Politische Philosophie des Bürgers 9783205789826, 9783205789161

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Politische Philosophie des Bürgers
 9783205789826, 9783205789161

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Angela Kallhoff

Politische Philosophie des Bürgers

2013 Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch: Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Aufnahme der Plastik »Cloud Gate» in Chicago; © Angela Kallhoff © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Generaldruckerei Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78916-1

Inh a lt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Systematische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 1.1 Lehren aus einem Epochenbegriff .. . . . . . . 1.2 Der Bürger in der politischen Philosophie von heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Bedeutung adjektivischer Bürgerkonzepte . 1.4 Konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . .

. . . . . 18 . . . . . 19

2. Der Freie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Negative und positive Freiheit . . . . . . . . 2.2 Schutz vor Übergriffen .. . . . . . . . . . . 2.3 Freiheit der Lebensführung . . . . . . . . . 2.4 Freiheit von willkürlicher Machtausübung . 2.5 Freiheit zur Vergesellschaftung . . . . . . . 2.6 Politische Selbstbestimmung . . . . . . . . 2.7 Ein System der Freiheiten  ? . . . . . . . . .

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35 38 41 43 46 48 50 52

3. Ein Gleicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Politische Gleichheit und Rechtsgleichheit . . . . 3.2 Begründung und Qualifizierung der Gleichheit. . 3.3 Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit . . . . . 3.4 Gleichheit für benachteiligte Gruppen . . . . . . 3.5 Kritik des Gleichheitsideals . . . . . . . . . . . .

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57 60 63 67 71 73

4. Wirtschaftsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Besitzindividualismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Wirtschaftsfreiheiten und bürgerliche Freiheiten .. 4.3 Wirtschaftsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . .

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76 80 84 88

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6 Inhalt

4.4 Werte der Wirtschaftsbeteiligung . . . . . . . . . . . .  90 4.5 Domestiziertes Wirtschaftsbürgertum . . . . . . . . .  95 5. Partner und Bruder . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Bedeutungen von »Zivilgesellschaft« . . 5.2 Ergänzung zur politischen Gesellschaft . 5.3 Gedämpfte politische Erwartungen . . . 5.4 Werte der Zivilgesellschaft . . . . . . .

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 99 101 105 111 115

6. Bildungsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Eine philosophiegeschichtliche Fußnote . . . . . 6.2 Ein Dilemma des politischen Liberalismus . . . . 6.3 Die Notwendigkeit der Erziehung zum Bürger .. 6.4 Gehalte einer Erziehung zum Bürger . . . . . . . 6.5 Bildungsgüter als öffentliche Güter . . . . . . . .

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121 124 127 130 133 139

7. Patriot und Kosmopolit . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Patriotismus  : eine Tugend  ? . . . . . . . . . . 7.2 Patriot, nicht Nationalist . . . . . . . . . . . . 7.3 Vernünftige Formen des Patriotismus . . . . . 7.4 Was nützt der Patriotismus  ? . . . . . . . . . . 7.5 Patriotismus in Grenzen des Weltbürgertums 7.6 Weltbürger und Bürger zugleich .. . . . . . .

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143 146 151 153 157 161 166

8. Umweltbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Klimawandel und Bürgerstatus . . . . . . . 8.2 Erweiterungsstrategien . . . . . . . . . . . 8.3 Revisionen des Liberalismus . . . . . . . . . 8.4 Bürger in natürlichen Umwelten . . . . . . 8.5 Element eines geräumigen Bürgerkonzepts .

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168 170 171 175 178 181

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9. Bürgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 9.1 Deutungen des weiblichen Unterschieds . . . . . . . . 187

Inhalt

9.2 Forderungen nach einer anderen Politik .. . 9.3 Die Ebene der Theoriebildung .. . . . . . . 9.4 Kritik der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 »Das Persönliche ist politisch« . . . . . . . .

7

. . . . . . 192 . . . . . . 195 . . . . . . 197 . . . . . . 200

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sachregister.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Einleit ung

A

ls Staatsbürger haben Menschen berechtigte Ansprüche, die in grundlegenden Rechtstexten niedergelegt und in der Rechtspraxis ausgestaltet werden. Dass unter Staatsbürgerschaft eine rechtlich geregelte Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen verstanden werden kann, ist unstrittig. Die Auseinandersetzungen in der politischen Philosophie von heute setzen an einer anderen Stelle an. In der Tradition der politischen Philosophie ist stets thematisiert worden, was es bedeutet, in einem politischen Gemeinwesen zu leben. Durch die Gestaltung der politischen Institutionen werden Möglichkeiten der Beteiligung an gesellschaftlichen Austausch- und Produktionsprozessen gewährt, andere werden verweigert. In der Verständigung über »Citizenship« spiegelt sich zugleich das Selbstverständnis von Menschen, die dem Staat und der Gesellschaft gegenüber sowohl Verpflichtungen eingehen, als auch Rechte einklagen. Schließlich ist »Bürger« Ausdruck für den Menschen als eine politische Person  ; als solche steht er in Wechselverhältnissen zu grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen. Wegen dieser unterschiedlichen Funktionen ist der Bürgerbegriff ein Kernbegriff der politisch-philosophischen Forschung. Anders als in einer historisch interessierten Perspektive wird mit »Citizenship« keine Epochenzuordnung angestrebt. Vielmehr wird der Begriff als ein normativer Grundlagenbegriff interpretiert, dessen Bedeutungen in zentralen Debatten der politischen Philosophie geklärt werden. Thematisch ist die Ausdeutung des Bürgerstatus orientiert an Vorstellungen über bürgerliche Gleichheit und bürgerliche Freiheiten. Beide werden, wenn auch in jeweils unterschiedlichen Deutungshorizonten, seit der Antike als grundlegende Gehalte des Bürgerkonzepts gesehen. Jedoch ist es auch ein Merkmal der politisch-philosophischen Diskussion unserer Zeit, dass der Bürgerstatus nicht auf diese politischen

10 Einleitung Werte reduziert wird. Vielmehr wird erörtert, was es bedeutet, dass Bürger sich als Mitglieder der Zivilgesellschaft verstehen, zu welchen Formen der Wirtschaftsbeteiligung ein Bürger befugt ist, wie die Stellung der Frau als Bürgerin verstanden werden kann, welchen Einfluss patriotische und kosmopolitische Zugehörigkeitskulturen haben und neuerdings auch, was »Citizenship« in einer krisenhaften ökologischen Umwelt bedeutet. Um den Bürgerstatus als Ausdruck einer gelungenen politischen Lebensform mit Mitteln der politischen Philosophie zu erörtern, ist es notwendig, auch eine Rückbesinnung auf die klassischen Themen der politischen Philosophie anzustrengen. In den großen und wirkmächtigen Schriften der politischen Philosophie wird danach gefragt, was es bedeutet, als freie Person und als Person mit gleichen Ansprüchen interpretiert zu werden. Seit der Antike wird auch erörtert, wie sich Besitztum und Wirtschaftsbeteiligung zu den Idealen der politischen Person als einer freien Person verhalten. Es ist ebenfalls Teil der politisch-philosophischen Tradition, nach Zugehörigkeitskulturen zu fragen, die jenseits dieser großen Ideale von Freiheit und Gleichheit liegen. Bürger sind Mitglieder einer bürgerlichen Gesellschaft, die in der Moderne ihre Ausprägung erfährt und heute wieder als Zivilgesellschaft im Zentrum der Diskussion steht. Ziel der vorliegenden Schrift ist es, die Vielschichtigkeit der Bürgerdebatte darzustellen  – sowohl hinsichtlich ihrer philosophiehistorischen Bezüge, als auch hinsichtlich der aktuellen Fragestellungen und Forschungskontexte. Methodisch bietet sich eine Herangehensweise an, die ihr Vorbild in neuen Entwürfen der Ethik findet, in welcher Gehalte eines normativen Begriffs nicht auf einen Kerngehalt reduziert, sondern in Form von Listen unterschiedlicher, aber zusammengehöriger Elemente expliziert werden. Mit diesen Dimensionen korrespondieren zentrale Forschungsdebatten der politischen Philosophie, die jeweils einführend vorgestellt werden sollen.

Einleitung

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Im Einzelnen sind dies Diskussionen um Gleichheitsansprüche, die in Theorien der Gerechtigkeit erörtert werden, sowie um Freiheits­ ansprüche, die in Grundrechtstheorien dargelegt werden. Sodann sind es Debatten um die Funktion und Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft, die in den Diskussionen um den »Wirtschaftsbürger« gebündelt werden. Es sind jüngste Erörterungen der Zivilgesellschaft, des Patriotismus und des politischen Kosmopolitismus, sowie Beiträge der politischen Philosophie zur Neugestaltung des Verhältnisses von Mensch und Natur (»Umweltbürger«). Schließlich nehmen die Diskussionen des politischen Feminismus einen Raum ein, der die Debatten um den Bürgerbegriff vervollständigt. Wegen der Vieldimensionalität des Bürgerbegriffs ist eine Arbeit an seiner Bedeutung in besonderer Weise geeignet, unterschiedliche Debatten und Forschungsansätze der aktuellen politischen Philosophie nicht nur miteinander zu verbinden, sondern auch einführend darzustellen. Zugleich kann sich durch ihre Darlegung das Bild dessen, was wir unter einem »Bürger« verstehen, ausdifferenzieren und klären. Die Studie gliedert sich in neun Kapitel. Der Inhalt der Kapitel soll nun einleitend erläutert werden. Im ersten K apitel wird dargelegt, wie sich die Erörterung des Bürgers seitens der politischen Philosophie zu anderen Deutungsmöglichkeiten von »Citizenship« verhält. Der Bürger ist sowohl ein gesellschaftlicher Reflexionsbegriff, als auch ein Epochenbegriff. Er kann mit unterschiedlichen Methoden und aus unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektive ergründet werden. Für die politische Philosophie ist zum einen unabdingbar, ihren Gegenstandsbereich genau zu bestimmen. Zum anderen gilt es, die Diskussion um »Citizenship« in den Rahmen der systematischen Gesamtentwürfe einzufügen. Diese Möglichkeiten werden mit den Namen »politischer Liberalismus«, »Republikanismus«, »Kommunitarismus« und »Deliberative Demokratietheorie« belegt. Was sich hinter diesen Bezeichnungen verbirgt und inwiefern sie die Diskussion über den Bürger prägen, soll im ers-

12 Einleitung ten Kapitel erläutert werden. Das grundlegende Ziel des ersten Kapitels ist eine Verständigung über den politisch-philosophischen Ausgangspunkt der Diskussion. Im zweiten K apitel werden die mit dem Ideal eines politisch gelungenen Lebens verbundenen Konzepte von »Freiheit« erläutert. Es sind dies  : der Schutz vor Übergriffen, die Freiheit der Lebensführung, die Freiheit von willkürlicher Machtausübung, die Freiheit zur Vergesellschaftung und politische Selbstbestimmung. Diese Freiheiten werden in teils disparaten Diskursen der politischen Philosophie erörtert. Ein Ziel der vorliegenden Erörterung ist es, einen Überblick über die Möglichkeiten der Deutung politischer Freiheit zu geben. Um des Weiteren zu erklären, wie die Freiheit des Bürgers in der politischen Philosophie interpretiert wird, wird zunächst in die grundlegende Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit eingeführt. Dann wird gezeigt, wie die einzelnen Freiheitsformen auf diese Diskussion bezogen sind und inwiefern die angestrebten Modifikationen darüber hinaus weisen. Anschließend wird eine grundlegende Frage aufgenommen  : Gibt es ein »System« der Freiheiten des Bürgers oder ist von einer Vielzahl unterschiedlicher, nicht zusammenhängender Freiheiten, vielleicht sogar Antagonismen, auszugehen  ? Im dritten K apitel werden auf der Grundlage aktueller Debatten um soziale Gerechtigkeit in der politischen Philosophie Formen bürgerlicher Gleichheitsforderungen erörtert. Zunächst wird erklärt, dass die politische Gleichheit  – obzwar sie heute gegenüber sozialer Gleichheit zurückgedrängt worden ist  – den zentralen Platz in der Liste der Gleichheitsforderungen einnimmt. Methodische Überlegungen zum Gehalt und der Begründung von Gleichheitsforderungen sollen ein differenziertes Bild des Wertes bürgerlicher Gleichheit ergeben. Dabei werden besonders jene Diskussionen berücksichtigt, die sich jüngst in der Auseinandersetzung um den »Wert der Freiheit« ergeben haben. In der politischen Philosophie ist nach einer Beobachtung von Amartya Sen gar nicht so sehr umstritten, dass Gleichheit ein erstrebenswerter Zustand ist, auf den die politische Person einen An-

Einleitung

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spruch hat. Vielmehr ist die entscheidende Frage, in welcher Hinsicht Gleichheitsforderungen legitim sind. Mit Rücksicht auf diese Frage unterscheiden sich die Ansätze gravierend. Im dritten Kapitel wird die Diskussion um diese Frage erläutert, indem zunächst die Optionen aufgezeigt werden, welche die neue politische Philosophie anbietet. Die ressourcenorientierten Ansätze unterscheiden sich von denjenigen, die Gleichheitsforderungen am tatsächlichen Wohlergehen bemessen wollen. Der »Fähigkeitenansatz« von Martha C. Nussbaum nimmt eine vermittelnde Position ein und wird ebenfalls einführend erläutert. Dann wird dargelegt, inwiefern der Gerechtigkeitsdiskurs auf die Debatten um die Ansprüche des Bürgers verwiesen bleibt. Im vierten K apitel zum »Wirtschaftsbürger« wird zunächst an die enge Verknüpfung zwischen Privateigentum und Bürgerstatus aus einer philosophiehistorischen Perspektive erinnert. Als leitende Fragestellung wird in jenem Kapitel die Frage aufgenommen, ob und in welchem Sinn bürgerliche Freiheit auf die Teilnahmemöglichkeiten an der Welt der Wirtschaft bezogen ist. Der Untersuchungskontext, der in diesem Kapitel dargestellt werden soll, ist derjenige der Wirtschaftsethik  ; einen Schwerpunkt bildet die Theorie der Wirtschaftsbeteiligungsrechte, wie sie Peter Ulrich jüngst entwickelt hat. In dieser Theorie wird eine politisch-philosophische Position der Demokratietheorie auf die Frage angewendet, welche Form des Wirtschaftens den Ansprüchen und Pflichten des Bürgers entspricht. Eine besondere Spannung in dem Verständnis von Wirtschaftsbeteiligung des Bürgers kann verdeutlicht werden, indem eine extreme, gegenwärtig durchaus geläufige Position von Vertretern eines ultraliberalen Verständnisses von Wirtschaftsfreiheit skizziert wird. In Auseinandersetzung mit dieser Position und Ansätzen der Wirtschaftsethik wird gezeigt, dass nicht nur Wirtschaftsbeteiligung, sondern auch Freiheit des Wirtschaftens ein zentraler Gehalt des Bürgerstatus als eines politischen Ideals ist. Im fünften K apitel wird der Bürger als »Partner und Bruder« und somit als Mitglied der Zivilgesellschaft thematisiert. Seit den

14 Einleitung 1990er-Jahren hat die Forschung zur Zivilgesellschaft und ihrer Bedeutung für die Demokratie einen breiten Raum in der politischen Philosophie, insbesondere des anglo-amerikanischen Forschungsraumes, eingenommen. Beflügelt durch die stillen Revolutionen in Osteuropa wurde erörtert, welche Funktion die Zivilgesellschaft für eine Demokratie hat. Der insgesamt als positiv bewertete Einfluss spiegelt sich auch darin, dass in ihr jene Kraft der Erneuerung gesehen wurde, die ein wirkungsvolles Mittel gegen Demokratieverdrossenheit darstellt. In dieser Einführung wird ausgehend von der aktuellen Rückbesinnung auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft in der politischen Philosophie dargelegt, inwiefern Bürgerinnen und Bürger zwar auf ein Ideal gerechten Austausches verpflichtet werden können. Jedoch ist es ein ebenso unantastbarer Gehalt der bürgerlichen Lebensform, den Raum privater Vereinigungen freiheitlich, und damit auch ohne Bezüge auf geteilte Ideale und Wertvorstellungen zu gestalten. In dieser Diskussion wird besonders deutlich, was die Zivilgesellschaft von anderen Vereinigungsformen unterscheidet  : Die Freiheit zum Eintritt in den Raum der privaten Vereinigungen sowie die Freiheit, Bindungen in diesem Raum auch wieder aufkündigen zu können, sind Grundlage der Zivilgesellschaft. Im sechsten K apitel wird unter dem Stichwort »Bildungsbürger« die weit verzweigte Debatte um die Bedeutung der Bildung für die Möglichkeiten einer aktiven Bürgerrolle aufgenommen. Im Kontrast zu dem »Bildungsbürger« als einem Standesbegriff wird insbesondere im anglo-amerikanischen Forschungsraum der »educated citizen« als eine Person verstanden, die aufgrund hinreichender Bildungsmöglichkeiten dazu fähig ist, die Bürgerrolle aktiv zu übernehmen und zu gestalten. Da die Studie auch in dieser Diskussion dem politischen Liberalismus verpflichtet bleibt, ist es ein wichtiges Ziel der Auseinandersetzung, jene Punkte zu benennen, an denen tatsächlich elementare bürgerliche Kompetenzen zur Disposition stehen. Während es Anliegen des politischen Liberalismus bleibt, Möglichkeiten zur Selbstbildung zu eröffnen, nicht jedoch die Bildung des Bürgers seitens der

Einleitung

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politischen Institution zu gestalten, muss zugleich doch bedacht werden, dass Fähigkeiten des Urteilens und der politischen Verständigung aktiv gefördert werden müssen, um sich entfalten zu können. Eine entscheidende Frage in der Erörterung der »Bildung zum Bürger« ist jene traditionell dem politischen Liberalismus zugeordnete Frage, wo die Schnittstellen zwischen Ermöglichung einerseits und Bevormundung andererseits durch den Staat liegen. Dieses Kapitel dient der Einführung in eine Diskussion, die hierzulande gerade erst begonnen hat, in den Vereinigten Staaten von Amerika jedoch bereits seit einigen Jahren intensiv geführt wird. Im siebten K apitel wird der Bürger als Patriot und als Kosmopolit thematisiert. Auch angesichts neuer Formen des Patriotismus wird in der politischen Philosophie von heute die Frage gestellt, was es bedeutet, Bürger als Patrioten zu klassifizieren und ob sie es gar sein sollten. Ein Motiv für diese Diskussionen ist die Erkenntnis, dass in der Umsetzung des Programms des politischen Liberalismus in den Institutionen der Demokratie die Rechte möglicherweise ein zu starkes Gewicht erhalten haben. Dadurch werden Pflichten und Zugehörigkeitskulturen des Bürgers in den Hintergrund gedrängt. Im siebten Kapitel wird in die Diskussionen rund um das Thema »Patriotismus« eingeführt, indem zunächst die pointierte Position von Alasdair Mac­ Intyre dargelegt wird. Er gilt als einer der Initiatoren der Debatte um den Patriotismus in der politischen Philosophie. Er vertritt die Position, dass der Patriotismus eine Tugend ist, die jedoch in Zeiten des modernen Staates kaum mehr gelebt werden kann. Ein Bestandteil der Auseinandersetzung dieses Kapitels sind auch die Versuche der Abgrenzungen zwischen »Nationalismus« und »Patriotismus«. Auch wenn dies in einer Einführung skizzenhaft bleiben muss, ist jene Grenze wesentlich. Abschließend wird eine Position skizziert, die weder mit Forderungen nach einer Rückbesinnung auf politische Tugenden, noch mit Forderungen nach einem aufgeklärten oder Verfassungs-Patriotismus identisch ist. Vielmehr sind Bürger frei, eine Bindung zum »Vaterland«

16 Einleitung zu entwickeln, solange sie in Einklang zu bringen ist mit einer Haltung des Weltbürgers, die ihren Ausdruck in der Übernahme der Verantwortung für Gerechtigkeit findet, die nicht auf das eigene politische Gemeinwesen beschränkt bleibt. Auf diese Weise wird die Debatte um neue Formen des Kosmopolitismus zur Diskussion um den Patriotismus in ein Verhältnis gesetzt. Dieses Vorgehen dient auch dazu, in eine weitere Diskussion der politischen Philosophie einzuführen  : diejenige des Kosmopolitismus. Zunehmend wird daran erinnert, dass der Bürgerstatus nicht auf das Verhältnis von Mitglied eines Staates und Staat begrenzt werden darf  ; vielmehr gilt es, den Bürger von heute als eine politische Person zu denken, die »in der Welt« beheimatet ist. Die Erörterung des Bürgers als eines politischen Ideals wird mit zwei Kapiteln abgeschlossen, die einen Ausblick bieten – einerseits in eine Debatte, die gerade erst begonnen hat, in die Diskussion des Umweltbürgers, andererseits in eine Debatte, die seit den 1970er-Jahren in den westlich geprägten Ländern angestrengt geführt wird. Unter dem Stichwort »Bürgerin« wird erörtert, was der feministischen politischen Philosophie an der Diskussion der Bürgerin als einer politischen Person besonders am Herzen liegt. Im Einzelnen wird im achten K apitel eine Auseinandersetzung um den »Umweltbürger« geführt. In diesem Kapitel werden zunächst Möglichkeiten referiert, den Umweltbürger in die aktuelle Diskussion der politischen Philosophie einzufügen. Ob als ein »postglobaler Bürger« oder als ein Ausdruck einer neuen Phase von Grundrechten  : Immer wird versucht, die aktuellen Theorieentwicklungen an gegebene Diskurse anzuschließen. Gemeinsam ist den Positionen die Feststellung, dass das Verhältnis zwischen politischen Organisationsformen, wie sie heute verwirklicht werden, und der natürlichen Umwelt im Zeichen der Krise steht. Anstatt jedoch daraus die Forderung nach einer gänzlich neuen politischen Existenzform abzuleiten, wie es etwa in der Debatte um »ecological citizenship« geschieht, wird in dieser Einführung eine Position aufgenommen, wonach bürgerliche Umweltkompetenzen als

Einleitung

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ein weiteres, notwendiges Element zur Gestaltung einer gelungenen politischen Wirklichkeit interpretiert werden können. Insbesondere kann im Rahmen eines geräumigen politischen Liberalismus auch ein Weg gefunden werden, durchaus radikale Forderungen an eine Neugestaltung der Naturbezüge in überkommene, zentrale Vorstellungen des Bürgerideals zu integrieren. Im neunten K apitel zum Thema »Bürgerin« wird ein weiterer Ausblick vorgestellt, dieses Mal in die feministische Theoriebildung der politischen Philosophie. Es wird erläutert, dass Ansätze und Forderungen des politischen Feminismus nicht nur konkreter politischer Natur sind. Vielmehr beziehen sie sich vor allem auf die Ebene der politischen Theoriebildung. Trotz großer Differenzen innerhalb der Lager des politischen Feminismus ist ein gemeinsamer Horizont der Versuch, jene Kategorien einer Revision zu unterziehen, welche in der Bestimmung des Bürgers als einer politischen Lebensform einen präjudizierenden Charakter haben  : so insbesondere der Kategorien »persönlich« und »öffentlich«, aber auch Vorstellungen über die Zivilgesellschaft und den Ort der Familie in ihr.

1.

Sy stem atische Vorüber legu ngen

Z

weifelsohne ist der Begriff des Bürgers ein Kernbegriff sowohl des gesellschaftlichen Lebens als auch der politisch-philosophischen Forschung. So ist es nötig, die in dieser Einführung gewählte Zugangsweise darzulegen und einen Ansatz der politischen Philosophie gegenüber anderen Möglichkeiten der Theoriebildung abzugrenzen. Ein solches Vorhaben steht vor zwei Herausforderungen. Einerseits muss deutlich werden, worin die Besonderheiten der Erörterung des Bürgerkonzepts im Rahmen der politischen Philosophie bestehen. Andererseits ist es notwendig, die in diesem Beitrag angestrebte Diskussion von möglichen Alternativen innerhalb, aber auch außerhalb der politisch-philosophischen Forschung zum Bürgerstatus zu unterscheiden. Mit einer Erinnerung an die Tradition der politischen Theoriebildung soll begonnen werden. Das Konzept des Bürgers kann als ein Epochenbegriff interpretiert werden. Es können drei Phasen der Konzeptualisierung unterschieden werden, die in Ansätzen der antiken politischen Philosophie, in dem Übergang von Mittelalter zu Neuzeit und in Theorien der beginnenden Moderne ihre Bezugspunkte haben. Im ersten Abschnitt wird eine knappe philosophiehistorische Erinnerung an die Deutungen des Bürgers mit dem Ziel gegeben, einen verbindlichen Anknüpfungspunkt für die angestrebte Diskussion zu entwickeln. Eine weitere Klärung des Untersuchungsrahmens ergibt eine Diskussion der Deutungsmöglichkeiten von »citizenship« im Rahmen der politischen Philosophie von heute. Entsprechend werde ich im zweiten Abschnitt notwendige Differenzierungen der politischen Philosophie mit dem Ziel darlegen, die in dieser Studie verfolgte Herangehensweise in das Spektrum der Möglichkeiten einzuordnen. Im dritten Abschnitt wird auf Spezialdiskurse hingewiesen, die zunehmend die Diskussion um den »Bürger« bestimmen,

Lehren aus einem Epochenbegriff

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jedoch nur zum Teil für die Fragen der philosophischen Grundlagen berücksichtigt werden müssen. Die Spezialdiskurse sind Auseinandersetzungen um die sogenannten »adjektivischen« bzw. »qualifizierten Bürgerkonzepte«, die in der englischen Sprache um besonders einleuch­tende Wortkombinationen wie »ecological citizen«, »educated citizen« sowie auch »consumer citizen« oder »cyber citizen« geführt werden. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wird erörtert, ob und in welcher Weise in der politischen Philosophie auf diese Diskurse reagiert werden kann. Im vierten Abschnitt werden die für diese Studie zentralen Kategorien des »politischen Ideals« und des korrespondierenden Konzepts der »bürgerlichen Kompetenz« erläutert. 1.1 Lehren aus einem Epochenbegriff Für den Bürger als eine politische Lebensform wurde in wirkmächtigen Schriften der politischen Philosophie gestritten. Gegenstand der Auseinandersetzungen war immer wieder aufs Neue die Vorstellung, Menschen müssten doch in der Lage sein, eine politische Organisationsform zu entwickeln und zu erhalten, die ihnen Freiheit und Gleichheit zusichert. J.G.A. Pocock ist gar der Meinung, die gesamte Entwicklung des Bürgerkonzepts könne interpretiert werden als Ergebnis einer dialogischen Auseinandersetzung über zwei Ideale, die bereits in der Antike klar gezeichnet wurden.1 Es ist dies einerseits das Ideal bürgerlicher Freiheit, das in der Antike an erster Stelle als politische Selbstbestimmung interpretiert wird  ; andererseits ist es das Ideal bürgerlicher Gleichheit, das in der Bestimmung des Bürgers als Rechtssubjekt im Römischen Recht seine erste deutliche Formulierung findet. Eine Lehre der andauernden Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Bürgerdiskussion ist aber auch, dass wir heute in der Lage sind, den Bürgerstatus umfassender und dadurch möglicherweise auch genauer zu bestimmen. 1 Zu den antiken Vorstellungen des Bürgerstands vgl. einführend Pocock 1995.

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Systematische Vorüberlegungen

Die Verständigung über den Gehalt des Bürgerstatus als eines politischen Ideals kann mit einer Reflexion auf die Ausgangssituation beginnen. Dies wiederum setzt die Erinnerung voraus an jene drei epochalen Entwicklungen, die als klassische Abschnitte der Formierung des Bürgerkonzepts interpretiert werden. Zwar muss ein Abriss dieser drei Etappen an dieser Stelle skizzenhaft bleiben. Gleichwohl kann deutlich werden, was Ausgangspunkt der Überlegungen in dieser Studie sein wird. Erste Festlegungen zum Bürgerkonzept finden in der klassischen Antike statt. Im dritten Buch der aristotelischen Politik – jenem Werk, das bis heute als Beginn der politischen Wissenschaft gilt – wird als Bürger bezeichnet, wer an der beratenden und richterlichen Gewalt teilhat.2 Der Bürgerstatus wird mit politischer Teilhabe an der Gestaltung einer politischen Gemeinschaft identifiziert, die ausgezeichnete Glücksmöglichkeiten bietet. Ein Staat ist zwar um des Lebens willen errichtet, er besteht aber um des »vollkommenen Lebens willen«3. Allerdings kann Bürger nur sein, wer zugleich auch ein männlicher Oikodespot ist. Der Hausherr herrscht über Frau, Kinder und Sklaven.4 In der aristotelischen Darstellung wird ein Leitthema der Auseinandersetzungen um den Bürgerstatus vorgegeben  : Bürger ist, wer aktiv an einer politischen Organisationsform teilhat, die dem guten Leben des Menschen dient. Zugleich bleibt der Bürgerstand aber die Ausnahmesituation. Der Großteil der Bevölkerung hat daran keinen Anteil. Ganz anders gestalten sich Idee und Wirklichkeit des Bürgertums im Mittelalter. In den mittelalterlichen Städten entsteht eine besitzende Klasse der Kaufleute und Handwerker. Diese teilen sich als »dritter Stand« mit Adel und Geistlichkeit die politische Herrschaft. Fortan wird in der Theorie des Bürgers um das Verhältnis von »Ci2 Vgl. Aristoteles 1995, S. 79 [1275 b 17–19]. 3 Ebd., S. 4 [1252 b 27–30]. 4 Vgl. ebd., S. 6–7 [1253 b 1–13].

Lehren aus einem Epochenbegriff

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toyen« und »Bourgeois« gerungen – dem Staatsbürger und jenem besitzenden Stadtbewohner, der als Handwerkermeister, Verleger oder Fabrikant fremde Arbeitskraft beschäftigt und durch Handelsbeziehungen zu Reichtum kommen kann. Der Staatsbürger wird unter Einfluss Rousseaus und der Enzyklopädisten nach der Mitte des 18. Jahrhunderts aufgewertet und schließlich konsequent mit dem Status des »Freien« und »Gleichen« identifiziert. Erst nach dieser Theorieentwicklung sind mit dem Bürgerstatus die Rechts- und Herrschaftsunterschiede der alten Gesellschaft wenigstens ideell aufgehoben. Und erst jetzt wird mit »Bürger« nicht eine Lebensform, sondern eine politisch-rechtliche Position bezeichnet. Die dritte epochale Veränderung in der Interpretation des Bürgerstatus wird von Hegel erkannt und vorbereitet. In den Grundlinien zur Philosophie des Rechts bestimmt Hegel die »bürgerliche Gesellschaft« als eine von Staat und Familie unterschiedene Organisationsform.5 Als »System der Bedürfnisse«6 ist die bürgerliche Gesellschaft einerseits geeignet, in marktähnlichen Beziehungen die Interessen eines jeden zu befriedigen. Andererseits erkennt Hegel auch deren Anfälligkeit für Verelendung und Sittenverfall.7 Zwar kennt Hegel noch nicht die Trennlinie zwischen Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft. Gleichwohl machen seine Überlegungen deutlich, dass es gesellschaftliche Ausprägungen bürgerlichen Daseins gibt und dass der Bürgerbegriff nicht von der jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abgelöst erörtert werden kann. Von Hegels Neubestimmung der bürgerlichen Existenzform ausgehend sind auch die Wege der weiteren Auseinandersetzung vorgezeichnet. Es ist dies einerseits die radikale Kritik an der »Bourgeoisie« als besitzender Klasse. Und es sind dies andererseits Kritiken eines 5 Vgl. die Anmerkungen dazu in Hegels Rechtsphilosophie  : Hegel 1986, S. 339 [§ 182, Anm.]. 6 Ebd., S. 346 [§ 188]. 7 Vgl. ebd., S. 341–342 [§ 185].

22

Systematische Vorüberlegungen

gesellschaftlichen Ideals, das mit zweifelhaften Wertorientierungen verwoben sein wird. Zugleich hebt erst jetzt das große bürgerliche Zeitalter an, als welches das 19. Jahrhundert in die Geschichte Europas eingehen wird. In einer knappen und auswählenden Erinnerung an einen Epochenbegriff wird deutlich, dass Zeiten und Kulturen dem Bürgerkonzept eine unverwechselbare Prägung gaben. Wird der Bürgerbegriff als ein Epochenbegriff interpretiert, so ist eine solche Herangehensweise jedoch zugleich vor zwei Vereinfachungen zu schützen. Erstens ist es sicherlich möglich, mit den großen Epocheneinteilungen der Historie zu arbeiten. Wichtiger für die Deutung des Bürgerbegriffs sind jedoch inhaltliche Konturierungen des Gehalts des Bürgerbegriffs, die über Epochengrenzen hinweg stattgefunden haben und gleichwohl zu bestimmten Zeiten ihre Blüte erlebten. Zweitens – und mit der ersten Feststellung zusammenhängend – bedeutet eine Interpretation als ein Epochenbegriff auch nicht zwangsläufig, die jeweiligen Gehalte geistesgeschichtlich voneinander isolieren zu müssen. Vielmehr können die großen Themen auch in ihrer Kontinuität thematisiert werden. In diesem Sinn lehrt eine Erinnerung an den Epochenbegriff »Bürger«  : Bürger zu sein bedeutet, aktiv am politischen Geschehen teilnehmen zu können  ; es bedeutet, Inhaber von unveräußerlichen Rechtstiteln zu sein, die jedem Bürger gleichermaßen zustehen  ; und es bedeutet, Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Für das politische Ideal »Bürger« bedeutet seine Geschichte, dass es fortan nicht mehr ohne Vorstellungen über politische Teilhaberechte und ohne die Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Staatsangehörigen bestimmt werden kann. Erschöpfend ausgedeutet ist der Bürgerstatus damit jedoch nicht. Erst die Entdeckung der bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren widersprüchlichen Kräften und Tendenzen eröffnet das Feld für Auseinandersetzungen um jene Dimensionen des Bürgerstatus, die es erlauben, in ihm ein geräumiges Ideal zu erkennen.

Der Bürger in der politischen Philosophie von heute

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1.2 Der Bürger in der politischen Philosophie von heute Wird nach der Bedeutung des Bürgerkonzepts in aktuellen Diskussionskontexten gefragt, so gilt es zunächst, zwei Diskurse voneinander zu trennen. Was ein Bürger ist, wird nicht nur in Fachkreisen der politischen Forschung erörtert. Vielmehr ist »der Bürger« auch ein gesellschaftlicher Reflexionsbegriff. Nicht im Sinne einer Erklärung des Begriffs, wohl aber im Sinne einer Abgrenzung gegenüber einer philosophischen Diskussion, muss auch auf diese Bedeutung hingewiesen werden. In der Deutung des Bürgerkonzepts kristallisiert sich auch das Selbstverständnis einer jeweiligen Bürgerschaft. So dient der Begriff in vorzüglicher Weise dazu, das Selbstverständnis sowohl der einzelnen Bürgerinnen und Bürger als auch einer politischen Gemeinschaft zu synthetisieren oder in kritischer Absicht zu explizieren. Wie immer ist es schwer, gesellschaftliche Reflexionsbewegungen deutend einzuholen. Einige Anmerkungen sind zur Abgrenzung der angestrebten philosophischen Erörterung gegenüber jenen Versuchen gleichwohl angebracht. Rufe nach einer neuen Zugehörigkeitskultur, nach der guten Bürgergemeinschaft, nach dem »social glue« einer Gesellschaft sind nicht nur hierzulande deutlich hörbar. Zunehmend wird auch gefragt nach der Bedeutung und den Werten einer nationalen Zugehörigkeit. Diese gesellschaftliche Reflexionsebene wird gebrochen durch eine andere Ausrichtung in der Bürgerdiskussion  : ein zunehmendes Bewusstsein der Gefährdung. Es wird an unantastbare Freiheiten und verbürgte Ansprüche des Bürgers als einer freien Person erinnert. Das Bewusstsein der Gefährdung wird auch gepaart mit einer selbstbewussten Verteidigung grundlegender politischer Werte. Die Freiheit des Bürgers darf nicht dem Sinn für Bedrohung geopfert werden – so eine wichtige Botschaft. Während eine Diskussion der epochalen Deutungen des Bürgerbegriffs jene Grundlagen schafft, ohne welche eine philosophische

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Systematische Vorüberlegungen

Reflexion heute nicht denkbar wäre, kann der zweite Deutungshorizont  – der Bürgerbegriff als ein gesellschaftlicher Reflexionsbegriff  – Anreiz geben zum philosophischen Fragen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung würde voraussetzen, genau zu ergründen, wie das Selbstbild des Bürgers an bestimmten Orten und in unterschiedlichen Gesellschaften beschaffen ist, um zu verstehen, welche Ursächlichkeit der Reflexion auf das Bürgersein zugrunde liegt. Von beiden Ansätzen sind die Diskussionen in der aktuellen politischen Philosophie zu unterscheiden. Wenden wir uns diesen Debatten um die politische Person zu, so können zunächst zwei Ebenen unterschieden werden, die beide die Diskussion in der politischen Philosophie bestimmen. Es ist dies einerseits eine Grundlagenreflexion auf die angemessene Rahmentheorie und andererseits die Anstrengung, für aktuelle Problemstellungen Antworten zu finden. Wird zunächst die Grundlagenreflexion thematisiert, so gilt es, auch die Alternativen zu benennen. Es sind dies der politische Liberalismus, der Kommunitarismus, die deliberative Demokratietheorie und zunehmend auch der bürgerschaftliche Republikanismus. Unabhängig von den jeweiligen konkreten Ausführungen sind die zugeordneten Positionen jeweils an einer Gruppe grundlegender Werte der politischen Lebensform interessiert. Eine erste Beobachtung ergibt, dass für den politischen Liberalismus die Werte der Freiheit, insbesondere in Gestalt von Abwehrrechten und als Freiheit der Lebensführung, grundlegend sind. Für den Kommunitarismus ist es die Vorstellung, das Gemeinwesen werde von geteilten Werten zusammen gehalten. In der deliberativen Demokratietheorie gilt bis heute nicht nur die argumentative Auseinandersetzung in einem öffentlichen, rationalen Diskurs als zentral. Vielmehr ist die Formierung der Öffentlichkeit auch ein zentrales Instrument zur Einfriedung der stets ausufernden politischen Macht des Staates.8 Der bürgerschaftliche Republikanismus schließlich erinnert an die Bedeutung des Gemeinwohls für das politische Gemeinwesen. Die 8 Ausführlicher zu den entsprechenden Positionen in Kap. 5.

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Rückbesinnung auf republikanische Vorstellungen über den Bürger hat insbesondere auch wie ein Katalysator für die Debatten um den Bürger gewirkt. Sie trägt dazu bei, die in der Debatte um den Bürger gewohnten Gegenüberstellungen aufzubrechen. Auch der Republikanismus hat eine lange und vielfältige Tradition. In der neuen politischen Philosophie wird dagegen ein Extrakt präsen­ tiert, das an dem Konzept eines Bürgers interessiert ist, für den die Gestaltung des politischen Gemeinwesens und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl Vorrang haben gegenüber individuellen Lebensentscheidungen. Anders als in der Tradition des Republikanismus wird nicht für den Bürger gestritten, der in heroischer Weise bereit ist, seinem Vaterland zu dienen. Vielmehr hat Philipp Pettit eine Interpretation vorgelegt, der zufolge das politische Gemeinwesen auf die Verwirklichung gemeinsamer Interessen bezogen ist und der Bürger einer Republik vor allem vor willkürlicher Machtausübung geschützt ist.9 Der modernisierte Republik-Bürger rückt so in die Nähe des vom politischen Liberalismus gezeichneten Bild des Bürgers. Aber schon diese ersten Abgrenzungs- und Zuordnungsversuche müssen vor Vereinfachungen geschützt werden. Nach John Rawls, dem wohl bekanntesten Vertreter des politischen Liberalismus unserer Zeit, ist ein Bürger nicht nur Träger besonderer, nicht fraglicher Ansprüche. Zwar gilt grundsätzlich  : Bürger betrachten sich selbst »als selbstbeglaubigende Quellen gültiger Ansprüche«10. Zugleich macht Rawls aber auch darauf aufmerksam, dass ein weiterer Aspekt, hinsichtlich dessen wir Bürger als frei betrachten, derjenige ist, »dass wir sie als fähig betrachten, Verantwortung für ihre Ziele zu übernehmen, und dies hat Konsequenzen für die Beurteilung ihrer verschiedenen Ansprüche«11. Es kann leicht übersehen werden, dass auch Rawls  9 So kann eine zentrale These von Pettit in seinem Beitrag zum Republikanismus von 1997 zusammengefasst werden. 10 Rawls 1998, S. 102. 11 Ebd., S. 103.

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das Gewicht der Ansprüche nicht ausschließlich nach »Stärke und psychische[r] Intensität ihres Bedarfs und ihrer Wünsche«12 beurteilt wissen will. Vielmehr werden Bürgerinnen und Bürger wenigstens insofern auf einen Gemeinwohlbezug verpflichtet, als ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht nur in Relation zu den Gerechtigkeitserfordernissen in einer politischen Gesellschaft gesehen werden, sondern ihnen auch zugetraut wird, ihre eigenen Wünsche in jenen Kontext zu stellen. Jenseits vertraglicher Zusicherungsmechanismen leben Bürgerinnen und Bürger in einer politischen Gesellschaft, die einem gemeinsamen Ideal politischen Lebens auf sehr konkrete Weise verpflichtet ist. Neben der Grundlagendiskussion um den angemessenen theoretischen Rahmen für die Bürgerdiskussion wird in der politischen Philosophie zunehmend auch versucht, auf drängende politische Fragen philosophische Antworten zu entwickeln. Nicht erst durch neue Bewegungen zu supranationalen Zusammenschlüssen, von denen die Prozesse in der Europäischen Union nur ein Beispiel sind, sondern auch durch zunehmende Migration in einer globalisierten Welt wird die Frage drängend, ob die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat überhaupt ein tragfähiges Konzept für die Zukunft ist. Auch Autoren der politischen Philosophie nehmen diese Fragen auf. Die Antworten fallen erwartungsgemäß unterschiedlich aus. Herman Van Gunsteren macht in seiner politisch-liberalen Theorie darauf aufmerksam, dass gerade wegen der zu erwartenden Zunahme einer pluralen Gesellschaft die Kernaufgabe einer Theorie des Bürgers sein wird, Argumente dafür zu liefern, aus einer Schicksalsgemeinschaft eine politische Gemeinschaft zu formen.13 Vielfalt ist kein Schicksal, sondern eine politische Aufgabe. Andere Autoren argumentieren dafür, die Debatten um den Bürger als Fortsetzung um die Diskussion grundlegender Menschenrechte zu führen. In einer globalen Welt kommt alles darauf an, eine unerschütterliche gemeinsame Grundlage jenseits nationalstaatlicher 12 Ebd. 13 So eine zentrale These von Van Gunsteren 1998.

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Zugehörigkeit zu etablieren.14 In einer anderen Hinsicht um Grundlegung bemüht ist der Vorschlag von Seyla Benhabib, angesichts zunehmender Migrationsbewegungen das »Recht auf das Haben von Rechten« erneut zu bedenken.15 Dies hat unmittelbare Konsequenzen für eine Umgestaltung des Asylrechts. In dieser Studie soll eine gegenüber beiden Möglichkeiten  – der Diskussion des systematischen Rahmenprogramms und der Diskussion konkreter Herausforderungen durch eine zusammenwachsende Welt – alternative Konzeption vorgestellt werden. Es wird gefragt, welche politischen Wertvorstellungen in der Konzeption des Bürgers als eines politischen Ideals subsumiert werden können und welche argumentativen Grundlagen es für die jeweiligen Bedeutungsebenen gibt. In einer Differenzierung von Bedeutungsebenen wird dargelegt, dass der Bürger ein komplexes Ideal ist, zu dessen Klärung sowohl Einsichten aus der Theoriebildung des politischen Liberalismus als auch aus anderen Strömungen der Gegenwartsphilosophie zu berücksichtigen sind. Gelingt dies, so sind auch Ergebnisse mit Rücksicht auf die Frage zu erwarten, woran die Wirklichkeit politischer Institutionen in einer zusammenwachsenden und von Migration geprägten Welt Orientierung finden kann. Es ist ein Bestandteil dieses Vorgehens, die Debatte darum, was ein Bürger ist, zunächst von der Frage abzulösen, in welcher politischen Institution und auf welcher politischen Organisationsebene das Bürgersein verankert sein sollte. Vorrangig ist die Erkenntnis, auf welche Weise und in welchen Hinsichten ein politisches Gemeinwesen dafür Sorge tragen muss, die Kompetenzen des Bürgers hinsichtlich Wirtschaftsbeteiligung, Bildung, Umweltgestaltung, Gleichberechtigung und Umweltschutz zu ermöglichen und einen wenigstens minimalen Versorgungsstand zu garantieren.

14 Vgl. Faulks 2000. 15 Vgl. Benhabib 2004.

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1.3 Die Bedeutung adjektivischer Bürgerkonzepte Die Vielschichtigkeit des Bürgerdiskurses ist nicht neu. Jedoch zeichnet sich auch eine Tendenz ab, die Debatte um den Bürger zunehmend in Spezialdiskursen zu führen. Neben der Erörterung des »Wirtschaftsbürgers«, die durch Peter Ulrich und die Vorlage seiner »Integrativen Wirtschaftsethik« befördert wurde,16 gibt es in der anglo-amerikanischen Forschungswelt einen Spezialdiskurs über den »ökologischen Bürger«, der durch Andrew Dobsons Beitrag »Citizenship and the Environment«17 angestoßen wurde. Zunehmend wird auch nach neuen Deutungen des »Bildungsbürgers« gefragt. Ausgangspunkt ist die Einsicht in die Notwendigkeiten der Bildung zum Bürger. Vielleicht ist es eine Besonderheit der politischen Philosophie, eine solche Vielfalt unterschiedlicher Diskurse zulassen zu können. Insbesondere ist es aber eine Aufgabe der politischen Philosophie, diese Diskurse zusammenzuführen und nach ihrem systematischen Gehalt zu fragen. Jedoch muss auch berücksichtigt werden, dass einige adjektivische Bürgerkonzepte öffentlichkeitswirksam und vornehmlich in appellativer Absicht verwendet werden. Dies gilt sicherlich für die Verwendung der Begriffe »Konsumbürger« und »Warenbürger«, des Weiteren auch für den Begriff des »Cyberbürgers«. Die Verknüpfung mit »Bürger« soll in diesen Wendungen in kritischer Absicht darauf aufmerksam machen, dass politische Pflichten und Rechte zugunsten der Beteiligung an anderen gesellschaftlichen Systemen – so beispielsweise der Marktwirtschaft oder dem Internet – in den Hintergrund gedrängt werden. Von jenen Verwendungsweisen adjektivischer Bürgerkonzepte können Diskurse unterschieden werden, die ebenfalls oft in kritischer Absicht auf neue Lebensformen der politischen Person aufmerksam machen wollen und in der politischen Philosophie mit einem systematischen Gehalt verbunden werden. Es sind dies Diskussionen über den Bil16 Vgl. Ulrich 2001. 17 Vgl. Dobson 2003.

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dungsbürger, den Umweltbürger und den Wirtschaftsbürger  ; ebenso auch über neue Formen des Weltbürgertums18 und des Patriotismus.19 Ein weitergehender Versuch der Durchdringung macht deutlich, dass der Bürgerdiskurs wenigstens zu einem Teil in der Sprache der sogenannten »adjektivischen Bürgerkonzepte« geführt werden kann. Zugleich entsteht dadurch eine neue Richtung der Diskussion. Während es in den Auseinandersetzungen der politischen Philosophie um den »Bürger« oft um die großen Paradigmen und grundlegende Verständigungsprozesse über die politische Person geht, sind »adjektivische Bürgerkonzepte« stets auf konkrete Lebenswelten bezogen. Mit ihnen wird darauf reagiert, dass Lebenswelten des Menschen von heute nicht nur in sich differenziert sind, sondern auch, dass deren Bewältigung ein ebenso differenziertes Set an gestaltenden Möglichkeiten voraussetzt. Ohne Bildung können politische Zusammenhänge weder verstanden noch gestaltet werden. Ohne umweltethische und umweltpolitische Kompetenzen können Menschen die Institutionen von morgen nicht zugunsten einer umweltfreundlichen Orientierung umgestalten. Und ohne Identifizierung mit dem eigenen Land und ohne kosmopolitische Kompetenzen können Menschen sich nur schwer in eine Welt einordnen, die von politischen Institutionen wesentlich geprägt ist. Wird dieser Argumentation gefolgt, ergibt sich eine Verlagerung der Diskussion der politischen Philosophie. Es ergibt sich die Möglich­ keit und Notwendigkeit, jene konkreten Punkte zu thematisieren, an denen Menschen als politische Personen gefordert sind, politisch gestaltend tätig zu werden und zugleich deutlich ist, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen nur gedeihen können, wenn sie in der politischen Gemeinschaft zugelassen und gefördert werden. So wird ein grundlegendes Paradox der Demokratie neu interpretiert. Das Paradox einer jeden demokratisch verfassten politischen Gemeinschaft besteht darin, institutionelle Vorkehrungen schaffen zu sollen, um die eigenen 18 Vgl. Appiah 2007. 19 Vgl. Ignatieff 1993, Nussbaum 1996.

