal einen Augenblick lang vorstellt, die Sache Griechenland läge nun einige Jahrtausende weiter zurück im Sagenhaften, in der Idee davon, und es hätten sich keine der alten Plastiken oder auch nur eine Säulentrommel durch die Zeiten erhalten: Wie unheimlich mutet uns dann die Wirklichkeit einer solchen Tempelruine, Sunion etwa, an? — Ungefähr so, als ob plötzlich ein zottiger Pan auf dem Hügel aufstünde. Wir fühlen, welche «innere Richtigkeit» in der hellenischen Erfindung steckt, die Marmortrümmer erscheinen uns als das ausgewaschene, reine, geisterhafte und

doch steinhart greifbare Gebein der Verkörperung transzendentaler Gebiete. Eigentlich sollten auch Hufe von Einhörnern, Tuten der Tritone noch aufzufinden sein. Die Materie ist ein Korallengebirge, der Geist das winzigkleine, millionenfach verteilte Lebewesen darin, ruhelos, ewig, über sich

selbst hinaussteigend, auf dem verworfenen Gehäuse von Säulenaufbauten, Kathedralen, auf verlorengegangenen Melodien, verschlammten Epen dahinlebend. Das Traurigste, was der Menschheit widerfahren kann: daß sie sich an das Wunder gewöhnt. Der weiße Hirsch sprang nicht vorbei, sondern ätzte nebenan. Aber den Schildbürgern fehlten die Augen dafür.

279

Es ist sicher ein wesentliches Geheimnis, warum den Menschen «der Sinn für organische Form» (Fritz Stahl) eines

Tages abhanden kam. Man reise durch die Schweiz und vergleiche ihre Architektur der letzten sechzig Jahre mit den Überresten jener guten alten Zeit, die, mindestens was Seelenruhe,

Ehrlichkeit,

Sachlichkeit,

Harmonie

anbetrifft,

wirklich eine gute Zeit gewesen sein muß: alle Patina abgerechnet, stehen die Erzeugnisse der Alten wie ein Geschlecht für sich, das heißt wie Natur in den furchtbaren Versündi-

gungen etwa von der Gründerzeit an. Das alte Luzern zieht sich sauber wie eine Schattenlinie durch alles, was nachher

kam; die Weinberghäuser am Bielersee sind aufs Tüpfelchen so schön wie der natürliche Fels um sie herum, Kirche und

Pfarrhaus von

Oberhofen

am

Thunersee

müssen

als ein

wahres Wunder baulicher Einheit bezeichnet werden, wäh-

rend ein Gang, beispielsweise die unteren Zürichseeufer hinauf, die Gesundheit angreift: das ist eine Schuttablagerung von Stilgreueln, eine Krebswucherung der Landschaft, wo es die romantische, steigernde Wirkung tatsächlicher Architektur haben könnte. Erst im neuen Bauen schafft wieder die heilige Nüchternheit, welche der alten phantasiemäßigen Kräfte mächtig ist, obgleich sie sie scheinbar verachtet. Der Kleinbürgergeist ist freilich auch in den Bezirk von Glas und Stahl längst wieder eingebrochen und treibt hier seine Blüten, um die uns die Enkel belächeln werden.

Man kann heute Autos, Dampfer, Segelflugzeuge von durchaus vollendeter Form sehen: das sind unsere Aphroditen und Colleoni.

Läge die Kritik unserer Tage nicht auf der faulen Haut, so würde sie aufhören, das Gerede von Alexandria zu wiederkäuen und sich ein wenig mehr um das Positive bemühen:

Solange sie nichts getan hat, die Gedichte Billingers, Peter Huchels, Trakls, die meisterliche Prosa des Paul Alverdes, den völlig verschollenen, einmaligen Robert Walser, den Homer

von «Fontamara»,

Silone, den regelrecht und nach

allen Kanten schon in seinem Erstling genialen Amerikaner Thomas Wolfe der Leserschaft wirklich, durch ausdauernde

Bemühung, nicht bloß in einer Pflichtbesprechung oder durch gnädigen gelegentlichen Abdruck in der von ihr ver280

walteten Presse nahe zu bringen, genau solange hat diese Kritik kein Recht, mit weibischer Wehleidigkeit in den Passiven unserer Leistung herumzuzeigen. Man muß sich damit trösten, das menschliche Werk ist wie die Luft: nichts, und dennoch, durch die Tiefen der Jahrhun-

derte gesehen, eine göttliche Himmelsbläue. Es scheint, daß, so wie auf Millionen Muscheln eine Perle kommt, ein Un-

maß von Irrtum und verzweifelter Stümperei zur Ermöglichung des Vollendeten hervorgebracht werden muß. Was ist denn doch alles da: das Köpfchen der Nefertiti, das Gold frühchristlicher Mosaiken, der Apoll aus dem Tiber, die Sixtinische

Decke, Divina comedia, der Isenheimer Altar,

die Bruckner’schen Sinfonien, Georg Trakl, die Lorenzkirche in Nürnberg, die Büglerin von Picasso, Schau heimwärts Engel, Hodler, das Genie Brueghel, Gedichte von Peter Huchel. Und das alles ist quasi nur die angewandte Menschlichheit; nicht zu reden von der platonischen Seele, die auf die unansehnlichste

Weise

duldet,

sich opfert, liebt und

glaubt. Wir beurteilen die Menschen immer nach ihrem Erfolge vor der Welt, statt nach dem, was sie anstreben. Welche Landschaft könnte tröstlicher sein als das menschliche Antlitz!

Mich interessierte zu wissen, ob die früheren Menschen auch in dem Grade wie wir darin fehlten, daß sie immer einen

ersten Eindruck vom andern, mindestens wenn er unangenehm war, so exklusiv verallgemeinetten. Weh dem, der einmal etwas Nachteiliges über uns aussagte, unsere Überzeugungen nicht teilte, einen wirklichen Lapsus beging, er wird es sehr schwer haben, in unserer Beurteilung den Rang zu gewinnen, der ihm gerechterweise zukommt. Er wird irgendwo in unserem Argwohn noch lange «der und der» bleiben. Wie für so vieles, haben wir auch dafür die Zeit nicht mehr, den Mitmenschen unsere Geduld zu schenken. Geduld ist Zeit, und Zeit ıst Geld, und Geld...

281

Die Rechthaberei will nie einer Sache, sondern immer dem Rechthaber dienen; allein sie dient in Wahrheit auch diesem nur schlecht.

Immer wieder reizt uns die eigenartige Stelle der Gegenwart zum Nachdenken. Ihre Weißglut erinnert an die Stichflamme des Knallgasbrenners: Die Speicher von Zeit und Raum liefern ihre Ströme an den Augenblick, in welchem sie heiß aufflammen, und wir sind das Metall, das flüchtig aufschreiend darin schmilzt. Wenn ein Dichter in der Zeitung sein Gedicht neben der Meldung eines erschütternden Unglücks stehen sieht, verletzt das sein empfindliches Gewissen, indem die Ruhe und Schönheit seines Gebildes, seine ästhetische Betätigung an sich ihm jetzt als frivol erscheinen. Und dennoch ist es möglich, daß das Gedicht von der Menschheit als ein unsterblicher Wert gehegt werden wird noch zu einer Zeit, da niemand von jener Katastrophe mehr spricht. Ich bin leider persönlich ebenfalls nicht eingerichtet, die Welt besonders heiter anzusehen, aber es scheint mir doch,

daß es längst an der Zeit wäre, sich auf das wirkliche Maß der Bedeutung unseres Jahrhunderts zu besinnen. In dem Geschrei von Byzantinismus, Weltuntergang, Welterneuerung plappert viel Eitelkeit und Gedankenlosigkeit mit. Ohne die Wahrheit zu verkleinern, darf man

sich daran erin-

nern, daß es immer Generationen gegeben hat, die sich so exponiert wie wir vorkamen. Zu allen Zeiten wurde mit Recht über das Mittelmaß der durchschnittlichen Leistung, über Materialismus, Ungeistigkeit, «Geistigkeit», Betriebsamkeit, den Triumph des Kitsches, den Augenblickssieg des Belanglosen geklagt. Zu allen Zeiten glaubten die Lebenden die Toten, die Jungen ihre Alten überwunden zu haben; in jedem Jahrhundert mindestens einmal verkündete ein Prophet den Anbruch des Goldenen Zeitalters, versprachen Flachköpfe das Paradies aus der Erfüllung ihrer Dogmen, und gepeitscht, geschlachtet, gelogen und betrogen hat man im Tollhaus der Menschheit wahrlich auch früher. Zweihundertfünfzig Jahre hindurch wurde das Christentum blutig verfolgt; heute aber glaubt jeder Meier von Reaktionär aus einem kurzen Zurückschnellen der Geschichte die Erledi-

282

gung des Widersachers verkünden zu dürfen. Politiker, Götzendiener der Technik und alle die Heilande leiblicher und geistiger Ernährungswissenschaften haben die Gegenwart denn doch noch etwas apokalyptischer gemacht, als sie ihrem Wesen nach sein dürfte. Was für eine sympathische Bande aber sind jene VorkriegsIdealisten, die, eines Tages so schlimm geweckt, auch heute noch nicht an der eigentlichen Richtigkeit ihres Optimismus zweifeln. Steinigt sie, sie sind es, die der Instinkt der rebellischen Jugend sucht; sie wandern unter einem Stück Sacktuch durch den Hagelschlag der Zeit in die Wahrheit dieser Zeit. Ich finde es längst nicht mehr originell, die junge Generation nach ihrer Unzufriedenheit

über uns zu fragen, die Leute,

die gerade das, was zu Krieg und Verarmung geführt hat, aufs neue postulieren: Chauvinismus und Militarismus. Der Großvater

fordere das Kınd

nur auf, ıhm mit dem

Besen

über den Kopf zu schlagen, es wird so schnell in diesem Vergnügen nicht erlahmen. Man schwätzt immer von der Binsenwahrheit, daß die Zukunft der Jugend gehöre, ohne die Würde aufzubringen, als Lebender noch ein wenig Anspruch auf die Gegenwart zu machen.

Miszellen

Es ist bekannt, welchen Abscheu Kinder vor der erwachse-

nen Sexualität empfinden; aber der Unterschied in der geistigen Struktur ist nicht minder groß, und die Folgen verfrühter Einwirkung mit noch so ehrenwerten Kulturdingen jener Ablehnung, jener Furcht, jener Verwundung nicht sehr unähnlich:

Daher

der Haß

auf die Klassık, mit welcher wir

traktiert wurden noch bevor unsere inneren Organe ihr auch nur einigermaßen gewachsen waren. Ein Großteil unserer Schulressentiments geht nicht so sehr auf die Unfähigkeit von Lehrern als auf unsere damalige Unreife zurück. Muß der Faust, muß Laokoon, muß Voltaire durch die grünen Gemüter geschleift werden? Sogar die Begabten, von denen es scheint, als verstünden sie, verstehen mitnichten; sie

283

verstehen höchstens mit jener Oberflächen-Intelligenz, welche die Dinge spiegelt. Die wenigsten aber kommen in ihrem Leben je wieder dazu, den Frevel gutzumachen, die Jugend und Schönheit der Kunstwerke zu entdecken, mit denen sich

zu beschäftigen sie für alle Zeiten die Lust verloren haben. Der Schule sollte endlich verboten werden, die Eleven am

Stoff und den Stoff an den Eleven zu verderben. Der Ring des Polykrates auf dem Dorfe. Ein Dichter dürfte es nicht erfinden, der Wirklichkeit muß wohl oder übel geglaubt werden: In Zumikon verliert ein Landwirt seinen Ehering, um ihn eine Ernte später von einer Rübe aufgespießt wiederzufinden. Weiter für niemanden tiefsinnig als möglicherweise den Psychoanalytikern. Im Anfang mögen es «Five niggers» (His masters boys) gewesen sein; es brachte Tourneen und Schallplattheit ein, der Manager Profit arrangierte es mit Nachahmung in der Welt,

und

so trifft es sich

lieblich,

daß

heute

auf dem

Programm des Corso-Varietes sich ein algebraischer Kongreß versammelt: 3 Westerguards 4 Polis 5 Spillers 7 Maravillas 8 Brox Fehlen 1, 2 und 6. Ein-Mann-System gehört der Vergangenheit an, Duo wird kommen; für die 6 funktioniert schätzungsweise einiges sexappeal.

Ausgestorben ist außer Mammut, Archaeopteryx, Neandertalern auch der temperierte Mensch: In der Diskussion figurieren wir nur noch als Schufte oder Heilige, Epigonen oder Revolutionäre, stinkdumm oder blitzgescheit, für oder wider mich, Kommunist oder Christenmensch. Zwischendurch sind wir unmöglich, heißt das, wir gehen dann als Chamäleon, was soviel als Windfahne, Windbeutel, Windhund bedeutet, auch nichts Berühmtes. Weh dem, der seine

Meinung ändert. Der erste Stein auf ihn ist ihm zum Grabstein geworden. Weh dem, der schwarz sagt, er wird sein

Lebenlang

nicht mehr weiß malen. 284

Der male nichts als

Schnee, man sicht es nimmermeh.

Das Odium Stahlmöbel

bringt mich in die unabsehbarsten Zusammenhänge und Verwandtschaften: durch seine Kraft werde ich selbsttätig das und das, unmöglich aber jenes und jenes. Weh dem, der in flagranti über einem Widerspruch ertappt wird! Besser noch, er zeige sich in käuflicher Gesellschaft: oder mit dem unausdenkbarsten Stinktier im Korb. Mit einem Widerspruch in der Hand kommt man nimmer durch das Land. Eher ginge ein Nadelöhr durch das Kamel als ein Widerspruch durch die Nachsicht deines Nächsten. Ein Widerspruch, ein Webernest in deiner Weltanschauung überliefert dich dem Mitleid, du kannst deine Rolle nach Hause brin-

gen. Von allen Seiten fällt man uns mit der Abforderung unserer Parole an. Weh dem, der zögert. Ich darf nicht meine Notdurft verrichten, ohne es nach dem einen oder andern System geschehen zu lassen, demokratisch oder russisch, anthropozentrisch oder transzendent. In dieser Beziehung

fehlt es uns bitter am Durchschnitt. nahmsweisen Beziehung!

In dieser einen aus-

An einem Aussichtspunkte des Zürichberges steht ein Papierkorb, darüber (mit zwei Händchen) der Spruch: Hieher die Reste und Makkulatur, Zu schonen dort die Prachtsnatur.

Und am Alpenquai steht jetzt die Leuchtfontäne. Nicht mehr hingegen steht der Milles-Torso, welchen sein Schöpfer der Stadt Zürich geschenkt, merke: geschenkt! hat. Wieso geschenkt? Ist irgendein Künstler der Meinung, daß Zürich es nötig habe, mit Kunstwerken beschenkt zu werden? Hat sie nicht einen Vaterland-nur-dir-Turner seitwärts in den Büschen

stehen? Einen, dem nicht nur ein Kopf, sondern

obendrein Lorbeer darauf gewachsen ist. Perennierender Lorbeer. Das Vaterland befindet sich vorn, graphisch dargestellt durch den Kontur der Glarner Alpen. Die Glarner stellen das Vaterland, Zürich spendiert den Wein. Aber wirklich nur dir, Vaterland! (Einen allereinzigen Schluck meinetwegen dem Kurgast.) Torsos, wie sollen Torsos Gesundheit trinken? Das hat weder Hand zum Geben, noch Kopf zum Nehmen. Abtreten, unpatriotischer Wicht; Felıx,

nimm

dein imaginäres Haupt unter den imaginären Arm 285

und suche dir deine kopflose Regula. Im Stadtrat findest du sie nit, sie leuchten dir mit der Fontäne heim.

Eine Sintflut

Man stelle sich einmal vor, es regnete Tag und Nacht überall, auch von den Dielen der Wohnungen herab, auch im Kaffeehaus, auch im Speiserestaurant. Buchstäblich so ist es heute mit der Sintflut von Geräusch, gegen die es kein Dach mehr gibt. Ein moderner Breughel sähe die Fratzen mit Megaphonrüsseln von den Wänden herabfeixen. Die Stillen im Lande? Alles ist Symbol: Was haben die Stillen in der Welt noch zu suchen! Was ich beobachte, ist, daß in Speiselokalen nur ausnahms-

weise einmal einer sich der Musik hingibt. Günstigenfalls hat man eine Art Gummihaut ausgebildet, über die sie herabrieselt. Wem sie nicht gewachsen ist, der steht ein Martyrium aus. Menschen in Oafes und Speisewirtschaften wollen vor allem essen, plaudern oder lesen, wohl auch alles zugleich. Einige lieben es, dort zu arbeiten; es sind ohnehin Käuze. Kapellen,

heute nicht selten Künstler von Rang, dahin gekommen, sich zu prostituieren, haben den Ehrgeiz auf Besseres behalten. Ihrer sieben spielen sie dann die Eroica von Beethoven. Und sind traurig oder fluchen über die Wirkung. Sind es Ausländer, so schelten sie uns insgeheim ein Volk von Hornochsen. Einfach, weil man sie dazu anstellt, das Kaffeehaus mit einem

Konzertsaal zu verwechseln. Ich weiß, die Wirte meinen es gut mit uns. Zugegeben, daß eine ausgeleierte Menschheit ohne den Luller des Radios keine Stunde des Friedens mehr findet — mir erscheint der Musikapparat in der Limousine als Inbegriff unserer babylonischen Gottferne. Welcher Zivilisationshochmut, welche Verarmung! Zugegeben, daß es auch in der Musik die Gattung Gebrauchskunst geben darf: wenn ihr es gut mit uns meint, serviert ihr ja doch auch den Zucker nicht zentnerweise! Die Stillen im Lande? Es gibt Verständnis und Sühne für blaue Mäler unserer Haut; die feineren Sinne sind vogelfrei jeder Mißhandlung preisgegeben.

286

Hausbau

Etwas Eigentümliches ist da zu beobachten. Vor einem halben Jahre oder mehr hat man am Bahnhofplatz sorgfältig ein Stück des Quartiers weggenommen, mitten aus himmelhohen Brandmauern und Kaminen heraus, hat ein Loch

ausgegraben, sich lange damit aufgehalten und dann einen Käfig in Eisengebälk weitläufig darüber aufgetürmt. Das alles verhüllte sich nach und nach in Gerüst, in Firmentafeln und Sacktuch, ein schwebendes Holzdach entstand wie ein

Schirm darüber. Da sich der Bau unsern Augen entzog, vergaßen wir ihn, alle die Monate war kein Fortschritt daran zu bemerken; es regnete und fror, Herbstwolken schleppten ihre Schatten über den Verschlag, die Krane griffen mit langen Hälsen hinein: Nun auf einmal, wie wir aus Träumerei so hinaufblicken, funkelt ein fertiges Haus quarzfarbig mit blankem Glas aus der Umhüllung heraus wie eine verpackte Kostbarkeit. Unter dem Holzdach spielt es mit dunklen Lichtern des dahinterliegenden Himmels aquariumartig, schwarzblau zugeschliffen, ein Riesenkristall. Und uns dünkt doch, sie hätten nur Bretter und Dreck zugeführt! Da

an

allen

Enden

abgebrochen

wird,

sieht es aus,

als

schälten sie einen Kunstgegenstand aus Holzwolle heraus, ein pompejanisches Marmorwerk, angerollt und hier aufgerichtet zu unserer Überraschung. Nicht zu glauben, was die Fäuste der Arbeiter da Kostbares fertiggebracht haben. Sie haben ihr blaues Übergewand ein wenig daran verfleckt, sie fluchen einander bedachtsam

das eine und andere zu, sie

fahren mit ihren Kappen ins Genick hinab, um sich zu kratzen; dem Kranhaken beispringend, greifen sie auf einmal mächtig zu, und dann gibt es Licht, eine neue Gegend Himmel wird frei, sie stülpen die Schale um ein Stück tiefer herab. Eine schöne dunkle Glocke haben sie gegossen und schlagen nun den steinharten Mantel von ihr. Sie werden mit ihren Sticheln, mit Schmirgel und Bohrern und Lappen noch allerlei daran zu vervollkommnen haben, wenn wir es längst in Ordnung glauben, Wolken und Regendämmerung werden die Räume bewohnen, launige Vögel in ihrer Spiegelung spielen. Aber die Blauhosen, ganz klein an der Seite ihrer gebirghaften Schöpfung, die Blauhosen ziehen eilig aus mit ihren Karren, als wäre es gar nicht ihr Werk, als hätte es sie

287

nur aufgehalten; sie machen sich davon und blicken auch nicht mehr zurück, so prächtig es Atem nimmt in den Frühlingslüften: Wie eine Fahne entfaltet es sich, das Haus. E)

Warenhaus

Das Warenhaus einer Großstadt ist gewiß eine erstaunliche Sache, besonders für das Landkind, das, um die Weihnachts-

zeit, an der Hand der Mutter hineinkommt. Kreuz und quer durch die Gassen anmarschierend, ohne eine Ahnung über die Himmelsrichtungen und den Ort, wo man sich nachgerade befindet, erblickt es das Riesengebäude aus Glas, ein Portal von Schwingtüren, die von Hand zu Hand und kaum

je zugehen. Das Kind denkt, es gar der Eingang zum Paradies, Weg ins Schlaraffenland, da die heraustragen. Musik ist auch

ist ein Bahnhof, wenn nicht ein Königsschloß oder der Menschen Arme voll Pakete im Innern, und es duftet

unbeschreiblich nach Lebkuchen, Tuch und Kölnischwasser.

Mutter strebt wahrhaftig hinein, sie getraut sich, das Büblein geht unter in einem Gedränge schneenasser Mäntel. Geheimnisschwere Vorhänge aus Leder sind zu durchbrechen; dann öffnet sich wirklich ein Himmel von Licht und Geruch, der Christbaum ist das Ungeheuerlichste in der Halle; wer hätte sich je eine ausgewachsene Tanne so übervoll von Lichtern, Engelhaar und Kugeln vorgestellt? Ein Weihnachtsmann von der Größe eines Turmes breitet freundlich die Arme aus. Aber auch er ist noch klein in den Ausdehnungen dieses Raumes, welcher dunkel, mit Schnee-

wolken voller Engel, so erscheint es dem Knäblein, in die Höhe verdämmert. Gestoßen und getreten, gequetscht und geschoben von der Menschenmenge, reißt es sein ganzes Gesicht auf, um zu staunen. Es erblickt Gebirge von Büchern, Stoffballen, Schokolade, Riechfläschchen, Taschen, ganze Abhänge aus Glasketten, Silber- und Goldgeschmeide, es geht um Konservensäulen herum, Gott weiß wohin in der Unendlichkeit dieses Hauses. Das Kind trägt seinen Kopf verkehrt auf den Schultern, es starrt nach dem Christbaum

zurück, die Mutter schleppt es am Händchen, es ist kein wachender Mensch mehr, es träumt einen Märchentraum.

Im Traume ist alles glaubhaft; daher tritt es ohne sonderli288

che Überraschung in den Menschenschrank hinein, der alle sogleich nach oben reißt, in den Himmelsestrich, vermutet

der Kleine. Es tut einen Ruck, jemand steigt aus, jemand ein, so geht es ein paarmal, dann will auch die Mutter hinaus. Das Söhnlein ist innerlich darauf vorbereitet, dem heiligen Petrus die Hand zu reichen; allein es sind wieder nur Fräulein da; überaus höfliche Damen in schwarzen Arbeitsmän-

teln geben Auskunft, bedienen. Er bemerkt nicht, was Mutter kauft; er sieht ein wenig Türvorlage, die Hintergründe sind dunkel. Plötzlich rennt er ans Gitter, er blickt aus dem Himmel auf die Erde mit ihrem Weihnachtsbaum hinunter,

er hat den Riesen unter sich. Alles entspricht genau seiner Vorstellung vom Himmel, goldene Galerien laufen ringsum, und Millionen Lichter brennen. Mutter hat noch anderswo im Dachstuhl Geschäfte zu erledigen. Von hier aus entdeckt er das Gotthardgebirge mit seiner Eisenbahn, schräg unten, ganz winzig, und Knäuel von Kindern drängen sich drum herum. Er hat gute Sicht über alles auf seinem Wolkenthrone, er kann die Geleiseschleifen, die Tunnels, Stationsgebäude, Signale, Barrieren und Brücken erkennen, nur ist die

Entfernung ein wenig zu groß, er muß das Ding in der Nähe haben. Auf dem Wege dahin verlaufen sie sich, er wird irre an der Allwissenheit seiner Mutter, beginnt zu flennen. Er flennt nicht lange, weil der Bummel sie mitten in die Spielwarenabteilung hineinbringt — so weit als im Umkreis der Blick trägt: Spielwaren, Spielwaren, Spielwaren! Man befindet sich in der Werkstätte Gottes, wo das Spielzeug der ganzen Menschheit hergestellt wird. Wenn Gottvater persönlich daherkommt, muß man das schöne Händchen geben, das schickt er sich noch durchs Bewußtsein. Gottvater beschäftigt ein Heer junger schwarzgewandeter Damen in seinem Betriebe — Engel sind bis dahin keine aufgetreten. Es sei denn, daß die Damen, um in der Bewegung freier zu sein, ihre Flügel eingezogen haben. Er forscht ihren Rücken daraufhin aus. Er stolpert in dieser Neugierde über einen Teddybären, kommt unter einen Gorilla zu liegen und erhebt ein Zetermordio. Es gibt einen Klaps auf die Hose, mitten in der himmlischen Spielwarenmanufaktur. Das Engelfräulein schenkt ihm zur Besänftigung ein kleines Blechäffchen. O wie gütig sind Gottes Ladentöchter! Er verliert völlig sein Herz an die

289

Trösterin, dreht wieder das Haupt ins Genick nach ihr um und stößt einen Stapel Holzwägelchen über den Haufen. Jetzt wird der Herr selber auf dem Platze erscheinen. Die Mutter zupft ihn am Arme herum, und er sieht in der Folge alles durch Tränen: Hürden voller Gummibälle, Tische mit Bleisoldaten — Webstühle, Trompeten, Klarinetten, Spieldosen, Trottinets, Velos, Holländer, Puppenstuben, Puppenküchen, Puppenbadzimmer, Puppengeschirr, Puppen, Puppen, ein ganzer Markt wie von kalifornischem Tafelobst in Luxus-

verpackung! Eine Frau prüft Stück um Stück in großer Versunkenheit, solche mit Schlafaugen, solche die «Mämmä» rufen, wenn man sie auf den Bauch neigt. Der Gotthard, der Gotthard! Er hat ihn völlig vergessen. Da steht er ja, riesengroß, von hier unten betrachtet, eine ganze Welt aus Felsen, Wäldern, Wasserfällen, mit Viehherden auf den Weiden, Bahnwächtern, Kirchen, Mauern, Geländern, Gletschern, Gemsen, und munter allüberall das

Bähnchen, das in Löcher schlüpft und um Gipfel herumbiegt, brennende Lämpchen vorn und am Ende! So liebevoll hat der Schöpfer das Modell zum Schweizerländchen ausgearbeitet. Hier will das Bübchen bleiben. Die Mutter hebt es eine Weile sogar in die Höhe, damit es über die Köpfe hinwegblicken kann; wie ihr der Arm ermüdet, ruft sie «So!» und zieht ihn mit sich fort. Er kennt seine Mutter nicht mehr; er weiß nicht, ist es ein Ungeheuer. Nur das Versprechen, daß er es noch einmal sehen soll, vermag ihn ein wenig zu beruhigen; unglücklich trottet er mit durch die nichtssagende, öde Welt der Erwachsenen: durch Küchengeschirr und Putzzeug, durch Möbelhaufen, in ein stickiges Teppichlager, lange Tische mit Seidenresten entlang, um

Körbe voller Endefinken, um

Garderoben

und

Schirmgestelle herum. Handorgeln von Knöpfen stehen aufgestellt, Lampenschirme baumeln im Luftzug, es riecht heftig nach Wäsche, wahre Festungen aus Seife versperren den Durchgang. Ach wie anders sind hier die Schürzenmädchen! Wie weltlich mit ihren gemalten Lippen und Augenbrauen. Die Schwere der Erde legt sich ihm auf die Seele, es zieht auch so kalt herein und riecht nach dem Schneebrei. Plötzlich durchschaut er alles, die ganze Aufmachung: Es ist nur ein Handel,

ein schlechter Betrug, durch das Lächeln der

Fräulein schimmert die müde Gleichgültigkeit, sie klatschen 290

miteinander bei ihrer Arbeit, und die Aufsicht gleicht einem Polizeimann. Die elektrischen Kerzen des Riesenbaumes zwinkern mit keinem Auge, es ist ein kalter berechneter Zauber; der Weihnachtsmann hat ohnmächtig noch immer dieselbe Stellung. Das Büblein trippelt ganz unten bei den Knien des Menschenstromes, auf den Fliesen schmilzt Schnee, es riecht jetzt

besonders nach Soda aus dem Luftgemengsel heraus, diesem bedrückenden Wind voller Wäscheseil, Leintuch, Salami und Parfüm. Der Gotthard ist wieder vergessen.

Der dunkeläugige Kanton Das ist mir der Kanton Aargau. Er zieht mich mit heidnischen Zaubern an. Was ist nicht alles über ihn hinweggegangen seit den kanadischen Zeiten der schmelzenden Gletscher, über deren Tümpel das Mammut die Mondsicheln seiner Stoßzähne erhob; ein lieblicher Teppich von Kerbel, Kirschbäumen, Laubholz deckt das Land voll vergrabener Spangen, man braucht nur die Haut aus Humus ein wenig zu heben, so liegen die mythischen Zeichen der Steinzeitgräber vor unseren Füßen, in den Verlandungspolstern der Seen lebt noch

der Menschenwille,

der das Holz

nach

seinen

Absichten aufreihte, der Zeitvertreib sonntäglicher Basteleien aus Pfahlbaudörfern klingelt uns in den Fingern, die Buben rutschen im Buchenwald über den abgewetzten «Frauenstein», der den Weibern der Vorzeit die Mutterschaft

gab — und all die Wanderung von Landsknechtsheeren, all das Geschrei und Gebengel auf den Schlachtfeldern, alle die Beinhäuser,

vermoosten

Strohdächer,

die im Torf zusam-

mengesuchten Grenzsteine, die Villen römischer Legionäre, und der unsterbliche

Ruf des Kuckucks

aus den Föhren,

unsterbliches Sensendengeln, unsterbliche Mädchenjugend! Die große Dichtung dieser Landschaft aus Laub, Flußlauf, Wiesensalbei, Linden, Straßenstaub, Burgen und Bauernhö-

fen ist noch nicht geschrieben, sie blickt dunkeläugig erst aus vereinzelten Männern, die hier, in der Tiefe der Stille, aus der Not des Lebens und des inneren Daseins, schrieben; sie

schrieben meist nur weniges, aber es hat das Dunkel und Gefunkel der Poesie an sich, Dämmerung und Stummbheit 291

der Jahrhunderte regen sich in ihr, die tausend schwelenden Petrollichter der Bauernstuben rauchen aus ihr, Tanzboden-

lust, Grabgang, Säuferlied, Totschlag, Gebetbuch der Bauerngroßmütter sind darin. Die napoleonische Macht konstituierte sich hier, hier wandelten die helvetischen Minister,

formierten sich die Heere, die gegen die rebellischen Urkantone anmarschierten; hier in Schinznach gingen Pestalozzi und der Herzog von Württemberg Arm in Arm, der genialische Emigrant Zschokke schrieb hier, Augustin Keller schürte den Jesuiten die Hölle. In meinen Jünglingstagen lebte ich verloren in der Dichtung Jakob Freys. Nur Josef Conrad hatte in der Folge noch einmal eine ähnlich suggestive Wirkung auf mich; in den Erzählungen, die Jakob Frey einer bitteren Tagesfron abrang, waltete eine Dämonie der Spannung, die mich in ihren Bann zwang. Dem Schweizer wurde von jeher vorgeworfen, daß er kein Feuilleton zu schreiben die Eignung habe; Courths-Mahler und Gert Rotberg springen dafür bei uns ein-ich behaupte aus der Erinnerung, daß es etwas dunkler Schweizerisches, dem einfachen Leser Gemäßeres als diesen

Jakob Frey nicht gibt, aber er blieb lange Jahre überhaupt unverlegt. Erst der Aarauer Verlag H. R. Sauerländer, dessen Verdienst gerade um das geheimnisvolle Schrifttum dieser Gegend groß ist, brachte eines Tages eine Auswahl von vier Bänden, besorgt von Karl Günther, allein, es besteht alle Aussicht, daß auch diese noch einmal verschimmelt,

bevor von allen Instanzen für die so notwendige Verbreitung dieses Volksgutes gesorgt wird. Dann ist da Paul Haller, der tragischste Geist, den der Kanton hervorgebracht hat. Er erlag seiner Schwermut vor der Zeit; Pfarrer und Selbstmörder, das sagt genug über seine innere Spannweite. Er ging gegen sich selbst wie gegen ein Messer an, aber welche Lieblichkeiten erblühten ihm in den guten Stunden! Sein «Juramareili» gehört zu den Ewigkeitswerten der Volkspoesie, in die Reihe Johann Peter Hebel, Schwäbelpfyfli, Der arme Mann im Tockenburg. «Marie und Robert» ist den Einzelleistungen der schweizerischen Dramatik zuzuzählen, auch dieses Stück lebt aus den geistigen Abgründen seines Dichters. Die «Gedichte» (alles bei Sauerländer) sind, wie meistens das Hochdeutsche von geborenen Mundartdichtern, in ihrer Mehrzahl blasser und konventionell, enthalten

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aber manches, was an die hintergründige Dämmerung seiner Verserzählung erinnert. Erwin Haller, ein Bruder des Toten,

schrieb dessen Biographie, welche dereinst mehr studiert werden wird als in unserer unachtsamen Zeit. Und nun lebt R. J. Humm, der in Italien aufgewachsen ist, aber aus Kirchleerau im Kanton Aargau stammt, das er aus Kindheitserinnerung in der meditativen Lyrik seiner «Inseln» symbolhaft beschreibt. Da er von außen kommt, sieht er Tiefstes, was uns entgeht; ein neuzeitlicher Mensch von Geistesschärfe, richtet er das Leuchtturmslicht seiner Erkenntnis in unsere Dunkelheiten, ein Mensch, der uns

vieles, Unbequemes, aber Notwendiges zu sagen haben wird. Ein kommender Gotthelf dieser dichterischen Gegend ist, beinah wie ein Gestirn, aus allerlei Symptomen hypothetisch vorauszusagen.

Kleine Liebe zu Paris

Wer hier ankommt, der hat in erster Linie den Eindruck des

Alten. In der Flut des Abgenutzten, Verwitterten, Schwarzen, Zerbeulten verschwindet der wenige Ersatz, die Dinge werden strapaziert, die Fahrzeuge beispielsweise sind wie ein abgeschliffenes Bachgeschiebe; niemand denkt daran, irgend etwas aufzufrischen — wozu denn? es tut seinen Dienst; das

ist die morgenländische Einstellung, den Esel zu reiten, bis er sich aufgebraucht hat. Eine kindliche Einstellung, wie denn überhaupt dieses alte Kulturvolk sich einen ausgesprochen kindlichen Einschlag bewahrt hat. Sein durchschnittlicher Geschmack ist kindlich, sein Nationalıitätsbewußtsein hat etwas Kindliches mit all seinen Fahnen, Farben, Festen,

Standbildern. Nun, Monumente sind eine allgemein lateinische Eigenschaft; aber man darf nicht das Rührende und Imponierende

der Art übersehen,

mit der man

hier seine

Helden festhält: es geht sicherlich keiner durch die Maschen; sei er ein Feldherr, Chemiker, Maler oder Arzt, es wird sich

irgendwo eine Gasse nach ihm benennen lassen, es wird irgendwo ein Platz nach seiner Büste rufen - und wie getreu wird dieses Bildnis ausfallen! Man stellt sich den Mann mit seinen Berufsattributen so realistisch als möglich vor Augen, den Flieger mit seinem Propeller, den Dichter mit Feder und

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Tintenfaß; förmliche Reliefgeschichten werden an den Hausmauern erzählt. Man kann sich nicht genug darin tun, das Erworbene ehrend beisammenzuhalten. Was jetzt durch die Welt geht, der höhnische Riß zwischen dem Gestern und dem Heute, das dürfte eine grundsätzlich unfranzösische Erscheinung sein. Berlin ist ein einziger Kiosk, alles wühlt sich dort in irgendein Tagesblatt ein; der Pariser steckt sich auch eines zu, aber er hat eine ganz andere Art zu lesen,

wenn er es nicht ohnehin im Genuß der Abenddämmerung vergißt. Noch immer ist man hervorragend schaulustig, die Restaurants und Cafes bauen ihre Stuhlreihen weit in die Boulevards hinaus wie an den Rand eines Stromes; noch immer ist man hervorragend gesellig, die Bauern im hintersten Hinterland leben nicht vertraulicher zusammen als diese Weltstädter. Auch nicht altmodischer! Ich wollte wohl wissen, wie es im Schädel eines dieser Romantiker aussieht,

die noch mit Schlips und Schmachtlocken, in Samtwams, Knopfstiefeln und Vatermörder gehen. Alles verbürgt authentisch! Ein ausgebrannter Stengel kommt mit einem Sonnenschirm daher. Das Haar steht ihm filzig über den Kragen herab, der Kragen, ein Zelluloidkragen, ist zerknittert und

wie aus der Gosse gezogen, doch der Kragen muß sein. Die Waden hat er sich aus irgendeinem Grunde kaffeebraun angeschmiert. Ich wollte wohl wissen, was sie sich denken, alle, die da ihren steinerweichenden Kitsch auf den Trottoirs

ausstellen. Sie denken, Michelangelo sei ein Irrtum gewesen. Sie warten wie die Juden auf ihre Herrlichkeit. Das Unverständnis in ihren Augen ist herzbeklemmend. Sie kommen einem vor wie Nachtwandler auf den Traufen, man muß ihnen den Willen lassen. Es gibt alte Pariserinnen, die ihre

Hütchen aus dem Tößtal beziehen. Überhaupt, es ist ein Irrtum zu glauben, die Großstadt gehe im Fortschritt voran. Hier wandelt abends noch der Laternenanzünder wie ein Nachtwächter mit der Halbarte herum. Anschläge ermuntern dazu, das Gas in den Wohnungen einzurichten! Es gibt viele und schlechte Plakate, aber das probateste ist noch immer der Ausrufer aus den Tagen Babylons. die Straßen wie ein Dichter durch unsere Zeit; er hat etwas in der Stimme, das haften bleibt, das nächste Mal besser hinhorchen, und da

und Knochensammler,

Er geht durch aber siehe da, man will doch die Lumpenim Gegensatz zu den Dichtern, an-

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derntags wiederkommen, finden sie auch Gehör. So marquisenhafter Straßenbahnwagen wie die edle Zürich kann sich Paris nicht rühmen. Wo haben sie das eigentlich her, die Zapperlöter, das mit den grünen und roten Zauberlaternen? Hier zupft man noch an einem Holzgriff; sie zupfen tatkräftig, diese Kondukteurinnen, Kondukteusen. .Es sind alles überaus achtbare, oft hübsche Arbeiterfrauen, die diesen

Posten so tapfer versehen. Und damit bekomme ich Gelegenheit, zum Kapitel der französischen Höflichkeit überzugehen, die zu rühmen der Fremdling nicht aufhören wird. Auf der Seine wird man für knapp einen halben Franken eine Stunde lang spazieren geführt und dazu noch gefragt: «Ist jedermann mit Billett bedient?» Anderswo heißt es neuerdings: Wer ohne Fahrkarte erwischt wird... Ungefähr in der Tonart. Aber dafür mit Zauberbeleuchtung! Tout le monde est servi de billet? Der Pariser Straßenverkehr ist gerade keine Kleinigkeit: aber hat man jemals einen seiner Dirigenten die Haltung verlieren sehen? Das sind ihres Namens würdige rechte gardiens de paix, keine Staatsgötter. Die Tränen können einem kommen, wenn man sie plötzlich ihren Marschallstab aufschwingen und an der Seite eines winzigen Kinderwägelchens durch die Mitte der Autoherde schreiten sieht: Da, ihr werdet warten, — und es muckstja auch keiner,

sie legen die Ellenbogen aufs Volant in Anbetracht der großen Sache, die da vorübergeht: seiner Majestät des Kindes. In Frankreich ist der Staat der Kinder eine Republik für sich. Du lieber Gott,ja sie verzärteln sie, sie lassen ihnen eine

für unsere Begriffe ruinöse Behandlung angedeihen, kalt und heiß aufeinander - und trotzdem bleiben sie in Form, körperlich und moralisch. Die Unvernunft des Erwachsenen ist Brauch, aber diesem Brauch steht derjenige der Jugend gegenüber, sich nicht verwöhnen zu lassen, «man ist doch» und «man tut doch nicht» - es ist wiederum das Zusammenhaltende, Selbsttätige der Form, was den Nachwuchs bildet.