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Wirkmöglichkeiten in Bahnen des politisch Richtigen zu lenken und zugleich Macht- und Einflussmöglichkeiten der politischen Institutionen wirksam zu begrenzen. Im Zentrum dieser Überlegungen steht nun jedoch nicht mehr der Staat, um dessen Eingrenzung und Einfriedung der politische Liberalismus stets besorgt war. Vielmehr steht im Zentrum der Überlegung der Bürger. Als ein politisches Ideal kann der Bürgerstatus nur verwirklicht werden, sofern es die politische Gemeinschaft auch bewirken kann, eine Liste spezifischer Kompetenzen zu befördern. 1.4 Konzeptionelle Grundlagen Mit Rücksicht auf die konzeptionellen Grundlagen der in dieser Studie verfolgten Argumentationslinie sind einige Aspekte bereits geklärt worden. Die Studie ist grundsätzlich dem politischen Liberalismus und seiner Betonung der Freiheiten des Bürgers verpflichtet, ohne dass jedoch andere Strömungen der politischen Philosophie unserer Zeit ausgegrenzt werden. Vielmehr wird die argumentative Vielfalt zur Klärung der Komponenten des Bürgers als eines politischen Ideals genutzt. Näherhin wird der Inhalt des Bürgerkonzepts in zwei Hinsichten Kontur annehmen. Erstens betrifft dies seine Form, und zweitens seinen Gehalt. Die Voraussetzungen dafür, diese Ebenen zu kommentieren, sind schon gelegt worden. Darüber hinaus muss erörtert werden, in welchen grundlegenden Kategorien die Argumentation vollzogen werden soll. Was die Form angeht, so muss gefragt werden, wie die Vieldimensionalität der Debatten um den Bürger eingehegt werden kann. Die These, die in diesem Buch vertreten werden soll, ist zunächst, dass das Bürgerkonzept nicht mit Rücksicht auf einen wesentlichen Gehalt beschrieben werden kann. Dies ist auch eine Lehre aus der Philosophiegeschichte. Während der erste große Theoretiker des Bürgers, Aristoteles, noch der Überzeugung war, den Bürger mit Rücksicht auf ein Merkmal – die politische Teilhabe – charakterisieren zu können, gilt dies zunehmend nicht mehr. Auch in der römischen Antike ist es noch

Konzeptionelle Grundlagen

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die Vorstellung der Gesetzesherrschaft, die um den Gemeinwohlbezug ergänzt die politische Lebensform in der Republik grundlegen kann. Aber schon in der Tradition des Republikanismus, auf den sich der bürgerliche Republikanismus heute bezieht, sind eine ganze Reihe weiterer Faktoren wichtig für die Bestimmung des Bürgers. Sein Gehalt kann nicht geklärt werden ohne auch Vorstellungen über ein freies Leben und die freie Republik, Bürgertugenden und nicht-rechtliche Formen der Zugehörigkeit zu erörtern.20 Den Listentheorien in der Ethik des guten Lebens formal vergleichbar, schlage ich vor, in einer Theorie des Bürgers seine Elemente als nicht aufeinander reduzierbare Komponenten zu beschreiben. Die Frage, ob trotz der Disparität der Komponenten gleichwohl ein zusammenhängendes Bild entstehen wird, kann vorläufig mit dem Hinweis auf drei Zusammenhänge beantwortet werden. Erstens ist in jedem Aspekt eine normative Absicht erkennbar  ; diese normative Absicht ist unmittelbar auf die Auslegung des »Bürgers« als einer politischen Person bezogen. Voraussetzung dafür, dieses gemeinsame Anliegen zu erkennen, ist allerdings zuzugestehen, dass die Debatten um den Bürger von der Fragestellung geprägt sein dürfen, was Menschen als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft erwarten können und was sie leisten können sollen. Dieser Diskurs wird jedes Mal auf eine besondere Weise geführt, wenn es um die Bildung zum Bürger, um das Verhältnis von Bürgern und natürlicher Umwelt oder etwa um den Wirtschaftsbürger geht. Zweitens bleibt die Diskussion stets an der Frage orientiert, was allen gleichermaßen gebührt. Es geht mithin nicht um Möglichkeiten eines individuell ausgestalteten guten Lebens. Vielmehr verbindet die Spezialdiskurse mit der allgemeinen Debatte um den Bürger die Vorstellung, Ansprüche und Pflichten durch die Vorstellung qualifizierter Gleichheit einhegen zu können und auch zu sollen. Drittens werden nur jene Lebensbereiche angesprochen, die das Leben des Menschen in Gestalt der politischen 20 Vgl. Viroli 1999.

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Organisation prägen oder doch zumindest prägen sollen. Gegenstand der Erörterung sind nicht Fähigkeiten zu einem guten Leben,21 sondern Kompetenzen zu einem politisch gelungenen Gemeinschaftsleben. Umweltbezüge, Bildung und Fähigkeiten zur Identifizierung mit dem politischen Gemeinwesen werden auch eine Bedeutung für das individuelle Glück des Menschen haben. Jedoch werden ihre Erfordernisse und ihr Gehalt im Rahmen einer politisch-philosophischen Theorie begründet. Damit das resultierende Konzept jedoch überzeugen kann, ist eine weitere Verständigung über seinen Gehalt angebracht. In dieser Studie möchte ich einerseits dazu beitragen, die Debatte um den Gehalt der Kernvorstellungen der bürgerlichen Lebensform auf einer neuen Ebene weiterzuführen. Anstatt etwa Freiheit oder Gleichheit als wesentliche Gehalte vorauszusetzen und sie in den Grundrechten als verbrieft anzusehen, gilt es erneut, nach ihrer Bedeutung als Grundlage eines politischen Ideals zu fragen. Die Debatten in der politischen Philosophie bleiben daran interessiert, diese Gehalte als Deutungselemente des Bürgers darzustellen. Neue Debatten über Formen der bürgerlichen Freiheit, aber auch über die Grenzen sozialer und politischer Gleichheitsforderungen können dazu beitragen, eine differenzierte Position zu den Grundgehalten zu entwickeln. Andererseits soll es aber auch darum gehen, den Gehalt des Bürgerkonzepts umfassend zu analysieren. Eine Verständigung über die Ideen politischer Gleichheit und politischer Freiheiten reichen nicht aus. Vielmehr wird beispielsweise auch zu fragen sein, was aus der Gemeinschaft der Bürger, der einst so pathetisch umrissenen Brüderlichkeit, und dem Patriotismus geworden ist und welche Deutungen uns die politische Philosophie von heute nahelegt. 21 Dies sei in Abgrenzung zu Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz erwähnt. Nussbaum stellt in das Zentrum ihrer politischen Philosophie die »Fähigkeiten zu einem guten Leben«. An deren Ermöglichung sollten sich politische Maßnahmen orientieren. Für eine Rechtfertigung und Ausführung des Fähigkeiten-Ansatzes vgl. Nussbaum 2000.

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Grundlegend für die Vorüberlegungen zur Untersuchung ist schließlich auch eine Verständigung über die Kategorien, mit denen die Gehalte erfasst werden. Auch wenn für die Vieldimensionalität der Bürgerkonzeption gestritten wird, bedeutet dies nicht, dass die Gehalte in disparaten Kategorien erfasst werden müssen. Grundlegend ist zunächst die bereits skizzierte Annahme, der Bürgerstatus könne als ein politisches Ideal erörtert werden. Seine Bedeutungsebenen können mit Bezugnahme auf politische Werte ausbuchstabiert werden. Weiterhin ist die Kategorie der »Kompetenz« geeignet, eine Alternative darzulegen gegenüber Vorstellungen über den »guten Bürger«, bürgerliche Tugenden und Zugehörigkeitskulturen einerseits und den »Rechten des Bürgers« andererseits. Eine Position des »geräumigen politischen Liberalismus« teilt mit dem politischen Liberalismus die Annahme unveräußerlicher politischer Mindestgarantien. Darüber hinaus wird aber gefragt, was ein gelungenes politisches Leben ermöglicht. Mein Vorschlag ist, dass alle Komponenten des Bürgerkonzepts als Kompetenzen des Bürgers beschrieben werden können, die mit einem vieldimensionalen politischen Ideal korrespondieren. In einem politischen Ideal werden Vorstellungen darüber zusammengefasst, was Elemente einer gelungenen Weise des Vollzugs einer politischen Lebensform sind. Ein Ideal kann als Leitvorstellung dienen  ; zunächst dient es aber dazu, begründete Vorstellungen über das Richtige explizit zu machen. Mit dem politischen Ideal korrespondieren Kompetenzen des Bürgers. Trotz vieler Spezialbedeutungen des Begriffs »Kompetenz« können zwei Merkmale als zentrale Bestandteile seiner Verwendung bezeichnet werden. Deutlich werden diese, sobald auf die Wurzeln des Begriffs im römischen Recht Bezug genommen wird.22 Wird eine Kompetenz zugeschrieben, so werden einer Person die Voraussetzungen zum Vollzug einer politischen Funktion zuerkannt. Darüber hinaus ist die »Kompetenz« in ihrer Ursprungsbedeutung das Minimum, das einer Person von Rechts wegen auf jeden Fall zusteht. 22 Vgl. Behse 1976, S. 918–920.

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Im römischen Recht wird mit dem »beneficium competentiae« jener Notbedarf beschrieben, welcher einem Angeklagten trotz rechtkräftiger Verurteilung zusteht. Die Kompetenz ist mithin das, was jedem ohne Ansehen der Umstände und der Person, also bedingungslos, zusteht. Eine »Kompetenz« bezeichnet mithin einerseits die Zusicherung über einen Mindestbestand – eine Zusicherung, die vermittelt durch politische Institutionen gewährleistet wird – und ist andererseits ein Attribut der Person, das die Fähigkeit zu einer politischen Funktion bestätigt. Die Kombination beider Elemente ist für eine Übertragung in unseren Untersuchungskontext geeignet. Konkrete Bedteutungselemente des Konzepts »Bürger« machen dies deutlich. Der Begriff des Bildungsbürgers etwa wird im Folgenden so interpretiert werden, dass er zweierlei bezeichnet  : Als gebildete Bürger sind Menschen in der Lage, politisch aktiv zu sein. Zugleich wird eine Forderung über das Minimum dessen erhoben, was seitens politischer Institutionen zugesichert werden muss, damit diese Möglichkeit tatsächlich gegeben ist. Entsprechend zielt Bildung darauf ab, Bürgerinnen und Bürger in den Stand zu setzen, das politische Gemeinwesen aktiv zu gestalten. Als Umweltbürger sind Menschen in einer Situation, in welcher sie vermittelt durch politische Institutionen an einer zukunftsfähigen Gestaltung des Verhältnisses von Mensch zu Natur beitragen können. Zugleich wird dem Umweltbürger ein Zugriff auf natürliche Ressourcen in Gestalt eines unbedingt notwendigen Minimums zugestanden. Die Konzeption der »Kompetenz« kann jedoch nicht nur auf jene Bedeutungselemente angewendet werden, sondern auch auf die grundlegenden Inhalte des Bürgers  : Freiheit und Gleichheit. Als Bürger haben Menschen die Möglichkeit, ein grundlegendes Maß einer Gruppe von Freiheiten zu genießen. Ihnen wird ein politisch verhandeltes und politisch-philosophisch begründetes Minimum zugesichert. Zugleich sollten sie in der Lage sein, als Freie und als Gleiche zu handeln und ihre Freiheit und Gleichheit zugunsten des politischen Gemeinwesens und zugunsten der Mitbürgerinnen und Mitbürger einzusetzen.

2.

Der Fr eie

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in Bürger kann nicht tun und lassen, was er möchte. Ganz im Gegenteil. Ein Bürger muss Gesetzen gehorchen, die seine Wahlfreiheit einschränken. Ein Bürger wird sich politischen Entscheidungen und politischer Macht unterwerfen müssen. Zudem lebt er in Gesellschaft anderer Bürger. Die Verwirklichung seiner Ziele und Wünsche kann dadurch beeinträchtigt werden, dass andere Bürgerinnen und Bürger andere Ziele verfolgen. Trotz dieser offensichtlichen Unfreiheiten ist der Bürgerstatus aufs Engste auf Freiheiten bezogen. Theorien politischer Freiheit können als Versuche interpretiert werden, die Sicherstellung von Freiheit mit der Existenz politischer Institutionen und der Lebensform des Bürgers als eines gesellschaftlichen Wesens zu versöhnen. Nicht anders wird die Aufgabe einer nach-naturrechtlichen politischen Philosophie von Rousseau gekennzeichnet, wenn er das erste Kapitel in Der Gesellschaftsvertrag mit den Worten beginnen lässt  : »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen  ? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen  ? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.«23 Sind rechtmäßige Institutionen erst einmal geschaffen, ist auch die Freiheit wieder erlangt, nun jedoch in Gestalt der bürgerlichen Freiheit. »Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann  ; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.«24 23 Rousseau 1986, S. 5 [I.1]. 24 Ebd., S. 22 [I.8].

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Zwar ist Rousseaus Antwort auf die Frage, wie Freiheit in einer politisch verfassten Gemeinschaft möglich ist, eine eigenwillige. Sie ist geprägt durch das republikanische Ideal eines Souveräns, der sich als Staatsvolk durch einen gemeinsamen Willen erst erschafft.25 An die Stelle des vorrechtlichen Zustands tritt nicht allein die Herrschaft der Gesetze. Vielmehr halten Gerechtigkeit und Sittlichkeit Einzug in das politische Gemeinwesen.26 Rousseaus Formulierung der grundlegenden Frage trifft dennoch bis heute den Kern der Sache. Es ist die Frage nach der Möglichkeit bürgerlicher Freiheit, die im Kontext politischer Macht und einer gesellschaftlichen Lebensform gedacht werden muss. Welche Freiheit ein Bürger genießt, kann nicht durch den Verweis auf die Bedeutung politischer Freiheit geklärt werden. Vielmehr müssen verschiedene Formen der Freiheit des Bürgers erörtert werden. Gehalt und Struktur der Formen bürgerlicher Freiheit weichen voneinander ab. Für jede von ihnen muss auch mit besonderen Argumenten gestritten werden. Grundlegend für eine Differenzierung politischer Freiheiten ist die Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit von Isaiah Berlin,27 die bereits bei Benjamin Constant in der Unterscheidung der »Freiheit des Altertums« und der »Freiheit der Moderne«28 angelegt ist. Freiheit als Abwesenheit willentlicher Störungen des eigenen Handlungsablaufs durch eine andere Person ist negative Freiheit.29 Diese Freiheit möglichst umfangreich zu genießen, ist ein Ideal des politischen Liberalismus der Neuzeit und Gegenwart. Sie findet Ausdruck in Rechten, welche mindestens privates Eigentum, die Unversehrtheit der Person und den Schutz eines intimen Lebensbereichs garantieren. Positive Freiheit dagegen meint die Möglichkeiten politischer Selbstbestimmung. Die Unterscheidung einer negativen und einer positiven Form der Freiheit ist wegweisend für die Diskussion bürgerlicher Freiheit in der 25 Vgl. ebd., S. 19–21 [I.7]. 26 Vgl. ebd., S. 22 [I.8]. 27 Vgl. Berlin 1995 [1958]. 28 Vgl. Constant de Rebeque 1946 [1819]. 29 Vgl. Berlin 1995.

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politischen Theoriebildung. Jedoch ist sie nicht hinreichend. Bedroht ist die Freiheit des Einzelnen nicht nur durch Störungen der eigenen Handlungsabläufe durch Handlungen anderer und fehlende Möglichkeiten politischer Mitbestimmung. Abwehrrechte und politische Rechte genügen nicht, um zu verhindern, dass Menschen Mächten ausgeliefert sind, die ihre freiheitliche Entfaltung zunichtemachen können. Bürger müssen auch Möglichkeiten haben, ihr Gewissen selbst zu bilden, ihre Meinungen ungestraft zu äußern und Formen der Vergesellschaftung zu wählen. In diesem Kapitel soll die Vielschichtigkeit bürgerlicher Freiheiten auseinander gesetzt werden. Begonnen wird mit einer Erinnerung an die Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit. Dann werden fünf grundlegende Formen bürgerlicher Freiheit als Schutz vor Übergriffen, Freiheit der Lebensführung, Freiheit von willkürlicher Machtausübung, Freiheit zur Vergesellschaftung und Freiheit zur politischen Selbstbestimmung erläutert. Während es durchaus üblich ist, entweder die Freiheitsformen als Gegensätze zu konstruieren oder eine Zuordnung zu einem Lager der politischen Philosophie durch die Betonung einer bestimmten Form der Freiheit vorzunehmen, werde ich dafür argumentieren, dass erst die Verbindung aller fünf Formen von Freiheit eine umfassende Bestimmung bürgerlicher Freiheit ergibt. Mit diesem Vorschlag wird in zwei entscheidenden Hinsichten von anderen Möglichkeiten der Sortierung bürgerlicher Freiheiten abgewichen. Erstens wird nicht davon ausgegangen, dass auf die Erörterung bürgerlicher Freiheiten zugunsten einer Darstellung grundlegender Menschenrechte verzichtet werden kann. Zwar sind Menschenrechte – ebenso wie Freiheiten – hinsichtlich ihres Gehalts und ihrer Struktur kein monolithischer Block. Im Unterschied zu Menschenrechten sind politische Freiheiten aber deutlich bezogen auf die Situation existierender Machtverhältnisse in Gestalt politischer Institutionen und auf eine Vergesellschaftungsform, deren Bezugsgröße die politische Gemeinschaft ist. Für Menschenrechte soll dies gerade nicht gelten.

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Zweitens wird das Recht auf Privateigentum nur genannt, nicht jedoch erörtert. Welche Funktion privater Besitz mit Rücksicht auf den Bürgerstatus hat, ist umstritten und seit den vertragstheoretischen Entwürfen der politischen Philosophie der Neuzeit zentraler Gegenstand der Auseinandersetzung. Da es ein derart zentrales Thema ist, soll die Diskussion um Privateigentum und Wirtschaftsfreiheiten in einem dafür vorgesehenen Kapitel geführt werden.30 Fragen der Ungleichverteilung ökonomischer Mittel werden dagegen in die Diskussion um »Gleichheit«31 einbezogen. Die Erörterung von Freiheiten ist ein ideengeschichtliches Schwergewicht. Deshalb ist eine weitere Vorbemerkung nötig. Es kann in diesem Kapitel nicht darum gehen, die vielfältigen Dilemmata zu ergründen, die in jedem Versuch einer Bestimmung und Abgrenzung grundlegender Freiheitsrechte auftreten. Worum es mir geht, ist eine Darlegung zentraler Gehalte bürgerlicher Freiheit unter Berücksichtigung der Debatten um diese Freiheiten in der politischen Philosophie der Gegenwart. 2.1 Negative und positive Freiheit Benjamin Henri Constant de Rebecque setzt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung moderner Lebensformen und neuen Formen der Politik auseinander. Seiner Meinung nach kann eine friedliche Koexistenz von Menschen und Ländern Bestand haben, wenn die Art und Weise der Akquisition von Gütern konsequent in Form einer Marktwirtschaft vollzogen wird. Statt mit Gewalt einander der Dinge zu berauben, die Begehrlichkeiten wecken, können Menschen rechtmäßig in den Besitz von Gegenständen kommen. In einer Rede Constants aus dem Jahr 1819, betitelt Über die Freiheit der Alten, verglichen mit der Freiheit der Modernen, werden zwei 30 Siehe dazu das Kapitel 4  : »Wirtschaftsbürger«. 31 Siehe dazu das Kapitel 3  : »Ein Gleicher«.

Negative und positive Freiheit

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Formen politischer Freiheit unterschieden. Die Freiheit der Alten, mit welcher die Situation des Bürgers sowohl in den antiken Stadtstaaten Griechenlands als auch des antiken Rom bezeichnet wird, besteht in kollektiver politischer Selbstbestimmung. Souveränität wird direkt vom Bürger ausgeübt, indem im öffentlichen Raum über Krieg und Frieden verhandelt wird, indem Allianzen mit anderen Regierungen hergestellt werden, indem Gesetze beschlossen und Urteile voll­zogen werden und indem die Regierungsbeauftragten kontrolliert, vor die Leute bestellt und angeklagt werden und sie entweder verdammt oder freigesprochen werden.32 Politische Freiheit war zu jenen Zeiten jedoch gepaart mit privater Unfreiheit. Bis auf wenige Ausnahmen kannte politische Herrschaft keine Grenze. »Die Menschen waren sozusagen nur Maschinen, deren Triebkraft und Räderwerk das Gesetz ordnete und leitete.«33 Nach Constant ist es erst eine Entdeckung der Moderne, Freiheit als Recht zu bestimmen, ausschließlich Gesetzen gehorchen zu müssen und weder eingesperrt, noch verurteilt, noch hingerichtet oder gefoltert werden zu dürfen aufgrund des willkürlichen Urteils irgendeines anderen Individuums.34 Zudem beinhalten die Freiheiten der Moderne die Verfügungsgewalt über Privateigentum sowie Versammlungs-, Religions- und Meinungsfreiheiten. Politische Selbstbestimmung dagegen reduziert sich in der Moderne darauf, Regierungsgeschäfte beeinflussen zu können – und sei es durch »Eingaben, Bittschriften, Forderungen, welche die Behörde mehr oder weniger zu beachten verpflichtet ist«35. Ziel des modernen Menschen ist es, das zu ermöglichen, was ein jeder an erster Stelle sucht  : Möglichkeiten, seinen privaten Genuss und persönliche Unabhängigkeit zu steigern.36 32 Vgl. Constant 1946, S. 30. 33 Ebd., S. 32. 34 Vgl. ebd., S. 29–30. 35 Ebd., S. 30. 36 Vgl. ebd., S. 47.

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Während Benjamin Constant keinen Zweifel daran lässt, dass die »Freiheiten der Moderne« als Bündel unterschiedlicher Rechte artikuliert werden müssen, versucht Isaiah Berlin zu zeigen, dass sie eine gemeinsame Struktur haben. Als frei erlebt sich der Mensch, insofern und in welchem Maße er sich ungehindert durch andere betätigen kann.37 Unfrei dagegen ist nicht, wer nicht in der Lage ist, eine Handlung auszuführen. Das wäre Unvermögen. Vielmehr ist unfrei, wer in einer willentlich verfolgten Handlung absichtlich gestört wird.38 Negative Freiheit ist ein Konzept, mit welchem jener Bereich bestimmt wird, in welchem Menschen ohne Einmischung durch andere Menschen handeln können sollten.39 Positive Freiheit dagegen ist ein Konzept, das sich auf die Frage der Autorschaft von Kontrolle und Einmischung bezieht. Nur wer sich auch politisch selbst bestimmen kann, ist in diesem zweiten Sinn frei.40 Berlin will jedoch nicht nur eine Grundstruktur von Freiheit herausarbeiten. Er versteht auch die Begrenztheit negativer Freiheiten. Insbesondere zwei zentrale Probleme ergeben sich. Erstens kann negative Freiheit als uneingeschränkte Freiheit eines jeden nicht existieren. Vielmehr produziert »naturwüchsige Freiheit« ein »gesellschaftliches Chaos«.41 Der Grund ist, dass die Handlungsziele der Menschen nicht harmonisch und auch nicht harmonisierbar sind.42 Statt eine gesellschaftliche Utopie heraufbeschwören zu wollen, sollte gefragt werden, aus welchen Gründen Freiheit zu Recht beschnitten werden kann. Berlin vertritt die Ansicht, negative Freiheit sei ein absoluter Wert und könne nur durch andere negative Freiheiten eingeschränkt werden.43 Das bedeutet aber auch, dass negative Freiheit nicht um an37 Vgl. Berlin 1995, S. 201. 38 Vgl. ebd., S. 202–203. 39 Vgl. ebd., S. 201. 40 Vgl. ebd., S. 212–213. 41 Vgl. ebd., S. 203. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd., S. 206.

Schutz vor Übergriffen

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derer, möglicherweise zentraler gesellschaftlicher Ziele wegen eingeschränkt werden darf – auch nicht etwa zugunsten von Gerechtigkeit, gesellschaftlichem Wohl oder etwa für Umweltschutzziele. Zweitens bleibt zu fragen, worin das Minimum der negativen Freiheit besteht, das Menschen nicht aufgeben sollten. Ob es genügt, die Grenzen der Freiheit allein dadurch zu bestimmen, dass Anderen kein Schaden zugefügt werden darf, bleibt umstritten.44 In der Diskussion bürgerlicher Freiheit zwischen einer negativen und einer positiven Seite, zwischen passiver und aktiver Erscheinungsform zu unterscheiden, ist hilfreich. Hinsichtlich ihrer analytischen Klarheit ist die Unterscheidung umstritten. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob Freiheit im politischen Rahmen überhaupt mit Rücksicht auf Handlungskategorien hinreichend bestimmt werden kann. Müssten nicht ebenso Möglichkeiten politischer Machtausübung und autorisierten Zwanges bedacht werden  ? Zudem ist die Vorstellung, positive Freiheit bestimme sich ausschließlich durch ihre Urheberschaft, unzureichend. Auch mit Rücksicht auf positive Freiheit sind nicht nur ihr Ursprung, sondern auch die Art und Weise ihres Vollzugs bedeutsam.45 Dennoch bleibt die Unterscheidung ein wichtiger Ausgangspunkt der Diskussion politischer Freiheiten. An ihr wird die Vieldeutigkeit des Konzepts bürgerlicher Freiheit exemplarisch deutlich. Im Folgenden soll die Logik bürgerlicher Freiheiten entfaltet werden, indem Grundformen herausgearbeitet werden, die sich nicht nur strukturell, sondern auch hinsichtlich ihres Gehalts voneinander unterscheiden. 2.2 Schutz vor Übergriffen Die Freiheiten zu Mord, Folter, Betrug und Diebstahl kann es in einem rechtlich organisierten Gemeinwesen nicht geben. In der politischen Philosophie der Neuzeit wird der bürgerliche Zustand als verrecht44 Siehe dazu den Abschnitt »Freiheit der Lebensführung«. 45 Vgl. Skinner 1984, 1995.

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lichte Lebensform kontrastiert mit einem vorrechtlichen »Naturzustand«. An die Stelle der uneingeschränkten Willkür des Einzelnen tritt die Herrschaft der Gesetze.46 Sobald der bürgerliche Zustand als rechtlicher Zustand definiert ist, wird dieser zuerst den Schutz vor gewaltsamen Übergriffen beinhalten. Den bürgerlichen Zustand im Kontrast zum Naturzustand zu begreifen, ist an erster Stelle ein Gedankenexperiment oder – mit Rawls’ Worten  – ein »Darstellungsmittel«.47 Die Errichtung einer Staatsgewalt, die als gesetzgebende und als sanktionsfähige Gewalt das Handeln der Menschen beträchtlich beeinflussen kann, wird als Ergebnis eines rationalen Kalküls der zukünftigen Untertanen dargestellt. Dem Verlust eines vorrechtlichen Zustands zugunsten eines bürgerlichen Lebens werden Menschen dann zustimmen, wenn die Tauschhandlung einen persönlichen Gewinn ergibt. Insbesondere muss dieser die durch die Gesetzesherrschaft verlorene Willkürfreiheit aufwiegen. Je nach vertragstheoretischem Entwurf wird die Tauschhandlung auch unterschiedlich interpretiert. Nach Thomas Hobbes geben Menschen das Recht auf alles ab um des Gutes persönlicher Sicherheit willen.48 Bürgerliche Freiheit gründet in dem Schutz vor gewaltsamen Übergriffen auf Leib, Leben, Hab und Gut. Der Preis ist nach Hobbes nicht nur die Bindung an Gesetze, sondern auch die fast vollständige Unterwerfung unter einen mächtigen Staat.49 Geleistet wird der Preis, weil der Mangel an Gesetzen automatisch zu einer Eskalation führt. Wenn keiner den anderen trauen kann und Angst und Unsicherheit groß sind, werden irrationale Formen der Aufrüstung zu einer Belastung, die Menschen nicht wünschen. Nach Rousseaus Vorstellungen über einen Gesellschaftsvertrag wird vollständige Willkürfreiheit getauscht gegen die Bindung an Ge46 Vgl. Locke 1977, S. 254–255, 258–259 [II. § 89, § 94]  ; vgl. Kant 1983a, S. 144–145 [A 233–235]. 47 Vgl. Rawls 1998, S. 90–94. 48 Vgl. Hobbes 1980, S. 154–155 [II.17]. 49 Vgl. ebd., S. 156–157 [II.18].

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setze. Ein Verlust ergibt sich deshalb nicht, weil Gesetzesherrschaft auf direkte politische Herrschaft des Volkes gegründet ist.50 Jedoch müssen Einzelinteressen dem Gemeinwillen weichen. Nach John Locke wiederum werden vorpolitische, natürliche Rechte getauscht gegen institutionell gesicherte Rechte auf Eigentum und auf den Schutz von Leib und Leben.51 Menschen behalten das, was ihnen zusteht, nun allerdings in politisch sanktionierter Form. Staaten sind dafür da, durch Repräsentativorgane den Interessen der Menschen an grundlegenden Schutzgütern zu dienen. Unabhängig davon, wie eine hypothetische Vertragshandlung konstruiert wird  : Der Gewinn ergibt sich daraus, dass die erhandelten Güter für Menschen grundlegend sind. Persönliche Abwehrrechte sind unabdingbar wegen der Verletzlichkeit des Menschen als eines Lebewesens und seiner Angewiesenheit auf Güter des Lebens. Umstritten ist vor allem die Ausdeutung der elementaren Schutzpflichten des Staates. Dies betrifft einerseits die institutionelle Umsetzung der vertragstheoretisch angelegten Vorstellungen über politische Herrschaft. Es genügt nicht, wenn Menschen dem Staat Macht übertragen  ; vielmehr muss zugleich die staatliche Macht zugunsten der Bürger eingehegt werden. Bürgerliche Freiheit bedeutet nicht nur Schutz vor Übergriffen des Mitbürgers, sondern auch des Staates. Andererseits bleiben Gehalt und Umfang von Schutzrechten bis in unsere Tage umstritten. Wie weit muss die Fürsorge des Staates mit Rücksicht auf Gesundheit, Leben und Eigentum gehen  ? Und welche Preise sind angemessen für einen staatlichen Schutz dieser Güter  ? 2.3 Freiheit der Lebensführung Menschen zuzugestehen, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihren eigenen Vorstellungen entspricht, stellt besondere Anforderungen an ein 50 Vgl. Rousseau 1986, S. 112 [II.18]. 51 Vgl. Locke 1977, S. 260 [§ 95].

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Gemeinwesen. John Rawls hält es für eine Gegebenheit moderner Gesellschaften, dass Menschen unterschiedliche Lebensentwürfe haben und darin auch unterschiedlichen vernünftigen Lehren folgen. Das »Faktum des Pluralismus« sei aber nicht nur eine Tatsache, sondern Ergebnis des Vernunftgebrauchs im Rahmen freiheitlicher Institutionen und als solches auch wünschenswert.52 Dass Weltsichten nicht immer zur Übereinstimmung gebracht werden können und dies sogar gute Gründe hat, sollte vonseiten des Staates respektiert und in einer Politik der wechselseitigen Achtung umgesetzt werden. Um dies zu erreichen, müssen Bürgerinnen und Bürger mit Rechten ausgestattet sein, die ihnen einen Spielraum zur freien Entfaltung jenseits politischer Einmischung ermöglichen. Bürger zu sein bedeutet nach Vorstellungen des politischen Liberalismus, einen unbedingten Schutz des persönlichen Lebensbereiches zu genießen. Es bedeutet zugleich, dass der Bürgerstatus keine Existenzweise, sondern eine politische Lebensform ist. Als solche kann sie nicht den ganzen Menschen und sein ganzes Leben fordern. Umsetzung finden diese Vorstellungen in der Formulierung von Persönlichkeitsrechten. Die besondere Schwierigkeit in der Bestimmung von Persönlichkeitsrechten liegt jedoch darin, ihren Umfang festzulegen. Ist es in Lockes Schrift Ein Brief über Toleranz noch klar, dass Freiheitsräume solche sind, die seitens der politischen Führung dem Individuum zugebilligt werden und vor allem Gewissensfragen, darunter an erster Stelle Fragen der religiösen Gesinnung, betreffen,53 wird persönliche Freizügigkeit bereits bei John Stuart Mill konzipiert als Begrenzung von Handlungsmöglichkeiten, die Gesellschaftsmitglieder einander abverlangen können. John Stuart Mill versucht, den Gehalt von persönlichen Freiheitsrechten durch ein grundlegendes Prinzip zu erhellen, das sogenannte »Nicht-Schadens-Prinzip«. Es besagt  : »Daß der einzige Zweck, um 52 Vgl. Rawls 1998, S. 107–108. 53 Vgl. Locke 1996, S. 13–19.

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dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist  : die Schädigung anderer zu verhüten.«54 Zwar ist dieses Prinzip alles andere als eindeutig  ; selbst bei Mill gibt es unterschiedliche Ausdeutungen hinsichtlich der Bedeutung von »Schädigung«.55 Dennoch wird mit ihm klar gestellt, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die eigene Suche nach einem guten Leben auch in der bürgerlichen Lebensform Vorrang genießen. Was fraglich bleibt, ist der genaue Umriss der mit der Vorstellung von »Schädigung« eingeklagten Grenze persönlicher Freiheiten. Insbesondere ist fraglich, wie weit die Polizei gehen darf zum Schutz des Bürgers. In einem mit »Anwendungen« überschriebenen Kapitel erörtert Mill etwa die Fragen, ob Warnungen der staatlichen Gewalt bei einer unsicheren Brücke nötig sind.56 Auch die vermeintliche Notwendigkeit von Verboten betreffs des Umgangs mit Alkohol, Rauschmitteln und Spielhäusern werden kritisch erörtert.57 Freizügigkeit kann anscheinend nicht ohne Bestimmung gemeinsamer Grenzen der Duldbarkeit und auch des guten Geschmacks bestimmt werden. Gesellschaftliche Übereinkünfte sind Voraussetzung und nicht nur Ergebnis von bürgerlicher Freiheit als Freiheit der Lebensführung. Auch wenn die Freiheit der Lebensführung nicht uneingeschränkt gelten kann, sind Persönlichkeitsrechte deshalb wichtig, weil sie vor gesellschaftlicher Macht und vor politischer Einmischung schützen. So konstatiert Mill  : »Es gibt eine Grenze für die rechtmäßige Einmischung öffentlicher Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und gegen Übergriffe zu schützen, ist für eine gute Verfassung der menschlichen Angelegenheiten ebenso unerläss54 Mill 1974, S. 16. 55 Vgl. ebd., sowie S. 103–104. Für eine kritische Diskussion des Nicht-Schadens-Prinzips siehe Donner 1991, S. 188–197. 56 Vgl. Mill 1974, S. 132. 57 Vgl. ebd., S. 134–140.

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lich wie Schutz gegen politische Willkür.«58 Schutzgüter, welche eine solche Grenze für die rechtmäßige Einmischung ausdrücken können, sind die Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung, der Respekt vor intimen Lebensgemeinschaften und der Familie als Lebensräume des Bürgers, sowie Rechte auf Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Schutzgüter dienen dazu, eine unantastbare Zone persönlicher Integrität zu sichern. 2.4 Freiheit von willkürlicher Machtausübung Dass ein Bürger frei ist, findet seinen deutlichsten Ausdruck darin, dass er nicht nach Gutdünken eines Machthabers in ein Gefängnis geworfen werden kann. Ein Bürger ist geschützt vor willkürlicher Verhaftung. Das Gegenteil des bürgerlichen Standes ist die Situation eines Unfreien, der über keinerlei Schutz- und Eigentumsrechte verfügt. Ein Sklave ist unfrei – und er ist dies in ganz bestimmter Hinsicht  : Er ist der willkürlichen Machtausübung einer anderen Person vollauf ausgeliefert. Ein Bürger dagegen ist in genau dieser Hinsicht frei. Er ist willkürlicher Machtausübung deshalb nicht unterworfen, weil Recht und Gesetz ihn vor unrechten Übergriffen schützen. Die soeben skizzierte Vorstellung bürgerlicher Freiheit wird derzeit in einer Rückbesinnung auf republikanische Staats- und Gesellschaftstheorien erneut diskutiert. In einer Erörterung des Republikanismus kommt Philipp Pettit zu dem Schluss, im Republikanismus werde eine Form bürgerlicher Freiheit vertreten, die von allen anderen Formen unterschieden ist.59 Die Diskussion eines republikanischen Freiheitsmodells kann damit beginnen, politische Freiheit von Wahlfreiheit zu unterscheiden. Jede Form politischer Macht bewirkt auch eine Einschränkung der Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen 58 Ebd., S. 10. 59 Die Wiederentdeckung des Republikanismus in der politischen Philosophie verdankt sich der Neuinterpretation des politischen Republikanismus durch Pettit 1997.

Freiheit von willkürlicher Machtausübung

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des Bürgers. Eine solche Einschränkung muss nach republikanischen Vorstellungen aber nicht als Resultat der wechselseitigen Verschränkung von Freiheitsspielräumen interpretiert werden. Vielmehr sind Einschränkungen dann gerechtfertigt, wenn sie durch den Bezug auf eine Gemeinwohlvorstellung gerechtfertigt und in Gestalt von Gesetzen für alle gleichermaßen geregelt sind.60 Eine politische Verfassung und die Ausrichtung des politischen Gemeinwesens müssen dazu die Bindung der gesetzgebenden Gewalt an Privatinteressen verhindern können. Nach republikanischen Vorstellungen muss dies nicht notwendig durch eine demokratische Verfassung geleistet werden. Welche Maßnahmen allerdings geeignet und erforderlich sind, um das republikanische Ideal bürgerlicher Freiheit zu befördern, wird in der Geschichte des Republikanismus unterschiedlich eingeschätzt. Machiavelli ist der Auffassung, eine Republik könne nur dann bestehen, wenn Gesetze auch dazu dienen, die Bürger zu erziehen.61 Rousseau fordert gar eine Zugehörigkeitskultur, die in der Vorstellung einer »Zivilreligion« ihre Zuspitzung erfährt.62 In jüngster Zeit haben sich Philip Pettit (1997) und Maurizio Viroli (1999) bemüht, den Republikanismus in Richtung eines bürgerlichen Ideals weiterzudenken, das eine Alternative zu Gesellschaftsentwürfen unserer Zeit darstellt und zugleich in unsere Zeit passt. Mitglieder einer Gesellschaft sind nach ihren Vorstellungen erst dann frei, wenn Unterdrückungsverhältnisse politisch erkannt und nach Kräften begrenzt werden. Ziel ist eine Eingrenzung illegitimer Macht. Wenn dies auch mit Rücksicht auf besonders anfällige Lebensbereiche für derartige Unterdrückungsverhältnisse gelingen soll – so beispielsweise Arbeits- oder Familienverhältnisse –, wird deutlich, wie fordernd das Ideal politischer Freiheit als »Freiheit von willkürlicher Machtausübung« tatsächlich ist. Verlangt werden müsste beispielsweise eine 60 Vgl. Pettit 1997, S. 66–68. 61 Vgl. Machiavelli 1977, S. 64 [I.18]. 62 Vgl. Rousseau 1986, S. 140–153 [IV. 8].

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ausdifferenzierte Sozialgesetzgebung, die Abhängigkeitsverhältnisse gezielt reduziert und zugleich von einer Kultur bürgerlichen Lebens getragen ist, die Ausbeutungsverhältnisse anprangert. Gefordert werden müsste auch, dass eine Strafgesetzgebung imstande wäre, Gewaltdelikte umfänglich zu erfassen und tatsächlich auch ahnden zu können. Besonders wirksam wäre sie, wenn sie von einer gemeinsamen Vorstellung der Freiheit von Gewalt getragen würde. 2.5 Freiheit zur Vergesellschaftung Gemeinsam ist den Ansätzen zur bürgerlichen Freiheit seit der Neuzeit, diese auch im Kontrast zu einer Staatsmacht zu bestimmen, welche als Gewaltmonopol nicht nur zur Lenkung und Regelung des Lebens der ihr unterworfenen Individuen neigt, sondern darin auch maßlos sein kann. Neuzeitliche politische Philosophie hat die Naivität verloren, Staatsgewalt und Gerechtigkeit in eins zu setzen. Zudem wird erkannt, dass institutionelle Vorkehrungen alleine die Freiheit der Untertanen nicht verbürgen können. Stattdessen müssen Bürger auch frei sein, sich zu vergesellschaften. Die Freiheit, einen Raum für eine politische Öffentlichkeit zu schaffen und dazu auch Vereinigungen zu gründen, hat in einer historischen Perspektive in Europa ein anderes Gewicht als in Amerika. Diesseits des Atlantiks rangen die Bürger mit einer feudalen Gesellschaftsform und mit einem absolutistischen Staat. Jenseits des Atlantiks waren die Menschen in unwirtlichem Gelände darauf angewiesen, einen Ausgleich zu finden zwischen lokal verankerten Vereinigungsformen und der Etablierung einer zunehmend notwendig werdenden Staatsgewalt. Gleichwohl eint beide Traditionen die Vorstellung, unverzichtbarer Teil bürgerlicher Freiheit sei die Möglichkeit, sich zu versammeln und einen ungehinderten Austausch von Meinungen zu pflegen. Auf der Vorstellung gründend, Gesellschaften sollten dem Einzelnen ein Höchstmaß an individueller Entwicklungsfreiheit zugestehen, werden in der Moderne von John Stuart Mill drei grundlegende Bür-

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gerrechte formuliert  : Es sind dies Gewissensfreiheit, die Freiheit des Geschmacks und Lebensplanes und die Vereinigungsfreiheit.63 Für Mill steht unzweifelhaft fest, dass ohne wirksamen Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch die Freiheit zu Entwicklung individueller Lebensvorstellungen gefährdet wäre. Die Freiheiten zur Vergesellschaftung sind komplementär zur Freiheit der Lebensführung des Einzelnen. Eine andere Rechtfertigung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit kann sich auf den Wert einer informierten Öffentlichkeit zur Durchsetzung des öffentlichen Interesses beziehen. Was Habermas die »kommunikative Macht« der Öffentlichkeit nennt,64 würde nicht entstehen, könnten Menschen sich nicht frei miteinander austauschen und sich zum Zweck der Durchsetzung gemeinsamer Interessen versammeln. Ohne die Freiheiten zur Vergesellschaftung würde ein Gegengewicht gegenüber den mit Machtbefugnissen ausgestatteten Einrichtungen der Politik fehlen. Für die Freiheiten zur Vergesellschaftung kann mit Mitteln der Ethik und mit einem instrumentellen Argument zugunsten demokratischer politischer Strukturen gestritten werden. Beide Formen der Begründung sind grundlegend für Konzeptionen des politischen Liberalismus. C.B. MacPherson hat gemäß den zwei möglichen Grundlegungen den »Entwicklungs-Liberalismus« (»developmental liberalism«) vom »Schutzmacht-Liberalismus« (»protective liberalism«) unterschieden.65 Das eine Mal dienen bürgerliche Rechte der Entfaltung des Individuums, das nur in einem pluralistischen Lebenskontext seine Vorstellung guten Lebens finden und verwirklichen kann. Diese Vorstellung ist nicht nur im politischen Liberalismus, sondern auch in gesellschaftstheoretischen Entwürfen des amerikanischen Pragmatismus tief verankert. Gerade in der experimentellen Offenheit und der Notwendigkeit der Bestätigung und Überprüfung alles Gewuss63 Vgl. Mill 1974, S. 20. 64 Vgl. Habermas 1992, S. 437–439. 65 Vgl. MacPherson 1977, S. 23–67.

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ten durch die Gemeinschaft ähneln sich die Gemeinschaft der Wissenschaftler und die Mitglieder der Demokratie.66 Das andere Mal dienen bürgerliche Rechte der Verwirklichung einer Form politischen Zusammenlebens, welche den Wünschen und Interessen ihrer Mitglieder unterworfen ist. Möglichkeiten der Mitgliedschaft in privaten Vereinigungen dienen jedoch nicht nur dem politischen Gemeinwesen und seinen Bürgern, sondern sind auch genuiner Bestandteil bürgerlichen Lebens. Während diese These im Kapitel »Partner und Bruder« entfaltet wird67, soll abschließend deutlich werden, dass Freiheiten zur Vergesellschaftung nicht auf Versammlungsfreiheiten reduziert werden können, sondern Kommunikationsfreiheiten unterschiedlicher Art einschließen. Menschen können ihre Meinungen nur frei miteinander kommunizieren, wenn ein Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis existiert. Eine nicht-zensierte Presse und nach journalistischen Regeln freier Äußerung geformte Medien sowie ein nicht zensiertes Internet dienen dem Meinungsaustausch der Bürgerinnen und Bürger und der Formierung einer kritischen Öffentlichkeit. 2.6 Politische Selbstbestimmung Der bürgerliche Zustand ist kein Zustand einer »wilden, gesetzlosen Freiheit«  ; vielmehr ist er der Zustand, in dem es dem Bürger möglich ist, »keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat«.68 Der bürgerliche Zustand ist ein Zustand der legitimen Gesetzesherrschaft.69 Dieser Bestimmung des Bürgers liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein Mensch wirklich frei nur dann ist, wenn er Vorschriften gehorcht, deren Gültigkeit begründet ist 66 Für eine Interpretation dieses Modells von Demokratie siehe Westbrook 2000. 67 Siehe Kap. 5. 68 Vgl. Kant 1971, S. 432 [A 166, B 196]. 69 Kant 1983b.

Politische Selbstbestimmung

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und deren Begründungen eingesehen und akzeptiert werden können. Vorausgesetzt wird, dass Menschen ihren Willen durch Einsicht an Normen binden können. Zusätzlich muss es Formen der Beteiligung an politischer Herrschaft geben, die dazu beitragen, dass Gesetze von Bürgern autorisiert werden. Wenn bürgerliche Freiheit darin besteht, nur solchen Gesetzen zu gehorchen, die selbst verfasst wurden, so wird sie eine Seltenheit sein. Eigentlich wäre es notwendig, dem Volk direkte gesetzgebende Gewalt zuzuerkennen. Mag dies in kleinen Stadtstaaten in Ausnahmefällen politische Realität gewesen sein, stößt eine solche Form politischer Selbstbestimmung in modernen Staaten schnell an ihre Grenzen. Die Anzahl der Bürgerinnen und Bürger und die Anzahl der Gesetze sind zu groß, als dass Formen der direkten Demokratie vollzogen werden könnten. Auch die Vorstellung, es könne tatsächlich Einigkeit erreicht werden über Gesetzesvorlagen, ist abwegig, sobald Bürgern zugebilligt wird, dass sie unterschiedliche Interessen haben. Trotz solcher Einschränkungen wird in der Demokratietheorie versucht zu zeigen, dass politische Autonomie kein utopisches Ideal, sondern Wirklichkeit sein kann. Alle möglichen Werkzeuge zur Erreichung politischer Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger wurden bereits erdacht  : Formen politischer Repräsentation, Machtbegrenzung durch sich wechselseitig kontrollierende Machtzentren, Majoritätsregeln und Gesetzestexte zu den Grundlagen politischer Willensbildung, schließlich die Verpflichtung auf ein in der Verfassung festgelegtes System bürgerlicher Grundfreiheiten.70 Wenn schon nicht Selbstgesetzgebung im Sinn einer direkten und konsensuellen Beschlussfassung von Gesetzen möglich ist, so soll doch garantiert sein, dass Bürgerinnen und Bürger im Großen und Ganzen nur unter solchen Gesetzen leben, die sie vernünftigerweise nicht ablehnen würden. Andernfalls dürfen sie wenigstens öffentlich dagegen protestieren. Was also geleistet werden kann, sind institutionelle Vor70 Vgl. ebd.

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kehrungen zugunsten einer tatsächlichen Bürgerbeteiligung an wichtigen Gesetzgebungsprozessen. Auch heute ist der Bürgerstatus verbunden mit der Aufgabe des Staates, seine Bürger zu repräsentieren.71 Gelingt dies nicht und entbehren die Gesetze und Entscheidungen einer legitimen Grundlage, werden Bürgerinnen und Bürger eine elementare Form von Freiheit einbüßen. 2.7 Ein System der Freiheiten  ? Ein Blick in die Philosophiegeschichte lehrt, dass durch den Vorzug einer Form bürgerlicher Freiheit die Positionierung eines Ansatzes zur politischen Philosophie geleistet werden kann. Dabei treten unversöhnliche Gegensätze auf. Wird etwa der Vorrang von Schutzrechten und von Freizügigkeitsgarantien hervorgehoben, so können die Vorstellungen, Freiheit des Bürgers sei im wesentlichen positive Freiheit und setze einen gemeinsamen Willen und Willensbildungsprozess voraus, als falsch zurückgewiesen werden. Vertreter des politischen Liberalismus wehren sich gegen die politische Vereinnahmung, welche durch die Vorstellung einer starken politischen Bindung an das Gemeinwesen gegeben ist. Wird dagegen die Fähigkeit zur politischen Gestaltung der Republik als eigentliche Freiheit des Bürgers anerkannt, so müssen im Extremfall individuelle Freiheiten zugunsten des Gemeinwohls aufgegeben werden. Nach Rousseau enthält der Gesellschaftsvertrag auch jene stillschweigende Übereinkunft, dass Andersdenkende des Bürgerstandes verlustig gehen. Denn  : »Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen verabschiedet, und sogar solchen, die ihn bestrafen, wenn er es wagt, eines davon zu verletzen.«72 Einer bestimmten Form bürgerlicher Freiheit den Vorzug zu geben, kann zur Ablehnung anderer Interpretationen bürgerlicher Freiheit 71 Vgl. dazu die Überlegungen von Hobsbawm 1996, S. 269. 72 Rousseau 1986, S. 116 [VI. 2].

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führen. Jedoch müssen die Freiheiten nicht als unversöhnliche Gegensätze interpretiert werden. Es gibt auch den gegenteiligen Versuch, einen direkten Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Freiheit herzustellen. Ein solcher könnte damit beginnen, eine Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen, aus der deutlich wird, dass alte Formen bürgerlicher Freiheit durch neue Formen ergänzt oder gar ersetzt werden. Ein solcher von T.H. Marshall für grundlegende Rechte skizzierter Verlauf kann auf bürgerliche Freiheiten jedoch nur um den Preis übertragen werden, Freiheiten auch in der Sprache der Rechte zu erörtern.73 Freiheit ist aber kein Gut, das unmittelbar in ein System der Rechte übersetzt werden kann. Insbesondere werden Freiheiten dem Bürger nicht allein von einem Staat zuerkannt. Bürger erkennen Freiheiten zunächst einander zu. Bürgerinnen und Bürger sind in einer Situation, in welcher sie die Freiheiten ständig neu beleben müssen. Eine weitere Alternative in der Suche nach einem systematischen Zusammenhang der Freiheitskonzeptionen muss eine andere Vereinfachung zulassen. Das »möglichst umfängliche System von Freiheiten«, das Rawls den Bürgern einer Demokratie zusichern möchte, erfährt eine Begrenzung dadurch, dass es für einen jeden Bürger gelten soll.74 Ein solches System zu denken gelingt jedoch nur mit Rücksicht auf »negative Freiheiten«. Politische Selbstbestimmung etwa wird nicht dadurch begrenzt, dass die Möglichkeit dazu einem jeden Bürger gewährt wird  ; vielmehr ist sie überhaupt erst existent als kollektiv verwirklichte Verhaltensform. Auch hinsichtlich der Freiheit von willkürlicher Machtausübung gilt der Grundsatz der wechselseitigen Einschränkung von Freiheitsmöglichkeiten nicht. Zwar wird eine jegliche Garantie der Freiheit von willkürlicher Machtausübung die Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten desjenigen bewirken, der von ihr Gebrauch machen möchte. Eingeschränkt wird jedoch nicht dessen Freiheit, sondern dessen Macht. Werden Formen politischer 73 Vgl. Marshall 1964. 74 Vgl. Rawls 1998, S. 69.

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Freiheit genau unterschieden, zeigt sich, dass das Verhältnis der Freiheiten untereinander komplizierter ist als dasjenige einer wechselseitigen Beschränkung. Freiheiten zur Vergesellschaftung beispielsweise ermöglichen Formen bürgerlicher Freizügigkeit und schränken sie zugleich ein. Ohne Versammlungen und Demonstrationen im öffentlichen Raum können Bürger ihre geteilten Meinungen nicht formieren. Zugleich bildet sich eine öffentliche Meinung, die auch dazu führen kann, dass persönliche Freizügigkeiten beschränkt werden. Ist aus diesen Überlegungen nun der Schluss zu ziehen, dass die fünf Formen politischer Freiheit unvermittelt nebeneinander stehen  ? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares »Nein«, sobald sie nicht mehr nur aus Perspektive eines Bestimmungsversuchs, sondern aus Perspektive politischer Organisationsformen betrachtet werden. Jürgen Habermas hat dafür argumentiert, dass eine den Grundsätzen der Freiheit und Gerechtigkeit verpflichtete Demokratie nur existieren und sich erhalten kann, wenn sie ihren Bürgern Grundrechte garantiert, in denen auch die Rechte auf subjektive Handlungsfreiheit, freie Vergesellschaftung und politische Autonomie enthalten sind.75 In Auseinandersetzung mit den grundlegenden Eigenschaften eines Rechtsstaates stellt Habermas fest, dass weder die Berufung auf eine grundlegende Rechte enthaltende Verfassung, noch Verfahrensgerechtigkeit hinsichtlich der Organisationsform eines Staates allein hinreichen, um ihm die Legitimität zu vermitteln, die von einem Rechtsstaat ganz zu Recht gefordert und erwartet wird. Auch geltendes Recht ist beständig darauf angewiesen, sich selbst zu legitimieren und als solches auch von der Bevölkerung anerkannt zu werden. Die Zusicherung diverser Freiheiten kann dies leisten. Aus Perspektive einer an rechtsstaatlichen Normen orientierten Demokratie ergibt sich ein systematischer Zusammenhang der bürgerlichen Freiheit als Schutz vor Übergriffen, als Freiheit der Lebens75 Vgl. Habermas 1992, S. 155–165.

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führung, als Freiheit vor willkürlicher Machtausübung, als Freiheit zur Vergesellschaftung und als politische Selbstbestimmung. Demokratien sind gewissermaßen dazu da, Gestaltungsmöglichkeiten des Persönlichen und des Politischen zu gewährleisten. Der Schutz vor gewaltsamen Übergriffen bleibt auch in entwickelten Demokratien eine elementare Aufgabe. Beständig muss über notwendige Maßnahmen zur Erhaltung einer friedfertigen politischen Gemeinschaft nachgedacht werden. Freiheiten der Lebensführung sind immer auch gesellschaftliche Freiheiten, die als solche ausgehandelt und öffentlich vertreten werden müssen. Der Schutz vor willkürlicher Machtausübung ergänzt und ermöglicht Freizügigkeit. Nur wenn Menschen zugesichert wird, dass sie auch in Arbeitsverhältnissen oder anderen potentiell autoritär strukturierten Lebensbereichen nicht fürchten müssen, aufgrund von Geschmack, Lebensführung oder Wertentscheidungen Repressionen ausgesetzt zu sein, können sie den Spielraum freiheitlicher Lebensführung auch nutzen. Zugleich wird die Freiheit vor willkürlicher Machtausübung auch den Freiheiten zur Vergesellschaftung Gehalt verleihen. Ohne Furchtlosigkeit gegenüber Autoritäten wäre es schwer für Bürger, Widerstand zu zeigen gegenüber solchen Normen und Rechtssetzungen, die nicht dem gemeinsamen Interesse entsprechen. Die Freiheit zu politischer Selbstbestimmung schließlich ist unmittelbares Legitimationsmittel in Demokratien. Durch die Mittel der Gewaltenteilung und Repräsentation kann politische Willkür eingehegt werden  ; dennoch ist eine direkte Bürgerbeteiligung unabdingbares Element der Demokratie. Für ein Modell bürgerlicher Freiheit zu argumentieren, das in sich differenziert ist, bedeutet allerdings nicht, dass die Formen bürgerlicher Freiheit unmittelbar einander ergänzen. An dem Bild des »möglichst umfänglichen Systems individueller Freiheiten«76 ist richtig, dass der Verzicht auf nur eine Form bürgerlicher Freiheit eine Situation befördern würde, in welcher die Freiheit des Bürgers insgesamt bedroht ist. 76 Rawls 1998, S. 69.

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Dennoch kann das System der Freiheiten nicht gedacht werden als ein reibungslos funktionierendes Regelwerk – auch nicht in einem demokratischen Rechtsstaat. Vielmehr gilt es, mit Rücksicht auf jede Form bürgerlicher Freiheit, ihre Grenzen möglichst weit hinaus zu schieben, ohne andere Formen bürgerlicher Freiheit zu verletzen. Freizügigkeit darf nicht auf Kosten von Vergesellschaftungsmöglichkeiten gehen  ; die Einschränkung von illegitimer Macht darf nicht die Fähigkeiten zur Bildung politischer Macht verringern  ; der Schutz vor Übergriffen darf Freizügigkeit und Geselligkeit des bürgerlichen Lebens nicht aushöhlen. So ist die Gesamtheit bürgerlicher Freiheiten weniger ein System, als vielmehr ein Spannungsfeld mit fünf zentralen Polen.

3.

Ein Gleicher

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n einem Entwurf zur Philosophie des politischen Gemeinwesens erläutert Ronald Dworkin, Bürger hätten zwei verschiedene Grundrechte. »Das erste ist das Recht auf gleiche Behandlung, das heißt das Recht auf eine gleiche Verteilung einer Chance oder Ressource oder Last. […] Das zweite ist das Recht, als ein Gleicher behandelt zu werden, das heißt nicht das Recht, denselben Anteil an einer Last oder einem Nutzen zu erhalten, sondern das Recht, auf dieselbe Weise mit Achtung und Rücksicht behandelt zu werden wie jeder andere.«77 Ein Bürger zu sein bedeutet, als ein Gleicher unter Gleichen rechtlich und politisch anerkannt zu werden. Wird ein Staat vorausgesetzt, der nicht nur Grundrechte garantiert, sondern auch als verteilender und zuteilender Staat auf Notlagen und Bedürfnisse von Bürgern reagiert, beinhaltet der Bürgerstatus etwas Weiteres. Auch mit Rücksicht auf die Verteilung gemeinsam erwirtschafteter Güter und gemeinsam zu tragender Lasten sollte jeder Bürger auf dieselbe Weise mit »Achtung und Rücksicht« behandelt werden. Die Verständigung über die Gleichheit von Bürgern nimmt ihren Anfang in der Antike. Von Aristoteles wird der Bürgerstatus durch politische Rechte definiert. Jeder, der dem Bürgerstand zugerechnet werden kann, hat gleichermaßen die Möglichkeit, an politischen Entscheidungen und politischen Ämtern teilzuhaben. Der Bürger nimmt an Versammlungen teil, in denen über politische Belange entschieden wird und in denen alle ein Stimmrecht haben. Zudem drückt sich die Gleichheit der Bürger darin aus, dass jeder die Möglichkeit hat, an der politischen Führung des Staates, seiner Verwaltung und seiner richterlichen Funktion teilzunehmen. Ergebnis ist, dass Bürger »nicht nur das Recht [besaßen], sich in ein Amt wählen zu lassen und andere in ein 77 Dworkin 1984, S. 370  ; kursiv durch Dworkin.

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Amt zu wählen, sondern sie konnten auch in allen Angelegenheiten der öffentlichen Ordnung entscheiden und in den verschiedenen Gerichtshöfen über alle wichtigen Fälle, gleich ob zivil- oder strafrechtlicher Natur, ob das Staatsinteresse betroffen war oder eine Streitsache zwischen Privatleuten anstand, zu Gericht sitzen.«78 Politische Teilhabe ist eine grundlegende Dimension bürgerlicher Gleichheit. Schon Aristoteles erörtert aber auch die Frage, ob bürgerliche Gleichheit unter Bedingungen extremer ökonomischer Unterschiede verwirklicht werden kann. Zwar ist es wichtiger, die Begehrlichkeiten von Bürgern durch Gesetze zu regulieren, als ihre Vermögen einander anzugleichen. Gleichwohl sollte der Gesetzgeber mit Rücksicht auf Vermögen »auf ein mittleres Maß […] Bedacht nehmen«79. Die heute als Rechte der zweiten Generation bezeichneten sozioökonomischen Grundrechte konnten zwar erst im 20. Jahrhundert den Charakter grundlegender Rechte annehmen. Gleichwohl ist die Erörterung einer ungleichen Verteilung materieller Güter von Beginn an Bestandteil der Erörterung des Bürgerstatus, der zunächst durch politische Teilhabemöglichkeiten bestimmt ist. Auch wenn der Bürgerstatus als Status von einander Gleichen interpretiert wird, ist bürgerliche Gleichheit nicht mit absoluter Gleichheit zu verwechseln. Vielmehr muss bürgerliche Gleichheit in zwei Hinsichten qualifiziert werden. Erstens gilt es, die Hinsichten zu bestimmen, in denen sich bürgerliche Gleichheit materialisiert. Bei der Erörterung bürgerlicher Gleichheit muss zwischen jenen Hinsichten der Gleichheit unterschieden werden, die für den Bürger grundlegend sind, und jenen, die nicht dem Horizont bürgerlicher Gleichheit zugeordnet werden können. In einem Rechtsstaat ist bürgerliche Gleichheit vor allen Dingen bestimmt durch grundlegende Rechte und Verfahrensgleichheit. Ob sozialstaatliche Maximen auch zu For78 Finley 1980, S. 29. 79 Aristoteles 1995, S. 50–51 [1266 b 27–28].

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derungen nach Gleichheit zu zählen sind und ob Verteilungspraktiken überhaupt mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sind, ist dagegen umstritten.80 Zweitens bedeutet Gleichheit des Bürgers nicht, dass für alle Güter derselbe Verteilungsmaßstab gilt. Auch in dieser Hinsicht können Gleichheitsforderungen schon deshalb nicht absolut sein, weil Unterschiede zwischen dem bestehen, was Menschen zum Leben benötigen. Diese gehören unauflöslich zur Vielfalt menschlichen Lebens und müssen auch seitens politischer Institutionen respektiert werden. In diesem Kapitel möchte ich zunächst zu der Keimzelle bürgerlicher Gleichheit zurückkehren. Bürgerliche Gleichheit ist politische Gleichheit. Im ersten Abschnitt soll diskutiert werden, was dies bedeutet, indem zwei wegweisende Vorstellungen politischer Gleichheit vorgestellt werden. Im zweiten Abschnitt möchte ich auf eine weitreichende theoretische Konsequenz aufmerksam machen, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, Gleichheitsforderungen nicht voraussetzen zu können, sondern sie begründen zu müssen. Amartya Sen hat diese Konsequenz mit Rücksicht auf die Debatte um Gerechtigkeit in der politischen Philosophie auf den Punkt gebracht. Die Frage, in welchen Hinsichten Gleichheit gefordert werden kann (»Equality of What  ?«), ist der Frage, warum Gleichheitsforderungen gerechtfertigt sind (»Why Equality  ?«), theoretisch vorgeordnet. Entsprechend ist die Auseinandersetzung um Forderungen sozialer Gerechtigkeit nicht nur eine Diskussion um ihre Rechtfertigung, sondern auch um die richtige Bestimmung ihres Gehalts. Im dritten Abschnitt sollen Gegenstand und Umfang sozialer Gleichheit diskutiert werden. Auf die Frage nach dem Umfang der bürgerlichen Gleichheit hat Marshall eine wegweisende Antwort gegeben, indem er die sukzessive Erweiterung grundlegender Rechtsgarantien ideengeschichtlich nachzeichnet. Zivile Grundrechte, politische Teilhaberechte und sozio-ökonomische Rechte sind in dieser Reihenfolge historische Errungenschaften der Moderne, mit denen der Gegenstand bürgerlicher Gleichheitsforde80 Vgl. Böckenförde 1991, S. 158–169.

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rungen sukzessive auf neue Gebiete erweitert wurde. Insbesondere die auch als Grundrechte der zweiten Generation bezeichneten sozioökonomischen Rechte bleiben umstritten. Im vierten Abschnitt wird – wenn auch nur skizzenhaft – das Problem diskutiert, wie mit Ungleichheiten umzugehen ist, die nicht Personen, sondern Gruppen von Menschen betreffen. Im fünften Abschnitt werden kritische Einwände gegen das Gleichheitsideal vorgestellt, die sich jedoch entkräften lassen, wenn Gleichheitsforderungen mit Rücksicht auf ihren zentralen Gehalt reflektiert werden. Bevor die Erörterung bürgerlicher Gleichheit als politische Gleichheit beginnt, ist der Hinweis angebracht, dass ein zentrales Problem bürgerlicher Gleichheit ausgespart wird. Bürger sind Gleiche. Aber nicht alle Menschen, die in einem Land leben, haben die Staatsbürgerschaft. Für eine umfassende Diskussion politischer Gleichheit müssten auch die Fragen erörtert werden, ob politische Gleichheit an Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft haltmachen darf. Seyla Benhabib erinnert daran, dass es mindestens doch so sein müsste, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, an irgend einer politischen Gemeinschaft teilzuhaben.81 Es gibt ein unantastbares Recht darauf, als Mensch überhaupt Rechte zu haben. Die Zugangsbedingungen zur Gruppe der Bürger haben sich im Lauf der Geschichte zwar verändert. Und in Teilen der Welt sind sie gerechter geworden. Eine Situation automatischer Einbürgerung gibt es jedoch auch heute nicht.82 3.1 Politische Gleichheit und Rechtsgleichheit Bürgerliche Gleichheit ist politische Gleichheit. Diese Kernvorstellung hat in der Antike zwei Deutungen gefunden, die bis heute für die Auseinandersetzung über den Bürgerstatus wegweisend sind.83 In den 81 Vgl. Benhabib 2004. 82 Zur Theorie und Praxis der Einbürgerung siehe Soysal 1994. 83 Vgl. dazu Pocock 1995.

Politische Gleichheit und Rechtsgleichheit

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aristotelischen Schriften wird die bürgerliche Gleichheit bestimmt als gleiches Recht eines jeden, politische Herrschaft auszuüben und ihr unterworfen zu sein. Nach Aristoteles gilt  : »Der Begriff des Bürgers schlechthin wird aber durch kein Merkmal zutreffender bestimmt als durch das der Teilnahme an dem Gerichte und der Regierung.«84 Modifiziert wird diese erste Bestimmung des Bürgers nur deshalb, weil auch derjenige, der »nur« an der Regierungsgewalt in Gestalt der Teilnahme an der Volksversammlung partizipiert, ebenso ein Bürger ist wie die Inhaber von bestimmten Ämtern.85 Bürger ist ein jeder, der an der richterlichen und der beratenden Gewalt teilhat.86 Politische Gleichheit der Bürger hat unzählige Ausdeutungen erfahren. Für unsere Frage danach, was ein Bürger ist, genügt es zunächst festzustellen, dass der Bürgerstatus auf einer effektiven Beteiligung an der Regierungsgewalt beruht. Trotz der zurückhaltenden und kritischen Beurteilung der Demokratie als Herrschaft der Massen prägt Aristoteles das Bild des Bürgers als eines Standes politischer Teilhabe.87 Im antiken Rom dagegen sind Bürger in anderen Hinsichten Gleiche. Sie unterstehen derselben Gerichtsbarkeit und sind als Rechtspersonen denselben geltenden Regeln des Personen- und Sachenverkehrs unterworfen.88 Die wesentliche Hinsicht der Gleichheit ist nicht Teilhabe an politischer Macht, sondern Freiheit von willkürlicher Machtausübung auf Grundlage der Herrschaft der Gesetze. Der Bürger ist als freier Mensch nur den Gesetzen unterworfen. Wie fordernd das Ideal politischer Gleichheit ist, wird deutlich, sobald über dessen Konkretisierung nachgedacht wird. Ein Vorschlag für die Verwirklichung politischer Gleichheit in einem Nationalstaat unserer Tage hat jüngst Robert Dahl vorgelegt. Für die Realisierung politischer 84 Aristoteles 1995, S. 77 [1275 a 22–24]. 85 Vgl. ebd., S. 78 [1275 a 30–35]. 86 Vgl. ebd., S. 79 [1275 b 17–19]. 87 Vgl. ebd., S. 92, 217 [1279 b 35–1280 a 7, 1317 a 40–1317 b 17]. 88 Vgl. Pocock 1995, S. 34–36.

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Gleichheit muss eine repräsentative Demokratie so eingerichtet sein, dass zumindest Folgendes gesichert ist  : –– Wirksame Teilnahme  : Alle Mitglieder müssen die gleichen wirksamen Möglichkeiten haben, anderen Mitgliedern ihre Ansicht über eine einzuschlagende Politik vorzutragen. –– Gleichberechtigte Abstimmung  : Alle können abstimmen und alle Stimmen sind gleichwertig. –– Aufklärung  : Gleiche und wirksame Möglichkeiten aller, sich über mögliche Alternativen zu und Wirkungen von einer politischen Maßnahme zu informieren. –– Letzte Kontrolle über die politische Tagesordnung  : Das Volk allein entscheidet über die politische Agenda.89 Zudem muss institutionell garantiert werden, dass alle vier Punkte für jeden Bürger gelten. Ferner müssen die Teilnahmemöglichkeiten rechtlich zugesichert werden, was einen Katalog von geltenden Grundrechten  – etwa zur Meinungsbildung und Versammlung  – voraussetzt.90 In einer repräsentativen Demokratie treten an die Stelle direkter Volksentscheide politische Mechanismen. Durch freie und faire Wahlen von Repräsentanten und durch die Möglichkeiten politischer Wirksamkeit in der politischen Öffentlichkeit soll garantiert werden, dass alle Bürger dasselbe Maß an Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Jedoch ist die Macht der politisch Gleichgestellten nicht unbegrenzt. Eine rechtliche Rahmenordnung muss nicht nur Formen politischer Teilhabe klären. Sie wird auch legitime Formen der Einschränkung der Macht des Volkes beinhalten. Dies sind sowohl Verfahrensregeln als auch materielle Festlegungen über wesentliche Hinsichten bürgerlicher Gleichheit. Die immer zweifelhaft bleibende 89 Dahl 2006, S. 20–21. Eigene Übersetzung, A. K. 90 Vgl. ebd., S. 21.

Begründung und Qualifizierung der Gleichheit

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Herrschaft der Masse wird eingeschnürt durch die Geltung grundlegender Rechte. Anders als in einem rein verfahrenslogisch konzipierten Rechtsstaatsmodell dienen Grundrechte dazu, die Gleichheit vor dem Gesetz zu ergänzen um wesentliche Hinsichten dieser Gleichheit.91 3.2 Begründung und Qualifizierung der Gleichheit Zwar stimmt es, dass das, was dem einen Bürger recht ist, dem anderen Bürger billig ist. Dass dies jedoch nicht uneingeschränkt gilt, wird ebenso schnell deutlich. Ein Bürger mag in einer Situation leben, in welcher er sich ein teures Auto kauft  ; ein anderer Bürger wird dies wegen seiner finanziellen Situation nicht können. Ein Bürger kann in seinem Beruf Befehle ausgeben  ; ein anderer wird Anordnungen empfangen und umsetzen müssen. Ein Bürger wird mit seinem Diplomatenpass Länder besuchen können, die ein anderer Bürger nicht wird betreten können. Bürger können weder automatisch eine gleich umfängliche Menge von Zielen verwirklichen, noch ist jedem Bürger dasselbe erlaubt wie jedem anderen Bürger. Zwar gibt es wesentliche Hinsichten der Gleichheit, die unterschiedslos gelten. Jenseits dieses Bereichs liegen aber die schwierigen Fragen, die insbesondere auch mit einem Sozialstaatsprinzip gegeben sind. Ist ein Staat sozialer Gerechtigkeit verpflichtet, profitieren Bürger von den Verteilungs- und Umverteilungsleistungen des Staates. Sie tun dies gewiss nicht nur nach Maßgaben verfahrensbezogener Gleichheit. Wer die skizzierte Problematik auf die Komplexität moderner Wohlfahrtsstaaten reduzieren möchte, irrt. Die Einsicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen Formen der Gerechtigkeit, die einerseits den politisch bestimmten Bürgerstatus betreffen und andererseits sozio-ökonomische Lebensbedingungen, ist so alt wie die Erörterung von Gerechtigkeit als grundlegender politischer Tugend. Im fünften 91 Zu diesem Theorem vgl. Böckenförde 1991.

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Buch der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen einer allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung und besonderen Formen der Gerechtigkeit. Während die allgemeine Gerechtigkeit Rechtsgleichheit der Bürger bezeichnet, kann letztere in eine Form ausgleichender und eine Form verteilender Gerechtigkeit unterteilt werden. Auch wenn es späteren Generationen vorbehalten war, diese Vorstellungen zu präzisieren, wird bereits deutlich, dass für verteilende und ausgleichende Gerechtigkeit andere Maßstäbe erforderlich sind als derjenige absoluter Gleichheit.92 Für Fragen sozialer Gerechtigkeit hat Sen auf einen grundlegenden theoretischen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Sobald wir uns der Idee von »Gerechtigkeit« als einer Leitvorstellung zuwenden, ist es auch notwendig, die Dimensionen zu qualifizieren, mit Rücksicht auf welche Bürger gleich behandelt werden sollen. Denn nur mit Rücksicht auf eine qualifizierte Gleichheitsforderung ist es auch möglich, die Frage zu beantworten, warum Gleichbehandlung gefordert werden kann.93 Sobald sich die Diskussion bürgerlicher Gleichheit nicht mehr ausschließlich auf politische Teilhabe und grundlegende Formen bürgerlicher Freiheit, sondern auf andere Hinsichten der Gleichheit bezieht, wird die Brisanz der Einsicht in die Rechtfertigungserfordernisse deutlich. Warum alle Bürger Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, zu einer Krankenversicherung oder einer intakten Infrastruktur haben sollten, kann nicht erklärt werden, ohne auch die grundlegende Frage zu beantworten, wieso Gleichheitsforderungen in gerade diesen Hinsichten begründet sind. Eine Antwort setzt nicht nur voraus, die Aufgaben des Staates zu untersuchen. Vielmehr muss zunächst erörtert werden, was die Gründe dafür sind, dass Menschen auf bestimmte Dinge ein 92 Für eine Erklärung und Interpretation der unterschiedlichen Formen von Gerechtigkeit bei Aristoteles vgl. Wolf 2002, S. 93–115. 93 Systematisch ausgeführt wurden diese Anfragen von Amartya Sen im Rahmen der Erörterung der Möglichkeiten, Gleichheit überhaupt zu messen. Vgl. Sen 1992, S. 12–19.

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gleiches Anrecht haben. Ohne Entscheidungen darüber zu treffen, was die richtigen Kategorien zur Bestimmung zentraler Gehalte menschlichen Lebens und die dafür relevanten Informationen sind, wird dies nicht gelingen. Die Gerechtigkeitsdiskussion kann sich des Urteils über die wichtigsten Dimensionen der Gleichbehandlung von Menschen nicht enthalten. Dies gilt auch für die Diskussion bürgerlicher Gleichheitsforderungen und -ideale. So wie in der Diskussion um soziale Gerechtigkeit ist die Erörterung von Gleichheit keine Beschreibung eines Status quo, sondern Diskussion des Gehalts einer normativen Leitvorstellung. Anders als bei der Diskussion von Gerechtigkeit als einem moralischen Ideal sind die Rahmenbedingungen jedoch enger. Es wird nach der Rechtfertigung von Gleichheitsforderungen im Rahmen einer konkreten politischen Gemeinschaft gefragt. Die Frage nach bürgerlicher Gleichheit ist zugleich die Frage danach, wie Mitglieder eines politischen Gemeinwesens ihre wechselseitigen Verpflichtungen definieren. John Rawls hat auf die Fragen sozialer Gerechtigkeit eine Antwort zu geben versucht, indem er zunächst »Anwendungsbedingungen« von Gerechtigkeitsforderungen in einer politischen Gemeinschaft in Erinnerung ruft. Dabei sind die »Anwendungsbedingungen von zweierlei Art  : erstens gibt es die objektive Bedingung mäßiger Güterknappheit und zweitens die subjektiven Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit«94. Die erste Bedingung beinhaltet, dass ein Staat in der Verwaltung von Mitteln Prioritäten setzen muss. Da davon auszugehen ist, dass auch die Garantie von Rechten nicht kostenlos ist,95 umfasst die Prioritätensetzung auch die Sicherung grundlegender Rechte. Aber 94 Rawls 1998, S. 141. 95 Holmes und Sunstein versuchen zu zeigen, dass gegen eine allgemeine Annahme nicht erst die Garantie sozio-ökonomischer Rechte, z. B. durch die Etablierung öffentlicher Güter, sondern auch die Garantien bürgerlicher Rechte nur durch ein Steueraufkommen zu leisten sind. Vgl. Holmes und Sunstein 2000.

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auch unabhängig von gemeinsam erwirtschafteten und öffentlich verwalteten ökonomischen Mitteln sind Güter als »soziale Hintergrundbedingungen und allgemein dienliche Mittel«96 zur Verwirklichung individueller Lebenspläne und eines Gerechtigkeitssinns  – den zwei wesentlichen Vermögen von Personen nach Rawls97 – nur begrenzt verfügbar. Die zweite Bedingung beinhaltet nach Rawls vor allem Rücksichtnahme auf das »Faktum des Pluralismus« in unseren heutigen Gesellschaften.98 Eine jegliche politische Gleichheitsforderung muss so beschaffen sein, dass Menschen nicht in jenen Hinsichten gleich gemacht werden, in denen sie möglichst umfängliche Unterschiedlichkeit genießen möchten  : in Fragen ihrer Lebensführung und den darin enthaltenen Wertsetzungen. Politische Gleichheit muss so beschaffen sein, dass sie persönliche Freiheit ermöglicht und nicht verhindert. Die Antworten, welche die politische Philosophie und die politische Wirklichkeit auf die skizzierten Herausforderungen bieten, sind vielschichtig. In der politischen Philosophie stehen seit Rawls’ Entwurf einer Gerechtigkeitstheorie vor allem zwei Punkte zur Diskussion. Wenn vorausgesetzt werden muss, dass Staaten sich Verteilungsfragen nicht entziehen können, muss auch erörtert werden, mit Rücksicht auf welche Kriterien Güter verteilt werden sollen. Ein Schwerpunkt der Erörterung verteilender Gerechtigkeit ist die Frage der Kategorienwahl. Geht es um Förderung von Wohlstand oder gar das Glück der Bürger  ; oder zielt eine gerechte Verteilung gar nicht auf einen Zustand des Wohlergehens der Bürger, sondern vielmehr auf Chancen zu einem guten Leben und den dafür notwendigen Ressourcen  ? Es gilt zunächst, die »Währung« zu erörtern, mit welcher soziale Gerechtigkeit bemessen werden kann.99 Darüber hinaus wird erörtert, wie das Verhältnis von Gleichheitsforderungen zu anderen grundlegenden po96 Rawls 1998, S. 153. 97 Vgl. ebd., S. 97–105. 98 Vgl. ebd., S. 153. 99 Vgl. ebd.

Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit

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litischen Werten bestimmt werden kann. Insbesondere im politischen Liberalismus wird erörtert, wie Verteilungspraktiken gerechtfertigt werden können, ohne zugleich bürgerliche Freiheiten zu schmälern. Beide Herausforderungen sollen im nächsten Abschnitt angenommen werden und eine Möglichkeit ihrer Beantwortung skizziert werden. 3.3 Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit Es ist leicht einsehbar, dass der Staat keine »Erreichnisse« (»achievements«), zumal im Sinne persönlicher Erfolge, garantieren kann. Ein Staat, der Berufserfolg, persönliches Glück und gelungene Freizeitgestaltung garantieren würde, wäre tatsächlich ein überaus bevormundender Staat. Für ein solches Szenario hätte Wolfgang Kersting mit seiner »Kritik des Egalitarismus« sicherlich Recht. Kersting hält »den Egalitarismus für eine philosophisch wie politisch verhängnisvolle Konzeption. Seine Sozialstaatsbegründung ist kohärenztheoretisch haltlos und widerspricht wichtigen moralischen und personentheoretischen Überzeugungen unseres Selbstverständnisses. Die politische Realisierung seiner Gerechtigkeitsvorstellungen führt zu einem expansiven Etatismus leviathanischen Ausmaßes, zur administrativen Enteignung des Bürgers.«100 Es muss sogleich angemerkt werden, dass Kersting eine Vorstellung kritisiert, nach welcher Staaten verpflichtet sind, Gerechtigkeit in Form einer »moralischen Unglückskorrektur«101 herzustellen. Dies ist immer dann der Fall, wenn soziale Gerechtigkeit mit dem Ideal möglichst umfassender Gleichstellung der Bürger verwechselt wird. Dennoch trifft die Kritik am Egalitarismus einen zentralen Punkt. In Forderungen nach Gleichbehandlung ist es nicht nur notwendig, die Gehalte der erstrebten Gleichheit genau zu bestimmen. Vielmehr müssen auch Grenzen definiert werden, jenseits derer politische Einmischung nicht mehr zu rechtfertigen ist. 100 Kersting 2003, S. 143. 101 Ebd., S. 142.

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Martha Nussbaum und Amartya Sen haben im Rahmen eines unoProjekts zur internationalen Armutsbekämpfung den Vorschlag gemacht, die Verteilungsgerechtigkeit und die Diskussion sozio-ökonomischer Rechte weder einseitig auf Ressourcen, noch einseitig auf Grade der Erfüllung individueller Wünsche zu konzentrieren. Vielmehr sei die Kategorie der »Fähigkeiten« geeignet, jene Glücksvoraussetzungen zu bezeichnen, auf welche Menschen als gesellschaftliche Wesen angewiesen sind, um ein gutes Leben wählen zu können.102 Ohne Bildung, ohne Möglichkeiten der sinnvollen Freizeitgestaltung und ohne Gesundheitsfürsorge können Menschen weder ein Leben in Würde führen, noch ihren bürgerlichen Aufgaben nachkommen. Es ist Aufgabe von Staaten, beides zu ermöglichen. Nussbaum leitet daraus die Forderung ab, der Staat müsse für Chan­ cengleichheit in den grundlegenden Fähigkeitsbereichen des Menschen sorgen. Die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten (»central human functional capabilities«) sind nicht hierarchisch angeordnet, sondern werden als Komponenten guten Lebens in einer Liste zusammengefasst. Auch wenn Vernunft und Vergesellschaftung als »architektonische Vermögen« einen besonderen Stellenwert haben, sind die Fähigkeiten, mit anderen Spezies zu leben, Spiel und Spaß zu erleben, auf derselben Ebene angesiedelt wie die Schulung der Sinne und der kognitiven Fähigkeiten. Insgesamt umfasst die Liste  : Leben und körperliche Gesundheit, körperliche Integrität, den Gebrauch der Sinne, der Vorstellung und des Denkens, Gefühle, praktische Vernunft, soziales Leben, den Bezug zu anderen Spezies, Erholung und Spiel sowie Kontrolle über die Lebensumwelten.103 Mit Rücksicht auf all diese Dimensionen gilt es anzuerkennen, dass es Formen ihrer Verwirklichung gibt, welche einem Leben in Würde entsprechen. Menschen werden bei Nussbaum in erster Linie vorgestellt als Wesen, die ihr Leben selbst gestalten können und deren vornehmste Fähigkeit es ist, freie 102 Vgl. dazu grundlegend Nussbaum 2000  ; 2003. 103 Vgl. Nussbaum 2000, S. 78–80.

Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit

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Entscheidungen zu treffen. Um ein gutes Leben entwickeln zu können, sind Menschen jedoch auf Voraussetzungen angewiesen. Und Aufgabe welcher Organisationsform, wenn nicht der politischen, ist es, Menschen mit Mitteln und Hintergrundbedingungen zu versorgen, sodass sie in die Lage versetzt werden, ein selbstbestimmtes und würdiges Leben zu führen  ? Wird dieser Weg zur Begründung bürgerlicher Gleichbehandlung in wesentlichen Hinsichten menschlichen Lebens verfolgt, kann auch der Einwand derjenigen zurückgewiesen werden, die hinter der Bereitstellung öffentlicher Güter sogleich einen bevormundenden und ausufernden Staat vermuten. Je nach Fähigkeitenbereich kann unterschieden werden zwischen einer Gleichstellung, die gleiche Lebenschancen eröffnet, und einer Gleichstellung, die Gebote der Freizügigkeit verletzt. Voraussetzung ist die Markierung einer Schwelle, jenseits derer Menschen in der Lage sein sollten, sowohl ihre Fähigkeiten weiter auszubilden, als auch die dafür notwendigen Institutionen ohne staatliche Hilfe zu organisieren.104 Die Konkretisierung einer solchen Schwelle ermöglicht zudem, jene Unterscheidungen zu vermeiden, die auf eine »Dekontingentisierung der natürlichen und sozialen Umstände der individuellen Lebenskarrieren«105 oder gar eine »Dekonstruktion der Person«106 angewiesen sind. Die Logik der Argumentation zur Bereitstellung von Gütern für die Bürger beruht nicht auf der Unterscheidung von Verantwortung des Einzelnen für sein Leben einerseits und Verantwortung der politischen Gemeinschaft andererseits. Noch wird Chancengleichheit gefordert, ohne den Gehalt der Chancen genau zu benennen. Vielmehr werden Bedingungen für die Möglichkeiten würdigen Lebens eingefordert, die mit politischen Mitteln verwirklicht werden sollen. In vorzüglicher Weise geeignet sind für diesen Zweck kollektive Güter, die als Bildungseinrichtungen, öffentliche Einrichtungen für die Förderung 104 Vgl. ebd., S. 72. 105 Kersting 2003, S. 142–143. 106 Ebd., S. 145–146.

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und den Erhalt der Gesundheit, Kulturgüter, Umweltgüter und Infrastruktur allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich sind. Nicht nur die Grundlagen einer Bewertung würdigen menschlichen Lebens und eines freiheitlichen Lebens, sondern auch die Schwellensetzung müssen jedoch Gegenstand der öffentlichen Diskussion bleiben. Entsprechend versteht Nussbaum ihre Liste nicht als Ergebnis, sondern als Vorlage für politische Diskussionen, die geführt werden müssen und die grundlegenden rechtlichen Regelungen vorausliegen.107 Wie viel öffentliche und damit letztlich gemeinsame Mittel für Gesundheitsfürsorge und wie viel Mittel zur Pflege der Kultur verwendet werden, ist allerdings keine triviale Haushaltsfrage. Vielmehr ist es die Frage danach, welche Hinsichten der Gleichheit von Bürgern für besonders zentral erachtet werden. Aus Perspektive der in dieser Studie geführten Erörterung ergibt sich etwas Weiteres. Als ein zusätzliches Kriterium dafür, dass Staaten unterstützende Leistungen anbieten, muss gelten, dass sowohl der Gehalt als auch die Art und Weise des Angebotes mit der Förderung bürgerlicher Kompetenzen verträglich sind. Die politische Gemeinschaft hat nicht die Aufgabe, Menschen mit Gütern zu versorgen. Vielmehr soll eine Situation unterstützt werden, sodass Bürgerinnen und Bürger auf dieser Grundlage ein aktives politisches Leben entwickeln können. Für so problematische Güter wie Gesundheitsfürsorge muss also nicht nur erörtert werden, was Gleichheitserfordernisse bedeuten. Vielmehr muss auch nach der politischen Bedeutung gefragt werden. Die Erörterung von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit muss zudem ergänzt werden um die Frage, ob es neue wesentliche Schutzbereiche gibt, so insbesondere Umweltrechte und neue Formen von Wirtschaftsrechten. Mit beiden Gegenständen werden neue Diskussionsfelder eröffnet, die in dieser Studie in gesonderten Kapiteln und damit auch losgelöst von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit erörtert werden.108 107 Vgl. Nussbaum 2000, S. 102–105. 108 Siehe dazu die Kapitel 4 (»Wirtschaftsbürger) und 8 (»Umweltbürger).

Gleichheit für benachteiligte Gruppen

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3.4 Gleichheit für benachteiligte Gruppen Es gibt Gruppen, die sich deutlich von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in einem Staat unterscheiden. Es sind dies ethnische und religiöse Minderheiten, Kinder, Jugendliche und alte Menschen, Menschen mit Handicaps oder kulturelle Gemeinschaften. Wenn Gruppen von Menschen aufgrund ihrer Eigenheiten zudem Nachteile erleiden müssen, muss gefragt werden, ob die Mitglieder dieser Gruppen eine von der üblichen Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger abweichende Behandlung erfahren sollten. Ist es erforderlich oder gar geboten, die Gleichheit der Bürger durch ungleiche Mittel zu erwirken  ? Anders als in sozialstaatlichen Argumentationen geht es nun um die Frage, ob Minderheiten zusätzliche Rechte zuerkannt werden sollen. Wichtig bei der Diskussion dieser Fragen ist, dass die Merkmale, die eine Gruppenzugehörigkeit bewirken, genau bestimmt werden. Nur nach Kennzeichnung der entsprechenden Merkmale ist auch eine Klassifizierung von besonderen Zuwendungen oder besonderen Rechten überhaupt möglich. Rechte für eine besondere politische Repräsentation, die von benachteiligten Gruppen eingefordert werden können, unterscheiden sich von Rechten auf kulturelle Autonomie für Gruppen von Immigranten oder religiöse Gruppen und von Rechten politischer Selbstbestimmung oder zumindest anteiliger Selbstbestimmung für nationale Minderheiten.109 Insbesondere ist auch zu berücksichtigen, wie eine Gruppe selbst ihr Verhältnis gegenüber dem Staat und der Mehrheit der Bevölkerung einschätzt. So gibt es Gruppen, die sich als Gruppe mit besonderen Merkmalen interpretieren würden, es aber deshalb nicht tun, weil es ihnen an Möglichkeiten dazu fehlt. Es gibt auch Gruppen, deren Ziel die Erhaltung der eigenen kulturellen Identität ist. Im Extremfall wollen Gruppenmitglieder mehr, nämlich politische Autonomie, die sich auch in einer eigenen politischen Verwaltung und in der eigenen Sprache im politischen Verkehr ausdrückt. Auf der Analyseebene muss zunächst für 109 Vgl. Kymlicka und Norman 1995, S. 304.

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eine möglichst gründliche Klärung der Voraussetzungen gesorgt werden. Erst dann kann gefragt werden, ob Mitglieder von Gruppen Ausnahmen von einer Gleichbehandlung aller Bürger fordern können. Ob die Gewährung von Gruppenrechten eine sinnvolle und vielleicht sogar gebotene Maßnahme ist, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. In der Diskussion um Gruppenrechte werden viele unterschiedliche Stimmen gehört und eine Vielzahl von Argumenten ausgetauscht. Was an der Diskussion von Minderheitenrechten für den Bürgerstatus aufschlussreich ist, lässt sich jedoch an einer weniger grundsätzlichen Form der Anerkennung gruppenspezifischer Benachteiligungen darlegen. Gruppenzugehörigkeit kann schicksalhaft sein. Dann kann es der Fall sein, dass Bürgerinnen und Bürger vielleicht sogar ein »Mehr« an Achtung verdienen und benötigen, um ein ebenso gelungenes Leben führen zu können wie andere Bürgerinnen und Bürger. Nehmen wir einmal an, dieses »Mehr« an Achtung fände zunächst Ausdruck in einer »transformative action«, einer politischen Maßnahme also, in welcher die schicksalhafte Benachteiligung kompensiert werden soll. Nehmen wir also an, wir haben keinen Fall vor uns, in dem nur zusätzliche Gruppenrechte als politische Rechte den bestehenden Missständen Abhilfe verschaffen können. Bürgerinnen und Bürger dieser benachteiligten Gruppe würden tatsächlich als »Gleiche« behandelt, wenn sie jene Unterstützung bekommen, die sie benötigen, um genauso an den Früchten der Kooperation teilhaben zu können, wie andere Bürgerinnen und Bürger auch. Auch dann bliebe ein Problem bestehen. Die nun gewonnene Gleichheit bleibt um den Preis gewonnen, einer nun auch politisch vollzogenen Gruppenzuordnung nicht länger widersprechen zu können. Mit diesen Hinweisen wird nicht gegen politische Möglichkeiten der Kompensation erlittenen Unrechts oder gruppenbezogener Benachteiligungen argumentiert. Was nur gezeigt werden soll, ist, dass Ungleichbehandlungen zugunsten der Gleichstellung Benachteiligter einer gesonderten Rechtfertigung bedürfen und auch einen Preis haben werden. Ein anderes und grundlegenderes Argument besagt, dass

Kritik des Gleichheitsideals

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besondere politische Maßnahmen oder gar Gruppenrechte auch deshalb nicht überbetont werden sollten, weil Bürger primär Individuen sind und als solche politischen Schutz erfahren sollten. Bürgerliche Grundrechte sind Individualrechte. Eine Schicksalsgemeinschaft, nicht jedoch eine gewählte Gemeinschaft zu sein, und vor der Aufgabe zu stehen, diese Gemeinschaft allererst in eine politische Gemeinschaft zu verwandeln, ist gerade die Herausforderung bürgerlichen Lebens.110 Wenn zudem geltend gemacht wird, dass die Pluralität der Lebensformen und Lebensstile nicht eine zusätzliche Bürde für Bürgerinnen und Bürger darstellt, sondern eine Grundvoraussetzung bürgerlichen Lebens ist, dann sind die durch Gruppenzugehörigkeit bedingten Unterschiede nur ein Beispiel für viele Formen der Unterschiedlichkeit der Bürgerinnen und Bürger untereinander. Mit Rücksicht auf jede Form von alternativen Lebensstilen sind Bürgerinnen und Bürger gefordert, eine Kultur der Toleranz zu verwirklichen. Gruppenrechte sind kein überflüssiges oder gar schädliches Konzept zur Verwirklichung bürgerlicher Gleichheit. Aber ihre Diskussion sollte in den Kontext der Überlegungen ihres Preises und den Kontext der Diversität bürgerlichen Lebens gestellt werden. Auch hier gilt, dass bürgerliche Gleichheit weder absolut sein kann, noch als absolute Gleichheit ein erstrebenswertes Ziel ist. 3.5 Kritik des Gleichheitsideals Die Gleichheit des Bürgers ist keine unqualifizierte und keine absolute Gleichheit. Zwar gilt, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. In welchen Hinsichten jedoch Rechtsgleichheit gewährt wird, muss in einer Demokratie an den Leitbildern aktiver Teilhabe und grundlegender Hinsichten der Gleichheit orientiert bleiben. Zudem müssen Erfordernisse bürgerlicher Gleichheit immer wieder neu begründet und ausgehandelt werden. 110 Vgl. Van Gunsteren 1998, S. 26–27.

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Auch unter diesen Voraussetzungen ist nicht jeder mit dem Ideal bürgerlicher Gleichheit einverstanden. Iris Marion Young stellt die Frage, ob nicht gerade die Vorstellung von »Gleichheit«, die im Bürgerstatus ihren Ausdruck findet, dazu führt, dass moralisch relevante Unterschiede zwischen Personen eingeebnet werden. Gruppen zuzugehören, kann eine Frage der Identität sein – und unter diesen Gruppen gibt es eben auch jene, die notorisch benachteiligt oder gar unterdrückt werden. Iris Marion Young argumentiert dafür, dass die Forderung nach Rechtsgleichheit der Bürger die Realität von intern differenzierten Gesellschaften verkenne.111 Gleichheitsideale zwingen zu Homogenität, wo es keine gibt und geben sollte.112 Statt die Augen zu verschließen vor tatsächlicher und nicht zu duldender Ungleichheit, gelte es, das politische Subjekt neu zu definieren. Es sind nicht Personen, sondern Gruppen, die politische Repräsentation verdienen.113 Wird die Erinnerung an oft schicksalhafte Zugehörigkeiten zu Gruppen als notwendige Korrektur an allzu undifferenzierten Gleichheitsforderungen interpretiert, ist gegen sie nichts einzuwenden. Soll jedoch tatsächlich das politische Subjekt durch Gruppenidentitäten ersetzt werden, droht der Verlust der grundlegenden Errungenschaft politischer Gleichheit von Personen. Dass Bürger es verdienen, mit gleichem Respekt und gleicher Achtung behandelt zu werden, bedeutet gerade nicht, dass wesentliche Unterschiede missachtet werden. Forderungen sozialer Gerechtigkeit sind dann begründet, wenn sie auf wesentliche Hinsichten eines menschlichen Lebens bezogen bleiben und dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt werden, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Zudem ist es angebracht, daran zu erinnern, dass auch in einer politischen Gemeinschaft in Seyla Benhabibs Worten der »Andere« immer der »konkrete Andere« ist. Während eine Perspektive auf den »Anderen« als mit verallgemei­ 111 Vgl. Young 1995, S. 186–187. 112 Vgl. ebd., S. 177–184. 113 Vgl. ebd., S. 188–189.

Kritik des Gleichheitsideals

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nerbaren Eigenschaften ausgestattetem Subjekt fordert, von seiner konkreten Lebenswirklichkeit abzusehen, ermöglicht eine Perspektive auf den »konkreten Anderen«, ihn mit seiner einmaligen Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Konstitution zu berücksichtigen.114 Eine Annäherung an die Diversität menschlichen Lebens kann auch in Theorien sozialer Gerechtigkeit geleistet werden, wenn Menschen nicht etwa als glücksmaximierende Wesen oder als auf ökonomischen Erfolg programmierte Wesen, sondern als politische Wesen interpretiert werden, die in Gemeinschaft mit anderen Bürgern grundlegende Kompetenzen verwirklichen können. Wird Gleichheit als ein politisches Ideal begründet, so bedeutet dies zudem nicht, dass es in der politischen Umsetzung Abzüge geben wird, die sich aus unterschiedlichen Gründen ergeben mögen. Tatsächlich können viele Faktoren den Vollzug politischer und rechtlicher Gleichheit in einem Land behindern  – so insbesondere die schiere Größe eines Landes, welche die effektive Umsetzung von politischen Maßnahmen zur Förderung sozialer Gerechtigkeit erschwert, die zunehmend polarisierende Kraft der Marktwirtschaft oder die Abnahme staatlichen Einflusses, gepaart mit der Zunahme des Wirkungsbereichs internationaler Institutionen.115 Trotz solcher Prozesse ist die Vorstellung bürgerlicher Gleichheit so tief verwurzelt in der Idee menschlicher Vergesellschaftung, dass sie durch nichts anderes ersetzt werden kann. Dies gilt zumindest dann, wenn unter »Gleichheit« zunächst politische Gleichheit der Bürger und dann wohlbegründete Formen sozialer Gerechtigkeit verstanden werden. Jedoch geht es nicht um gebotene Versorgungsleistungen des Staates. Maßstab ist vielmehr die Ermöglichung des Lebens als politisch kompetentes Wesen, d. h. auch als ein Wesen, das frei ist, politisch bedeutsame Institutionen, etwa jene der Bildung wie auch seine Umweltbezüge, zu gestalten.

114 Vgl. Benhabib 1987, S. 87. 115 Vgl. Dahl 2006, S. 66–92.

4.

W irtsch a f tsbürger

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igentum qualifiziert Menschen dazu, am politischen Geschehen teilzunehmen. Nur wer über privaten Besitz verfügt, erhält auch den Bürgerstatus. Er kann an politischen Wahlen teilnehmen und sich selbst zur Wahl stellen. Historisch betrachtet hält sich das Besitzkriterium in Europa bis in das 19. Jahrhundert. Es dient der Unterscheidung einer elitären Gruppe von Bürgern gegenüber den Nicht-Bürgern und den Fremden. Die Verbindung von Eigentum und Bürgerstatus erschöpft sich jedoch nicht in diesem Aspekt. Bis heute ermöglicht privates Eigentum auch eine Form der Unterwerfung unter politische Macht, die zugleich vor einer existenziellen Vereinnahmung schützt. Besitz macht unabhängig. Schon in der Antike ist das Verhältnis von Besitz und politischer Teilhabe vieldeutig. Für Aristoteles war die finanzielle Unabhängigkeit der politischen Führung so wichtig, dass er in seiner Schrift zur Politik Vorschläge dafür erarbeitet, Honorare für politische Dienste zu gewähren – und dies nicht nur denjenigen, welche die durch Los und Wahl vergebenen Ämter besetzen, sondern auch denjenigen, die an der Volksversammlung teilnehmen. Das sind alle stimmberechtigten Bürger.116 Die Eigentumsverteilung ist auch ein wichtiger Faktor mit Rücksicht auf die Stabilität eines politischen Gemeinwesens. Soll ein Staat Bestand haben, so ist die wohl wichtigste Voraussetzung nach Aristoteles, dass »Gesetz und Sitte festen Halte verleihen«117. In einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Demokratie als Staatsform weist Aristoteles aber auch auf die Dringlichkeit gerechter Verteilungen des Besitzes hin. Insbesondere muss die politische Führung »darauf sehen, daß die Menge nicht gar zu unbemittelt sei  ; denn das 116 Vgl. Aristoteles 1995, S. 218 [Pol. 1317 b 33–37]. 117 Ebd., S. 224 [Pol. 1319 b 3–4].