Die französische Kinderliebe wird biologisch mit der Geburtenspärlichkeit in Zusammenhang gebracht, während sie doch einfach die vielleicht schönste und angebrachteste ÄuBerung wiederum der Höflichkeit und nebenbei ein Beweis dafür ist, wie tief sie im Wesen dieser Menschen wurzelt. Paris ist in weit edlerem Sinne als es den Ruf hat, eine Stadt

der Liebe; davon

abgesehen empfindet man 295

es schon als

allerhand menschliche Tugend, ganz einfach nett miteinander zu sein, unbekümmert um unsere berühmten germanischen Gewichte, mit denen wir so oft uns und dem Nächsten nur das Leben schwer machen. Ich sehe die Bettler hier auch, sie übernachten auf der Unterlage eines Zeitungspapiers im Staube; aber sogar unter ihnen ist einer, der ein hübsches Symbol liefert: alle Tage kann man ihn sehen, wie er, auf dem Rücken liegend, eine kleine Mundharmonika unter dem Schnurrbart verdeckt und seinem unverwüstlichen Kindergemüt nur so für sich ein bißchen zarte traurige Musik vormacht.

Saint-Cloud

Das lateinische Genie ist wie eine Farbenrakete über den Südwesten Europas auseinandergegangen. Welche Nelken stehen in diesem Strauß! Das dunkle Gold Umbriens, Spaniens Purpur und delphiniumblauer Weihrauch - hier, gegen die Normandie, gegen Nebel und Roggen hinaus, blinkt es bourbonensilberig auf: die gallische Grazie. Ob dieser Regenbogen nun schon im Strahl enthalten war oder ob er den Bedingungen der Atmosphäre gemäß aufleuchtete, jedenfalls steckt eine ebenso tiefe als zauberhafte Gesetzlichkeit in seiner Entstehung. Das Römische mancher Französinnen wetterleuchtet in die Jahrhunderte hinab. Wir haben ein bißchen viel darin getan, die Läufte der Kultur zu schmähen, ohne daran zu denken, daß wir keinen Geringeren als den lieben Gott damit herabsetzen, der sie doch so ganz

offenbar nicht nur gewollt, sondern persönlich zum mindesten angeregt hat. Es gibt kein schöneres, tiefsinnigeres, tröstlicheres Schauspiel als das Wachstum der Weltgeschichte, gerade weil es unsentimental,

voller Grausamkeit

und

‚scheinbarer Unvernunft wie ein Epos ist. Wir haben ein bißchen viel darin getan, den menschlichen Geist herabzusetzen, ungeachtet der wahren Überschwemmung an Herrlichkeit, die er in der Welt zurückgelassen hat und die zu mehren er unentwegt an der Arbeit ist, auch heute noch. Geist ist ja überhaupt unser einziger Trost! Erst wo sein Licht hinfällt, treten die Dinge aus ihrer Unkenntlichkeit heraus. Das Meer in seiner brutalen Formlosigkeit erdrückt

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uns. Das Chaos erdrückt uns, wenn wir es nicht ordnen. Wir

ordnen den Ozean mit Teleskop und Meridianen. wald macht uns entweder zum Pflanzer oder zum Natur ist immer darauf aus, uns einzusaugen, zu chern, uns auszulöschen. Die Urzeit mag unserem denken elysisch erscheinen wie alles Vergangene

Der UrTier. Die überwuZurückauch im

Leben des Individuums; aber wir hätten sie nicht überstanden, ohne sie zu überwinden. Zurück zur Natur, das war die

Schöpferermüdung eines Landes, dessen ganzer Instinkt nach dem Gegenteil wirkt: hinaus aus der Dumpfheit der Natur! Man versichert, daß den Urwald die Luft eines Friedhofs erfüllt. Auch ein Gauguin hätte ohne seinen Geist nichts daraus gemacht. Alle brombeerduftenden Waldhänge in Ehren, sie haben schon manches Schrätlein und Poetchen in Träume eingelullt: ein Ort wie der Park von Saint-Cloud hat seine besonderen Zauber. Schon der Wald seiner Umgebung, der etwa von Paris gesehen durchaus als wuchernder Busch erscheint, weist den Anstand auf, den ihm die Erziehung feudaler Zeiten anscheinend in Holz und Saft übergehen ließ. Die Reviere sind einsam und grasbestanden, aber unabsehbare breite Straßen ziehen sich in sternförmiger Anordnung hindurch; es welkt noch das Haalalı königlicher Jagden darüber. In der Gegend des Flusses aber schimmert es perlmutterhell. Wir entdecken Stück um Stück eines unglaublichen Märchens. Ich habe nicht gesagt, daß ich mir alle Wälder der Erde ähnlich kommandiert

und frisiert wünschte; aber so,

unter diesen einmaligen Bedingungen, überrascht es mich ebenso beglückend wie das Walten einer Künstlerhand, die aus einem rohen Block — so erscheint er in seiner weisen Vernachlässigung — ein Wunder an Form und Gebärde herausmeißelt. Rodin hat das oft so gemacht: «La Pensee», beispielsweise. Die französische Intelligenz, die aus der Masse hervorblüht. Wer solche Gärten Unnatur und Geziertheit schilt, der spricht wie über ein Kunstwerk, das zu genießen er den Sinn nicht hat oder dessen Absicht er sich verschließt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß unsere Kinder uns ebensowenig verstehen werden, wie wir unsere Eltern verstanden, und

doch hatten wir auf unsere Weise recht. Was wissen wir von der inneren Stellung unserer Vorfahren! Aber so wie ihre äußeren Züge in Abständen wiedererscheinen, vererben sie

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uns auch ihre Seelenländereien, so daß wir eines Tages irgendwo hineingeraten, wo wir uns sonderbar bekannt vorkommen. Die Architektur ist ihrem Wesen nach eine Romantikerin: das bloße Aufrichten einer Mauer wirkt dynamisch, nicht zu reden von der Komposition ganzer Städte; gerade Paris mit seinem himmelstürmenden alten Gemäuer ist darin gewaltig. Die Neue Sachlichkeit ist von Grund aufromantisch und vom Charakter geschorener Gärten keineswegs so verschieden. In der Zeit des Absolutismus standen den Architekten gleich ganze Landschaften als Material zur Verfügung. Man kann gegen die Despoten sagen, was man will: wo sie Geist besaßen, ermöglichten sie Unsterbliches. Es ist gegen Großmächte allerlei ins Feld zu führen; aber schon allein der Raum, die Fülle der Mittel gestatten ihnen Dinge, um welche wir Hirten sie beneiden. Dem Einzugsgebiet entspricht der Strom. Was hätte der Künstler, nachdem er aus turmhohen

Kastanien,

aus Palästen, Orangerien,

Hü-

geln, Rasen, Geranien, Statuen, Treppen, Springbrunnen und Balustraden einen so unvergleichlichen Wohnraum geschaffen hatte, seinem Herrn überdies als Ausblick vor die

Füße legen können? Wolken, Gewitter, Regen zogen ohnehin vorüber. Also vielleicht ein Rosenfeld! Ein Heerlager! Einen Ozean! Er breitete ihm die Stadt Paris hin. Den Termitenbau einer Millionenmenschheit mit allem, was drum und dran hing: Glück und Leid, Unschuld, Verworfenheit, Hunger, Gold, Kathedralen, Nonnen, Zuhälter, Brücken, Inseln, eine

Bergstadt, ein Babylon, eine ungeheuerliche Wabe Gewimmels legte er ihm vor die Füße zusamt einigen Dichtern und Kirchenfürsten. Das nenne ich einen Künstlertraum!

Die Flut des Untadeligen

Heute wird unglaublich viel Gutes geschrieben, aber vielleicht nichts Großes. Die Franzosen schicken Bataillone von Talenten ins Feuer, England serviert erlesene Patrizier, und wer ist in Deutschland noch ohne Begabung zu einem Ausdruck von aller wünschbaren Biegsamkeit und Prägnanz? Makellose Verse zu können, heißt heute gar nichts mehr; in dieser Zeit der sich öffnenden Geheimwissenschaften ist

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jeder spekulative Tiefsinn durch lachende Wahrheiten bald überboten. Der Schund verendet an der Masse der Qualität, in der alle Welt geudet. Amerika hat den Kitsch geadelt; seine nachgeahmte, wie der Jazz legitimierte Burschikosität globetrottet kurzhaarig und zigarettenrauchend um die Erde in Gesellschaft der allgemeinen Emanzipation und Verbrüderung. Die lebenden Klassiker beeilen sich, ihre Reise zu tun und ordnungsgemäß zu beschreiben. Wer ist noch nicht in Kairo, Rio, Kapstadt oder Kalkutta gewesen? Welchen deutschen Träumer ängstigt die Glätte der Salons? Bald wird der Zustand erreicht sein, wo die Kanzliısten Goethes Deutsch handhaben. Die Schriftsteller, denen zu raten ist,

dezimieren ihre Einfälle und treten nurmehr in Abständen auf. Es ist eine Zeit der Fertigkeit, der Reife, der Fülle und Mannigfaltigkeit, eine Zeit der Höhe, der Umschau, aber

auch leiser Ratlosigkeit und Erwartung, ein Kreisen der Wasser, ein Zug zur Tiefe und das Stocken der Bereicherung. Man wird noch viel und alles sagen, aber es bringt nicht eben viel ein, es geht zum Übrigen, zur übrigen Vollendung, die niemanden errettet. Die Tugend rettet nicht; das wird nur die Gnadenwahl irgend eines Tages wieder tun, dann, wenn auch die letzten Jünger es aufgaben, noch an die Dichtung zu glauben. Dann wird sie einmal wieder prunken in ihrer ganzen Schlichtheit und die alte unsterbliche Macht erweisen, wenn keiner mehr zudringlich und naseweise derlei von ihr zu erzwingen sich abmüht. Solche babylonischen Epochen widerhallen vom Jahrtausendschritt des Gültigen, es riecht leise überall nach Lüge, unsere Schätze erscheinen uns fragwürdig, der Wind liegt so grauenhaft darnieder, es fließt alles einwärts.

Liebhaberkunste

Ich nähre eine hochmütige Abneigung gegen alles Dilettieren, dehne aber das Prinzip auch auf mich selbst aus; ich bin nicht für das Selbstgemachte, sondern ziehe den vom Fach-

mann

reparierten

Schuh

meinen

eigenen diesbezüglichen

Künsten vor; ich finde, die Sache kommt sauberer, ehrlicher heraus, und der liebe Nächste verdient obendrein sein Brot dabei.

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Dieser Tage nun sah ich mir wieder einmal eine Liebhaberaufführung an. Ich gönnte den Amateuren von Herzen ihre Freude am Spiel, fand auch, daß sie es so übel gar nicht anstellten, wenn es sich darum handelte, nachzumachen, wie ein Schauspieler etwa spuckt und sich räuspert. Aber warum wollte sich keine Freudigkeit in mir einfinden, warum blieb die Pastete so kalt, und weshalb hatte ich den Eindruck, die

Künstler verlören gewissermaßen Sägemehl? Gott helfe mir: schon weil ich daran denken mußte, daß sie rhetorisch von der Hand in den Mund lebten, daß die Vollkommenheit

ihrer Sprache das Maximum einer Dressur bedeutete und durch die Gewöhnung ihres Alltags taumelnd wie eine Wasserhose ging. Es fehlte auch die Begeisterung nicht, und alle Voraussetzungen für das bodenständige, nationale Theater waren da, soviel ich weiß; aber sie kamen mir sogar in ihrer

eigenen Mundart unnatürlich vor, durchaus unnatürlicher als ein Schauspieler, der den Dialekt vielleicht etwas färbt, dafür aber seine Sache versteht. Was die Liebhaber nun nicht verstanden, das war beileibe

nicht das Schwierige: Sie praktizierten die Theatergesten, vom Schütteln der Mähne bis zum sterbenden Hinfallen, so bravourös, als man es sich nur wünschen konnte; sie hatten

also gerade begriffen, was einen am Mittelmaß der Berufsschauspieler verdrießt. Aber sogar dieses Mittelmaß pflegt heute durch Theaterinstinkt, durch Raffinement, durch viele

Übung dahin zu gelangen, das Wesentliche wenigstens vorzutäuschen.

Dieses Wesentliche,

als Muttergabe

zugefallen

das dem

einfachen

Mann

ist, ja über das er in seinem

Lebenskreis nicht hinauskommt, weil er es selbst ist, nämlich

die Einfachheit, dieses Eine gelingt dem Dilettanten auf der Bühne nur ganz ausnahmsweise. Tagwandelnd, wenn wir so sagen sollen, wird er sich’s nicht bewußt;

selber schaustellend,

fällt er aus dem

angerufen,

sich

Takt, wird pfiffig,

verlogen, eitel, lächerlich und verdorben, und ganz begreif-

lich, denn es ist etwas vom Schwierigsten, auf einer anderen Ebene, in bewußter Projektion, sich selber darzustellen; gerade dem einfachen Manne wird das zu allerletzt gelingen. Die Einfachheit ist das Schwierigste; der Dilettant aber ist schon aus Mangel an Sicherheit nicht einfach; selten hat er das Gefühl für die Abbreviatur, das Unterdrücken; sein Dilettantismus, der ihn unbewußt behindert, verführt ihn

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dazu, die Gebärden zu übertreiben, und so kommt alles komisch, unmaßgeblich und fratzenhaft heraus. Was dem Meister obendrein gegeben ist, der Blick für Nuancen, fehlt dem Gelegenheitskünstler ebenso wie dem nur Intellektuellen; dıe Abstufungen aber sind das Ferment, das eine Leistung beisammenhält, ihr Farbe und Wärme und Wahrhaftigkeit gibt. Wenn ein Ding schemen- oder schablonenhaft wirkt, so verdankt es das der Abwesenheit entweder der inneren Wahrheit oder der Abgewogenheit oder der Einfachheit. Es liegt mir wahrhaftig fern zu behaupten, diese Dreieinigkeit wäre auf Universitäten oder an Schauspielschulen zu erringen; ich streite auch nicht ab, daß sich günstigenfalls ein Ensemble theaterbegabter Dilettanten zusammenfinden kann; ich trete lediglich jenem demokratischen Aberglauben entgegen, der da ausstreut, die Dinge der Kunst wären in einem umfassenden Grade zu popularisieren: Sie sind es genau so sehr und so wenig wie irgend eine hohe Sache — dem Geringsten kann der Sinn für sie geschenkt sein, aber in ihnen

zu exzellieren,

das erfordert

nicht nur

Begnadung,

sondern Metier wie irgend ein Handwerk, daneben aber Plage und Entbehrung, und das mag der Grund sein, warum ich es eigentlich unmoralisch finde, den Leichtsirn zu bestärken, der die höchsten

Berufe dilettieren will, mehr

als in

einer internen und humoristischen Absicht. Heiter ist das Leben, schwer ıst die Kunst.

Berufswahl

Dieser Tage hörte ich den Vortrag eines Berufsberaters, der die armen Eltern mit seinem Thema in Angst und Schrecken jagte. Offen gestanden, ich halte das Treiben dieser Leute nachgerade für anfechtbar. Sie machen die Sache schlimmer, als sie tatsächlich ist. Die Wahrheit darüber sieht ein wenig hausbacken aus, indem die ganze verkomplizierte Materie doch zunächst nur in die beiden Gattungen mehr manueller und mehr «intellektueller» Berufe einzuteilen ist. Von diesen ist naturgemäß die intellektuelle die diffizilere, die am ehesten Vorsicht in der Wahl gebietet; doch behaupte ich, daß es für einen jungen Menschen im allgemeinen auch hier nicht so fadenbreit von Bedeutung ist, welche der bestehenden 301

Möglichkeiten er wählt: Ob er nun auf einem Postbüro oder im Kontor, auf einer Bank oder in der Kanzlei den Federhal-

ter aufs Ohr steckt, das dürfte - immer im allgemeinen - für sein Lebensglück nicht entscheidend sein. Einmal hat jeder Stand seine natürlichen Vor- und Nachteile, sodann vermag die menschliche Natur sich anzupassen, und es.liegt in der Notwendigkeit, sich einzurichten, sogar eine große erzieherische Möglichkeit. Im übrigen hängt denn doch hoffentlich die geistige Existenz des Menschen nicht ausschließlich von seinem bißchen Gewerbe ab; dem einen ist jede Arbeit Notbehelf und Last, der andere weiß aller Betätigung etwas abzugewinnen. Nicht die Hälfte all derer, die ihren Beruf verfehlt zu haben meinen — die Sentenz hat etwas von der Eitelkeit der Lieblingskrankheit «Nervosität» an sich-, würde sich in irgend einem andern glücklicher fühlen. Das Schicksal ist zum Glück geradliniger als unsere Umständlichkeit. Ist es nicht ein Gesetz, daß wir auch anderswie zu

Dingen geführt werden, von denen wir glaubten, sie lägen nicht in unserer Natur? Es ist gerade, als ob wir an unserem Gegenteil zu lernen hätten. Selber das Wetter zu machen, allzusehr «das Leben zwingen», ist gewöhnlich nicht vom Guten,

weil unkünstlerisch.

Dies der Grund,

warum

die

meisten von uns auf Umwegen und zu einem anderen als dem gesteckten «Ziel» gelangen. Die Vorsehung, die uns genau im Auge hat, ist immer noch etwas klüger als wir selber. Darum gibt es wenige, die End aller Enden ihr Leben bereuen, selbst wenn sie, in guter Erkenntnis und aus gereiftem Verantwortlichkeitsgefühl, es ein zweites Mal gescheiter anstellen wollten. Was nun vollends die handwerklichen Berufe anbetrifft, so

ist Zimperlichkeit ihnen gegenüber schon gar nicht am Platze. Es sollte mich

wundern,

was

etwa

die untersuchende

Psychologie darüber zu Tage brächte, ob die Beschäftigung mit Holz oder Eisen oder Tuch oder Leder wirklich so spezielle Eignung erforderte. Wer als Schuhmacher glücklich wird, wird es auch als Kaminfeger, das ist meine ketzerische Überzeugung für die Mehrheit der Fälle. Die summarische Einstellung des Volkes diesen Dingen gegenüber scheint mir richtiger zu sein als die tiftelnde Ängstlichkeit einiger Schulmeister, und von seinem unmißverständlich materiellen Interesse, das es der Arbeit zuwendet, wäre soviel zu lernen,

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daß deren Einträglichkeit für die Befriedigung, die sie spendet, so nebensächlich nicht ist, wie die meist etwas utopi-

stisch veranlagten Fürsorgeleute es hinstellen. Es liegt mir fern, die Wünschbarkeit der Berufsberatung grundsätzlich anzuzweifeln; aber ich halte dafür, daß sie aus Vorsicht und Bescheidenheit sich eher in den Grenzen der Berufsvermittlung bewegen müßte. Eine solche wird immer dankbare Konsultation, die Einmischung in den persönlichen Entscheid nicht selten Mißtrauen, ja Ablehnung finden, wo nicht der Amtspessimismus bereits seine alarmierende, wenn auch wohlgemeinte Suggestion ausübte. Denn sogar dem Schlagwort vom Übel der Berufslosigkeit - die wir natürlich nicht propagieren wollen — stehen beträchtliche Tatsachen entgegen, solange die lachende Befriedigung zum Nachteil des Tüchtigen sich auf Seite der Akkordautomaten befindet. Der erwähnte Referent zog aus dem Umstand, daß von den Insassen der Strafanstalten 80 Prozent Berufslose sind, den ihm einzig möglichen Schluß: Berufslosigkeit macht kriminell. Daß man den Esel auch normalerweise am Maul aufzäumen und sagen kann, die kriminelle Veranlagung treibe zur Berufslosigkeit, das ließ er sich gar nicht einfallen, weidete sich vielmehr an der Verblüffung des Publikums und zog neue Begeisterung für sein Wirken daraus. Ich will mit dieser an sich nebensächlichen Beobachtung nichts weiter als ein Beispiel der prinzipiellen Schiefheit so mancher unserer Kulturerrungenschaften anführen. Man könnte von der Wahl des Berufes in einer Hinsicht dasselbe sagen wie von der Brautwahl: meistens muß sie zu früh geschehen und ist aufs Gefühl, auf eine Menge gut Glück und besonders auf den späteren gesunden Menschenverstand in der Behandlung dieses Glücks ohnehin angewiesen.

Walpurgisnacht der Reklame Ist das nun eigentlich in der Ordnung, daß sie die Dunkelheit zu einem Schlachtfeld gemacht haben, auf welchem sie mit Lampen,

Röhren, Scheinwerfern,

ten, Lichtgirlanden,

Bengalfeuer,

Blinkern, Laufschrif-

Sprühwerk

aufeinander

losknallen? Ist das nicht ein Tollhaus des Krämertums, ein

Veitstanz der Anpreisung, eine Walpurgisnacht? Es ist das 303

grelle und doch nicht wahrgenommene Symbol alles dessen, was in unserer Zeit seine groteske Konsequenz, seinen Paroxysmus, die Stille des höchsten Getöses, die zur Weißglut verdichtete Finsternis erreicht hat. Sagen Sie, was behält denn ein Mensch von alledem noch? Wem fällt es ein, in der

farbigen Unterhaltung noch zu lesen? Ich habe das Schauspiel beobachtet, wo ein pfifiiger Reklameeinfall es fertig brachte, die Aufmerksamkeit der Menschenansammlung so gründlich von dem eigentlichen Artikel abzulenken, daß die Verkäufer Muße bekamen, mit bei der Kurzweil zu stehen. Vielerorts wird die Reklame zum Selbstzweck; das Wirken

eines fixbesoldeten Dekorateurs breitet sich in dem Etablissement schimmelpilzartig aus, und wenn dem Chef der Atem vergeht, so wirft er dem Reklamemoloch in abergläubischem Instinkt noch bewußtlos seine letzten Mittel vor. Abgesehen davon, daß in seinem Dienste die abgeschmacktesten Dinge nicht gescheut werden, angefangen bei dem Firmenschild am Wiesenbächlein,

über die Schauerlichkeit

der Automaten,

wo so ein lächelnder Kerl tagaus, tagein mit seiner Nase an das Fensterglas zu tippen hat, hinauf bis zu den Klassikerzitaten, abgesehen von der Behelligung auf Schritt und Tritt, fragt man sich eines Tages: Wo stehen wir denn, daß jeder dazu greifen muß, ein solches Geschrei zu verführen, wenn er

seine Ware loswerden will? Blitzlichtartig erhellt es die Verlorenheit um uns. Ware sollte es doch eigentlich nicht nötig haben, sich anders als durch ihre Art zu empfehlen. Ihre Unübersehbarkeit scheint mir kein Beweis gegen diese Behauptung zu sein; die Abnehmerschaft istjaebenso groß, die beiden sollten sich also finden. Die Erscheinung dürfte viel eher darauf zurückgehen, daß überhaupt nicht mehr um des Abnehmers, sondern einzig noch um des Verdienstes willen produziert wird. Wir produzieren nicht, um irgend jemand zu dienen, wir produzieren, um zu ver-dienen. Wir produzieren auch kaum noch aus Liebe zum Werk; wer nur ein

typisiertes Detail daran zu liefern hat, wird für das Ganze nicht warm. Alles ist nur noch Produktion, nichts Geschaffe-

nes mehr. Daher das Mißtrauen und die Notwendigkeit des Marktschreiertums. Es genießt das entsprechende Vertrauen. Haben die Superlative noch einen anderen als humoristischen Klang in unserm Ohr? Reklame ist möglicherweise bereits eine Krisenerscheinung. Der Absatz müßte nicht

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stocken zu einer Zeit, wo Millionen das Nötigste entbehren, sollte man denken. Man geht auch nicht in die Wüste unter Verschmachtende: «Sana»-Tafelwasser ist das beste! - Doch hat der Selbstzweck auch viel Nettes hervorgebracht; das muß man ihm lassen. Anonymität der Technik

Vielleicht ist es von einem Lyriker verwunderlich, aber ich habe eine ausgesprochene Vorliebe für Ingenieure, und ich kann sie begründen. Nichts ist mir widerwärtiger als der Seelenapostel, der mir, wenn möglich durchs Telephon, die

Sünden der Technik bejammert. Es gibt nicht mehr Stümperei der Technik als Stümperei irgend einer menschlichen Bemühung; sie ist nur jung und deshalb besonders argwöhnisch kontrolliert. Es gibt mehr Sünde alter und neuer Architektur, über die wir uns zu beklagen hätten; die Künste

gar, als Disziplinen

des unkontrollierbaren

sind ein Tummelfeld

der Scharlatanerie,

«Seelischen»,

der Eitelkeit und

Überheblichkeit — wie wohltuend ist ihnen gegenüber der sachliche Ernst der Wissenschaften, die keine Erlösungstheorien aufstellen, keine Dogmen diktieren, nicht mit Transzen-

dentalem irdisch operieren, keinen Schaum schlagen — die sich nur des einen befleißigen: zu dienen. Ob wir ein Flugzeug, eine Wasserpumpe, den Röntgenapparat, einen Boiler, einen Reißverschluß betrachten, überall stoßen wir auf diese rührende, volksliedhafte Anonymität von Dingen, deren wir uns bedienen, ohne nach ihrem Urheber zu fragen. Im Feuilleton suchen wir die Person des Autors, wir gehen um die Plastik herum, irgendwo einen eingekerbten Namenszug zu entdecken; über dem erstaunlichen Anblick einer lautlos daherfahrenden Limousine, auf deren Volant mit schönster Lässigkeit die behandschuhte Linke einer Dame ruht, vergessen wir, an die Reißbretter zu denken, auf denen von Bataillonen verborgener stiller Erfinder Schlachten der Ritterlichkeit ausgetragen wurden. Der Ritter schlug sich für seine Dame mit einem Nebenbuhler oder vollbrachte, wenn’s hochkam, irgend eine gute Tat in ihrem Namen; die Anonymen im Labormantel bauen fürs Kollektiv des zarten Geschlechts Annehmlichkeiten aus — wie selbstlos sind sie, es sind tätige Christen.

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Nun ist es richtig, das Kunstwerk, als originelle Leistung des Einzelnen - in einem weiten Sinne trifft das zu-, mag die Signierung eher als das mehr ahnenhaft zustandegekommene Werk der Technik verdienen; das geistige Eigentum an diesem ist meist nur summarisch zu lokalisieren. Der entscheidende Einfall zur Dampfmaschine mag James Watt zukommen;

sein Exemplar

macht

uns bekanntlich

lachen;

Leonardo macht uns mit seinen Realisationen nicht lachen. Die Dinge der Technik entwickeln sich aus dem Schwerfälligen, Saurierhaften zum differenzierten Minimum der Mittel aufdem Weg über Generationen, in einem besonderen Maße behindert durch den Zwang zur Anlehnung (das erste Auto sah wie eine Kutsche, das erste Flugzeug allzusehr wie ein flügelnder Vogel aus). Denn es ist ja nicht so, daß «Erfindungen» eben Erfindungen wären; es sind Findungen, die, mühselig auf immanente Gesetzlichkeiten der Schöpfung gebracht, Wahrheiten Gottes verkörpern und somit von dem Zeitpunkte an vollendet sind, und wäre es auch nur in dem Sinne, daß sie ein Körnchen «Material» — es ist eine große Sache um die granhafte Substanz des original Schöpferischen! — an die Entwicklung weitergeben. Jedenfalls ist da nun so etwas wie diese Schwebebahn, die allem Anschein nach prächtig funktioniert auf Grund von tausend tüchtig gelösten Problemen, die nicht zu bedenken der Laie ein Recht hat. Nach dem Prinzip der Arbeitsteilung hat der Laie Anspruch darauf, das schlackenlose Produkt künstlerischer oder wirtschaftlicher Arbeit zu genießen; mit Selbstverständlichkeit bedient sich der Laie des Druckknopfes, des Trolley-Bus — trotzdem hat es gerade für den Künstler, der Wert darauf legt, in seinen Werken nicht verwechselt zu werden, etwas Aufregendes, an der Undankbarkeit und Unaufmerksamkeit dem Arbeiter der Technik gegenüber teilzuhaben. Kommt hinzu, daß er eine gewisse Eifersucht auf die stille Größe dieser Anonymen empfindet, von denen er weiß, daß sie wie er erfinderisch und kenntnisreich, dar-

über hinaus aber uneitel, anspruchslos und sachlich bescheiden, also erst von wahrhafter Bedeutung sind.

Jugend und Alter «Wie ist das nun eigentlich», polterte der Alte: «Sonst tönt es doch immer nur von Untergang, vom Zusammenbruch der Ideale und davon, daß nichts vorhanden sei, weil wir alten

Kracher leider geträumt haben, statt gebrauchsfertige Weltanschauungen für euch zu fabrizieren. Mich dünkt, ihr vergnügt euch von Herzen in den Automobilen eurer Väter. Ihr tut eilig und mitleidig, als hättet ihr euch entschlossen, die Welt nun um das Entscheidende vorwärts zu bringen, unter den erbärmlichsten Umständen, weil, wie ihr sagt, alles fehlt. Ihr habt es leicht, nun die Teile zusammenzuset-

zen. Bildet euch nur nicht ein, ihr hättet das Unglück erfunden! Eure aparten Konflikte sind nicht so neu als ihr glaubt. Seht zu, daß ihr die Bedeutung der Zeit nicht überschätzt. Das Schicksal will mit vielem immer nur wenig, sagt der große Goethe, der zwar auch zu den Mummelgreisen gehört, an scharfsinniger Sachlichkeit aber nichts von euch anzunehmen hat, wie ich hoffe.»

«Ich finde wieder einmal...»

Ich finde wieder einmal irgendwo die Rundfrage: «Was mir an der älteren Generation nicht gefällt». Das ist noch immer nicht zur Genüge beschwatzt worden. Mein Gott, was sind denn wir, die wir nıcht mehr am Daumen lutschen, für eine

senile Brüderschaft, daß wir die Sorge darüber nicht loswerden, was die liebe Jugend von uns hält! Sie hat uns ungefragt und gefragt nachgerade hinlänglich darüber aufgeklärt, und wir fürchten, daß demnächst die Zeit wiedergekommen sein möchte, wo die Seminardirektoren in den Fehler verfallen,

die umgekehrte Botmäßigkeit zu verlangen. Hat man denn kein Gefühl dafür, wie widerwärtig die Servilität dieser Frage nachgerade geworden ist? Man erkundige sich nicht noch lange; die Kinder antworten darauf wie immer, wenn der Großvater sich Haue von ihnen ausbittet: sie bedienen ihn mit Vergnügen. Es gab eine Zeit, wo die allgemeine äußere und innere Not die Hintansetzung des letzten Stolzes rechtfertigte, alle Möglichkeiten der Schuld erwogen sein wollten. Sie haben sich zu helfen gewußt, die führerlosen Jünglinge:

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jetzt haben sie ihre Führer. Gerade genügend von ihrer Forschheit und Überlegenheit haben sie in der Welt durchgesetzt, so daß wir sie längst nicht mehr bitten wollen, uns

gütigst die Leviten zu verlesen. Ihre eigenen Taten sind ja schon demnächst Geschichte und der Problematik menschlicher Werke teilhaftig geworden. Besinnen wir uns lieber auf unsere unzweideutige Würde, die wir den Knaben voraushaben; sie kommen noch auf allerlei zurück, wofür sie uns nicht

einmal mehr zu danken die Gelegenheit haben werden. Einstweilen scheinen wir berechtigt, ihnen deutlich zu machen, daß wir immerhin auch noch das Leben haben. Denn

wenn es wahr ist, daß die Zukunft der Jugend gehört, so nicht minder, daß die Gegenwart Eigentum der Lebenden 1st.

Fabel

Auf dem Titelblatt der Illustrierten einen dicken Diktator im Stahlhelm: «Es ist besser, einen Tag als Löwe denn hundert Tage als Lamm zu leben.» Gut, das ist seine Maxime.

Am Bahnhofplatz steht ein Wolfshund, die Fahrzeuge kreuzen vor seinen Augen vorüber, plötzlich zieht er an, der Blinde an seiner Leine stolpert beinahe,

Sache ist so berechnet, daß es hinüberreicht. Der Wolf, Nachkomme einer sich gewiß auch noch andere Augen an den alten Menschen

allein es eilt, die

zwischen zwei Wagen gerade

blutigen Ahnenschaft, wüßte Kurzweil, doch hat er seine verschenkt, er ist nicht frei, er

muß dienen, es ist seine Maxime.

Warum denn nicht? Wenn die Bestien mildtätig werden, bekommt die Krone der Schöpfung Zeit, abwechslungsweise einmal wieder Raubtier zu spielen.

Großes Geschehen und kleines Geschehen

Wäre es, wie man doch eigentlich denken sollte, so kämen wir täglich nicht heraus aus Tränen über Dinge, die geschehen: Katastrophen,

Unrecht, Barbarei, vollends so, wie sie

uns heute zu Ohren kommen zwischen Grammophongetän308

del, zum

schwarzen

Kaffee,

von

einer

Stimme

verlesen,

deren Neutralität einem Automaten anzugehören scheint. Wir vernehmen es ohne Wimperzucken, daß nun der letzte Schacht über den zweihundert Verschütteten zugemauert ist, Nepal in Trümmern liegt, Renn seine zweieinhalb Jahre Zuchthaus verlängert bekommen hat, ein neuer Zweihundertmillionenschwindel in Frankreich aufgedeckt wurde, absolut nichts gegen den Bankbetrüger X. Y. auszurichten ist, Nummer 367 auf der Flucht erschossen wurde, die Löhne der

Maschinenfabrik so und so wieder einmal herabgesetzt werden mußten. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschieht, überbietet sich heute selber, die Kraft unseres Herzens steht

in keinem Verhältnis dazu, es verweigert seine Reaktionen. Wir haben nur bei ganz läppischen Gelegenheiten plötzlich unsere Wutanfälle, wir lassen ein vertracktes Hemdknöpfchen das Unrecht der Welt entgelten, die Glut unseres

Widerspruchs ergießt sich gegen einen unschuldigen Gesprächsgegner. Doch scheint es ja die undurchschaubare Art menschlicher Empfindung an sich zu sein, daß sie sich unverhältnismäßig betätigt. Da sind anderseits diese kleinen Dinge, die uns erschüttern. Der Anblick eines alten Mannes, der aus unbegreiflicher Rücksicht seinen Husten in sich erwürgt. Es sieht aus, als stürbe er auf der Stelle; allein entweder schämt er sich seines Gebrestens, oder er glaubt es

uns schuldig zu sein, eher im Kampf mit ihm zu ersticken, als sich damit laut zu machen. Wir könnten ihn an uns drücken aus erbarmender Zuneigung für sein scheues Wesen. Alle Gewalthaber der Welt erscheinen uns schwächlich neben ihm in seiner Selbstbeherrschung. (Da ist ein Herr in der Straßenbahn, der vor dem jüngern mit einem höflich entsagenden Seitenblick zurücktritt, weil er es sich nicht mehr leisten kann, von dem fahrenden Wagen zu springen.) Oder es hüpft unter den Tauben eine auf einem halben Bein, sie kommt bei allem zu kurz, doch gibt sie’s nicht auf, zu hüpfen, zu hoffen, nachzusehen, und wenn ich ihr beisprin-

gen will, ist sie die erste, die sich erschrocken hinweghebt. Sie muß denken, daß ich sie angreifen wollte, und die Tränen kommen mir vor Verzweiflung.

309

Europa vergrast Der Evolutionstheorie steht eine andere gegenüber, die lehrt, daß von allem Anfang an der Mensch als eine Gegebenheit da war, spektralisch auseinandergelegt im Tierreich. So wie er demgemäß allen Raum in sich vereinigt und es, traumberührt, oft auch empfindet, ist ihm die Zeit gegenwärtig als etwas, das zwar vergehen, aber auch wiederkommen

kann

nach der Art der Erinnerung, die geht und kommt. Es ist noch nicht lange her, da hatten wir die Empfindung, «an der Spitze der Zeit», in der Tageshelle der Geschichte, in jenem Wohnraum zu wandeln, der mit dem zwanzigsten Jahrhundert numeriert ist: in einem Zimmer aus Glas und Stahl! Wir nährten ein wenig den Hochmut, den alle Lebenden zu allen Zeiten genährt haben: doch die allein wahre Aufklärung genossen, die einzig würdige und lebenswerte Zeit zum Leben erwählt zu haben. Mit fröstelndem Mitleid, geneigten Nackens schritten wir durch die Museen der Väter, welche dunkel wohnten, in Getäfel versargt, bei elenden Lichtern;

schamvoll sahen wir ihre Folterkammern, die Zeugen ihres erfinderischen und, wıe es uns vorkam, kindischen Bedürf-

nisses zu quälen — wir gingen eilig weiter. Aber so schnell wir gehen, so vorwitzig wir Paradiese der Zukunft entwerfen (wir haben stets in der Zukunft gelebt!), so leicht holt uns die Vergangenheit ein. Wer von uns lebt noch im Glauben, an der gewohnten Stelle zu stehen? So wie wir die Jahreszeiten empfinden,

die kaum

zu

beschreibende,

aber

unmißver-

ständliche Veränderung der Morgenluft mit ihrem Geruch von Primeln oder Heu oder Nebel oder Schnee, so fühlen wir eine andere Zeit über uns, und siehe, sogleich sind auch ihre

äußeren Attribute zur Stelle. Auf einmal schleppen sie wieder das Fallbeil hervor. Wir erleben wieder Mord und Brand in Europa. Die Geister, die wir riefen. Während wir sitzen, lesen, lachen, schlafen, werden Mitmenschen gefoltert. Wie

verflogene Tauben lassen sich Flüchtlinge unter uns nieder. Indem wir herumgehen, wissen wir, daß Sträflinge in gefrorenen Zellen husten, hungern, ihre gequetschten, versengten,

veilchenfarbenen Gliedmaßen abtasten, sofern es nicht gerade die Stunde ihrer Behandlung ist. Das Jahr sucht uns heim mit Unglück: Erdbeben, schlagenden Wettern, Hochwasser, Eisenbahnkatastrophen, Lawinen, Banditen. Es sollte uns 310

nicht wundern, wenn Pest und Cholera auferstünden. Wenn

dreißigjährige Kriege den Erdteil verheerten. Es hat nicht auf sich warten lassen, daß wieder Wölfe (canis lupus L) in der Gegend von Madrid und Auxerre in Frankreich erschienen; ein Radfahrer ist kilometerweit von ihnen verfolgt worden. Und Schottland serviert eine Seeschlange.’Überwundene Fabeln machen uns wieder zu schaffen; bitte; es sind die Wissenschaftler, welche den Lindwurm beinah weinerlich

gegen den Unglauben der Welt verteidigen. Kinematographisch nachweisbar, drei Ellen die Fußstapfen. Und Sankt Georg, meine ich, bietet sich der Welt gleich in der Mehrzahl an. Hinter der Wand schnauft Wotan. Die Dichter sterben voller Schrecken.

Kleinigkeiten Die Lotterei in der Schweiz grassiert doch nachgerade in einer Art und Weise, die symptomatisch sein dürfte. Früher gab es das meines

Wissens

zur Ausnahme,

heute bietet sich das

Glück gewerbsmäßig von Tisch zu Tisch an. Der solide Sinn stellt sich um auf den Flirt mit dem unverdienten Zufall, und

die Duldung von seiten der Behörden sieht ein wenig nach dem schlechten Gewissen der Diktatoren aus, die mit Ablenkungsmanövern jeder Art gute Erfahrungen gemacht haben. Es sollte uns nicht wundern, wenn bald auch der Straßenbettel, dieses andere Anzeichen innerer Fäulnis, bei uns wieder auftauchte.