Wirtschaftsbürger

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hat zur Folge, daß die Demokratie herunterkommt. Man muß also in geschickter Weise darauf hinwirken, daß ein dauernder Wohlstand sich einstelle. Und da dieses auch den gut situierten Bürgern zum Vorteil gereicht, so muß man den Ertrag der öffentlichen Einkünfte anlaufen lassen und ihn dann auf einmal an die mittellosen Bürger verteilen, und das Beste ist, wenn man womöglich soviel sammelt, daß sich der einzelne ein Gütchen damit kaufen kann, oder es möge wenigstens soviel sein, als zur Einrichtung eines Ladens oder einer bescheidenen Ackerwirtschaft hinreicht.«118 Die auch als sozialdemokratische Aspekte der aristotelischen politischen Philosophie interpretierbaren Thesen119 werden ergänzt um Überlegungen zum Verhältnis von Privat- und Staatseigentum. Aristoteles hält die Institution des Privateigentums im Staat für wichtig. Anders als sein Lehrer Platon möchte er sie nicht durch Gemeinschaftseigentum ersetzt wissen. Ein Grund dafür ist, dass es zwei Dinge gibt, »die vor allem Sorge und Teilnahme des Menschen für sich gewinnen  : das Eigene und das Geliebte«120. Privateigentum ersetzt jedoch nicht den staatlichen Besitz. Gemeineigentum ist notwendig, damit der Staat steuerbar bleibt. Nach Aristoteles müssen öffentliche Mittel in den Unterhalt des Staates, in Künste und Handwerke, in Wehr und Waffen, in die Besorgung des Gottesdienstes und den Unterhalt von Behörden fließen.121 Entgegen der Vorstellung, Privateigentum sei ausschließlich qualifizierende Bedingung für den Bürgerstatus, begegnen uns schon dort differenzierte Überlegungen zu den Institutionen des Privat- und des Kollektiveigentums. Seit Beginn der Neuzeit erfährt das Verhältnis von Bürgerstatus und Eigentum zwar eine Neubewertung. An deren Anfang steht jedoch nicht die Überwindung des Besitzkriteriums zur 118 Ebd., S. 226–227 [Pol. 1319 b 34–37]. 119 In dieser Weise wird die aristotelische Theorie von Nussbaum gedeutet in  : Nussbaum 1990. 120 Aristoteles 1995, S. 37 [Pol. 1262 b 23–24]. 121 Vgl. ebd., S. 252–254 [Pol. 1238 a 24 – b 23].

78 Wirtschaftsbürger Verleihung der Bürgerwürde. Vielmehr kann das gewandelte Verhältnis zwischen Bürgerstatus und Eigentum so interpretiert werden, dass Privateigentum eine andere und sogar grundlegende Funktion erfüllen wird. C.B. MacPherson hat in seiner inzwischen als klassisch geltenden Studie zu vertragstheoretischen Entwürfen der Neuzeit den Begriff des »besitzanzeigenden Individualismus«122 geprägt. Auch in der Neuzeit ist der Bürgerstatus als ein politischer Status ohne die Verfügungsgewalt über das eigene Hab und Gut nicht zu denken. Was sich jedoch grundlegend ändert, ist die Interpretation der Bedeutung von Besitz. Verfügungsgewalt über Eigentum wird qualifizierendes Merkmal eines politischen Individuums, das in einer Gesellschaft lebt, welche zunehmend von Austauschprozessen einer Marktgesellschaft geprägt ist. Damit ist auch der Weg frei, Verfügungsgewalt über privates Eigentum nicht mehr als Bedingung, sondern als integralen Bestandteil des bürgerlichen Selbstverständnisses zu interpretieren. In Wirtschaftsgesellschaften, so wie wir sie heute vorfinden, tritt das Verhältnis von Bürgerstatus und Privateigentum nicht in den Hintergrund, sondern erfährt eine Akzentuierung. Der Bürgerstatus ist ohne ein politisch zugesichertes Recht auf Privateigentum nicht denkbar. Jenseits dieser konsensfähigen Annahme scheiden sich jedoch die Geister. Auch wenn ein solcher Standpunkt von Vertretern radikaler Wirtschaftsfreiheiten vertreten wird  : Bürger zu sein erschöpft sich nicht in der Verfügungsgewalt über monetäre Mittel. Mit Peter Ulrich geht es heute um die Erörterung von »Wirtschaftsbürgerrechten« als »Grundlage realer Freiheit für alle«.123 Zugleich geht es um die grundlegende Frage, in welchem Sinn Privateigentum sowie wirtschaftliche Freiheit und Bürgerstatus aufeinander bezogen sind. In diesem Kapitel soll zunächst in einer philosophiehistorischen Fußnote im ersten Abschnitt an eine grundlegende Neuinterpre122 MacPherson 1962. 123 Vgl. Ulrich 2001, S. 259–288.

Wirtschaftsbürger

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tation der Bedeutung von Eigentum in der politischen Theorie der Neuzeit erinnert werden. Dazu wird das Konzept des »besitzanzeigenden Individualismus« von C.B. Macpherson als Beschreibung einer epochalen Veränderung erläutert. Im zweiten Abschnitt wird ein Standpunkt dargelegt, der Wirtschaftsfreiheiten und bürgerliche Freiheiten miteinander identifiziert. Dieser extreme Standpunkt wird von Vertretern der Chicago School of Economics verfochten.124 Eine Kritik dieser Position leitet über zum dritten Abschnitt, in welchem eine alternative Deutung wirtschaftlicher Freiheiten erörtert wird. Es wird nach dem Wert der Wirtschaftsbeteiligung gefragt, um sie als ein eigenständiges Element des Bürgerstatus begreifen zu können. Im vierten Abschnitt wird diese Position mit Rücksicht auf eine Konzeption von »Wirtschaftsbürgerrechten« präzisiert. Dabei wird insbesondere auf die »Integrative Wirtschaftsethik« von Peter Ulrich Bezug genommen.125 Im fünften Abschnitt soll skizziert werden, welche gesellschaftlichen Aufgaben sich aus dieser Bestandsaufnahme ergeben. Eine ebenfalls wichtige Diskussion um Besitzstand und Bürgerstatus kann in diesem Kapitel nicht geführt werden. Auch dies muss zur Klärung vorweggeschickt werden. Ich möchte mich in diesem Kapitel nicht mit dem Verhältnis von Klasse und Eigentum auseinandersetzen126  – auch nicht in der Form einer Auseinandersetzung von heutigen Folgen des Kapitalismus als Wirtschaftssystem. Um diese etwa mit Rücksicht auf das Entstehen einer kapitalistischen Oberschicht und einer Unterschicht von Verlierern zu diskutieren und die Wirkung solcher Entwicklungen auf den Bürgerstatus einschätzen zu können, wäre mehr Platz erforderlich, als dieses Kapitel bieten kann.

124 Beispielhaft ausgeführt wird diese Position in  : Friedman 2002. 125 Vgl. Ulrich 2001. 126 Vgl. dazu Turner 1986.

80 Wirtschaftsbürger 4.1 Besitzindividualismus Neue politische Ordnungen, für welche das Ideal bürgerlicher Gleichheit wegweisend ist, werden in den großen Entwürfen eines »Gesellschaftsvertrags« grundgelegt. Kein Studium der politischen Philosophie ist möglich, ohne einmal diese Entwürfe gelesen zu haben. Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau schreiben Theorien der politischen Gemeinschaft mit dem Ziel, politische Ordnung nicht mehr auf stets geltende erste Prinzipien zurückzuführen, sondern sie auf Übereinkunft zu gründen. An die Stellen von Gottgegebenheit und Naturrecht treten Vorstellungen politischer Legitimation von Herrschaft. Zentral für das Studium vertragstheoretischer Entwürfe sind nicht nur die Verständigung über Ideen zur Rechtfertigung politischer Macht, sondern auch Einsichten in ihre Unterschiedlichkeit. Die Theorie von Thomas Hobbes ist geprägt von anthropologischen Prämissen, welche den Menschen als gieriges, zugleich aber ängstliches Wesen zeichnen.127 Solange es keine Sicherheit gibt, herrscht das Recht des Krieges mit all seinen unliebsamen Folgen.128 Um des Gutes allgemeiner Sicherheit willen sind die Menschen schließlich dazu bereit, einer Staatsmacht fast uneingeschränkte Herrschaft zu überlassen. Legitime Macht findet ihren Ausdruck im »Leviathan«, einer ebenso mächtigen wie über dem Gesetz stehenden politischen Instanz.129 John Locke entwirft ein System politischer Herrschaft, in welchem natürliche Rechte des Menschen als Grundrechte auf Leben, Eigentum und Freiheit interpretiert werden. Politische Macht hat den Auftrag, die Menschen in diesen Rechten zu vertreten.130 Voraussetzung zur Bestimmung politischer Aufgaben ist es, Angelegenheiten der politischen Führung zu unterscheiden von Gewissensangelegen127 Vgl. Hobbes 1980, S. 114–116  ; 1994, S. 78–80. 128 Vgl. Hobbes 1994, S. 124–125. 129 Vgl. Hobbes 1980, S. 118–129, 156–166. 130 Vgl. Locke 1977, S. 201–203.

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heiten des Bürgers.131 Ein Ausgangpunkt für Jean-Jacques Rousseau wiederum ist der diagnostizierte Verfall des Menschen, sobald er sich in Gesellschaft begibt. Eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse ist verbunden mit der Suche nach einer politischen Alternative. Diese müsste so beschaffen sein, dass der Mensch so frei ist, wie er es ursprünglich einmal war, jedoch in einem anderen institutionellen Gewand.132 Das daraus entwickelte vertragstheoretische Szenario sieht einen Staatsgründungsakt vor, mit welchem die Bürger sich zu einem Willen vereinigen, der fortan die politische Macht darstellt.133 Notwendig zur Erhaltung eines auf den Gemeinwillen gründenden politischen Körpers ist allerdings die fortgesetzte Erziehung zum Bürger.134 Werden die vertragstheoretischen Entwürfe untersucht, so scheint es so zu sein, dass das Recht auf Privateigentum eine grundlegende Funktion nur bei Locke hat. Dort zählt das Recht auf Eigentum zu den »natürlichen Rechten«, zu jenen Rechten also, die schon im vorrechtlichen Naturzustand Geltung haben. Die Erde und alle »niederen Lebewesen« gehören zwar allen Menschen gemeinsam  ; jeder Mensch hat aber überdies ein Eigentumsrecht an seiner eigenen Person.135 Insbesondere entsteht Privatbesitz durch der Hände Arbeit. Schon das Aufsammeln von Eicheln oder von Äpfeln genügt als Akt der Aneignung,136 auch die Aneignung von Land und Bodenschätzen folgt diesem Gesetz.137 Locke reflektiert sogar, dass eine Aneignung jenseits dessen, was ein Einzelner genießen kann, nicht gerechtfertigt ist.138 Anders als bei Locke gibt es bei Rousseau und Hobbes dagegen weder ein natürliches Recht auf Eigentum, noch ist ein solches erster 131 Vgl. Locke 1996. 132 Vgl. Rousseau 1986, S. 5. 133 Vgl. ebd., S. 18. 134 Vgl. ebd., S. 140–153. 135 Vgl. Locke 1977, S. 216. 136 Vgl. ebd., S. 217. 137 Vgl. ebd., S. 221–227. 138 Vgl. ebd., S. 217–218.

82 Wirtschaftsbürger Gegenstand der vertraglichen Verpflichtung. Eigentum ist Rechtsgut erst im bürgerlichen Stand, der auf einem Vertragsabschluss und einer Reihe von Gesetzen beruht.139 Es scheint so zu sein, dass die mit den Vertragstheorien aufkommenden neuen Interpretationen des Bürgers als Vertragspartner in relativer Unabhängigkeit stehen gegenüber der Einschätzung privaten Besitzes. Dieser Auslegung hat MacPherson widersprochen. Nicht nur in Lockes politischen Entwurf, sondern auch bei Hobbes entdeckt er eine Grundlegung moderner Gesellschaftstheorien, die er als eine Konzeption des »besitzanzeigenden Individualismus« bezeichnet. Die Marktgesellschaft im Europa des 17. Jahrhunderts ist geprägt von der Vorstellung, dass ein Mann durch das bestimmt ist, was er besitzt und von dem er stetig mehr zu besitzen verlangt. Nach Macpherson übersetzt sich dieses historisch gewordene Bild des Individuums auch in jene Grundlagentexte des politischen Liberalismus, als welche die Entwürfe von Locke und Hobbes gelten können. Nur wer die veränderte Funktion des Privatbesitzes versteht, wird auch erkennen, dass Freiheit neu bestimmt wird als Unabhängigkeit von anderen Personen. Im Gegensatz zum Sklaven gehören auch dem Lohnarbeiter seine Person und seine Fähigkeiten. Er kann diesen Besitz freiwillig in ein Vertragsverhältnis als Tauschgut einbringen. Dass Menschen ihre Arbeitsfähigkeit veräußern können, garantiert ihnen Freiheit.140 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch die bürgerliche Freiheit neu interpretiert wird. Menschen sind dann frei, wenn die Veräußerung ihrer Fähigkeiten nur durch solche Regelungen eingeschränkt wird, die notwendig sind, um dieselbe Freiheit für alle anderen zu erhalten. Der Übergang von einer gehaltvollen Festlegung menschlicher Freiheit zu einer Konzeption »negativer Freiheit« ist nun gebahnt.141 Nach MacPherson sind in der Neudeutung individueller Freiheit so139 Vgl. Hobbes 1970, S. 130  ; vgl. Rousseau 1986, S. 23–26. 140 Vgl. MacPherson 1962, S. 263–264. 141 Siehe dazu das Kapitel 2  : »Der Freie«.

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gleich die Ursprünge einer Neuinterpretation des politischen Subjekts zu sehen. Über Privatbesitz verfügen zu können, wird zum Synonym für individuelle Freiheiten in einem Rechtssystem, dessen erste Aufgabe es ist, diese Freiheiten zu schützen und zu befördern. Zwar ist die Vorstellung, Individuen als Besitzer ihrer selbst zu sehen, nicht Quelle aller zentralen politischen Konzepte des Liberalismus  ; aber diese seien ohne eine solche Vorstellung in ihrem wichtigsten Gehalt nicht erfasst. Die Vorstellung, Eigentum qualifiziere zur Freiheit, hat sich bis in unsere Tage halten können. Funktionieren kann sie nur im Kontext einer Gesellschaft, die Marktbeziehungen als prägend anerkennt. Im Idealfall zeichnet sich eine Marktwirtschaft dadurch aus, dass jeder mit jedem freiwillige vertragliche Beziehungen eingehen kann. Was mit seinem Eigentum geschieht, obliegt dem Eigentümer. Wenn dieser seine Mittel geschickt einsetzt, so eine weitere idealisierende Voraussetzung, wird es nicht nur ihm, sondern allen am Marktprozess Beteiligten zu einem ökonomischen Vorteil gereichen. Gerade in dieser Deutung kann aber auch eine Schwäche der Verbindung von Eigentum und Bürgerstatus erkannt werden. Eine an Marktbeziehungen orientierte Deutung des Gemeinwesens kann nur solange für Unabhängigkeit und Freiheit des Einzelnen stehen, als zwei Bedingungen gelten. Menschen müssen erstens in der Lage sein, einander als gleichberechtigte Partner erkennen zu können. Zweitens muss ein Zusammenhalt der politischen Gesellschaft gegeben sein, die den Zentrifugalkräften einer Gesellschaft von selbstinteressierten Individuen erfolgreich entgegenwirkt. Nach C.B. MacPherson sind beide Voraussetzungen bereits im 19. Jahrhundert bedroht. Durch das Entstehen einer Arbeiterklasse, die nicht zur Klasse der Eigentümer zählt, sondern von jener abhängig ist, wird die Idee der Marktgleichheit unglaubwürdig. Was bleibt, ist der modellbildende Charakter des »besitzanzeigenden Individualismus«. Ohne die Vorstellung, Menschen besäßen das, was sie dank ihrer Talente und durch ihren Einsatz auf dem Markt erwirtschaften, wäre eine liberale Gesellschaftstheorie eines grundlegenden Elements beraubt.

84 Wirtschaftsbürger 4.2 Wirtschaftsfreiheiten und bürgerliche Freiheiten Eigentum qualifiziert dazu, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In einer Marktgesellschaft kann es sich der Eigentümer leisten, seine Mittel nach seinen Vorstellungen und zugleich zu seinen Gunsten einzusetzen. Zwar ist auch der Eigentümer an die Rechte und Gesetze eines Landes gebunden. Aber er ist wenigstens insofern unabhängig, als er allein über seinen rechtmäßigen Besitz verfügt. Diese zustimmungsfähige Vorstellung über die Freiheiten, die mit Privatbesitz verbunden sind, steht einer anderen, weniger einhelligen Auffassung gegenüber. Danach können politische Freiheiten durch Wirtschaftsfreiheiten ersetzt werden. Beispiele für diese Position geben Vertreter der »Chicago School of Economics«. Von Milton und Rose Friedman wird Wirtschaftsfreiheit zunächst bestimmt als »Freiheit, darüber zu entscheiden, wie wir unser Einkommen nutzen  : wie viel wir für uns und für welche Dinge ausgeben möchten  ; wie viel wir sparen möchten und in welcher Form  ; wie viel wir verschenken möchten und wem«142. Wirtschaftsfreiheit ist Verfügungsgewalt über den eigenen Besitz. Dies schließt auch die Freiheit ein, wirtschaftliche Prozesse so zu nutzen, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht. »Ein anderer wesentlicher Teil ökonomischer Freiheit ist die Freiheit, die eigenen Ressourcen in Übereinstimmung mit unseren Werten zu nutzen – die Freiheit, jede Beschäftigung anzunehmen, sich an jedem beliebigen Wirtschaftsunternehmen zu beteiligen, von jedem etwas zu kaufen und jedem etwas zu verkaufen, solange wir es auf einer strikt freiwilligen Basis tun und keine Gewalt anwenden, um andere zu zwingen.«143 Bis zu diesem Punkt vertreten die Friedmans eine Meinung, die in Wirtschaftsgesellschaften breite Zustimmung finden dürfte. Zusätz142 M. und R. Friedman 1990, S. 65. Hier und im Weiteren meine Übersetzung, A. K. 143 Ebd., S. 66.

Wirtschaftsfreiheiten und bürgerliche Freiheiten

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lich müsste nur bedacht werden, dass sowohl Verfügungsgewalt über Privateigentum als auch Möglichkeiten der freiwilligen Teilhabe an wirtschaftlichen Prozessen Ergebnis einer Rechtssituation sind, die nicht nur den Schutz von Privateigentum, sondern auch einen umfassenden Schutz des Marktsystems als eines Systems freien Austausches sichert. Nur wenn Vertragssicherheit gewährleistet ist und wirksam gegen Verletzung der Regel des freien Austauschs vorgegangen werden kann, können Menschen Wirtschaftsfreiheiten nutzen.144 Zudem muss anerkannt werden, dass das Szenario des freiwilligen Tausches eine kaum realisierbare Forderung ist. Tatsächlich wird von vielen Merkmalen der realen Wirtschaftssituation abstrahiert. Neben der Erinnerung an rechtliche Hintergrundbedingungen und idealisierende Elemente der ökonomischen Theoriebildung kann auch auf gegebene Ungleichverteilungen hingewiesen werden. Viele Menschen haben keinen Privatbesitz, der Investitionen erlauben würde. Viele Menschen haben auch nicht die Aussicht auf ein Vermögen. Trotz solcher Einschränkungen können die Vorstellungen über einen freien Markt und seine Austauschverhältnisse als modellbildend angesehen werden für die Bestimmung des Gehalts von Wirtschaftsfreiheiten. Für die Vertreter der Chicago School of Economics ist die Erörterung damit jedoch nicht abgeschlossen. Vielmehr werden Wirtschaftsfreiheiten so interpretiert, dass sie als ein hinreichendes System grundlegender Freiheiten gelten können. Politische Institutionen schränken ihrer Ansicht nach diese Freiheiten nur ein, wie einige Beispiele zeigen.145 Negativbeispiele sind etwa das Schicksal von Managern, die sich kaum gegen Regulierungsmaßnahmen öffentlich aussprechen können, ohne Repressionen befürchten zu müssen. Erwähnung finden auch Akademiker, deren Redefreiheit schon dadurch beschnitten ist, dass sie ihre Gehälter vom Staat beziehen. Genannt 144 Für eine Erläuterung ethischer Rahmenbedingungen von Wirtschaft im Allgemeinen und an konkreten Beispielen vgl. Soule 2003. 145 Vgl. M. und R. Friedman 1990, S. 67.

86 Wirtschaftsbürger wird schließlich auch die Abhängigkeit der Presse von der Regierung.146 Die Botschaft ist, dass nur uneingeschränkte Verwendungsmöglichkeiten privaten Eigentums mit dem Bild einer freien Person verträglich sind. Während Regeln der politischen Gemeinschaft, und insbesondere Steuergesetzgebungen, den Einzelnen in seiner Freiheit beeinträchtigen, ermöglichen Marktbeziehungen die größtmögliche Freiheit des Einzelnen. Ein Preis für diese Einschätzung ist allerdings, bürgerliche Freiheit auf Wahlfreiheit reduzieren zu müssen. Nicht zufällig ist das Szenario, mit welchem größtmögliche Freiheitsspielräume beschrieben werden, die Situation des Käufers in einem Supermarkt. Dazu noch einmal die Friedmans  : »Wenn man täglich in einem Supermarkt wählt, bekommt man präzise, wofür man gewählt hat, und so geht es jedem. Die Wahlurne produziert Konformität ohne Einstimmigkeit  ; der Markt Einstimmigkeit ohne Konformität. Das ist der Grund, warum es wünschenswert ist, die Wahlurne, so weit möglich, nur für solche Entscheidungen zu nutzen, für die Konformität grundlegend ist.«147 Es wäre unrichtig, Milton Friedman unterstellen zu wollen, er fordere eine reine Marktwirtschaft. Sowohl hinsichtlich der Eindämmung unerwünschter Nebeneffekte wirtschaftlichen Handelns als auch mit Rücksicht auf zentrale öffentliche Güter, etwa Gesundheitsfürsorge und Bildung, fordert er staatliches Handeln.148 Der zentrale Punkt der Kritik ist vielmehr die Identifikation bürgerlicher Freiheit mit Wirtschaftsfreiheit. Dieser Verbindung liegt eine Vorstellung von ungebundener Wunscherfüllung zugrunde, wie sie in dem Vergleich von Markt und Politik deutlich wird. Wirtschaftsfreiheit und Freiheit des Bürgers kommen dort zur Deckung, wo Freiheit ausschließlich der ungestörten Präferenzerfüllung dient.

146 Vgl. ebd., S. 67–69. 147 Ebd., S. 66–67. 148 Vgl. Friedman 2002, S. 86–88.

Wirtschaftsfreiheiten und bürgerliche Freiheiten

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Eine zusammenfassende Reflexion auf die bisherigen Argumente ist angebracht. Die Eingangsthese war, dass Eigentum zwar nicht mehr qualifizierendes Kriterium für den Bürgerstatus ist, gleichwohl aber in abgewandelter Form die Verständigung über den Gehalt des Bürgerstatus prägt. Zum einen wird die Vorstellung, jeder besäße seine eigenen Talente und könne sie veräußern, umso wichtiger, je stärker Gesellschaften am Paradigma des freiwilligen Warentausches und der damit verbundenen Interpretation von Freiheit als Unabhängigkeit ausgerichtet sind. Zum anderen können klassische bürgerliche Freiheiten zwar von Wirtschaftsfreiheiten unterschieden werden. In der Realität scheinen sie aber – zumindest nach der soeben referierten Position – unmittelbar aufeinander bezogen zu sein. Wie jedoch dieses Verhältnis genau bestimmt werden kann, wird weiterer Diskussionen bedürfen. Dass ein Verhältnis zwischen ökonomischer Freiheit und bürgerlichen Freiheiten besteht, kann nicht bestritten werden. Beispiele für einen solchen Zusammenhang finden jedoch immer auch Gegenbeispiele. So ist nicht ausgemacht, ob Marktprozesse auch in zentral geführten, nicht-demokratischen Ländern tatsächlich dazu führen, dass bürgerliche Freiheiten politisch verankert werden. Entgegen der Annahmen der Friedmans können Marktwirtschaften gedeihen, auch wenn Rede- und Religionsfreiheit nicht gegeben sind. Noch verworrener ist die Situation auf der ideellen Ebene. Die Theoreme der Chicago School of Economics haben nicht nur als Analysen, sondern in ihrer Fortsetzung in Gestalt des Neoliberalismus weltweit überzeugte Anhänger gefunden.149 Zugleich wird im Zuge der Globalisierung und angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise aber immer zweifelhafter, ob Modelle des freien Marktes hinreichen, um eine zivilisierte politische Welt von morgen zu entwerfen.

149 Für eine Kritik des Neoliberalismus als ein Ansatz, welcher auch Theorien der politischen Philosophie dominiert, vgl. Habermas 2001.

88 Wirtschaftsbürger 4.3 Wirtschaftsbürgerrechte Eine Alternative zu beiden bereits erörterten Modellen ist es, nicht bei der Deutung von Privatbesitz als Grundlage der Freiheit, sondern bei Fragen der Wirtschaftsbeteiligung zu beginnen. Privateigentum ist eine flüchtige Größe. Besonders wichtig für den Bürger von heute ist deshalb die Möglichkeit, aktiv an wirtschaftlichen Gewinnprozessen teilzunehmen. In dieser Absicht wird in der Wirtschaftsethik die Diskussion um Wirtschaftsbürgerrechte geführt. Unstrittig ist die Forderung, dass möglichst alle Menschen an Wirtschaftsprozessen beteiligt werden sollten. Umstritten ist aber sowohl, was die Gründe für die Forderung nach Wirtschaftsbeteiligung sind, als auch der Gehalt solcher Forderungen. Eine Antwort auf beide Fragen wird von Peter Ulrich in der Erörterung von »Wirtschaftsbürgerrechten« in seiner »Integrativen Wirtschaftsethik« zu geben versucht.150 Ulrichs Konzeption der Wirtschaftsbürgerrechte ist orientiert an einer Neubestimmung des Gehalts wirtschaftlichen Handelns in hochentwickelten Gesellschaften. Methodische Voraussetzung ist der Bruch mit einer Vorstellung, wonach die Ökonomie als Raum geltender Gesetze interpretiert werden kann, deren Gehalt unabhängig von Wertungen und Wertvorstellungen bestimmt ist. Diese von Ulrich als »Ökonomismus« bezeichnete Interpretation wirtschaftlicher Prozesse ist bis heute nicht nur in der Ökonomie als Wissenschaft, sondern auch in der allgemeinen Verständigung über das Funktionieren wirtschaftlicher Prozesse verbreitet. Ulrich versucht dagegen nachzuweisen, dass bereits auf der Ebene ökonomischer Theoriebildung Wertentscheidungen getroffen werden. Dies gelte sogar mit Notwendigkeit.151 Die auf der methodischen Ebene erwirkte Öffnung in Richtung normativer Fragestellungen kann zur Bestimmung des Wirtschaftsbürgers genutzt werden. 150 Vgl. Ulrich 2001. 151 Vgl. ebd., S. 131–206.

Wirtschaftsbürgerrechte

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»Der Begriff des Wirtschaftsbürgers […] thematisiert den Bürger als moralische Person und Wirtschaftssubjekt, das an der Legitimität seines eigenen Wirtschaftens wie desjenigen der anderen Wirtschaftssubjekte interessiert ist und zu dessen Selbstverständnis insofern eine entsprechende Wirtschaftsbürgertugend gehört.«152 Der an Wirtschaftsprozessen beteiligte Bürger wird nicht nur als Wirtschaftssubjekt, sondern zugleich in seinen Möglichkeiten der moralischen Gestaltung seines wirtschaftlichen Handlungsbereiches thematisiert. Sowohl um den Gehalt dieser Möglichkeiten genauer zu erfassen, als auch um überhaupt erst einen Freiraum für solche Handlungsoptionen zu schaffen, werden Wirtschaftsbürgerrechte formuliert. Einerseits sind dies Rechte, welche die Möglichkeiten der Behauptung in ökonomischen Systemen sichern. Insbesondere nennt Ulrich »die Fähigkeit, seine wirtschaftliche Existenz, wenn immer möglich, aus eigener Kraft sichern zu können« und »die Fähigkeit, auch in wirtschaftlichen Notlagen ein menschenwürdiges Leben in Selbstachtung führen zu können«.153 Andererseits umfassen die Wirtschaftsbürgerrechte solche Rechte, die Teilnahme am ökonomischen Wertschöpfungsprozess sichern. Nach Ulrich müssen diese Rechte als »begrenzte Systembeteiligungsrechte« konzipiert sein.154 Denkbare Elemente dieser Gruppe von Rechten sind das Recht auf Eigentum, das Recht auf ein Grundeinkommen und das Recht auf Arbeit.155 Sowohl das Recht auf Grundsicherung als auch das Recht auf Arbeit sind in der politischen Philosophie vieldiskutierte Gegenstände.156 Für uns stellt sich die Frage, inwiefern Wirtschaftsbürgerrechte zur Bestimmung des Bürgers als eines politischen Ideals beitragen. Deutlich wird zunächst, dass die Anerkennung von Wirtschaftsbürgerrechten mehr beinhaltet als die prinzipielle Möglichkeit, an be152 Ebd., S. 262. 153 Vgl. ebd., S. 271. 154 Vgl. ebd., S. 270. 155 Vgl. ebd., S. 271–274. 156 Vgl. ebd., S. 274–284.

90 Wirtschaftsbürger stehenden Märkten und wirtschaftlichen Organisationsformen gewinnend teilzunehmen. In einer »lebensdienlichen« Ökonomie, wie Peter Ulrich sie fordert, kann Wirtschaftsbeteiligung nicht abgelöst werden von der Verwirklichung einer Bürgerhaltung, die eine aktive und tugendethisch geformte Beteiligung am politischen Gemeinwesen einschließt. Problematisch ist allerdings die Sprache der »Rechte« in diesem Kontext. Sich der Sprache der »Systembeteiligungsrechte«157 zu bedienen, birgt erstens die Schwierigkeit, dass Wirtschaftsbürgerrechte als Ermöglichung der Beteiligung an einem System interpretiert werden müssen. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass ein solches System jenseits der Transaktionen der Beteiligten existiert. Wirtschaft wird es aber immer nur in dem Umfang und in der Qualität geben, in welcher Menschen bereit sind, als Entrepreneurs und als Arbeiter ihre Kräfte in ein solches System zu stecken. Zweitens ist es eine dringende Aufgabe, das Wirtschaftsbürgertum nicht nur zu ermöglichen, sondern es auch zu domestizieren. Mindestens in dieser Hinsicht ist jenen Vertretern der politischen Philosophie zuzustimmen, die neben dem Wert der Wirtschaftsbeteiligung auch die Gefahren einer Marktgesellschaft sehen. 4.4 Werte der Wirtschaftsbeteiligung Nehmen wir einmal an, gesellschaftliches Leben ließe sich trefflich in Systeme unterteilen, die unterschiedlichen Logiken folgen. Ein Subsystem ist bezogen auf das Medium »Geld« und kann als aus Formen der Marktbeteiligung bestehend charakterisiert werden. Bewertungen dieser Sphäre menschlicher Interaktion können sehr unterschiedlich sein, wie ein Blick in die politische Philosophie der Gegenwart deutlich macht. Als unbestritten dürfte zwar gelten, dass »der Markt« als ein von anderen gesellschaftlichen und politischen Systemen unabhängiges System beschrieben werden kann, das eigenen Gesetzen ge157 Ebd., S. 270.

Werte der Wirtschaftsbeteiligung

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horcht und nach eigenen Codes funktioniert.158 Konsensfähig dürfte ferner die These sein, dass Marktwirtschaften zumindest derzeit notwendiges Mittel dafür sind, Wohlstand zu befördern. Jenseits dieser Thesen beginnt jedoch schnell der Raum sehr unterschiedlicher Einschätzungen und Bewertungen. Insbesondere dann, wenn ökonomische Strukturen entweder das Wirken politischer Institutionen oder das Wirken zivilgesellschaftlicher Organisationen zu überlagern drohen, wird Kritik laut. Nur ein eingedämmter Markt, der sowohl politisch reguliert, als auch zivilgesellschaftlich in seine Schranken verwiesen wird, dient der Aufrechterhaltung politischer Ordnung. Habermas gibt sogar der Befürchtung Ausdruck, die Macht der sich selber steuernden Systeme, allen voran des Marktes, sei so sehr angewachsen, dass sie zu einer Bedrohung kommunikativer Leistungen innerhalb der Lebenswelt werden.159 Der Markt wird als ein Subsystem beurteilt, das humanen Zielen nur dann dienen kann, wenn es von anderen Systemen domestiziert wird. Mit dieser Deutung finden wir uns auf eine Seite geworfen, die der zuvor erörterten Perspektive Milton Friedmans entgegengesetzt ist. Wurden zuvor noch wirtschaftliche Freiheiten als Grundlage und Verwirklichungsform von Bürgerfreiheiten gedeutet, droht der Markt nun, dem bürgerlichen Leben seine Grundlage zu entziehen. Eine kritische Perspektive auf »die Wirtschaft« ist in der politischen Philosophie der Gegenwart verbreitet. Dabei wird jedoch allzu leicht übersehen, dass wirtschaftliche Prozesse auch nötig sind, um politische Werte zu befördern. Zwar sind Prozesse ökonomischer Wertgewinnung nicht mit jenen Formen bürgerlichen Lebens vergleichbar, in denen durch einen kultivierten Austausch sozialer oder politischer Natur gesellschaftliches Leben gepflegt und erhalten wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Menschen dem Wirtschaftsprozess nicht auch Werte abringen können, die jenseits der Werte einer materiellen Versorgung und Wunscherfüllung liegen. 158 Vgl. Luhmann 1988. 159 Vgl. Habermas 2001.

92 Wirtschaftsbürger So wendet Axel Honneth gegen eine durchweg kritische Einschätzung des ökonomischen Sektors durch die Frankfurter Schule zu Recht ein  : »Die Anerkennungsverhältnisse sind, was die soziale Wertschätzung angeht, mit der Verteilung und Organisation der gesellschaftlichen Arbeit in hohem Maße verschränkt.«160 Mit »der Chance, einer ökonomisch entlohnten und somit sozial geregelten Arbeit nachzugehen«, so Honneths Argument, sei auch heute noch der Erwerb von »sozialer Wertschätzung« verknüpft.161 Voraussetzung für diesen Zusammenhang sei allerdings, den Arbeitsbegriff von seinen (post-) marxistischen Konnotationen zu befreien und einen möglichst nüchternen Arbeitsbegriff zu verwenden.162 Anders als die wechselseitige Anerkennung als Rechtspersonen bezieht sich die soziale Wertschätzung nicht auf intuitive, allgemein gewusste Normen. Vielmehr geht es ihr »um die graduelle Bewertung konkreter Eigenschaften und Fähigkeiten«163. Erst die Auflösung von Standesmoralen setzt diese, gegenüber eingeübten Anerkennungscodes alternative Form sozialer Wertschätzung frei. Die weiterhin durch soziale Gruppen aufgewerteten und repräsentierten Fähigkeiten und Eigenschaften sind nun Gegenstand gesellschaftlicher Achtung  ; »innerhalb der auf konflikthaftem Wege zustande gekommenen Wertordnungen bemisst sich das soziale Ansehen der Subjekte doch an den individuellen Leistungen, die sie im Rahmen ihrer besonderen Formen der Selbstverwirklichung gesellschaftlich erbringen.«164 Axel Honneth zeigt in seiner Analyse des Anerkennungsbegriffs, dass menschliche Selbstachtung, die sozial vermittelt werden muss, nicht ohne Berücksichtigung konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse diskutiert werden kann. Die Beteiligung an der ökonomischen Wertschöpfung durch Arbeit ist nicht nur Voraussetzung für »soziale Wertschätzung«, sondern auch Ergänzung zu einer allgemeinen rechtlichen 160 Honneth 2000, S. 104. 161 Ebd. 162 Vgl. ebd., S. 105. 163 Honneth 1994, S. 183. 164 Ebd., S. 207.

Werte der Wirtschaftsbeteiligung

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Anerkennung des anderen. Beschränkt bleibt die Analyse allerdings auf Formen der Beteiligung an Wirtschaftsprozessen, die durch neue Formen der wirtschaftlichen Wirklichkeit an den Rand gedrängt werden könnten. Den Wert der Wirtschaftsbeteiligung in einer Anerkennung findenden Arbeit zu sehen, setzt Arbeitsbedingungen voraus, welche gerade dies ermöglichen. Der Wert der Wirtschaftsbeteiligung kann aber auch nüchterner gesehen werden. Wirtschaftsbeteiligung bedeutet, Geld zu verdienen. Vorrangig ist nicht die Anerkennung durch den anderen, sondern die eigene Unabhängigkeit. In der Alternative zwischen Anerkennungsphilosophie und Unabhängigkeitsethos drückt sich ein Unterschied aus, der nach einer Deutung des Bürgers von Judith N. Shklar auch mit den Gegensätzen zwischen der »alten Welt« und der »neuen Welt« zusammenhängt. Wie Shklar in ihrer Analyse der Bedeutung des Einkommens (»earnings«) für den Bürger deutlich macht, ist die »Unabhängigkeit« des »self-made man« derjenige Wert, der in der neuen Welt an die Stelle der »Ehre« als zentraler Wert in einer aristokratischen Gesellschaft tritt.165 Die amerikanische Gesellschaft gründet auf dem Wert der durch Arbeit errungenen Unabhängigkeit des Einzelnen, ohne zu vernachlässigen, dass Arbeit auch einen Beitrag zur Verbesserung des Lebens in der Nation (»nation«) leistet.166 Arbeit hat die doppelte Funktion, einer öffentlichen Verpflichtung nachzukommen und zugleich das eigene Leben tätig voranzubringen. »Mit Rücksicht auf diese Interpretation von Arbeit ist einzigartig, dass nur Arbeit den Einzelnen unabhängig machen kann, und dass sie eine Quelle des Stolzes des ›selbst-gemachten Mannes‹ war, d. h. ein Produkt der eigenen Anstrengungen.«167 Nach Shklar ist dieser Aspekt sogar wichtiger als eine der amerikanischen Gesellschaft immer wieder unterstellte protestantische Arbeitshaltung. 165 Vgl. Shklar 1991, S. 68. 166 Vgl. ebd., S. 71, 85. 167 Ebd., S. 71. Eigene Übersetzung, A. K.

94 Wirtschaftsbürger In beiden Interpretationen – der Anerkennungsphilosophie von Axel Honneth und der Deutung des Verdienstes durch Judith N. Shklar – wird das Postulat aufgegeben, Wirtschaftsbeteiligung müsse als modellbildend für den Bürgerstatus oder gar als vorrangige Dimension bürgerlichen Lebens betrachtet werden. Vielmehr wird verstanden, dass Wirtschaftsbeteiligung ein unverzichtbares Element bürgerlichen Lebens ist. Nach Honneth schafft sie die Grundlage für Anerkennungsverhältnisse, die eine notwendige Ergänzung zu rechtlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen sind. Nach Shklar ist Wirtschaftsbeteiligung Voraussetzung für den Stolz und die Unabhängigkeit des Bürgers, der auf dieser Grundlage sein Leben selbst bestimmen und zugleich die allgemeinen Lebensverhältnisse formen kann. An die Stelle aristokratischer Tugendvorstellungen tritt ein Arbeitsethos, das in der »neuen Republik« die Einschließung aller erwirkt, und zwar als gleichwertige Erbauer der Nation.168 Mit beiden Vorschlägen bewegt sich die Diskussion auf einer sehr grundlegenden Ebene der Erörterung. Ob und in welchem Sinne der Schutz des Privateigentums und die Möglichkeiten einer freiheitlichen Wirtschaftsbeteiligung Elemente jener Ebene des Bürgerseins sind, die nicht nur eine legalistische, sondern eine politische Lebensform beschreibt, ist seit der Französischen Revolution umstritten. Nach Kant ist die »Unabhängigkeit« des Bürgers, die nur in der Anerkennung rechtlicher Eigentumsverhältnisse und der Möglichkeiten zur Selbsterhaltung ihre Grundlage finden kann, ein »notwendiges Attribut« des Staatsbürgers. Der bei Kant rechtlich bestimmte Bürgerstatus ist definiert durch »1. die Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürger.«169 Das dritte Element erfasst ökonomische Unabhängigkeit, 168 Vgl. Shklar 1991, S. 65. 169 Kant 1971 [1797/1798], § 46, B 195–198.

Domestiziertes Wirtschaftsbürgertum

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die etwa dann gegeben ist, wenn ein Bürger ein Gewerbe zum Lebensunterhalt betreibt. Bürger zu sein bedeutet, in seiner Existenz nicht von der Willkür eines Herrn abhängig zu sein, sondern sich durch Eigentum und Gewerbe selbst erhalten zu können.170 Weit davon entfernt, Wirtschaftsbeteiligung als Bestandteil jener bürgerlichen Kultur zu beschreiben, die Udo Di Fabio jüngst als Grundlage einer »Kultur der Freiheit« namhaft gemacht hat und neben familiärem Glück und Wohlstand auch als persönliche Leistung und Arbeitswilligkeit bestimmt,171 ist Wirtschaftsbeteiligung Bestandteil der Kernvorstellung des Bürgers als eines politischen Ideals. Ohne faire Beteiligungschancen können Menschen nicht jene Unabhängigkeit erringen, die sie als Bürger sowohl gegenüber Mitbürgerinnen und -bürgern, als auch gegenüber der politischen Gesellschaft benötigen. 4.5 Domestiziertes Wirtschaftsbürgertum Die Vorstellung, dass Bürger zu sein, auch bedeute, als Wirtschaftsbürger finanzielle Unabhängigkeit und Wohlstand zu genießen, ist jedoch irreführend. Was ist mit jenen Menschen, die in der gegenwärtigen Wirtschaft nicht zu ihrem Recht kommen  ? Was wird aus Menschen mit geringen Qualifikationen oder solchen, die aus allen möglichen Gründen auf Unterstützung angewiesen sind  ? Schließlich  : Kann es ein Ideal sein, Menschen zu Entrepreneurs auszubilden, die es leisten müssen, sich in einer Marktwirtschaft zu behaupten  ? Jürgen Habermas kritisiert in dieser Absicht eine »neue Sozialpolitik«, die »nicht in erster Linie vor Standardrisiken des Arbeitslebens schützen (soll), sondern die Personen mit unternehmerischen Qualitäten von ›Leistungsträgern‹ ausstatten, die für sich selber Sorge tragen. Die bekannte Maxime ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ erhält den ökonomistischen Sinn eines Fitnesstrainings, das alle instand setzen soll, persönliche Verantwor170 Ebd., § 46. 171 Vgl. Di Fabio 2005, insbes. S. 137–138, 211.

96 Wirtschaftsbürger tung zu übernehmen und Initiative zu entfalten, um sich kompetent am Markt behaupten zu können – und nicht als ›Versager‹ staatliche Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen […].«172 Zu befürchten ist nicht nur, dass Vollbeschäftigung nicht erreicht werden kann. Vielmehr gilt es auch zu fragen, ob mit dem Ideal des unabhängigen Bürgers möglicherweise auch Vorstellungen verbunden sind, die nicht halten können, was sie zunächst versprechen. Habermas sieht in der Forderung, Wohlfahrt und Arbeit aneinander zu binden, die Gefahr einer Angleichung an die ethische Vorstellungswelt des Neoliberalismus.173 Andere verklären Arbeit, Unternehmertum und Fleiß als Grundlage persönlichen Glücks, das es allerdings in einer Gesellschaft zu verwirklichen gilt, in der nicht jeder produktiv tätig sein kann. Familie und die damit verbundene Familienarbeit sollten stattdessen als ein gleichwichtiger Bereich menschlicher Erfüllung anerkannt werden.174 Die Erörterungen in diesem Kapitel ermöglichen einen anderen Blick auf den Wirtschaftsbürger. Einerseits ist es nicht angemessen, das Bürgerideal einem Wirtschaftsbürgerideal anzugleichen. Kritiken in diese Richtung muss sich der politische Liberalismus immer dann gefallen lassen, wenn der »besitzanzeigende Individualismus« nicht nur als Element seiner Ursprünge, sondern weiterhin als modellbildend für die Gesellschaftstheorie anerkannt wird. Zu Recht wird kritisiert, dass die Bestimmung von Gesellschaft als Kooperationsgemeinschaft durch Rawls die Prämisse einschließt, eine Gemeinschaft gegenseitig desinteressierter Individuen zu sein und damit zu viel aus Vorstellungen über die Marktgesellschaft in die politische Gesellschaft hinein trägt.175 Andererseits sind Wirtschafts- und Marktbeteiligung jedoch keine vernachlässigenswerte Elemente des Bürgerseins. Wirtschaftsbeteiligung ist weder 172 Habermas 2001, S. 95. 173 Vgl. ebd., S. 96. 174 Vgl. Di Fabio 2005, S. 137–138. 175 Vgl. Ulrich 2001, S. 188.

Domestiziertes Wirtschaftsbürgertum

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nur Teilhabe an einem gesellschaftlichen Subsystem, das durch andere Subsysteme in seine Schranken gewiesen werden sollte. Noch hat die Erwerbsarbeit allein eine existenzsichernde und damit rein funktionale Rolle im Leben des Bürgers. Die tatsächliche Möglichkeit zur Wirtschaftsbeteiligung ist Bestandteil des Bürgers als eines politischen Ideals, insofern es den Bürgern und Bürgerinnen Unabhängigkeit sichert. Es gilt, auch in entwickelten Ländern erneut über die Bedingungen nachzudenken, die Menschen in die Lage versetzen, aktiv an der Gestaltung der Wirtschaft eines Landes teilzunehmen. Aus der Perspektive derjenigen, die an ökonomischen Prozessen verdienen wollen, genügen die Konsumfähigkeit und der Konsumwille der Bürger. Für den Bürger kann dies nicht reichen. Mit der Wirtschaftsbeteiligung steht und fällt eine zentrale Kompetenz des Bürgers. Zudem müssen auch jene berücksichtigt werden, die eine aktive Wirtschaftsbeteiligung nicht leisten können. Allerdings dürfen dabei nicht die Fähigkeit zur Wirtschaftsbeteiligung und der daraus resultierende Gewinn an Freiheit unterschätzt werden. Wieso sollte nicht auch in spätkapitalistischen Gesellschaften die Unterstützung durch Minikredite dem Bürgerideal besser entsprechen als Wohlfahrtsleistungen, die Menschen zu Klienten des Staates machen können  ? Wird nicht nach staatlichen Herausforderungen, sondern nach der Konzeption des Bürgers gefragt, so ergibt sich etwas Weiteres. Die Erörterung um Fragen sozialer Gerechtigkeit176 kann unterschieden werden von der Diskussion, welchen Stellenwert das freie Wirtschaften für den Bürgerstatus hat. Im Rahmen von Überlegungen zu einem geräumigen Bürgerkonzept kann Wirtschaftsbeteiligung als ein Element im Konzert der Bürger-Kompetenzen bewertet werden. Die Konzeption des Bürgers als Wirtschaftsbürger kann und sollte aber eingehegt werden durch weitere, unabhängige Dimensionen des Bürgerseins. Bürger dürfen nicht auf Marktteilnehmer und nicht auf 176 Siehe dazu das Kapitel 3  : »Ein Gleicher.«

98 Wirtschaftsbürger Unternehmer reduziert werden. Vielmehr muss die Kompetenz des Wirtschaftsbürgers als ein Element eines geräumigen Ideals des Bürgers interpretiert werden, das erst in einer Erörterung grundlegender Wertungen sichtbar wird. Als solche besteht sie nicht nur in Harmonie, sondern auch in Spannung zu Vorstellungen bürgerlicher Gleichheit und bürgerlicher Freiheit.

5.

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ürgerinnen und Bürger sind Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Auch wenn die von Hegel getroffene Bestimmung der »bürgerlichen Gesellschaft« eine eigenwillige ist, wird mit ihr doch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in der politischen Theoriebildung etabliert. Die »bürgerliche Gesellschaft« füllt  – im Bilde gesprochen  – jenen Raum, der zwischen der Familie und dem Staat aufbricht, sobald Beziehungen aufgebaut werden, die weder familiärer Herkunft sind, noch unmittelbar politischen Zwecken dienen.177 Es entsteht ein Beziehungsgeflecht selbstinteressierter Individuen, die diesen Raum zur Befriedigung eigener Bedürfnisse nutzen. Entsprechend kommentiert Hegel  : »Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren läßt.«178 Anders als von Hegel in der Bestimmung der »bürgerlichen Gesellschaft« vorgesehen, wird die »zivile Gesellschaft« heute jedoch nicht länger auf Marktbeziehungen reduziert. Bürger verfolgen in der Zivilgesellschaft ihre eigenen und ihre gemeinsamen Interessen. Wo die Zivilgesellschaft und ihre Einrichtungen dem Geist der Solidarität verpflichtet sind, können sogar Bande der Brüderlichkeit entstehen. Dass Menschen sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenschließen, ist eine gängige Praxis. Es ist sogar erforderlich, um politisch Gehör zu finden. Das Besondere an der Zivilgesellschaft ist nicht die Tatsache des Zusammenschlusses, sondern vielmehr ihre Art und Weise. In einem heute verbreiteten Verständnis der Zivilgesellschaft schließen sich Menschen freiwillig zusammen, um Ziele zu erreichen, die wenigstens in einem weiten Sinn dem Gemeinwohl dienen. Mit Mark E. 177 Vgl. Hegels Ausführungen in seiner Rechtsphilosophie, Hegel 1986, S. 339 [§ 182]. 178 Ebd. [§ 182, Zusatz].

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Warren kann die Zivilgesellschaft definiert werden als »die Gesamtheit freiwilliger Vereinigungen, die als Medium sozialer Kooperation primär weder Recht noch Geld, sondern soziale Mittel verwenden«179. Der Bereich »zwischen« Familie und Staat ist jedoch keineswegs homogen. Die Zivilgesellschaft umfasst Vereinigungen unterschiedlichster Art und kann  – je nach Umfang der politischen Gesellschaft  – auch zentrale gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Seit den 1990er-Jahren hat die Diskussion der Zivilgesellschaft einen stark idealisierenden Zug angenommen. Beflügelt von der Vorstellung, die ehemals kommunistischen Regime Osteuropas seien primär durch das Engagement von Bürgervereinigungen zu Fall gebracht worden, wurde die »Zivilgesellschaft« in zahlreichen Beiträgen als Herz der Demokratisierungsbewegungen und auch als Ort wahrer Bürgertugend besprochen.180 Insbesondere wurde der Zivilgesellschaft auch die Erneuerung westlicher Demokratien zugetraut, deren politische Systeme mitunter träge geworden sind. Wo Wohlfahrtsstaaten überfordert sind und wo es Regierungen nicht gelingt, humanitäre Ziele und öffentliche Güter wie Gesundheitsfürsorge, Klimaschutz und Infrastruktur wirksam zu unterstützen, ist der »dritte Sektor« mit seinen freiwilligen Verpflichtungen eine willkommene Ergänzung. Allerdings sind die oft international vernetzten Institutionen des dritten Sektors nur eine Form der Ausprägung der Zivilgesellschaft. Für eine Diskussion des Verhältnisses von Bürgerstatus und Zivilgesellschaft ist es auch notwendig, auf die interne Vielfalt des gesellschaftlichen Raumes aufmerksam zu machen. Insbesondere gilt es, die Leistungen der Zivilgesellschaft differenziert zu beurteilen. Einen ersten Eindruck von der Vielfalt zivilgesellschaftlicher Arrangements ergibt die Erinnerung an die unterschiedlichen Verwendungsweisen von »ziviler Gesellschaft« (»societas civilis«) in der Phi179 Warren 2001, S. 56. 180 Für eine repräsentative Auswahl von Beiträgen der politischen Philosophie zur Zivilgesellschaft siehe Eberly 2000.

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losophiegeschichte. Mit Rücksicht auf begriffliche Unterscheidungen zeichnen sich auch unterschiedliche Modelle zur Interpretation der Bürgergemeinschaft ab. In der Erörterung dieses Kapitels soll im ersten Abschnitt an die aus den philosophiehistorischen Entwicklungen erwachsenen Differenzierungen erinnert werden. Im zweiten Abschnitt wird erläutert, dass die zentrale Funktion der Zivilgesellschaft in einer Ergänzungsleistung zu Institutionen des Staates gesehen werden kann. Je nach politisch-philosophischer Interpretation der politischen Gemeinschaft können auch die Erwartungen an die eine Demokratie stützenden Wirkungen der Zivilgesellschaft differenziert bestimmt werden. Im dritten Abschnitt wird dargelegt, dass trotz der Erkenntnis, dass die Zivilgesellschaft ein wichtiges Element in einer Demokratie ist, ihr Beitrag relativiert werden muss. Auch freiwillige Vereinigungen können nicht garantieren, dass Bürger automatisch zu wohlmeinenden Partnern oder gar Brüdern werden. Was dagegen geleistet werden kann, ist eine Ergänzung des politischen Lebens um eine Form bürgerlichen Lebens, die für sich genommen wertvoll ist und zugleich Zielen der Gerechtigkeit dient. Im vierten Abschnitt wird diese Perspektive mit Blick auf den Bereich der sekundären Assoziationen erläutert. 5.1 Bedeutungen von »Zivilgesellschaft« In der Diskussion der Zivilgesellschaft kann zwischen einer kontinentaleuropäischen und einer anglo-amerikanischen Ausdeutung unterschieden werden. Während sich die bürgerliche Gesellschaft in Europa in Abgrenzung zu und mit Bezug auf starke, vormals absolutistische Staaten entwickelt, ist der anglo-amerikanischen Tradition dieser Bezug fremd. Dort entsteht sie als ein selbstverständlicher Teil der politischen Gesellschaft. Auch heute ist ein starker, schützender und leitender Staat der amerikanischen Gesellschaft fremd. Dies gilt selbst dann, wenn es um die Verwirklichung gemeinsamer Ziele wie Bildung, Armenfürsorge oder Infrastrukturprojekte geht.

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Die Unterscheidung von zwei historisch verwurzelten Traditionen ist hilfreich für einen ersten verstehenden Zugriff. Hinreichend ist sie aber nicht, da sie nicht dazu beiträgt, den Gehalt von »Zivilgesellschaft« zu erhellen. Dazu ist es sinnvoll, den Begriff in seiner heutigen Verwendung zunächst abzugrenzen gegenüber zwei in der philosophischen Tradition ebenfalls gebräuchlichen Verwendungen. Der von Aristoteles geprägte Begriff der »koinonia politikē«, der politischen Gemeinschaft, bezeichnet den Gegensatz zur natürlich gewachsenen Sippengemeinschaft. Jedoch ist die »Gesellschaft« oder »Gemeinschaft« (koinonia) kein Staat. Bezeichnet wird mit dem Begriff »koinonia« vielmehr »eine in Rede (Sprache) und Handlung begründete Verbindung zwischen Menschen«181. Er bezeichnet zugleich die »Gesamtheit miteinander sprechender und zusammen handelnder Individuen« und einen »Zustand der Gemeinsamkeit, die im Bedingungszusammenhang von Begehrungen, Gütern und Handlungen entstandene und an bestimmte Rede- und Handlungsnormen geknüpfte Verbindung selbst, die Dauerordnung (Institution) des sozialen Verbandes«182. Die politische Gemeinschaft ist ein gewachsener, durch geteilte Handlungsformen und Normen zusammengehaltener Verband von Menschen. Möglich ist diese Bezeichnung, solange zwischen dem Bereich des normengeleiteten Lebens und des politischen Lebens nicht unterschieden wird. Die aus heutiger Perspektive fehlende Abgrenzung wird in Beiträgen zur Staatsphilosophie der Antike besonders deutlich mit Rücksicht auf die Funktion der Ethik. So wie der Staat in Gestalt der »Polis« zwar rechtlich verfasst ist und durch eine Verfassung definiert wird, dient er doch nicht allein dem Leben der Bürger, sondern dem guten Leben, das durch das Erlernen von Tugenden realisiert wird. Nach Aristoteles ist der Staat »die Gemeinschaft in einem guten Leben unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines vollkommenen 181 Riedel 1975, S. 31. 182 Ebd.

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und sich selbst genügenden Daseins«183. Die Gemeinschaft der Bürger wird durch Gemeinwohlvorstellungen und Gerechtigkeitsideale, die sich in der Tugend des Bürgers verwirklichen, als politische Gemeinschaft konstituiert. Eine Fortsetzung finden diese Vorstellungen in der Naturrechtstradition. Bis in die frühe Neuzeit wird in jener Tradition nicht zwischen »Bürgerschaft« und »bürgerlicher Gesellschaft« (»civitas« und »societas civilis«) unterschieden.184 Noch den Vertragstheoretikern der Neuzeit fehlt eine Binnendifferenzierung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft als Gemeinschaft der rechtlich gleichgestellten Bürger einerseits und als Mitglieder der Gesellschaft andererseits. In seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung verwendet John Locke »civil society« als Synonym für »political society«.185 Die politische Gesellschaft ist die bürgerliche Gesellschaft. Kontrastiert wird beides mit einem Zustand, in welchem Gesetze noch nicht durch Übereinkunft etabliert sind. In der bürgerlichen Gesellschaft dagegen kann niemand von den Gesetzen ausgenommen werden.186 Das bedeutet bei Locke keinesfalls, dass politische Macht uneingeschränkte Macht ist. In seiner Toleranzschrift geht es vor allem darum, die Grenzen politischer Macht deutlich zu machen. Als bürgerliche Interessen werden »Leben, Freiheit, Gesundheit, Schmerzlosigkeit des Körpers und der Besitz äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungsgegenstände und dergleichen«187 bestimmt. Dann wird Locke dafür argumentieren, »daß nun die ganze Rechtsgewalt der Obrigkeit sich nur auf diese bürgerlichen Anliegen erstreckt, und daß alle staatliche Gewalt, ihr Recht und ihre Herrschaft durch die alleinige Sorge für die Beförderung dieser Dinge gebunden und begrenzt ist, daß sie in keiner Weise auf das Heil der Seelen ausgedehnt werden 183 Aristoteles 1995, S. 95 [Pol. 1280 b 32–34]. 184 Vgl. Schmidt 1981, S. 473–474. 185 Vgl. Locke 1977, S. 254–255 [II.7]. 186 Vgl. ebd., S. 159. 187 Locke 1996, S. 13.

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weder kann noch darf«188. Locke fordert nicht nur Gewissensfreiheit, insbesondere mit Rücksicht auf Religion, sondern es wird auch für Versammlungsfreiheit gestritten – jene Form ziviler Vereinigung also, die bis heute Voraussetzung für eine lebendige Zivilgesellschaft ist.189 Dennoch ist die Trennlinie zwischen »politischer« und »bürgerlicher Gesellschaft« noch nicht gezogen. Einen markanten Begriff der »zivilen Gesellschaft«, welcher der Trennung von Politik und Gesellschaft gerecht wird, entwickeln erst Vertreter der schottischen Aufklärung und Hegel. Zwei Aspekte der »bürgerlichen Gesellschaft« sind für Hegels Interpretation zentral. Einerseits begegnen sich Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft als auf die Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse abgestellte Individuen.190 Die bürgerliche Gesellschaft ist der Bereich der privatwirtschaftlichen Austauschgeschäfte, in denen jeder seinen Nutzen sucht und seinem Bedürfnis folgt. Andererseits wird die bürgerliche Gesellschaft eingehegt von jenen Institutionen, welche – nach heutigem Verständnis  – die Folgen einer unabgefederten, reinen Marktwirtschaft mildern können. Korporationen und Zünfte sind Vereinigungen, in denen zwar nicht dem Gemeinwohl, gleichwohl aber Gruppeninteressen gedient wird, die nicht von Individuen alleine befriedigt werden können.191 »Das Zufällige des Almosens, der Stiftungen, wie des Lampenbrennens bei Heiligenbildern usf., wird ergänzt durch öffentliche Armenanstalten, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung usw. Der Mildtätigkeit bleibt noch genug für sich zu tun übrig.«192 Für Hegel ist die Unvollkommenheit der bürgerlichen Gesellschaft ein Grund zur Forderung nach einem starken, je nach Deutung sogar einem »absoluten Staat«. Nur dieser kann die Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit überwinden, die in der zerrissenen bürgerlichen 188 Ebd. 189 Vgl. Locke 1996, inbes. S 13–19, 87–107. 190 Vgl. Hegel 1986, S. 339–340 [§§ 182, 183]. 191 Vgl. ebd., S. 346 [§ 188]. 192 Ebd., S. 388 [§ 242].

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Gesellschaft gegenwärtig sind. Jener Übergang ist aber keine Zwangsläufigkeit. Ebenso wenig ist die Interpretation der bürgerlichen Gesellschaft als »System der Bedürfnisse« alternativlos. Beides ist auch dem Umstand geschuldet, dass Hegel zwischen der Sphäre der Ökonomie als Privatwirtschaft und der Sphäre freiwilliger Vereinigungen nicht trennt. Sobald diese Trennung vollzogen wird, ergibt sich neben der Differenzierung zwischen Politik und Gesellschaft eine weitere Binnendifferenzierung. Auch wenn die Abgrenzungen vage bleiben, kann zwischen Formen der Vergesellschaftung unterschieden werden, die politischer, ökonomischer oder zivilgesellschaftlicher Natur sind. Ergebnis ist dann eine Bestimmung, wie sie bereits erwähnt wurde. Nach Warren kann die Zivilgesellschaft bestimmt werden als »die Gesamtheit freiwilliger Vereinigungen, die als Medium sozialer Kooperation primär weder Recht noch Geld, sondern soziale Mittel verwenden«193. Der verbleibende Teil dieses Kapitels soll dazu genutzt werden, diesen Teilbereich gesellschaftlichen Lebens aus Perspektive der politischen Philosophie zu erkunden. 5.2 Ergänzung zur politischen Gesellschaft Heute sind die Erörterungen der »Zivilgesellschaft« mindestens in der politischen Philosophie von zwei Strömungen geprägt. Einerseits wird die Zivilgesellschaft positiv bewertet. Fern von verkrusteten Strukturen der Politik wird heute vom »dritten Sektor« erwartet, dass er auch über die Grenzen von Ländern hinweg demokratische Ideale und Wohlfahrtsgüter verbreitet und vertritt. Andererseits wird zunehmend die begrenzte Macht ziviler Akteure zur Aufrechterhaltung lebendiger Demokratien reflektiert. Das von Robert Putnam mit einem eindringlichen Bild belegte Szenario des Bürgers, der alleine auf seiner Bowling-Bahn steht und dessen Welt der zivilen Vereinigungen weggebro-

193 Warren 2001, S. 56.

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chen ist,194 war ein Weckruf für all jene, die zuvor an der Stabilität und Macht der Zivilgesellschaft keinen Zweifel hatten. Die besondere Eindringlichkeit jenes Bildes resultiert daraus, dass die Zivilgesellschaft nicht nur ein Ort der Vergesellschaftung ist. Vielmehr hat sie auch zentrale Funktionen und Aufgaben in einer Demokratie. Ohne eine funktionierende bürgerliche Gesellschaft würden ein Medium für öffentliche Auseinandersetzung und für die Durchsetzung kollektiver Interessen sowie ein Raum für die Verwirklichung solidarischen Engagements fehlen. Über diese allgemeinen Beschreibungen hinaus bleibt aber zu fragen, worin genau die politische Funktion der Zivilgesellschaft besteht. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage ist Voraussetzung für die Einschätzung der Zivilgesellschaft als derjenige Raum, in dem der Bürger sein freiwilliges gesellschaftliches Engagement entfalten kann. In den Erörterungen der politischen Philosophie wird der Beitrag der Zivilgesellschaft für ein funktionierendes politisches Gemeinwesen unterschiedlich eingeschätzt. In Fortsetzung der wegweisenden Unterscheidungen zwischen politischem Liberalismus, bürgerlichem Republikanismus und deliberativer Demokratietheorie können die Funktionen der Zivilgesellschaft differenziert dargelegt werden. Im politischen Liberalismus gilt den individuellen Schutzrechten besondere Aufmerksamkeit. Die Zivilgesellschaft hat insofern eine wichtige Funktion, als sie den mit dem Schutz der Redefreiheit, Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit gegebenen Raum mit Leben füllt.195 Die Vertreter des politischen Liberalismus sehen in einer freiheitlich organisierten Zivilgesellschaft zugleich das angemessene Gegenüber für einen Staat, welcher dem Einzelnen ein Höchstmaß 194 Vgl. das mit dem sinnfälligen Titel Bowling Alone versehene Buch von Putnam 2000. 195 Vgl. Mill 1974, bes. das 2. Kapitel  : »Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion«, S. 24–76.

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an persönlicher Freiheit zugesteht. Insbesondere wird die optimistische Einschätzung vertreten, Bürgerinnen und Bürger würden die mit den zivilen Freiheiten gegebenen Möglichkeiten so nutzen, dass die Freiheiten aller anderen und die Verfassungsinhalte respektiert werden. Freiheitliche Institutionen tragen grundlegend dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger eine tolerante Grundhaltung entwickeln. Im zweiten Teil von Eine Theorie der Gerechtigkeit, in welchem John Rawls sich mit dem »nicht-idealen« Teil seiner Gerechtigkeitstheorie in Form einer Institutionenlehre auseinandersetzt, macht er deutlich, dass sich »ganz automatisch« für Mitglieder von Gruppierungen mit speziellen Zielen Verpflichtungen, insbesondere Treuepflichten gegenüber Mitbürgern und Verfassung ergeben.196 Angemerkt werden muss allerdings auch, dass sich Rawls in seinem Spätwerk Politischer Liberalismus197 zurückhaltender zur Funktion freiwilliger Vereinigungen äußert. Der Unterschied zwischen Zivilgesellschaft und politischer Gemeinschaft wird nun vor allem darin gesehen, dass die politische Gemeinschaft ein geschlossenes und durch Verfassungswerte konstituiertes Gemeinwesen darstellt und insofern für die Bildung eines bürgerlichen Sinns grundlegend ist. Bürger in einer wohlgeordneten Gesellschaft mit entsprechenden politischen Rahmeninstitutionen kooperieren, indem sie »einander gegenseitig politische Gerechtigkeit […] garantieren. In einer Vereinigung dagegen lernen Menschen zu kooperieren, um das zu erreichen, um dessentwillen sie der Vereinigung beigetreten sind, und dies wird in jeder Vereinigung etwas anderes sein.«198 Im bürgerlichen Republikanismus (»civil republicanism«) werden die demokratiefördernden Elemente der Zivilgesellschaft an Vorstellungen über Bürgertugenden angeschlossen. Der Stolz auf die eigene Republik ist vor allem der Stolz auf das durch die Stimmen aller Bürger gestal196 Vgl. Rawls 1975, S. 414. 197 Rawls 1998. 198 Ebd., S. 113–114, Fußnote.

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tete, von äußeren Einflüssen unabhängige Land und sein gemeinsam erwirktes politisches Antlitz. Gegenüber dem klassischen Republikanismus werden im heutigen bürgerlichen Republikanismus jedoch nicht ausschließlich der Vorrang der Gesetzesherrschaft und die Gemeinwohlorientierung hervorgehoben. Wichtigstes Kennzeichen einer republikanischen Regierungsform ist vielmehr die aktive Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger, die mit entsprechenden Bürgertugenden ausgestattet sind.199 Ein Bürger ist nicht nur stolz auf sein freies Land und bereit, für seine Belange einzutreten und seine Politik aktiv mitzugestalten  ; er hat es vor allem gelernt, Belange des Gemeinwesens über private Belange zu stellen und entsprechend zu handeln. Die dem bürgerlichen Republikanismus zuzurechnenden Autoren sind am neuen Zivilgesellschaftsdiskurs aus zwei Gründen besonders interessiert. Zum einen ist die Zivilgesellschaft in heutigen Gesellschaften der Ort, wo Bürgertugenden erlernt werden können. Moderne Republikaner betonen jene Tugenden, die aktive Bürgerbeteiligung garantieren und zugleich der Anerkennung der politischen Gemeinschaft als Gemeinschaft von Gleichen Ausdruck verleihen.200 Zum anderen wird das republikanische Politikideal im öffentlichen Raum eingeübt. Michael J. Sandel erinnert daran, dass die Nutzung öffentlicher Güter zugunsten des Erlernens politischer Ideale in Teilen der amerikanischen Politik-Tradition entspricht  : »Die republikanische Tradition hat den öffentlichen Raum schon lange nicht nur als Raum gemeinsamer Vorsorge, sondern auch als Platz für bürgerliche Bildung gesehen. Der öffentliche Charakter der Gemeinschaftsschule bestand beispielshalber nicht nur in der Finanzierung, sondern auch in seiner Lehrform  ; zumindest im Idealfall war sie ein Platz, wo Kinder aller Klassen vermischt waren und wo sie die 199 Vgl. Viroli 1999, S. 87–99. 200 Vgl. Sunstein 1988, Viroli 1999. Beide Autoren versuchen, den politischen Republikanismus so zu interpretieren, dass er mit modernen Vorstellungen über Demokratie und deren Gleichheitsideale verträglich ist.

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Gewohnheiten demokratischen Bürgerseins lernen konnten. Selbst städtische Parks und Spielplätze wurden einst nicht nur als Orte für Erholung, sondern auch als Plätze gesehen für die Stärkung bürgerlicher Identität, Nachbarschaftlichkeit und Gemeinschaft.«201 Eine am Ideal der Republik orientierte Demokratie ist so organisiert, dass sichergestellt werden kann, dass sich die politische Leitung nicht vom Volk entfremdet. In der politischen Theoriebildung reift zunehmend die Einsicht, dass diese nur mittels einer engagierten Bürgerschaft und in der Nähe zum Bürger angesiedelter politischer Organisationen erreicht werden kann. In Making Democracy Work zeigt Robert Putnam am Beispiel politischer Institutionen in Norditalien, dass eine Verbesserung der Demokratie vor allem durch verbesserte Kooperation in mittleren Verwaltungsebenen erreicht wird.202 Politische Strukturen müssen den Bürgerinnen und Bürgern entgegenkommen, dann wächst auch das zivilgesellschaftliche Engagement. Die Zivilgesellschaft ist mithin nicht nur ein wichtiger Lernort für Bürgertugend und politischen Gemeinsinn  ; sie ist auch Bindeglied zwischen Regierung und Volk und bedarf einer expliziten politischen Unterstützung. Die Vertreter eines deliberativen Demokratiemodells folgen Jürgen Habermas darin, in einer nach dem Modell offener und rationaler Kommunikationsstrukturen gebildeten Öffentlichkeit eine Grundbedingung der Demokratie zu sehen. Eine demokratische Öffentlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass politische Probleme und Ziele gemeinsam erörtert werden. Durch den Austausch von Argumenten vollzieht sich ein Prozess der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger. »Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, welche die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiter201 Sandel 1996, S. 332. Eigene Übersetzung, A. K. 202 Vgl. Putnam 1993.

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leiten. Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert. Diese ›diskursiven Designs‹ spiegeln in ihren egalitären und offenen Organisationsformen wesentliche Züge der Art von Kommunikation, um die sie sich kristallisieren und der sie Kontinuität und Dauer verleihen.«203 Anders als die immer diffuse Öffentlichkeit hat die Zivilgesellschaft eine differenzierte Binnenstruktur und reicht dicht an das Privatleben der Bürger heran. Zugleich bereitet die Zivilgesellschaft in ihren kleinen Einheiten jene Form des Diskurses vor, welche Habermas in der Öffentlichkeit verwirklicht sehen möchte. Als Voraussetzung für eine vielgestaltige Öffentlichkeit wird neben der grundrechtlichen Zusicherung von Versammlungs- und Meinungsrechten auch ein gelebter Pluralismus genannt. Gerade dieser Pluralismus ist in der Zivilgesellschaft angelegt. Dazu stellt Habermas fest, dass »das Assoziationswesen nur in dem Maße seine Autonomie behaupten und seine Spontaneität bewahren [kann], wie es sich auf einen gewachsenen Pluralismus von Lebensformen, Subkulturen und Glaubensrichtungen stützen kann«204. Diversität der Zivilgesellschaft und eine lebendige Öffentlichkeit bedingen einander wechselseitig. Zusammenfassend ergibt sich aus drei unterschiedlichen Perspektiven, dass Vereinigungen auf eine jeweils besondere Weise das bürgerliche Leben prägen und die politische Gesellschaft ergänzen. Als Mitglieder der Zivilgesellschaft können Bürgerinnen und Bürger diverse Ziele gemeinsam verfolgen, ohne dabei das Band der politischen Gemeinschaft abstreifen zu müssen. Sie begegnen sich als Bürgerinnen und Bürger, die sich zur Beförderung gemeinsamer Zwecke in Vereinigungen zusammenschließen können und dabei – im Idealfall – sogar Bürgertugenden erlernen können. 203 Habermas 1992, S. 443–444. 204 Ebd., S. 445–446.

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5.3 Gedämpfte politische Erwartungen Sobald eine neue Lösung für Probleme eines moralischen und zivilen Verfalls unserer Gesellschaften gefunden scheint, werden Stimmen laut, die genau diese Lösung kritisieren. Gegen eine Überforderung der Zivilgesellschaft als neuer Quell moralischen Lebens trägt Michael Walzer solche skeptischen Einwände vor.205 Seine Einwände treffen unsere Argumentation insofern nicht, als sie gegen jene Versionen des zivilgesellschaftlichen Arguments gerichtet sind, die entweder die Zivilgesellschaft als Ersatz solcher Ideologien sehen möchten, die als Visionen eines besseren Lebens überbeansprucht wurden oder in denen die Zivilgesellschaft als Staatsersatz begriffen wird. Unsere Diskussion war bereits auf das beschränkt, was Walzer einklagt  : eine Perspektive auf die Zivilgesellschaft als wichtige demokratische Kraft, die jedoch nicht die Ebene eines kritischen Vereinigungswesens (»critical associationalism«) verlässt.206 Aber auch mit Rücksicht auf diese Perspektive muss die Kritik einen Schritt weiter vorangetrieben werden. Vertreter des politischen Liberalismus müssen sich die Frage gefallen lassen, ob ihre Annahme, die Ziele und Zwecke zivilgesellschaftlicher Vereinigungen seien selbstverständlich gemeinwohlorientiert, den Realitäten entspricht. Recht unbedarft wird davon ausgegangen, dass dann, wenn Vereinigungen in einer freiheitlichen Gesellschaft entstehen und den Rahmenbedingungen eines liberalen Staates eingepasst sind, diese nur demokratiefördernd sein können. Werden Menschen denn tatsächlich allein dadurch zu toleranten Menschen, dass sie als Bürger in einem freiheitlichen Land aufwachsen  ? Die Einschätzung der vermeintlich automatisch demokratiefreundlichen Oberfläche der Zivilgesellschaft ändert sich schnell, wenn tatsächlich einmal die Vielfalt der Zivilgesellschaft untersucht wird. Die »gute Sache«, der freiwillige Vereinigungen verpflichtet sind, ist keinesfalls nur der Um205 Vgl. Walzer 1995. 206 Ebd., S. 171.

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weltschutz, die Nachbarschaftshilfe oder der Einsatz für Bedürftige. Allein am Kriterium freiwilliger Vereinigungen bemessen zählen religiöse Vereinigungen, die auch einen Fanatismus verbreiten können, genauso zur Zivilgesellschaft wie etwa die »National Gun and Rifle Association« in den usa. Die Vielfalt der Zivilgesellschaft offenbart erst ein sorgfältiges Studium der beteiligten Vereine und Personen.207 Ob zivilgesellschaftliche Vereinigungen die Demokratie tatsächlich stützen, wird insbesondere von ihren speziellen Zielen abhängen. So gibt es eine Reihe gesellschaftlicher Ziele und Aufgaben, deren Nutzen für die Demokratie gerade darin besteht, dass sie als Gemeinwohlinteressen artikulierte politische Ziele »verlängern«. Private Wohlfahrtsverbände und Bildungseinrichtungen etwa sorgen für die Umsetzung politischer Rechte. Andere Vereine sind insofern der Demokratie verpflichtet, als sie Staatsziele und politische Agenden kritisch prüfen und zweifelhafte Prozesse der Öffentlichkeit zugänglich machen. Umweltschutzvereine und Berufsverbände erfüllen diese Pflichten. Demokratiefördernd sind zivilgesellschaftliche Arrangements schließlich auch, wenn sie die Teilnahmefähigkeit von Bürgern an politischen Prozessen und Entscheidungen durch die Formierung von Interessenvertretungen unterstützen. Ein erster kritischer Blick auf die Einschätzung demokratiefördernder Wirkungen der Zivilgesellschaft zeigt, dass es spezielle, die Grundausrichtungen der Demokratie fördernde Vereinigungen sind, welche als Ergänzung der politischen Seite des Bürgerseins dienen können. Eine weitere kritische Nachfrage trifft vor allem Positionen des bürgerlichen Republikanismus. Sie bezieht sich auf eine Kongruenzbehauptung betreffs des Verhaltens von Menschen als Mitglieder freiwilliger Assoziationen und als Bürgerinnen und Bürger. Wenn Individuen in freiwilligen Vereinigungen Tugenden erlernen, so soll dies eine Auswirkung auf ihr Verhalten als Bürger und als Mitglieder des politischen Gemeinwesens haben. Es wird unterstellt, dass Menschen, 207 Vgl. Rosenblum 1998.

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die gelernt haben, sich in ihrer Gruppe solidarisch zu verhalten, dies auch als Bürger eines Landes tun werden. Die demokratiefördernden Wirkungen der Zivilgesellschaft, so der Einwand, können jedoch nur unter Voraussetzungen behauptet werden, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Warum, so ist doch zu fragen, sollte jemand, der als Mitglied des Segelvereins ein solidarischer Mensch ist, als Bürger dasselbe Verhalten zeigen  ? Dieser Anfrage kann eine weitere angefügt werden  : Lerne ich im Verein tatsächlich das, was ich als Mitglied einer Demokratie können muss  ? Eine Kongruenz des Verhaltens von Menschen, die zudem von richtigem oder gar tugendhaftem Verhalten ihren Ausgang nimmt, wird in zivilgesellschafts-freundlichen Argumenten nur behauptet, belegt ist sie nirgendwo.208 Sicherlich kann zugestanden werden, dass die Verfasstheit der Lebenswelt einen Einfluss darauf hat, was Bürgerinnen und Bürger erlernen können. Und sicherlich bietet eine differenzierte Zivilgesellschaft auch »Lernorte«, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Überzeugung einander begegnen und für gemeinsame Ziele auch gemeinsam einstehen. Wieweit jedoch erlernte Verhaltensformen tatsächlich für Bürgertugenden wie etwa die Einsatzbereitschaft für das politische Gemeinwesen und die Bereitschaft zur aktiven Gestaltung politischer Prozesse die Grundlage bilden, ist schwer zu beurteilen. Es liegt nahe, sich in diesem Punkt Rosenblums vorsichtiger Einschätzung anzuschließen  : »Jede Variation des Kongruenz-Themas basiert auf der Annahme, dass Haltungen und Praktiken, die in einer Vereinigung geformt wurden, in andere Kontexte überspringen. Dies ist der schwache Punkt. […] Denn die Logik der Kongruenz ist nicht automatisch ausgestattet mit einer sozialen oder psychologischen Dynamik, die erklären könnte, warum Haltungen, die in einer Vereinigung kultiviert worden sind, auch zurecht als stabil und als übertragbar auf andere Sphären interpretiert werden.«209 208 Vgl. ebd., S. 38–39, 56–58. 209 Ebd., S. 38. Eigene Übersetzung, A. K.

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Schließlich kann eingewendet werden, dass bereits die Annahme einer identifizierbaren Zivilgesellschaft von einer unrealistischen Voraussetzung zehrt. Um überhaupt von der Zivilgesellschaft sprechen zu können, muss wenigstens vorausgesetzt werden, dass sich alle Vereinigungen in eine »Gesellschaft« fügen. Während das Konzept der Öffentlichkeit unter der normativen Vorgabe entwickelt wird, alle Bürger könnten als Freie und Gleiche an der argumentativen Auseinandersetzung um politische Inhalte teilnehmen, und damit auch ein Integrationskriterium kennt, fehlt eine solche Voraussetzung in der Zivilgesellschaftsdiskussion. In der politischen Wirklichkeit verfolgen Vereinigungen nicht nur unterschiedliche Zielsetzungen, sondern Vereinigungen mit einander gleichenden Zielen konkurrieren auch um Mitglieder und um knappe Ressourcen. Das von Hegel gemalte Bild einer von Antagonismen und kollektiven Egoismen zerrütteten bürgerlichen Gesellschaft mag übertrieben sein.210 Mindestens scheint aber die schon von Madison artikulierte Warnung vor einer in der Zivilgesellschaft stets drohenden Zersplitterung das realistischere Bild zu sein gegenüber dem sich zu einem harmonischen Ganzen fügenden Raum menschlichen geselligen Lebens.211 Wenn heute die Vorbehalte gegenüber einer allzu kohärentistischen Vorstellung der Zivilgesellschaft nicht abgeschwächt, sondern angesichts neuer und immer flüchtiger werdenden Formen der Vereinszugehörigkeit in Zeiten des Internet verstärkt werden, muss auch die Einschätzung der Zivilgesellschaft als Nährboden für eine politisch aktive Öffentlichkeit relativiert werden. In zwei Hinsichten gilt es, allzu optimistische Einschätzungen der demokratiefördernden Auswirkungen der Zivilgesellschaft auf einen realistischen Gehalt zu reduzieren  : hinsichtlich der Annahme eines automatisch gegebenen Gemeinwohlbezuges in den Zielen freiwil210 Vgl. Schmidt 1981. 211 Vgl. Madison 1982, S. 50–58.

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liger Vereinigungen  ; und hinsichtlich einer Kongruenzunterstellung zwischen dem Verhalten von Bürgern als Teilnehmer zivilgesellschaftlicher Vereinigungen einerseits und als Teilnehmer an politischen Aufgaben andererseits. Mit diesen Kritiken wird nicht gezeigt, dass die Zivilgesellschaft kein wichtiges Element der Demokratie ist. Vielmehr wird nur gezeigt, dass die Einschätzung ihres Nutzens differenziert beurteilt werden muss. Insofern können wir uns dem Urteil von Michael Walzer anschließen, wenn er zu dem Schluss kommt  : »Das Vereinsleben unserer Gesellschaft ist der tatsächliche Grund, auf dem Versionen des Guten ausgearbeitet und getestet werden. […] Es kann nicht stimmen, dass auf diesem Grund zu leben, an sich gut ist  ; es gibt einfach keinen anderen Platz zum Leben. Was dagegen stimmt ist, dass die Qualität unserer politischen und ökonomischen Tätigkeit und unserer nationalen Kultur unmittelbar bezogen ist auf die Stärke und Vitalität unserer Vereinigungen.«212 5.4 Werte der Zivilgesellschaft Aus Perspektive der politischen Theorie ist Zurückhaltung gegenüber allzu idealistischen Einschätzungen der Zivilgesellschaft angebracht. Unabhängig davon gilt jedoch auch  : In der Zivilgesellschaft verwirklichen Bürger einen Teil ihres Selbstverständnisses, das zu entfalten ihnen in anderen Dimensionen gesellschaftlichen Lebens verwehrt ist. Um diese Perspektive zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf jene Beiträge, in denen das Ideal der Zivilgesellschaft näher bestimmt wird. Vaclav Havel, der als ein entscheidender Protagonist des Zivilgesellschaftsdialogs in den 1990er-Jahren gilt, betont die Möglichkeit, in der Zivilgesellschaft politisch-moralische Ideale verwirklichen zu können. Genuine Aufgabe der Politik sei es, denen zu helfen, die um uns herum sind und die nach uns kommen werden.213 Nur in der Zivilgesellschaft 212 Walzer 1991, S. 298. Eigene Übersetzung, A. K. 213 Vgl. Havel 2000, S. 394. Vaclav Havel gilt nicht nur als ein Vorkämpfer in der

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ist der Bürger frei, dies gemäß seinen Vorstellungen auch zu tun. Ziel der Darstellung von Havel ist nicht nur, Fürsorge für Mitbürger als Kern politischen Handelns zur Anerkennung zu verhelfen. Vielmehr ist das Argument auch, dass Menschen in der Zivilgesellschaft das verwirklichen können, was ihnen als moralische Akteure in politischen Zusammenhängen verweigert wird. Zivilgesellschaftliche Vereinigungen unterscheiden sich auch insofern von der Politik und vom persönlichen Leben, als die Freiheiten, sich Vereinigungen anzuschließen und die Mitgliedschaft jederzeit auch wieder aufzukündigen, anerkannt werden. Mitgliedschaften können unterschiedliche Formen haben. Einige unserer Mitgliedschaften sind nicht gewählt, einige sogar niemals aufkündbar. Das Besondere zivilgesellschaftlicher Vereinigungen liegt darin, dass die Mitgliedschaften tatsächlich gewählt werden können. Die Möglichkeit, sich dadurch zu bilden und das eigene Leben zu formen, indem Assoziationsformen gewählt werden, ist ein Wert, der nicht politisch gerechtfertigt werden muss. Er kann für Menschen ein »Wert in sich selbst« sein.214 Bürger können in der Zivilgesellschaft Partnerschaften aufbauen, die privat und zugleich gesellschaftlich bestimmt sind. Die Zivilgesellschaft ist jener Lebensraum, im welchem die Bindungen des Vertrauten zurückgelassen werden und Menschen einander als Gesellschaftsmitglieder gegenübertreten. Dies in einem geschützten Raum tun zu können, ist wertvoll. Nun muss eine weitergehende Frage gestellt werden. Sie betrifft die Ausgestaltung dieses Raumes  : Ist die Zivilgesellschaft auch jener Bereich, in welchem »Brüderlichkeit« gelebt wird  ? Als Antwort auf diese Frage muss zunächst daran erinnert werden, dass es viele Formen des bürgerlichen Wohlwollens gibt. In den erstmals 1934 erschienen »Bekenntnissen eines Bürgers« schreibt Sándor Ausdeutung der Zivilgesellschaft als zentraler Ort demokratischer Entwicklung, sondern auch als Verfechter einer moralischen Konzeption der Zivilgesellschaft. 214 Vgl. Kateb 1998, S. 36–41.

Werte der Zivilgesellschaft

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Márai über seine Kindheitserfahrungen als ein Sohn deutschstämmiger Ungarn.215 Er wurde im Jahr 1900 in der Provinz der Donaumonarchie geboren. Er lässt uns an eindringlichen Erfahrungen mit der Armenfürsorge des Bürgertums jener Zeit teilhaben  : »Das Bürgertum lebte sein Verantwortungsgefühl in Wohltätigkeit aus. Über die Armen sprach man wie über einen fremden, hilflosen Stamm, der gefüttert werden muß. Mitunter klingelte jemand an der Vorzimmertür, und das Dienstmädchen rief herein  : ›Nichts weiter, nur ein Armer.‹ Die städtischen Bürgersfrauen betätigten sich eifrig in einem ›Gratismilch‹-Verein, der auch Brot und Suppen ausgab. Jede Bürgerfamilie hatte ›ihre‹ Armen, die die Speisereste abholten und zu Weihnachten warme Strümpfe bekamen, gestrickt von der Hausfrau persönlich. Niemand dachte näher über die ›Armen‹ nach, sie lebten mitten unter uns, und dennoch betrachteten wir ihr Leben und ihre Lage aus solcher Ferne, als hätten wir es mit Negern oder Chinesen zu tun, die unter dem Heidentum schmachten, weshalb alle Christen für die Missionsstationen Silberpapier und Briefmarken sammeln müssen, dann werden die Unglücklichen getauft, und alles kommt in Ordnung. […] In jenem bürgerlichen Überfluß des beginnenden Jahrhunderts standen zwischen ›Arm‹ und ›Reich‹ noch nicht solche bewusstseinsweckenden und zum Haß aufrufenden Losungen wie zwei Jahrzehnte später  ; aus der Art, wie man in den ›besseren Kreisen‹ über die Armen sprach, klang lediglich etwas wie verlegenes Schuldbewußtsein heraus  : Nun ja, es ist recht traurig, aber so ist es halt, und wahrscheinlich ist es gottgewollt, denn ›anders ist es nie gewesen‹.«216 In Zeiten einer trotz weiter bestehenden Elends insgesamt weitaus egalitäreren Bürgergesellschaft und in Zeiten einer weitaus größeren Anonymität in den alltäglichen Lebenszusammenhängen findet bürgerliche Brüderlichkeit andere Formen. Insbesondere haben staatliche 215 Vgl. Márai 2000. 216 Ebd., S. 153–154.

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Instrumente der Armutsprävention und Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin von privaten Formen der Brüderlichkeit wenigstens scheinbar entlastet. Dennoch bleibt die Frage  : Ist es richtig anzunehmen, dass Bürger einander Brüderlichkeit schulden oder selbstverständlich gewähren sollten  ? Die Antwort auf diese Frage hängt sehr davon ab, was unter »Brüderlichkeit« verstanden wird. Dass jeder Bürger und jede Bürgerin Freizeit darauf verwendet, anderen Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, ihr Leben zu meistern, kann nicht verordnet werden. Andernfalls würde der Zivilgesellschaft jene Form der Freiwilligkeit genommen, um deren willen sie als wertvoller Bestandteil bürgerlichen Lebens betrachtet wird. In der Zivilgesellschaft sind Bürgerinnen und Bürger frei, sich gesellschaftliche Partnerinnen und Partner zu suchen und Vereinigungen selbst zu wählen und zu gestalten. Was allerdings erwartet werden kann, ist die Bereitschaft, Gerechtigkeitsprinzipien nicht nur anzuerkennen, sondern an ihrer Verwirklichung auch aktiv teilzunehmen. John Rawls hat diese Fähigkeit sogar als moralisches Vermögen von Personen bezeichnet, ohne welche eine Rechtfertigung grundlegender Prinzipien der wohlgeordneten Gesellschaft nicht denkbar wäre  : »Ein Gerechtigkeitssinn ist die Fähigkeit, eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption, die faire Bedingungen sozialer Kooperation beschreibt, verstehen, anwenden und in ihrem Handeln befolgen zu können.«217 Die Frage danach, was Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden kann, ist aber mit dem Verweis auf einen wirksamen Gerechtigkeitssinn nicht abschließend beantwortet. In einem zweiten Schritt muss nach dem Gehalt und dem Umfang geteilter Gerechtigkeitsprinzipien gefragt werden. Was dies betrifft, müssen gesellschaftliche Diskurse geführt werden. Eine ausgewogene und sozialstaatlichen Prinzipien verpflichtete Steuer- und Ausgabenpolitik wird sicher nicht genügen.

217 Rawls 1998, S. 85.

Werte der Zivilgesellschaft

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So wichtig beides ist,218 ihre Identifizierung mit bürgerlicher Solidarität wäre eine Form gesellschaftlicher Verarmung. Die Antwort auf die Frage, ob Bürgerinnen und Bürger nicht nur freiwillige Partner zu gemeinsamen Zwecken sind, sondern auch brüderlich einander zugetan sein sollten, fällt differenziert aus. Auch in einem liberalen Staat muss dafür gesorgt werden, dass es einen Raum gibt, in welchem Bürgerinnen und Bürger ihr »Band der Sympathie« mit anderen Menschen leben und entfalten können. Solche Brüderlichkeit muss gelebt werden dürfen, auch wenn sie möglicherweise parteilich ist. Sie ist allerdings kein Band, das die Nation und ihre Mitglieder umfängt.219 Vielmehr geht es darum, dass Sympathien ihren Raum haben dürfen und dass auch eine parteinehmende Solidarität ihr Recht hat. Ein Gerechtigkeitssinn dagegen basiert auf einem fair ausgehandelten Konsens über grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien  – ein Konsens, der von allen Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert werden kann. Die Zivilgesellschaft ist keine Organisationsform, welche politische Institutionen und die Marktwirtschaft ersetzen kann. Vielmehr wird sie als Korrektiv und Ergänzung zu jenen Bereichen der Organisation gesehen, die anderen Gesetzen als den Gesetzen des freiwilligen Engagements gehorchen.220 Dies bedeutet aber nicht, dass die Mitgliedschaft in der Zivilgesellschaft ein vernachlässigenswertes Element des Bürgerstatus ist. Zunächst ist die Zivilgesellschaft ein Raum, in dem eine Grundform bürgerlicher Freiheit, die Freiheit zur Vergesellschaftung, verwirklicht werden kann. Sodann ist die Mitgliedschaft in der Zivilgesellschaft wertvoll. Sie beschreibt eine Dimension des Bürgers als eines politischen Ideals. Zwar muss davor gewarnt werden, Zivilgesellschaft und Bürgerengagement zu positiv zu zeichnen. Dennoch gilt, dass zivilgesellschaftliche Vereine und Bürgerengagement eine ein218 Vgl. Murphy und Nagel 2002. 219 Siehe dazu das Kapitel 7  : »Patriot und Kosmopolit«. 220 Vgl. Walzer 1995, S. 168–170.

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zigartige Möglichkeit bieten, Solidarität zu praktizieren. Dies belegt auch eine Studie von Robert S. Ogilvie, der versucht, die Motive von Mitwirkenden an Obdachlosenprojekten in New York zu ergründen.221 Nach ihrer Motivation befragt, treten ganz unterschiedliche Beweggründe zutage. Vor allem geht es den Mitwirkenden auch darum, einer Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen, der sie selbst viel verdanken.

221 Vgl. Ogilvie 2004.

6.

Bil dungsbürger

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er Begriff »Bildung« ist vieldiskutiert und nur schwer eindeutig zu definieren. In der deutschen Geistesgeschichte wird er ausgedeutet mit einem Bildungsideal, wie es beispielhaft von Wilhelm von Humboldt formuliert wird  : »Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.«222 Das Ideal menschlicher Bildung beinhaltet nicht nur die Vorstellung, dass Menschen ihre Kräfte entwickeln können. Es besagt auch, dass Menschen die notwendigen Bedingungen zu diesem Zweck vorfinden sollten. So stellt Humboldt in einem Atemzug mit der Bestimmung von Bildung als Zweck des Menschen fest  : »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen.«223 Bildung ist ein universelles Ideal. Mit dem Begriff »Bildungsbürger« dagegen wird eine bestimmte Gruppe von Menschen bezeichnet  ; er ist selektiv. In Deutschland verstand sich das Bildungsbürgertum selbst als eine Elite, die sich von anderen Schichten der Bevölkerung unterschied. Es fand – so disparat es in seinen Gruppierungen auch war – in dem Eintreten für eine Bildungsethik seine besondere gesellschaftliche Aufgabe. Zugleich diente dieser Bezug als Rechtfertigung zur Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungsschichten.224 Eine Kritik des gebildeten Bürgers und eventuell sogar des Bildungsbürger222 Humboldt 1903, S. 106. 223 Ebd. 224 Vgl. Weil 1967, S. 236–265.

122 Bildungsbürger tums konzentriert sich bis heute auf das Versagen der geistigen Elite in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sehr viel schlichter erregt aber auch die Berufung auf Bildung in Form von Bildungskanons und als ein in Anspruch genommener Besitzstand Anstoß und Unmut. Von der historischen Erscheinungsform des Bildungsbürgertums ist mindestens noch so viel im Alltagssprachgebrauch präsent, dass mit dem Begriff »Bildungsbürger« jene Ausschnitte der Bevölkerung gemeint sind, welche kulturellen Werten der Literatur und des Reisens besonders zugetan sind. Die Konzentration auf das Bildungsbürgertum als Klassenbildungsphänomen vernachlässigt einen wichtigen Aspekt hinsichtlich des Verhältnisses von Bürger und Bildung. Bildung und Zugang zu Bildungsmöglichkeiten sind und waren nicht nur ein Randphänomen des Bürgerstandes. Die Zeit der Blüte des Bürgertums ist auch geprägt davon, dass Bildungsgüter als zunehmend öffentliche Güter Verbreitung finden. Mit dem Erwachen des Bürgertums ist es auch verbunden, dass bildende Kunst, Musik und Theater nicht länger reserviert sind für Hof oder Kirche.225 Musik wird in Konzertsälen dargeboten, Museen erlauben den Zugang zu einer nun autonom gewordenen bildenden Kunst, Parks und Gärten werden für die Allgemeinheit geöffnet. Gegenstand dieses Kapitels ist zunächst, aktuelle Auseinandersetzungen in der politischen Philosophie um das Verhältnis von Bürgerstatus und Bildung zu skizzieren. Ausgangspunkt der Diskussion ist die Einsicht, dass Mitglieder einer politischen Gemeinschaft einer Form von Bildung bedürfen, die auch als »bürgerliche Erziehung« (»civic education«) bezeichnet wird. Die Erziehung zum Bürger dient der Formung des Charakters und der Vermittlung von Wissen und richtet sich an Unmündige. Treffend merkt Amy Gutman an, dass »erziehen« (»to educate«) noch im 17. Jahrhundert als Synonym für »regieren« (»to govern«) benutzt wurde.226 Bildung ist weniger Beschäftigung mit 225 Vgl. Nipperdey 1988. 226 Vgl. Gutman 1989, S. 71.

Bildungsbürger

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Bildungsinhalten als vielmehr ein Prozess der Formung, geleitet durch eine dazu autorisierte Person. Wird eine solche Perspektive auf Bildung eingenommen, ergibt sich aus Perspektive der politischen Theorie jedoch ein Dilemma. Bereits Wilhelm von Humboldt skizziert dieses Dilemma in ganzer Schärfe, wenn er für den liberalen Staat empfiehlt  : »[D]er Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen auswärtige Feinde nothwendig ist  ; zu keinem andren Endzwekke beschränke er ihre Freiheit.«227 Andernfalls droht nicht nur eine Bevormundung der Bürger, sondern auch der Verlust gerade jener Mannigfaltigkeit der Lebensumstände, die Menschen zur Entfaltung ihrer Kräfte benötigen. Zugleich steht der Staat vor der Aufgabe, sorgfältigst darauf zu achten, »daß die Eltern ihre Pflicht gegen ihre Kinder – nemlich dieselben, so gut es ihre Lage erlaubt, in den Stand zu sezen, nach erreichter Mündigkeit, eine eigene Lebensweise zu wählen und anzufangen […] genau erfüllen«228. Einerseits soll nicht nur die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger respektiert werden, sondern auch, dass die Erziehung von Kindern ihren Eltern und nächsten Erziehungsberechtigten obliegt. Andererseits muss dafür gesorgt werden, dass Kinder jene Unterstützung erhalten, die notwendig ist, damit sie zu Bürgern heranreifen können. In diesem Kapitel steht zur Diskussion, wie Bürgersein und Bildung aufeinander bezogen sind. Sowohl das genannte Dilemma als auch Lösungsmöglichkeiten werden erörtert. Dann komme ich zu der zentralen These dieses Kapitels  : Die Bildung des Bürgers ist mit einer »bürgerlichen Erziehung« allein nicht zu erreichen. Vielmehr ist ein kontinuierlicher Zugang zu Bildungsgütern notwendig, die jedoch nicht den Vorstellungen einer Bildungselite entsprechen müssen, son227 Humboldt 1903, S. 129. 228 Ebd., S. 229.