Die Hausiererei ist nur ein Vorbote davon. Man kann keine Viertelstunde mehr sitzen, ohne die sanfte Form von Erpres-

sung zu erfahren, welche darin besteht, daß uns ein armer Teufel die Legitimationskarte seines Hungergesichtes vorweist, uns zum Kauf von Dingen zu zwingen, von denen wir alle längst ein Lager zu Hause aufgehäuft haben. Unser Verständnis für die Arbeitslosen ist groß; sie aber wollen es nicht begreifen, daß kein Mensch einen solchen Verbrauch an Seife, Schuhnesteln und Kragenknöpfen vor seinem Budget verantworten kann. Eine weniger schematische Arbeitsbeschaffung müßte für die Möglichkeit etwelcher Auswahl alt

besorgt sein im Interesse des Abnehmers tenden.

wie des Anbie-

«Sie lügen — nicht, aber Sie täuschen sich, wenn — —» schreien

mir die Prospekte der Kaufleute täglich aus meinem Briefkasten entgegen. Ihrerseits lügen diese Leute möglicherweise auch nicht in der Anpreisung ihrer Artikel, aber sie täuschen sich darin, daß sie die Wirkung ihres Papierbombardements allzu positiv veranschlagen. Gibt es im Dienst am Kunden keine Gebote des Anstandes? Der Existenzkampf ist schwer und entschuldigt vieles, aber die wildgewordene Reklame scheint längst zum Selbstzweck geworden zu sein, ihr Spezialistentum treibt stinkende Blüten der Arroganz, vergreift sich an Gütern, die nun wirklich nicht für ihre Zwecke geschaffen wurden: Rodins «Denker» muß irgendeinem Geldbruder den Mannequin machen, die Verse der Klassiker lassen sich propagandistisch anwenden, die guten alten Götter gar werden dazu erniedrigt, den Kram der Krämer zu buckeln. Trauer- und Glückwunschkarten werden gerne mit Gold aufgewogen, da niemand den Mut aufbringt, sich dieser moralischen Verpflichtung zu entziehen. Wer wollte denn markten, wo es um die Bezeugung der Teilnahme geht? Es bleibt uns nichts anderes als zu bezahlen; aber die Spekulation darauf ist unverschämt, und es dürfte ihr füglich das Handwerk gelegt werden schon aus Gerechtigkeit gegenüber anderer Leistung. Und die Blumenverkäuferinnen abends im Cafe, die mich dazu verpflichten, meiner Dame Blumen von dreifach übersetztem Preise zu kaufen, möge der Donnerschlag inmitten ihres holdseligen Lächelns rühren. Kleinigkeiten? Symptomatische, traurige Kleinigkeiten, hinter denen viel zu schen ist.

Eine Berühmtheit wandert die Bahnhofstraße hinauf

Man hat sein Bild in hunderttausend Zeitschriften gesehen, der Film seiner Taten läuft in Amerika, Japan, bei den Papua und in Archangelsk, er ist in Postkartenformat zu haben, sein Lockenkopf schwankte auf Telegraphiewellen durch den Ather — und nun bewegt er sich da die Schaufensterwand 312

entlang unter dem Alltagspublikum,

dieser Volksliebling,

dieses Kuriosum: ohne Hut, mit einem Paketchen in der Hand, guckt ein wenig da hinein, horcht ein wenig dort hinab, setzt seinen gewaltigen Gang fort inmitten der stehenbleibenden, lächelnden, sich umdrehenden, auf ihn zeigen-

den, ihn offen verhandelnden Straßengänger; denn er gehört ja nicht zu den olympischen Größen, sondern zu der glücklicheren Art, die bei den Königen und Gassenjungen gleicherweise in Gunst steht, zu der Art Chaplins. Das freudige Aufsehen, das er erregt, hat etwas Traumbhaftes an sich. Der Straßenbahnschaffner, der eben noch mit einer Miene knipste, als hätten die Fahrgäste eigens um ihn zu plagen sich versammelt, findet wie durch ein Wunder die menschliche

Sprache wieder, er vergißt sich eine ganze Weile in seinem fahrenden Salon, steht mit hängender Zange wehmütig verträumt, blickt auf die Berühmtheit, wie man auf die Unschuld eines Kindes, eine unerreichbare Frau oder auf Jugenderinnerungen blickt. Die Berühmtheit ist keineswegs hübsch, allzu aufgestengelt, dabei reichen ihr die Hosenbeine nicht völlig hinab; der Mann ist aber um die flaumigen Blicke der Frauen zu beneiden, man hat den Eindruck, daß er, wenn er nur wollte, alles bekommen könnte, was es auch

sei, wie im Märchen. Die Männer, Mappenträger sowohl als Kielraucher, geben sich sklavenhaft weichmütig, als läge ihr aller Tun und Streben außerhalb des Vergleichs mit den Verdiensten der Koryphäe hier. Diese ist in ihrer Mitte wie ein Magnet erschienen, der alle Apparate außer Funktion setzt, aufhebt; gleich einer Windhose bewegt der Riese sich dahin, Verwirrung stiftend, den Lauf der Welt umdrehend,

aber angestaunt und heimlich gefürchtet, mit allen Gefahren gutgeheißen, ganz entgegen der Gewohnheit der Massen - er hat die Macht eines Dompteurs. Wie erreicht er das? Einfach indem er tut, als ob nichts

geschehen wäre. Führe er im Siegeswagen daher, so erntete er wohl die Ehre, die er sich durch diese Veranstaltung ausbäte — aber auch nicht mehr, im Gegenteil, es guckte unmittelbar neben dem Respekt auch ein bißchen überlegene Moquerie aus den Gesichtern der Gratulanten. So aber dankt männiglich unter Zubilligung der vollkommensten Ergebenheit für das rührende Schauspiel, in dem ein Auserwählter seine Allgemeinmenschlichkeit — eben nicht demon313

striert, vielmehr in aller Ahnungslosigkeit von sich verrät. Indem auch er die Nase vorn im Gesicht und einige Fettflekken auf dem Konfektionsrock trägt, sich für Schuheinlagen, die HersteHung von Wurmpillen, für Gladiolen und Schokolade interessiert, unter diskreter Mißachtung einzig der Gegenden, wo seine gewitzigte Witterung das besagte Bildnis vermutet — indem sein Genie quasi Ferien genommen hat und er, einzig dadurch, daß er in der Sichtbarkeit erschien, irgendwie kleiner geworden ist, beruhigt er die verehrende Menge hinsichtlich des Übermenschlichen; es ist dieses weit und breit in keiner Weise mehr festzustellen, sie wundern sich fast ein wenig, wie und wann es möglich wurde, daß sie sich zu solchem Überschwang der Begeisterung hinreißen ließen — der Strumpf hängt ihmja über den Schuh hinab, er hat doch ein wenig den Kopf eines Phantasten, und wenn ihm die Sache mißlungen wäre... Vielleicht tragen sie mit ihrer Zuneigung einiges von dem Spotte ab, dessen sie sich ım Falle seiner Niederlage zweifellos schuldig gemacht hätten. Es ist mit dem Ruhm so eine Sache; es gibt möglicherweise unter den Zuschauern welche, die sich fragen, ob das

Exemplar sich wirklich in dem Verhältnis seiner Popularität von den Zeitgenossen unterschieden habe; doch hängt an ihm gewissermaßen noch der Tang jener zodiakalen Höhen, aus denen er kommt, er allein von allen, die gelebt haben und leben - Timur und Abraham, Lindbergh und Echnaton, Rembrandt, Einstein, Solon, Poiret, Siddhartha, Caracciola. Also gehört er doch wohl zu den Seltenheiten. Was ihn selbst betrifft, so schwört er am Ende nicht einmal

darauf. Er mit seinem geräumigen Schädel ahnt dinosaurische Vergangenheiten. Darum geht er ja auch dahin, ohne Hut, mit einem Paketchen in der Hand, guckt ein wenig da hinein, horcht ein wenig dort hinab und tut, als ob nichts

geschehen wäre.

Der Unsterbliche

Er kennt das gar nicht mehr, dieses lederzähe Ankämpfen gegen den Widerstand der Welt. Er hat auf der ganzen Linie gesiegt, er hat den Erdball erobert, jeder Neger in Afrika weiß seinen Namen,

seine Melodien

314

mischen

sich in den

Wind von Kentucky ebenso wie in den von Tasmanien und Korea und Hammerfest und Tananarive und Vancouver; es gibt Platten von ihm, die laufen in den Bars von Rio de Janeiro, Bangkok, Leningrad, zu Glas abgeschliffen, die Zeitungsjungen und rotnäsigen Stiefelputzer pfeifen sie schon vor Sonnenaufgang. Den Farmer, wenn er an seinen

Schuhen empfängt er auch, vernimmt

die der und als

Würze zertretener Saat Prunk seiner Opern. In die Rothaarige, hinter letztes noch irgendwoher

in den Ranch trägt, den Bordellen wohnt der-Wand erwürgt, die Lebenslust seines

Walzers. Gar nicht abzusehen, wo überall in Theatern der

Ozean seiner Erfindung aufrauscht. Er ist siebzig, man feiert das in Berlin, Yokohama, Kapstadt, Philadelphia, Budapest,

Santiago, und er kommt überall hin und sitzt da in seiner berühmten Haut, großgewachsen und doch wie ein Kind, sieht sich an, was er geschaffen hat; es ist viel und erscheint ihm immer wieder neu und anhörenswert, oder dann sitzt er

aus Artigkeit den Künstlern gegenüber so aufmerksam, und zum Schluß steht er auf wie ein Examenjunge, nur sind es die andern, die aufsagen, sie sagen irgend etwas über ihn, den Jubilaren, sie versuchen, ob es gelingt, einen Kranz oder ein Blatt mit einem Gedicht an seine erstaunliche Größe hinaufzuhängen. Es gelingt, er istjaso gutmütig wie ein Österstier; nur das gelingt ihnen nicht, die Wahrheit auf dem Grunde seiner freundlich unverbindlichen Miene zu lesen; daß ihn die Ehrung freut, ist ebenso möglich, wie daß er sich teuflisch darüber mokiert. Die Wahrheit ist, daß er während alledem

mit der Zunge über einen linken oberen Backenzahn fährt und denkt, daß es, verflucht noch einmal, doch eine Karies ist, was er da entdeckt hat, und daß er zum Zahnarzt muß. Ja, er lebt, der Gewaltige; allein wer denkt denn im

allgemeinen

daran, daß das gerade jetzt und immer

ist,

während wir herumgehen, uns an- und ausziehen; auch damit, daß wir an seinen Wohnort Wien denken, haben wir

ihn noch keineswegs aus den Arkadien der Unsterblichkeit herabgeholt. Kommen uns nicht geisterhafte Augenblicke, wo wir sogar das Dasein der Erdteile anzweifeln? Wir gebrauchen den Namen der Stadt Irkutsk, allein wer von uns war in Irkutsk, wer von uns wird es je sehen! Es ist und bleibt bis zu unserm Abgang von diesem Stern ein Vorstellungsinhalt mit der Wirklichkeit und Unwirklichkeit eines solchen,

2149]

Annahme des Glaubens: Gegrüßt, o all ihr unerreichbaren zauberhaften Orte Sibiriens, gegrüßt im Vorüberflug dieses Lebens! So ist auch er, die Entrückung gehört zu ihm, und er wird auch jetzt wieder dahin verschwinden, um zu arbeiten, die Flut seiner Hervorbringungen zu mehren; seit einem halben Jahrhundert, wo er damit anfing, als ein Aufrührer mit genialischer Stirnlocke die Prügel der Welt einzuheimsen, hat er nicht aufgehört, Musik zu verströmen; ein Ozean hat sich aufgestaut in Partituren, Heften, Alben, Grammo-

phonplatten - legendarisch ist er geworden, überwirklich wie die Sonne am Himmel, welche da ist und nicht da ist, dem

Sternreich angehört und doch dem Kuli am Rücken brennt. Ist das noch ein Mensch, ein solches Allgemeingut, eine solche Koryphäe? Die Rinnsale und Bäche und Ströme des Reichtums, der ihm aus allen Landschaften der Zivilisation zufließt, setzen seine Kasse unter Wasser. Er ist nicht nur ein

Künstler, er ist auch ein großer Herr mit Bankguthaben, Autos,

Landsitzen,

Dienstboten,

Almosenfingern.

Es läßt

sich erwägen, mit welcher Laune er all das genießt: in der melancholischen Übermüdung eines Mannes, dem es nur deshalb nichts anhaben kann, weil er in seiner Kindlichkeit

innerlich gar nicht damit in Berührung kommt, obgleich er das Irdische liebt und gegebenen Ortes mit Hartnäckigkeit für sich zu verteidigen weiß. Er hat etwas von der Unbekümmertheit eines Tigers, eine prächtige Robustheit wohnt dicht neben seiner Künstlersensibilität; er ist ein Mensch, der sich

die unmöglichste politische und menschliche Parteinahme erlaubt, ohne daß man es ihm verübeln möchte, weilja doch alles bei ihm aus den eigenartigen entwaffnenden Gründen seiner Vitalität und Genialität fließt. Er hat die Bedeutung der großen Toten erlangt, lebt aber noch, und darin beruht seine eigenartige Wirkung auf uns. Wo soll er wohnen, wenn nicht in Wien! Es gibt wenige Orte, welche der Belastung mit einer solchen Kostbarkeit standhielten; Wien erträgt deren mehrere zugleich, wie eine starke Krone, welche dem Feuer ihrer Juwelen gewachsen ist; es ist den Besitz lebender und verewigter Halbgötter durch jahrhundertelangen Umgang gewöhnt, von jeher hat es ihnen in seinen Kastanienwäldern Versteck gegeben. Da kommt er zur Oper gefahren in seinem Wagen, der Meister,

gentlemanlike,

von

einer sternfernen

316

Freundlich-

keit, als hätte er es nicht in seiner Gewalt, Sänger und Regisseure und Komponisten und Garderobenfrauen ihres Amtes zu entheben, wenn auf dem Grunde seiner Verträumt-

heit plötzlich der Zorn erfunkelt. Er tut es nicht, er ist zu bedeutend, andere tun es für ihn, das kommt

nicht an ihn

hinan, sein Teil ist olympisches Walten, Macht über das oberste Sternengeglitzer. Welche Schonung liegt in dem Verhalten des Türschließers, der über die Außergewöhnlichkeit dieses Mannes mit natürlicher Diskretion hinweggeht. Prinzessinnen lassen sich die Hand von dem Meister wie von einem Onkel küssen — was aber glauben Sie, daß in der Berührung eines Menschen zuckt, der unter der Welt wie unter Starkstrom steht? Die Damen geben sich Mühe, ihren Schrecken vor der unaussprechlichen Geistesabwesenheit seiner Augen zu bekämpfen. Unaufdringlichkeit strömt wie ein Fischgefunkel an ihm vorbei. Tatsächlich sieht er es nicht mehr. Er ist es gewohnt, und bemerkte er es, er wäre es zu müde. Möglicherweise hat er vergessen, daß andere diese Aufmerksamkeit nicht genießen. Er ist ja imprägniert von Ruhm, der Ruhm hat ihn mit Gebrechlichkeit überhaucht; schon jetzt ist seinem Gesichte die Überfeinheit einer Totenmaske eigen. Er riecht förmlich nach Buenos Aires, Lorbeer, Logenplüsch, Meerdampfer. Allzulange ist es her, daß das nicht so war mit dem Ruhm, mit den tagtäglichen Audienzen, mit der Überschwemmung von Post — der verfluchten Plackerei! — mit dem Honorareingang, mit den Talentprüfungen, mit Kairo, mit den Liebeserklärungen junger sechzehnjähriger Mädchen, mit anonymen Anpöbelungen, mit Bettelbriefen. Wahrhaftig, es möchte sein, daß er das alles im

Leben des Türschließers auch voraussetzt. Er spränge ihm sonst an die Gurgel. Er kann sie nicht begreifen, die jungen Hähne, die kommen, um sich von ihm an den und den Verlag, den und den Dirigenten, den und den Kritiker, den

und den Manager empfehlen zu lassen. Sie in der Fülle ihrer Unbekanntheit! Manchmal denkt er daran, unter einem Decknamen abermals anzufangen. Irgendwo in Agypten. Einen bissigen Hund will er sich anschaffen. Er will einem

der jungen Hähne seinen Kummer abkaufen, diesen Kummer, der einer frischen Frucht gleicht. Nicht ihre Neuheit, die er ablehnt: er fühlt sich an Jugend nicht arm: aber ıhr Untensein,

ihre Unbeschriebenheit,

317

ihr Vorrat an Lebens-

jahren, das ist es, was seine Schwermut weckt. Er empfindet den Geruch seiner Jonquillenseife als etwas sehr Herbstliches, das ihn umgibt, und alle Umschwärmung, das fühlt er wohl, sucht dieses glorios Absterbende an ihm, das einzige, an das er nicht denken kann, ohne daß seine schwärzesten Abgründe in ihm aufwallten. Dann, während er sich über seine Schuhnestel bückt, fällt

ihm von ungefähr ein Motiv ein, und er hat die Hähne um nichts mehr zu beneiden. Er pfeift.

Musterstaaten

Im Disput um den autoritativen Staat kann ich nicht anders als an das Beispiel jener Schule zu denken, in der auch alles nach Vollkommenheit aussieht, Ungleichheit, Unzulänglich-

keit, Spaß und Wagnis von der Zentralstelle des Oberhauptes unmöglich gemacht werden. Beide zeigen die gleich schlimme Form äußeren Scheines. Wo Masse ist, da ist nun

einmal auch Mannigfaltigkeit; wo Menschen sich mühen, da gibt es Stückwerk; ein Ziel setzt hundert Irrtümer voraus, der Mensch wird reicher von ihnen als von blinder Führung. Durch Selbsttätigkeit zur Erkenntnis ist ein Grundprinzip der Pädagogik; es dürfte für die Bestrebungen der Völker gelten, auch wenn wir sie nicht in Schulbänke gesetzt haben wollen. Solche äußere Ordnung, Schneid und Unfehlbarkeit gehen immer auf Kosten viel wichtigerer Dinge. Sie imponieren nur Leuten mit Bürstenschnitt ohne Humor. Und den Korpsstudenten. Ich kannte einen Volksschullehrer,

der hatte den schön-

sten Musterstaat aus seiner Klasse gemacht, keineswegs etwa durch das Mittel des Prügelstockes; so augenfällig stellte sich das nicht dar. Der Mann war Blaukreuzler, Vegetarier, und alles, was man hinsichtlich der Friedfertigkeit nur sein kann; aber er hatte eine drakonische Art, zu Nächstenliebe, Dienst-

fertigkeit, Fleiß und Ernst anzuhalten beinah ausschließlich durch eine suggestiv dirigierte Selbstregierung der Kinder, welche sich gegenseitig in eben diesen Tugenden beaufsichtigten, anspornten, und überboten, was der Gesellschaft ein

sogleich in die Augen springendes Gepräge gab. Ihr Klassengeist stank zum Himmel. Weiß Gott, die Beschaffenheit 318

dieser kleinen Sektierer zeigte sich, sobald sie nur vor die Türe traten. Sie zogen sie unbewußt eifersüchtig und argwöhnisch mit der Miene von Schwarzkünstlern hinter sich zu, als hätten sie wunder welche epochalen Geheimnisse zu verbergen. Sie schlossen sich gegen die Welt ab aus lauter Vereinsdünkel; Fanatismus und Unterordnung unter ihren Zaubermeister glühte ihnen im Auge; ich zweifle nicht, daß sie jederzeit für ihn und das Prinzip, das ihn düster umgab, in den Krieg gezogen wären. Heilige Erhebung heißt das im anderen Falle. Sie weinten nachts im Gedanken daran, daß sie, ohne es aufhalten zu können, aus der Brüderverschwö-

rung herauswuchsen. Andere Lehrer grüßten sie nicht, sie haßten sie bei der Vorstellung, in deren Botmäßigkeit übergehen zu müssen. Dabei organisierten sie einen Arbeitsdienst im Dorfe herum, sie gruben der Witwe den Garten um, lasen

dem Blinden die Bibel vor, sangen in Spitälern ihre Lieder. Der Ferien entschlugen sie sich, indem sie sie im gemeinsamen

Genuß der Natur aufbrauchten; sie wanderten, bade-

ten, kamen zu Spielabenden zusammen; die Meinung der Eltern galt ihnen im Vergleich mit denen des Rattenfängers nichts mehr,

und

was

sollten sie machen,

selber für einen Ausbund

von

Erzieher.

sie hielten ihn

Die Rasse hatte

bereits eine tödliche Art, Liebe, Schönheit, Tugend für sich

zu annektieren.

Der Laternenmann

Junge Mädchen sind gewiß eine Sache, der ich Wohlwollen entgegenbringe; aber meine Vorliebe gehört solchen Leuten wie dem Laternenmann. Der Laternenmann, das ist der, welcher im Morgengrauen, ausgerüstet mit seiner zweifarbigen Laterne und einem aufgerollten Fähnlein, unter der Hülle seiner schönen blauen, schwarzverfleckten Arbeitsblu-

se, den Bahnzug entlang geht, um ihm irgendeine notwendige Manipulation angedeihen zu lassen, bevor er, mit seiner Laterne, in den Nebel des Geleisefeldes hinausgeht an seine unbemerkte Arbeit, die darin besteht, daß er den ausgelegten Fallen und Finten, den erfinderischen Listen, Umwegen, Ausfällen, dem Gekicher und Gehusche, dem ununterbro-

chenen Sabotagewerk des Todes nachstellt, um sie für uns 319

zunichte zu machen: Wenn wir in unserem Zuge vorbeitosen, steht er nur da mit seiner Laterne, mit der Fahne, die aufgerollt bleibt zum Zeichen, daß es weiter nichts zu vermelden gibt, steht er da mit dem ergreifenden Ausdruck von Anspruchslosigkeit und Anonymität seines Gesichtes. Er lebt wie ein Gärtner in seinen Stahlpflanzungen, aus denen den Tod wie einen Mehltau fernzuhalten seine eigentliche, unausgesprochene Obliegenheit ist. So ein Laternenmann ist es, der die verheißungsvollen zauberischen Schilder an unsere Wagen hängt mit ihrer Bläue von fernem See, die ihnen anhaftet, mit südlichen Städten, deren warmer Staub uns anstrahlt; er ist es, der uns die Weite der Welt schenkt. Er

hängt sie für uns hin, damit wir fahren können, und selber trägt er seine blaue, schwarzverfleckte Arbeitsbluse, und wenn wir in unserem Zuge vorbeitosen, steht er nur, vielleicht mit der Pfeife im Mund, die alles ist, was er sich aus dem Anlasse gönnt — mit seiner Laterne, mit der Fahne, die

aufgerollt bleibt zum Zeichen dafür, daß es nichts in der Welt zu vermelden gibt.

Ein Rebell

Mir schräg gegenüber entdecke ich einen jungen Menschen mit schönen männlichen Zügen, etwas finster, seine Nase ist die eines Römers, er trägt Koteletten — ach richtig, das ist ja der Schutzbündler, der sich dahergerettet hat nach der verlorenen Schlacht. Es ist ihm nichts anzusehen, die hun-

derttausend Kugeln haben ihn alle umgangen; er soll unter Gips und Klavieren vergraben gewesen sein, doch das ist abgeschüttelt, ein guter Anzug ist ihm geschenkt worden, den sein schöner Körper mit Anstand trägt, und da er gelehrt ist, hat er auch seine Mappe neben sich auf dem Stuhle liegen. Er sieht also keineswegs ärmlich aus, und niemandem könnte es einfallen, ihn zu bemitleiden, ja auch nur aufihn aufmerksam zu werden, abgesehen davon, daß er wirklich ein hübscher junger Mann ist, dessen grollendes Wesen den Frauen gefallen muß. Allein wie kommt es, daß er als Hauptmahlzeit eine Tasse Kaffee nimmt, und wie verdächtig gravitätisch bricht er seine Semmel darüber? Es sieht sich so an, als hätte er es

320

ordentlich streng mit Platten und Bestecken, Gängen und Getränk. Wie man wohl eine magere Sache verhängt, um ihr ein Ansehen zu geben, drapiert er das Bettlermahl mit den ausholenden Gebärden seiner Hände, mit Überdruß, als wäre ihm auch das noch fast zu viel. Denn Verklärung und sparsames Hinausziehen der heiligen Handlung ist es nicht, dieses Zögern; wohl tupft er immer wieder die Brosamen auf dem Tuche zusammen, kippt er mehrmals die leere Tasse über seinen aufgehobenen Mund: in dem ständigen Umsichblicken des jungen Mannes ist viel zu viel gespielter Gleichmut, als daß es ihm nicht anzusehen wäre, er will bloß nicht bedauert sein, er schätzte sich glücklich, nicht aufzufallen.

Er kommt aus einem wahrhaft wahnwitzigen Aufsehen heraus und hat genug davon; das flackerte plötzlich so auf wie ein Brand im dürren Gras und kreiste sie ein. Nun liegt das ja auch schon wieder weit zurück, eine geisterhafte Sache voll toter Menschen. Er hat arbeiten können, heute, er hat in

seiner Mappe nichts als das eine Manuskript, über dem er den Tag zubrachte; es war ein glücklicher Tag, er vergaß sich in seliger Arbeit, es liegt etwas da, was vorher nicht da lag, es lebt da in der Mappe etwas von seines Kopfes Gnaden. Lieber Gott, wenn es nur damit sein Bewenden haben wollte, gäbe es nur nicht außerdem noch das Exil, die Erwerbsverbote, die anwachsende Miete und all die zerschlagene Liebe! Na...

Er erinnert sich einer Zigarette, die er noch besitzt;

ein Straßenbahnschaffner schenkte sie ihm aus seiner Mütze heraus, nachdem

er ihn alle die Zeit durch seine Glastür

angeblickt hatte. Das war so wie die Aushändigung einer geheimen Oblate, sie wird ihm schmecken, die Oblate der Brüderlichkeit. Er macht sich damit breit, der Aufschneider, der tut, als hätte er Gansbraten, Kuchen und Wein zu

verdauen. Dann erweist er sich doch als nicht robust genug, es schämt ihn an, sich so auszuschmücken,

er errötet über

das eigene Gebaren; denn meine Aufmerksamkeit ist ihm natürlich nicht entgangen, sie hat ihn zu all der Komödie verleitet — plötzlich runzelt er die Stirn und erhebt sich unwillig wie ein Mädchen, um sich der Zudringlichkeit zu entziehen, er geht, er nimmt seine Sachen zusammen und entfernt sich, nachdem er bezahlend noch weit in seiner Börse herumgesucht und der Kellnerin ein übertriebenes Trinkgeld mit fürstlicher Verdrossenheit zugeschoben hat.

321

Ich bin meinerseits auch errötet, es tut mir leid, daß er vor mir ausziehen mußte; was soll er von mir denken, wo ich

mich doch lieber mit ihm angefreundet und unterhalten hätte. Nun’sehe ich ihn in sein Dachkämmerchen davongehen, er wird am See noch eine Weile die Aussicht genießen, in Anbetracht daß ihm das keine Auslagen bereitet, er wird noch ein wenig den Frauen nachblicken, in Sorge, ihre Neugier zu erwecken, er darf ernsthaft daran nicht denken. Ich aber empfinde es als so bedrückend, daß der schöne begabte Mensch seine Mahlzeit wie eine zahnlose Bettlerin vor mir gehalten hat, sein bombastisches, haltloses Gehabe erfüllt mich mit Schrecken, weil ich ahne, daß das bei ihm

nicht vorhalten kann. Ein Rebell, ein Barrikadenkämpfer und noch dazu ein Schriftsteller wird diese hohle Existenz nicht ertragen ohne entweder wahnsinnig zu werden oder plötzlich eines Tages wieder verzweifelt von seiner Schanze zu knallen.

Takahisha Mitsui

Viele selbstverständliche Dinge sind gar nicht so einfach anzustellen; die Rückseite des Mondes aufzusuchen, wird niemand unternehmen - was die Erde bewohnt, und wäre es

der Dalai Lama im tibetanischen Hochland, muß auf irgendeine Weise schließlich zu erreichen sein; nur versuche man es

einmal. Da lebt ein Baron Takahisha Mitsui, ein Japaner, ein Fürst des Besitzes, eintausend

und zweihundert

Millionen

sind ihm gegeben, hundertdreißig Gesellschaften sind ihm hörig: Banken, Kaufhäuser, Elektrizitätswerke, Schiflsgesell-

schaften, Kupferwerke, Kaliwerke, Eisenminen, Kohlengruben, Versicherungsgesellschaften, Reiskonzerne, Kalkbrennereien, Waffenfabriken, Spielwarenfabriken, Verlagshäuser,

Freudenhäuser, Treuhandunternehmungen — ob Takahisha Mitsui auch zu erreichen ist, wenn ich mir beispielsweise das in den Kopf zu setzen die Laune habe? Man spricht immer vom Mikado; der Mikado ist ein Gott, aber er lebt traurig und gehorsam in seiner splendiden Gefangenschaft, und Takahisha Mitsui ist gewissermaßen sein lieber Onkel, der ihm Geld gibt oder nicht gibtje nach seinem Entschluß. Ein

322

Gott ist Takahisha

Mitsui nicht, er begehrt es auch nicht;

was er begehrt, ist, Kaiser von Japan zu sein, und das nun ist er denn in der Tat, ungeachtet der andere das Leidwesen der Tradition, die Strapazen der Repräsentation trägt. Takahisha Mitsui ist Kaiser auf eine zurückgezogene, selbstlose Art; abgesehen vielleicht von seinen allernächsten Sekretären, Stenotypistinnen, Bedienten erhebt er nicht Anspruch, besonders begrüßt zu werden, er lebt als eine sonderbare moderne Form von verwunschenem Prinzen, Herrscher ohne

Land unter seinem Volke,ja er sieht aus wie ein Potentat, der den Befehl, ihn zu verleugnen, ausgegeben hat; geisterhaft sieht er aus, rätselhaft, bedauernswert und unheimlich. Um den Mikado zu erreichen, braucht es die Erfüllung gewisser

Formalitäten, halsbrecherisch angelegt, dem Kühnen dafür um so dienstbarer. Dagegen Takahisha Mitsui, der Milliarden-Mikado, welche Öffentlichkeit hat der? Keine Pfade des Zeremoniells führen zu ıhm, keine Göttlichkeit verschönt ihn, er sitzt in der Kälte seines Geldes, verschollener als ein

Himalajamönch, aber ungläubig, ungütig, freudlos, Märtyrer des Mammons. Daher erstaunt es mich, hier sein Bild in der Zeitung zu sehen; allein, was ist es auch für ein Bild! Ich habe den Baron

zufälligerweise einst kennengelernt, das war in einem Kurort des Berner Oberlandes, wo es sich traf, daß ıch ıhm in einer

Geldverlegenheit beispringen durfte. Er stand da und sollte den Träger bezahlen, hatte aber, wie das die Art dieser Männer ist, auch nicht einen roten Heller auf sich, und der Berner wich nicht zur Seite. Also muß ich doch wohl wissen,

wie Takahisha Mitsui aussieht. So sieht er nicht aus wie hier in der Zeitung. So wahr ich lebe, man könnte unter dies Bild mit eben dem Recht den Namen des Kaisers von Grönland oder eines kubanischen Rebellengenerals setzen. Mein japanischer Baron ist es nicht. Aber so geht das mit diesen Weltgrößen. Irgend ein Reporter, welchem es die Umstände zufällig ermöglichten, wagte gelegentlich eines Bankettes das Magnesiumattentat auf ihn, erwischte sein kreidig aufmerkendes Gesicht aus der Ferne in seine Kamera wie ein Wild im Busch, so geht es denn in die Welt, und man reißt sich darum, klischiert und kopiert es, klatscht es ab bis zur Unkenntlichkeit; in Europa ist es nurmehr ein Blech von einer Münze, ein abgeschabter Bachstein, ein Unding mit

329

Hornbrille.

Aber die Menschen

nehmen

es zwischen ihre

Finger, bestaunen es und machen sich ihre Gedanken darüber, daß das nun Takahisha Mitsui, der reichste Mann der Welt, ist. Sie träumen sich in seine Haut, in seine Gefühle, in seine Villa und in seine Leibwäsche hinein, indem sie sich immer an dieses Bild von ihm halten. Sie saugen es förmlich aus, das arme Bildnis, nähren sich daran, bis daß es ausgehöhlt wie ein Käfer vor ihnen liegt, die sich ernüchtert und es weggeworfen haben, das Ding mit dem japanischen Grinsen. Niemand kennt die Berühmtheiten.

Kokichi Mikimoto

Der Vater Kokichi Mikimotos schlug sich mehr schlecht als recht mit neun Kindern durchs Leben. Sein eigen nannte er eine ärmliche Strohhütte und eine selbsterfundene Maschine, die die herkömmliche japanische Handmühle zu ersetzen hatte. Aber er teilte das Schicksal der meisten Erfinder, blieb

arm und fand im Handel nur ein kümmerliches Auskommen. Kein Wunder, daß sein Sohn Kokichi, der Älteste, frühzei-

tig den Ernst der Arbeit kennenlernte. In dem Alter, wo die meisten jungen Japaner noch Schmetterlinge in den Reisfeldern fangen, mußte Kokichi Gemüse verkaufen. Dann wog er im Hinterraum eines Ladens Reis aus. Aber schon damals trug er im schlichten Kimono jene Sicherheit und Überlegenheit zur Schau, die nach chinesischer Meinung dem Helden schon im Jugendalter den Stempel des Ungewöhnlichen aufprägt. Eingespannt in unendliche Arbeit, fand Kokichi Zeit dazu, das Schreiben zu erlernen und den Traum vom Sieg des Geistes über die Welt zu träumen. Das väterliche Erbteil geschäftlichen Instinkts und einer genialen Erfindungsgabe verband sich in ihm mit den stolzen Überlieferungen seiner Rasse: einer monumentalen Geduld und der entsagungsvollen Härte, alle Hindernisse zu bezwingen.

Kokichis geschäftliche Fähigkeit trat früh zutage. Als eines Tages — sechzehn Jahre war Kokichi eben alt - die britische Flotte im Hafen von Toba ankerte, hatte er in wenig Stunden alle in der Stadt vorhandenen frischen Eier aufgekauft, um sie später den Matrosen und der hungrigen Menge am Kai 324

zu

verkaufen.

Dieser

Handel

blühte

im Handumdrehen,

Kokichi hielt das Monopol eine Woche lang und ging dann mit einem kleinen Vermögen nach Hause. Bald darauf wandte

er sich der Politik zu, kam

in den

Stadtrat und ließ sich als Parlamentskandidat aufstellen. Aber kurz darauf wurde er unwiderstehlich von einem anderen Handelszweig angezogen, der seit undenklichen Zeiten in seiner Heimatprovinz betrieben wurde: dem Perlenhandel. j Die Perlenfischereien von Schima sind die seit Alters her hochberühmten, und hier setzte Mikimoto mit seinem eigenen Geschäft ein. Sein Leben lang hatte er die Taucher bei der Arbeit gesehen, die auf dem Meeresgrund Vermögen suchen. Er hatte sie oft hundert Fuß tief tauchen sehen. Wenige Augenblicke kamen sie wieder in die Höhe, erschöpft, zerschlagen, halb blind, und zahlten den Preis für ihre Suche nach einer kostbaren Perle mit dem Leben. Kaum einer von ihnen wurde älter als dreißig Jahre. Um ein guter Taucher

zu

werden,

muß

man

erst

Gesicht

und

Gehör

verlieren. Man muß das ganze Gewicht der Wassersäule auf seinen Schultern tragen können, während das flutende Meer in den Ohren saust, und das Salz die Augen verbrennt. Oft beim Auftauchen strömt dem Taucher das Blut aus Mund und Nase. Ein paar Minuten liegt er erschöpft am Deck des Bootes. Dann springt er wieder ins Meer, und so verläuft sein Leben, bis er nicht mehr kann. Das ist der furchtbare Preis des Perlensuchers. Aber wieviele von denen, die Perlenschmuck tragen, verwenden auch

nur jemals einen Gedanken auf diesen tragischen Einsatz, der dafür bezahlt werden muß? All das kannte Mikimoto nur zu gut. In seinen Gedanken wuchs die Perlenproduktion zu einer nationalen Reichtumsquelle, und zu gleicher Zeit sollte dieses unmenschliche Märtyrertum der Taucher abgestellt werden. Aber wie? Vorläufig wußte er es nicht. Nur der Gedanke lebte in ihm in aller Stärke. 1890 besuchte Kokichi die Industriemesse in Tokio. Das Buch eines Zoologen weckte in ihm den Gedanken, Perlen zu züchten, das heißt auf künstliche Art und Weise ihre Bildung in der Austermuschel hervorzurufen. Von diesem Augenblick an beherrschte ihn nur noch ein

325

Gedanke: sein Leben für die Lösung dieser Frage einzusetzen. Er verkaufte sein Geschäft und zog sich auf ein Inselchen in der Agobucht zurück. Nach vielen Versuchen entschied sich Kokichi für die Methode, die ihm besonders praktisch schien: es galt, den erstrebten Vorgang der Perlbil-

dung durch direkten Eingriff zu veranlassen, wobei die menschliche Mitarbeit durch einen Schmarotzer ersetzt werden sollte. Denn wie entstehen Perlen? Sie bilden sich an der Innenwand der Muschel durch eine Ausscheidung der Haut, die durch einen Fremdkörper hervorgerufen wird. Wenn etwa ein Sandkorn seinen Weg in das Innere der Muschel findet, so scheidet sich unabweislich ein Stoff ab, der als Aragonit bekannt ist, eine kristalline Form von Kalzıumkarbonat. Aus

diesem Material, das sich Jahr um Jahr anhäuft, bildet sich schließlich die Perle. Für Mikimoto entstand die Frage, wie man den Fremdkörper in die Austern einführen könnte. Jahrelang probierte er, aber immer ohne Erfolg. Endlich, nach sieben Jahren, erschien

die erste

Perle, aber

sie war

trüb, mißraten

und

wertlos. Unerschüttert begann Mikimoto aufs neue. Es kostete ihn zwanzig Jahre Arbeit, Verzicht und unendliche Geduld. Mehr als einmal wurde seine Zuchtausternbank durch Unfälle zerstört. Seine Freunde gefielen sich in ununterbrochenem Mißtrauen. Aber mit dem Glauben eines Apostels arbeitete Mikimoto weiter. Da endlich, eines Tages, als die Bucht selbst wie eine Perle glänzte, stieg er wieder über die Klippen hinweg, dem Meere entgegen. Vorsichtig trat er auf. Sein Herz schlug vor Erwartung; weit weg zog ein Boot durch die Wellen. Jeder Wogenkamm schien wie mit Schmuck behängt zu glänzen. An einer bestimmten, heimlich bezeichneten Stelle stieg er in die See hinein. Als er nach Hause kam, trug er eine Perle von höchstem Glanz bei sich, rund, strahlend und weiß wie der Mond. Es

war die zuletzt gezüchtete Perle, so vollkommen frei von Fehlern, wie nur die Natur sie sonst hervorbringt. Das war 1905, und nun begann Mikimoto mit einer systematischen Impfung und sorgfältigster Pflege seiner Austern. Als er seine Entdeckung auf den Markt brachte, brach eine förmliche Revolution aus. Die Juweliere schrien Zeter und Mordio. Alle Leute bezeichneten [es] straßauf und

326

straßab als einen Unfug. Die Perlensucher des Persischen Golfs, wo man

die besten Stücke fand, bliesen ins gleiche

Horn, denn diese Erfindung brachte die Perlentaucher und den bisherigen Handel um ihre Existenz. Gelehrte aus aller Welt wurden befragt, und von überall her kam fast die gleiche Antwort: Wissenschaftlich gibt es absolut keinen Unterschied zwischen einer natürlichen und einer gezüchteten Perle. In einem Falle ist der Fremdkörper zufällig, im andern absichtlich eingeführt. Das war der einzige Unterschied. Die Frage nach dem Fremdkörper ist Gegenstand schärfster Auseinandersetzung gewesen. Das entscheidende Wort hierüber aber sprachen die Frauen, und unter ihnen fand Mikimoto sowohl seine treuesten Bundesgenossen wie auch seine bittersten Feinde. Heute, da Mikimoto achtzig Jahre alt ist, ist er in Japan eine Macht, der Perlenkönig, reich an Jahren, Vermögen und Ehren. In seinen 10 Perlenfarmen werden jährlich 5 000 000

Austern gepflanzt. Er hat Niederlassungen in London, Paris und New York, in Bombay und San Franzisko. Alle Japaner feiern ihn als Erfinder ihrer großen Nationalindustrie. Geadelt, mit dem Verdienstorden ausgezeichnet und vom Kaiser zum Ehrenbankett für Nippons große Weise eingeladen, beschließt Mikimoto sein Leben mit unwahrscheinlichem Erfolg. An seinem Lebensabend denkt er an die Tausende von Opfern, die er dem Meer abringen und dann grausam seiner Industrie hat darbringen müssen. Ihnen hat er auf seiner Insel einen Tempel errichtet, und jedes Jahr wird hier an einem Tage eine große Leichengedenkfeier gehalten für 150 000000 Austern, die seinetwegen haben sterben müssen. Seine Angestellten, bekleidet mit blumenbestickten Kimonos anstelle ihrer Werktagskleider, wandeln zum Tempel, bela-

den mit Opfergeschenken, und legen den Göttern Opfergeschenke, Perlen und Blumen zu Füßen. Nun erst können die unruhigen Geister seiner Opfer im Frieden ruhen, in jenen strahlenden Perlen, deren Lob rund um die ganze Welt von schönen Frauen gesungen wird. Mikimotos Arbeit ist getan. Voller Seelenfrieden erwartet

er sein Ende.