124 Bildungsbürger dern dem Ideal der Vermittlung des Reichtums und der Vielgestaltigkeit menschlichen Lebens. Mit diesen Thesen wird nicht für eine Erneuerung des Bildungsbürgertums gestritten, schon gar nicht im Sinne einer Klassenbestimmung. Auch wird nicht dafür argumentiert, das von Herder, Humboldt und anderen vertretene Ideal der SelbstBildung unter veränderten Rahmenbedingungen wiederzubeleben. Wofür argumentiert werden soll, ist vielmehr eine Ergänzung der Forderungen nach bürgerlicher Erziehung um die Forderung nach öffentlichen Bildungsgütern. Insgesamt gliedert sich das Kapitel in fünf Abschnitte. Im ersten Abschnitt wird dargelegt, dass Fragen der Bildung als Fragen nach der richtigen Erziehung der Jugend traditioneller Bestandteil der politisch-philosophischen Theoriebildung sind. Insofern ist die Untersuchung des Verhältnisses von Bildung und Bürgerstatus in der Tradition der Philosophie vorgezeichnet. Im zweiten Abschnitt wird erläutert, vor welcher Herausforderung eine politische Theorie des Liberalismus steht, soll Bildung zum Bürger als notwendige Staatsaufgabe gedacht werden. Im dritten Abschnitt wird für die Notwendigkeit einer Erziehung zum Bürger gestritten, um sodann im vierten Abschnitt darzulegen, wie die Gehalte der Erziehung zum Bürger konkretisiert werden können. Im fünften Abschnitt wird erläutert, inwiefern eine Kultur öffentlicher Bildungsgüter notwendiger Bestandteil der Bildung des Bürgers ist. 6.1 Eine philosophiegeschichtliche Fussnote Der Bedeutung von Bildung mit Rücksicht auf den Bürgerstatus kann sich eine politische Philosophin von einer besonderen Seite nähern. Es ist eine philosophiehistorische Tatsache, dass die Literatur über gute politische Verfassungen oftmals ergänzt wird um Leitvorstellungen zur Erziehung der Jugend. Aristoteles widmet das gesamte, allerdings wenig beachtete letzte Buch seiner Schrift zur Politik der Erziehung. Fragen, die ihn beschäftigen, betreffen nicht nur die Formung der Ju-

Eine philosophiegeschichtliche Fußnote

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gend zu guten Staatsbürgern. Vielmehr diskutiert er beispielsweise auch, welche Formen von Leibesübungen für den Heranwachsenden gut sind und der Genuss welcher Tonarten sein Gemüt positiv beeinflusst.229 Dieser Umstand gibt dem Aristotelesforscher A.C. Bradley Anlass zu dem Urteil, für Aristoteles sei das fundamentale Problem des Politischen eines der Bildung.230 Auch bei Platon hat die Erziehung der Jugend einen zentralen Platz. Geregelt wird die Aufzucht der Säuglinge in einem Säugehaus in einem besonderen Teil der Stadt.231 Dargelegt wird auch die musische und gymnastische Erziehung der Wächter.232 Es werden Empfehlungen gegeben für besondere Lehrgehalte wie die Erzählungen über die Götter und die Darstellung des Todes.233 Schließlich werden auch das Erlernen von Instrumenten und Tonarten wie auch der Sinn und Gehalt musischer Erziehung erörtert.234 Die ausführliche Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen verwundert deshalb nicht, weil Platon in seiner Staatsschrift für die Abschaffung von Familien argumentiert. Folgerichtig sind Erziehungsaufgaben staatliche Aufgaben.235 Die Einbeziehung von Bildungsfragen in eine Schrift über das politische Gemeinwesen jedoch ausschließlich darauf zurückzuführen, dass eine uns heute geläufige Unterscheidung eines persönlichen Lebensbereiches nicht gegeben ist, wäre unzureichend. Aristoteles akzeptiert durchaus, dass Erziehungsaufgaben zunächst in der häuslichen Gemeinschaft geleistet werden müssen. Der zentrale Grund dafür, Bildungsfragen in einer politischen Schrift zu erörtern, ist die Einsicht, dass Menschen nicht von selbst jene Fertigkeiten und Tugenden erwerben, die sie brauchen, um Bürger sein zu können. 229 Vgl. Aristoteles 1995, S. 282–300, 1337 a 11–1342 a 35. 230 Vgl. Bradley 1997, S. 219. 231 Vgl. Platon 1990, S. 401, 460 c 1–3. 232 Vgl. ebd., S. 153–157. 233 Vgl. ebd., S. 167–197. 234 Vgl. ebd., S. 217–235. 235 Vgl. ebd., S. 409–419.

126 Bildungsbürger Die Erörterung von Erziehungsaufgaben ist genuiner Bestandteil der Reflexion über gute Staatsformen. Diese Tradition setzt sich in der Neuzeit fort. Für John Stuart Mill ist es schier unverständlich, dass Kindern immer noch Erziehung und Bildung vorenthalten wird. Er wettert gegen solche Zustände  : »Es scheint noch unbekannt zu sein, dass ein Kind in die Welt zu setzen ohne ausreichende Aussicht, ihm nicht bloß Nahrung für seinen Leib, sondern auch Belehrung und Übung für seinen Geist zu verschaffen, ein moralisches Verbrechen gegen den unglücklichen Sprößling wie gegen die Gesellschaft ist und dass, wenn der Vater diese Pflicht nicht erfüllt, der Staat sie auf Kosten des Vaters – soweit dies möglich ist – übernehmen sollte.«236 Und selbst solche Autoren, denen nachgesagt wird, sie favorisierten einen auf minimale Funktionen beschränkten, sogenannten »Nachtwächterstaat«, machen sich Gedanken über Erziehung und den Beitrag politischer Institutionen zur Bildung der Bevölkerung. In Der Wohlstand der Nationen widmet Adam Smith einen Abschnitt der Diskussion der »Finanzen des Landesherrn oder des Staates«, einen den »Ausgaben der Bildungseinrichtungen für die Jugend« und einen weiteren den »Ausgaben der Bildungseinrichtungen für Menschen jeden Alters«.237 Zwar kritisiert Smith scharf die durch Verbeamtung geschaffene Trägheit des Lehrkörpers  ; gleichwohl urteilt er, die Gründung von Volksschulen und auch deren Bezuschussung sei Aufgabe der Regierung eines Landes.238 Nur so ist eine flächendeckende und grundlegende Bildung aller erreichbar. Und auch Milton Friedman, ein heutiger Vertreter des »Nachtwächterstaates«, plädiert für ein gemischtes Finanzierungswesen von Schulen und öffentlichen Bildungseinrichtungen. Da der Einsatz von Mitteln für Bildung nicht der einzelnen Person, sondern letztlich der Demokratie durch eine mündige 236 Mill 1974, S. 144–145. 237 Vgl. Smith 1999, S. 645–692. 238 Vgl. ebd., S. 665.

Ein Dilemma des politischen Liberalismus

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Bürgerschaft zugutekomme, sei es gerechtfertigt, dass ein Staat sowohl Grundschulen als auch höhere Bildungseinrichtungen, nicht jedoch spezielle Berufsausbildungen, finanziell unterstützt.239 6.2 Ein Dilemma des politischen Liberalismus In der heutigen Diskussion der politischen Philosophie beziehen besonders Denker, welche dem politischen Liberalismus verpflichtet sind, Überlegungen zur Erziehung in ihre politische Theoriebildung ein. Selbst John Rawls, der größten Wert auf die Konzentration der politischen Theorie auf grundlegende Verfassungsgehalte und politische Werte legt, gibt Empfehlungen für Curricula an Schulen. Wichtigstes Ziel sei es, junge Menschen zu guten Bürgern zu erziehen und sie mit politischen Werten einer Demokratie vertraut zu machen. Zwar dürfe der politische Liberalismus nicht so weit gehen, Anforderungen zu formulieren, »die darauf zielen, die Werte der Autonomie und der Individualität als Ideale für viele, wenn nicht alle Lebensbereiche zu fördern«240. Ein solches Vorgehen ist nicht mit dem Grundsatz des politischen Liberalismus vereinbar, jedem eine möglichst große Freiheit in der Gestaltung seiner eigenen Anschauungen und seines eigenen Lebensweges zu geben. Gleichwohl kann auch aus Perspektive eines dem politischen Liberalismus verpflichteten Autors gefordert werden, »daß zur Erziehung dieser Kinder das Wissen um ihre Grund- und Bürgerrechte gehört, so daß sie zum Beispiel wissen, daß in ihrer Gesellschaft Glaubensfreiheit besteht und daß vom Glauben abzufallen kein Verbrechen ist. […] Darüber hinaus sollte ihre Erziehung sie darauf vorbereiten, uneingeschränkt kooperative Mitglieder einer Gesellschaft zu sein und sie zur Selbstständigkeit befähigen. Auch sollten die politischen Tugenden gefördert werden, so dass sie wünschen, in ihren Beziehungen zur übrigen Gesellschaft faire Bedingungen sozialer Ko239 Vgl. Friedman 2002, S. 86–88. 240 Rawls 1998, S. 297.

128 Bildungsbürger operation zu achten.«241 Mit diesen Gedanken hat Rawls eine Diskussion über die Bildung zum Bürger erneut angestoßen. Gefordert wird, dass Staaten dafür Sorge tragen, ihre Mitglieder in die Lage zu versetzen, grundlegende Prinzipien politisch geformten Zusammenlebens verstehen und ihr Leben entsprechend einrichten zu können. Wird unter »politischem Liberalismus« eine politische Lehre verstanden, die individuellen Freiheiten und einer legitimierten und in ihrer Macht beschränkten Regierung Prioritäten einräumt, so sind westliche Demokratien dem politischen Liberalismus verpflichtet. Regierungen haben in liberalen Demokratien zahlreiche Aufgaben. Einen Rechtsstaat zu unterhalten, bedeutet auch, Institutionen zu schaffen und zu unterhalten, durch welche die Realisierung rechtsstaatlicher Prinzipien ermöglicht wird. Hinsichtlich der Erziehung ihrer Bürger müssen sich Regierungen allerdings Zurückhaltung auferlegen. Wäre es primäres Ziel von Erziehungseinrichtungen, Minderjährige eines Landes durch ein öffentliches Bildungssystem zu »guten Menschen« zu formen, so widerspräche dies schon auf den ersten Blick liberalen Grundsätzen. Jeder soll selbst wählen können, was seine Werte sind. Familien und Erziehungsberechtigte, nicht der Staat, sorgen dafür, dass Kinder jene Werte vermittelt bekommen, die ihnen ein gelingendes Leben ermöglichen. Diesen Vorstellungen steht eine andere Einsicht unvermittelt gegenüber. Eine liberale Demokratie kann nicht ohne eine Bürgerschaft auskommen, die informiert und gebildet ist. Mitglieder einer Demokratie müssen nicht nur wählen dürfen, sondern sie müssen auch politische Entscheidungen verstehen und beeinflussen können. Theoretiker des politischen Liberalismus gehen sogar noch einen Schritt weiter. Bürgerinnen und Bürger müssen auch insofern gebildet sein, als sie über Tugenden verfügen, die ein Leben in freiheitlichen Gesellschaften befördern. In dieser Interpretation ist »liberale Politik […] auf einen gewissen Standard und eine gewisse Qualität bürgerlicher Tugend 241 Ebd.

Ein Dilemma des politischen Liberalismus

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angewiesen«242. Bürgertugenden stellen sich jedoch nicht von selbst ein, sondern müssen trainiert werden. Wie aber sollen Haltungen erzieherisch vermittelt werden, ohne den Grundsatz zu verletzen, dass jeder seine eigene Vorstellung guten Lebens entwickeln können soll  ? Mit anderen Worten  : Wo ist die Grenze der Erziehungsmöglichkeiten, jenseits derer eine liberale Demokratie ihre eigenen Grundsätze verletzt  ? Anders als Vertreter eines »umfassenden Liberalismus« (»comprehensive liberalism«), die wie beispielsweise auch Mill eine politische Konzeption durch eine Moraltheorie abstützen,243 haben sich heutige Autoren des Liberalismus dagegen verwehrt, ihre politische Konzeption auf bestimmten Vorstellungen guten Lebens aufzubauen. Vielmehr soll die politische Theorie frei sein von wertethisch gefärbten Konzeptionen guten Lebens. John Rawls hat sich Zeit seines Lebens darum bemüht zu zeigen, dass eine Akzeptanz der Lehren des politischen Liberalismus gerade nicht durch Werthaltungen bedingt ist, sondern dass seine grundlegenden Prinzipien allein durch den Gebrauch der Vernunft eingesehen und akzeptiert werden können.244 Es kann zugelassen werden, dass Menschen divergierende Lebenspläne haben und sogar unterschiedliche vernünftige Welterklärungen. Nach Rawls gibt es sogar »[k]eine vernünftige religiöse, philosophische oder moralische Lehre, die von allen Bürgern bejaht wird«245. Dies hindert aber nicht, eine Einigung über politische Werte und Verfassungsinhalte erreichen zu können. Ganz im Gegenteil  : Der Prüfstein öffentlicher Vernunft beinhaltet nach Rawls die Möglichkeit, dass Menschen ihre Werthaltungen und subjektiven Bindungen zurückstellen und gleichwohl ein Konsens über grundlegende Verfassungsprinzipien und die Werte der Freiheit und Gleichheit erzielt werden kann.246 242 Macedo 1990, S. 3. Eigene Übersetzung, A. K. 243 Vgl. Mill 1974, bes. S. 77–102. 244 Vgl. Rawls 1998, S. 155–159. 245 Ebd., S. 109. 246 Vgl. ebd., S. 120–132, 141–148.

130 Bildungsbürger Die Konsequenz ist  : Erziehungs- und Bildungsgehalte gehören nicht zu jener Ebene der Auseinandersetzung, die in einer politischen Lehre über gerechte Gesellschaften begründet werden können. Gegenstand sind nur jene wesentlichen Verfassungsinhalte, die für das Funktionieren eines dem politischen Liberalismus verpflichteten Gemeinwesens grundlegend sind. Wenn aber zugleich dafür gesorgt werden muss, dass Mitglieder eines Gemeinwesens fähig und bereit sind, den Anforderungen desselben nachzukommen, so gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder es wird blind darauf vertraut, dass Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft automatisch zu freiheitsliebenden oder wenigstens toleranten Bürgern heranwachsen. Bildung ist dann wenigstens nicht im Sinne einer Erziehung zum Bürger notwendig. Rawls scheint diese These zu unterstützen.247 Oder es muss ein Weg gefunden werden, die Prinzipien des politischen Liberalismus und damit auch die Grenzen des Staates aufrechtzuerhalten und zugleich für die Bildung der Menschen zu Bürgern zu sorgen. Ich möchte mich im Folgenden mit der letztgenannten Möglichkeit auseinandersetzen. 6.3 Die Notwendigkeit der Erziehung zum Bürger Um die Bildung zum Bürger als Aufgabe im Rahmen eines politischen Liberalismus zu rechtfertigen, kann ein Blick hinter die argumentative Fassade desselben hilfreich sein. Wie William Galston deutlich macht, sind selbst Vorstellungen über grundlegende Verfassungsinhalte nicht derart unabhängig von moralischen Einstellungen, wie von Vertretern des politischen Liberalismus behauptet wird.248 Zwar muss nicht so weit gegangen werden, wie es Robert N. Bellah mit Rücksicht auf die amerikanische Kultur vorgeschlagen hat. In Habits of the Heart argumentiert dieser, dass es eine von allen Amerikanerinnen und Amerikanern geteilte moralische Sprache gibt, die in politischen Lebensformen 247 Vgl. ebd., S. 317–318. 248 Vgl. Galston 1991.

Die Notwendigkeit der Erziehung zum Bürger

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nur ihren Ausdruck findet.249 Aber es muss anerkannt werden, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht nur als vernünftige Personen in liberalen Demokratien bewegen. Auf Ebene der Theorie muss jenseits der Begründung von Verfassungsinhalten nach Grundprinzipien einer »guten Gesellschaft« gefragt werden. Dazu gehört auch, gemeinsame Wertvorstellungen und Tugenden der Bürger deutlich zu machen. Zwar mag Galston darin richtig liegen, dass jeder Staat zur Überlebensfähigkeit auf gewisse Charakterhaltungen seiner Landsleute angewiesen ist. Ohne Loyalität gegenüber den Autoritäten, ohne Einsatzbereitschaft für Belange des politischen Gemeinwesens und ohne Bereitschaft, den Gesetzen eines Landes zu gehorchen, wäre kein Staat überlebensfähig.250 In der Diskussion von Bürgertugenden wird jedoch deutlich, dass Galston diesen engen Rahmen der Interpretation von Bürgertugenden verlassen möchte. Als Tugenden, die in einer Erziehung zum Bürger angelegt werden müssen, nennt Galston auch »Unabhängigkeit«, »Toleranz«, »Respekt für individuelle Talente und Erfolge«.251 Daneben gibt es Tugenden, die unmittelbar auf den demokratischen Prozess der Meinungsbildung und Entscheidung bezogen sind  : Es sind dies »die Fähigkeit, das Recht anderer zur respektieren  ; die Fähigkeit, Talente, Charakter und Vollzüge öffentlicher Personen zu beurteilen  ; die Fähigkeit, Wünsche zurücksetzen zu können angesichts Limitierungen der politischen Möglichkeiten.«252 Die politisch verantwortlichen Personen müssen »Geduld haben, um in sozialer Diversität arbeiten zu können« und »Unterscheidungsfähigkeit zwischen weisen politischen Entscheidungen und Populismus« zeigen.253 Um den Gehalt eines solchen Bildungsprogramms gegenüber allgemeinen und verschwommenen Forderungen nach einer neuen Bürgerhaltung abgrenzen zu können, ist eine präzise Bestimmung des Gehalts 249 Vgl. Bellah 1985. 250 Vgl. Galston 1989, S. 93. 251 Vgl. ebd. Hier und im Weiteren meine Übersetzung, A. K. 252 Ebd. 253 Vgl. ebd.

132 Bildungsbürger der Erziehung zum Bürger notwendig. Eine Strategie hierzu wird in Ansätzen dargelegt, in denen demokratische Tugenden unmittelbar und ausschließlich auf den Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung bezogen werden. Stephen Macedo macht deutlich, dass bereits mit der Notwendigkeit öffentlicher Rechtfertigung in einer liberalen Demokratie ein Rahmen für liberale Tugenden abgesteckt ist.254 Zentral ist die Tugend der »prinzipiengeleiteten Bescheidenheit« (»principled moderation«). Diese Bürgertugend drückt Respekt gegenüber der Vernünftigkeit aller Menschen aus und ist der Einsicht in die Schwierigkeit geschuldet, einen gemeinsamen moralischen Standpunkt zu beschreiben.255 Sie ist auch der Einsicht geschuldet, dass der politische Liberalismus weniger einen Wertehorizont, als vielmehr eine Methode der Rechtfertigung politischer Gehalte darstellt. Gehalte der politischen Auseinandersetzung stehen vor dem Prüfstein der öffentlichen Vernunft. Ergebnis politischer Auseinandersetzung ist zwar ein moralischer Rahmen für die Politik, nicht jedoch das Ende unterschiedlicher Auffassungen und moralischer Ansichten. »Prinzipiengeleitete Bescheidenheit« bedeutet einerseits, die gemeinsame Vernünftigkeit des politischen Gemeinwesens in Form gemeinsamer Beschlüsse und Gesetzestexte zu respektieren  ; »prinzipiengeleitete Bescheidenheit« bedeutet aber auch, eigene Ansprüche und Überzeugungen zugunsten der politischen Durchsetzung des gemeinsamen Willens zurückzustellen.256 Nicht in der Erzwingung eines harmonischen Rahmens, sondern in dem Aushalten von Unterschieden bestehen Tugenden des politisch Liberalen. Trotz solcher Versuche, die Spannung zwischen dem Bekenntnis zu ausgewählten Werthaltungen einerseits und den Forderungen nach weltanschaulicher Unparteilichkeit zu lösen, bleiben Fragen offen. Auch wenn der unmittelbare Bezug auf den demokratischen und frei254 Vgl. Macedo 1990, der in seinem Beitrag die politischen Tugenden des Bürgers eines liberalen Staates darstellt. 255 Vgl. ebd., S. 72. 256 Vgl. ebd., S. 73.

Gehalte einer Erziehung zum Bürger

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heitlichen Prozess politischer Auseinandersetzung gegeben ist, müsste die Grenze zwischen demokratiefördernden Tugenden und einer allgemeinen bürgerlichen Geisteshaltung schärfer gezogen werden. Zudem bleibt zu fragen, wie entsprechende Werthaltungen und Tugenden trainiert werden können, ohne dass politische Institutionen dem Verdacht der Indoktrinierung ausgesetzt werden müssen. Die Vermittlung von Wissensgehalten reicht dafür sicher nicht aus. 6.4 Gehalte einer Erziehung zum Bürger Von Vertretern des politischen Liberalismus unserer Tage wird ein staatlich gefördertes Erziehungsprogramm selten offensiv vertreten. Besonders in der amerikanischen Literatur setzt die Auseinandersetzung vielmehr damit an, Ausnahmen vom Recht auf absolute Privatheit der Erziehung zu begründen. In dem amerikanischen Kulturkreis ist die Vorstellung verbreitet, Erziehung der Kinder sei ausschließlich Aufgabe der Familie und der Erziehungsberechtigten, nicht jedoch des Staates. Um dennoch staatliche Eingriffe zu rechtfertigen, wird John Locke, ein Mitbegründer des modernen politischen Liberalismus, als Gewährsmann zitiert. Dieser plädiert dafür, dass es das Recht auf vollständigen Rückzug von der politischen Gemeinschaft nicht gibt. Sobald die öffentliche Ordnung gefährdet ist, darf der Magistrat zwar nicht mit Gewalt, wohl aber mit Überzeugungsversuchen in den vermeintlich privaten Bereich der Gewissensangelegenheiten der Bürger eindringen.257 Die Ausnahmeregelung gilt auch mit Rücksicht auf grundlegende Erziehungsgehalte. Die damit eröffneten Räume für öffentliche Bildung sind zwar klein  ; zu dem Programm des politischen Liberalismus scheinen sie aber besser zu passen als Versuche einer umfassenden Rechtfertigung der Erziehung zu bürgerlicher Tugend. Wenn es sich jedoch tatsächlich so verhält, dass Haltungen des Respekts und der Toleranz notwendig sind, um aktiv an einer libera257 Vgl. Locke 1996, S. 91–97.

134 Bildungsbürger len Demokratie teilnehmen zu können, so betrifft dies weder nur die Minderjährigen, noch genügt eine Verteidigung partieller Eingriffe des Staates in das Bildungssystem. Amy Gutman hat diesen Zusammenhang deutlich gemacht und eine entsprechende Theorie der Bildung und der demokratisch legitimierten Bildungsinstitutionen erarbeitet.258 Nach Gutman muss die staatliche Erziehung zum Bürger nicht der Gewähr möglichst umfänglicher privater Freiheiten, sondern einem anderen wichtigen, liberalen Grundsatz verpflichtet sein. Menschen sollen frei sein, einen Lebensplan nach ihren Vorstellungen zu entwickeln. Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist es primär, jungen Menschen genau diese Freiheit zu vermitteln. Sie sollen befähigt werden, eigene Meinungen und Ansichten zu entwickeln.259 Dazu benötigen junge Menschen vor allem Möglichkeiten, die Wertvorstellungen ihrer Eltern infrage zu stellen. Dass diesen Raum Eltern selbst nur schwer schaffen können, leuchtet ein. Gutmans Ansatz für eine »demokratische Erziehung« steht im Kontext einer Bewertung demokratischen Zusammenlebens. Aufgabe öffentlicher Erziehung in einer Demokratie sei eine »bewusste soziale Reproduktion« (»conscious social reproduction«), welche die Möglichkeiten der Demokratie zielorientiert erhält.260 Gutman bleibt in ihren Arbeiten dem politischen Liberalismus verpflichtet. Jedoch hat sie an einer entscheidenden Stelle einen Optimismus verloren, der von anderen geteilt wird. Für sie steht außer Frage, dass Demokratien und auch zivilgesellschaftliche Arrangements, zu denen im anglo-amerikanischen Bereich auch Bildungseinrichtungen zählen, nur überleben können, wenn sich Staaten auf eine gezielte Unterstützung und einen gezielten Schutz verständigen. Gutman greift eine Perspektive auf die Gesellschaft an, welche als eine »liberale Naivität« bezeichnet werden kann. Menschen werden nicht von selbst zu politikfähigen Bürgern, 258 Vgl. Gutman 1989. 259 Vgl. Gutman 1999, S. 43. 260 Vgl. Gutman 1989, S. 77.

Gehalte einer Erziehung zum Bürger

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sondern benötigen gezielte Unterstützung, um jene Kompetenzen entwickeln zu können. Der Weg dorthin ist kein Training von Bürgertugenden, sondern eine Kultur innerhalb von Bildungseinrichtungen, die ein freies Denken und Lernen befördern. Zugleich müssen diese Einrichtungen den jungen Menschen einen Raum geben, der auch die Unabhängigkeit von Elternhäusern fördert. Um eine solche Theorie zu entwickeln, untersucht Gutman alle Stadien eines möglichen Erziehungsprozesses, beginnend mit der Grundschulausbildung. Gegenstand ihrer Untersuchung ist nicht nur die Bestimmung von Erziehungszielen. Vielmehr fragt Gutman auch, wie Prozess und Institutionalisierung der Erziehung so gestaltet werden können, dass sie demokratisch kontrollierbar bleiben und zugleich der Heranbildung mündiger Bürgerinnen und Bürger dienen. Demokratische Kontrolle bedeutet beispielsweise die Stärkung der Lehrergewerkschaften.261 Sie beinhaltet auch, darüber zu entscheiden, wie so heikle Themen wie das Unterrichten von Thesen des Kreationismus, die Inhalte von Sexualerziehung, und die Arbeit von religiös gefärbten Erziehungseinrichtungen bewertet werden können.262 Vorrangiges Ziel der »bewussten Reproduktion« freiheitlicher Gesellschaftsordnungen muss die Ermöglichung von Bildung für alle Bürgerinnen und Bürger sein. Wird dies ernst genommen, so ist auch klar, dass der Bildungsauftrag nicht mit der Schulbildung abgeschlossen ist. An einer Auseinandersetzung mit dem Problem des Analphabetismus werden die Konturen von Gutmans letztlich politisch-liberal inspiriertem Programm besonders deutlich. Solange es Analphabetismus auch in entwickelten Gesellschaften gibt, müssen öffentliche Mittel bereitgestellt werden, um mindestens die auch von der unesco geforderte »funktionelle Alphabetisierung« sicherzustellen.263 Bemerkenswert ist zunächst, dass sich Gutman gegen eine der Schulpflicht 261 Vgl. ebd., S. 79–87. 262 Vgl. ebd., S. 101–114, 123–124. 263 Vgl. ebd., S. 273–281.

136 Bildungsbürger vergleichbare Maßnahme wendet. Erwachsene sind souveräne Personen  ; seitens des Staates wäre es nicht richtig, diese Souveränität durch eine Zwangsmaßnahme zu beschränken.264 Wichtigster Grundsatz ist die Respektierung individueller Entscheidungen. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, in welchem Maße ein Unvermögen zu lesen oder zu schreiben die Freiheit und Unabhängigkeit eines Menschen beeinträchtigen kann. Seitens politischer Institutionen ist dies aber nicht das zentrale Problem. Vielmehr besteht es darin, dass Menschen als Bürger nicht urteilsfähig sind, solange sie nicht über ein Maß an Bildung verfügen, das ihnen erlaubt, beispielsweise eine kurze Beschreibung der Aufgaben wichtiger konstitutioneller Institutionen der Demokratie zu lesen oder sich einen Reim darauf zu machen, was die Funktion zentraler Passagen der Verfassung ist.265 Gutman wählt diese Beispiele, um zu zeigen, dass es mit der Verwirklichung einer »funktionellen Schreib- und Lesefähigkeit«  – wie von der unesco gefordert – nicht getan ist. Vielmehr verlangt demokratische Teilhabe auch Fähigkeiten des Urteilens. Gutman ist realistisch genug, die Möglichkeit einer »unparteilichen« oder gar wertneutralen Erziehung gar nicht erst anzustreben. Aus ihrer Sicht ist dies solange nicht problematisch, als grundlegende Wertentscheidungen an diejenigen einer liberalen Demokratie gebunden bleiben. Kinder werden nicht zu Bürgern mit bestimmten Werthaltungen erzogen, sondern dazu, eine eigene Meinung bilden zu können.266 Zur Verteidigung eines eindeutig nicht-neutralen Standpunkts in Erziehungsfragen ist es aber auch notwendig, »kulturelle Kohärenz« in einer Demokratie als ein gemeinsames Ziel zu akzeptieren. Kinder sollen nicht nur dazu erzogen werden, sich mit den Vorstellungen guten Lebens ihrer Familien, sondern auch mit denjenigen einer demokratischen Gesellschaft identifizieren zu können. Entsprechend 264 Vgl. ebd., S. 279. 265 Vgl. ebd., S. 276–277. 266 Vgl. ebd., S. 43.

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sollen auch das Erlernen wechselseitigen Respekts, Haltungen der Nicht-Diskriminierung und der Nicht-Unterdrückung zu Inhalten des Lehrplans gemacht werden.267 Trotz der differenzierten Darstellung muss Gutman sich die Frage gefallen lassen, wo denn nun genau »undemokratische Erziehung« beginnt, der gegenüber sie ihr Programm der »demokratischen Erziehung« abzugrenzen sucht. Zudem müsste es konsequenterweise auch darum gehen, neue Orte der Bürgererziehung zu finden. Wie Tugendethiker lehren, müssen Charakterhaltungen eingeübt und zu diesem Zwecke immer wieder vollzogen werden. Sie sind Ergebnis lebenslangen Lernens. Wenn es gerechtfertigt ist, dass Staaten zur Aufrechterhaltung einer demokratischen Ordnung Bildung unterstützen und fördern, dann genügt es nicht, über eine tugendethische Erweiterung der Schulcurricula nachzudenken – so wichtig dies auch ist. Vielmehr sind öffentliche Orte und öffentliche Institutionen notwendig, welche die Einübung demokratischer Praktiken befördern. Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass sich Bürgerinnen und Bürger auf Ebenen begegnen, die es erforderlich machen, dass sie sich in ihren Weltanschauungen präsentieren oder gar gezwungen sind, sich diese einander zu erklären.268 Gutman sieht diese Notwendigkeit, ohne sie jedoch konsequent zu Ende zu denken. Der Staat ist ihrer Meinung nach auch gefordert, Güter der bildenden Kunst im öffentlichen Raum zu fördern. Diese Aufgaben müssten dabei weder mit Aufgaben der Armutsprävention konkurrieren, noch müssten Kunststücke und Kunstwerke mit Rücksicht auf ihre Förderungswürdigkeit qualitativ bewertet werden. Da die Geschmäcker verschieden sind, würde dies ohnehin nur die Unmöglichkeit staatlicher Förderung nach sich ziehen, da sich ein Staat so viel Parteilichkeit in Sachen des guten Geschmacks nicht leisten kann. Gefördert werden soll deshalb nur solche Kunst im öffentlichen 267 Vgl. ebd., S. 75–78. 268 Vgl. Rawls 1998, S. 317–318.

138 Bildungsbürger Raum, die eine »kollektive Identifikation« der Bürgerinnen und Bürger erlaubt.269 Denn  : »Kunst trägt oft dazu bei, die Gesellschaft des kollektiven Stolzes ihrer Mitglieder würdig zu machen.«270 Der Gedanke, Kunst als Mittel zur Schulung einer bürgerlichen Gesinnung einzusetzen, ist nicht neu. Im Kontext einer politisch-liberalen Staatskonzeption muss allerdings gezeigt werden, dass es begründet und möglich ist, kulturelle Güter so zu pflegen, dass sie weder in einer patriotischen Funktion aufgehen, noch ihr Selbstwert als Ausdruck freien Schaffens gefährdet ist. An dieser Stelle ist eine Zwischenbetrachtung angebracht. Unsere Diskussion des Themas Bildung zielt auf die Frage, inwiefern und in welchem Sinn Bildung und Bürgerstatus aufeinander verwiesen sind. Aus Warte eines geräumigen politischen Liberalismus bleibt der Ausgangspunkt das Ideal einer freiheitlichen Gesellschaft, gepaart mit einer Verantwortung für die Erziehung der Kinder und Jugend, wie sie schon von Mill und Humboldt formuliert werden. Die bisherigen Ausführungen zeigen nicht nur, dass es schwer ist, die Grenze zwischen Bevormundung und Beförderung demokratischer Lebensideale und einer von demokratischen Werten getragenen Lebenskultur zu bestimmen. Insbesondere wird auch deutlich, welche Fülle inhaltlicher Gegenstände in die Auseinandersetzung einbezogen werden. Neben der Schulbildung und Fragen notwendiger Ergänzungen zum Erlernen einer Haltung wechselseitigen Respekts steht Bildung in einem ganz anderen Sinn zur Diskussion  : Offensichtlich geht es auch um eine Bildung zum Bürger, die weit über das Erlernen grundlegender Lehrinhalte hinausgeht. Es geht um explizit so benannte Tugenden, die vor allem dem demokratischen Leben dienen. Statt den Gehalt an dieser Stelle zu reduzieren oder auf einen wesentlichen Gehalt zuzuspitzen, möchte ich die Breite der Diskussion 269 Vgl. Gutman 1999, S. 260. 270 Ebd., S. 259. Eigene Übersetzung, A. K.

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um einen weiteren Aspekt ergänzen. Bildung zum Bürger setzt neben Bildungseinrichtungen, die in einem demokratischen Geist erziehen, den öffentlichen Zugang zu Gütern voraus, die als »Bildungsgüter« bezeichnet werden können. Dies sind Museen, Bibliotheken, Parks oder auch öffentliche Konzerte. Diese These soll abschließend erläutert werden. 6.5 Bildungsgüter als öffentliche Güter Um das Verhältnis zwischen Bildungsgütern und Bildung zum Bürger zu erläutern, soll zunächst noch einmal auf die Unterscheidung von »Erziehung« und »Bildung« aufmerksam gemacht werden. Erziehung bleibt an Ziele gebunden, die von Gutman beispielsweise als Reproduktion der Kultur einer demokratischen Gesellschaft bezeichnet werden. Bildung dagegen ist das, was sie ist, insofern sie nicht auf eindeutige funktionale Deutungen bezogen ist. Bildung ist Selbstzweck. In Bildungsgütern wie Literatur, bildender Kunst, Theater, Oper und Architektur werden Menschen mit der Vielfalt, Schönheit und Dramatik des Lebens in nicht-funktionalen Zusammenhängen konfrontiert. Gerade deshalb können Menschen im Umgang mit Bildungsgütern etwas von einem unbedingten Wert menschlichen Schaffens und menschlichen Lebens erfahren. Und diese Erfahrung ist nicht nur Teil unserer »Bürgerkultur«. Vielmehr ist sie auch mit der Fähigkeit zur Übernahme einer politischen Rolle in einer demokratischen Gesellschaft verknüpft. Martha Nussbaum hat in ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Moral und Literatur zu zeigen versucht, dass Literatur dazu geeignet ist, eine Haltung des Respekts zu erlernen. In der Konfrontation mit der Fülle unterschiedlicher Lebensentwürfe und -perspektiven, wie sie in der Literatur geschult werden, wird auch trainiert, die eigene Position zu relativieren. Insbesondere kann Literatur die Fähigkeit schulen, sich in das Leben anderer Menschen hineinzuversetzen. In der Bildungspolitik sollte deshalb nach Nussbaum die Rolle

140 Bildungsbürger der »Humanities« nicht unterschätzt werden.271 Um eine Haltung des Respekts zu erlernen, ist es notwendig, um die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten und Lebensumstände auf diesem Globus zu wissen und unterschiedliche Vorstellungen von Schönheit und Dramatik des Lebens zu erkunden. Es ist vor allem nötig, Räume zu haben, in denen sich Menschen mit der Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen um ihrer selbst willen konfrontieren können. Mit diesen Thesen wird ein Verständnis des gebildeten Bürgers angedeutet, das sowohl vom historischen Bild des Bildungsbürgers als Teil einer geistigen Elite als auch von dem in Verruf geratenen flachen Bild einer durch Klassikerlektüre und Opernbesuche gebildeten und ansonsten ihre Privilegien verteidigenden Bourgeoisie unterschieden ist. Als öffentliche Güter dienen Kulturgüter der Entwicklung eines demokratischen politischen Gemeinwesens.272 Sie können den Bürgern eine Identifikationsmöglichkeit geben, die unterschieden ist von einer Identifikation mit solchen Gütern, die entweder als private Güter dem individuellen Wohlstand dienen, oder mit solchen Gemeinschaftsgütern, die unmittelbar politischen Zwecken dienen. Möglich ist dies, weil Bildungsgüter die Idee vermitteln können, dass menschliches Leben nicht in der Verwendung von Mitteln zum Leben aufgeht. Menschen sind gesellschaftliche Wesen und als solche sollten sie die Möglichkeit haben, an einer zweckfreien und zugleich gesellschaftlich vermittelten Darstellung des menschlichen Lebens und seiner Schönheiten und Abgründe teil zu haben. Die Einwände gegen eine solche Bestimmung des gebildeten Bürgers müssen jedoch auch gehört werden. Zunächst bleibt das Problem 271 Das Buch Cultivating Humanities ist Ergebnis einer Reihe von Besuchen von Martha C. Nussbaum an universitären Bildungseinrichtungen in den USA, die sie mit dem Ziel unternommen hat, den Einfluss der Humanities auf die Bildung zu untersuchen. Vgl. Nussbaum 1997. 272 Zum Begriff des »öffentlichen Gutes« siehe meine Ausführungen in Kallhoff 2008. Für eine aktuelle Deutung des »öffentlichen Gutes« in der politischen Philosophie von heute siehe Kallhoff 2011.

Bildungsgüter als öffentliche Güter

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der Wertungsfragen. Welche Kunst ist geeignet, den Menschen in seiner Selbstzweckhaftigkeit darzustellen und mit der Dramatik des Lebens zu konfrontieren, und welche Kunst ist dazu gerade nicht geeignet  ? Abgeleitet aus diesen Fragen ergibt sich auch die Diskussion um öffentliche Unterstützung. Soll das Fußballfest öffentlich bezuschusst werden oder doch lieber eine Oper, die letztlich doch nur einen kleinen Besucherkreis anziehen kann  ? Auch das liberale Dilemma wird nicht abgemildert, sondern deutlicher. Wer entscheidet darüber, welche Kunst einem Bildungsideal entspricht und wer entscheidet  – in Folge  – damit auch über das Bildungsideal selbst  ? Und wieso sollte sich ein Staat überhaupt in einen Lebensbereich einmischen, der den Menschen privat angeht, nicht jedoch als Bürger  ? Zur Diskussion dieser Fragen müsste zunächst eine ernsthafte Auseinandersetzung über das Konzept »bürgerliche Bildungsgüter« geführt werden. Bevor entschieden werden kann, welche Güter gefördert werden sollten und wo genau die Grenze des Staates liegt, gilt es zu erörtern, welche Güter helfen, bürgerlichen Respekt und Werte der Zivilisation zu befördern. Ansätze dazu liegen vor.273 Dann wäre der Nutzen von Kulturgütern als öffentliche Güter – und das bedeutet im eigentlichen Sinne  : nicht-rivalisierende und nicht-ausschließende Güter  – zu erweisen. Öffentliche Güter zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sich um sie herum Formen der Vergesellschaftung entwickeln können, die zwar güterbezogen bleiben, zugleich aber strukturell den Idealen einer Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger angeglichen sind. Bildungsgüter können die Formierung einer Gesellschaft von gleichberechtigten und zugleich am wechselseitigen Austausch interessierten Bürgerinnen und Bürgern in besonderer Weise fördern. Zwar ist es richtig, dass das Bildungsbürgertum sich selbst als eine Elite verstand, deren Selbst-Identifikation in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, so insbesondere zum Adel und zum Pro273 Vgl. Nussbaum 1997, Kallhoff 2011.

142 Bildungsbürger letariat, vollzogen wurde.274 Zugleich jedoch begründet die Idee der Bildbarkeit eine Bewegung, die unaufhaltsam in Richtung allgemein zugänglicher Bildungsgüter führt. Nicht im aufklärerischen Sinn einer sich ständig verbessernden Situation des öffentlichen Lebens, in dem sich zunehmend das Wirken der Vernunft manifestiert, sondern als eine auf das Individuum bezogene universale Leitidee über die Fähigkeiten des Menschen führt die Bildungsidee zur Forderung nach Bildungsgütern. Gerade die Spannung von Subjektbezogenheit und Weltzugewandtheit kann in der Konzeption des Bildungsgutes als öffentliches Gut seine Auflösung finden. Wenn Bildung nur dem individuellen Genuss dient, befördert sie die Kultur eines behäbigen Bürgertums, das seine Aufgaben vergessen hat. Wenn sie dagegen für patriotische Zwecke funktionalisiert werden, werden sie nicht dazu beitragen, eine mündige Bürgerschaft zu befördern, die sich in ihrer Kultur und in ihrer Kunst wiedererkennt und gerüstet ist für moralische Konflikte. Was stattdessen geleistet werden muss, ist eine Kultivierung von Bildungsgütern, die als Verlängerung der »Erziehung zum Bürger« interpretiert werden kann. Demokratische Kulturen sind darauf angewiesen, ihre eigenen Reproduktionsbedingungen herzustellen. Bildungsgüter können dann einen Beitrag leisten, wenn sie die von Rawls und anderen Vertretern des politischen Liberalismus geforderte zivilisierte Form der Selbstartikulierung und -interpretation einer mündigen Bürgerschaft befördern. Darüber hinaus dienen sie einer Selbstartikulierung der Bürgerschaft und sind insofern Bestandteil jenes geräumigen Ideals, als das der Bürger in dieser Studie ergründet werden soll.

274 Vgl. Weil 1967, S. 236–265.

7.

Patr io t und Kosmopol it

A

uch wenn der Begriff »Patriotismus« erst in der späten Neuzeit Eingang in den Wortschatz der Sprachen findet, ist der Patriotismus, die Liebe gegenüber dem »Vaterland«, keine Erfindung jener Zeit. Schon in der Antike üben sich Bürger in einer Haltung der Frömmigkeit und Hingabe (»pietas«, »caritas«) gegenüber jenem politischen Gemeinwesen, das ihnen bürgerliche Freiheiten zuerkennt.275 Und noch in der Renaissance-Tradition der italienischen Stadtstaaten wird die Liebe zum Vaterland als Tugend gefeiert.276 Schon früh wird auch die Zweideutigkeit des Patriotismus erkennbar, beinhaltet eine patriotische Haltung doch nicht nur den Stolz auf eine kulturelle, sondern auch die militärische Überlegenheit der eigenen Stadt gegenüber anderen Städten und Stadtstaaten.277 Zwar gelingt es noch einmal in aufklärerischer Perspektive, die Haltung des Patrioten als moralische Stärke und als perfekte Tugend zu deuten. Patriotismus bedeutet jetzt nicht nur Liebe zur Republik, sondern auch ein Bekenntnis zum »Citoyen« und damit auch zur Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Aber spätestens seit erkannt werden muss, dass zwischen Patriotismus und Nationalismus oft nur eine dünne Linie verläuft, muss auch der Wert des Patriotismus als eine affektive Einstellung gegenüber dem Vaterland kritisch diskutiert werden. In der aktuellen Diskussion ist der Patriotismus in zweierlei Hinsichten umstritten. Erstens wird gefragt, wie das Phänomen »Patriotismus« überhaupt klassifiziert werden kann. Insbesondere kann eine kulturontologische Variante des Patriotismus von einer liberalen Vari-

275 Vgl. Viroli 1995, S. 18–24. 276 Vgl. ebd., S. 25–40. 277 Vgl. ebd., S. 27.

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Patriot und Kosmopolit

ante unterschieden werden.278 Während die kulturontologische Variante davon ausgeht, dass sich im Patriotismus eine »nationale Ethik« niederschlägt, die nur zu denken ist, wenn auch eine nationale Kultur vorausgesetzt werden kann, beinhaltet die liberale Variante einen individualistischen Zugang. Diese von Anton Leist weitaus differenzierter vorgetragene Abgrenzung279 muss um eine weitere Unterscheidung ergänzt werden  : Der Patriotismus kann als Relation zwischen Bürger und Staat begriffen werden  ; er kann aber auch als eine Tugend, also eine Haltung des richtigen Handelns, erklärt werden. Schließlich wird in der Diskussion des Patriotismus seit der Aufklärung zwischen einer vernünftigen Haltung und einem nicht vernunftgeleiteten Verhältnis zwischen Bürger und Staat unterschieden. Ein aufgeklärter Patriotismus drückt sich etwa darin aus, dass er an der Gleichheit und Freiheit aller Bürger interessiert ist. Ich möchte in diesem Kapitel von einer Position ausgehen, in welcher der Patriotismus als eine »Tugend« bestimmt wird. Diese in enger Anbindung an antike Vorstellungen entwickelte Position ist deshalb ein guter Ansatzpunkt, weil an ihr allgemeine Beschränkungen des Patriotismus in unserer Zeit sichtbar werden. Es ist eine Variante des Patriotismus, an welcher auch gezeigt werden kann, dass weitere Binnendifferenzierungen zwischen einem kulturontologischen und einem liberalen Patriotismus möglich sind. Insbesondere gehe ich nicht davon aus, dass es nur den aufgeklärten Patriotismus gibt. Vielmehr ist es bleibende Aufgabe, eine solche Form der Vaterlandsliebe immer wieder von nicht-aufgeklärten Formen zu unterscheiden. In der politischen Philosophie wird heute das Thema »Patriotismus« erneut debattiert. Ein offener Diskurs über dieses Thema wird insbesondere in der amerikanischen politischen Philosophie geführt  – in jenem Land, in dem der Patriotismus gepflegt wird und Symbole pat278 Vgl. Leist 1998, S. 378–388. 279 Vgl. ebd.

Bildungsgüter als öffentliche Güter

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riotischer Gesinnung nicht nur Bestandteil öffentlicher Feste sind. Bis heute sind die Meinungen über Segen oder Fluch des Patriotismus jedoch geteilt. Auf der einen Seite wird versucht, den Wert der Vaterlandsliebe erneut anzuerkennen. Patrioten sind ihrem Vaterland nicht nur zugetan, sondern sie entwickeln dadurch auch eine enge Bindung zu ihm. Insbesondere verhält sich ein Patriot nicht parasitär gegenüber einer Bürgergemeinschaft, sondern wird aufgrund seiner Identifikation mit dem Vaterland auch zu Leistungen für die Gemeinschaft bereit sein. Auf der anderen Seite wird aber auch die Gefahr des Patriotismus erkannt. Es wird bezweifelt, dass eine über die Grenzen des eigenen Vaterlandes hinausreichende Solidarität von Bürgern erwartet werden kann. Liebe zum Vaterland kann schnell in Hass gegenüber dem Fremden umschlagen. Was sich gegenüber der Auseinandersetzung vor Zeiten geändert hat, ist insbesondere die Reflexionsstufe. In der politischen Philosophie wird nicht mehr allein um das Thema Patriotismus gestritten. Vielmehr wird auch diskutiert, welche Gründe es gibt, sich dieses Themas anzunehmen. In den Auseinandersetzungen mit dem Thema Patriotismus soll in diesem Kapitel die Frage im Vordergrund stehen, ob der Patriotismus überhaupt Bestandteil eines politischen Ideals des Bürgers sein kann. In neuen Debatten um eine deutsche »Leitkultur«, um die Notwendigkeit kultureller Akzeptanz und Verwurzelung in einem Land durch sprachliche Fähigkeiten werden auch Stimmen laut, wonach eine patriotische Haltung – und sei es diejenige eines Verfassungspatriotismus – nicht nur Bestandteil des Bürgerstandes ist, sondern sogar eingefordert werden kann. Diesen Stimmen sollen kritische Perspektiven der politischen Philosophie entgegen gesetzt werden. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels soll versucht werden, zunächst einmal eine Bestimmung des »Patrioten« vorzunehmen. Begonnen wird mit einem Vorschlag von Alasdair MacIntyre, der mit Blick auf die Philosophiegeschichte Patriotismus als eine Tugend bestimmt.280 Mit der Kritik an 280 Vgl. MacIntyre 1995. Ihm ist es zu verdanken, eine Debatte um das Thema »Patri-

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Patriot und Kosmopolit

diesem Ansatz kann eine umrisshafte Konturierung der Bedeutung von »Patriotismus« gelingen. Im zweiten Abschnitt wird diskutiert, wie sich Patriotismus und Nationalismus zueinander verhalten. Jene umfassende Diskussion wird auf einige wenige Aspekte reduziert, die zu einer weiteren Konturierung des Konzepts »Patriotismus« allerdings unerlässlich sind. Im dritten Abschnitt wird eine Variante des Patriotismus besprochen, die mit der deutschen Geschichtserfahrung aufs engste verbunden ist. Es ist dies der von Dolf Sternberger skizzierte und von Habermas in seinen politisch-philosophischen Schriften vertiefte Begriff des »Verfassungspatriotismus«. Zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Patriotismus wird sodann im vierten Abschnitt darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorstellungen, ein Patriotismus sei notwendig, um die im liberalen Rechtsstaat reduzierte soziale Bindung und damit auch die Einsicht in Bürgerpflichten zu verstärken, in die Irre führen. Jene Position beruht auf einer Fehleinschätzung sowohl des Patriotismus als auch der Rolle von Pflichten in einer Demokratie. Im fünften Abschnitt wird das Verhältnis von Kosmopolitismus und Patriotismus erörtert. Anlass gibt die philosophiehistorisch erprobte Vorstellung, Prüfstein für tragbare Formen des Patriotismus sei eine moralische Konzeption des Weltbürgertums. Im sechsten Abschnitt werden die Erörterungen mit Rücksicht auf die Konzeption des geräumigen Bürgerstatus ausgewertet. 7.1 Patriotismus  : eine Tugend  ? Noch vor Jahrzehnten wäre die Antwort auf die Frage, was ein Patriot ist, auch in Mitteleuropa einfach gewesen. Sie hätte gelautet  : Ein Patriot ist ein Mensch, der bereit ist, für sein Vaterland zu sterben. Heute sind Patriotismus und extreme Formen der Ergebenheit gegenüber der otismus« in der politischen Philosophie angestoßen zu haben. Seine grundlegende Frage war, ob Formen des Patriotismus, wie sie uns in der antiken Welt begegnen, in der heutigen Demokratie lebbar sind.

Patriotismus  : eine Tugend  ?

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eigenen Nation nicht notwendig aufeinander bezogen. Patriotismus wird lebendig in internationalen Turnieren und Sportevents, Ausdruck findet er auch im Stolz auf Produkte »made in Germany« oder »made in usa«. So gilt es auch anzuerkennen, dass »deutscher Patriotismus […] sehr klare Grenzen [hat]. Es ist eine Sache […], stolz auf VivilPfefferminzbonbons und Nivea-Creme zu sein  ; aber eine ganz andere, den eigenen Sohn in der Schlacht zu verlieren.«281 Trotz der Möglichkeit einer solchen Einschätzung des heutigen Patriotismus sei davor gewarnt, patriotische Anwandlungen zu verharmlosen. Dass selbst ein kulturalistisch ausgelebter Patriotismus keinesfalls oberflächlich sein muss, belegen die andauernden Auseinandersetzungen um die Grenze zwischen dem Patriotismus und einem kulturalistisch gefütterten Nationalismus. Zudem kann auch ein neuerliches Erwachen jener Formen des Patriotismus nicht übersehen werden, die jegliche vernünftige Einhegung missen lassen. Ein Patriotismus kann in Ideologien des Nationalismus umschlagen – einem Phänomen, mit welchem wir heute ebenso konfrontiert sind wie vor Jahrzehnten.282 Die politische Philosophie muss zuallererst an einer begrifflichen Klärung des Phänomens »Patriotismus« interessiert sein. Einen möglichen Ansatzpunkt bietet Alasdair MacIntyre. Er analysiert die Vaterlandsliebe im Kontext von Überlegungen zur Diskrepanz zwischen politischen Gesellschaften der Antike und heutigen Formen politischer Organisation. Im Gegensatz zum Stolz auf die Kultur eines Landes und auch im Gegensatz zu Formen der Zivilisation, denen bewundernde Anerkennung gezollt wird, ist ein Patriotismus erstens dadurch bestimmt, dass er nur gegenüber jenem Land möglich ist, dessen Staatsangehörigkeit man innehat.283 Nach MacIntyre hat jeder beispielsweise die Möglichkeit, sich mit Formen der französischen Zivilisation zu iden281 Boyes 2007, S. 23. 282 Vgl. Ignatieff 1993. Ignatieff untersucht Formen des Nationalismus, wie sie in Osteuropa in den 1990er-Jahren aufkeimten. 283 Vgl. MacIntyre 1995b, S. 210.

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tifizieren  ; um ein französischer Patriot zu sein, ist es jedoch notwendig, ein Franzose zu sein.284 Diese Festlegung schließt nicht aus, besondere Formen der Loyalität gegenüber anderen Ländern zu empfinden – nur sind dies eben keine Formen eines Patriotismus. Mit der Eingrenzung auf das Land der jeweiligen Staatszugehörigkeit wird der Patriotismus zwar nicht auf das Geburtsland festgelegt, wohl aber auf Formen politisch autorisierter Zugehörigkeit. Zweitens ist ein Patriotismus auch dadurch bestimmt, dass er sich nicht nur allgemein auf das eigene Land, sondern auf besondere Eigenschaften, Verdienste und Leistungen desselben bezieht, die als solche wertgeschätzt werden.285 Ein Element dieser Bestimmung ist, dass die Gegenstände des vaterländischen Stolzes auch als solche benannt werden können. Drittens ist der Patriotismus eine Tugend, die eingereiht werden kann in die Liste solcher Tugenden, die bestimmte Formen der Loyalität zum Ausdruck bringen.286 Freundschaft, Liebe gegenüber der eigenen Familie und Verwandten, Loyalität gegenüber dem eigenen Kricket- oder Baseballclub ist ebenso auf partikulare Merkmale bezogen wie der Patriotismus. Alasdair MacIntyres Bestimmungsversuch ist deshalb als Ansatz für eine Patriotismusdiskussion geeignet, weil er die richtigen Themen anschlägt, zugleich aber inhaltlich umstritten ist. Was das Verhältnis von Zugehörigkeit und Vaterlandsliebe angeht, so wird von Vertretern einer neo-republikanischen Position betont, die Gleichheit vor dem Gesetz und die damit einhergehende Freiheit des Bürgers sei konstitutiv für die Haltung eines Patrioten, nicht jedoch der Bezug auf Eigentümlichkeiten eines Landes, die sich auch aus seiner Geschichte ergeben. MacInytre vertritt die Position, ein Patriotismus sei in Zeiten nationaler und artifiziell geschaffener Mythen ebenso wenig möglich wie in Zeiten eines bürokratischen Verwaltungsstaates.287 Nach Maurizio Viroli dagegen ist 284 Vgl. ebd. 285 Vgl. ebd. 286 Vgl. ebd., S. 210–211  ; 1995a, S. 338. 287 Vgl. MacInytre 1995b, S. 225.

Patriotismus  : eine Tugend  ?

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ein Patriotismus ausschließlich bezogen auf die Werte der Freiheit, die in einer Republik kraft Gesetz allen Bürgern zuerkannt werden.288 Für Formen einer republikanischen Staatsverfassung gilt dies ebenso wie für andere historische Erscheinungsformen eines freien Landes. Wer eine solche Lesart des Republikanismus vertritt, wird allerdings mit dem Vorwurf konfrontiert, mit einem stark idealisierten Bild von Republiken arbeiten zu müssen. Nur wer die Augen verschließt vor der Geschichte der römischen Republik und auch den Grausamkeiten der kriegerischen Auseinandersetzungen sowohl im antiken Griechenland als auch zwischen den italienischen Stadtstaaten des 15. Jahrhunderts, kann die patriotische Haltung des Bürgers freier Republiken als Liebe zur Freiheit stilisieren.289 Was aber bleibt als Gehalt des Patriotismus, wenn es weder die liebgewonnenen Eigenschaften einer gewachsenen politischen Gemeinschaft, noch ausschließlich der Wert politischer Freiheit ist  ? MacIntyre hat seine These des Vaterlandsbezuges dahingehend konkretisiert, dass ein Patriotismus nicht auf eine politische Institution bezogen ist, sondern auf eine politische Gemeinschaft. Nur dank dieses Bezuges kann das Verhältnis zum Vaterland überhaupt eine affektive Seite haben. Menschen fühlen sich in affektiver Weise Menschen verpflichtet, nicht jedoch politischen Organisationen. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem. Wie MacInytre zu Recht bemerkt, ist ein affektiver Bezug auf die eigene politische Gemeinschaft kaum denkbar, ohne auch in Konflikten zwischen Staaten und um weltweite Ressourcen einen selbstbezüglichen Standpunkt einzunehmen. Dies bedeute jedoch nicht, Patriotismus sei letztlich eine Untugend. Vielmehr kann der Patriotismus auch als eine Vorstufe zu einer moralischen Haltung interpretiert werden. Aus der Liebe des Eigenen kann eine universelle Liebe erwachsen.290 288 Vgl. Viroli 1995. 289 Vgl. Yack 1998. 290 Vgl. MacInytre 1995b, S. 218.

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Trotz solcher Erweiterungsversuche bleibt der Stellenwert eines Patriotismus in modernen politischen Gemeinschaften fraglich. MacIntyre räumt ein, dass unter Bedingungen heutiger staatlicher Verfasstheit politischer Gemeinwesen kaum Möglichkeiten einer Wiederbelebung gegeben sind.291 Noch Henry Sidgwick handelt den »patriotism« in seiner Ethik als eine Tugend ab, wenn er ihn als eine Spielart der »Wohltätigkeit« (»benevolence«) auseinandersetzt.292 Kann dies aber überzeugend auch für Erscheinungsformen des Patriotismus in Nationalstaaten und unter Bedingungen einer zusammenwachsenden Welt dargestellt werden  ? Unter heutigen Bedingungen einer nicht primär durch staatliche Zugehörigkeiten definierten Welt des Austausches der Menschen untereinander spricht vieles dafür, den Patriotismus als ein mehr oder weniger spontanes Gefühl, als einen Affekt, nicht jedoch als eine Tugend, zu begreifen. Zudem ist es fraglich, ob die politische Gemeinschaft unserer Tage eine Form hat, welche den Bezug auf sie als eine Treuetugend überhaupt möglich machen würde. Eine patriotische Einstellung wäre dann aber auch keine eingeübte Haltung. Vielmehr wäre sie ein Gefühl, das dann aufflammt, wenn sie gereizt oder gefordert wird. Anders als andere bürgerliche Tugenden  – so etwa die Bereitschaft, Verantwortung für ein politisches Gemeinwesen zu tragen, oder Haltungen der bürgerlichen Integrität  – ist der Patriotismus auch nicht durch Training und Übung zu erwerben, geschweige denn durch eine Erziehung zum Patrioten. Er scheint eher das Produkt eines Umfeldes zu sein, das in ganz unterschiedlicher Weise zu einer patriotischen Einstellung beitragen kann. Was trotz einiger Kritik an MacIntyres Vorschlag bleibt, ist erstens die Festlegung darauf, dass Patriotismus eine nicht-rationale Einstellung ist, die eine nicht nur legale, sondern auch gefühlte Zugehörigkeit zu einem Land beinhaltet. Zweitens ist ein Patriotismus insofern 291 Vgl. MacIntyre 1995a, S. 338. 292 Vgl. Sidgwick 1981 [1874], S. 252.

Patriot, nicht Nationalist

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immer ein partikulares Phänomen, als er sich auf Besonderheiten des wertgeschätzten Landes bezieht. Die Diskussion darüber, wie sich Bürgerstatus und Patriotismus zueinander verhalten, kann jedoch nicht geführt werden als Erörterung einer bürgerlichen Tugend. Andere Möglichkeiten müssen erwogen werden. Zuvörderst ist zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, den Patriotismus als positive Haltung zu bestimmen  – eine Möglichkeit, die im Versuch der Unterscheidung zwischen dem Patrioten und dem Nationalisten gesucht wird. 7.2 Patriot, nicht Nationalist Ein Patriot kann von einem Nationalisten unterschieden werden. Gelänge zwischen beidem eine deutliche Grenzziehung, wären auch Möglichkeiten gefunden, jene Formen des Patriotismus herauszufiltern, die – wenn schon nicht als Tugenden – so doch als ungefährliche Varianten einer Hinwendung zum Vaterland gelten könnten. So wichtig die Auseinandersetzung mit Versuchen dieser Art ist, eine einfache Möglichkeit der Grenzziehung bietet sich nicht. Aus wertender Perspektive stellt sich heraus, dass der Nationalismus selbst ein umstrittenes und ambivalentes Phänomen ist. So wird neuerlich auch erörtert, ob es Formen eines aufgeklärten Nationalismus gibt, die politisch nicht nur harmlos sind, sondern gewinnbringend.293 Zwar wird eingeräumt, dass es eine Interpretation der Nation gibt, die für solche Fragen keinen Raum lässt. Daraus aber abzuleiten, dass ein Nationalismus immer die Negativseite eines Patriotismus sein muss, scheint voreilig. Geht es um die Verständigung darüber, was der Gehalt des Bürgerstatus ist, so muss der Bezug auf die Nation in einer weiteren Perspektive berücksichtigt werden. Wohlgemerkt geht es nicht schon um die 293 Vgl. Miller 1995. Miller versucht, eine Variante des Nationalismus zu porträtieren, die als »aufgeklärter Nationalismus« mit Idealen des liberalen Staates verträglich ist. Dabei bezieht er sich vor allem auf eine Tradition des Denkens über die Nation, wie sie im anglo-amerikanischen Lebensraum verbreitet ist.

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Bestimmung eines Nationalisten oder des Nationalismus, sondern um die Nation. Gleichwohl ist es wichtig zu bemerken, dass der Staatsbürgerbegriff auf die Nation in besonderer Weise bezogen bleibt. Eine Nation ist ein Verband von Menschen, die ein gemeinsames kulturelles Erbe und eine gemeinsame Abstammungsgeschichte teilen. Nationen sind historisch gewachsene Gebilde, deren Elemente nur schwer bestimmt werden können. Wird die These vertreten, Nationalstaaten seien mindestens in Westeuropa aus Nationen, also Völkergemeinschaften, erwachsen, ist bis heute die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat von diesem Umstand geprägt. Nach Habermas hat »[d]ie Nation […] zwei Gesichter. Während die gewollte Nation der Staatsbürger die Quelle für demokratische Legitimation ist, sorgt die geborene Nation der Volksgenossen für soziale Integration. Staatsbürger konstituieren aus eigener Kraft die politische Assoziation von Freien und Gleichen  ; Volksgenossen finden sich in einer durch gemeinsame Sprache und Geschichte geprägten Gemeinschaft vor. In die Begrifflichkeit des Nationalstaates ist die Spannung zwischen dem Universalismus einer egalitären Rechtsgemeinschaft und dem Partikularismus einer historischen Schicksalsgemeinschaft eingelassen.«294 Zwar ist auch diese Einschätzung umstritten. Mindestens zeigt sie aber, dass bereits mit dem Konzept der Nation vorsichtig umgegangen werden muss. Dies gilt in weitaus deutlicherem Maße für die Verständigung über den »Nationalisten«. Ein Abgrenzungsversuch zwischen Patriot und Nationalist führt zwar nicht zu einer Bestimmung beider, kann aber dennoch einen grundlegenden Unterschied erhellen. Ein Patriot kann auf vieles verzichten, was für einen Nationalisten notwendig erscheint. Aus unterschiedlicher Erklärungs- und Beschreibungsperspektive ergibt sich, dass ein Nationalist Diskrepanzen zwischen kulturellen Bindungen und politischer Ordnung nicht dauerhaft zulassen und aushalten wird  ; ein Pa294 Habermas 1996a, S. 139.

Vernünftige Formen des Patriotismus

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triot kann dies sehr wohl. Nach Ernest Gellner gilt  : »,Nationalismus‹ ist eine Form des politischen Denkens, die auf der Annahme beruht, dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt.«295 Deshalb kann der Nationalismus als eine Ideologie auftreten, nach welcher die Homogenisierung der Bevölkerung in kultureller und ethnischer Hinsicht notwendig ist. Ausschließungspraktiken mit Rücksicht auf Minderheiten sind Vollzugsformen eines Nationalismus. Für den Patriotismus gilt dies nicht. Es kann somit eine Grenze markiert werden, jenseits welcher nicht mehr von Patriotismus, sondern von anderen Phänomenen gehandelt wird. Mit dem Versuch, eine solche Grenze zu benennen, ist weder ein Definitionsversuch verbunden, noch kann dies schon als eine adäquate Phänomenbeschreibung gelten. Das sehr viel bescheidenere Ziel dieses Ansatzes ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass es überhaupt Möglichkeiten einer Grenzziehung gibt. Die Besprechung des Patriotismus muss, mit anderen Worten, immer berücksichtigen, dass die Möglichkeit des Umschlags in einen Nationalismus stets gegeben ist. So kann auch ein gelebter Patriotismus Elemente enthalten, die über eine unschuldige Identifikation mit dem Vaterland hinausgehen. Yves Bizeul veranlasst dies zu dem Schluss  : »Die entscheidende Frage lautet letztendlich nicht, ob es einen Patriotismus in Reinform geben soll, sondern ob ihm Vorrang vor dem Nationalismus eingeräumt wird oder ob er zu diesem Zwecke instrumentalisiert wird.«296 7.3 Vernünftige Formen des Patriotismus Eine besondere Variante des Patriotismus, die zwischen dem Bedürfnis von Menschen nach Bindung an ihren Staat und der Vorrangigkeit und Nüchternheit eines politischen Rechtssystems vermitteln will, wird »Verfassungspatriotismus« genannt. Geprägt wurde der Begriff 295 Gellner 1999, S. 17. 296 Bizeul 2007, S. 34.

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»Verfassungspatriotismus« von Dolf Sternberger, bevor er von Jürgen Habermas in einer politisch-philosophischen Ausdeutung breite Wirkung erzielen konnte.297 Der Versuch, eine »vernünftige« Form des Patriotismus zu beschreiben, kann auch interpretiert werden als Element der bundesrepublikanischen Suche nach einer neuen Identität nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Sternberger bemüht sich zu zeigen, dass die Verfassung nicht nur Bezugsgröße eines wohl verstandenen Patriotismus sein kann. Vielmehr gilt seine Argumentation dem Nachweis, Patriotismus sei in der europäischen Tradition schon immer und wesentlich auf die Staatsverfassung bezogen gewesen. Der Gegenstand der Liebe zum Vaterland ist nach Sternberger im Wesentlichen der Staat und seine als gemischte Verfassung konkretisierte politische Organisationsform.298 Insbesondere bezieht sich ein politischer Patriotismus auf jene Gehalte des Rechtsstaates, die der Sicherung der Freiheit ihrer Bürger dienen.299 Philosophisch aufgenommen und ausgeführt wurde diese Idee von Habermas in den 1980er-Jahren. Er möchte den Verfassungspatriotismus loslösen von einer konkreten, historisch bestimmten Republik und stattdessen als universale Identifikationsformel für den politischen Bürger etablieren. Wenn vorausgesetzt werden kann, dass es Möglichkeiten gibt, eine politische Kultur von einer »Ebene der Subkulturen und ihrer vorpolitisch geprägten Identitäten«300 zu trennen, hat der Patriot nach Jürgen Habermas ein zugleich affektiv ansprechendes und vernünftiges Objekt. Die politische Kultur eines Landes »kristallisiert sich um die geltende Verfassung. Jede nationale Kultur bildet im Lichte der eigenen Geschichte für dieselben, auch in anderen republikanischen Verfassungen verkörperten Prinzipien – wie Volkssouveränität und Menschenrechte – eine jeweils andere Lesart aus. Auf der Grundlage dieser 297 Vgl. Habermas 1996. 298 Vgl. Sternberger 1990, S. 20. 299 Vgl. ebd., S. 30. 300 Habermas 1996, S. 142.

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Interpretationen kann ein ›Verfassungspatriotismus‹ an die Stelle des ursprünglichen Nationalismus treten.«301 Ein Verfassungspatriotismus basiert also auf der Wertschätzung der jeweils speziellen Ausprägung der in der Verfassung niedergelegten politischen Grundwerte. Dies sind Errungenschaften, die durchaus aus Geschichte und Kultur eines Landes hervorgegangen sind und in einer bestimmten politischen Kultur verwirklicht werden. Modellbildend für einen Verfassungspatriotismus ist der amerikanische Patriotismus. Trotz ethnischer, religiöser und kultureller Vielfalt kann sich dort eine politische Kultur aus den in der Verfassung festgeschriebenen Werten der Gleichheit und Freiheit speisen. Jedoch sei auch angemerkt, dass das Verhältnis amerikanischer Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Land als Ausnahme bewertet werden muss. Andere Kulturen benötigen auch andere Voraussetzungen. Habermas stellt fest, eine wichtige Voraussetzung für den Verfassungspatriotismus sei, dass Bürger den »Gebrauchswert ihrer Rechte auch in der Form sozialer Sicherheit und der reziproken Anerkennung unterschiedlicher kultureller Lebensformen erfahren können«.302 Nun mag es erstaunen, dass gerade von Habermas das Thema »Patriotismus« aufgebracht wird. In seiner politischen Philosophie werden Bürger als mit Rechten versehene Personen verstanden, die als aktive Mitglieder einer deliberativen Öffentlichkeit Politik gestalten und legitimieren. Bürger sind dazu fähig aufgrund ihrer rationalen und ihrer kommunikativen Vermögen. Zwar wird nirgends bestritten, dass Menschen auch in ihren Lebenswelten zu Hause sind. Die deliberative Öffentlichkeit ist keine Verlängerung politischer Institutionen, die ausschließlich dem politischen Diskurs gewidmet wäre, noch ist sie eine Form des Spezialdiskurses, wie er sich in anderen gesellschaftlichen Subsystemen entwickelt.303 301 Habermas 1996a, S. 143. 302 Ebd. 303 Vgl. Habermas 1992, S. 436.

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Habermas nennt für die Reflexion auf den Patriotismus den Grund, es ergebe sich die Notwendigkeit aus einer theoretisch-praktischen »Lücke« in der politischen Theorie  : »In der rechtlichen Konstruktion des Verfassungsstaates besteht eine Lücke, die dazu einlädt, mit einem naturalistischen Begriff des Volkes ausgefüllt zu werden.«304 Denn aus normativer Warte kann nicht festgelegt werden, wie sich die Grundgesamtheit der Bürger konstituiert  : »Normativ betrachtet, sind die sozialen Grenzen einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen kontingent.«305 Da bietet es sich an, die »Herkunft« als Substitut für diese Zufallsoffenheit gelten zu lassen. Wird die »Lücke« nicht politisch gezielt gefüllt, kann damit jedoch einem Nationalismus Tür und Tor geöffnet werden, so insbesondere in der Aufbereitung der Volksherkunft in »nationalen Mythen« – egal ob in wissenschaftlicher Form oder als propagandistische Vermittlung.306 Auch wegen dieser Gefahr ist es ratsam, durch die Einführung eines aufgeklärten Patriotismus jene Lücke zu füllen, die durch eine rechtliche Konstruktion des Bürgerstatus entstanden ist. Während die von Habermas konstatierte Wünschbarkeit bestimmter Formen des Patriotismus – so er denn eine vernünftige Form annimmt – aus einer Reflexion auf die lebensweltliche Seite des Politischen resultiert, sehen andere Autoren der politischen Philosophie die Notwendigkeit einer aktiven Wiederbelebung des Patriotismus aus anderen Gründen. Sie halten den Patriotismus für notwendig mit Rücksicht auf die Lebensbedingungen liberaler Demokratien. Dabei steht der Verlust an Gemeinwohlorientierung der Bürger im Vordergrund. Mit Rücksicht auf das Thema Patriotismus wird Charles Taylor deutlich, wenn er auf die hohen Anforderungen demokratischer Gesellschaften hinweist und feststellt  : »Die Gesellschaften, die wir zu schaffen versuchen – frei, demokratisch, gewillt, bis zu einem gewissen Grad gleichermaßen zu 304 Habermas 1996, S. 139. 305 Ebd., S. 140. 306 Vgl. ebd.

Was nützt der Patriotismus  ?

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teilen – fordern eine starke Identifikation seitens ihrer Bürger.«307 Für Taylor bedeutet dies  : »[O]hne Patriotismus kommen wir in der modernen Welt nicht aus.«308 Eine patriotische Haltung hilft jene Bindungen aufzubauen und zu vertiefen, die für das Funktionieren einer Demokratie notwendig sind – zumal dann, wenn Bürgerbeteiligung und Solidarität keine Floskeln sind, sondern Säulen, auf denen eine Demokratie ruht. Patriotismus schafft Bindung. Allerdings kann und soll keine exklusive Form der Identitätsbildung vertreten werden. Vielmehr vertritt Taylor eine Theorie des »pluralistischen Patriotismus«, nach welcher Staaten zwar »eine homogene Identität und Zugehörigkeit fördern«, dies jedoch nicht auf Kosten anderer Zugehörigkeiten erstreben.309 Statt dass das Thema Patriotismus in der heutigen politischen Philosophie verabschiedet wurde, taucht es an unvermuteter Stelle wieder auf. Wenn Bürgerinnen und Bürger keine Bindung gegenüber dem eigenen Land mehr empfinden, ist das Projekt »liberaler Staat« gefährdet. Deshalb scheint es vernünftig, über Formen des Patriotismus nachzudenken, die für eine soziale Bindung sorgen, ohne dabei den Preis zu fordern, den ein Wiedererwachen des Nationalismus fordern würde. In den folgenden Abschnitten möchte ich zunächst diesen Gedankengang in kritischer Absicht untersuchen. Dann soll gefragt werden, ob es tatsächlich jenen nun schon mehrfach geforderten »kritischen Test« gibt, der einen verträglichen Patriotismus von jenen Formen unterscheidet, die Bürger zu nationalen Egoismen oder gar Schlimmerem Anlass gäben. 7.4 Was nützt der Patriotismus  ? Die Wiederaufnahme des Themas »Patriotismus« scheint weniger daraus zu resultieren, dass seine Bedeutung für den Bürgerstatus reflektiert 307 Taylor 1996a, S. 119. Hier und im Weiteren meine Übersetzung, A. K. 308 Ebd. 309 Vgl. Taylor 2002b, S. 151.

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wird, als vielmehr daraus, dass seine politische Notwendigkeit festgestellt wird. Aber ist ein Patriotismus wirklich notwendig  ? Zunächst kann festgehalten werden, dass im Kontext der politischen Philosophie mit Rücksicht auf das berechtigte Anliegen, die Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu einem politischen Gemeinwesen zu stärken, auf andere Möglichkeiten verwiesen werden kann. Vorschläge dazu wurden erarbeitet. Dass Bürger ihre Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen nicht anerkennen und wahrnehmen, wird gemeinhin darauf zurückgeführt, dass der Bürgerstatus in liberalen Demokratien durch ein umfangreiches Set von Rechten definiert ist. Mit Rechten korrespondieren nicht zwangsläufig Pflichten, wenn Rechte – wie im Bürgerstatus gegeben – bedingungslos zugeschrieben werden. Fehlende Bindungen des Bürgers an sein Land und eine fehlende Bereitschaft zum eigenen Beitrag für das Gemeinwohl resultieren mithin aus einer falschen Festlegung des Bürgerstatus. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Interpretation des Verlusts einer aktiven Haltung des Bürgers gegenüber seinem Gemeinwesen jedoch als korrekturbedürftig. Dass Rechte bedingungslos zuerkannt werden, ist nicht gleichbedeutend damit, dass Rechte keine Pflichten nach sich ziehen. Eine Möglichkeit, diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, kann bei den Bedingungen der Zuschreibung von Rechten ansetzen. Wie Charles Taylor erläutert, gründet die Zuschreibung von Rechten letztlich auf anthropologischen Befunden und deren moralischer Interpretation.310 Ein Recht auf freie Meinungsäußerung kann nur dann anerkannt werden, wenn auch vorausgesetzt werden darf, dass Menschen die Fähigkeit zu Meinungsäußerung haben und sie als wertvolle Fähigkeit interpretiert wird. In diesem Beispiel setzt die Zuschreibung eines Rechts eine Bestimmung und Bewertung wesentlicher Fähigkeiten des Menschen voraus. Das Recht drückt die normative Perspektive aus, dass es gut ist, gerade diese Eigenschaft 310 Vgl. Taylor 1985, S. 192–196.

Was nützt der Patriotismus  ?

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zu entwickeln. Wer dies akzeptiert, erkennt auch die Verpflichtung an, die Entwicklung dieser Fähigkeit zu unterstützen.311 Für die Anerkennung von Rechten bedeutet dies, dass sie nicht ohne Verpflichtung zur Unterstützung der entsprechenden Voraussetzungen gedacht werden können. Wer das Recht auf freie Meinungsäußerung bejaht, kann nicht umhin, auch eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu befördern, welche die Ausübung des Rechts ermöglicht. Dazu müssen alle Bürgerinnen und Bürger beitragen. Wenn dieser Argumentation jedoch nicht gefolgt wird, ergibt auch eine Analyse des Verhältnisses von Rechten und Pflichten ein vergleichbares Ergebnis. Wenn der Schluss zulässig ist, dass die in Grundrechten geschützten Möglichkeiten menschlichen Lebens nicht ohne eine Zivilisation möglich sind, in welcher eben diese Eigenschaften gefördert werden, so führen auch die »primacy-of-rights theories« unmittelbar zu einem Pflichtenkanon für das Gemeinwesen. Jeder ist aufgefordert, jene Einrichtungen und jene Kultur zu unterstützen, die ein Leben gemäß den Grundrechten erst ermöglicht. Ein pflichtenfreier politischer Liberalismus beruht auf einer Missdeutung seiner Grundlagen. Auch in einer weiteren Hinsicht ist die Neuauflage der Forderung nach patriotischen Haltungen nicht alternativlos. In neo-republikanischen Ansätzen der politischen Philosophie wird zunehmend daran erinnert, dass der Bürgerstatus nicht denkbar ist ohne Bürgertugenden. Vertreter eines neuen Republikanismus erinnern daran, dass auch in der Tradition der Republik eine Identifikation von Bürgern mit ihrem politischen Gemeinwesen wichtig war. Bürgertugenden drücken die Bereitschaft aus, das politische Geschehen so mitzugestalten, dass es dem Gemeinwohl zuträglich ist. Auch aus dieser Perspektive ist eine Neuauflage des Patriotismus verzichtbar. Allerdings ist es eine Schwäche des Tugenddiskurses, dass die Funktionen von Bürgertugenden, nicht jedoch deren Gehalte, relativ klar 311 Vgl. ebd., S. 194–195.

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beschrieben werden. Politische Tugend stärkt etwa die Regenerationskräfte einer politischen Gemeinschaft, ohne sie wäre Sittenverfall und Korruption nicht aufzuhalten.312 Bürgerliche Tugend verhilft der Grundlage einer politischen Gemeinschaft in Gestalt der Anerkennung eines jeden anderen als Gleichen zu politischer Wirklichkeit.313 Und Bürgertugend verhilft dem politischen Raum zu neuem Leben.314 Eine konkrete Erörterung der einzelnen Tugenden wird dagegen vernachlässigt. Dann würde deutlich, dass die Liste republikanischer Bürgertugenden nicht auskommt ohne Tugenden des Kämpfermutes und der Bereitschaft, für das Vaterland in die Schlacht zu ziehen und die Republik zu verteidigen. Nicht-Korrumpierbarkeit des Bürgers und Bereitschaft zu aktiver Beteiligung am politischen Geschehen dürften die harmloseren Beispiele in der Liste der klassischen Bürgertugenden sein. Mit Rücksicht auf Versuche, Bürgertugenden wiederzubeleben, ergibt sich zudem ein der Patriotismusdiskussion vergleichbares Problem  : Wie kann in der Auflistung der Bürgertugenden auf jene Elemente verzichtet werden, die einer anderen Epoche anzugehören scheinen  – so insbesondere die Bereitschaft zu kriegerischer Auseinandersetzung inklusive der kriegerischen Tugenden des unbedingten Einsatzes und Mutes  ? Deutlich wird gleichwohl, dass an der Stelle des Patriotismus andere Haltungen des Bürgers als entscheidend beurteilt werden können für die Erhaltung eines politischen Gemeinwesens. Eine notwendige Ergänzung politischer Institutionen ist nicht notwendig eine dem Vaterland zugetane Haltung. Vielmehr setzt die politische Lebensform eine Bereitschaft und den Willen zur Gestaltung der Politik und der Gegenstände allgemeinen Interesses voraus. Dieser kann in der Anerkennung politischer Pflichten, aber auch in Tugenden und einer Haltung des Respekts seinen Ausdruck finden. 312 Vgl. Münkler 1992, S. 39–40. 313 Vgl. Sunstein 1988. 314 Vgl. Sandel 1996, S. 332.

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7.5 Patriotismus in Grenzen des Weltbürgertums So sehr vor einem erneuten Erwachen des Nationalismus und nationalstaatlicher Egoismen gewarnt werden muss, so prägend ist auch eine ganz andere Perspektive auf den Bürgerstatus – und damit auch auf das Phänomen des Patriotismus. Bürger von heute sind mehr denn je Bürger der einen Welt. Weltweiter Handel, die Entwicklung telekommunikativer Möglichkeiten, das Ausmaß von Migration, multikulturell geprägte Metropolen und durchmischte Gesellschaften tragen dazu bei, dass der Bürger von heute ein Weltbürger ist. Solche Perspektiven auf das Weltgeschehen verleiten zu der Diagnose, der Patriotismus sei ohnehin ein Phänomen, das dem geschichtlichen Verfall ausgesetzt ist. Ob diese Perspektive richtig ist und ob Bürgerinnen und Bürger von heute tatsächlich Weltbürger sind, ist schwer zu beurteilen. In reichen Ländern der westlichen Welt wird sich manch einer finden, der einem lebensweltlichen Kosmopolitismus zugetan ist. Jeremy Waldron stellt fest, dass sich jenseits der Debatten um die Angemessenheit eines weltbürgerlichen Verständnisses der Lebensweise längst ein »hybrider Lebensstil« etabliert hat.315 Es sei keine Frage, dass die Gemeinschaften, denen Menschen heute verbunden sind, weder primär die politische Gemeinschaft der Staatsbürger, noch diejenige der örtlichen Gemeinschaften sei. Vielmehr seien es beispielsweise die internationale Gemeinschaft der Gelehrten, die »scientific community«, die Menschenrechtsgemeinschaft, Künstlerverbände oder etwa die Frauenbewegung, denen Menschen sich verbunden fühlen.316 Auch die prägenden kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften seien keine nationalstaatlichen Phänomene, sondern existieren schlichtweg »in der Welt«.317 315 Vgl. Waldron 1995, S. 100. 316 Vgl. ebd., S. 102. 317 Vgl. ebd., S. 103.

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Jedoch könnte dies die Perspektive eines Mitglieds einer besonders privilegierten Elite sein. Aus anderer Warte gibt es ein Weltbürgertum auch heute nicht. Vielmehr ist unsere Welt von Grenzen geprägt, die zunehmend dichter werden. Die Europäische Union hat Formen der Grenzkontrolle etabliert, welche auch dem Ziel dienen, Grenzen dicht zu machen. Keine Woche vergeht, in der »Frontex« nicht Flüchtlinge aus Afrika aufgreift  – lebend oder bereits verstorben. Auch die zunehmende Zahl an Wirtschaftsmigranten wird sich nicht unmittelbar mit dem Ideal des Weltbürgertums identifizieren lassen. Vielmehr ist das Leben zwischen den Grenzen als Schicksal zu begreifen, das von einem globalen Markt diktiert wird. Für unsere Frage, ob und in welcher Form der Patriotismus Bestandteil des Bürgerseins ist, muss der tatsächliche Sachstand nicht beurteilt werden. Gegenstand der Diskussion ist vielmehr, ob es Argumente dafür gibt, dass der Kosmopolitismus an die Stelle des Patriotismus treten kann oder gar treten sollte. Vor mehr als 200 Jahren hat Immanuel Kant dafür argumentiert, dass für die Vorstellung einer friedlichen Welt und letztlich auch für einen friedlichen Staat das Weltbürgertum eine notwendige Voraussetzung ist.318 Die kantische Vorstellung einer friedlichen Welt ist, zumal zu seiner Zeit, eine radikale Vision. Vor allem beinhaltet sie das Argument, dass der Bürgerstatus dann, wenn er als Alternative zur Situation eines gesetzesfreien Naturzustandes gedacht wird, nicht ohne ein Weltbürgerrecht gedacht werden kann. »Denn wenn nur einer von diesen [d. i. Menschen und Staaten, die Vf.in] im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andern, und doch im Naturzustande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges verbunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist.«319 Zwar lässt die Einsicht in die Notwendigkeit weltumspannender Rechtsverhältnisse nicht die Forderung nach einem Weltstaat zu  – 318 Vgl. Kant 1983b. 319 Ebd., S. 203, Anm. [BA 19].

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eine Vorstellung, die auch von Kant abgelehnt wird. Aber sie beruht auf der Einsicht, ein auf Freiheit und Gleichheit basierendes Ideal bürgerlichen Lebens könne nicht als auf eine Personengruppe beschränkt gedacht werden. Solange jene normativen, in der Moralphilosophie verankerten Vorstellungen als grundlegend erachtet werden, sind Bürger immer zugleich ideell auch Weltbürger. Eine Frage, die sich aus dieser Vorstellung für das Thema Patriotismus ergibt, ist diejenige, ob es gelingt, eine patriotische Einstellung dadurch einzuhegen und letztlich auch ungefährlich zu machen, dass sie mit einer weltbürgerlichen Einstellung nicht nur verträglich ist, sondern dieser auch zuträglich ist. Im verbleibenden Teil dieses Kapitels soll diese Frage erörtert werden. Die Frage nach dem Verhältnis von Patriotismus und Kosmopolitismus ist jüngst erneut in der amerikanischen politischen Philosophie erörtert worden. In einem provozierenden Beitrag zum Thema Patriotismus und Weltbürgertum wendet sich Martha C. Nussbaum gegen die Möglichkeit eines mit bürgerlichen Idealen verträglichen Patriotismus. Sie plädiert stattdessen für eine weltbürgerliche Erziehung, die Studenten und Schülern vermitteln soll, dass sie Bürger der einen Welt sind – und erst in zweiter Linie Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika.320 Der Weltbürger ist nach Nussbaum eine moralische Konzeption, die nicht erst von Kant, sondern schon in der Antike entwickelt wurde. Weltbürger zu sein bedeutet, »wir sollten menschliches Leben, wo immer es vorkommt, reorganisieren und die primäre Zugehörigkeit und den primären Respekt seinen fundamentalen Elementen zuerkennen, nämlich Vernunft und moralischer Fähigkeit«321. Zwar lässt sich auch nach Nussbaum daraus weder ableiten, dass politische Gemeinwesen zugunsten eines Weltstaates umorganisiert werden müssen,322 noch werden Menschen aufgefordert, ihre lokalen und partikularen Bindun320 Vgl. Nussbaum 1996, S. 6. 321 Ebd., S. 7. Hier und im Weiteren meine Übersetzung, A. K. 322 Vgl. ebd., S. 8.

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gen aufzugeben.323 In Konsequenz einer weltbürgerlichen Perspektive lassen Nussbaums Forderungen für einen Patriotismus allerdings keinen Raum. Schon in der Erziehung muss gelehrt werden, dass jeder Mensch Würde und Respekt verdient. Nussbaum geht sogar einen Schritt weiter, wenn sie feststellt, eine »beliebte Übung in diesem Prozess weltbürgerlichen Denkens ist es, die ganze Welt der Menschen als einen einzelnen Körper vorzustellen, seine vielen Menschen als ebenso viele Glieder«324. Es liegt nahe zu denken, diese Metapher sei bewusst und gegen Vorstellungen der Staatszugehörigkeit gemünzt, in denen Staat und Volk als ein Organismus gekennzeichnet werden. Gegen Nussbaums Vorschläge ist eingewendet worden, sie unterschätze die Notwendigkeit, moralische Forderungen auch lebbar zu machen. Statt rigoroser moralischer Forderungen werden Gehalte benötigt, welche die Vorstellungskraft und das Herz berühren. Benjamin Barber stellt fest, dass ohne eine symbolische Vermittlung die starken Forderungen eines moralischen Weltbürgertums an ihrer Magerheit (»thinness«) scheitern werden.325 Auch fragt sich, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, die Grenze der Loyalität auf die Menschheit auszudehnen. Die Erfahrung lehrt, dass wir eher bereit sind, Verwandte und Freunde und eventuell noch den Mitbürger zu unterstützen als den »Fremden«.326 Gegen dieses Argument kann jedoch eingewendet werden, es beruhe auf einer mangelnden Differenzierung. Amartya Sen macht geltend, dass eine »fundamentale Zugehörigkeit« (»fundamental allegiance«) doch keineswegs verwechselt werden dürfe mit einer »exklusiven Zugehörigkeit« (»exclusive allegiance«).327 Nussbaum gehe es nicht darum, Menschen dazu aufzufordern, ihre lokalen Zugehörigkeiten aufzugeben. Vielmehr geht es darum, jene schwerwiegende 323 Vgl. ebd., S. 9. 324 Ebd., S. 10. 325 Vgl. Barber 1996, S. 33–34. 326 Vgl. Glazer 1996, S. 63. 327 Vgl. Sen 1996, S. 112.

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Vernachlässigung zu korrigieren, die darin besteht, nur diejenigen Interessen von Menschen zu berücksichtigen, die durch Bande der Verwandtschaft, Gemeinschaft oder Nationalität zu uns in direkter Beziehung stehen.328 Auch nach solchen Korrekturen ergibt sich aus Nussbaums Einwurf zum Thema »Patriotismus« ein wichtiger Aspekt. Denn bewirkt der Patriotismus, dass die Berücksichtigung der berechtigten Interessen von Nicht-Mitbürgern kein Gehör mehr findet, so ist er mit dem Bürgerideal, das mit Rücksicht auf seine Bestimmung des Bürgers als Freier und Gleicher ein universelles Ideal ist, nicht verträglich. Genau diesen Punkt ruft Nussbaum in Erinnerung, wenn sie auf die Tradition eines moralischen Weltbürgertums hinweist. Konsequenterweise muss eine solche Vorstellung dann auch mit moralischen Argumenten verteidigt werden. Ohne Annahmen darüber, was ein jeder Mensch unabhängig von gegebenen Lebensumständen für sich einklagen darf, wird ein solches Argument nicht auskommen.329 Ein moralischer Kosmopolitismus muss unterschieden werden von einem heute durchaus verbreiteten Weltbürgertum der Herzen einerseits und einem – oft gezwungenermaßen – gelebten Weltbürgertum andererseits. Die Biografien mit Migrationshintergrund nehmen in der Welt von heute zu. Und manch einer mag die ethnische und kulturelle Durchmischung von Städten und Gesellschaften als gewinnbringend erachten. So kann der »kosmopolitische Patriot die Möglichkeit einer Welt erfahren, in welcher jeder ein verwurzelter Kosmopolit ist, besonders verbunden seinem je eigenem Zuhause, mit dessen eigenen kulturellen Besonderheiten, und sich zugleich erfreuen an der Gegenwart anderer, unterschiedlicher Orte, welche anderen, unterschiedlichen Menschen ein Zuhause bieten«330. In einer Welt des gelebten Multikulturalismus kann die kulturelle Bindung des Gegenübers als Berei328 Vgl. ebd., S. 114. 329 Pogge 2002a. 330 Appiah 1996, S. 22.

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cherung und als besondere Herausforderung erfahren werden.331 Ein gelebtes Weltbürgertum kann auch dazu beitragen, dass dann, wenn es um knappe Ressourcen geht oder um nationale Zugehörigkeiten, Begründungslasten verschoben werden. Ein moralisches Weltbürgertum fordert jedoch mehr  : die Anerkennung von Gerechtigkeitsprinzipien, die mit nationalen Egoismen nicht verträglich sind. 7.6 Weltbürger und Bürger zugleich Die Erörterungen in diesem Kapitel haben keine Antwort darauf geben können, ob eine Konzeption des geräumigen Bürgerstatus auch beinhaltet, dass ein Bürger ein Patriot sein sollte. Da der Patriotismus weder als Bürgertugend klassifiziert wurde, noch sein Nutzen für die politische Gemeinschaft ersatzlos ist, noch Versuche der Umwandlung in eine »vernünftige« Haltung gegenüber der politischen Gemeinschaft vollständig überzeugen, ergibt sich kein einfaches Urteil. Fest steht dagegen, dass ein an liberalen Grundsätzen orientierter Staat seinem Bürger keine Gesinnungen vorschreiben darf – auch nicht solche, welche die affektive Bindung gegenüber den Besonderheiten der eigenen Geschichte und Zivilisation betreffen. Dies legt die Forderung nahe, Zugehörigkeitsgefühle und -kulturen zu tolerieren, dafür jedoch Bedingungen zu explizieren. Möglicherweise haben Bürgerinnen und Bürger das Bedürfnis, sich mit ihrem Vaterland, das nicht ihr Geburtsland sein muss, zu identifizieren. Weder eine Vereinnahmung seitens politischer Analyse noch seitens der Politik dienen diesem Ziel. Vielmehr sollte es respektiert werden, dass Bürger eines Landes je eigene Formen der Freude über ihr politisches Gemeinwesen und des Stolzes auf dessen Errungenschaften entwickeln und feiern. Dies bedeutet auch, neue Formen des Patriotismus anzuerkennen, ihnen gegenüber einen kritischen Blick aber nicht zu verlieren. In Deutschland macht sich derzeit ein Klima 331 Vgl. für eine politisch-philosophische Theorie des Weltbürgers Appiah 2007.

Weltbürger und Bürger zugleich

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breit, in welchem Mitglieder der Mediengesellschaft, Politik und Autoren das Wort ergreifen, um für speziell deutsche Werte und für die Möglichkeit eines Deutschen-Stolzes zu werben. Vielleicht ist dies immer noch nur Nachklang der Erlebnisse der Fußballweltmeisterschaft 2007, bei der zum ersten Mal Deutschland in nicht gekanntem Maße mit der deutschen Flagge geschmückt wurde. Vielleicht ist es aber auch mehr. Und dann sei der Einwurf ernst genommen, dass ein Patriotismus nicht nur kritisiert werden kann, weil ihm die Ernsthaftigkeit der letzten Bereitschaft für das Vaterland fehlt. Vielmehr ist eine mögliche Kritik auch, dass ihm eine Aufgabe in der Welt fehlt.332 Ein Patriotismus ist dann respektabel, wenn er zugunsten moralischer Aufgaben im Angesicht einer vielstaatlichen Welt der Verwirklichung des Weltbürgertums dient. Eine Aufgabe der politischen Philosophie bleibt es, kritische Tests zu entwickeln, die es erlauben, jene Formen des Patriotismus zu identifizieren, die sowohl für ein politisches Gemeinwesen als auch für den internationalen Frieden tragfähig sind. An erster Stelle muss diskutiert werden, wo die Grenze zwischen Patriotismus und Nationalismus verläuft und welche Formen des Patriotismus Exklusivität fordern und Hass schüren. Darüber hinaus sollten Bürgerinnen und Bürger ermutigt werden zu einem Kosmopolitismus, der ohne die Annahme grundlegender normativer Gleichheitspostulate nicht verteidigt werden kann. Dieser ist ohne den Versuch einer institutionellen Realisierung von Menschenrechten unvollständig. Derzeit sieht es so aus, als sei die Umsetzung einer politischen Praxis des Weltbürgertums dort am wahrscheinlichsten, wo Menschen beginnen, sich als Mitglieder einer weltumspannenden Risikogemeinschaft zu begreifen. Es bleibt zu hoffen, dass auf diesem Weg eine politische Vernetzung der Weltbevölkerung in Institutionen entstehen wird, die den Willen der Menschen repräsentieren können, und unter der Vorstellung der gleichen Würde eines jeden Menschen ein Zusammenwachsen der Welt bewirken. 332 Vgl. zu dieser Kritik Boyes 2007.

8.

Um w eltbürger

D

ass die menschliche Zivilisation in der heutigen Form die Umwelt schädigt und dass Veränderungen des Klimas eine gravierende Folgeerscheinung sind, wird gegenwärtig kaum mehr bestritten. Gravierende Änderungen der Lebensbedingungen des Menschen und anderer Lebewesen werden auch den Gehalt des Bürgerstatus betreffen. Klimaveränderungen bedingen Veränderungen des Staatsgebiets. Wenn bewohntes Land überschwemmt wird, Wüsten an Ausdehnung zunehmen oder Landwirtschaft wegen extremer Witterungen unmöglich wird, werden Menschen zu Umsiedlung, eventuell sogar zu Migration gezwungen. Aus Perspektive der politischen Philosophie geht es nicht nur um die Analyse solcher Tatsachen. Vielmehr muss erörtert werden, ob der Gehalt des Bürgerstatus einer Anpassung oder gar Neuinterpretation bedarf. In der derzeitigen Diskussion zeichnet sich ab, dass sich zwei Lager zu dieser Fragestellung bilden. Auf der einen Seite stehen jene, die mit dem überkommenen Bürgerkonzept arbeiten möchten. Sie beurteilen die Klimaveränderungen und die Umweltkrise als einen Anlass, die Bürgerkonzeption weiter zu denken und zu vertiefen. Eventuell schließt diese Arbeit auch Korrekturen ein. Eine grundsätzliche Revision ist jedoch nicht notwendig. Demgegenüber steht auf der anderen Seite eine Gruppe von Forschern, die eine Konzeption des »grünen Bürgers« oder des »ökologischen Bürgers« für erforderlich halten. Statt um Veränderungen bestehender Konzepte geht es dieser Gruppe von Denkern um einen neuen Typ Bürgerschaft.333 Gegenüber beiden Möglichkeiten soll in diesem Kapitel eine dritte Möglichkeit vertreten werden. Weder ist es mit einer Erweiterung und Korrektur des überkommenen Konzepts des Bürgers getan  ; noch ist eine grundlegende Revision angebracht. 333 Als Grundlagentext der Debatte vgl. Dobson 2003.