827

Johannes Apfelsamen Wer war Jonathan Chapman, alias Johnny Appleseed, zu deutsch: Johannes Apfelsamen? Kein Mensch wußte oder weiß genau, wo er geboren wurde. Von ihm selbst hatte man nur gehört, daß er aus Massachusetts stammte und dort seine erste Jugend verlebt hatte. Nachweislich tauchte er, ein schlanker Jüngling von 25 Jahren, zum erstenmal um 1801 in Licking County des Staates Ohio auf. Er führte damals ein Pferd am Zaume, das mit vollen Säcken beladen war. Was enthielten diese Säcke? Es war für diesen jungen Amerikaner kostbares und geheimnisreiches Gut, das er in den Kelterhäusern der Apfelweinerzeuger Pennsylvaniens eingesammelt hatte: «Appleseeds», Apfelkerne. Wertlose, weggeworfene Nichtigkeiten, Abfall — der gleichwohl unschätzbar wertvoll sich erweisen konnte. Was wollte Johnny mit diesen Kernen? Nun, da muß drüben in Massachusetts von oben her eine Stimme an ihn ergangen sein, wie sie einst an die Propheten der Schrift oder an das Mädchen von Domremy ergangen war — und diese Stimme mußte ihm anbefohlen haben: «Gehe in den Staat Ohio und in den Staat Pennsylvanıa und pflanze dort, die Flüsse entlang, Apfelbäume!» Anders wäre es kaum zu erklären, daß ein junger Mann seine Heimat verläßt, Apfelkerne einsammelt, in Säcke tut, ein Pferd erwirbt und mit ihm in

die Staaten zieht, um dort Obstgärten anzulegen, ganze Baumschulen. Dieser Jüngling hat eine fromme Seele, er neigt zur Mystik, er handelt wie nach höherem Gebot und fühlt sich vielleicht als ein Instrument des göttlichen Willens. Am Licking River fängt er an. Dort gibt es Stätten mit fettem Boden, dort fällt viel Sonne. Er rodet die Stätten frei

und legt seine Apfelkerne in die Erde. In sauberen Reihen legt er sie hin, viele Kerne, hunderte, tausende. Zehntausen-

de, aus denen Bäume werden sollen. Jahrelang tut Um 1806 fährt er mit einem Boot, das aus zwei besteht — er hat sie zusammengebunden - den Ohio Nun kommen die Ufer des Muskingum dran, des Woman

Creek, des Mohican

und dessen

Black

er das. Booten hinab.

White

Fork, die

«schwarze Gabelung». Es gilt da, das Doppelboot eine sehr große Strecke gegen die Strömung hinaufzuführen, eine gewaltige körperliche Leistung. Johnny vollbringt sie. Dann 328

geht er weiter. Zu Fuß. Er trägt die Säcke mit den Apfelkernen auf dem Rücken und bedient sich der alten Indianerwege. In der Urwildnis allein, sucht er auch dort nach freien Plätzen für die Anpflanzung, und wo er sie nicht findet, schafft er sie. Auf den Hängen der Hügel legt.er die Kerne hin — Baumschulen sollen es werden! — er sieht das Land schon weithin mit Apfelbäumen bedeckt - welch eine Vision! Er liebt diesen Baum, liebt seine schneelichte Blüte mit dem zarten Fleischton, es ist ihm eine Wonne, wenn so eine

Frucht grün erschwillt und endlich rote Backen zeigt, und er denkt an die Siedler: Wenn die einmal kommen, dann sollen

sie dort gute Nahrung vorfinden, köstliche Frucht, die sättigt und den Durst löscht! Die Jahre gehen hin — und was einst Vision war, ist Wirklichkeit geworden. Die Baumschulen stehen und tragen Frucht, und nun ist Johnny immer unterwegs. Von einer Baumschule zur andern, er muß es den Siedlern zeigen, wie man solche Schulen pflegt, er muß auch den Indianern Unterricht erteilen. Diese blühenden Schätze sollen erhalten bleiben und nur immer reicher werden. Dies muß sein Traum gewesen sein, als er mit den Apfelkernen begann, als ein Pfleger göttlichen Gutes durchs Land zu ziehen. Indessen war aus dem Jüngling Jonathan Chapman mit den Jahren, in unermüdlicher Pflanzertätigkeit hingebracht, ein reifer und endlich ein alternder Mann geworden. Dem einsamen Waldgänger, dem Tramp, der nur hatte, was er am Leibe trug, ihm war alles, was Zivilisation

heißen konnte, immer unnötiger geworden. Wozu erst eine richtige Kleidung tragen? Trägt das Tier eine Kleidung wie der Mensch sie trägt? Johnny stak in einem alten Kaffeesack, in den er Löcher für den Kopf und für die Arme geschnitten hatte, während ihm sein Kochkessel als Hut dienen mußte.

Das war praktisch, billig und im Urwalde immer letzte Mode. Schuhe trug er auch nicht. Er ging barfuß. Riß er sich auf seinen Waldläufen durch Dickicht und Gestrüpp die Füße blutig, dann pflegte er seine Wunden mit glühenden Eisen auszubrennen. Die Indianer verehrten ihn ob solcher Tapferkeit. Der Bart wuchs ihm wirr die Brust hinab, das Haupthaar fiel ihm lang in den Rücken - so glich er einem richtigen Waldgeist, der mit den Bäumen und den Tieren Zwiesprache pflegte. Meist nur bei sich selbst zu Gaste, war er gelegentlich auch bei Indianern zu sehen, um dann ır-

329

gendwo in eines Siedlers entlegener Hütte die Nacht zu verbringen. Er hatte keine Bindung und Gemeinschaft mehr mit den Menschen; er war der Greis in vollkommener Armut

und ohne Anspruch, also ein Heiliger, nur dem Worte Gottes verpflichtet, das in ihm lebte. Er aß kein Fleisch. Er achtete es für Sünde, ein Geschöpf Gottes zu töten. Er nahm, was der Wald ihm freiwillig bot: die Beeren, die Baumfrucht. Lud man ihn irgendwo zu Tisch, so aß er Brei. Die Tiere wußten vielleicht, daß er sie liebte und schonte, und vielleicht schonten sie darum auch den alten Johnny. Sie erkennen ja den

Fleischesser, sie riechen ıhn. In den Wäldern Amerikas gab es damals der Bären, Wölfe und Wildschweine genug. Giftschlangen hingen an Ästen nieder oder lagen ungesehen am Wege. Dem Waldgeist, dem sie da und dort begegneten oder der an ihnen vorüberkam, taten sie in all den Jahrzehnten nichts, da er mit ihnen lebte. Vielleicht verstand er ihre Sprache, vielleicht hörte er auch, ein zweiter Merlin, was die Bäume einander sagen.

Johannes Apfelsamen trug eine kleine Bibliothek mit sich. Die Bibel und zwei Bände Svedenborg, zerlesene, fragmentarısche Exemplare. Der dunkle Mystizismus des Schweden sagte ihm zu, die visionären Beschreibungen aus der Welt der Engel schenkten dem alten Wanderer lichte Träume, wenn er die verlassenen Pfade in der endlosen Wildnis hinging. Er gab einem Siedler den einen Teil eines Buches, dem zweiten den zweiten Teil und dem dritten den dritten Teil.

Kam

er wieder,

so wechselte

er die Teile

aus,

ein

Leihbibliothekar des Urwaldes. Gelegentlich las er aus einer alten Bibel vor und legte das Evangelium dar. Man schildert eine Szene: Johannes Apfelsamen hat sich an einem Tisch der Blockhütte niedergelassen, um ihn herum die Familie des Siedlers, Mann, Frau, Kinder - das Feuer brennt im Kamin — draußen rauscht der Wald, von fernher dringt verlorenes Bellen der Wölfe her — und der alte Gärtner Gottes spricht die Seligpreisung aus der Bergpredigt: «Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!» So trug Johannes Apfelsamen — den Namen hatten ihm die Grenzer gegeben — das Licht der Schrift in die Hütten, so war er auch ein Apostel der Wahr-

330

_

heit, wie er sie glaubte. War die Bibelstunde zu Ende, dann

legte er sich auf einer Decke hin - auf dem Herde meist - und war verschwunden, wenn der Morgen kam. Er mußte ja nach seinen Bäumen sehen, nach seinen Kindern und deren

Kindern, den schönen schmackhaften Äpfeln!. Als er in Ohio auf einem Gebiete von hunderttausend Quadratmeilen Apfelbäumchen gepflanzt hatte, ging er nach Indiana. Dort erzählte ihm eines Tages ein Freund, daß der Gestrüppzaun um eine seiner Baumschulen - sie lag zwanzig Meilen weit von der Stelle — niedergebrochen wäre und daß die Bäume von den Tieren beschädigt worden seien. Johnny Appleseed machte sich sogleich auf den Weg: Hier gab es wieder Arbeit. Noch trugen ihn seine alten Füße. Er mußte zu den Bäumen. Am Abend kommt er vor eine Hütte und ruht auf der Schwelle aus. Die Frau des Siedlers reicht ihm Milch und Brot. Er nimmt es an und spricht die Seligpreisung. Dann geht er in die Hütte, erbittet eine Decke und schläft auf dem Herde ein. Als der Siedler am Morgen kam, um das Feuer anzuzünden, erhob sich Johannes Apfelsamen nicht mehr, er

war hinübergegangen in das Land, wo die ewigen Apfelbäume stehen, in deren Zweigen die himmlischen Vögel singen.

Kieselsteine

Es sind nur Kieselsteine, aber wie schön sind sie, wie sie da

liegen im Gekringel des Baches! Unter Wasser funkeln sie und bewegen sich, so daß man glauben möchte, eine Schlange von dieser Breite dämmere da in der Tiefe, schillernd mit den hunderttausend blauen, grünlichen, schwarzen, gelben,

lila Perlchen ihrer Schilderhaut, schön gemustert mit laubigen Flecken und mit Tupfen filzgrauer Mulden, und wenn man genauer hinsieht, tummeln sich Forellen in eben den Farben zutraulich darüber, und langsame Stabschrecken kriechen

ihr auf dem

Leibe,

ein Ahornblatt

fächert

am

Grunde dunkel wie ein Nachtpfauenauge, und das Ganze weht auf einmal so zart wie der Schleier auf einem Damengesicht, der blasse Himmel lächelt darunter hervor, fern in der Tiefe, die mit Lämmchenwolken ihrerseits wie ein Kiesbett

rl

aussieht und eine Flucht blauer Räume verhüllt, in denen die Engel wohnen.

Das Wasser malt den Schatten seines Konturs in den Sand und um die Rundungen der Steine, da, wo sie dem Nassen entsteigen, um sich an die Sonne zu legen mit ihren runden Bäuchen, an denen sich der Kalk schön puderig niederschlägt — mit ihren blauglänzenden Glatzen, die Wassergötter: der Schlaf übernimmt sie im Sonnendampf, sie lehnen | sich gegeneinander, spiegeln sich gegenseitig an mit ıhren wärmedurchpulsten Köpfen. Wie schön das alles dalıegt; man möchte erwarten, die seltensten Meermuscheln, Strandgut mit Schatullen und verbleichten Liebesbriefen nordischer Königstöchter unter den angeschwemmten Schnekkengehäusen zu finden, und doch wäre es alles nicht schöner als so, wie es jetzt ist mit dem Filigran silberner Baumflechten, mit dem glühenden Plüsch des Zunders und fauligen Holzes — dieses Gekringel sonnenbeschienener Steinchen und Steine, die aussehen wie die perlmutterne Patina eines Fischmarktes in Amsterdam.

Nichts

Es war nichts an dem Redner, ich langweilte mich und fing an, mit den Augen herumzuschweifen. Mein Gott, es wurde zur Qual; aber umstellt von der Stille des Saales, hatte ich sie zu ertragen. Steh mir bei, gibt es nichts, woran ich mich verweilen könnte, da die eigene Unterhaltung mir von dem Manne verdorben wird. An den zwei Vergrößerungen von Fliegeraufnahmen ist alles klar und bald überblickt, kein Geheimnis ruft dahin zurück. Hätte ich ein Fenster voll der lebendigen Nacht, man kommt sich wie an die Mauer gestellt vor; auch die Wandtafel ist auf den Anlaß hin säuber-

lich abgeräumt worden, kein Brosamen Schrift oder Zeichnung übriggeblieben — mit breitem saftigem Schwamme, über einem Kessel Wasser gewaschen, ist alles wohltätig wieder aufgetrocknet. Das Fachmännische der Arbeit, die tüchtige Reinlichkeit unterhält mich auf eine ganze Weile. Die umrahmte Abwesenheit gewinnt etwas Lebensvolles, das winkt, wie eine Fahne flattert und schließlich geradezu klatscht. Wunderlicherweise nimmt es niemand in acht, die

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Aufmerksamkeit

in den Reihen

ist vollkommen,

und das

koboldische Leben erstarrt, verleugnet mich vor der Menge, die nun auf einmal, in einer Auflehnung ihres Unterbewußten, einen Augenblick hustet und scharrt. Richtig besehen, ist die Schwärze ja nicht einmal makellos. Eine leichte Bewölkung des alten Schiefers möchte ich mir zur Vertiefung des Raumes gerne hinwegdenken. Aber auf einmal bemerke

ich, daß es in seiner Art auch wieder

voller Zusammenhang, ein richtiger Wolkenhimmel ist. Meinem freudigen Argwohn bestätigt es sich, daß eine ganze Landschaft

da ist, ein Meerstück,

und was für ein Meer-

stück. Die Tafel hängt vielleicht drei Meter lang in zwei aufwärts

übereinander

verschiebbaren

Hälften,

vom

Ge-

brauch abgeblaßt, in ihren oberen Teilen hingegen vor Schwärze noch scheinbar naß. So grenzt sich der untere Streifen böig aufgepflügt gegen die Helle des Horizontes ab, während die nähere Umgebung mit grauem Gewoge wallt, überaus zart, nur wie hingeraucht, so daß in das Innere der Wellen geblickt werden kann und in der Höhe die Wolken nicht bleiben, sondern sich vor dem Auge verwandeln und auflösen, tauig daherwehn. Das Wasser duftet mich an, eine Wiese von salzigem Gischt, in welchem die Fische unsichtbar dunkel ihre Bogen springen. Rechterhand sprüht eine Garbe Wasserstaub an den Himmel empor, sonst aber tritt alles verdämmert zurück, bis auf einen kleinen, wattig erschäumenden Wellenkamm, der das Gegenständlichste an dem Gemälde ist, des Segels unerachtet, das in der Verfinsterung der Ferne leise geneigt durch die Mühsal eines Unwetters geht. Dort haben die schräg herablaufenden Spuren des Schwammes den traumhaftesten Meerregen erzeugt, so daß mir das Herz in Schauern eratmet. Teerduftende Planke, wo

schaukelst du hin im Abend? Das entlegene Ziel umdunkelt schwermütig deine Einsamkeit, Dunst von Petrol und Harmonika. Raschelt es nicht von der Nässe? Die Hände spannen sich unter dem Salz — du wundervolles Gebilde da vorn in dem

Rahmen,

ich träume

dich nicht, du bist da, und

wüsche dich jemand aus, du leuchtetest wieder hervor wie eine Fata morgana. Ohne daß ich auch nur einen Schimmer an dir in meiner Vorstellung ergänze, bist du vollkommener, als die begnadetste Hand dich zu malen vermöchte. In einem Museum würden die Menschen sich um dich aufstellen — so

233

bin ich der einzige, der dich aus Langerweile zufällig bemerkt

hat.

Wer

sieht die Kostbarkeiten,

die vollendeten

Kunstwerke, die Wunder, die mitten im Alltag stehen! Geisterhaft ist die Blindheit einer ganzen Versammlung. Ich habe mich so lange an dem Zauber vergnügt, daß er mir wie etwas Lebendiges vorkommt. Es ist das Bewegteste, Umfangreichste in dem Raume, es quillt förmlich aus seiner Umfassung heraus; aber niemand nimmt es wahr, ich habe

nun meine spaßhafte Unterhaltung mit ihm; ich stelle mir vor, daß ich das Meisterwerk durch Kauf an mich bringen will, entdecke dann aber doch, daß ich selber den Zufall auch nicht mit Geld bezahle — was sind Werte, was schätzen

wir in Wahrheit! Ich entferne mich mit allen übrigen, ohne auch nur den Kopf zu wenden, und was eine weiße Entladung mitten in der ahnungslosen Menge war, das ist nun auf einmal wieder nichts mehr.

Regenluft

So wie die Luft heute morgen ist, von verhaltenem Regen gesättigt, erinnert sie mich an Griechenland und den Hafen von Piräus; da beschlugen sich die Drahtseile und Taue, beschlug sich die blätternde Ölfarbe auch mit dem Tau der Atmosphäre, das Gemisch von Teer- und Tanggeruch erfüllte den Rahenwald, in dessen Gezweige bläuliche Möwen wie Risse im Porzellan aufzuckten, wie die Äderung all des Marmors, welcher mit Ginster und Eidechsen im Gewölk um

uns herlag... zusammen

mit den nassen Dingen der See-

fahrt, mit den versäten Melancholien von Matrosenkneipen,

mit Tabak, Prügelei, Handorgel, barfüßiger Meerarbeit, mit der Entrücktheit der Galionsfiguren und ihrem wochenlangen Voranschaukeln zwischen Himmel und Wasser. In die Gassen geworfen, rochen Basare, Stapel von Körben, Fleisch, Weinflaschen, Mohnbrötchen, Tuch, Zwiebeln, Käse, Holzsandalen, Bernstein, Glasflitter, Fisch, Messing; dar-

in wehte es mohammedanisch mit Räucherharzen aus fernen Fenstern, und der Friedhof des Altertums, steinern wie Lilien, beginnendes süßes Gesprüh aus der Höhe, das Meer, das über die Steinplatten atmet... so ist die Luft heute.

334

Gleichnis

Der Makrokosmos ist wie der Mikrokosmos im Individuum auf dem Prinzip der Simultaneität erbaut. Die Seelenart prägt sich im Physiologischen aus, der Weltgeist in der Kreatürlichkeit; daher bleibt alle Vergangenheit gegenwärtig; irgendwo leben noch Höhlenbewohner, irgendwo, in dieser oder jener Einkleidung, Kreuzritter. Hat sich das Weltganze, so wie das Millionstel im Exemplär, erfüllt, geht es zum Iode ein. Um wiedergeboren zu werden? Unendlichkeit in den Dimensionen von Zeit und Raum.

Epigon

Du darfst das Gesicht Goethes haben; es macht dich lächerlich, denn du bist trotzdem nicht Goethe! Gestohlen ist dein Gesicht immerhin nicht; solltest du ihm aber seelisch ähneln, dann schilt man dich — Epigon.

Tendenzkunst

oder über die Wirkungslosigkeit der Absicht. (Man merkt die Absicht und...) Denn im Menschen steckt die metaphysische Gerechtigkeit, daß er sein persönliches Bekenntnis vor dem Allgemeinmenschlichen zurückstellt. Sich in Dingen der Weltanschauung bestätigt zu sehen, genügt ihm nicht zum Genuß eines Kunstwerks. Auch wer keine klaren Vorstellungen von der Gesetzlichkeit einer Dichtung besitzt ( und das ist natürlich die überwiegende Mehrheit), empfindet den Mangel dichterischer Substanz darin, wenn es bloß in Abstraktionen und Parolen (die immer Abkürzungen sind) vor ihm agiert. Der Mensch ist aufs Menschliche versessen, Inhalt der Kunst ist der Mensch, der Mensch von Fleisch und Blut und Seele. So wie Kinder zum tausendsten und zehntausendsten Male die Geschichte von Rotkäppchen vorerzählt haben mögen, und es besteht in Ewigkeit nicht die Gefahr, daß sie es jemals satt werden könnten, will der Mensch vom

Menschen

hören, vom

Menschen

aus Fleisch

und Blut. Persönlich verzehrt er sich vielleicht im Kampf für 393

irgend eine Ideologie, und nichts, nicht Frau und Kind und Magen, geht ihm darüber; vom Kunstwerk will er mehr, will

er instinktiv das Geringere, das einfach Menschliche individuellen (&ber gleichnishaften!) Schicksals. Davon nährt er sein Herz, daran erregt er sich, während das erstaunlichste Spiel und Gegenspiel von Ideologien, in welchem seine LeibPhilosophie sogar siegen mag, ihn nicht recht erwärmen will, es stelle sich denn, gleichnishaft, in starken Persönlichkeiten

als große Linie dar. Schiller ist darin groß, daß er nicht Rechthabereien, sondern Urthemen (Freiheit, Freundschaft) gegeneinander handeln läßt und selber bis unter die Haut davon voll ist, woher auch sein Pathos, sein großer Atem kommt, und immer haben seine Figuren ihr, freilich nicht zufälliges, Privates an sich, ihr persönliches Fleisch und Blut, Fehler, Liebenswürdigkeiten, Herzensschicksal, das Fer-

ment, das alles zur Glaubwürdigkeit und Größe zusammenbindet, während im bloßen Tendenzwerk weder Adern noch Nerven durchlaufen, alles nicht zusammenhalten, nicht leben, nicht sterben will. Kollektivschicksal interessiert uns nicht ohne seine Verleiblichung im glaubhaften Einzelschicksal. Oder dann muß alles in eine andere Dimension, ins überlegen Surrealistische gehoben werden.

Grübelei

Jüngst beim Anhören eines Menuetts von Lully dachte ich mir plötzlich: doch sonderbar, daß in der Flut von Notenpapier, das seither vollgeschrieben wurde, beispielsweise dieser Franzose des 17. Jahrhunderts nicht unterging, vielmehr säuberlich registriert im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt blieb. Hat die Weltgeschichte keinen von ihrem Wagen verloren? Es ließe sich denken, daß ein Genie, jung verstorben, in seiner Zeit nicht erkannt, auch von der Nachwelt

übersehen wurde und im Ozean der Vergangenheit, ein versunkener Rubin, vermoost. Nicht einmal zunächst im Gedanken an den Nerkust erwägen wir das; uns beschäftigt die Gesetzlichkeit der Überlieferung, von der wir annehmen, daß sie über der Geschichte wie eine Gottheit über dere Weltganzen walte. Es gibt das Fortwirken durch Kausalität, das Erbe im Unbewußten; aber die Überlegung, daß durch 336

_

irgendein Versagen ein Mann der Geistesgeschichte, sogar in unserer Hochblüte der Reproduktion, ausfiel wie eine Type im Satzbild, hat doch etwas Erregendes an sich, zum minde-

sten ein Geheimnis von der Art, wie es die geringsten Dinge dieser in Dunkel gelagerten, beängstigenden, sonderbaren, herrlichen Welt umgibt. Die Unendlichkeit heißt Geheimnis.

Ticken im Rundfunk

Aus dieser Ferne herauf und im Uferlosen der Elektrizität klingt das Ticken der Weckuhr wie das Traben jenes Kleppers, auf welchem der Tod mit seinem Sandglas vornübergeneigt sitzt, und er reitet und reitet, sein knöchernes Hinterteil fliegt über den Sattel empor. Er reitet auf weißen Straßen durch einen dunklen Hohlraum, bald näher, bald ferner, der Staub steigt in die Luft, ich rieche ihn, es ist der Kalk, der

auch die Weinbeeren würzt; da wachsen sie dunkel den Hang hinan, der Strom liegt irgendwo dazwischen, Laubgekräusel, Barockgewächs eines Klosters liegt in der Finsternis — und trabt und trabt - ich höre die Pendülen alter Schlösser an der Donau, der Duft der geblümten Tapeten vermischt sich dem Staub - und trabt und trabt -— und Bauernhöfe liegen starr vor Schlaf, ein Flöcklein Petrolflamme schlägt sich dumpf der Kruzifixus — und trabt und trabt; und trabt in der Höhe, von einem Winde hinaufgenommen, gegen einen Wind wie im Sande antrabend.... Gleich wird er da sein - als ginge ein Fenster auf- regnet es? Kommt der Tod naß? Seine Gebeine glänzen, die Sense blinkt blau wie ein Fisch in der Tiefe — der Atem des Klees weht herauf wie ein Regen nach oben - trabt und trabt - der Bauer wälzt sich, von Träumen gewürgt, hört den Totenwurm... Sind das Hufe, die traben, oder ist es der

Schlag eines Herzens? Sternenweit klingt ein Weltwasser, Weltblut; das Herz der Zeit schlägt darin und wirft Wellen. Ist es das Herz, das schlägt, oder hör ich die Uhr im Gebälk der Jahrhunderte - ist das der Tod, der trabt?

Herd der Träume

Aus der Dunkelheit des Zimmers Musikschrank,

um

welchen

glüht nur das Licht im

die Menschen

wie um

einen

Kamin sitzen, leise angeschienen; und wie vor Zeiten klingt das Feuer, die Lauscher erliegen seiner Bezauberung, dunkel versunken schieben sie die Knie dagegen vor, nehmen ihr Haupt zwischen die Hände wie über einer Sache, von der es keine Rettung gibt: Es erleuchtet sie hell von innen, sie wissen jenseits dieses Raumes aus Licht die Stadt Sidney; wie Kinder fragen sie nach der Wahrscheinlichkeit des Märchens nicht, glauben an das Orchester da drinnen, seh’n es mit Geigen, Trommeln, Oboen, Flöten und Kontrabässen auf dem Grunde des Rostes wie Scheite voll Feuerblust, sie

vernehmen zwischenhinein die Autohupen der Großstadt, und Heimweh schlägt an ihr Herz. Sie verwandeln sich in der Dämmerung, den Frauen wächst schwerer Samt auf den Gliedern, Halskrausen erzittern wie Heiligenscheine: denn innen reitet der Held den rostroten Hang hinan, der Libanon glüht im Feuer des Abends, Kathedralengeläute steht in den Buchen, die Welt hinterm Walde, licht von der Bläue der

Kreuzfahrermeere... und die Fliege surrt wintermüde schräg auf den Teppich herab, die Jahrhunderte geben sich hier ein Stelldichein mit dem Drückenden tausender Nächte, mit dem Schwanken der Blachenkarren, Baumeln der Gal-

gen, mit der Blüte weißleuchtender Hauben.

Lesende Dame

Stellen Sie sich vor, daß auf einer Ruhebank etwas oberhalb

der Stadt eine junge Dame sitzt und ein Buch liest. Das Blütenbäumchen zündet ihr blond in die Kapitel; wenn sie aufschaut, tut sie es nicht eben verträglich, vor lauter gefühlvoller Versponnenheit; bestenfalls denkt sie, daß ihr die Wölklein und die Löwenzahnwiesen annähernd so lieblich wie die erdichteten vorkommen. Hiermit erschreckt sie ein schüchterner Schatten, der auftritt. «Schafskopf», sagt die Dame und gewärtigt mit großem Blick, daß er sich wieder verziehe. Der sanfte Lustwandler jedoch beobachtet eine Gemessenheit, der gegenüber sie

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nicht klug wird, ob sie speien oder sich ducken soll. Sie duldet es, abgewendet, daß er an ihrer Seite ein Stündchen

der Aussicht genießt. «Sie lesen?» sagt er schließlich und bittet, nicht fliehen zu wollen. : «Was lesen Sie denn Schönes, daß Sie darüber das Schönste vergessen, diesen Frühling allerorten? Wie können Sie, mit Verlaub, Ihr Gesicht sowohl als Ihre zierliche Aufmerk-

samkeit in ein Buch und seine papiernen Gefühle wenden zu einer Zeit, wo das Leben alle Gräser beflaumt?» «Was dürften wohl Sie von Gefühlen verstehen, Sie Banaus und-—. So wie Siereden, sosehen Sienämlich auch aus, will

ich Ihnen sagen.» Ihre Tränen gehen ihm zu Herzen, er ruft: «Auch ich las einmal eine sehr lehrreiche Geschichte —» «Geschichte!» «Verzeihung.» Nach einer Weile fragt er: «Wodurch kennzeichnen sich Ihre, die namhaften Dichter?» «Dadurch, daß sie der Masse unverständlich bleiben.»

«Wie suchen sie das zu bewirken? Sie gestatten, ich habe einen nahen Bekannten, der dichtet; begreiflicherweise möchte ich diesem zu seinem Vorteil raten. Bis dahin hat er es nur zu Ansehen, noch nicht zur Verkennung gebracht. Worin besteht die Größe beispielsweise dieses vorliegenden Dichters? In seiner Abwesenheit? Wo wohnt er?» «Spießerfrage.» «Ich meinesteils möchte ihm wünschen, daß es in einem

Schlosse geschieht.» «Er lebt überhaupt nicht mehr.» «Alle Wetter, dann soll er froh sein. Ich habe die Ehre, mich als diesen Toten vorzustellen.» Sie lachte hellauf. «Was gibt es dabei zu lachen? Soll ich Ihnen meinen Namen hineinschreiben?» «Noch wenn Sie es wären, dieses Buch bekommen Sie nicht in die Hände!» — reißt es hinweg und läßt ıhn da stehen.

Weltdunkel Es ist so dunkel. In meinem Inneren flattert etwas, das ist wie ein Nachtfälter, der eine Stelle Heiterkeit sucht. Vielleicht in

der Stadt. Hier außen sinken die Bäume immer tiefer in Schatten, und die paar Sternmücken... Gott sei Dank gibt es noch die Stadt! Aber die Stadt ist auch nicht anders. Ihre Laternen kommen mir vor wie der Rest eines Heeres, der mit Erbitterung, aber langsam unterliegend gegen die Übermacht der Dunkelheit ankämpft. Das ist wie ein Rauch, den der Weltraum qualmt. Wie können sie sitzen und lachen? Ist es ihnen denn heiter genug? Verliebte sitzen in ihren Nischen wie in Buchten, ohne das Überhandnehmen der Flut zu bemerken. EN schieben das Dunkelheitswasser vor ihren Knien her. Durch alle Fenster drückt es herein. Eine Last von Nacht steht in den Gassen, das ist ein Negerdorf ohne Beleuchtung. Wäre es wenigstens Paris mit seinem Lärm, der heiter macht, mit der strahlenden Verkachelung

sogar des Untergrundes; dort haben sie es nahezu fertiggebracht, die Finsternis hinauszuschaufeln. Nahezu; aber nun liegt ein schwarzer Wall rund herum, auf dem Ozean, der davon überlaufen wird, und wehe dir dann, Parıs. Immer

steht das Übergewicht auf der Waage, täglich kommt die Sonne, uns vor dem Einfall der Leere zu befreien, seit Jahrmillionen kämpft sie mit Löwenmut; aber wir haben davon gehört, daß sie sich ausgibt. Immer muß ich denken, sie kommt nicht wieder herauf, die Sonne, jetzt geht sie für immer anderweitig hinweg. Wann hab ich so ähnlich empfunden? Damals, wenn die Mutter ein wenig lange mit ihrer Lampe verzog. Damals wuchs auch so ein Schrei in mir an. Aus allen Büschen, um alle Ecken und aus der Erde hervor

kriecht die Finsternis. Ach Ägypten! Das liegt wie ein heißer Stein. Brotduftender Backofen! Himmelbett der Sonne! Die Wüste scheint an den Mond hinauf. Spendet eine Schale Almosen für uns. Die klinkert denn blau herab durch das Dunkelheitsgewässer. Macht die Einsamkeit nur noch tiefer. Im Meer lag ich über dem Bug, der das Neuland an Ozean aufpflügte; es flog heran an die Schneide, urweltlicher Vorrat, schreckte aus seiner Blindheit auf. Wo liegen wir im Vosidiehen Äonen her unterwegs? Überall Neuland der Dunkelheit, die metallisch vielleicht noch von einem Stern

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nachduftet; hier stand er und blühte, aber er ist anderweitig hinweggegangen wie ein Dampfer mit Kurs auf unendliches Afrıka...

Tag der Gesichte So ein Tag wie der! Es ist wolkig gewesen, gedankenvoll verhangen; aber heute steht der Himmel endlos dahingespannt, blau glühend mitten im Winter, der Ostwind steht über dem Land, und ich werde mir langsam bewußt, womit es zusammenhängt, daß ich die Nacht so zaubervoll träumte — von einer Landpartie mit dem Pharao Amenophis! — daß mir’s im Hirn wie Märzstraßen raucht, das Blut funkelt und

im Herzen der Quell aufgesprungen ist, durch welchen das Grundwasser der Welt überströmt: es quillt und quillt aus Urtiefen herauf mit fremder Erinnerung an die Kindheit meiner selbst und der Jahrtausende. So ein Tag, der lautlos mit dahersprengendem Tatarenvolk steht, und es blitzt in der Luft von Klingen, der weiße Froschbauch der Kriegsgäule bäumt sich über uns, der Großmogul lacht aus seinen Zähnen. Ja, der Staub der teppichklopfenden Weiber steigt in der Sonne auf, ganze Schneegebirge liegen auch darin, zugleich mit griechischem Frühling; wie durch eine Luftspiegelung erscheinen Waldgründe der Kindheit, Karusselle dahinter, verwehende Orgeln. Damals stapften wir im Geruch von Rinde die Bäche entlang, durch Wollgras und Schierling. Ein Gottesacker steht in den Höhen, da ist auch wieder der schwere Geruch von Grabkränzen, wir stehn an den himmlıschen Toren, und Michelangelo kommt, er trägt das Barett

der Gipser, er ist von seinem Werkplatz linkerhand des Himmelsportals hervorgetreten, dort dampft es von flaumiger Sonne um die Stengel der Asphodelen, um den Schein der Marmorengel; er wischt sich die Stirn mit seinem Handrücken voller Steinmehl. Die Weiber haben morgenländische Teppiche in den Schnee gelegt, die liegen nun da unter dem widerscheinenden Himmel wie gekreuzigte Schmetterlinge, wie Prunk der Sklavenhändler in der Wüste, geisterhaft schimmern Moscheen hervor. Das Holz der Möbel knallt in den Zimmern, Erdbeben erschüttern Nepal — das macht die Nachbarschaft des Himalaja hoch da oben. Wir 341

hatten gedacht, das habe sich längst zurechtgelegt im Bette des Magmas,

nachdem

Australien

abgeschwommen

war;

aber siehe da, nun hat es doch noch einmal einen Ruck getan in seinem ehthonischen Gefüge, und gab einen Schlag, von dem die Heiligtümer, die Türme, die Hütten der Parıa, die

tausendjährigen Mangobäume stürzten. Die Tiger stapften auf einmal im Ungewissen und brüllten. Elefantenherden rannten nach Süden davon, über den Weg des Maharadschas, der seine verschwundene Hauptstadt nicht wiederfand. So war es auch damals gewesen, als die Urahnen vom «Dach der Welt» herabstiegen mit Weibern, Kindern, Karren und Herden; Meerbläue war ihnen im Traume erschie-

nen -da hatte es auch in dem Berge geknallt, schwankten die Stämme, brüllten die Stiere.

Das Wunderchen

So ein kleines Wunderchen kommt dahergegangen. Ist nicht gesagt worden, das Märchen wohne im Unwirklichen? Es kann nicht blauer in die Welt geblickt haben als das Mägdlein, das dahergegangen kommt mit weit auseinanderliegenden Augen, welche vor Träumerei ein wenig schief stehen. Das ist ja kein Fleisch, das ist kondensierter Mondschein,

woraus das Gesichtelchen gemacht ist. Es gewahrt mich nicht, es sieht überhaupt nichts, auch die Föhnfläumchen am Himmel nicht, obgleich es sich ihnen scheinbar ganz aufgemacht hat und sie ihm durch die Schläfen schwimmen. So nackt sieht es aus vor lauter Zartheit;

was

ist das für ein

Gebilde aus Knöchelchen und Zephirfleisch — mit Damenhändchen in Kleinformat, die ein Viereck Papier halten, und das Papier ist auch nicht leer, da trägt das kleine Wunderchen nun den Schattenwurf seines Libellengeistchens vor sich her: eine Zeichnung, die es in der Kleinkinderschule angefertigt hat. Mit einem Blick erhasche ich die vollkommene Vollkommenheit dieses kleinen Werkes, seine Anmut und Harmonie, die Mystik der Anlage, die Weisheit seiner Öko-

nomie. Und als ein richtiges Wunderchen kommt mir das Gesamte in diesem geisterhaften Augenblick von Sensibilität vor: das lebende Seelchen mit dem selbstgemachten Abbild, dem Niederschlag dieses sonderbaren Bedürfnisses, etwas

B42

aus sich herauszustellen, dieses sublimsten Spiels, das sich so früh schon regt und noch so vollkommen schafft. Ist es nicht wie eine Formel der menschlichen Sendung, das kleine Wunderchen, mitten auf die Straße gesetzt; wäre es das Einhorn, alle Welt fiele hin — und doch ist es wunderbarer als das Einhorn.

Tag, die Dame Der liebe At. der «NZZ», der uns so oft in Angelegenheiten der «kleinen» Belange aus dem Herzen spricht, kommt da auch auf den widerwärtigen Geschäftsgruß «Tag, die Dame» zu sprechen und glossiert die neumodische Formel in seiner bekümmert-ärgerlichen Art. Nun weiß ich nur eines: Ladentöchter sind doch ein so tüchtiges, liebenswürdiges Völklein, und es ist nicht anders möglich, als daß eine begründete

Verlegenheit hinter dem Unsinn steht. Ich sehe sie darin, daß das bloße «Grüezi» doch auch so etwas wie Frostigkeit und Unart an sich hat, die zu mildern die guten Mädchen einen Ausweg suchen. Ist es nicht für unser schweizerisches Wesen bezeichnend, daß die primitivsten Höflichkeitsformeln, diese so berechtigte, erleichternde Münze der Geselligkeit, unserer Sprache fehlen? Dem Franzosen ist es gegeben, alle erdenkliche Liebenswürdigkeit und Auszeichnung in sein «M’sieur et dame» zu legen, alles ist da in Ordnung und vollkommen.

«Gnädige Frau», als zu höfisch, wird uns nie-

mals behagen (obwohl man sich an Ort und Stelle ohne Beinbruch daran gewöhnt). Der Eidgenosse sagt «grüezi», und so rührend die hierin offenbarte Gefühlsscheu und Linkischheit dem gerechten Beurteiler erscheinen mag, wir sind nun einmal weder Seldwyla noch das Hirtenland mehr, die jungen Schweizerinnen empfinden die Unzulänglichkeit unseres Ausdrucks mit Recht als unserer Lebensform nicht gemäß. «Grüezi Fräulein» geht uns schon jetzt ohne weiteres ein, «Grüezi Herr» erschreckt noch etwas, während «Grüezi Frau» aus dem Grunde nicht angeht, als dieses schöne Attribut seinerzeit über der französischen «Madame» zu Fall kam. Wir müßten versuchen, ıhm seine Würde und Schön-

heit zurückzugeben. angeboten.

Der Frau sei auch hierin der Vortritt

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Anhang

Albin Zollinger der Publizist

«Es ist Sorge um unser Land, die mich zu reden treibt»

Mitte März 1938 erhielt die Lehrerin Hilde Brunner, damals

Albin Zollingers engste Vertraute, eine Briefkarte mit zwei Gedichten auf der Rückseite: «Capriccio für einen Neuvermählten», leicht augenzwinkerndes Scherzstück das eine — von ganz anderm Schlag der Fünfzeiler: «Dichter in dieser Zeit»

Was tust du, verträumter Landmann? Bückst dich auf deine blumige Mahd, Und schwer Dunkeln zu Häupten dir schon Tödliche Wetter des Krieges!

Als Datum darunter: 13. März 1938. Das war der Tag des offiziellen «Anschlusses» Österreichs ans Deutsche Reich. Lyrik und Zeitgeschehen, «blumige Mahd» und «tödliche Wetter»: Kontraste, wie sie augenfälliger kaum zu fassen sind. Im Schaffen Zollingers prallen sie aufeinander, lange vor der Weltenkatastrophe von 1939; er war nie ein von den Zeitläuften abgekapselter Dichter. Als Zollinger 1914 am Lehrerseminar Küsnacht zu schreiben begann, war Krieg; er machte noch als Mittelschüler die Rekrutenschule im ersten Kriegswinter, lange Aktivdienstperioden folgten. «Pax» lautete sein Übername am Seminar; unter dem Militärdienst im drillerprobten traditionsstolzen Schützenbataillon 6 litt er von seiner Überzeugung her wie unter seiner introvertierten Konstitution — von «Galeerenarbeit» ist in Briefen an Seminarkollegen zu lesen. Nach Kriegsende war dem Thema Pazifismus nicht mehr auszuweichen, wenn man mit den Füßen auf der Erde stand, und das mußte wohl ein kleiner

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Zürcher

Volksschullehrer

aus

bescheidenen

Verhältnissen,

erst recht, als er dann seit den ersten zwanziger Jahren Oberstufenschüler im Arbeitervorort Oerlikon unterrichtete. E)

«Zum Erzieher kann man gar nicht allzusehr Künstler sein»

Gewiß trifft es zu, daß die politischen und kulturkritischen Töne in Zollingers Schaffen erst von 1934 an häufiger aufklangen. Spuren, wenn auch nicht allzu wegsichere, des politisch hellhörigen Zollinger fanden sich aber schon im Briefwechsel mit seinem Küsnachter Freund Walter Guggenbühl (s. Werke I S.530f und Werke V S.548f), im Erstling «Die Gärten des Königs» (Werke II) und im Drama «Dämon» (Werke V), dann aber auch in ein paar publizistischen Arbeiten der zwanziger Jahre. Begegnet uns in der Glosse «Nachklang zu den Manövern» 1925 noch ein allzu schematischer Pazifismus im Gefolge der Nie-wieder-Krieg-Bewegung, so tönt es drei Jahre später in einer Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitschrift «Die literarische Welt» rabiat eigenständiger: «Beispielsweise ich bin ein Schweizer, der noch

immer

verbohrt,

vernagelt,

die Fäuste

im Ohr,

gegen jederlei noch so gerechte, noch so gelehrte Begründung des Krieges zetert: ich will nicht, ich mag nicht, der Teufel wird ihn holen». («Echo im Hirtenland» 1928). Ebenso entschieden die Entgegnung Zollingers «Ein Volk ohne Waffen» auf einen Leitartikel Professor Hanselmanns in der «NZZ» unter demselben Titel (2.9. 1928). «Ich bin gegen den Krieg aber für das Militär», bekannte da der Zürcher Pädagoge, denn er maß der Soldatenschulung einen hohen Erziehungswert bei. Aufschlußreich ist der Vergleich dieser Erwiderung Zollingers aus dem Jahr 1928 mit seiner längsten und letzten Stellungnahme zu militärischen Belangen: in seiner «Ansprache zum Abschied eines Hauptmanns» aus dem Aktivdienstwinter 1939/40 ist die zornige Ironie des Pazifisten, der noch 1930 den Wiederholungskurs in einem Brief an Traugott Vogel als «Kurs im Totmachen» bezeichnete, der Einsicht in die «heimliche Größe» und die «reinigende Wirkung des Aktivdienstes» gewichen; anstelle mokanter Seitenhiebe auf die «schönen Höhen der Galons» tritt jetzt das dankbare Lob für einen verständnisvollen

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Einheitskommandanten. In Zeiten der Bedrohung wurde Zollinger zum vorzüglichen Soldaten und besten Maschinengewehrschützen seines Zuges. Schon zwei Jahre vorher war aus seiner Einsendung zur Bildreportage «Dichter in Uniform» der «Zürcher Illustrierten» abzulesen, wie die gewalttätigen Zeitläufte den einstigen Pazifisten gewandelt hatten: «Der Idealist, der in Überschätzung des Zeitalters für Gewaltlosigkeit eintrat, vergibt seiner Gesinnung nichts, wenn er der Realpolitik des Schwertes mit der Härte entgegentritt, zu der ihn die Freiheit verpflichtet.» Zollinger verlor sich aber in jener Abschiedsrede im Kriegswinter weder in Hurrapatriotismus noch feldgraues Pathos. Das Aktivdiensterlebnis hatte ihn nicht für Kritik blind gemacht; er wußte, daß «der Bürger im Wehrkleid» auch in bedrängter Zeit keinen Spaß versteht, wenn er in seiner Menschenwürde verletzt wird, und daß ganz alle menschliche Schwäche denn doch nicht in Kameradschaft aufgeht. Diese — vielleicht fiktive - Kompagnieabendrede zählt über Zollingers Schaffen hinaus zu den bedenkenswertesten Zeugnissen von Sinn und Bedeutung des Aktivdienstes. Der angriffigste von Zollingers frühen zeit- und kulturkritischen Aufsätzen ist seine Betrachtung über die «Demokratische Handhabung der Volksschule» vom November 1929. Sie war wohl eine Reaktion auf schriftlich geäußerte Zweifel der Erziehungsdirektion und heftige, aber versöhnlich endende Diskussionen an einer Schulpflegesitzung über Zollingers recht frei gestalteten Realienunterricht, «namentlich im Fache der Geschichte» (Protokoll der Primarschulpflege Oerlikon, 24.8. 1928), gründete aber in ihrer ganzen drastischen Bildhaftigkeit auf nicht verwundenem Erleben der vergangenen vier Jahre und verrät Kränkung, ja Verbitterung, die «aus schmerzlicher Zeugenschaft heraus» zuweilen hart an die Grenze ironischer Selbstgefälligkeit führt. Wenn dabei Schulpfleger und Inspektoren angegriffen werden, denen es gewöhnlich «kaum zu viel mehr als zur Beurteilung so zweifelhafter Götzen wie Disziplin und Betrieb und zur Erinnerung an ein fossiles Ideal von Schulmeistern» reiche, geht das auf Zollingers Zwist mit Dr. Heinrich Hirzel, einem Visitator der Bezirksschulpflege Zürich, zurück. Es ging dabei zum Teil um Äußerlichkeiten wie das «taktlose» Benehmen Zollingers dem Besucher gegenüber, das beträchtli349

che Überziehen der Zehnuhrpause im Lehrerzimmer oder das «richtige» Zahlenverhältnis zwischen «freien» und «gebundenen» Aufsätzen, Streitpunkte, die schließlich halbwegs gütlich beigelegt wurden. Vorwürfen indes, die ıhm ans Mark einer freiheitlichen und lebendigen Volksschule zu gehen schienen, begegnete Zollinger in diesem einen seiner beiden schulpolitischen Aufsätze mit Gedankengängen, die ein gutes halbes Jahrhundert später keineswegs überholt sind, weder

im entschiedenen

Bekenntnis

zum

Lehrer als

schöpferischem Geist noch in der ebenso kompromißlosen Ablehnung einengender Einmischung des Staates, auch des demokratischen, in die Lehrfreiheit: «Die Gewaltigen aber wittern Aufruhr. Sie stecken Lehrprogramme und Stundenpläne um uns ab, an denen wir unser Mütchen kühlen und den Atem verbrauchen mögen...». Zollinger klagte das nicht ins Blaue hinaus: nicht nur hatte der «im Staatsdienst verquickte Träumer» Vorwürfe wegen seiner Schriftstellerei einstecken müssen, die seine Schularbeit beeinträchtige - die Bezirksschulpflege verfolgte auch mißtrauisch die Ansätze zum Sexualunterricht mit den Abschlußkläßlern. Aus den Rückfragen der Erziehungsdirektion im Frühjahr 1928 glaubte Zollinger sodann herauszuwittern, man verdächtige ihn staatsgefährlicher Beeinflussung der Schüler wegen seiner «pazifistischen Privatüberzeugung». Anstelle der damals den bürgerlichen Behörden höchst verdächtigen Behandlung der russischen Revolution sei es ihm auferlegt, «die Händel und Stinkpfuhle moosiger Jahrhunderte» zu vermitteln; dagegen hätte sich der Lehrer wohl zu unterstehen, über zeitgenössische Mißstände zu berichten. Dieser aus persönlichem Konflikt erwachsenen Philippika folgten Jahre später dann in grundsätzlichen staatsbürgerlichen Erwägungen wurzelnde Kapuzinerpredigten, doch verrät schon der schulpolitische Aufsatz in Stoßrichtung und Tonlage deutlich genug, daß es den «politischen» wie den «polemischen» Zollinger längst vor 1933 gab.

«.... gegen den Maulkorb aufzustehen, bevor seine Schnallen geschlossen sind».

Weder die spärlichen politisch brisanten Romane der Schweizer Belletristik in den ersten dreißiger Jahren wie Traugott Vogels «Der blinde Seher» (1930) oder Jakob Bührers «Man kann nicht»... (1932) noch das weltpolitisch folgenschwerste Ereignis, Hitlers Machtübernahme

am 30. Januar 1933,

klopften den Publizisten Zollinger aus dem Busch. Vogels Roman

las er zwar

mit zustimmendem

Interesse,

wie er

seinem neugewonnenen Freund in mehreren Briefen bekannte; an der Zeitdebatte beteiligte er sich aber vorerst nur im kleinen Kreis von Freunden und Kollegen. Der Dichter Zollinger allerdings war seit 1929 mit dem Roman «Die große Unruhe» beschäftigt, in dem die Zeitgeschichte seit dem Aufkommen der Nazis um 1930 einen beträchtlichen Stellenwert einnimmt. Mit zwei nicht von bestimmten Ereignissen ausgelösten zeit- und kulturkritischen Aufsätzen meldete er sich erst nach langem Zögern zum Wort, doch dieses fließt ihm, besonders in der spekulativ-philosophischen Abhandlung «Geschichte in Zeit und Vergangenheit», noch seltsam spröde und unanschaulich in die Feder — Qualitätsunterschiede sind auch bei Zollingers Publizistik unverkennbar. Er quält sich in dieser Betrachtung mit Langsätzen durch abstrakte Gefilde; noch recht augenfällig offenbart sich dajener vielbeschworene Zwiespalt eines Autors, der sich von Natur aus zwar «auf die stilleren Gebiete als die des politischen Kampfes» verwiesen glaubt, aber sich und seinesgleichen auch in politische und moralische Pflicht genommen fühlt, «unsere Haut auf Märkte [zu] tragen, die wir vordem nicht besuchten». («Rebellion der Stillen», 1934, und später in «Pfannenstiel» fast mit denselben Worten). Auf einen ganz und gar ungewohnten Markt lockte Walter Lesch, Gründer des Cabarets «Cornichon», den Dichter im Herbst 1934, als er bei

Zollinger eine größere Programm-Nummer bestellte, die dann allerdings nie zur Aufführung gelangte. Die etwas unentschieden zwischen munterer Zeitsatire, Melodramatik

und parodierter Poesie angesiedelte «Opera bufla» blieb Zollingers einziger Versuch in dieser Sparte. Erst am 20. Dezember 1934 brach Zollinger öffentlich sein 397

Schweigen zu den Zeitereignissen; er tat es mit der Selbstanklage, bisher «bis zur Charakterlosigkeit Selbstbeherrschung geübt zu haben». Nicht die Schandtaten frontistischer Pöbler lösten ihm? die Zunge: er reagierte erst auf einen ihm mißfallenden Zeitungsartikel etliche Wochen nach den Geschehnissen, und so beginnt denn die intensivste Phase des «politischen» Zollinger mit einer jener journalistischen Auseinandersetzungen, die so etwas wie das Salz auf Zollingers publizistischer Tätigkeit bedeuteten. Wie schon im Vorjahr gastierten Erika Mann und Therese Giehse auch im Herbst 1934 mit ihrem Cabaret «Pfeffermühle» in Zürich, im Kursaal diesmal, da das im Frühjahr eröffnete «Cornichon» den Hirschensaal benützte. «Die Front» hetzte von Anfang an gegen das «Juden- und Emigrantencabaret», und am 16. November versuchten Mitglieder der frontistischen Studentengruppe, die «Pfeffermühle»Vorstellung zu sprengen, für die sie im Vorverkauf etwa 40 billige Plätze aufgekauft hatten. Als der Krawall bei einem Giehse-Chanson in bester SA-Manier mit Trillerpfeifen, Stink- und Tränengasbomben einsetzte, warfen Polizei und junge Antifaschisten aller Lager, die vom Vorhaben Wind bekommen

hatten, die Radaubrüder aus dem Saal; auf dem

Alpenquai, dem heutigen General Guisan-Quai, ging die Schlägerei weiter. Noch üblere von den Fröntlern inszenierte Krawalle bedrohten in denselben Tagen auch die Schauspielhausaufführungen von Friedrich Wolfs Anti-Nazi-Drama «Professor Mamlock», in Zürich unter dem Titel «Profes-

sor Mannheim» aufgeführt. Als Protest gegen den Straßenterror von rechts außen lud die antifaschistische Studentenorganisation «Kampfgruppe gegen geistigen Terror» (KggT) zu einer Protestversammlung unter dem Titel «Geist oder Knebel?» auf den 12.Dezember in die Stadthalle an der Morgartenstraße im Kreis 4, die damals neben dem Volkshaus am Helvetiaplatz ein Hauptschauplatz des politischen Kampfes in Zürich war. Die KggT war von sozialistischen und linksliberalen Studenten gegen die Umtriebe der frontistischen Akademikerschaft gegründet worden; unter den Initianten befanden sich spätere Professoren und Politiker wie der Theologe Arthur Rich, die Juristen Hans Nef, Harald Huber und Fritz Heeb und der als Filmproduzent bekannt gewordene Heinrich

332

Fueter. In der mit gut 2000 Besuchern überfüllten Stadthalle sprachen unter andern Alfred Traber, Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich, der Freiwirtschaftler und spätere Landesring-Nationalrat Werner Schmid, Kantonsrat Albert Maag-Socin von den Demokraten, ein bekannter Anwalt politisch Verfolgter, und «Cornichon»Gründer Walter Lesch; Heinrich Gretler vom Schauspielhaus las politische Gedichte Gottfried Kellers. Die Redner ernteten kräftigen Beifall, dem NZZ-Berichterstatter stieß diese Veranstaltung für Demokratie und Geistesfreiheit dagegen sauer auf. In gehässig-ironischem Ton teilte er am 13. Dezember seine Zensuren aus, am übelsten erging es dem Jungliberalen Walter Kronauer, dem späteren sozialdemokratischen Oberrichter. Ihm sei es vorbehalten geblieben, «mit vollen Händen in die bisher nur gelegentlich gezupften Saiten der demagogischen Verhetzung zu greifen». Besonders fragwürdig mutete nach dem Wahlbündnis des Bürgertums unter Führung des Rechtsfreisinns mit der Nationalen Front bei den Gemeindewahlen 1933 die Berufung des Be-

richterstatters auf die «grundsätzliche Haltung der «NZZ» an, die sich stolz auf ihr Prinzip der «selbständigen Stellung zwischen Frontismus und Marxismus» berufen könne. Am 20. Dezember reagierte Versammlungsteilnehmer Zollinger im «Volksrecht» auf diesen «NZZ»-Bericht mit seinem Artikel «Rebellion der Stillen». Auch wenn dieser unter dem typischen Nachteil solcher Entgegnungen leidet, daß die meisten Leser den Anlaß, in diesem Falle die selbstgerechte Abschlachtung jener Stadthalleveranstaltung durch die «NZZ», nicht kannten, ist er ein wichtiges Dokument für des Dichters politisches Verantwortungsgefühl. Zollinger verstand seine Entgegnung ausdrücklich als «eine Art politisches Bekenntnis». Er legte es im «Volksrecht» ab, der zwar nicht besonders auflagestarken, aber als «Regierungsorgan» im «Roten Zürich» damals einflußreichen und weitherum gehörten sozialdemokratischen Tageszeitung. Dennoch war es nicht «Genosse Zollinger», der hier seine Empörung kundtat, aber gleich versicherte, «in den anrüchigen Gebieten der

Neutralität gegenüber allen äußern Parteien» verbleiben zu wollen. Auch wenn er weiterhin wichtige politische Außerungen, aber auch Betrachtungen und Feuilletons dem «Volksrecht» anvertraute, dort auch sein erstes aggressives

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Politgedicht («Granatenplantage» 1935) erscheinen ließ und sich mit Vorlesungen und Vorträgen dem Bildungsausschuß der Stadtpartei und der Katakombe der Genossenschaftsbuchhandtung am Helvetiaplatz zur Verfügung stellte: Mitglied der SP wurde er nie. Auch den Versuchungen, sich der andern linken Partei anzuschließen, erlag er nicht, suchte dies aber doch für sich zu ergründen. Am 3. März 1935 schrieb er seiner damals schon von ihm getrennt lebenden Frau, er habe wieder einmal den Eisenstein-Film «Zehn Tage, die die Welt erschütterten» gesehen. «Warum bin ich eigentlich nicht Kommunist? Ich glaube eben, daß wir für unsern Kleinstaat unsere Form des Kommunismus suchen müssen. Es kann einen richtig deprimieren, daß man als Bürger eines Kleinstaates die Früchte solcher Blutsopfer (großer Nationen) wie ein listiger Junge kostenlos erringen soll. Kann es uns für Jahrhunderte trösten, daß unsere Ahnen das Beispiel der Freiheit inspirierten? Die Schwere unserer Aufgabe besteht darin, daß sie unscheinbar und unpathetisch ist», oder mit andern Worten 1937 in «Die beiden Spanien»: «Demokratie ist die unansehnliche Politik der Geduld.» Zu Beginn dieses überzeugenden und tapfern politischen Aufsatzes, der einen Höhepunkt in Zollingers publizistischem Schaffen bedeutet, zog er fast etwas wehmütig und reuevoll das Thema Parteianschluß erneut an: «.... Sich einer politischen Kirche zu verschreiben, müßte süß wie die Flucht in Mutters Schoß

sein.» Es kam nie zu einem derartigen Pakt, auch nicht mit der roten Kirche, obschon der Publizist Zollinger wie der Dichter der «Großen Unruhe», von «Pfannenstiel» und «Bohnenblust» häufig und gelegentlich mit unverhohlen polemischem Feuer gegen Monopolismus, Krämergeist, Spekulantentum und «die Prätorianer des Materialismus» zu Felde zog, von Arbeitslosen ungeschminkt als von den «im Wirtschaftskrieg Verwundeten und Gefallenen» sprach, den Kult um Gott Mammon anprangerte, mit seiner antikapitalistischen Einstellung also nicht hinter dem Berg hielt. Zol-

linger drang aber nie bis zur theoretisch fundierten Kapitalismusanalyse vor. Seine heftige Ablehnung der wirtschaftlich Mächtigen, die sich nicht selten in scharfen Ausfällen gegen die «NZZ», die «bürgerlichste aller bürgerlichen Zeitungen», entlud, wurzelte nicht in ideologischer Schulung, 334

sondern im intensiven Mitgefühl für die Schwachen und Benachteiligten, die Arbeitslosen der Krisenjahre beispielsweise, für die sich ein undatierter Aufrufim Nachlaß befin-

det. Zollinger war kein Marxist, wohl aber engagiert aktivistischer Zeit- und Gesellschaftskritiker, der sich.nicht scheu-

te, für seine Überzeugung den weder bequemen noch dankbaren Gang «in die Arena der Polemik» anzutreten, wie sein Dr. Byland im «Pfannenstiel».

«Auch ein Vaterland kann ausschließlich mit Bajonetten in der Verteidigung nicht gehalten werden»

Von den zwei Themen der innenpolitischen Diskussion, die der Publizist Zollinger besonders eindringlich aufgriff, ist das eine, der spanische Bürgerkrieg, endgültig der Geschichte zugefallen. Das andere hingegen: die geistige Landesverteidigung geriet seit den sechziger Jahren immer stärker in den Sog der auch hierzulande ausgetragenen Auseinandersetzung um die Vergangenheitsbewältigung in der Geschichtsschreibung wie in Literatur, Publizistik und Film. Bedauerlich, daß dabei im Zug des oft mit finsterer Entschlossenheit versuchten Nachweises väterlichen Irrens und Versagens die Söhne meist mit undifferenzierter Forschheit bei der Hand sind. Viele wollen in der geistigen Landesverteidigung nichts als das Sammelbecken aller reaktionären Strömungen der Epoche erblicken; sie verlästern sie als bornierte heimattümelnde Ideologie, die schöpferische Originalität und künstlerische

Freiheit

entschieden

behinderte,

wenn

nicht

gar erstickte. Niemand bestreitet, daß manches problematisch, ja kleinkariert provinziell war, das damals unter den Gütezeichen «bodenständig» und «Geisteserbe der Schweiz» ins Schaufenster gestellt oder als «helvetische Selbstbesinnung» gepriesen wurde. Gewiß war die Begriffswelt vieler geistiger Landesverteidiger eng, ihr Blickwinkel beschränkt, und ihre Manifestationen entbehrten oft nicht der Peinlichkeit. Eng und beschränkt aber auch die Sicht derer, die vom heutigen Wissensstand her und aus den wirtschaftlich und sozial soviel gesicherteren Zuständen der Gegenwart nur die Schwächen und Mängel jener Epoche auflisten, ohne sich in die viel schwierigere innen- wie außenpolitische Lage der 335

Zeitgenossen der dreißiger Jahre und erst recht der Kriegsjahre zu versetzen. Es erschien damals eben manchem in Kenntnis der kritischen Lage keineswegs abwegig, weniger in ätzender Kritik als in Betonung des Gemeinsamen zu machen; Begriffe wie Heimat und Vaterland weckten weniger Assoziationen von behindernder Enge als — bei allen Vorbehalten — von bewahrenswerter Insel in der Flut des braunen und schwarzen Faschismus. Wo die da und dort zum progressiv guten Ton gehörende pauschale Abqualifikation der geistigen Landesverteidigung einer differenzierteren Betrachtungsweise weicht, wird man feststellen, daß es in den dreißiger Jahren neben dem Bund für Schwyzerdüütsch, Guggenbühl und Hubers «Schweizer Spiegel», Bundesrat Etters Augustreden und dem Höhenweg der Landesausstellung auch einen «Nebelspalter», den «Beobachter», «Die Nation» oder das «Cornichon» gab und daß sich trotz bundesrätlichem Vollmachtenregime auch noch andernorts kritische Gedanken ans Licht wagten, die zu manch unbequemen Auseinandersetzungen führten. Zu denen, die sich trotz ihres ungescheuten Bekenntnisses zur geistigen Landesverteidigung keineswegs in ihrem politischen und sozialen Engagement behindert fühlten, gehörten der Ex-Expressionist, Pazifist und Sozialist Charlot Strasser so gut wie der rote Jochem alias Jakob Bührer, ein noch heute gern zitierter linker Kronzeuge der Zeit. Bührer bekannte sich schon früh offen zur geistigen Landesverteidigung. Im Januar 1934 warf er im «Volksrecht» der Landesregierung vor, hunderte Millionen «für die Landesverteidigung mit den Waffen» auszugeben, aber «sozusagen nichts für die geistige Landesverteidigung» zu tun, zum Beispiel zur Abwehr der nazistisch-chauvinistischen Schundflut an den Kiosken und in den Feuilletons allzu vieler schweizerischer Zeitungen. Bildhafter drückte sich Albin Zollinger aus: «Auch ein Vaterland kann ausschließlich mit Bajonetten in der Verteidigung nicht gehalten werden.» Wenn er dabei deutlich machte, wie sehr es ihm um das Geistige gehe und daß er die Gefahr «des Siechtums aus dem Innern» für «größer und grundsätzlicher» halte als die von außen, deutschte er solche Abstrakta

in seinem Leitartikel «Geistige Landesverteidigung» («Die Zeit», Juni 1936) unverblümt dahin aus, daß nicht eine Fortifikation von Bankhäusern ein Land legitimiere und am 336

Leben erhalte, sondern Kultur und geistiges Bewußtsein, «sofern wir uns nicht auf die Seite der Dinosaurier schlagen wollen.» Mit diesem Aufsatz belegte Zollinger deutlich, daß er mit einer nationalistischen Verengung des Begriffs geistige Landesverteidigung gar nicht einverstanden war. Unmißverständlich wies er auf die europäische Verpflichtung der Schweiz hin, die durch ihre Verfassung polynational, huma-

nistisch und pazifistisch sei. Auch später verwahrte er sich gegen allfällige Mißverständnisse, er halte es’mit einer engstirnigen Autarkie. «Schweizerisch sind wir nicht dadurch, daß wir geistige Inzucht treiben» und «... sich im Haß auf fremde Ideologien zu verkrampfen, ist nicht nur unser unwürdig, es ist beinah ein Beweis von Unsicherheit», heißt es

1939 in «Schriftsteller und Presse». Wer heute in die Diskussion um die geistige Landesverteidigung eingreift, darf sich nicht um den Publizisten Zollinger drücken. Als er sich im März 1938 in der Sondernummer der «Zürcher Illustrierten» über die geistige Landesverteidigung «Zum Thema» vernehmen ließ, entwarf er auf knappstem Raum eine kluge und nützliche Auslegeordnung des Begriffs. Hier und immer, wenn er sich in dieser Sache zu Wort meldete, auch in Vorträgen, klopfte Zollinger den viel, wohl allzuviel bemühten Begriff «auf seine konkreten Forderungen» ab. Geistige Landesverteidigung — das hatte bei Zollinger nichts mit nationalistischem Dünkel und opportunistischer Duckmäuserei, auch nichts mit leutseligem Heimatstil oder urchiger Gewalthuberei zu tun, sehr viel aber mit Mahnung zur Selbstbesinnung und mit behutsamer, durch unbestechliche Blicke geschärfter Liebe zur Heimat. Am 27.Mai 1940 schreibt der Territorialsoldat Zollinger, Musterschütze im Kommandozug, aus der Passatiwand am Fuße des Gonzen an seinen Freund Traugott Vogel: «Ich glaube an die Vernichtung sämtlicher Tyrannen. Jetzt noch und lange. Uns kann’s freilich den Kopf kosten. Eigenartig, die Unfestigkeit Humms. Die Schweiz plötzlich ein musterhaftes Ländchen. Mir ist sie noch immer nur das Muster für schlechtere Länder, nicht an sich musterhaft. Meine Beob-

achtungen hier stimmen mich nicht auf reine Freude um.»

997

«Es braucht keines Prophetentums, die Gefahren zu sehen»

Als Mitte Juli 1936 Francisco Franco und seine Spießgesellen in der Generalität gegen die legale demokratische Regierung Spaniens putschten und damit einen dreijährigen grausamen Bürgerkrieg entfachten, stellten sich weltweit Gelehrte, Künstler, Dichter und Publizisten auf die Seite der Regie-

rung: Kommunisten und Katholiken, Liberale und Sozialdemokraten. Picasso, Juan Mirö6 und Pablo Casals; Andre Malraux, George Orwell, Ernest Hemingway, E. E. Kisch und Andersen-Nexö; Georges Bernanos und J. W. Auden, Salvador Madariaga, Andre Gide, Saint-Exupery, Unamuno, Ortega y Gasset, Ilja Ehrenburg, Romain Rolland, Lud-

wig Renn, John Dos Passos und viele andere kämpften mit den Waffen für die Republik, berichteten vom Frontgeschehen, organisierten finanzielle und medizinische Hilfe oder stellten

ihr Wort

ın den

Dienst

einer

Sache,

die sie als

lebenswichtig für das Überdauern der Demokratie in Europa erkannten. Kein Dichter und Künstler von Rang schlug sich auf Francos Seite. Wer immer für die Republik einstand, wußte, daß er vordergründig zwar gegen eine aufständische Generalsjunta antrat, daß es im Grunde aber um die Abwehr der faschistischen Weltbedrohung ging, daß Mussolini und Hitler mit ihren Hilfstruppen für die Aufständischen auf spanischem Boden den Weltkrieg probten. In unserm Land rissen erbitterte Auseinandersetzungen um den Spanienkrieg Gräben neuen Klassenhasses auf. Linke aller Schattierungen solidarisierten sich unverzüglich mit dem Regierungslager; weite Kreise des Bürgertums und der Großteil der Presse hielten sich dagegen ebenso entschieden an die Lesart aus der faschistischen Propagandaküche, Franco bekämpfe in Spanien einen Weltrevolutionsversuch der kommunistischen Internationale. Dem schweizerischen Bürgertum saß die Furcht vor der russischen Revolution und dem Landesstreik von 1918 noch tiefin den Knochen, besonders in Zürich, wo es seit 1928 im Stadtrat eine sozialdemo-

kratische Mehrheit gab. Albin Zollinger ergriff von Anfang an entschieden für das republikanische Spanien Partei — in der für ihn typischen

Weise: als Reaktion auf eine ihn empörende Zeitungsmeldung. Die «NZZ» hatte am 6. August «Eine Warnung» der 338

freisinnigen Parteileitung veröffentlicht, mit der diese die Bevölkerung aufforderte, sich nicht an der Geldsammlung zu beteiligen, die das Schweizerische Arbeiterhilfswerk zugunsten der Opfer des Kampfes um die Demokratie in Spanien eröffnet hatte. Es handle sich dabei um eine unbefugte Einmischung in die Angelegenheiten eines fremden Staates, die die schweizerische Neutralität gefährde. Anlaß und Tenor dieser «Warnung» spiegeln deutlich die damalige Vergiftung der politischen Szene in unserm Land. Zollingers erbitterte Antwort auf der Titelseite des «Volksrecht» vom 15. August war vielleicht am selben 13. August entstanden, da Thomas Mann in Küsnacht ins Tagebuch notierte: «Die Haltung der «NZZ» in Sachen Spanien und Frankreich ist ungeheuerlich, der Haß dieser Presse auf den Front populaire so albern und abstoßend, daß man erstaunt ist über diese

Niedrigkeit.» Ein noch grelleres Licht auf das durch den Spanienkrieg verschärfte Klassenkampfklima in der Schweiz wirft «Der Fall Mühlestein», den Zollinger in der «Zeit» vom Januar 1937 aufgriff. Hans Mühlestein war am 18. Dezember 1936 vor Divisionsgericht wegen «Schwächung der Wehrkraft» zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von einem Monat und zwei Jahren Ehrverlust verurteilt worden, sein Verteidiger war der demokratische Kantonsrat Maag-Socin. Während einer Vortragskampagne für den Kampf der spanischen Republik hatte Mühlestein am 4. August 1936 auch im Kasino Oerlikon gesprochen. Die Anklage warf ihm vor, nach der Versammlung einen Besucher für die Regierungstruppen geworben zu haben. Zollinger, Teilnehmer an der Veranstaltung, berichtet den Vorfall anders. Der Belastungszeuge war laut «Volksrecht» 1926 wegen vorsätzlicher Brandstiftung und 1933 wegen Unterschlagung bestraft, 1932 wegen lasterhaften Lebenswandels entmündigt worden; er muß als Provokateur, zumindest als schwerer Psychopath gelten. Zudem, und das macht das Urteil auch staatspolitisch fragwürdig, hatte der Bundesrat erst an seiner Sitzung vom 14. August, also 10 Tage nach Mühlesteins «Vergehen», die «Ausreise aus der Schweiz zur Teilnahme an den Feindseligkeiten in Spanien sowie die Unterstützung und Begünstigung der Feindseligkeiten von der Schweiz aus» verboten. Im Fall Mühlestein nicht von Klassenjustiz zu sprechen, fällt 339

schwer, auch angesichts späterer Urteile mit 6- bis lOmonatigen unbedingten Gefängnisstrafen für «rote» Werber, während Reise-Organisatoren für Franco-Kämpfer mit 14 Tagen bedingt davon kamen, weil es sich bei ihnen «um Abenteurerei und jugendlichen Leichtsinn und nicht um politische Motive gehandelt» habe, wie es das Divisionsgericht IV a einmal formulierte. Rechtsbeugungen solcher Art aus politischer Einäugigkeit konnten Stille im Land, denen auch Zollinger zuzurechnen ist, wohl zum Protestschrei veranlassen. Im August 1937 brachte Zollinger eine ausgezeichnete Spaniennummer der «Zeit» heraus. Mit Antonio Machado, Rafael Alberti, Juan Ramon Jimenez,

Blasco

Ibanez

und

dem von Franco-Schergen umgebrachten Federico Garcia Lorca kamen die besten Stimmen der zeitgenössischen spanischen Literatur zu Wort, zum Teil in Übersetzungen Zollingers (s. Werke IV, S.529f). Neben Radierungen Goyas und Picassos war auch Max Hunzikers Tuschzeichnung «Nach dem Fliegerangrif» aus seinem Spanienzyklus abgedruckt. Zollingers Leitartikel «Die beiden Spanien», bei aller Besonnenheit der Argumentation angriffig und kämpferisch, muß noch heute dem Klügsten und Beeindruckendsten zugerechnet werden, was schweizerische Schriftstellerje zur Verstrikkung von eidgenössischer Politik und internationalem Geschehen angemerkt haben. «Sorge um unser Land» trieb Zollinger zu reden — von der Schweiz ist denn auch neben Spanien eindringlich die Rede in diesem Artikel, dessen Aktualität hellhörigen Lesern nicht entgehen kann. Nicht nur vor Zollingers kompromißlosem Engagement im Spanienkrieg muß Max Frischs Behauptung: Zollingers «Leidenschaft deformiert sich auf Lokales» korrigiert werden («Nachruf... nach zwanzig Jahren»). In vielen seiner publizistischen Arbeiten und auch in seinen Romanen reicht Zollingers Blickfeld denn doch deutlich übers Lokale ins Europäische hinaus. Es ist ein Jammer, daß der «politische» Zollinger, dessen wichtigste Artikel wir Jahrzehnte später als aufschlußreiche Dokumente der Epoche empfinden, außer in der auflagenschwachen sozialdemokratischen Presse nur in der «Zeit» und ein paar wenige Male in der «Nation» zu Wort kam; Einfluß und Echo blieben dadurch äußerst bescheiden. Auch

360

sein tapferes Eingreifen in die harten Diskussionen um den spanischen Bürgerkrieg zeitigte keinerlei innenpolitische Wirkung; als standfeste Pflichterfüllung unter Hintansetzung eigener Interessen verdient Zollingers Haltung aber auch heute allen Respekt. Als dem Mahner und Warner mit dem Eingehen der «Zeit» das publizistische Forum, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gänzlich fehlte, verstummte er deswegen nicht. In «Pfannenstiel» und «Bohnenblust» kommt er auf seine zeit- und gesellschaftskritischen Gedanken zurück, gelegentlich in beinahe wörtlichen Übernahmen aus früheren publizistischen Arbeiten. Er läßt Martin Stapfer, Doktor Byland und die Pfannenstieler in der Arena der Polemik manchen Strauß ausfechten; in diesen beiden Prota-

gonisten hat er einen ihm offensichtlich verwandten Künstlertypus geschaffen: den politisch orientierten, wachsamen und kritischen Zeitgenossen. Es gibt auch noch ein letztes Indiz dafür, daß die politische Ader im Dichter Zollinger eben doch entscheidender durchschlug, als man lange Zeit annahm, und daß sein zeitkritisches Engagement kein persönlichkeitsfremdes, aufgesetztes Element bedeutete: in dem ım Nachlaß vorgefundenen Fragment «Die Narrenspur» (s. Werke III) verlegte er den als cher harmlosen Anekdotenkranz um den pfifligen Baneeter-Buume von Wädenswil bekannten Stoff aus dem 19. ins ausgehende 18. Jahrhundert. Zollinger zieht damit die «Narrenspur» durch die am Zürichsee eindeutig auflüpfische, ja aufrührerische Endzeit des Ancien Regime und setzt damit auch seinem dichterischen Schaffen einen wenn auch vergnüglich-kurzweiligen, so doch unverkennbar politisch bekenntnishaften Schlußpunkt.

«Er schnauft zu kostspielig» Nachdem Albin Zollinger mit dem Eingehen von Walter Muschgs Literaturzeitschrift «Annalen» (1928) und dem Ende der bemerkenswert eigenständigen Wochenzeitung aus Uster «Das freie Wort» (1930) erste publizistische Tribünen nach kurzer

Zeit wieder verloren

hatte, arbeitete er 1932

gelegentlich an Felix Moeschlins Wochenzeitschrift «Das Flugblatt» mit, die der junge Berner Verleger Hans Feuz jedoch nach 52 Nummern Ende März 1933 ın das nun

361

vierzehntäglich erscheinende Blatt «Zeitglocke. Kunst und Leben» übergehen ließ. Die Redaktion übernahmen Egon Reinert und Hannes Fischer. Im Geleitwort war von der «Freudenglocke» die Rede; «von der Gegenwart angeschlagen: ob hell oder dumpf tönend, ihr Klang soll wahr sein.» Er war vorerst deutlich sanfter als im kämpferischen «Flugblatt»: unter der Devise «Krisenjahr, Goethejahr, beides verpflichtet», hatte Moeschlin 1932 neben Literatur und Kunst auch Beiträgen über Planwirtschaft, Bankenkontrolle, Pazifismus und Siedlungspolitik Raum gewährt, Auseinandersetzungen, die nun entfielen. Ein kräftigerer Wind blies erst

wieder

von

Oktober

1933

an,

als C.A.

Loosli

mit

Gedichten und unmißverständlich zeitkritischen Artikeln Einzug hielt. Anfang 1934 wurde ein neuer Zeitschriftenkopf angekündigt, weil «Zeitglocke» zu stark an lokal Bernisches anklinge, auch als zu süßlich abgelehnt werde. Die letzten vier Nummern von Jahrgang I trugen seit dem 17. Februar den neuen Titel «Die Zeit. Schweizerische Blätter für Kunst,

Schrifttum und Leben.» Die bisherige Redaktion blieb im Amt; sie setzte noch verstärkt auf das Prinzip einer möglichst umfassenden Anthologie zeitgenössischen literarischen und künstlerischen Schaffens. Wie schon im «Flugblatt» beschränkte sich Zollingers Mitarbeit bis 1936 auf wenige Beiträge, darunter immerhin seine einzige Theaterkritik. Im Frühling 1936 steckte «Die Zeit» erneut in Schwierigkeiten. Nachdem ein eigenes Zeitschriftenprojekt «JA» nicht zustande gekommen war, übernahm Zollinger im April ehrenamtlich zusammen mit Ernst Rieder die Redaktion der «Zeit». Der Übergang zur Monatsschrift bedeutete quantitativ keinen «Ausbau», wie angekündigt wurde. Der neuen Redaktion standen pro Jahrgang anstelle der bisherigen 530 Seiten nur 380 zur Verfügung. Vermehrt wurden immerhin die Illustrationen auf Kunstdruckpapier; der grafisch schlankere Kopf auf dem nun farbigen Titelblatt lautete neu: «Die Zeit. Kunst. Literatur. Leben.» Zollingers damaliger Zimmervermieter Rudolf Jakob Humm und sein Freund Traugott Vogel wurden ständige redaktionelle Mitarbeiter, dazu kamen der Musikkritiker Peter Campell und Fritz Ritter als Theaterreferent. Die Hauptlast und Verantwortung trug Zollinger aber praktisch allein. Mit der «Zeit»-Redaktion hatte Zollinger eine schwere 362

Bürde übernommen. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem ihm aufgedrängten, «freilich in gewisser Beziehung auch ersehnten Amt im Ministerium der Literatur» (an Hermann Hesse, Jan. 1937) und noch bildhafter im Januar 1937 in einem Brief an Max Rychner: «Ich bin Lyriker und nur dilettantischerweise und ad interim Schriftleiter; heute

aber heißt es schon: alle Mann auf Deck. Und da wird auch einmal der Leichtmatrose am Steuer zugreifen müssen.» Das tief und bitter empfundene Erlebnis der Ehescheidung im September 1935 war der private Beweggrund für die Flucht in die rastlose Tätigkeit seiner letzten Jahre, ebenso drängende kulturpolitische und berufsständische Motive bekannte Zollinger im «Vorsatz», den er seiner ersten «Zeit»-Nummer voranstellte. Wichtig vor allem war ihm, sich und seinen Schriftstellerkollegen ein von Parteirücksichten, Redaktionslaunen und finanziellen Abhängigkeiten freies Publikationsforum zu schaffen. Die Verbesserung der Stellung des Schriftstellers in der Presse war eins der zentralen Anliegen in Zollingers publizistischer Tätigkeit. Diesen Kampf setzte er auch nach dem

Scheitern der «Zeit» fort, indem er das

Projekt einer eigenen Zeitschrift des Schweizerischen Schriftstellervereins (SSV) entwarf, vor dessen Generalversammlung 1938 die «Möglichkeiten des SSV» analysierte oder in grundsätzlichen Artikeln und Referaten für eine Art Feuilletondienst, bessere gewerkschaftliche Absicherung und weitere damals geradezu utopisch anmutende Ideen eintrat. Gewiß brachte er damit auch eigene Interessen ins Spiel, die aber deutlich vom Gedanken der Solidarität mit seinen Kollegen überlagert waren, und da blieb er nicht bei der Theorie stehen: in der «Zeit» überließ der Dichter Zollinger den Platz andern: er druckte kein einziges seiner Gedichte und nur eine seiner Erzählungen ab. Die Hartnäckigkeit, mit der er bis zuletzt um eine angemessene, wegweisende Rolle des Schriftstellers, des Künstlers überhaupt, in der Gesellschaft rang, läßt sich bis in die letzten Romane verfolgen, wo die «Pfannenstieler» versuchen, mit publizistischer Tätigkeit Zeit und Umwelt mitzugestalten. Auch in Briefen taucht das Motiv auf. «An seiner geringen Stelle», d.h. an der «Zeit», versuche er, «eine Plattform der

Unvoreingenommenheit

offen zu halten,

unter Vorbehalt

vielen Irrtums, bekümmert um die Zukunft unseres Landes,

363

das im Götzendienst vor Baal verfallen ist» (an Max Rychner, Jan. 1937). Optimistischen Tatendurst, aber auch selbstkritisch-ironische Zweifel an seinem Wirken verrät ein Briefan Hermann Hesse vom selben Zeitpunkt: «Ich konnte dem Schlendrian im schweizerischen Literaturbetrieb nicht mehr zusehen und bringe nun meine Kerben an, über die ich mich in reiferen Jahren zweifelsohne einmal weidlich ärgern werde.» Die «Plattform der Unvoreingenommenheit» sollte aber nicht nur den Zeitgenossen offenstehen; er wies ihr auch die Aufgabe der «immanenten Repetition der Geistesgeschichte» («Die Zeit», Juni 1936). Dieser Begriff aus der pädagogischen Fachsprache floß dem Redaktor nicht zufällig zu: der Publizist Zollinger war nicht nur Kritiker, Mahner und Warner, er blieb immer auch Erzieher. Das schlägt bis zur programmatischen Forderung «auf Erziehung durch die Presse» und zur Vorstellung vom «Schriftleiter als diskretem Erzieher» durch («Schriftsteller und Presse» 1939). Im Pu-

blizisten und Zeitdichter Zollinger durchdringen sich das pädagogische und das politische Element — es leuchtet ohne weiteres ein, daß er sich zu Gottfried Keller hingezogen fühlte, den er auch gerne zitierte. Triebkraft seiner Hoffnungen mit der «Zeit» und Beweggrund der oft bitterbösen, zum Teil allzu pauschalisierenden Angriffe auf das schweizerische Zeitungswesen, wo man den Dichter genau so gerne sehe, «wie die Geiß im Gemüsegarten» («Schriftsteller und Presse»), waren neben der Einsicht

in die Notlage vieler Schriftstellerkollegen auch jahrelange persönliche Enttäuschungen. Er hatte es gründlich satt, mit seinen Gedichten, Feuilletons und Aufsätzen bei den Redaktionen als demütiger Bittsteller anzuklopfen und oft gerade Arbeiten, an denen ihm besonders lag, als zu umfangreich, momentan unwillkommen oder überhaupt unverwendbar

zurückzuerhalten. Im Briefan Chefredaktor Ernst Nobs vom «Volksrecht», mit dem er am 7. Februar 1934 seinen offenen

Brief an Jakob Bührer im Zuge der Auseinandersetzung «Berufsschriftsteller - Liebhaberschriftsteller» zurückzog (s. Anmerkungen S$. 412ff.), ging er mit galliger Ironie auf die schwache Position des Schriftstellers den Redaktionen gegenüber ein: «Was gesagt werden müßte, ist, daß in der schweizerischen Presse der Schriftsteller überhaupt keine Stimme hat! So lange er säuselt und die Grenze der Bravheit 364

nicht überschreitet, kann er hoffen, gnädiglich dann und wann, nicht zu oft, in den heiligen Blätterwald einzutre-

ten... Es trifft sich hübsch, daß mir gerade heute besonders viel Rückporto zuläuft.» Tags zuvor sei ihm «per gedrucktem Formular kommentarlos eine schüchtern politische Betrachtung» zurückgegeben worden. «Anderswo schrieb man mir, das war vorgestern, der Gegenstand [es ging um Ludwig Renn G.H.] warte [auf] eine Behandlung durch politische Mitarbeiter. «Da wir als neutrales Blatt prinzipiell... .» schreibe ich aus einer Entschuldigung ab, die mich soeben an meiner Schreibmaschine unterbrach...» Das «Volksrecht» nahm er von seinen Klagen ausdrücklich aus, dort brachte er ja auch allerhand unter, was ihn jedoch nur halbwegs befriedigte, denn «denen, die es ohnehin zur Genüge wissen, nein, denen mag ich es nicht auch noch sagen.» Sarkastisch prophezeite er, daß er es wohl aufgeben werde, «der schweizerischen Presse anderes als handgreiflich «Dichterisches («Harmloses») anzubieten», und er schließt mit dem Bild vom «eisernen, nein wattenen Ring, der uns schweizerische

Schriftsteller gefangen hält!» Wir wissen es, daß Zollinger dann doch nicht beim «handgreiflich Harmlosen» blieb. Sieht man aber von «Zeit» und «Nation» ab, wo er in den ersten Monaten 1938 eine eigene Seite betreute, sind seine angriffig-kritischen Artikel der letzten Jahre rasch gezählt. Sie stehen im «Geistesarbeiter», dem sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit erscheinenden Berufsorgan der Schriftsteller. Aber auch von dort erhielt er Manuskripte zurück, kaum aus bösem Willen, sondern wegen des Materialüberflusses im kleinen Blatt. Das galt teilweise auch für große Redaktionen. Otto Kleiber, der Zollinger recht gewogene Feuilletonredaktor der Basler «National-Zeitung», entschuldigte sich einmal mit den «Bergen» von Manuskripten, unter denen eben leicht dies und jenes verloren gehe. Daß diese «Berge» — zumindest bei mittleren und kleinen Blättern — noch bis in den Krieg hinein zum großen

Teil

aus

Material

bestanden,

das

reichsdeutsche

Presse- und Romanagenturen zu Schundpreisen anboten, war besonders empörend. So hatten Schriftsteller wie Bührer und Zollinger berechtigten Anlaß, über Mißstände im Zeitungswesen zu klagen, wo der einheimische Autor «durchaus drittrangige Bedeutung» genieße, wo die Privatwirtschaft 365

auch aus dem Geistigen ein Handelsobjekt mache, «dirigiert nach Gesichtspunkten der Einträglichkeit» («Das schweizerische Feuilleton», vermutlich 1938/39). Solche Qualifikationen der schweizerischen Presse wurzelten tief in Ressentiments, die Zollinger schon dann und wann die Blicke trübten. Er milderte immerhin gelegentlich die Schärfe seiner Attacken durch eine realistischere Einschätzung der Lage seines direkten Widerparts: Da erkennt er dann in den Redaktoren «die armen Hasen zwischen zwei Flinten» und begreift sie «als Proletariat wie wir Federfuchser» («Schriftsteller und Presse»).

«Das Schöpferische verdirbt ohne Freiheit zum Irrtum» Zollingers erste «Zeit»-Nummer löste selbstverständlich kein literarisches Erdbeben aus. Zwei einläßliche Besprechungen kamen aus Zürich. In der Sonntagsbeilage des «Volksrecht» vom 30. Mai 1936 meldete Jakob Bührer Befürchtungen an, auch «Die Zeit» gebe sich auf Kosten breiterer Wirkung vielleicht doch zu gekünstelt, was er aus Zollingers Erzählung «Labyrinth der Vergangenheit» abzuleiten suchte. Seinen Aussetzungen an der «etwas blassen» ersten Nummer ließ er aber auch wohlwollend-kritisches Lob folgen und forderte entschieden zum Abonnement einer Zeitschrift auf,

deren «Vorsatz» ihm in manchem aus dem Herzen gesprochen sein mußte. Eduard Korrodi, Feuilletonchef der «Neu-

en Zürcher Zeitung» und laut Max Frisch damals «das literarische Bundesgericht», sah es in der «NZZ» vom 27. Mai 1936 anders. Sein Lob galt gerade den dichterischen Bemühungen des Heftes; er schätzte Zollingers «kecke, sprühende Novelle... dieses lebhafte und nicht nach alter Notenspur geleierte Prosastück.» Am «Vorsatz» hingegen empfand er wenig Freude. Er warf Zollinger Undankbarkeit vor, weil er gegen dieselben Blätter polemisiere, in deren Feuilleton er und seine linken Gesinnungsgenossen «das Gemeingut der Menschheit,

eben die Dichtung,

durch

ihre Federn

berei-

chern möchten.» Zollinger, der Korrodi zwar in einigem recht geben mußte, war von der «Unversöhnlichkeit eines Mannes von seinem Geiste» empfindlich getroffen. Er erwiderte in der Juninum-

366

mer «In eigener Sache», und so steht auch am Beginn seiner «Zeit»-Redaktion eine jener für Zollingers publizistische Tätigkeit typischen Pressefehden. Die Suppe wurde aber nicht so heiß gegessen, wie sie angerichtet schien. Zollinger ging nach längerer Pause doch wieder gelegentlich.in Korrodis Feuilleton spazieren; im Dezember 1938 hieß es in einem Brief an Ludwig Hohl: «... dagegen ist Korrodi neuestens von großer Huld gegen mich.» Dieser anerkannte in der Tat trotz seiner unverhohlenen Abneigung dem «politischen» Zollinger gegenüber weiterhin dessen dichterische Qualität, vor allem als Lyriker. Es war zwar nicht der «Doktor, Chef aller Dichter und Denker», als der Korrodi in «Bohnenblust»

auftritt, der für Zollinger eine Ehrengabe beantragte - als dies im Dezember 1933 geschah, war Korrodi noch nicht Mitglied der städtischen Literaturkommission. Zollinger hatte die Tausendfrankengabe Professor Emil Ermatinger zu verdanken, der zu Protokoll gab, «die Gedichte Zollingers seien zu den schönsten lyrischen Werken zu zählen.» Korrodi, der übrigens als einziger Kritiker alle vier Gedichtbände Zollingers, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, besprochen hat, rühmte dessen «literarisches Flair» und «beachtenswertes lyrisches Schaffen» ebenfalls, als er später in der Literaturkommission Einsitz nahm. Er schätzte aber alle Zeit nur den Zollinger, der «der Harfe mehr als der Schleuder» vertraute. In der Sitzung vom 3. November 1938 stimmte er mit der Kommissionsmehrheit gegen den Antrag Professor Ermatingers, Albin Zollinger den städtischen Literaturpreis zuzusprechen. Der Entscheid fiel zugunsten Maria Wasers; der verhältnismäßig «junge» Zollinger könne ein nächstesmal berücksichtigt werden, hieß es. Seltsamerweise wurde drei Jahre später sein Name kaum mehr diskutiert, obschon gerade zwischen 1938 und 1941 seine Hauptwerke erschienen waren. Wenige Tage nachdem sich die Literaturentschieden

hatte,

starb Zollinger — eine «spätere» Berücksichtigung

kommission

entfiel

damit.

für Hermann

In der «NZZ»

Hiltbrunner

schrieb Korrodi selber den Nachruf,

ein ehrlich anerkennendes Bekenntnis zum Dichter Zollinger. Man muß es sehen, und Zollinger hat es, weniger in seinen letzten Romanen als in Briefen auch anerkannt: Eduard Korrodi war der einzige unter den maßgeblichen Schweizer Kritikern, der sich über die Jahre kontinuierlich 367

und ernsthaft mit Zollinger auseinandergesetzt hat. Sein Urteil über Zollingers «Zeit» allerdings erwies sich als vorschnell: die Befürchtungen wegen deren Linkslastigkeit erwiesen sich als grundlos. Zollinger war stolz darauf, daß in seiner Zeitschrift Kommunisten wie Frontisten zu Wort kommen konnten. Ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse bestätigt dies: neben den Linken R.J.Humm, Jakob Bührer, Adrien Turel oder Ignazio Silone finden sich bürgerlich Orientierte oder Unpolitische wie Siegfried Lang, Hermann Hiltbrunner, Carl Seelig, Georg Thürer, Ernst Kappeler und Bernhard Diebold, auch der Anthroposoph Albert Steffen und mehrmals der Frontist Paul Lang. Wie bei Knut Hamsun und bei Jakob Schaffner trennte Zollinger auch bei Lang scharf zwischen politischer Einstellung, wo er Irren menschlich fand, und literarischem Schaffen, das er allem überordnete, wenn

es seinen hohen

Ansprüchen genügte. Sollte ihm Paul Lang «ein Hörspiel anbieten, von dem ich finde, daß es eine Dichtung sei, dann wird nichts, auch nicht der Tadel der Absolutisten links, mich daran hindern, es in der «Zei abzudrucken, und zwar freudig» («In eigener Sache», «Die Zeit», Juni 1936). Dieser Versuch säuberlichster Trennung zwischen politischer Überzeugung und dichterischem Schaffen verrät vor dem Hintergrund der damals im Dritten Reich und andern Diktaturstaaten brutal praktizierten Verpflichtung des Schriftstellers auf die Staatsideologie eine wohl doch befremdlich-idealistische Naivität. Mit den anderthalb Jahrgängen seiner «Zeit»-Redaktion blieb Zollinger dem im «Vorsatz» angekündeten Programm treu: die 17 Hefte bedeuten eine Anthologie des schweizerischen literarischen und publizistischen Schaffens, in der zwar längst nicht alle, aber doch wichtige und typische

Stimmen der Zeit zu vernehmen waren, eine Anthologie mit beachtlicher

Bandbreite,

von

Gedichten

und

Dramenaus-

schnitten über Erzählungen und Feuilletons bis zum kulturkritischen und politischen Aufsatz. In Rubriken wie «Blick ins Hinterland» oder «Die Zeit in der «Zeib» finden sich Glossen zum lokalen und internationalen Geschehen oder zu Persönlichkeiten,

auch

Lesefrüchte

und Kurzkommentare.

Originalbeiträge bekannter, aber auch völlig unbekannter Autoren waren in der Mehrzahl. Zollingers eigenes Feld in

368

der «Zeit» waren

zeitkritische Grundsatzartikel,

Rezensio-

nen und Glossen. So gut es ging, öffnete er sein Blatt auch Emigranten: Bernard von Brentano, Ignazio Silone, Marta Karlweis-Wassermann, Julius Hay und andern. Das war unter den damals rigorosen arbeitsrechtlichen ‚Bestimmungen der Fremdenpolizei gar nicht so einfach. In der ungedruckten Version «Möglichkeiten des Schriftstellervereins» empört sich Zollinger über die Scherereien mit der Bürokratie: «... Diese Polizei, wenn sie tapfer ist, soll den wahren Lindwurm erschlagen... .» In vier gut aufgemachten Sondernummern ließ Zollinger bestimmte Themenkreise

bearbeiten: Das Kind; Schweizer

Theater; Neutralität; Spanien. Weitere derartige Pläne mit Heften wie Welschland oder Romanisch machte das vorzeitige Ende der «Zeit» zunichte. Jede Nummer der Zeitschrift enthielt eine größere Zahl von Reproduktionen bildender Kunst, vorwiegend der soliden gegenständlichen Richtung: Radierungen von Alexander Soldenhoff, Fritz Pauli und Pierre Gauchat; Lithographien und Tuschzeichnungen Ernst Morgenthalers, Politikerköpfe des Sozialisten Paolo (d.i. Paul Jakob Müller), Federzeichnungen von Hermann Hesse und Charles Hug, selten auch Gewagteres mit expressiven Holzschnitten Ignaz Eppers oder Lithos und Pinselzeichnungen von Emperaire (d.i. Walter Kern). Auch den Illustrationsteil öffnete er Unbekannteren:

Willi Wenk,

Louis

Reich, Robert S. Gessner, Margot Veillon oder Annemarie von Matt. Zollinger bekannte sich ungescheut zu seiner vielleicht doch etwas bequemen Distanzierung von der Avantgarde: «Es war einmal eine Sache des Mutes, zur Moderne zu stehen; heute, da jene Haltung bereits zum Snobismus geworden ist, wollen wir es wagen, für unsere Lieblinge einzutreten...» («Die Zeit», Dezember 1936) Aus-

gesprochene Lieblinge Zollingers waren der Zeichner Walter Roshardt und der Maler Ernst Georg Rüegg. Trotz der von Anfang an bedenklich schmalen und unsicheren wirtschaftlichen Basis kann sich Zollingers «Zeit» durchaus sehen lassen. Gewiß brachte sie im literarischen wie im zeitkritischen Teil neben Spitzenleistungen auch Beiträge von recht unterschiedlichem Niveau — als bemerkenswert offenes und mutiges Forum leistete sie aber einen wertvollen Beitrag zur Zeitdebatte und zählt zu den wichti369

gen kulturpolitischen Dokumenten der Vorkriegszeit. Ihr Schicksal: die Kurzlebigkeit teilt sie mit vielen anderen Periodika unseres Landes, die nicht für jene gemacht sind, «die in der Kunst einen Lehnstuhl sehen», wie Zollinger seine Leser beizeiten warnte. («Die Zeit», Jan. 1937)

«Das Stillschweigen war wie Granit, war wie Gas» Auch wenn Zollinger seine Redaktionsarbeit mit Enthusiasmus und Hingabe versah, wurde sie ihm allgemach doch zur drückenden Last — von «Kärrnerarbeit» ist im «Pfannenstiel» die Rede. Deprimierend wirkte auf die Dauer die spärliche Leserschaft und damit der allzu kleine Wirkungskreis, die Echolosigkeit. Die Abonnentenzahl ging von 800 auf 500 zurück, dazu kamen im Schnitt 40 Einzelkäufer pro Nummer; das Inseratengeschäft fiel überhaupt nie ins Gewicht. 1936/37, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, herrschte in unserem Lande noch harscheres Zeitschriftenklima als sonst üblich! Seiner ehemaligen Leimbacher Kollegin Rosa Ammann klagte Zollinger 1937 die «Unerquicklichkeiten um die «Zei, die mannigfaltig sind (Briefe, Anrempelungen, Scherereien mit Verlag und Autoren)... Es hängt mir immer ein ganzer Schwarm von Verpflichtungen an: literarische Männlein und Weiblein, die ich kaum kenne und die mich nicht interessieren, denen aber ein Redaktor ein Ohr

schuldig ist.» Hilde Brunner teilte er am 21. Juli 1937 mit: «Wenn noch die Juli- und Augustnummer heraus sind, dann sterbe ich in Schönheit.» Es kam dann sogar noch zu einer Oktobernummer. Hilde Ribi-Brunner, die ihn in jenen Jahren am besten kannte, hat später in der «Literarischen Tat» (2.12. 1961) aber auch auf die psychohygienischen Einflüsse seiner anderthalb Redaktionsjahre aufmerksam gemacht: «Diese hochpolitische Phase mit ihren redaktionellen Terminen war in mehr als einem Sinne ein recht heilsames Korrelat und Korrektiv zu des Dichters abgründigen Depressionen.» Und in einem Radiovortrag vom 6. November 1966: «Aus dem in sich versunkenen Träumer ward da unversehens ein zuweilen nicht wenig angrifiger Aktivist und Polemiker», was Zollinger allerdings auch schon vor der Übernahme der «Zeit» war. 370

Mit der Oktobernummer 1937 mußte Zollinger das Ende der «Zeit» ankünden. In seinen Abschiedsworten «An unsere Leser» überwiegt die Bitterkeit über den fast totalen Schweigeboykott der Schweizer Presse — «das Stillschweigen war wie Granit, war wie Gas», heißt es im «Pfannenstiel». Als die letzte «Zeit»-Nummer ihre Leser erreichte, war es schon

entschieden, daß die in Zollingers Abschied geforderte «eindringlichere Stimme» nicht zu vernehmen sein würde. Im Sommer 1937 hatte Zollinger vom Verleger Hans Feuz einen Kostenvoranschlag für eine allenfalls vom SSV mitgetragene Zeitschrift eingeholt. Auf der Basis einer auf 1000 Exemplare gesteigerten Auflage veranschlagte Feuz einen jährlichen Mindestzuschuß des SSV von 10200 Franken, was Zollinger in seinem Projekt «Eine Literatur-Zeitschrift des SSV» reichlich optimistisch auf 4-5000 Franken herabsetzte. Dabei fehlten schon in der Berechnung des Verlegers wie bisher die Posten Redaktionsgehälter und Büromiete. Zum budgetierten Zeilenhonorar von 10 Rappen — 15 Rappen war damals das vom SSV-Sekretariat bei Feuilletonredaktionen ermittelte Durchschnittshonorar — merkte Feuz an, «daß wir bisher

weniger Honorar zahlten». Es waren häufig 5, nur gelegentlich 10 Rappen: ein Schlaglicht auf die materielle Situation des Schriftstellers, besonders des freien, eine Illustration zu den Diskussionen um «die Notlage der Schriftsteller» in den dreißiger Jahren, in die Zollinger mehrmals nachdrücklich eingegriffen hat. An der Vorstandssitzung des SSV vom 2. September 1937 lehnten

alle Anwesenden,

darunter auch Felix Moeschlin,

der einstige «Flugblatt»-Gründer, Zollingers Projekt ab, vorwiegend aus finanziellen Bedenken.

Dr. Karl Naef, der Se-

kretär des SSV, ließ es jedoch in seinen «Bemerkungen zum Vorschlag von Albin Zollinger» im «Geistesarbeiter» (Sept./ Okt. 1937) nicht bei diesen wirtschaftlichen Ablehnungsgründen bewenden. Er befürchtete, daß eine SSV-Zeitschrift, die von «einer starken und entschlossenen

Persön-

lichkeit» geleitet würde, einer ganz ausgeprägten weltanschaulichen und künstlerischen Richtung verschrieben wäre, «was den Verein schwer belasten und vielleicht sprengen würde». Er klassierte — ein unbelehrbarer Nachfolger Korrodis — «Die Zeit» als «Kampfblatt einer literarisch und politisch genau umschriebenen Gruppe». Da wirkte unverkenn-

371

bar noch der Unwille der Vereinsführung über die «Linksgruppe» im SSV nach, die unter Bührers Führung die Kreise des Vorstandes zeitweilig nicht unerheblich störte. Naef gab immerhin zu, «daß Albin Zollinger gerne die Spalten seines Blattes Persönlichkeiten geöffnet hat, die seinem Kreis nicht angehörten». Zollinger, durch seine privaten Schwierigkeiten und das Scheitern der «Zeit» noch verletzlicher als sonst,

fühlte sich von Naefs «erdrückendem Kommentar» troffen und

setzte sich brieflich zur Wehr

tief ge-

(s. Anmerkung

S. 468). Zollingers eindringliches Votum für die vereinseigene Zeitschrift und weitere berufsständische Maßnahmen («Möglichkeiten des Schriftstellervereins») rief an der Generalversammlung vom 8. Mai 1938 in Freiburg nicht einmal mehr einer Diskussion, denn beschwichtigend, aber in krassem Gegensatz zum Vorstandsbeschluß vom vergangenen Sep-

tember, teilte Präsident Moeschlin mit, die Ausführungen Zollingers deckten sich «zum größten Teil mit den Plänen des Vorstandes», der bereits «Unterhandlungen betreffend die Gründung einer schweizerischen literarischen Zeitschrift» eingeleitet habe! (Protokoll der Generalversammlung). Das Ende der «Zeit» hatte noch ein groteskes Nachspiel. Im Dezemberheft 1937 von Guggenbühl und Hubers «Schweizer Spiegel» las man als redaktionelle Notiz: «Mit diesem Heft geht die Monatsschrift für Kunst und Literatur «Die Zeib im «Schweizer Spiegeb auf. Die im 5. Jahrgang stehende «Zeit wies ein beachtenswertes künstlerisches und literarisches Niveau auf, nur gelang es dem Verlag nicht, die nötige Zahl von Abonnenten zu erreichen, um das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schaffen. Der Schweizer Spiegel-Verlag erwarb die Verlagsrechte der «Zeib, um die zwar zahlenmäßig nur kleine Leserschaft der «Zeib, die aber kulturell interessiert ist und geistig aktiv, für den «Schweizer Spiegeb zu gewinnen.» Es ist indes kaum anzunehmen,

daß

sich viele «Zeit»-Leser

in den Mutter-

schoß des doch eher hausbackenen «Schweizer Spiegel» retteten! Nach dem Eingehen der «Zeit» unternahm Zollinger einen letzten Versuch, sich ein regelmäßiges Publikationsforum offen zu halten. Bei der 1933 von führenden Männern des 372

schweizerischen Gewerkschaftsbundes zusammen mit linksbürgerlichen Kreisen um den Bündner Demokraten Andreas Gadient und den Schaffhauser Bauernsekretär Paul SchmidAmmann gegründeten Wochenzeitung für Demokratie und Volksgemeinschaft «Die Nation» wurde er auf’Anfang 1938 redaktioneller Mitarbeiter und betreute die Seite «Der literarische Beobachter». Aber schon im März klagte er Ludwig Hohl, er erlebe bei der «Nation» wieder «die gleichen Ärger wie weiland an der «Zeib», und knapp einen Monat später teilte er ihm mit, er gedenke bei der «Nation» aufzuhören: «Diese launischen Herrschaften springen mit mir allzu sehr wie mit einem Lakaien um.» Seine Seite solle nur noch einmal

monatlich

erscheinen,

«womit

natürlich

nicht

zu

wirken ist». «Der literarische Beobachter» erschien vom 3. Februar bis 14. April 1938 insgesamt viermal, Zollingers letzter Artikel in der «Nation» Ende Juni. Er hatte offenbar schon im Mai sein spärliches Honorarbudget bis zum September ausgeschöpft, so daß «seine» Autoren, darunter auch Hohl, ihre Honorare monatelang stunden mußten! Am 15. Mai schrieb er Hohl: «Mit der «Nation» habe ich aufgehört.» Am 14. März 1940 brachte sie aber immerhin noch ein Interview Max Eichenbergers mit Albin Zollinger. Ein früherer Versuch, sich einer Wochenzeitung anzuschließen, hatte sich schon im Vorfeld zerschlagen. Nachdem er die ersten Nummern der im Spätherbst 1933 gegründeten «Weltwoche» gelesen hatte, signalisierte er dem Feuilletonchef Manuel Gasser mit etwas verkrampfter Ironie, «daß es mir passen könnte, gelegentlich von der Plattform Ihrer so sympathischen Zeitung die Stimme zu erheben, für die es in der hochwählerischen, noch poesiefernen schweizerischen Presse kaum welche Möglichkeiten gibt». Gasser reagierte nicht; Zollinger hat das schlecht verwunden. Am 20.2. 1934 teilte er Gasser mit, daß Ehrlichkeit ihn zwinge, «meinen enthusiastischen Brief, mit dem ich seinerzeit Ihr Blatt be-

grüßte, einschränkend zu ergänzen». Er rügte nun, daß auch im Feuilleton und nicht nur politisch durch Kurt von Schumacher in der «Weltwoche» das «Liebäugeln nach Norden und Süden» stattfinde. Noch in seiner letzten gewaltigen Abrechnung mit der schweizerischen Presse, im seinerzeit unpublizierten Expose «Das schweizerische Feuilleton», beklagte er sich zornig über

373

die Zurücksetzung der schweizerischen Dichter. Er sieht sich und seinesgleichen, nämlich die gesellschaftskritisch Engagierten, hoffnungslos zwischen zwei Stühlen. «.. von links trennt uns die Bescheidenheit jener Ansprüche, von rechts die Strafe für Rebellion, deren wir uns schuldig gemacht haben...» Aus dem bittern Gefühl willkürlicher Zurücksetzung qualifiziert er die bedeutenden Feuilletons unseres Landes als «großenteils so unschweizerisch, so landfremd wie die Kinoprogramme» und rügt sogar die seiner Ansicht nach zu starke Berücksichtigung von Emigranten wie Ernst Glaeser. Dabei kommt er nochmals auf jenen «Weltwoche»Versuch zurück: «Ich anerbot Manuel Gasser... im Namen einiger Kameraden, ihm periodisch Artikel über das schweizerische Geistesleben zu liefern; es war nichts zu erreichen,

der Raum bleibt einigen illustren Emigranten vorbehalten...» Diese und andere Stellen blieben in den Gesammelten Werken 1961 ungedruckt, wohl aus Rücksicht auf das Andenken Albin Zollingers, was gewiß unnötig war. Diesen Gallespritzer eines durch mancherlei Erfahrungen im schweizerischen Literaturbetrieb Enttäuschten und Gekränkten vom Heute aus pharisäerhaft zu verdammen, wäre allzu billig jenem Manne gegenüber, der seine Selbstlosigkeit, sein vielen unbequemes Demokratieverständnis, etwa in

der Spanienfrage, ohne Rücksicht auf den persönlichen Vorteil mutig bekannte — und übrigens als «Zeit»-Redaktor mehrfach Arbeiten von Emigranten aufnahm.

«Ich kann besser sagen, was mir gefallt»

Über dem Lyriker und Erzähler, neben dem politischen Kämpfer und dem zeitkritischen Mahner darf der Rezensent Zollinger nicht vergessen werden — von Büchern handeln ja auch die ersten Arbeiten des Publizisten Zollinger. Zwischen der ersten und der zweiten Buchbesprechung liegen allerdings gute fünf Jahre, und sie ist insgesamt nicht groß, die Zahl von Zollingers Rezensionen. Seine Rezensententätigkeit zeichnete sich weder durch Kontinuität noch durch Systematik aus, aber «in der Geschichte schweizerischer Litera-

turkritik hat er eigentliche Exempel dieses Genres statuiert» (Beatrice von Matt im Ausstellungskatalog der Zentralbi374

bliothek 1981). Die Probe bestehen sogar noch die im Grenzgebiet der Buchbesprechungen angesiedelte Rezension der unvergeßlichen «Zürcher Illustrierten» und die einzige Theaterkritik. Der zwar sehr persönlich gehaltene, aber klug und anschaulich analysierende Bericht über Cäsar von Arx’ «Der Verrat von Novara» läßt vermuten, daß Zollinger auch ein ausgezeichneter — und nützlicher — Theaterkritiker geworden wäre. L Wie auf andern Gebieten von Zollingers publizistischer Tätigkeit bleiben aber auch bei seinen Rezensionen Qualitätsunterschiede nicht verborgen. Es gibt sie auch bei ihm, die leichtgewichtige Zustimmung, der weniger literarkritische Bedeutung als freundschaftlich aufmunternde Anerkennung zukommt. Solch kollegial-schonungsvolle Praxis am Rande verantwortungsvoller Kritikerarbeit teilt Zollinger jedoch mit Weltberühmtheiten wie Thomas Mann und Hermann Hesse, aber wıe bei diesen, bei Thomas Mann vor allem, tönte es dann in den Briefen manchmal wesentlich kritischer, ja fast boshaft über gewisse Kollegen und ihre

Werke! Wer als Dichter und Kritiker beidseits der Front beheimatet ist, kommt

nicht darum

herum,

sich über

Sinn

und

Aufgabe, Stellenwert und Niveau der Literaturkritik Gedanken zu machen, auch über die Reaktionen als selbst Betroffe-

ner. Ein paar Monate nach Übernahme der «Zeit» eröffnete Zollinger die Rubrik «Bücher» im Novemberheft 1936 mit einem Vorspann, der sowohl sein Mißbehagen über das schweizerische Rezensentenwesen wie eigene Vorsätze kundtat: «Die heutige Buchbesprechung krankt oft an der Schablone; sie wirkt blutleer und läßt darum

meist kalt. Wir

wollen versuchen, durch eine persönlichere und lebendigere Gestaltung der Buchbesprechungen, soweit wir sie in unserer Zeitschrift bringen, dem Übel der Erstarrung entgegenzuarbeiten. Bücher sollen nicht einfach durchblättert und mit einigen glatten Wendungen abgefertigt werden. Nein, es soll um das besprochene Buch herum ein neuer kleinerer Aufsatz entstehen, der die Schwingungen des Buches selbst ausstrahlt.» Vorher und nachher finden sich in Briefen teils humorvolle, aber auch bitterböse Apostrophierungen der literaturkritischen Praxis: «Es ist ja eine so sonderbare Sache mit der 973

Beurteilung von Büchern; darüber macht man sich allemal seine fröhlichen Gedanken, wenn man selber, gelegentlich einer «Neuerscheinung, von diesem zu kalt, von jenem zu warm, von einem zu dick, vom

andern zu dünn befunden

wird. Das absolute Valometer oder wie man das Instrument aus Nickel bezeichnen müßte, das Dasymeter für Dichtungen ist eben noch nicht erfunden, und so bleibt - zum Glück, kann man vielleicht sagen — deren Beurteilung einstweilen noch immer abhängig von dem Vorzeichen, das der ixbeliebige Leser davor zu setzen eingerichtet ist» (an Traugott Vogel, undatiert, vermutlich Frühling 1930). Als «Hochoffiziöse Herrschaften direkt vom Parnaß» ironisierte Zollinger die Kritiker im Vierzeiler «Literaturgelehrte» (1939). Bitterer und mit einem unverkennbaren Anflug von Minderwertigkeitsgefühl des Nichtstudierten tönte es zwei Jahre später in einem Brief an Erwin Jaeckle, den damaligen Lektor des Atlantisverlags und Förderer Zollingers: «Was «die Zunfb anbetrifft, so fühle ich mich ihr gegenüber unsicher aus dem Mangel meiner humanistischen Bildung heraus. Ich komme vom

Land und kann den Verdacht nicht in mir ausrotten,

diese Leute wüßten aus Kenntnis irgendwelche Grundtatsachen. Meistens sind es ja Tröpfe; das sehe auch ich, und gerade die NZZ hat die Gepflogenheit, unmaßgebliche, triebschwache, naive Schreiberlinge, geistigen Frauenverein, ins Gericht einzusetzen. Und ich denke dann, die Gewogenheit von Leuten wie Sie, Walter Muschg etc. basiert nur auf Kredit, den ich enttäuschen werde.» Die seinerzeit verpaßte humanistische Bildung war ihm «nicht des Teufels, sondern lebenslänglich ein Gegenstand der Eifersucht, eine versäumte Gelegenheit» (an R.J. Humm, 1938/39). Im Mai 1930 veranlaßte ihn eine einfühlsame Kritik, die der Lyriker Albert Ehrismann seiner Lesung in einer Matinee des Künstlercabarets

«Krater»

zuteil werden ließ, zur

ebenso bissigen wie selbstsicheren Feststellung, «daß die, die selbst etwas können, immer verständiger sind als diese Schwefelsäureseelen, die gottgewollten Kritiker» (an Traugott Vogel). Von «Schwefelsäure» ist beim Rezensenten Zollinger nie etwas zu verspüren, nicht einmal im einzigen Verriß, der von ihm überliefert ist. «Ich bin begeisterungsfähig (aus dem Grunde kein schweizerischer Rezensent)», teilte er am 17. Juni 1938 seinem Freund Ludwig Hohl mit; 376

acht Jahre früher hatte es in einem Brief an Traugott Vogel geheißen: «Ich habe es wie Sie, ich kann besser sagen, was mir gefällt, als beweisen, warum etwas nicht so gut sein soll.» Von dieser Einsicht ließ er sich auch später leiten und wich qualitativ Fragwürdigem aus. So hielt es übrigens vor Jahrzehnten schon ein Dichterkollege, der 100mal mehr Rezensionen hinterlassen hat als Albin Zollinger. Hermann Hesse schrieb im Oktober 1904 an Helene Voigt-Diederichs über seine «Literarischen Monatsberichte» für die Münchner Halbwochenschrift «Die Propyläen»: «Ich bringe dort nur gute Bücher, die ich herzlich gern empfehle, gar keine negative Kritik. Diese Art sagt mir zu, und man kann so wohl am ehesten dem Guten wirksam nützen.» Die Haltung des Kritikers, Lob zu sprechen und Tadel zu vermeiden, ist so lange vertretbar, als er tatsächlich Gutes

vorstellt. Es ist natürlich unsinnig, Hesses und Zollingers Einstellung auch nur gedanklich mit der Abhalfterung der Kritik zugunsten jener faden offiziellen «Kunst- und Literaturbetrachtung» im Dritten Reich zu verbinden, die auch Unterklassiges hochzujubeln hatte, wenn es in nationalem Geist und im Dienst der Partei geschaffen wurde. Zollinger verzichtete

als Kritiker

zwar

darauf,

etwa

im Sinne

des

Romantikers Friedrich Schlegel, an der Wegräumung des Mittelmäßigen oder Elenden teilzunehmen, um damit Raum für das Bessere zu schaffen. Er stellte in der Einleitung zu seiner Ablehnung des preisgekrönten Romans «Die Juraviper» indes fest, daß zwar «ein Mittelmaß an Schlechtem» mit Stillschweigen übergangen werden könne, daß «das Anmaßliche aber aus Gründen der Hygiene und der Moral» beim Namen genannt werden müsse. Wo er sich zum Guten und Besseren vernehmen ließ, blieb er nicht bei der Empfehlung stehen: als einfühlsamer, kundiger Beurteiler begründet, argumentiert und analysiert er, auch wo er mächtig lobt, ja gelegentlich gar richtig schwärmt. Ungescheut stand er zur Subjektivität und wich dem «Ich» in seinen Kritiken nicht aus. Als er am 1. Dezember 1930 Traugott Vogel sein Urteil über dessen Roman «Der blinde Seher» in Aussicht stellte, bekannte er: «Ich bin parteiisch und naturgemäß sehr auf die Sprache eingestellt, die ich nach Ihrer Ansicht wohl überschätze — verstehen Sie mich aber recht, ich finde nicht

nur «kunstvoll gebaute Perioden gut. Viel wichtiger ist doch, daß «alles das» notwendig ist.» 377

Bis weit in die dreißiger Jahre hinein erlebte der Dichter Zollinger selber eher wenig Freude mit der Kritik; Näheres ist aus den Abschnitten «Wirkung» (Werke II-V) zu ersehen. Am meisten enttäuschte ihn die Zurücksetzung, ja Nichtbeachtung durch die paar wichtigen Feuilletonredaktionen der Deutschschweiz,

die er für sich und viele seiner

Dichterkollegen glaubte feststellen zu können — er übernahm ja die «Zeit»-Redaktion nicht zuletzt deswegen, weil er hoffte, der zeitgenössischen schweizerischen Dichtung ein offeneres Forum bieten zu können. Mitstreitern bei diesem Unterfangen zeigte er sich dankbar, so seinem Dienstkameraden Carl Seelig in einem undatierten Brief, vermutlich von 1937: «Es scheint, daß Du... angefangen hast, zum verantwortungsbewußten Anwalt der wenig umfänglichen, aber vorhandenen Schweizer Dichtung heranzuwachsen — die Gewissenhaften und Umsichtigen der Schweizer Presse sind beinahe noch seltener als deren Dichter; daher haben wir allen Grund, es mit Dank zu vermerken.» Sarkastischer hatte es in

einem Brief an Traugott Vogel geklungen: «Ich bin völlig überzeugt davon, daß wir Schweizer in der Schweiz über die Achsel angesehen und nicht ernst genommen werden, es ist Mode: Und doch haben wir allerlei Wahrhaftiges, Mannhaftiges und Menschlichkeitliches vollbracht, und es kränkt, daß man es uns durchtut. Ich könnte es Ihnen an meinem Fall mit empörenden Beispielen belegen. Ich existiere nicht, nicht so sehr wie H. Anacker, Joh. Siebel und Gobi Walder.»

(14.12. 1930) Es ist wohl weder Zufall noch Verzettelung seines literaturkritischen Talents, wenn sich der Rezensent Zollinger später auch der Werke wenig Beachteter wie Gertrud Bürgi, Walter Hauser, Johann Jakob Jehli und Ludwig Hohl annahm. Viele Rezensionen Zollingers verraten, daß da einer am Werk war, der von Branchenschematik wenig, viel aber von

originellem, persönlichem Engagement und lebendigem Diskurs mit dem Autor hielt — das belegt schon die erste Rezension Zollingers aus dem Jahr 1924. Sie galt keiner Neuheit, sondern dem 1907 erschienenen Roman «Geschwister Tanner»; unter dem Titel «Brief an Herrn Simon Tan-

ner» sprach Zollinger den Dichter Robert Walser direkt an. Dieser mit einfühlenden Bildern arbeitenden, oft geradezu Iyrisch verklärt anmutenden Arbeit eines Dichters über ei378

nen Kollegen folgten nach der fünfjährigen Rezensionspause auch konventionellere, aber heute noch mit Gewinn zu lesen-

de Kritiken eines hellhörigen Lesers, der seine Rezensionen nicht selten über den unmittelbaren Anlaß hinaus als Forum für grundsätzliche Betrachtungen nutzte. So ging es ihm in seiner kompromißlosen Ablehnung von Arthur von Feltens «Juraviper» nicht um den Autor allein, sondern, gezielter noch, gegen seine Macher im Hintergrund. Manchmal bezog er sich auch auf bereits erschienene Kritiken und nahm etwa Meinrad Inglin in seiner meisterhaften Rezension zum «Schweizerspiegel» gegen seltsame Vorbehalte in der «NZZ» in Schutz, die Inglin Mangel an politischer Überzeugung vorwarfen, weil er «Gerechtigkeit nach Links und Rechts» übe. In dieser Sache stellte sich der Dichter-Rezensent unmißverständlich hinter seinen Kollegen. Wenn Zollinger seine Rezensionen schrieb, hatte er offensichtlich, ob bewußt oder unbewußt, jene Leser im Auge, die das Buch schon kannten, denn selten stellte er es einläßlich

schildernd oder gar nacherzählend vor, allenfalls ganz knapp, gegen den Schluß, wie in seinem begeisterten Bekenntnis zu Walsers «Der Gehülfe». Oft gewinnen seine Kritiken schon mit dem packenden, bildhaft-anschaulichen Einstieg frische Lebendigkeit; nicht minder beeindruckend, wie Zollinger zum fein pointierten oder prophetischen Schluß findet: «Die Schweiz weiß bis auf den Tag nicht, was

sie an ihm hat... Man lese ihn endlich» — Robert Walser nämlich. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, hielt es der Rezensent Zollinger mit der Kürze; an den Besprechungen von Guggenheims «Riedland» etwa oder von Hohls «Nuancen und Details» erkennt man, wie ihm gegeben war, mit wenig Worten viel zu sagen. Der Rezensent Zollinger? Er braucht sich vor dem Zeit- und Kulturkritiker nicht zu verstecken,

und in seinen wichtigsten Rezensionen hält er das Niveau des Lyrikers und Erzählers.

«.... von der unerbittlichen Konsequenz des Schachspiels» Eine seiner «Rezensionen» verdient, besonders hervorgehoben zu werden. Sie gehört zur Gruppe jener Arbeiten, in

379

denen Zollinger seine literaturtheoretischen Einsichten mit oft unkonventioneller Intensität bekannte. Anstatt in einer Autorenstunde von Radio Beromünster, wie Radio DRS damals hieß, ein Kapitel aus seinem neuen Roman «Die große Unruhe» vorzulesen, tat er «in einer Art Selbstrezension» dar, warum er als «konstitutionsmäßiger Lyriker» eben nicht imstande war, es auch gar nicht anstrebte, «einen wohlkonstruierten, schulgerechten Roman von naturalistischem Habitus zu bauen.» Im Rückblick auf den schweizerischen Roman der Zwischenkriegszeit wissen wir heute, daß dem «konstitutionsmäßigen Lyriker» Zollinger mit der «Großen Unruhe» neben R.J. Humms «Die Inseln» der damals formal kühnste Wurf gelang: «für schweizerische Verhältnisse avantgardistisch», hieß es in der zeitgenössischen Kritik, was aber, wie Zollinger beim Weiterlesen feststellen konnte, gar nicht durchwegs positiv gemeint war (s. Werke II S.560ff). Seine subtile Selbstinterpretation in diesem Radiovortrag, der allerdings den besonders aufnahmebereiten Hörer voraussetzte, ist ein eindrückliches Beispiel kluger Werkanalyse; die behutsame Argumentation des Rezensenten Zollinger zugunsten des Dichters regt tatsächlich zur Lektüre der «Rhapsodie aus Schroffheit und Traum, Eile und Träumerei,

Naturalismus

und

Surrealismus»

an. Ob

dieser authentischen formalexperimentellen Auslegeordnung sei indes nicht übersehen, daß «Die große Unruhe» neben der autobiographischen Grundierung auch einen stark sozialkritischen Einschlag verrät und deutlich Zeugnis für den Kultur- und Gesellschaftskritiker Zollinger ablegt. Im zweiten Teil holt dieser Radiovortrag weit in Ergründung und Hinterfragung dichterischen Schaffens aus, zu einem bildmächtigen Credo Zollingers über die Aufgabe des Dichters, «der etwas anderes ist als ein Religionsstifter. Er schreibt nicht Gesetzestafeln, er hat nur das Ahnungsvermögen eines Kompasses. Erjagt auf. Er rüttelt den Rost der Probleme, er pflügt die Landschaft des Seelischen auf.» In seinem Volkshochschulvortrag innerhalb der Vorlesung «Dichtung und Erlebnis» im Sommersemester 1934 hatte Zollinger den Dichter «als der Menschheit sechster Sinn» begriffen, für den das konkrete äußere Erlebnis nur Randbe-

deutung habe. Das Entscheidende vollziehe sich «in den nach innen unendlichen Räumen der schöpferischen Seele», 380

zwar wohl auf der Basis von Erlebnissen und Erfahrungen, mit denen der Künstler aber absolut selbstherrlich umgehe. Als «Erlebnisgrund par excellence» galt Zollinger die Kindheit, galten ihm «die Tiefen der eigenen Brust»; aus der Erinnerung verwachse das Erlebnis mit Phantasie und Einbildungskraft des Künstlers zur dichterischen Schöpfung. Die lichtesten, auch formal geglücktesten Aufsätze Zollingers zur Werk- und Schaffenstheorie spüren Wesen und Wirkung, Aufgaben und Geheimnissen der Lyrik nach. Weit geht da dem Dichter das Herz auf, und doch hütet er sich, schwärmerisch ins Geheimnisvoll-Geistige einzutauchen. Neben den hochgemuten Bekenner tritt der Denker, der Analytiker, der Zusammenhänge erhellt, eigenständige Thesen klug begründet und dabei höchste Ansprüche an den Dichter und seine Kunst stellt. Bezeichnend aber, wie Zollinger auch in diesen mit so spürbarer Hingabe formulierten gattungskritischen Betrachtungen über den Fachzaun hinaus wachsam Zeit und Umwelt im Blickfeld behält: «Auch wo er den Namen nicht ausspricht, der Dichter ist Geist der Freiheit.» Ganz im Sinne der von ihm stets hochgehaltenen «immanenten Repetition» findet Zollinger zum Schluß seiner Ergründung «Weshalb Lyrik?» (1939) nochmals zu einer seiner zentralen Forderungen an die Demokratie: sie dürfe auch im Ringen mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihre Verpflichtung für Menschlichkeit und Kultur nicht

vergessen. Daß Gedanken zur Zeit auch bei Zollingers letztem groBen Vortrag auf der Veranstaltung des Atlantis Verlags «Lob der deutschen Sprache» am 6. März 1941 im Zunfthaus zur Meisen nicht fehlen, erstaunt gewiß nicht, verwunderlicher

dagegen, daß er sein Thema «Sprache und Wesen» mehr als ihm guttut mit schwergewichtigen, komplizierten Satzkonstruktionen belastet. Es fällt hier besonders auf, geschieht allerdings nicht zum erstenmal, daß der Publizist Zollinger sich nicht allzu streng an die von ihm selbst aufgestellte Forderung nach knapper und einfacher Wiedergabe des Gedankens hält und auch im Wortschatz mit bildungslastigen Fremdwörtern, häufig aus der Fachsprache der Mythologie, aufwartet. Daneben stören in manchen Artikeln auch schwerfällige Substantivschöpfungen, am verwunderlichsten aber, wie sich auch bei dem doch gewiß wachsamen Zeitge381

nossen dann und wann sogar Vokabeln aus dem braunen Deutsch einschleichen: völkisch, oder Schriftleiter! Doch das sind Details, die das Bild nicht trüben. Die werktheoretischen Aufsätze vermögen den Eindruck von Zollingers Vielseitigkeit noch zu verstärken: neben den Dichter, den Zeitkritiker und den Rezensenten tritt mit gleichem Anspruch auch der Literaturtheoretiker.

«O der täglichen Not aus dem Zwiespalt» Der letzte Abschnitt dieses Bandes vereinigt die zahlreichen kleinen Betrachtungen, Glossen und Prosastücke — klein vor allem dem Umfang nach, denn neben allerhand Beiläufigem finden sich auch hier Perlen wie «Der Laternenmann» oder «Warenhaus». Typisch für viele dieser Texte, auch wenn sie im Feuilletonhabitus daherkommen,

ist der unverkennbare

Einfluß von politischem oder kulturkritischem Gedankengut, in «Musterstaaten» so deutlich wie in der Kaffeehausbegegnung mit dem entkommenen Wiener Schutzbündler («Ein Rebell»). Das führt bis zu zornigen Protesten gegen mancherlei Beeinträchtigungen seines Alltags, oder, um es modisch auszudrücken, gegen die Verminderung der Lebensqualität durch aufdringliche Radiofluten, Reklamewucher und Zersiedelung der Landschaft, aber auch durch Denkmäler und die pompöse Leuchtfontäne, die sein Auge beleidigten. Da reicht dann die Skala der Stilmittel von feiner Ironie und cholerischem Grollen bis zur ungeschminkt drastischen Verspottung — wie müßte er sich erst vor den heutigen zivilisatorischen Auswüchsen empören! In Skizzen wie «Kieselsteine» oder «Tag der Geschichte» begegnet uns dann wieder ein ganz anderer Zollinger: der Meister der oft beschworenen Iyrischen Prosa. Besondere Kostbarkeiten unter diesen vermischten Schriften sind die Huldigungen an Städte und Landschaften, darunter das liebenswürdige Kompliment des Zürcher Oberländers an das Rüebliland, den «dun-

keläugigen Kanton», für Zollinger ohne Spott ein richtiger Kulturkanton. Das gute halbe Dutzend Beiträge zum Thema Zürich in seiner ganzen muntern Vielfalt ruft der Vermutung, daß ein Stadtbuch mit Albin Zollinger als Textautor sich auch in der heutigen Zürichbuch-Inflation nicht zu

382

verstecken brauchte! Wo, beispielsweise, findet man eine verschmitztere Charakterisierung der Gnomen von Zürich,

längst bevor dieser Begriff erfunden ward: «Gott strafe den Mammon, aber seiner Verdienste soll gedacht sein... Bankiers sind aus Metall gemacht, das Herz ist ein’ Tresor, aber

irgendwo in ihrer Stahlkonstruktion scheint ein Wohlwollen für die Künstlerbande zu gedeihen, sie überlassen ihr Zigarren und Taler für den Gegendienst einer Malerei, eines Bildwerks, eines Palastes. Gelobt sei die Großmannssucht, die das Schöne nicht haßt.» («Das heimliche Zürich» 1927)

Zählt man die publizistischen Arbeiten Zollingers, die in diesem Band oder in den Gesammelten Werken I (1961) erstmals gedruckt wurden, kommt man auf eine beträchtliche Zahl, die Zollinger zu Lebzeiten bei den Redaktionen nicht anbrachte, allenfalls gar nicht anbot; daß weitere unter den «Bergen» auf den Redaktionstischen verloren gingen, muß als fast sicher angenommen werden. Aus den Erstdrucknachweisen kann man ablesen, wie weit herum ein Schriftsteller und Publizist sich bemühen mußte, seine Arbeiten unterzubringen. Zieht man auch die Gedichte und Erzählungen der Bände IV und V heran, kommt man von Zürich und Uster bis Luzern, Bern und Basel auf nicht weniger als 33 Zeitungen und Zeitschriften, in denen Zollinger während 22 Jahren Beiträge unterbrachte. Für die erstaunliche Spannweite seines Schaffens ist dieser abschließende Band der Werkausgabe ein eindrücklicher Beleg. Die inhaltliche und formale Vielfalt von der gepfefferten Polemik im politischen Kampf bis zu den Liebeserklärungen an Zürich oder Parıs und den literartheoretischen Essays, von den erbitterten, oft wiederholten Klagen über Mißstände im schweizerischen Literaturbetrieb bis zur Innigkeit eines Feuilletons wie «Das Wunderchen» — das alles gehört neben der Lyrik und der Erzählprosa unabtrennbar zu Zollinger. Müßig daher das Ausspielen des «politischen» Zollinger gegen den Lyriker und Erzähler oder umgekehrt. Albin Zollinger steht für beides, dafür sorgten die Zeitläufte: er ist der empfindsame, feinnervige Dichter wie der mutig engagierte Zeitgenosse. Sein Gesamtwerk ist ein besonders reicher und schlüssiger Beweis dafür, daß solche Einheit nicht nur möglich sondern auch fruchtbar ist, daß der Sinn tatsächlich gleicherweise dem Schönen und dem Gerechten 383

offenstehen kann. Nicht aus polemischer Streitlust oder aus Ressentiment verließ Zollinger früh schon die Gefilde reiner Dichtung. Er tat es, weil er erkannte, daß die Arglist der Zeit ihn und seinesgleichen auch als mitverantwortliche Zeitgenossen in Pflicht nahm, daß es vor dem sich rasch verdü-

sternden Horizont kein Verharren bei formvollendeter Lyrik und Prosa gab. Ebenso wenig mochte er sich aber seiner Bestimmung als Dichter entziehen — «haben nicht die Amseln auf Schlachtfeldern weitergesungen und wohlgetan?’» («Weshalb Lyrik?» 1939). Skeptischer, ja trauriger sinnierte er dann am Ende des ersten Kriegswinters in einem Brief an Hermann Hesse über «die heute fast verbrecherisch anmutende Tugend des Versemachens» (April 1940). Respekt erfüllt uns Nachgeborene vor Zollingers freiwillig übernommener, schwer lastender Doppelaufgabe als Dichter und Mahner.

Sie setzte ıhn einer Zerrissenheit aus, die im

Verein mit dem in seinem Lebenswerk besonders deutlich zu Tage tretenden Mißverhältnis zwischen Einsatz und Wirkung nicht wenig zum frühen Tod beigetragen haben mochte. Zollinger trug an seiner Bürde gewiß schwerer als der von ihm gern zitierte Gottfried Keller, der schon in seinen frühen Tagebüchern die Notwendigkeit bekannte, «sein Schicksal an dasjenige der öffentlichen Gemeinschaft» zu binden, aber auch wie selbstverständlich zu des Dichters Doppelfunktion notierte: «Der Dichter soll seine Stimme erheben für das Volk in Bedrängnis und Not; aber nachher soll seine Kunst wieder der Blumengarten und Erholungsplatz des Lebens sein» (8.8. 1843). «Blumige Mahd» und «tödliche Wetter» hieß das Bildpaar dann ein knappes Jahrhundert später bei Albin Zollinger. Sein Dazwischenstehen hat er nirgends bewegender bekannt als in der letzten Nummer seiner «Zeit» vom Oktober 1937;

dieses Bekenntnis beschließe daher auch die Werkausgabe. Hermann Hesse hatte Zollinger seine Erzählung «Indischer Lebenslauf»

geschickt,

in der es, wie Zollinger for-

mulierte, «um das Hessesche ewige Thema Welt-Jenseits» geht. Von dieser Gegensätzlichkeit fühlte sich Zollinger angerufen: «Meister, die Mahnung kommt mir nicht fremd, sie redet täglich aus mir selber! Was tut der Mensch, der, zum Traum geboren, sich in die Händel der Welt mischt? Verrät er das 384

Höhere, verrät er sich selbst? O der täglichen Not aus dem Zwiespalt, in den ihn sein Sinn gerade fürs Schöne und Gerechte setzt!» Gustav Huonker

Zu dieser Ausgabe

Mit diesem 6. Band der Werkausgabe sollen Zollingers publizistische Arbeiten der Jahre 1924 bis 1941 möglichst vollständig vorgelegt werden, inbegriffen seine «redaktionellen Bemerkungen» zu Artikeln in der «Zeit». Es ist durchaus nicht

unwahrscheinlich,

daß

die eine oder andere

Arbeit

Zollingers unserer Aufmerksamkeit entging, auch muß angenommen werden, daß Skripten auf den Redaktionen oder bei Zollingers häufigen Wohnungswechseln verloren gingen. Die Hoffnung ist aber berechtigt, daß die beigebrachten Beiträge die ganze beeindruckende Bandbreite von Zollingers publizistischem Schaffen abdecken. Von den ursprünglich in Zeitungen und Zeitschriften von Zürich bis Bern und Basel weit verstreuten 152 Texten dieses Bandes erscheinen 117 hier erstmals in Buchform, 28 sind zu Lebzeiten Zollingers ungedruckt geblieben. Von Anfang an drängte sich eine thematische Gliederung der Texte auf, wabeı in Grenzfällen die Zuordnung zu einer der vier Hauptabteilungen: politische Schriften; kulturpolitische und literartheoretische Texte; Rezensionen und Würdi-

gungen von Künstlern; kleine Prosa verschiedene Möglichkeiten offen ließ. Innerhalb der ersten drei Abteilungen sind die Arbeiten prinzipiell chronologisch aufgeführt; Ausnahmen gibt es zugunsten der Bündelung thematisch verwandter Arbeiten, wie zum Beispiel für die Artikel zum spanischen Bürgerkrieg oder die literartheoretischen Untersuchungen. Bei den Rezensionen folgen sich jeweils die Arbeiten über denselben Autor unmittelbar, an letzter Stelle ste-

hen die Aussagen Zollingers über Zollinger. Bei der kleinen Prosa des vierten Teils erübrigten sich chronologische Einreihungsüberlegungen, weil die Entstehungszeit vieler dieser Texte nicht feststeht. Die schließlich vom Herausgeber vor-

386

genommene Gruppierung der 46 Prosastücke nach Beiträgen über Städte und Landschaften; Texte mit politischem oder kulturkritischem Einschlag; Porträts und Feuilletons ließe sich im einzelnen gewiß auch anders denken. Zollinger selber hatte sich mehrmals mit ‘der Absicht getragen, Prosatexte, die er u.a. «kurze Stücke», «kleine Stücke» oder «Skizzen» nannte, zu einem Band zusammenzustellen. Am 3. September 1934 teilte er dem Zürcher Verle-

ger Max Rascher mit, für nächstes Jahr liege ein Bändchen kurze Stücke «Kieselsteine» nahezu fertig vor. Es kam aber nicht zu dieser Publikation, es ist auch unbekannt, welche Texte Zollinger dafür zusammengestellt hatte. Notizen für den Lesezirkel Hottingen vom Mai 1936 lassen auf eine Weiterverfolgung des Plans schließen, und im Nachlaß Traugott Vogels findet sich eine Sammlung «Kieselsteine», zu der Zollinger neben dem Titelstück folgende Texte zusammengestellt hatte: «Volk ohne Schau», «Tendenzkunst», «In der Corbusierausstellung», «Grübelei», «Epigon», «Gleichnis», «Sturm über Europa». Der Bezug auf die Landesausstellung in «Volk ohne Schau» läßt zwar auf das Datum schließen (1938/39), für die Vollständigkeit dieses erneut geplanten «Kieselstein»-Bändchens bietet das unpaginierte Konvolut jedoch keinerlei Gewähr. Da sich nirgends Gesichertes über die oft variierten Pläne des Dichters ausmachen ließ, sind die

kleinen Stücke im vorliegenden Band nach ihrer inhaltlichen Verwandtschaft eingereiht worden. Traugott Vogel brachte 1954 ın seiner «Bogen»-Reihe ein Bändchen «Kieselsteine» seines Freundes Zollinger heraus. Es enthielt neben dem Titelstück die Texte «Das Opfer», «Musterstaaten», «Kannibalengericht», «Hermann «Bücher», bedeutet aber

Hesse», «Lesende Dame» und selbstverständlich keine Rekon-

struktion einer authentischen Zusammenstellung durch den Dichter. Der vorliegende Band enthält auch einige un- oder unvollständig gezeichnete Arbeiten, die mit annähernder Sicherheit Zollinger zuzuschreiben sind. Sie befinden sich jeweils am Schluß der vier thematischen Abschnitte. Die Beschaffung der Texte für diesen Band fußt zum schönen Teil auf dem Werkverzeichnis in Paul Häfligers Monographie «Der Dichter Albin Zollinger», bot aber darüber hinaus zusammen mit der Erarbeitung des Anmerkungsteils beträchtliche Schwierigkeiten. Sie wären ohne die 387

bereitwillige Unterstützung zahlreicher Helfer nicht zu meistern gewesen. Mein herzlicher Dank gilt in erster Linie der geduldigen, uneigennützigen Hilfsbereitschaft von Frau Silvia Weimar. Sie hat mit ihrer Zollinger-Ausstellung 1981 im Predigerchor der Zürcher Zentralbibliothek wichtige Grundsteine für die gesamte Zollinger-Ausgabe gelegt, besonders auch für diesen 6. Band, der auch weiterhin außerordentlich

von ihrem Entdeckerspürsinn und ihren sachkundigen Ratschlägen profitierte! Wertvolle Erleichterung der Arbeit bedeutete mir die vertrauensvolle Großzügigkeit Walter Webers, Grüt, der mir über Jahre seine Zeitschriftensammlung

von der ersten «Flugblatt»- bis zur letzten «Zeit»-Nummer überließ. Otto Böni, Sekretär des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, und Roman Schönauer vom Zürcher Stadt-

archiv trugen mit Ausdauer und Findigkeit Wesentliches zur Klärung vieler Kommentarprobleme bei. An sie und all die ungenannten Helfer richtet sich mein aufrichtiger Dank.

Textgestaltung Es gilt dafür im wesentlichen, was Silvia Weimar für den Band Werke V ausführte: Obwohl von Haus aus Lehrer, hat

sich Zollinger in seinem literarischen und publizistischen Schaffen «weder konsequent an die geltenden Orthographieund Interpunktionsregeln gehalten, noch sich ganz konsequent von ihnen entfernt». Vor allem die Abdrucke seiner Artikel und kleinen Prosastücke in Zeitungen und Zeitschriften sind «in diesen Dingen nicht als autorisiert zu betrachten», weil Zollinger, entsprechend der Zeitungspraxis, kaum je Korrektur gelesen hat. Dafür haben die verschiedenen Redaktoren und Setzer seine Texte nach der Praxis ihrer Blätter gewissen Vereinheitlichungen unterzogen und dabei «neue Inkonsequenzen hineingebracht, sowohlje für sich als auch im Vergleich untereinander». Die Texte sind deshalb auch im vorliegenden Band im großen ganzen der heutigen Regelung angenähert, ganz abgesehen auch von der Berichtigung zahlreicher Druckfehler. Wo Skripten und Druck zu Lebzeiten Zollingers überliefert sind, ist der Druck die Textgrundlage, sofern nichts anderes vermerkt; in allen anderen Fällen sind es die Skripten. Die 388

Zentralbibliothek Zürich und Magdalena Vogel haben die Skripten zur Verfügung gestellt und die Publikationserlaubnis erteilt, wofür ihnen auch an dieser Stelle gedankt sei,

ebenso Hilde Ribi-Brunner, die den Zollinger-Nachlaß der Zentralbibliothek um viele wertvolle Dokumenite bereichert hat.

Anmerkungen

l. Überlieferung: Ms bedeutet immer «Manuskript» (Zollingers), 7s immer «Typoskript». Verwendet sind außerdem zwei Siglen für die Provenienz der Skripten: Z = Nachlaß Zollinger (Zentralbibliothek Zürich), V = Nachlaß Traugott Vogel, Ms Z z.B. heißt also: Manuskript im ZollingerNachlaß der Zentralbibliothek Zürich. Die Drucke sind so angegeben, daß keine Erläuterungen nötig sind. Abgekürzt werden: Gesammelte Werke = Albin Zollinger, Gesammelte Werke. 4 Bände. Zürich: Atlantis 1961/62; Werke = Albin Zollinger, Werke. 6 Bände. Zürich/ München: 1981 ff. Beide Werkausgaben werden mit Bandzahl (römische Zahl) und Seitenzahl (arabische Zahl) zitiert. Seitenzahlen ohne Bandangabe bezichen sich immer auf den vorliegenden Band. 2. Kommentar: Hinweise auf auslösende Anstöße für die Abfassung einzelner Artikel, auf biografische Entsprechungen und auf gleiche Motive in Romanen und Gedichten, wobei auch auf die ausführlichen Anmerkungen in den Bänden Werke II-V zurückgegriffen werden konnte. Das Hauptgewicht des Kommentars liegt in diesem Band auf der Klärung der zeit-, kultur- und lokalgeschichtlichen Hintergründe und Gegebenheiten. Dazu werden gelegentlich ganz oder in Auszügen auch umfangreichere, praktisch unbekannte Dokumente herangezogen: Briefe, Protokolle, aber

auch Artikel, die zum Verständnis von Zollingers publizistischen Reaktionen nötig sind. Zur Entlastung des Anmerkungsapparats wurde dagegen weitgehend auf jene Namenund Sacherklärungen verzichtet, die leicht aus Lexika zu beziehen sind.

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BERN, 2. April 1932 » Erscheint jeden Samstag * Preis 20 Rp. » No. ı e n nn een. an HERAUSGEGEBEN VON FELIX MCESCHLIN e VERLAG FEUZ, BERN

Titelblatt der ersten Nummer von Felix Moeschlins Wochenzeitschrift «Das Flugblatt». Nach einem Jahr wurde es von der «Zeitglocke» abgelöst, die im Februar 1934 in «Die Zeit» überging. Bis im März 1936 war Zollinger nur mit wenigen Beiträgen vertreten. Der Titelholzschnitt «Badende im Walde» stammt von Theo Glinz; Nummer 2 brachte auf dem Titelblatt eine Grafik mit den gegenläufigen Kurven von Export und Arbeitslosigkeit.

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Albin Zollinger im Dezember 1938. Bleistiftskizze seines Freundes Traugott Vogel, der zu den Doppelbegabungen in der schweizerischen Literatur gehört. Zollinger widmete dem Zeichner T.V. 1939 in einem Artikel Lob und Anerkennung.

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Undatierter Dankbrief Zollingers an Traugott Vogel. Dieser war seinem Freund am 25. August 1935 in der «NZZ» mit einer, wie er hoffte, «vermittelnden Darstellung» beigesprungen, als ein anonymer «Bücherfreund» Zollinger beschuldigte, die Literatur zu deren Schaden verpolitisieren zu wollen.

Bern, Oktober 1937 V, Jahrgang : Nr. 6

DIE ZEIT Kunst,

Literatur,

Leben

Mit der Oktobernummer 1937 mußte «Die Zeit» ihr Erscheinen einstellen. Auf der Rückseite des Titelblattes mit der Radierung von Fritz Pauli der Abschied Zollingers «An unsere Leser», aus dem Enttäuschung und Bitterkeit über die mangelnde Unterstützung duch die schweizerische Presse sprechen.

Anmerkungen

Nachklang zu den Manövern (S. 7) Schweizerische Republikanische Blätter, Rapperswil, 3. 10. 1925 Im September 1925 fanden große Manöver der 5. und 6. Division statt; die «NZZ» berichtete darüber u.a. unter Titeln wie «Bilder von den Herbstmanövern» und «Manöverbilder». Ein Volk ohne Waffen (S.7) Das freie Wort, Uster, 19. 10.1928 Heinrich Hanselmann (1885-1960), Heilpädagoge, 1932 Professor an der Universität Zürich; Gründer des heilpädagogischen Seminars und des Landerziehungsheims Albisbrunn; Autor seinerzeit viel beachteter Erziehungs- und Lebenshilfebücher, u.a. «Fröhliche Selbsterziehung» (1933), «Erziehungsberatung» (1937), «Kind und Musik» (1952). Ulrich Wille (1848-1925), General und damit Oberbefehlshaber der schweizerischen Armee von 1914-1918. Der Krieg als Genius (S.9) Raschers Monatshefte, Zürich, 1931/9 (August) Frank Thiess (1890-1977), deutscher Schriftsteller und Thheaterkritiker; zahlreiche Romane mit zeit-, kulturgeschichtlichem und biografischem Hintergrund. In der Berliner Wochenzeitung «Die literarische Welt» vom 12.12. 1930 nannte er in seinem Artikel «Ramuz und wir» den Westschweizer zwar den einzigen bedeutenden Dichter der Schweiz, der aber dennoch zusehends «unwichtiger wird für uns». Denn «die Geburt einer neuen Dichtung» geschehe in Deutschland, wojetzt die Erschütterungen von Krieg und Nachkrieg ausgetragen würden. «Gerade diese Erregtheit schafft die einzig fruchtbare Zone für die große Kunst.» Ein Abgrund klaffe zwischen den bequemen Neutralen auf ihren Parkettplätzen und denen, «die notgedrungen Weltgeschichte agieren». Zollingers Erwiderung auf diesen hochmütigen Artikel brachte die «literarische

Welt» nicht; im Nachlaß ist keine Kopie erhalten; im Brief an Traugott Vogel vom 13.1. 1931 heißt es: «Ich antwortete in einem nicht dummen Artikel.»

2339

Militärgericht über einen Dichter (S. 11) Der Geistesarbeiter, Zürich, Januar 1932. Auch in: drehpunkt 56, Basel, Juni 1983 Albert Ehrismann, geb. 1908 in Zürich, lebt hier seit der Rekruten-

schule als freier Schriftsteller, vorwiegend Lyrik. 1930 der erste Gedichtband «Lächeln auf dem Asphalt»; 1939 für die Tage der Arbeit an der Landesausstellung zusammen mit Kurt Früh die dramatische Erzählung «Der neue Kolumbus». 1978 Literaturpreisträger der Stadt Zürich. Vor seinem zweiten Wiederholungskurs verweigerte er den Militärdienst; das Divisionsgericht V a verurteilte ihn zu acht Wochen Gefängnis, die er im alten Gerichtsgebäude Meilen absaß. gewissermaßen einen Rettich: im Gegensatz zur stillen Rebellion des Lyrikers witterten die Militärrichter hinter dem zweiten Angeklagten des Vormittags den militärfeindlichen politischen Agitator und brummten ihm das doppelte Strafmaß auf. Zollinger erinnerte sich an ein Spottgedicht Mörikes, in dem dieser den Leser eines faden Gedichtbüchleins nach kräftigerer Kost Ausschau halten läßt: «Lief in den Garten hinterm Haus, / Zog einen herzhaften Rettich aus, / Fraß ihn auf bis auf den Schwanz, / Da war ich wieder frisch und

genesen ganz.» Die Redaktion des «Geistesarbeiter» hatte das «fraß» schamhaft verniedlicht — der zweite Verurteilte des Vormittags beklagte sich aus dem Gefängnis bei Ehrismann, auch Zollinger halte ihn wohl für einen besonders «scharfen Rettich». «Die Männer in Feldgrau» waren Staatsanwalt Dr. Eugster als Divisionsgroßrichter und Staatsanwalt Dr. Pfenninger als Auditor. Zollinger hatte dem Prozeß mit Felix Moeschlin, Hermann Hiltbrunner u.a. als Zuschauer beigewohnt. Über den jungen Ehrismann 1931: «Nicht wahr, Ehrismann ist ein sympathischer Siech. Ich bin auch verliebt in ıhn.» («Briefe an einen Freund») Demokratische Handhabung der Volksschule (S. 12) Das freie Wort, Uster, 22.11.1929 aus weidlicher Erfahrung: s. Nachwort S.349f. und Anmerkung

S. 464 ff. Geschichte in Zeit und Vergangenheit (S.16) Ts Z. Die Zeit, Bern, 9.6. 1934

Opera buffa (S. 19) Überlieferung Ts Z:

19 A4-Blätter,

handschriftlich

paginiert

1-19,

mit hand-

schriftlichen Korrekturen. Ts V: Durchschlag von Ts Z; auf dem Titelblatt die handschriftliche Bitte: «Sag mir ehrlich Deine Meinung darüber. Herzlich grüßt Dich Z.» Datiert vom 26. November 1934. Einige wenige Abweichungen vom Ts Z: Auf Seite 7 unter dem Schimpflied des Handelsreisenden die fünfzeilige maschinenschriftliche Regieanweisung:

396

(Setzt sich zum Frühstück. Die Frau von vierzig...) Im Ts Z an dieser Stelle handschriftlich: Aus meiner gedruckten Sammlung; oben an der Seite, ebenfalls handschriftlich:

Intermezzo; Morgenlater-

nen. Seite 9 unten im Ts V maschinenschriftliche Regieanweisung: (Der Poet mit Blatt...) . Textgrundlage das Ts V mit ausgeschriebenen Personennamen; bei Zollinger von S.2 unten an meistens nur die Anfangsbuchstaben, also P. für Portier usw.

Druck Hortulus. Illustrierte Zweimonatsschrift für neue Dichtung. St. Gallen, Dezember 1960, S. 173-186 Teilabdruck in: Grenzgänge. Ein Lesebuch. Hg. Hans Rud. Hilty, Zürich, 1981 Neben handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen Zollingers finden sich in den Typoskripten auch einige (mehrheitlich orthographische) Eingriffe von fremder Hand. In der Vereinheitlichung der Mundartschreibweise, die 1934 ja keineswegs gesichert war, folgt dieser Text weitgehend dem Erstdruck (z.B. Abrüschtig statt Abrüstig). Entstehung Walter Lesch bestellte bei Zollinger eine größere Programm-Nummer fürs «Cornichon» und munterte ihn in einem Brief vom 11. September auf: «...ein Hechtsprung in neue Gewässer tut immer gut.» Zollingers «Opera buffa» wurde dann aber nicht in die Politrevue «Grand Hotel Gloria Viktoria» von Walter Lesch (18981958) und Max Werner Lenz (1887-1973) aufgenommen, obschon Lesch Zollinger für seine «Maßarbeit» dankte. Zollingers Frage auf dem Titelblatt des Durchschlags für Traugott Vogel erfolgte rund 10 Tage nach der Premiere; nach der Absage durch die Oabaretleute lag ihm wohl am Urteil des Freundes. Auch Vogel war übrigens um Mitarbeit angegangen worden. Er schickte Lesch zwar ein paar Themenvorschläge, lehnte aber aus «Talent- und Zeitmangel» den Auftrag ab. Nach dem Mißerfolg mit ihrem ersten Programm engagierten die Cornichonleute für ihr «Grand Hotel» neue Kräfte, darunter Trau-

te Carlsen (1887-1968), später langjähriges Ensemblemitglied des Schauspielhauses, und als Hotelportier Zarli Carigiet (1907-1981). In ihren privaten ungedruckten Erinnerungen erwähnt Heidi Ehmcke-Senn, Zollingers erste Frau, daß Carigiet mit ihrem Bruder befreundet war und Emil Hegetschweiler (1887-1959), Mitbegründer und beliebter Darsteller im «Cornichon», ein guter Freund Zollingers gewesen sei.

3

Anmerkungen Früh wenn die Sterne krähn: Parodie auf Mörikes Gedicht S. 19 «Das verlassene Mädchen»; hier dessen erste Strophe: Früh, wann die Hähne krähn, Eh die Sternlein verschwinden, Muß ich am Herde stehn, Muß Feuer zünden. an ire Abrüschtigskonferenze: 1932/33 tagte in Genf eine von 21 60 Staaten beschickte Abrüstungskonferenz ohne greifbare Resultate. De Präsidänt Wilson: Thomas Woodrow Wilson (185621 1924), 28. Präsident der USA von 1913-1921. Seine im

Januar 1918 verkündeten, teilweise idealistischen Kriegsziele in «vierzehn Punkten» ließen sich auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 nur in Ansätzen verwirklichen. Der Senat verweigerte 1920 auch den Beitritt der USA zu dem von Wilson angeregten Völkerbund. 21

22 23 28

de Henderson: Arthur Henderson (1863-1935), britischer Labourpolitiker, 1929-31 Außenminister; maßgeblich an

der Einberufung der Genfer Abrüstungskonferenz beteiligt, deren Vorsitz er innehatte. 1934 Friedensnobelpreisträger. mit sim Pfnüsel: mundartlich für Schnupfen. Sie wollen... den Kaferberg machen: sanfter Höhenzug, nordwestliche Fortsetzung des Zürichbergs, knapp 600 m hoch. daß ihr ihn... einen Kaiserling nennt: Nach seiner Abdankung im November 1918 lebte der deutsche Ex-Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) im holländischen Exil, von 1920 an auf Gut Doorn. Das Wortspiel vom Kaiserling bezieht sich auf Hermann Graf von Keyserling (1880-1946), deutscher Schriftsteller und Kulturphilosoph. In dessen «Spektrum Europa» (1928), das Zollinger im Januar 1931 las, finden sich auch kritische Bemerkungen über den «heutigen Schweizer mit troglodytischen Residuen». Zollinger stimmte «im großen Ganzen» zu: «Er sagt mit klugen Worten das, was ich immer empfand... Ein unsympathischer, aber gescheiter Kerl» («Briefe an einen Freund», 27.1.31). Zollinger war aber auch der Meinung, die kritische Haltung Keyserlings und des Schriftstellers Frank Thiess der zeitgenössischen Schweizer Literatur gegenüber brächten diese in Deutschland in Mißkredit, zumal das breite Lesepublikum im Reich immer noch auf die «begnadeten» Zürcher Auflagenkönige Ernst Zahn (1867-1952), J. C. Heer (1859-1925) und Heinrich Federer (1866-1928) mit ihren Bergromanen schwöre.

398

auch daß er Geyer heißt: der Deutsche Ludwig Geyer gewann die 1934 zum zweitenmal durchgeführte Tour de Suisse. Der Handelsreisende singt sein Schimpflied: bereits gedruckt in der Sammlung «Gedichte» von 1933 (s. Werke IV S. 58f. und 454). Der Poet: Parodie auf «Hyperions Schicksalslied» von Friedrich Hölderlin (1770-1843): «Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien!

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Heidi Ehmcke-Senn beurteilte in ihren Erinnerungen Zollingers einzige Cabaret-Arbeit recht bitter: «Albins «Opera buffa>...; dies nun kann ich nicht begreifen, und ich finde sie offen gestanden geschmacklos, seine Parodie auf Hölderlin. Wie konnte er? Er war doch einer seiner «Heiligem. Aber darin, in satirischen Dingen, verlor er hie und da wohl sein feines Empfinden und seinen Takt.» «...In seiner gestrigen Rede»: am Ende des Ts Z der handschriftliche Vermerk: «Von den Rundfunktexten könnte auf dem Programm notiert werden, daß sie mehrheitlich der N.Z.Z. vom 21. September 1934 entnommen sind.» für den Chacokrieg: Im Drang nach einem Zugang zum Meer über den Paraguay-Fluß führte Bolivien mit Paraguay von 1932-35 den verlustreichen und praktisch erfolglosen Gran Chaco-Krieg. mit dem schönen Namen Werkzeugmaschinenfabrik: Die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon-Bührle AG, die auch Waffen herstellt und exportiert, in den dreißiger Jahren und im Zweiten Weltkrieg lieferte sie u.a. das berühmte 20 mm-Flabgeschütz Oerlikon. das Armbrüstlein garantiert dafür: Im Frühjahr 1932 richtete die Zentralstelle für das schweizerische Ursprungszeichen, die Ende 1931 ins Leben gerufen wurde, einen Aufruf

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hieß:

«... Die Armbrustmarke will neben den Standard-, Qualitäts- und Eigenmarken angewendet werden... Daß die schweizerische Inlandproduktion sich als schweizerisch in den heutigen Krisenzeiten zu erkennen geben darf, steht wohl fest; unseres Erachtens darf aber auch die Exportindustrie zu ihren Produkten durch Anbringung eines Ursprungszeichens stehen.» sich einen arischen Rückenzwick zu geben: sich aufzuraffen; rassig seinen Mann stellen. Zwick mundartlich für Endstück der Peitschenschnur.

399

Rebellion der Stillen (S.36) Volksrecht, Zürich, 20.12.1934. Auch in: drehpunkt 56, Basel, Juni 1983 der 12. Dezember beglückte mich: s. Nachwort S. 352. die Berechtigung der Demonstration gegen die «Pfeffermühle»: Von 19331936 gastierten Erika Mann und Therese Giehse mit ihrem antifaschistischen Cabaret «Pfeffermühle» in verschiedenen Staaten. Im November 1934 kam es im und vor dem Zürcher Kursaal zu handfesten Krawallen (s. Nachwort S.352). Albert Ehrismann teilte Zollinger mit, wie er und «Freunde aus allerlei Kunstfakultäten» halfen, die Radaubrüder aus dem Saal zu treiben. Zollinger antwortete mit folgendem Brief: Lieber Ehris,

Bei der Lektüre Deines Briefes zitterte ich an allen Gliedern. Wahrlich nicht aus Furcht, sondern vor Bedauern, nicht dabei

gewesen zu sein. Der idiotischste morgenländische Streithahn erwacht dann in mir. Wahrscheinlich bist Du ethisch und theoretisch im Recht, nicht zuschlagen zu können; aber ich, ich fürchte, daß ich zuschlagen würde.

O die feige Bubenbande! Dergleichen kuriert mich jeweils sogleich von allerlei objektivem Zugeständnis guter Absichten, die hinter diesen jungen Leuten stehen möchten. Gerade, weil ich so gar nicht für die Beweise des Knüppels bin, die feigen Beweise des Knüppels. Mittelalter 1934! Es kommt finster heran; aber wir wollen Glauben und Mut nicht

verlieren. Siegte nicht im Prinzip durchschnittlich das Positive, so bestünde die Welt schon lange nicht mehr. Herzlich Dein Zollinger Der mehrheitlich sozialdemokratische Zürcher Stadtrat beauftragte die Polizei, das «Pfeffermühle»-Gastspiel zu schützen; der bürgerliche Kantonsrat fand aber 1935 einen Weg, das ihm mißliebige Unternehmen abzuwürgen. Er erließ ein Gesetz, das «ausländischen Cabarets mit politischer Tendenz» das Auftreten im Kanton Zürich untersagte. Andere Gemeinde- und Kantonsparlamente folgten seinem Beispiel. Erika Mann (1905-1969), älteste Tochter Thomas Manns, Schauspielerin, Publizistin, Schriftstellerin (u.a. «School for Barbarians»,

1938, über Kindererziehung unter Hitler; 1961-65 dreibändige Ausgabe von Briefen Thomas Manns). Am 1.1. 1933 eröffnete sie in München das politisch-literarische Cabaret «Die Pfeffermühle», das dort bis Ende Februar 1933 spielen konnte. Im März ging sie ins Exil in die Schweiz;

1936 Ende der «Pfeffermühle» nach Mißer-

folgen in den USA. Therese Giehse (1898-1975), Münchner Schauspielerin; von 1933 an am Zürcher Schauspielhaus, mit Unterbrüchen in der Nachkriegszeit. Berühmt gewordene Rollengestaltung u.a. als Brechts «Mut-

400

ter Courage», als Mutter Wolffen in Hauptmanns «Biberpelz» oder Claire Zachanassian in Dürrenmatts «Besuch der alten Dame». eine so schmierige Sache wie das «Grüezi»: am 3. November

1934 fand

im Zürcher Stadttheater die «Welturaufführung» der Revue-Operette «Grüezi» von Robert Stolz (1880-1975) statt. Die kuriose Mischung von Wiener Walzermusik und Postkartenschweiz wurde mit 39 Vorstellungen trotz Protesten aus Trachten- und Schriftstellerkreisen zum absoluten Saisonhit! Alois Carigiet (als Gast) machte das Bühnenbild;

im Ensemble

standen

zwei weitere beliebte

Gäste: der Konditor und Cornichon-Mitarbeiter Emil Hegetschweiler und die Kommunistin Mathilde Danegger vom Cornichon und Schauspielhaus. Presse 1935

ohne

Kinderstube

(S.39)

Die Zeit, Bern, 9. November

Spielregel (S.40) Die Nation, Bern, 17.3.1938 Geistige Landesverteidigung (S.41) Die Zeit, Bern, Juni 1936. Auch in: orte 17, Zürich, Dez. 77/Jan. 78, sowie in: drehpunkt 56, Basel, Juni 1983 die Bodmer und Bereitinger: Johann Jakob Bodmer (1698-1783), Schriftsteller, Literaturkritiker, Historiker und Politiker; gründete

1727 die Helvetische Gesellschaft. Johann Jakob Breitinger (17011776), Altphilologe, Literaturkritiker. Im Literaturstreit gegen Johann Christoph Gottsched (1700-1766) betonten die beiden Zürcher die entscheidende Bedeutung der Phantasie für die Dichtung gegen die Ansichten der rationalistischen Leipziger Schule. Als Korrespondenten, Lehrer und Gastgeber bedeutender Zeitgenossen wie Lavater, Klopstock, Wieland und Goethe machten sie Zürich über Jahrzehnte zu einem berühmten kulturellen Zentrum. Fabrikations-Armbrüstchen: s. Anmerkung S. 399

Zum Thema (S.44) Zürcher Illustrierte, 8.3. 1938 Nach den Sondernummern «Militärische Landesverteidigung» und «Wirtschaftliche Landesverteidigung» kam die Redaktion in dieser Sondernummer zur «Geistigen Landesverteidigung» im Vorwort auf ähnliche Gedanken, wie sie Zollinger mehrfach geäußert hatte: «Gegen wen haben wir uns zu verteidigen? Gegen allerlei Geschriebenes und Gehörtes aus dem Ausland? — Gegen uns haben wir uns zu verteidigen! Gegen Gleichgültigkeit, gegen Engherzigkeit, Parteilärm, gegen alle möglichen Entartungen unseres eidgenössischen Lebens... Jeder ist bei uns jederzeit für den Gang des Ganzen verantwortlich. Dieses Gefühl lebendig in sich zu erhalten ist geistige Landesverteidigung.» Für unsere Arbeitslosen (S.45) Ts Z

401

Neutralität (S.46) Volksrecht, Zürich, 15.8.36. Auch in: drehpunkt 56, Basel, Juni 1983 Die freisinnige Parteileitung hat eine Warnung: s. Nachwort, S.358f. Oberrichter’Dr. Adolf Lüchinger, von 1943-47 Zürcher Stadtpräsident, damals Präsident des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks, wollte in der «NZZ» erwidern, wo man aber die direkt Angegriffenen nicht zu Wort kommen ließ. Lüchingers Stellungnahme erschien daraufhin u.a. im «Öffentlichen Dienst» des VPOD: «... Mit seiner Geldsammlung bezweckt das Schweiz. Arbeiterhilfswerk in keiner Weise, die militärischen Vorgänge in Spanien zu beeinflussen, sondern die Notlage derjenigen Familien zu lindern, die infolge der Auslösung des Bürgerkriegs durch die faschistischen und reaktionären Kreise ihres Ernährers beraubt oder sonst in eine Notlage versetzt wurden» (1936/Nr. 35). Der Fall Mühlestein

(S.47) Die Zeit, Bern, Januar 1937

Hans Miühlestein (1887-1969), engagierter linker Gesellschaftskritiker, Etruskerforscher, Kulturphilosoph und Schriftsteller (Roman, Erzählungen, Drama, wissenschaftliche Publizistik, Essays). bei dem strafbaren Vorfall: s. Nachwort S. 359 vor dem bundesrätlichen Erlaß: Bern, 14. Aug. ag. Gestützt auf Art. 102,

Ziff. 9, der Bundesverfassung hat der Bundesrat beschlossen: l. Die Ausreise aus der Schweiz zur Teilnahme an den Feindseligkeiten in Spanien ist jedem Schweizer und jedem Einwohner der Schweiz untersagt. Dieses Verbot bezieht sich nicht auf die spanischen Staatsangehörigen. Die Polizeiorgane des Bundes und der Kantone haben die Ausreise aus der Schweiz zum genannten Zwecke zu verhindern. Art. 94 des Militärstrafgesetzbuches bleibt vorbehalten. 2. Die Feindseligkeiten in Spanien dürfen von der Schweiz aus in keiner Weise unterstützt oder irgendwie begünstigt werden. Die Generaldirektion der PTT.-Verwaltung wird angewiesen, keine Geldsendungen, die eine solche Unterstützung oder Begünstigung bezwecken, anzunehmen.

In der Zürcher Wochenzeitung «ABC» vom 18.3.1937 kam Mühlestein unter dem Titel «Gerichtet! — Aber wer?» auf seinen Prozeß zurück: «Wofür bin ich verurteilt worden?... Nicht etwa für den mit unsäglicher Mühe — und mit Hilfe einer Art von schweizerischem Miniatur-van-der-Lubbe — mir angedrohten Tatbestand!... Nein! Sondern weil ich im August 1936 in einem Dutzend Schweizerstädten vor den für die Sache der spanischen Freiheitskämpfer begeisterten Volksmassen ein «Manifest verlas.» Er beruft sich auch aufGottfried Keller, der 1863 als Sekretär des schweizerischen Polenkomitees für den polnischen Freiheitskampf («und sogar gegen die legale zaristische Regierung») öffentlich eintrat. die Byronsche Versuchung: George Gordon Noel Byron (1788-1824), englischer Dichter; wollte nach bewegtem Leben als Freiwilliger am

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Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken teilnehmen, starb aber kurz nach seiner Landung in Messalongion an der Malaria. Demokratie im Heroglas: im hermetischen Verschluß einer Konserve; in Lenzburg befindet sich die Konserven- und Konfitürenfabrik Hero. Das Urteil gegen Dr. Hans Mühlestein rechtskräftig (S. 49) Die Zeit, Bern, April 1937

nach St. Maurice: in der Festung St. Maurice im Unterwallis befindet sich eine der schweizerischen Militärstrafanstalten. Präzisierung (S.49) Die Zeit, Bern, Mai 1937 Unsere Presse (S.50) Die Zeit, Bern, Juli 1937. Auch in: Volksrecht, Zürich, 23.7.1937 und andern sozialdemokratischen Zeitungen

Nationalrat Dr. Albert Oeri (1875-1950): von 1925-49 Chefredaktor der liberal-konservativen «Basler Nachrichten»; gehörte in kritischer Zeit zu den klugen und mutigen Kommentatoren im schweizerischen Journalismus, die sich in ihrer antitotalitären demokratischen Haltung auch durch wiederholte nationalsozialistische Drohungen aus dem In- und Ausland nicht beirren ließen.

Die beiden Spanien (S.51) Die Zeit, Bern, August 1937. Auch in: orte 17, Zürich, Dez. 77/Jan. 78. Grenzgänge. Ein Lesebuch, Hg. Hans Rud. Hilty, Zürich 1981. drehpunkt 56, Basel, Juni 1983 die zerrissenen

Kinder

Guernicas:

am

26. April

1937

bombardierten

Einheiten der auf Franco-Seite kämpfenden deutschen Legion Condor das Städtchen Guernica, Nationalheiligtum der Basken. Spreng- und Brandbomben sowie Maschinengewehrgarben aus Tieflliegern richteten gewaltige Verheerungen an und forderten an diesem Markttag zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung. Picassos Gemälde «Guernica» hält weltweit die Erinnerung an diesen Massenmord wach. die vergasten Frauen Harars: Am 3. Oktober 1935 überfielen italienische Truppen Abessinien ohne vorherige Kriegserklärung. Der Abessinienkrieg endete im Herbst 1936 mit dem Sieg Italiens. Die italienische Kriegsführung verstieß mehrfach gegen die internationalen Konventionen, u.a. mit dem Einsatz von Senfgas, mit Bombardementen von Rotkreuzambulanzen und Spitälern wie in Harar am 30. März 1936. Einläßliche Anmerkungen zu Zollingers Gedicht «Harar» s. Werke IV, S. 523. daß man die Stadtverdunkelung zu einem Volksgaudi macht: laut bundesrätlicher Vorschrift mußten in den Gemeinden bis spätestens 1.4. 1937 die Verdunkelungsmaßnahmen getroffen sein. Die Stadt Zürich führte vom 15.-24.3.37 kreisweise Probeverdunkelungen durch. Eine erste zentrale Verdunkelungsübung fand in der Nacht vom 11.

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auf den 12. Juni 1937 statt. Dabei tummelte sich viel munteres Volk in den Straßen; vom Sonnenberg, von der Waid u.a. Hügelzügen aus wollten Tausende das Spektakel einer total verdunkelten Stadt erleben; die‘ städtischen Verkehrsbetriebe erlebten ungewohnte nächtliche Frequenzen! Franco: Francisco Bahamonte Franco (1892-1975), seit 1926 spanischer General, 1934 Generalstabschef. Von der Volksfrontregierung 1936 auf ein Militärkommando

auf den Kanaren verbannt, wo er

die Erhebung gegen die Regierung vorbereitete. Der von SpanischMarokko ausgehende Putsch, der sich zum dreijährigen Bürgerkrieg ausweitete, begann am 17. Juli 1936. Am 29.9. 36 ernannte die aufständische Junta der Generäle Franco zum Caudillo und Generalissimus des spanischen Staates, 1937 wurde er auch Führer der faschistischen Falange. unser konzilianter Außenminister: Giuseppe Motta (1871-1940) war von 1912 bis 1940 Bundesrat, seit 1920 Vorsteher des eidgenössischen politischen Departements und damit Außenminister. Unter seinem bestimmenden Einfluß gehörte unser Land zu den ersten Staaten, die schon im Juli 1936 die vom Völkerbund verhängten wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Aggressor Italien im Abessinienkrieg aufhoben. Im Spanienkrieg galten Mottas Sympathien eindeutig den Franco-Rebellen. voreilige Anerkennung des abessinischen Raubes: Am 23. Dezember 1936 anerkannte der Bundesrat die Souveränitätsrechte Italiens in Abessinien. Vorangegangen waren erst Deutschland (Oktober), Osterreich, Ungarn und Japan (November). Großbritannien, Frankreich und die USA beschlossen am 22.12.36 die Umwandlung ihrer Gesandtschaften in Addis Abeba in konsularische Vertretungen, betonten aber, daß damit keine de jure Anerkennung der italienischen Souveränität verbunden sei. Motta überzeugte indes den Bundesrat, daß dies mindestens die Anerkennung de facto bedeute,

worauf dieser am 23.12. seinen vorbehaltlosen Anerkennungsbeschluß faßte, ganz im Gegensatz zur traditionell bedächtigen Anerkennungspolitik der Schweiz. Es kam denn auch zu überaus heeftigen Protesten in Volk und Parlament gegen diesen bundesrätlichen Opportunismus, während die italienische Presse unisono das Lob der Schweiz sang. Es geschehen Zeichen (S.56) Die Zeit, Bern, März 1937

des afrikanischen Fürsten klugen Protest: Kaiser Haile Selassie I. (18921975), der Negus, verurteilte in einem würdigen und geschickten Schreiben an den Völkerbund am 21. Januar 1937 die «völkerrechtliche Unzulässigkeit» des schweizerischen Schrittes, d.h. der Anerkennung der italienischen Herrschaft in Abessinien. Die schweizerische März 1937 Das Märzheft

Neutralität

(S.56) Ts Z. Die Zeit, Bern,

der «Zeit» war als thematisch einheitliche Sonder-

404

nummer der schweizerischen Politik gewidmet. Im Mittelpunkt standen zwei Rundfragen: «Welches wäre die Struktur der Schweiz nach Ihrem Wunsche?» Die Zollinger besonders bewegende Frage: «Welches ist die Handhabung der Neutralität?» hatte er im November 1936 folgenden Persönlichkeiten gestellt, wobei er sie deutlich auf das Problem der Gesinnungsneutralität ansprach: Dr. Hans Bauer, Basel, Hr. Oberst Bircher, Aarau, Hr. Willy Bretscher, Zürich, Hr. Dr. Bernhard Diebold, Zürich, Hr. Prof. Dr. Fritz Fleiner, Zürich, Hr. Nationalrat Grimm, Bern, Hr. Dr. Rolf Henne, Zürich, Hr. Prof. Dr. Karl Meyer, Zürich, Hr. Bundesrat Motta, Bern, Hr. Dr. Hans Mühlestein, Zürich, Hr. Nationalrat Dr. Oeri, Basel, Hr. Prof. Dr. William Rappard, Genf, Hr. J. B.

Rusch, Ragaz, Hr. Dr. Max Rychner, Köln. Die Einladung, in der «Zeit» unter dem Titel «Thema» abgedruckt, endete mit dem ungedruckt gebliebenen, für die Situation der Zeitschrift aber aufschlußreichen Abschnitt: Hochverehrte

Herren!

Die Monatsschrift

«Die Zeit», in deren

Namen ich an Sie gelange, ist ein noch junges idealistisches Unternehmen ohne Aussicht auf Rendite. Ihr Verlag kann Ihnen für Ihre Antwort, wenn Sie die große Freundlichkeit haben, uns damit zu beehren, nur die Wenigkeit von 10 Rappen Zeilenhonorar anbieten. Und doch scheinen mir Aussprachen der Art — sie sollen mit anderen Themen fortgesetzt werden - zur Klärung unserer Lage nötig zu sein. Ich gehe Sie in Ihrer Eigenschaft als Geistesmensch an, der es gewiß nicht ablehnen wird, um der Sache willen auch

gegen das geringe Entgelt mitzumachen. Ihre Außerung, die Sie nach Möglichkeit knapp zu fassen belieben, erbitte ich bis zum 15. Januar 1937 an die Adresse Ihres hochachtungsvoll und dankbar ergebenen Albin Zollinger. Es gingen Antworten ein von Professor Fleiner, dem Inlandredaktor der «National-Zeitung» Dr. H. Bauer, Oberstdivisionär Dr. Eugen Bircher, Bernhard Diebold, Theaterkritiker und Schriftsteller, dem Frontenführer Dr. Rolf Henne, Nationalrat Dr. A. Oeri,

Professor Dr. William Rappard, Direktor des Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales in Genf, und Max Rychner, damals noch Feuilletonredaktor an der «Kölnischen Zeitung». Bundesrat Motta ließ durch einen Beamten ablehnen, «da er nicht glaubt, daß es mit seinem Amte, das ihn, besonders in einer so

heiklen Frage wie der vorliegenden, zu einer strengen Zurückhaltung zwingt, vereinbar sei, solchen Rundfragen seine Mitarbeit zu gewähren, auch wenn deren Zweck noch so interessant ist». in einem Satz aus Fritz Fleiners «Schweizerisches Bundesstrafrecht»:

das

grundlegende Werk des Historikers und Staatsrechtlers Fritz Fleiner (1867-1937, seit 1915 Professor an der Universität Zürich) erschien 1923. Den Satz Fleiners setzte Zollinger an den Schluß der Diskussion: «So wenig die Neutralität des Staates dem Bürger die freie Meinungsäußerung raubt, so darf diese sich doch nie in die deliktische Form einer Beschimpfung fremder Staaten und Völker

405

kleiden. Gegen einen solchen Mißbrauch hat der Bund mit Strafe einzuschreiten.» Kristallisationen von Versailles: bezieht sich auf den Versailler Friedensvertrag mit dem besiegten Deutschen Reich vom 28. Juni 1919, dessen Bestimmungen Hitler als «Schand- und Diktatfrieden» ablehnte und nach seinem Machtantritt mehrfach ungestraft verletzte. Kreuger und Stavisky: der schwedische Unternehmer Ivar Kreuger (1880-1932)

baute

nach

1913 den

Kreuger-Konzern

auf, einen

Finanz- und Zündholztrust, der 1931 auf undurchsichtige Art Konkurs machte, was viele Beteiligte ins Unglück stürzte. Kreuger wurde 1932 in Paris ermordet. Der Millionenbetrüger Serge Alexandre Stavisky (1886-1934), naturalisierter Franzose russischer Abstammung, wurde 1926 wegen einer Affäre mit gefälschten Kassenobligationen zwar verhaftet, nach 18 Monaten aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Seine Gönner und Beschützer in Polizeikreisen und unter hohen Politikern verhinderten mit 19 Vertagungen den entscheidenden Prozeß. Am 8.Januar 1934 wurde Stavisky in seiner Villa tot aufgefunden, was offiziell als Selbstmord deklariert wurde. Die politische Rechte warf der Regierung jedoch vor, Stavisky sei ermordet worden, weil man sich vor kompromittierenden Aussagen gefürchtet habe. Eine der ungeklärt gebliebenen Skandalaffären Frankreichs, die das politische System der Dritten Republik schwer erschütterten. in einem Artikel Thomas Manns: vermutlich der Artikel «Offene Worte», der Mitte November in einer großen Zahl europäischer Zeitungen erschien, darunter, wie Th. Mann am 17.11. im Tagebuch notierte, auch im «Zürcher Stadtanzeiger», d.h. dem «Tages-Anzeiger» vom 14., 16. und 17. 11. Es war die redigierte Fassung einer Rede, die Th. Mann zur Tagung der Völkerbundskommission für geistige Zusammenarbeit im März 1935 wohl vorbereitet aber nicht gehalten hatte. In ihrer ursprünglichen Form war sie im Februar 1936 im «Wiener Journal» unter dem Titel «Achtung Europa» erschienen. Auch der «Tages-Anzeiger» brachte sie unter diesem Titel, an allen 3 Tagen auf der Frontseite. Strafparagraphen der dringlichen Bundesbeschlüsse: gemeint wohl die BRBeschlüsse vom 14. und 25. August 1936 im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg, in denen auch «die Verbreitung von Druckschriften, die zur Zuwiderhandlung auffordern», verboten wurde. S. auch Anmerkung S.402. Banausen am Werk (S.59) Die Zeit, Bern, Oktober 1937 die Vernichtung spanischer Kunstgüter: die Schätze des berühmten Madrider Pradomuseums wurden durch die rechtmäßige Regierung gerettet. Bei ihrer Übersiedlung nach Valencia im November 1936 nahm sie 174 Bilder des Museums mit. 1939 waren sie in der stark besuchten Ausstellung «Meisterwerke des Prado-Museums» in Genf zu sehen (über 350000 Besucher).

406

Sonderausstellung von entarteter Kunst: am 18. Juli 1937 wurde in München das «Haus der Deutschen Kunst» mit der ersten «Großen Deutschen Kunstausstellung» eröffnet; tags darauf ging im alten Galeriegebäude der Hofarkaden, nur wenige hundert Meter entfernt, und als abschreckendes Gegenbeispiel gedacht, die Ausstellung «Entartete Kunst» auf mit den Expressionisten von Kirchner bis Pechstein, mit Abstrakten, Dadaisten, Surrealisten und Plastiken Barlachs. Der Zustrom war außerordentlich und übertraf die Besucherzahl der «Großen» Ausstellung um das_Mehrfache. Wer welche Kunst für entartet hielt, blieb offen.

gleichzeitig begann eine Säuberungsaktion: In Preußen stützte sie sich auf den Erlaß von Ministerpräsident Göring vom Juli 1937: «. .. bevollmächtige ich den... Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, die Bestände aller im Lande Preußen vorhandenen öffentlichen Kunstsammlungen ohne Rücksicht auf Rechtsform und Eigentumsverhältnisse... zu überprüfen... Über die Verwendung aller ausgemerzten Gegenstände, soweit sie dem Staat gehören, werde ich besonders, sobald mir die Liste vorliegt, entscheiden.» Einen beträchtlichen Teil der beschlagnahmten «entarteten» Werke brachten die Reichsbehörden zur Devisengewinnung am 30. Juni 1939 in der Galerie Fischer in Luzern zur Versteigerung. Die «Gemälde und Plastiken ınoderner Meister aus deutschen Museen»

waren

vor der Auktion vom

17.-27.Mai

in Zürich, im

Zunfthaus zur Meisen, zu besichtigen. Offener Brief an Jakob Schaffner (S.60) Ts Z, undatiert, Januar 1937. Gesammelte Werke I Jakob Schaffner, *1875 in Basel, 1944 bei einem Luftangriff auf Straßburg ums Leben gekommen; Frühwaise, Schuhmachergeselle, seit 1903 freier Schriftsteller, vorwiegend in Deutschland. 1905 der erste Roman «Irrfahrten», 1910 «Konrad Pilater», 1922-39 die vier Bände des autobiografischen «Johannes»-Romans; Novellen, Erzählungen, politische Schriften. 1930 großer Preis der schweizerischen Schillerstiftung; 1933 einstimmige Aufnahme in die gesäuberte deutsche Akademie für Dichtkunst. Schaffner begrüßte 1933 den Machtantritt der Nationalsozialisten und stellte sich der Nationalen Front als Liederdichter und Propagandaredner in der Schweiz zur Verfügung. So sprach er am 15. Oktober 1936 in der Zürcher Stadthalle, ebenfalls am 19. Januar 1937 im Zuge einer frontistischen Propagandatournee durch die Schweiz. 1940 empfing Bundespräsident Pilet-Golaz Schaffner zusammen mit Ernst Hofmann und Max Leo Keller, zwei führenden Repräsentanten der Frontenbewegung. Als der deutsche Rundfunk diese Audienz als «ersten Schritt zur Befriedung der politischen Verhältnisse der Schweiz» deklarierte, war die Empörung in unserem Land groß. Schaffner galt fortan in der Schweiz als Unperson. Zollinger bot den «offenen Brief» dem «Geistesarbeiter» an, «mit einigem Mißbehagen freilich, weil er, eine Antwort auf diesen

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Vortrag in Zürich, etwas hinterher gehumpelt käme» (an Dr. K. Naef). Ob er die Arbeit auch anderwärts anbot, war nicht auszumachen. ich machte sie bei Hamsun nicht mit: Als Carl von Ossietzky (18891938), deutscher Pazifist und von 1927-33 Redaktor der «Weltbühne», auch 1935 den Friedensnobelpreis nicht erhielt, begrüßte dies Knut Hamsun (d.i. Knut Pedersen, 1859-1952) Ende November in

zwei norwegischen Zeitungen. Er denunzierte Ossietzkys Pazifismus als Landesverrat und ironisierte die Leiden des Konzentrationslagerhäftlings. Diese Angriffe des schon längst mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden norwegischen Dichters auf einen Wehrlosen erregte international Empörung, auch in der Schweizer Presse. die neueste Broschüre Thomas Manns: Am 19. Dezember 1936 teilte der Dekan der Bonner Universität dem in Küsnacht im Exil lebenden Thomas Mann die Aberkennung der Ehrendoktorwürde mit. Mit der am 15. Januar von Oprecht ausgelieferten Broschüre «Briefwechsel mit Bonn» erteilte Thomas Mann die Antwort, die seinen

vollständigen und definitiven Bruch mit Hitlerdeutschland bedeutete.

mit Registermark ein wenig hineingerochen: im Rahmen der strengen nationalsozialistischen Devisengesetzgebung von 1933 an war es ausländischen Gläubigern nicht mehr möglich, sich in Devisen auszahlen zu lassen. Sie erhielten Registermark, die nur im Reich verbraucht

werden konnten, zu Investitionen daher gelegentlich auch Reisemark genannt.

oder

für Reisen,

An den Mann, der den Hut nicht abnahm (S.63) Neue Zürcher Zeitung, 13.8.1939 Zollinger wandte sich mit seinem Artikel an den Verfasser der folgenden Einsendung in der «NZZ» vom 10.8. 1939: Warum ich den Hut nicht abnahm. Ich komme von einer Baustelle am Zürichberg her und will die Bahnhofstraße queren, aber eine dichte Menschenmenge verhindert jedes Überqueren der Straße; alle warten auf den Festzug der Schaffhauser. Bis jetzt habe ich Festzüge und Ausstellung gemieden. Ja, vor Monaten freute ich mich herzlich auf die Ausstellung, an der ich doch selber sechs Monate gearbeitet habe; mit Stolz habe ich sie meiner Frau zeigen wollen. Damals erwartete sie unsern ersten Knaben. Heute liegt sie, das kleine fröhliche Walliser Maiteli, im Friedhof. Wie sie sich

gefreut hat, in der schönen Walliser Tracht an die Ausstellung pilgern zu dürfen. Mit Mühe halte ich die Tränen zurück, wie nun all die frohen Menschen in bunten Trachten an mir vorüberziehen, während zu Hause Tracht und Hütchen im Kasten warten, verdammt, nie mehr in fröhlichem Tanz wirbeln zu dürfen. Je lauter

die Menge jubelt, desto dunkler wird meine Trauer. Aber jäh werde ich aus meiner Träumerei herausgerissen. Jemand hat mir den Hut vom Kopf geschlagen. Empörte Stimmen werden um mich laut.

408

Langsam begreife ich, daß ich vergessen habe, eine Schweizerfahne zu grüßen. Ein schwacher Versuch, mich zu verteidigen, wird überrufen. Selbst mein kleines Trauerband im Knopfloch besänftigte die Empörer nicht. Es ist ein stilleres Tuch als das der Fahne. Traurig gehe ich weg. Liebes Isabellti, warum hast du mich allein gelassen? M.H. Festzug der Schaffhauser: Während der Landesausstellung 1939 hatten die Kantone ihre speziellen Festtage, die in der Regel mit einem Festzug vom Bahnhof ins Ausstellungsgelände begannen.

Ansprache

zum

Abschied

eines

Hauptmanns

(S.64)

Neue

Schweizer Rundschau, Zürich, 1940/10. Auch in: Zürichsee-Kalen-

der 1941 einer Territorialeinheit: im September 1939 rückte Zollinger mit der Territorial-Füsilierkompanie III/185 zur Grenzbesetzung ein. Kommandant war 1938 und 1939 Hauptmann Hermann Forster aus Kilchberg. Die Havasitis: Gerüchtemacherei. Als «en Hawass» bezeichneten Deutschschweizer Soldaten im Ersten Weltkrieg unglaubwürdig scheinende Meldungen. Der Ausdruck hielt sich auch im Aktivdienst 1939-45. Havas war die offizielle französische Nachrichtenagentur, 1855 von Charles Havas gegründet. Durch ihre Zusammenarbeit mit der Vichy-Regierung nach 1940 als Kollaborationsinstitution diskreditiert, wurde sie 1944 nach der Befreiung Frankreichs geschlossen und durch Agence France-Press (AFP) ersetzt.

Sturm über Europa (S.68) Ts Z, Ts V Der Krieg und wir (S.69) Die Nation, Bern, 3.3.38 Neben Thematik und Tonlage dieses ungezeichneten Artikels spricht für Zollingers Autorschaft, daß er auf der Seite «Der literarische Beobachter» steht, die Zollinger im ersten Halbjahr 1938 bei der «Nation» redaktionell betreute. noch bevor es Mandschukuo verdaut hat: 1931/32 hatte Japan die chinesische Mandschurei erobert und daraus den Satellitenstaat Mandschukuo gebildet. 1937 griffen die Japaner China an und drangen weit ins Land ein; der japanisch-chinesische Krieg dauerte bis zum Zusammenbruch Japans im August 1945. Führer und Staatschef Chinas war von 1928 bis zum Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg (1949) General Tschiang Kai-schek (18871975), einer der «Großen Vier» im Zweiten Weltkrieg. Setzte sich Ende 1949 nach Taiwan (früher Insel Formosa) ab und gründete dort eine diktatorisch regierte Republik. Die deutsche Transkription seines Namens war immer ungesichert; Zollinger schrieb stets Tschankaischek.

Der Griff nach der Substanz (S. 71) Volksrecht, Zürich, 13.5. 38 Trotz der sonst nie vorkommenden Albin-Signatur mit größter

409

Wahrscheinlichkeit ein Artikel Zollingers. Auf Gottfried Keller hat er sich in seiner politischen Publizistik oft berufen, und für besonders kräftige Attacken auf die «NZZ» war ihm das «Volksrecht» willkommen. Die «NZZ» befaßte sich am 27. und 28. April in zwei längern Artikeln mit der Verordnung und ihren zu erwartenden Konsequenzen. die neue Verordnung Görings und Fricks: im Erlaß vom 26.4. 38 hieß es: «Der Beauftragte für den Vierjahresplan kann Maßnahmen treffen, um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Interesse der deutschen Wirtschaft sicherzustellen.» Hermann Göring (1893-1946, Selbstmord in Nürnberg), u.a. Preußischer Ministerpräsident, Reichsluftfahrtminister, Beauftragter für den Vierjahresplan, Generalfeldmarschall. Dr. Wilhelm Frick (1877-1946, hingerichtet in Nürnberg), Reichsinnenminister 1933-43, dann bis 1945 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. der berühmten «eingefrorenen Milliarden»: in den zwanziger Jahren hatte ein starker Kapitalexport aus der Schweiz ins Deutsche Reich mit seinen hohen Zinsen stattgefunden. Die rigorose Devisenbewirtschaftung der nationalsozialistischen Regierung blockierte nach 1933 diese Kredite, «fror sie ein» (s. auch Anmerkung «Registermark» S. 408). Die Höhe der «eingefrorenen» Bank- und Privatkredite ließ sich nicht feststellen; die Verschuldung des Reichs der Eidgenossenschaft gegenüber betrug am 30. April 1945 1119 Millionen Franken, die sogenannte «Olearingmilliarde». Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich die Bundesrepublik und die Schweiz auf der Londoner Konferenz von 1952 auf eine Rückzahlung an die Schweiz von 500 Mio Franken. Forderung nach Abgabe eines kleinen Bruchteils: 1922 lehnte das Schweizervolk die von der sozialdemokratischen Partei eingereichte Vermögensabgabe-Initiative zur Deckung der Kriegsschulden nach einem überaus heftigen Abstimmungskampf mit 736000 gegen 109000 Stimmen ab. Echo im Hirtenland (S. 77) Annalen II, Horgen-Zürich, 1928 die Schweizer Sondernummer der «Literarischen Welt»: Es ging in dieser Nummer vom 20.1. 1928 um neuere schweizerische Dichtung, die nicht nur vom Deutschen Axel Eggebrecht (* 1899) recht kritisch angegangen wurde («Schweizer Publizistik»). Skepsis kennzeichnete auch die «Ansprache an deutsche Schriftsteller» über «Junge Schweizer» des schweizerischen Literarhistorikers Walter Muschg (1898-1965), damals Herausgeber der «Annalen», später Professor an den Universitäten Zürich und 1936-1965 in Basel («Tragische Literaturgeschichte», 1948, «Zerstörung der deutschen Literatur», 1956). «Es ist, bei Licht besehen, zur Zeit eben nicht viel los bei

uns...» konstatierte Muschg. Er lobte Traugott Vogels Erstlingsroman

«Unsereiner»

1924,

Felix

Moeschlins

«Wir

wollen

immer

Kameraden sein» 1926 und wies noch auf Albert Steffen und auf

410

Max Pulvers «Himmelspfortgasse» 1927 hin. Ähnlich im Tenor auch Eduard Korrodi in einem Interview. Weder bei ihm noch in Max Rychners Beitrag «Schweizer Literaturfragen» ist von Albin Zollinger die Rede. trotz Jud Süss: Anspielung auf den damals schon recht erfolgreichen Jüdischen Münchner Schriftsteller Lion Feuchtwanger (1884-1958, Dramen, Romane, autobiografische und politische Schriften). 1925 war sein historischer Roman «Jud Süss» erschienen, den die Nazis 1940 als Vorlage für einen antisemitischen Film benützten (Regie Veit Harlan). wir finden die Väter auch Menschen: Anspielung auf die Anti-VäterTendenzen im Theater und in der Literatur des deutschen Expressionismus mit Dramen wie «Der Sohn» von Walter Hasenclever (1914) oder «Vatermord» von Arnolt Bronnen (1920).

Kann ein schweizerischer Schriftsteller vom Ertrag seiner Feder leben? (S.79) Schweizer Spiegel, Zürich, Juni 1931; Antwort auf eine Rundfrage. Keyserling: s. Anmerkung S. 398 Frank Thiess: s. Anmerkung S. 395 Verehrung für meinen Verlag, Grethlein u. Co.: Konsul

Hauschild in Leipzig richtete sein vorher vorwiegend der Unterhaltungs- und Sportliteratur verpflichtetes Verlagsprogramm nach dem Ersten Weltkrieg stark auf zeitgenössische schweizerische Literatur aus, vor allem in seiner «Seldwyla-Bücherei». Er hatte u.a. Felix Moeschlin, Emanuel Stickelberger, Jakob Bührer, Jakob Bosshart,

Paul Ilg, Robert

Faesi, Regina Ullmann,

Pulver, Cecile Lauber,

Lisa Wenger,

Traugott Vogel, Max

Meinrad

Inglin und Albin

Zollinger im Programm und blieb während Jahren ein wichtiger Vermittler deutschschweizerischer Literatur. Die interessante Begründung dafür findet sich im «Almanach des Verlages Grethlein. 1899-1924.»: «Gefestigtes, gesundes und bodenständiges Schrifttum zu vertreten und durchzusetzen, war vor dem Krieg die Losung. Wollte der Verlag daran festhalten, so war von dem revolutionären Deutschland zunächst nicht viel zu erwarten. Von selbst lenkten sich die Blicke auf jenen einzigen Teil des deutschen Sprachgebietes, der allein vom Kriege und seinen Nachwirkungen verschont geblieben war: auf die Schweiz, umso mehr, als sich in der Schweiz eine Erzählliteratur entwickelt hatte, die an die beste

vorkriegszeitliche Tradition Deutschlands anknüpfte und sie nach eigener Art in ihrer Weise weiter entwickelte, stets bedacht auf die Befruchtung des Volkstums durch die geistigen Führer...» Natürlich erregt dieses Bekenntnis unser Kopfschütteln, es ändert aber nichts daran, daß gerade der Grethlein Verlag manchen unserer Autoren — auch Zollinger — damals als einziger die Wege zum Publikum öffnete. Als der Verlag Konkurs machte, übernahm der Rascher Verlag,

Zürich, die Rechte an Zollingers bisherigen Büchern (s. Werke V

411

S. 594). Der Verlag Conzett und Huber teilte 1935 mit, daß er «den frühern Verlag Grethlein» erworben habe, «und wird diesen als rein schweizerisches Unternehmen unter der Firma Morgarten Verlag AG weiterführen». («Geistesarbeiter», April 1935. In der Juninummer wurden als Kaufsumme 8000 Franken angegeben.) Der Name des neuen Verlags war keine Ausgeburt der geistigen Landesverteidigung: Druckerei und Verlag Conzett und Huber befinden sich an der Morgartenstraße in Zürich-Aussersihl. Brief an Paul Lang (S.30) Neue Zürcher Zeitung, 24.9. 1933 Paul Lang (1894-1970), Professor an der kantonalen Handelsschule, Zürich, Publizist und Schriftsteller (Essays, Dramen, Hörspiele, Erzählungen, Gedichte). 1932-38 Mitglied der Nationalen Front,

galt wegen seiner zahlreichen Vorträge, Aufsätze und Broschüren über die Erneuerung der Schweiz durch die Frontenbewegung als deren Chhefideologe. 1928 hatte Lang das kurzlebige Cabaret «Krater» gegründet, eine Vereinigung für Kleinkunst, in der u.a. Max Bill, Emil Hegetschweiler, die Tänzerin Suzanne Perrotet und Jakob Bührer mitarbeiteten. Im Mai 1930 las Zollinger dort seine Novelle «Halberstein». sie, die den Schrei des schweizerischen Rundfunks nicht hören wollen: Am 10.9.1933 brachte die «NZZ» Langs Aufruf: «Mehr Optimismus, Schweizer Schriftsteller!» Er ließ darin vier betrübte schweizerische Autoren an einem Tessiner Herdfeuer Kastanien braten und sich dabei beklagen, daß Gedichte nicht mehr gelesen würden, daß Romane sich nicht auszahlen und der Tonfilm das Drama töte. Er empfahl ihnen, die «absterbenden Literaturformen» aufzugeben und die «Kähne

nach neuen

Gestaden

zu lenken», d.h. für die

neuen Medien zu arbeiten: Hörspiele für das Radio zu verfassen und «eure Prosaepen in Tonfilme umzugießen». In seiner Replik auf Zollingers Brief («NZZ», 8.10.33) verwies Lang u.a. auf Colette, Marcel Achard, Cocteau und Cendrars, die in Frankreich

Filmdrehbücher schrieben. Zollingers Befürchtung, daß beim Film die Geldgeber und nicht die Künstler das Sagen hätten, suchte er mit der optimistischen Behauptung zu entkräften: «Ich zweifle, ob Ramuz, der zur Stunde im Oberwallis die Aufnahmen zur «Separation des races» überwacht, sich vieles gefallen lassen wird.» Schriftsteller, Liebhaberschriftsteller (S.83) Ts Z; 30./31. Januar 1934 Zollinger fühlte sich von der Abqualifikation des Schriftstellers im Nebenamt als «Liebhaberschriftsteller» schwer getroffen, die in Jakob Bührers Leitartikel «Faschismus und schweizerisches Schrifttum» im «Volksrecht» vom 30.1.34 zum Ausdruck kam. Seine Entgegnung in einem offenen Brief an Bührer legte Chefredaktor Ernst Nobs (1886-1957, von 1943-1951 erster sozialdemokratischer Bundesrat) Bührer zur Stellungnahme vor. Dieser riet

von einer Veröffentlichung ab, weil Zollinger eine Sachfrage zu

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persönlichen Angriffen genützt habe. Er bat aber Nobs, Zollinger seinen Brief zuzustellen. Mit einem längeren Schreiben an Nobs zog Zollinger daraufhin am 7. Februar seinen offenen Brief zurück und schrieb Bührer am 20. Februar einen im ganzen versöhnlichen Brief: «... Wir wollen nicht Differenzen zwischen uns schaffen, die nur Wortdifferenzen sind...» Es ist zu hoffen, daß alle die ebenso

wichtigen wie aufschlußreichen Briefe in dieser Sache im geplanten Band mit Zollinger-Briefen demnächst greifbar sein werden. Zum zeitweise recht problematischen, jedoch nie in unversöhnliche Feindschaft ausartenden Verhältnis zwischen Zollinger und Bührer s. auch Werke I, S. 77-79 und Werke III, S. 554-556. Mit

den Angriffen Bylands auf den Schriftstellerkollegen Bader (Bührer) im «Pfannenstiel» und im abschätzigen Gutachten Zollingers über Bührers Roman «Im Roten Feld» für die Werkbeleihungskasse des SSV brach 1940 der schwelende Konflikt nochmals auf. «Ich weiß mich wohl frei von Ranküne, bin aber in sozusagen allen Positionen Bührers Gegenfüßler und ihm gegenüber deshalb möglicherweise Partei», stellte Zollinger zu Beginn fest; er nahm dann in der Folge auch kein Blatt vor den Mund, erteilte aber ausdrücklich die Bewilligung, Bührer sein Gutachten vorzulegen, «damit er nicht hinten herum schlecht gemacht sei». Jakob Bührer (1882-1975), Journalist, Lektor der Büchergilde Gutenberg, Schriftsteller (Romane, u.a. «Aus Konrad Sulzers Tagebuch», 1921, «Sturm über Stifflis», 1934, Erzählungen, Gedichte, Dramen, u.a. «Galileo Galilei», 1933, Volksstücke, u.a. «Das Volk der Hirten», 1914ff, Hörspiele). Nach seinem Beitritt zur Sozialde-

mokratischen Partei 1932 von der bürgerlichen Presse während Jahrzehnten praktisch boykottiert. Absatz 3 Ihres Artikels: zu Beginn seines Artikels stellte Bührer fest, daß unsere schweizerische Tagespresse pro Jahr an die 1000 bis 2000 Feuilletonromane veröffentliche - «Kaum zwei Prozent stammen von schweizerischen Schriftstellern». Im dritten Absatze führte er dann u.a. aus: «Wir haben an die 300 Liebhaberschriftsteller, um nicht zu sagen Dilettanten, die alle in ihrem Hauptberuf Lehrer, Professoren, Staatsbeamte sind und nebenbei in