Umweltbürger

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Mit dem »Umweltbürger« wird vielmehr eine Kompetenz bezeichnet, die von anderen Aspekten des Bürgerstatus unabhängig ist, zugleich jedoch deren Korrekturen fordert. So bedingt eine Erörterung dieser Kompetenz, dass andere Elemente vertieft und eventuell korrigiert werden müssen. Eine konsequente Konzeption des Umweltbürgers beinhaltet insbesondere Korrekturen und Vertiefungen mit Rücksicht auf bürgerliche Freiheit, den Wirtschaftsbürger, Aufgaben des Bürgers als solidarischer Partner und als Bildungsbürger. In diesem Kapitel wird im ersten Abschnitt mit einer Erläuterung tatsächlicher Veränderungen begonnen, mit denen mindestens Gruppen von Bürgern konfrontiert sein werden. Diese Erläuterungen dienen als Beleg dafür, dass die Umweltveränderungen den Bürgerstatus nicht unberührt lassen können. Im zweiten Abschnitt wird erläutert, welche Optionen es gibt, den »Umweltbürger« als eine grundsätzlich neue Konzeption des Bürgerstatus zu interpretieren und dennoch eine Kontinuität zwischen alten und neuen Vorstellungen herzustellen. Einem solchen Ziel sind »Erweiterungsstrategien« verpflichtet, die den Rahmen des politischen Liberalismus nicht verlassen. Im dritten Abschnitt kommen Autoren zu Wort, die eine Integration des Umweltbürgers in liberale Konzeptionen wünschen, dies aber nur um den Preis einer grundlegenden Revision des liberalen Konzepts für möglich halten. Sie wollen an erprobten Elementen des Bürgerseins festhalten, erkennen jedoch auch, dass dies nur dann möglich ist, wenn nicht länger individuelle Rechte und Freiheiten des Bürgers und ein zurückhaltender Staat, sondern Verpflichtungen zum Umweltschutz in den Vordergrund treten. Im vierten Abschnitt wird eine Alternative zu den genannten Optionen vorgestellt. Statt zu versuchen, die Bürgerkonzeption so zu verändern, dass sie der herausfordernden Situation gravierender Umweltveränderungen angepasst ist, gilt es zu erörtern, was es bedeutet, Bürger in einer Umwelt zu sein. Anstatt die überkommenen Konzepte zur Vermittlung zwischen Mensch und Natur anzuerkennen, muss erneut gefragt werden, wie Menschen als politische Wesen auf die natürliche Umwelt reagieren

170 Umweltbürger können. Im fünften Abschnitt wird dargelegt, wie der Umweltbürger in eine Theorie des geräumigen Bürgerstatus integriert werden kann. 8.1 Klimawandel und Bürgerstatus Bereits jetzt zeichnen sich Entwicklungen ab, die durch den Klimawandel bedingt sind und Menschen als Mitglieder politischer Gemeinschaften unmittelbar betreffen. Schon heute gibt es Umweltmigranten, die gezwungen sind, ihr nationalstaatlich definiertes Territorium zu verlassen.334 Da nach heutigen Projektionen einige Länder durch Überschwemmungen und andere projektierte Umweltkatastrophen stark betroffen sein werden, ist Umweltmigration kein vernachlässigenswertes Phänomen. Erzwungene Migration ist nur ein Beispiel, an dem deutlich wird, inwiefern durch den Klimawandel Bürger unmittelbar betroffen sind. Auch aus normativer Perspektive ergeben sich Herausforderungen. Wenn der Klimawandel eine lokal stark variierende Verknappung lebenswichtiger Ressourcen bedingt, verschärfen sich bereits vorhandene Gerechtigkeitsprobleme. Insbesondere auch auf internationaler Ebene ergeben sich neue Herausforderungen. Sich der Verantwortung gegenüber klimaverursachten Armutsproblemen zu entziehen, ist nicht nur angesichts der Forderungen eines moralischen Kosmopolitismus unangebracht. Es ist auch gefährlich, da Armut den Frieden bedroht. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr der Klimawandel den Bürgerstatus betrifft, ergibt sich mit Rücksicht auf Formen bürgerlicher Freiheit. Bürgerliche Freiheit ist die durch Gesetze gelenkte Freiheit. Dennoch hat sie unmissverständlich einen Gehalt, der auch den Schutz vor zu viel Lenkung durch die politische Gemeinschaft beinhaltet. Bürger sind frei, ihr Leben zu planen und ihre Wünsche zu verwirklichen, so-

334 Siehe www.ipcc.ch (eingesehen am 11. Dezember 2012).

Erweiterungsstrategien

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lange dies in den Grenzen nicht-schädigenden Verhaltens geschieht.335 Jedoch ergibt gerade diese Einschränkung ein Problem  : Kann bürgerliche Freiheit beispielsweise bedeuten, dass die Luft verschmutzt wird, damit Bürger uneingeschränkt mobil sind, wenn zugleich daraus signifikanter Schaden für andere Menschen entsteht  ? Beinhaltet nicht bereits der Schutz von Leib und Leben des Bürgers, dass lebenswichtige Ressourcen nicht willkürlich zerstört werden  ? Würde dies bejaht, so wäre auch deutlich, dass die Diskussion nicht erst bei solchen Freiheiten beginnt, welche als Freiheit zur eigenen Lebensführung und zur Vergesellschaftung bereits anspruchsvolle Vorstellungen bürgerlicher Freiheit sind. Vielmehr müssen bereits minimale Schutz- und Abwehrrechte Gegenstand der Diskussion sein. 8.2 Erweiterungsstrategien Obwohl die ökologische Ethik inzwischen eine etablierte und mit differenzierter Methodik arbeitende Disziplin innerhalb der praktischen Philosophie ist, wird die Diskussion um ökologische Probleme und die Erörterungen des Bürgerstatus bis heute nur in Ausnahmefällen aufeinander bezogen. In der Regel sind die Erörterungen richtigen Verhaltens gegenüber der natürlichen Umwelt und die Auseinandersetzung um den Bürgerstatus zwei getrennte Diskurse, die mit jeweils eigenen Problemen befasst sind. Ein Grund ist darin zu sehen, dass in der Diskussion des Bürgers danach gefragt wird, wie Menschen als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft interpretiert werden können. Dabei ist der Mensch als ein tätiges Wesen angesprochen, dessen politische Handlungsformen untersucht werden. Eine Forderung der ökologischen Ethik dagegen ist es, gegenüber einer zunehmend geschädigten Natur Zurückhaltung zu üben. Der Verweis auf die Unvereinbarkeit dieser beiden Perspektiven auf menschliches Verhalten ist zumindest eine Möglichkeit, die Kluft zwischen beiden Diskursen zu erklären. 335 Siehe dazu das Kapitel 2  : »Der Freie«.

172 Umweltbürger Eine weitere Ursache für die Kluft zwischen Überlegungen zum Umweltschutz und politischen Konzeptionen des Bürgers kann darin gesehen werden, dass praktische Lösungen für die Umweltproblematik zunächst auf institutioneller, nicht jedoch auf individueller Ebene gesucht werden. Die Staatengemeinschaft ist gefordert, wenn es um den Klimawandel geht. Diese müsste die Industrie in die Pflicht nehmen. Der Beitrag jedes Bürgers und jeder Bürgerin dagegen erscheint gegenüber den Ausmaßen des Problems verschwindend gering. Trotz dieser Ausgangslage wird in neueren Beiträgen zum »Umweltbürger« versucht, zwischen Forderungen eines pfleglichen Umgangs mit der natürlichen Mitwelt und dem Bürgerstatus zu vermitteln. Bart van Steenbergen336 hat den Vorschlag gemacht, den Umweltbürger als eine Stufe der Entwicklung zu begreifen, die an die von Marshall unterschiedenen drei Entwicklungsstufen der Grundrechte anknüpft.337 Die Geschichte der Entwicklung der Grundrechte wird von Marshall beschrieben als eine Geschichte der Aneignung grundlegend neuer Formen von Rechtssicherheiten, die auch eine zunehmende Inklusion von Menschen in die politische Gemeinschaft bewirken. Nach der Errungenschaft ziviler Freiheitsrechte und politischer Teilhaberechte ist die große Neuerung des 20. Jahrhunderts die Zusicherung sozialer Teilhaberechte. Erst die heute als »Rechte der zweiten Generation« bezeichneten sozio-ökonomischen Rechte wie das Recht auf Bildung, das Recht auf einen Arbeitsplatz und das Recht auf Gesundheitsfürsorge erlauben Menschen eine umfassende Beteiligung an den von einer Gemeinschaft von Bürgern erwirtschafteten Gütern. Van Steenbergen vertritt nun die These, heute müsse ein vierter Schritt vollzogen werden. Die Inklusion, die der Bürgerstatus verspricht, darf nicht vor jenen Wesen Halt machen, die keine Subjekte sind.338 In Verantwortung für die Na336 Van Steenbergen 1994. 337 Marshall 1964. 338 Vgl. Van Steenbergen 1994, S. 144–146.

Erweiterungsstrategien

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tur muss der Mensch stellvertretend jene Rechte berücksichtigen, die belebte Wesen nicht selbst einfordern können. Ein Beispiel für das Einreißen einer moralisch-anthropozentrischen Barriere ist die Forderung nach Rechten für Tiere. Aus Warte der politischen Philosophie bedeutet dies, mit der Tradition des Vertragsdenkens in einer grundlegenden Hinsicht zu brechen. Gefordert ist ein erneutes Nachdenken über die Grenzverläufe der Gerechtigkeit – so der Titel des Beitrags von Nussbaum, in welchem auch für eine moralische Berücksichtigung der Lebensmöglichkeiten des Tieres argumentiert wird.339 Bisher ist der Bürgerstatus darauf errichtet, dass sich Menschen als politische Wesen auf Forderungen und Rechte in einem Gemeinwesen einlassen, dessen Gehalt sie im Wesentlichen selbst bestimmen können. Subjekt und Objekt der Pflichten und Rechte sind nicht nur identisch. Rechtssubjekte sind insbesondere nur solche Wesen, die vertragsfähig sind. Zwar gibt es auch bisher schon die Idee der Stellvertretung. Was aber mit einer Erweiterung des Bürgerkonzepts im Zuge einer vierten Stufe nach Marshall gefordert wird, ist etwas Weiteres. Es gilt anzuerkennen, dass es Teil der politischen Identität eines Menschen ist, für die natürliche Umwelt verantwortlich zu sein. Das Bild, mit welchem die vierte Stufe beschrieben wird, ist dasjenige einer gezielten Einbeziehung von Lebewesen in den Kreis der politischen Gemeinschaft. Eine andere Form der Erweiterung der politischen Gemeinschaft wird vorangetrieben, indem auf das globale Ausmaß der Umweltkrise verwiesen wird. Die globale Klimakrise verdeutlicht, dass es an der Zeit ist, die Menschen dieser Welt als Mitglieder einer einzigen Risiko- und damit auch Verantwortungsgemeinschaft zu begreifen. Das »Think Global, Act Local« der Umweltbewegung der Siebzigerjahre muss heute für den Bürger allerorten gelten. Die Konsequenz ist eine Form des globalen Bürgertums, das auf die Einsicht gemeinsamer Verantwortung bezogen ist. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, eine 339 Vgl. Nussbaum 2006. In Frontiers of Justice wird von Nussbaum für eine Ausweitung des Fähigkeitenansatzes auf die Tierethik argumentiert.

174 Umweltbürger Konzeption des globalen Umweltbürgers dürfe nicht über die Antagonismen und widersprüchlichen Entwicklungen innerhalb der Nationalstaaten dieser Welt hinwegtäuschen. Wird die Globalisierungsidee falsch verstanden, so trifft am Ende möglicherweise das scharfe Urteil von Richard Falks zu  : »Globale Bürgerschaft ist in seiner idealistischen und anspruchsvollen Bedeutung, wenn sie mechanisch der heutigen geopolitischen Realität übergestülpt wird, ein rein sentimentales und leicht absurdes Konzept.«340 Mindestens Binnendifferenzierungen erweisen sich als notwendig, mit denen gezeigt werden kann, was die Vorstellung einer ökologischen globalen Bürgerschaft genau bedeutet. Auch wenn dies gelänge, bleiben Argumente für einen globalen Umweltbürger zweifelhaft. Das Argument zugunsten einer globalen Bürgerschaft kann in seiner vorgetragenen Form nicht unterschieden werden von dem fehlerhaften Schluss von einem »Sein« auf ein »Sollen«. Zwar leuchtet es ein, dass die Klimaveränderungen und die Umweltschädigung globale Probleme sind. Und möglicherweise beginnen Menschen an verschiedenen Orten, sich als Mitglieder einer umfassenden Risikogemeinschaft zu verstehen. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass Menschen sich als Bürger der einen Welt verstehen sollten und entsprechende Verpflichtungen übernehmen sollten. Ein vergleichbares systematisches Problem ergibt sich hinsichtlich der zuerst beschriebenen Erweiterungsstrategie. Dass die Einschließung aller Lebewesen an der Zeit ist, bedeutet nicht, dass ein speziesübergreifender Vertrag selbst-rechtfertigend ist. Die Vertreter einer Tierethik wissen um dieses Problem und bemühen sich, Tierrechte eigenständig zu begründen. Die Verfasstheit als politische Rechte würde den weiteren Schritt beinhalten, die Hinsichten der Rechtsgleichheit zwischen Mensch und Tier auch in politisch-rechtlicher Hinsicht präzise zu bestimmen.341

340 Falk 1994, S. 139. Eigene Übersetzung, A. K. 341 Ansätze hierzu finden sich in Nussbaum/Sunstein 2004.

Revisionen des Liberalismus

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8.3 Revisionen des Liberalismus Autoren, die in ihrer Theoriebildung dem politischen Liberalismus nach John Rawls verpflichtet sind, haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Konzeption des Umweltbürgers gleichermaßen wesentlich wie auch sperrig für das Denken des politischen Liberalismus ist. Wenn es darum geht, grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien einer Gesellschaft zu formulieren und zu begründen, muss auch die Verteilung lebenswichtiger Ressourcen berücksichtigt werden. Ohne natürliche Güter können grundlegende Bedürfnisse des Menschen nicht befriedigt werden  ; eine Reflexion auf »die Natur« ist also mindestens in diesem Sinne notwendiger Bestandteil einer politischen Theorie  – zumal dann, wenn die Ressourcen knapp werden.342 Dennoch ist es aus Perspektive einer liberalen Theorie nicht möglich, jene Perspektiven auf die natürliche Welt zu berücksichtigen, die den von Rawls so bezeichneten »umfassenden Lehren« entsprechen. Rawls argumentiert dafür, dass mindestens auf Ebene der Verfassungsinhalte und den grundlegenden politischen Institutionen auf eine theoretische Grundlegung verzichtet werden muss, die eine wertende Weltsicht beinhaltet. Andernfalls können politische Prinzipien in einer pluralistischen Gesellschaft nicht gerechtfertigt werden. Aber gerade solche Theorien, in denen auf den Wert der Natur verwiesen wird, scheinen »umfassenden Lehren« zuzugehören. Sie beinhalten Wertungen, mit denen eine moralische Haltung im Angesicht der Natur begründet wird. Dies gilt beispielsweise dann, wenn ein Respekt vor dem Lebendigen oder eine Anerkennung der Schönheit von natürlichen Wesen gefordert wird. Was bleibt, ist einerseits der Rekurs auf reine Gerechtigkeitsprinzipien. Wenn Staaten die Aufgabe haben, Ressourcen und Güter unter Bedingungen mäßiger Knappheit zu verteilen, dann gilt dies auch

342 Vgl. Bell 2005, S. 27.

176 Umweltbürger für Güter wie sauberes Wasser und Luft.343 Andererseits kann darauf verwiesen werden, dass zwar auf Ebene der Verfassungsinhalte eine Abstraktion von umfassenden Lehren gefordert ist  ; dies bedeute aber nicht, dass in der Auseinandersetzung um konkrete politische Maßnahmen auf Wertungen verzichtet werden muss. Im Tagesgeschäft des Umweltschutzes geht es gerade um Interpretationen des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Streit und Auseinandersetzungen in diesen Hinsichten befördern den politischen Prozess.344 Eine andere Argumentationslinie beginnt mit der Feststellung, auch der politische Liberalismus sei keine abstrakte Lehre. Vielmehr beinhaltet er die Vorstellung, Menschen sollten als Bürgerinnen und Bürger bestimmte grundlegende Tugenden verwirklichen.345 Auch die Fähigkeit zum öffentlichen Vernunftgebrauch hat die Charakteristik einer Tugend. Sie beinhaltet, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen im Forum der Öffentlichkeit argumentativ vertreten können  ; sie beinhaltet vor allem auch die Fähigkeit, andere als die eigenen Gründe und Motive zur Geltung kommen zu lassen.346 Die politisch-liberale Bürgerhaltung ist kohärent mit einer Haltung gegenüber der nichtmenschlichen Natur, die Simon Hailwood als den »Andersheit-Blickpunkt« (»otherness view«) bezeichnet.347 Diese Haltung entspricht nicht einer wertenden Deutung der Natur. Vielmehr lässt sie nur zu, eine Beschreibung der Natur zu vertreten, die nicht deckungsgleich ist mit einer rein instrumentellen Beschreibung.348 So werden beispielsweise Möglichkeiten eröffnet, die Natur mit Rücksicht auf die Lebensmöglichkeiten und Erfahrungshorizonte zukünftiger Generationen zu erörtern.349 Vorausgesetzt werden muss nicht, dass die Natur 343 Vgl. ebd., S. 31–32. 344 Vgl. ebd., S. 29. 345 Vgl. dazu auch das Kapitel 6  : »Bildungsbürger«. 346 Vgl. Hailwood 2005, S. 40–42. 347 Vgl. ebd., S. 40. 348 Vgl. ebd., S. 44. 349 Vgl. Dobson 2003.

Revisionen des Liberalismus

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wertvoll ist oder gar dass Menschen hinsichtlich dieser Werte eine einhellige Meinung vertreten. Notwendig ist nur, gemeinsame Interessen beschreiben zu können, die es sinnvoll erscheinen lassen, schonend mit der Natur umzugehen. Solange dieser Ansatz jedoch nur auf eine Erweiterung bürgerlicher Tugenden zielt, muss befürchtet werden, dass die Wirkungen gering sind. Bereits vor Jahren stellte Hans Jonas fest, dass es mit Rücksicht auf die Veränderung des Umweltverhaltens des Menschen zwei Optionen gibt  : entweder durch Sitte oder durch Gesetz. Und er stellt auch fest, dass die Hoffnung darauf, dass Menschen Tugenden entwickeln, die beispielsweise einer verbrauchenden Konsumhaltung entgegenwirken, gering ist.350 Auch wenn Menschen zunehmend bereit sind, eine kritische Perspektive auf die ökologischen Auswirkungen ihres Lebens einzunehmen und ihr Handeln entsprechend zu modifizieren, muss die Einschätzung von Jonas nicht grundlegend revidiert werden. Für den Umweltbürger bedeutet dies, dass eine Ergänzung um Umweltrechte und Umweltpflichten, also um eine politisch-rechtliche Dimension, unumgänglich ist. Die bisherigen Erörterungen haben folgendes ergeben. In einem ersten Schritt konnte gezeigt werden, dass mit der Konzeption des Umweltbürgers mehr gemeint ist als eine appellative Erweiterung des Bürgerstatus. Vielmehr wird im Zuge der Diskussion des Umweltbürgers nach Möglichkeiten gesucht, die Reichweite des Bürgerkonzepts neu zu bestimmen. Das eine Mal sollen alle lebenden Wesen als Gegenstände bürgerlicher Verantwortung einbezogen werden  ; das andere Mal sollen sich Bürgerinnen und Bürger gerade mit Rücksicht auf Umweltprobleme als »globale Bürger« verstehen. In einem weiteren Schritt wurde deutlich, dass nicht nur hinsichtlich der Reichweite, sondern auch hinsichtlich der systematischen Bestimmung ein Grenzbereich politischer Theoriebildung beschritten wird. 350 Vgl. Jonas 1997, S. 176.

178 Umweltbürger Wie von Derek Bell deutlich gemacht wird, geht die Herausforderung aber noch weiter. Und um diesen systematischen Punkt soll es in dem verbleibenden Teil des Kapitels wenigstens skizzenhaft gehen. Es ist dies die Frage, wie Bürger nicht nur als für andere Bürger und gemeinsame Ressourcen verantwortliche Wesen gedacht werden können. Vielmehr muss auch gefragt werden, was es bedeutet, als »Bürger einer Umwelt« (»citizen of an environment«) zu leben.351 Es geht um das Verhältnis zwischen politischer Person und natürlicher Mitwelt. 8.4 Bürger in natürlichen Umwelten Vorgaben für einen normengeleiteten Umgang des Menschen mit natürlichen Gütern ist kein Bestandteil des Bürgerkonzepts. Diese Feststellung ist ebenso wahr wie erstaunlich. Als eine Ursache für diesen Sachverhalt lässt sich mit Derek Bell darauf verweisen, dass aus Perspektive der Theorien über den Bürgerstatus die natürliche Umwelt nur in Gestalt des Eigentums in Erscheinung tritt.352 So sehr Menschen von der Natur leben, so sehr wird sie als Ressource betrachtet, die rechtmäßig angeeignet werden kann. Erst in Gestalt der angeeigneten Ressource werden natürliche Gegenstände für die Bestimmung des Bürgerstatus interessant. Das Recht auf Eigentum ist je nach Theoriebildung ein ursprüngliches Recht des Bürgers und grundlegend für Vorstellungen des Wirtschaftsbürgers. Heute stehen wir an einem Punkt, an welchem klar wird, dass die Konzeption der Natur als unerschöpfliche Ressource jedoch falsch ist. Daraus ergibt sich die sehr grundlegende Frage, die in Erörterungen zum Umweltbürger aufgenommen werden muss  : Wie sollte das Verhältnis zwischen Bürger und natürlicher Umwelt beschaffen sein  ? Bereits die Frage lässt unterschiedliche Deutungen zu. Von niemandem wird bestritten, dass das Verhältnis des Menschen zur Umwelt eine normative Seite hat. Dies gilt umso mehr, wenn das 351 Vgl. Bell 2005, S. 26. 352 Vgl. ebd., S. 27.

Bürger in natürlichen Umwelten

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Verhältnis zwischen Bürgern und Natur besprochen wird. Es wird gefragt, wie Menschen als Bürger angesichts einer zunehmend zerstörten und gefährdeten Natur leben sollten. Was dagegen unterschiedlich beurteilt wird, ist der »Sitz« des Sollens. Entweder wird die Ansicht vertreten, als Bürger könnten Menschen zu einer Verantwortung gerufen werden, die ihnen als vorpolitische Wesen nicht zugemutet werden kann. Bürger tragen Verantwortung für die politische Gemeinschaft. Angesichts der Umweltveränderungen bedeutet dies auch, Bürgern abverlangen zu dürfen, schonend mit der Umwelt umzugehen. In diesem Fall wird das Konzept des Bürgers dahingehend erweitert, dass normative Anforderungen einbezogen werden. Oder es wird gefordert, die Politik und die Staatengemeinschaft müssten Lösungen für das Umweltproblem entwickeln. Eine institutionelle Lösung hat den Vorteil, Anreize gezielt schaffen und auch Strafen verhängen zu können. Dass Menschen politisch organisiert sind, bedeutet nun, dass sie Instanzen unterworfen sind, denen es zu gehorchen gilt. Umweltgesetze sind nur ein Beispiel dafür, dass Menschen als Bürger von politischen Institutionen in die Pflicht genommen werden dürfen. Beiden Ansätzen liegt eine verkürzte Interpretation des Bürgerstatus zugrunde. Bürger sind nicht als Individuen einer Gemeinschaft verpflichtet. Vielmehr ist das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern zueinander dasjenige eines differenzierten Austausches vermittelt durch Organisationen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, welche die Handlungsmöglichkeiten bereits formen und zum Teil sogar festlegen. Bürger unterstehen insbesondere nicht nur einer politischen Führung und müssen Gesetzeslagen gehorchen. Vielmehr sind Bürger politisch organisierte Wesen, die gemeinsam Verbindlichkeiten des Umgangs miteinander und auch des Umgangs mit der natürlichen Welt beschließen und sozial wirksam werden lassen können. Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist mithin nicht nur diejenige, wie sich Menschen als Bürger verhalten sollten. Die Frage ist vielmehr auch  : Wie kann das Verhältnis des Menschen zur Natur interpretiert werden, wenn Menschen nicht als eine Spezies mit besonderen Eigen-

180 Umweltbürger schaften, sondern als politisch organisierte Wesen verstanden werden, deren politische Organisationsform aus Komponenten besteht, deren Gehalt aufgeklärt und beschrieben werden kann  ? Die richtige Frage zu stellen, ist der erste Schritt für die Erarbeitung einer Alternative zu bereits dargelegten Vorstellungen über den Umweltbürger. Als zweiter Schritt muss erklärt werden, welche Möglichkeiten die politische Organisationsform im Umgang des Menschen mit der Natur bietet. Dabei geht es nicht primär um moralische Imperative des richtigen Verhaltens. Vielmehr geht es darum darzustellen, was eine politische Gemeinschaft leisten kann und andere Formen von Kollektiven und Institutionen nicht. Im Kontext einer Analyse des »geräumigen Bürgerideals« beinhaltet die Antwort zwei Elemente. Das erste Element, das hier nur skizzenhaft eingeführt werden kann, basiert auf der Vorstellung, dass Menschen die Fähigkeit haben, als politisch organisierte Wesen Gemeinschaftsgüter zu unterhalten. Insbesondere können sie sich so organisieren, dass Umweltgüter geschützt und erhalten werden. Das zweite Element besteht in einer Ausdeutung des Umweltbürgers als zusätzliche Komponente in einer Vorstellung des geräumigen Bürgerideals. Die Erörterung dieses Elements ist dem folgenden Abschnitt vorbehalten. Elinor Ostrom hat in der Untersuchung von Allmendegütern zeigen können, dass Menschen den Umgang mit kollektiven Gütern – und insbesondere auch mit erschöpfbaren natürlichen Ressourcen – erlernen und beherrschen können, wenn sie von diesen Gütern leben.353 Komplizierte gesellschaftliche Regelsysteme zur Erhaltung gemeinsamer Fischgründe und gemeinsamer Weidegründe sind Beispiele für diese Möglichkeit. Voraussetzung ist einerseits die Einsicht in die existenzielle Abhängigkeit von diesen Gütern. Andererseits müssen Normen des Umgangs mit den Gütern gefunden werden, die sowohl den Bedürfnissen der Gemeinschaft als auch den Erfordernissen der 353 Vgl. Ostrom 1990.

Element eines geräumigen Bürgerkonzepts

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Erhaltung des Gutes dienen. Ostroms Untersuchungen beziehen sich auf gewachsene und lokal überschaubare Gemeinschaften. Mit Einschränkungen können sie aber auch auf politische Gemeinschaften übertragen werden. Politische Gemeinschaften haben den Vorteil, dass sie sich die Regeln ihres Zusammenlebens mindestens zu Teilen selbst geben können. Außerdem können Institutionen geschaffen werden, die gemeinsamen Zwecken der Gemeinschaft dienen. Im Umgang mit natürlichen Gütern genügt es nicht, über Verteilungs- und Nachhaltigkeitsfragen nachzudenken. Vielmehr müssen Regeln gefunden werden, mit denen die qualitativen Erfordernisse der Schonung und Erhaltung zu erreichen sind. Insbesondere gilt es, den Theorien der »Tragödie der Gemeinschaftsgüter«, die sowohl in finanzwissenschaftlichen Untersuchungen als auch in Theorien kollektiver Handlungen verfestigt wurden, eine Alternative gegenüber zu stellen. Ein wichtiger Faktor für einen guten Umgang mit Gemeinschaftsgütern ist eine gute Informationspolitik. Wichtig ist auch eine gezielte Vernetzung mit solchen Einrichtungen, die über Spezialwissen und über einen direkten Zugang zu Gruppen von Bürgern verfügen. Aber nicht nur auf institutioneller Ebene, sondern auch in der gemeinsamen Festlegung auf den Schutz ausgewählter Naturgüter kann sich eine freie Bürgerschaft betätigen. Voraussetzung ist es, »die Natur« weder nur als Ressource, noch unmittelbar als Gegenüber des moralischen Handelns des Einzelnen zu begreifen. »Die Natur« ist aus menschlicher und bürgerlicher Perspektive eine Ansammlung unterschiedlich beschaffener Güter, deren Nutzung zugunsten der politischen Gemeinschaft Regeln unterworfen werden sollte, die zur Erhaltung dieser Güter beitragen. 8.5 Element eines geräumigen Bürgerkonzepts In diesem Kapitel wurde dafür argumentiert, die Theorie des Bürgers um den Aspekt des Umweltbürgers zu erweitern. Jedoch wird mit

182 Umweltbürger »Umweltbürger« nicht eine neue Art Bürgerstatus bezeichnet. Vielmehr können theoretische Beiträge zum Thema »Umweltbürger« als Fortsetzung der Theorie des Bürgers unter neuen Herausforderungen interpretiert werden. Für eine Theorie des geräumigen Bürgerstatus ergibt sich darüber hinaus, dass unter Berücksichtigung des »Umweltbürgers« die bereits erläuterten Komponenten einer Modifizierung bedürfen. Mit Rücksicht auf zentrale Gehalte soll dies nun erläutert werden. Der Bürgerstatus ist verknüpft mit Vorstellungen bürgerlicher Freiheit. In dieser Studie wurde bislang dafür argumentiert, dass es fünf nicht aufeinander reduzierbare Formen bürgerlicher Freiheit gibt. Es wurde auch dafür argumentiert, dass alle fünf Formen integriert werden können, wenn mit der Theorie des Bürgers der Bürgerstatus in einem demokratischen Rechtsstaat beschrieben werden soll. Jedoch befördert die Ausdifferenzierung von Formen bürgerlicher Freiheit ein Problem zutage, das mit Rücksicht auf den Umweltbürger besonders scharf konturiert ist. In Zeiten, in denen die Bedrohung der Menschheit wächst, können Umweltgesetze schnell die Gestalt von »Notstandsgesetzen« annehmen. Wenn aber ausschließlich das Gesetz leisten kann, was eine zukunftsfähige Gesellschaft erfordert, dann droht eine Tyrannei des Gesetzes.354 Statt dies unkommentiert geschehen zu lassen, wäre es nötig zu erörtern, wie die unterschiedlichen Formen der Freiheit untereinander aufgewogen werden könnten. Politische Freiheiten zu beschneiden, bedarf genauso einer Rechtfertigung, wie die Vernachlässigung der durch Umweltschäden eintretenden Formen persönlicher Schädigung. Dabei ist es auch unerlässlich, über das Verhältnis eines freizügigen und konsumorientierten Lebensstiles mit Rücksicht auf den Verlust anderer Formen der Freiheit nachzudenken. Insgesamt ist allerdings auch das Thema »Umweltbürger« falsch verstanden, wenn damit nur die Frage assoziiert wird, ob Bürger in ihren Freiheiten be354 Vgl. Jonas 1997, S. 180.

Element eines geräumigen Bürgerkonzepts

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schnitten werden dürfen zugunsten von Umweltgütern. Vielmehr geht es um Güterabwägungen zwischen unterschiedlichen Formen bürgerlicher Freiheit. Bürger zu sein bedeutet auch, als ein Gleicher respektiert zu werden. Grundlegend für bürgerliche Gleichheit ist eine Form politischer Gleichheit, die als Rechtsgleichheit mit Rücksicht auf wesentliche Verfassungsinhalte bestimmt wurde. In der Erörterung des Gehalts von Gleichheitsforderungen konnte gezeigt werden, dass die politische Gleichheit ergänzt wird um Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die je nach theoretischer Grundlegung sowohl hinsichtlich des Gehalts der Forderungen als auch hinsichtlich ihrer Reichweite variieren können. Vor allem sind Gleichheitsforderungen auf qualifizierte Gehalte bezogen. Die Verfügbarkeit von genießbarem Wasser und reiner Luft und von einer Umwelt, die Menschen nicht schädigt, sondern Nahrungsmittel und Erholung bietet, ist Bestandteil von Gerechtigkeitsforderungen, da solche Güter grundlegende Bedürfnisse des Menschen erfüllen. Obwohl sich die politische Philosophie schwer damit tut, solche gemeinsamen Ressourcen in die Gerechtigkeitsüberlegungen einzubeziehen, geht heute kaum ein Weg daran vorbei, über Möglichkeiten einer gerechten Verteilung nachzudenken. Dass diese Überlegungen Teil der Diskussion des Bürgerstatus sein müssen, resultiert daraus, dass Menschen als Bürger gleichursprüngliche Rechte auf überlebenswichtige Ressourcen haben. Ein weiterer Aspekt des geräumigen Bürgerstatus ist das Wirtschaftsbürgertum. Diesbezüglich müsste versucht werden, die Vereinnahmung von Umweltgütern in Theorien des privaten oder kollektiven Eigentums durch Alternativen zu ersetzen. Da das Wirtschaftssystem auf Privateigentum gegründet ist, darf diese Herausforderung nicht unterschätzt werden. Politische Organisation und Umweltgüter müssen nicht notwendig einander fremd gegenüberstehen. Im Zuge einer Wirtschaft, die durch Handel und effiziente Ressourcenverwertung die Abhängigkeit des Menschen von natürlichen Ressourcen unsichtbar gemacht hat, wird jener Bezug zwar ebenfalls unsichtbar. Gleich-

184 Umweltbürger wohl muss daran erinnert werden, dass es eine Vielzahl von Ressourcen in der natürlichen Mitwelt gibt, die sich selbst erneuern, dies aber nur unter gegebenen Voraussetzungen möglich ist. Insbesondere gilt es, die Erneuerungsbedingungen solcher Ressourcen zu respektieren. Die politische Theoriebildung ist aufgefordert, natürliche Güter als öffentliche Güter im Kontext moderner politischer Vergesellschaftungsformen zu durchdenken. Darüber hinaus muss gefragt werden, wie Güterabwägungen zwischen unterschiedlichen Umweltgütern und die Umwelt schädigenden Formen des Wirtschaftens geleistet werden können. Auch mit Rücksicht auf den Bildungsbürger ergeben sich neue Herausforderungen. Es genügt nicht, dass Menschen ausgebildet werden, um als Bürger in einer Demokratie leben zu können und politische Pflichten wahrnehmen zu können. Vielmehr ist es auch nötig, Lernorte dafür zu finden, dass Bürger sich wieder als Bürger in Umwelten verstehen können. Ein Anfang ist die Erweiterung der Lehrinhalte an Schulen um ein Basiswissen zum Thema »Ökologie« und »Nachhaltigkeit«. Wenn natürliche Umwelten für Aufwachsende verschwinden, ist es zudem nötig, jungen Menschen den Kontakt mit Umweltgütern zu ermöglichen, sodass sie Freude, Respekt und vielleicht auch Ehrfurcht erlernen können vor einer Natur, die eigenen Gesetzen gehorcht.

9.

Bürger in

I

n ihrer Untersuchung der europäischen Wurzeln des Feminismus macht Karen Offen darauf aufmerksam, dass die erste, sich selbst so bezeichnende Feministin Frankreichs Hubertine Auclert war, eine erklärte Kämpferin für das Frauen-Wahlrecht.355 Hubertine Auclert verwandte den Begriff »féministe« als Selbstbeschreibung in der von ihr unterhaltenen Zeitschrift »La citoyenne«. Mit dem Ersten Feministischen Kongress in Paris im Mai 1892 gewann der Begriff »Feminismus« weitere Verbreitung und wurde schon bald mit einer als »masculinisme« bezeichneten Geisteshaltung und Wirklichkeit kontrastiert. Auch auf der anderen Seite des Atlantiks kämpften und kämpfen Frauen um politische Anerkennung. Wie Anne Phillips in ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Demokratie und Feminismus zeigen kann, sind Fragen der Repräsentation von Frauen in politischen Körperschaften auch nach der »zweiten Welle« der Frauenbewegung, deren Beginn in den 1960er-Jahren liegt, nicht obsolet.356 Bis heute geht es um die Durchsetzung von Teilhaberechten in politischen Organisationen. Selbst in den skandinavischen Ländern, in denen der Anteil von Frauen an wichtigen politischen Ämtern im Vergleich zu anderen Ländern ausnehmend hoch ist, gelingt keine paritätische Verteilung.357 Zwar ist nicht ausgemacht, dass die Anliegen von Frauen durch Frauen repräsentiert werden müssen. Wenn der politische Raum aber ausgezeichnete Möglichkeiten zur Gestaltung von Lebenswirklichkeiten bietet und Frauen nach wie vor Benachteiligungen erleiden müssen, ist die Veränderung der politischen Wirklichkeit ein wichtiges Element. 355 Vgl. Offen 1992, S. 72. 356 Für eine Erläuterung der Stellung der Frau in der Politik vgl. Phillips 1995, S. 195– 199. 357 Vgl. ebd., S. 140–146.

186 Bürgerin Der heute vielfach als ein Ursprungstext des Feminismus der westlichen Geisteswelt anerkannte Beitrag A Vindication of the Rights Of Women von Mary Wollstonecraft aus dem Jahre 1792 ist ein unmissverständliches Plädoyer für die Teilhabe von Frauen an der politischen Gesellschaft.358 Trotz oft bemängelter Unzulänglichkeiten  – so insbesondere des ausschließlichen Bezugs auf Frauen der gut situierten Mittelschicht – und trotz der Konzentration auf Fragen der Mädchenerziehung und der weiblichen Rolle im Haushalt ist die Botschaft unmissverständlich. Gefordert wird die Umverteilung politischer Macht. Im zähen Ringen der Frauenbewegungen konnte ein Wahlrecht für Frauen erreicht werden. Dennoch kann der akademische Feminismus interpretiert werden als Fortsetzung des politischen Kampfes mit anderen Mitteln. Feministinnen, die an den Diskursen der politischen Philosophie beteiligt sind, kritisieren überkommene Begriffe und Argumente der politischen Philosophie, die ihrer Meinung nach Ausdruck einer männerdominierten politischen Welt und deren Vormachtsansprüche sind. Das Problem besteht nicht allein darin, dass Frauen gleichberechtigte politische Teilhabe verwehrt wird. Vielmehr besteht es auch in der Verwendung von Begriffen, mit denen diese Ausschließung bezeichnet und sogar implizit gerechtfertigt wird.359 Nicht nur der begriffliche Rahmen, sondern die Theorien selbst sind von einer männlichen Weltsicht infiziert. Insofern wird auch eine redliche Aufarbeitung philosophischer Positionen zum Bürgerstand zu Forderungen nach Revisionen führen. Trotz vieler gemeinsamer Ziele ist es heute kaum möglich, von »dem Feminismus« bzw. »der Gender-Theorie« der politischen Philosophie zu sprechen. So differenziert die Positionen in der politischen Philosophie sind, so unterschiedlich sind auch die Ansätze des Feminismus innerhalb dieses Forschungsbereichs. Die Erörterung soll beginnen 358 Vgl. Wollstonecraft 1992. 359 Vgl. dazu Elshtain 1993, XIV–XV.

Deutungen des weiblichen Unterschieds

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mit der Darlegung unterschiedlicher Bewertungen des »weiblichen Unterschieds«. Im ersten Abschnitt wird für eine differenzierte Bewertung der Andersartigkeit des Lebens von Frauen argumentiert. Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, welche politischen Forderungen sich aus den dargelegten Perspektiven auf die Situation von Frauen ableiten lassen. Der politische Feminismus wäre jedoch falsch verstanden, würde er nur als Instrumentarium politischer Forderungen beurteilt. Vielmehr steht im Zentrum die Ebene der Theoriebildung. Im dritten Abschnitt wird erläutert, inwiefern diese von einer feministischen Perspektive betroffen ist. Im vierten Abschnitt wird eine für die politische Theorie zentrale Unterscheidung aus feministischer Warte kritisiert. Es ist dies die für politisch-liberale Positionen zentrale Unterscheidung von »privat« und »öffentlich«. Statt einer Differenzierung beider Bereiche fordern Feministinnen anzuerkennen, dass das Persönliche politisch ist. Wie sich diese Forderung ausgestalten lässt, wird im fünften Abschnitt erläutert. Trotz der Verschiedenartigkeit feministischer Entwürfe des Bürgerinnenstatus zeichnet sich mit Rücksicht auf die Forderung, den politischen Charakter des Persönlichen anzuerkennen, ein gemeinsamer Standpunkt ab. Insgesamt wird mit dem Abschnitt »Bürgerin« keine neue Dimension des Bürgerideals erörtert. Vielmehr ist es konzipiert als eine Exemplifizierung dessen, was der Maßstab der »Gleichheit« bedeuten muss, sofern Menschen auch mit Rücksicht auf ihre lebensweltlichen und geschlechtlichen Unterschiede betrachtet werden. 9.1 Deutungen des weiblichen Unterschieds Frauen sind anders als Männer, deshalb würden sie auch eine andere Politik machen. Mit dieser These wird nicht nur eine landläufige Meinung referiert. Vielmehr hat die Vorstellung, es gäbe genuin weibliche Eigenschaften oder gar eine weibliche, geschlechtsbestimmte Daseinsform, auch einen Nachhall in feministischen Positionen zur politischen Philosophie. Für eine Erörterung des Bürgers als politisches

188 Bürgerin Ideal sind solche Beiträge deshalb interessant, weil sie möglicherweise auch zu einer Revision von den an männlichen Idealen orientierten politischen Vorstellungen über den Bürger führen können. Ein zentraler Bezugspunkt für die These der Andersartigkeit von Frauen sind die Studien von Carol Gilligan, die bis heute Kontroversen um die Position der Frau in der Gesellschaft anregen.360 Gilligan hatte in ihrer ursprünglich im Jahr 1982 erschienenen Studie mithilfe von Testverfahren nachweisen können, dass das Verhaltensrepertoire von Mädchen gegenüber demjenigen von Jungen besonders durch die Anlage zum Pflegen und Kümmern unterschieden ist. Ihre Ausgangsbeobachtung war, dass moralisches Verhalten nach Kohlbergs Maßstäben, also ein Verhalten, das in der Fähigkeit zur Übernahme einer überparteilichen Perspektive grundgelegt ist und als Anerkennung gleicher Rechte verwirklicht wird, von Mädchen zögerlicher und später angeeignet wird als von Jungen. In Befragungen von Mädchen, die auch Fragen nach ihrem Moralverständnis umfassten, konnte sie feststellen, dass Mädchen »mit einer anderen Stimme«  – so der Titel ihrer Studie In a Different Voice  – antworteten. Frauen empfinden und denken anders über Moral und folgerichtig auch über gesellschaftliche Ideale. Verbundenheit und Fürsorge dominieren ein weibliches Moralverständnis. Bis heute gibt es Vertreterinnen einer sogenannten »FürsorgeEthik« (»care-ethics«), die sich auf Gilligans Einsichten – wenn auch in modifizierter Weise  – beziehen.361 Eine wichtige Kritik an Versuchen der Kennzeichnung weiblicher Unterschiede in einer normativen Absicht ist jedoch der Hinweis darauf, dass weibliche Unterschiede auch kulturelle und soziale Konstrukte sind. Zwischen der Ebene dessen, was als weibliche Eigenschaften anzunehmen ist, und der gewollten und gesellschaftlich sanktionierten Zuschreibung von Eigenschaften muss stets unterschieden werden. Gerade diese Unterscheidung 360 Vgl. Gilligan 1993. 361 Für aktuelle Beiträge zur Fürsorge-Ethik siehe Held 1995.

Deutungen des weiblichen Unterschieds

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erweist sich aber als überaus problematisch. Zu schnell werden beispielsweise besondere mütterliche Fähigkeiten herangezogen, um für den Rest der Gesellschaft hinsichtlich der notwendigen Pflegearbeit Entlastung zu schaffen. Eine weitere Kritik an der Deutung genuin weiblicher Fähigkeiten wird in Catherine A. MacKinnons »Dominanz-Ansatz« verdeutlicht.362 Sie konstatiert  : »Geschlecht ist eine Frage der Macht, insbesondere hinsichtlich männlicher Vormachtstellung und weiblicher Unterordnung.«363 Für MacKinnon ist klar  : Wenn ein Geschlechterunterschied behauptet wird, so werden damit die tatsächlichen Machtverhältnisse automatisch abgebildet. Nur wer verstanden hat, dass dies so ist, wer also die Prämissen des »Dominanz-Ansatzes« teilt, kann damit beginnen, diese Wirklichkeit zu verändern.364 Auch wenn MacKinnons Position im Lager der Feministinnen als eine radikale Position umstritten ist, wird daran doch eines deutlich  : Auf genuin weibliche Eigenschaften in normativer Absicht zu verweisen, kann denjenigen unmittelbar nutzen, die bereits von einer Ungleichheit zwischen Mann und Frau profitieren. Der Verweis auf die Andersartigkeit von Frauen und besondere weibliche Merkmale in der Formierung von Gemeinschaften ist problembehaftet. Eine solche Vorgehensweise kann unterschieden werden von Versuchen, eine andere politische Geschichte von Frauen und eine andere Art und Weise der politischen Praxis zwischen Frauen zu ergründen. Dann geht es nicht um weibliche Eigenschaften, sondern um spezielle Umstände für eine Gruppe von Bürgern, die bis heute darum ringen muss, in der Politik Gehör zu finden. Insbesondere wird in solchen Versuchen nicht damit begonnen, die Unterdrückung von Frauen zu beklagen. Vielmehr werden eine besondere Geschichte und 362 Vgl. MacKinnon 1987. 363 Ebd., S. 40. Eigene Übersetzung, A. K. 364 Vgl. ebd., S. 44.

190 Bürgerin zugleich besondere Möglichkeiten von Frauen untersucht und gefragt, ob diese als modellbildend für eine veränderte politische Praxis gelten können. Zwei Beispiele sollen diese Perspektive verdeutlichen. Nancy L. Rosenblum verteidigt ein Konzept der »indirekten Bür­ger­ schaft«.365 Sie stellt zunächst fest, dass die Dichotomie von »Regierung« und »Zivilgesellschaft« zunehmend Interesse findet in feministischen Auseinandersetzungen. In einer Analyse zivilgesellschaftlicher Vereinigungen stellt Rosenblum dar, dass der Zusammenschluss von Frauen in freiwilligen Assoziationen bis heute für das Voranbringen feministischer Ziele unentbehrlich ist. »Feministinnen haben klar gemacht, dass das, was im Sinne eines öffentlichen Interesses zählt, veränderlich und umstritten ist  ; es gibt keinen autoritativen Katalog politisch anerkannter Interessen und Bedürfnisse und keine autoritative Grenze der politischen Sphäre.«366 In historisch gewachsenen Zirkeln und Gruppierungen kann gerade keine abgesteckte Agenda offiziell politischer Themen vorausgesetzt werden. Vielmehr lehrt die Geschichte von Frauenvereinigungen, dass immer wieder andere Gegenstände politisiert werden mussten und werden konnten.367 Modellbildend für eine Konzeption der »indirekten Bürgerschaft« sind Frauenvereinigungen, deren wechselvolle Geschichte zwar nicht idealisiert werden soll, gleichwohl aber ein Exempel statuiert. Nur die Praxis des freiheitlichen Politisierens von Inhalten ermöglicht auch eine Form politischen Arbeitens, die sensibel ist gegenüber den besonderen Anliegen von Frauen. Es gibt keine Inhalte, die von vorneherein als »politikfähig« gekennzeichnet werden können. Vielmehr lebt eine faire Politik davon, dass politisch relevante Themen als solche von den Bürgerinnen und Bürgern ausgezeichnet und an das Licht der Öffentlichkeit gezogen werden. Um Gleichheit in Fragen der politischen Partizipation und der Teilhabe an ökonomischer Macht überhaupt erringen zu können, sind 365 Für die Deutung des Konzepts der »indirekten Bürgerschaft« vgl. Rosenblum 2002. 366 Ebd., S. 169. Eigene Übersetzung, A. K. 367 Vgl. ebd., S. 168–170.

Deutungen des weiblichen Unterschieds

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manchmal auch Methoden nötig, die eine Betonung der Anliegen von Frauen und sogar eine Ungleichbehandlung beinhalten. Dies zeigt ein zweites Beispiel, mit welchem auf die besonderen Lebensumstände von Frauen aufmerksam gemacht wird. Soll nicht in die Position zurückgefallen werden, dass Frauen wegen ihrer Benachteiligung ohnehin besondere Behandlung verdienen  – eine Position, welche die Stigmatisierung von Frauen auch verstärken könnte  –, sind Ansätze hilfreich, die der Besonderheit der Situation von Frauen Rechnung tragen, diese Besonderheit aber als modellbildend anerkennen. Ein Versuch, den »weiblichen Unterschied« auf eine solche Weise zu kontextualisieren, wird von Iris Marion Young unternommen. Nach Young ist es nicht richtig, in der politischen Theorie und der politischen Praxis mit Konzepten zu arbeiten, die eine Nivellierung der Differenzen zwischen Personen und Situationen beinhalten. Dies gilt auch für diskurstheoretische Ansätze.368 Ihr Augenmerk liegt dabei nicht auf gewählten Gruppenzugehörigkeiten, sondern auf Zugehörigkeiten, die nicht gewählt sind. Insbesondere geht es ihr um Gruppen, die diskriminierenden Übergriffen ausgesetzt sind – so beispielsweise Schwarze in Regionen Amerikas oder Frauen. Anstatt die Zugehörigkeit zu Gruppen als Ausnahme zu nehmen, gelte es anzuerkennen, dass die politische Praxis primär auf solche Gruppen bezogen sein sollte. Sie sollten etwa auch ein Vetorecht bekommen, wenn es zu politischen Entscheidungen kommt  ; andernfalls werden solche Gruppen nicht zu ihrem politischen Recht kommen.369 Das Werk von Young kann hier auch nicht annähernd gewürdigt werden. Richtig scheint aber die Idee, »weibliche Unterschiede« nicht als Anomalie in der politischen Arena, sondern als grundlegend für die Verständigung über immer differenziert zu sehende Situationen und Lebenslagen zu verstehen. Kontextualisierung des weiblichen Unterschieds kann auch bedeuten, die Gruppe von Frauen als eine politische Gruppe unter anderen zu interpretieren. 368 Vgl. Young 1987, S. 71. 369 Vgl. Young 1995, S. 189.

192 Bürgerin Mit »dem weiblichen Unterschied« muss keine besondere Beschaffenheit der Frau oder gar ein normativ überhöhtes Merkmal bezeichnet werden. Vielmehr können damit auch Besonderheiten der Lebensgeschichte einer Gruppe von Menschen bezeichnet werden, die nun einmal Frauen sind. Trotz vorliegender Ansätze zur Kontextualisierung des »weiblichen Unterschieds«, ist seine Betonung eine Strategie der feministischen Argumentation, die zwar eingängig ist, jedoch problematisch bleibt. Mit Rücksicht auf den Bürgerstatus muss gefragt werden, ob Frauen tatsächlich einen speziellen Status wünschen oder ob es nicht – wenigstens langfristig – erklärtes Ziel sein muss, Gleichheit gegenüber männlichen Bürgern zu erlangen. Auf der Suche nach effektiver Gleichheit ist es angebracht, über politische Maßnahmen nachzudenken, die eine Gleichstellung von Frauen ermöglichen würden. 9.2 Forderungen nach einer anderen Politik Frauen haben mindestens in vielen westlichen Ländern viel erreicht. In Recht und Gesetz sind sie Männern gleichgestellt  ; auch die soziale Wirklichkeit ist mindestens nicht mehr von Überzeugungen und sozialen Praktiken beherrscht, die das Ringen um gute gesellschaftliche und politische Positionen von Anfang an aussichtslos machen würden. Mit der Formulierung eines allgemeinen Gleichstellungsgebotes wird neuerdings auch auf Ebene der Europäischen Union nicht nur die auf Geschlechtsunterschieden basierende Diskriminierung, sondern auch die Ungleichbezahlung von Mann und Frau verurteilt. Was aber sind die berechtigten Anliegen von Frauen angesichts der politischen Wirklichkeit  ? Die Gleichstellung von Frauen vor dem Gesetz ist eine wichtige Grundlage dafür, dass Frauen in gleicher Weise am Bürgerstatus partizipieren können – nämlich so, wie es für die meisten Männer eine Selbstverständlichkeit ist. Hinreichend ist dies deshalb nicht, weil Frauen sozialen Praktiken und tatsächlichen Machtgefällen unterworfen sind, die sie benachteiligen. Es ist statistisch belegbar, dass selbst

Forderungen nach einer anderen Politik

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in sogenannten »modernen« Gesellschaften die schwerste häusliche Arbeit, die Pflegearbeit, zu einem großen Teil von Frauen geleistet wird.370 Frauen sind auch in Ländern, die aus feministischer Perspektive als weit entwickelte Länder gelten müssen, weitaus weniger präsent als Männer in Positionen, die mit Macht verbunden sind.371 Weil es Frauen sind, die Kinder gebären, sind gerade diese in Phasen der Schwangerschaft und der frühkindlichen Pflege einer besonderen Situation ausgesetzt. Was Feministinnen angesichts dieser Situation fordern, ist nicht eine Nivellierung solcher Unterschiede, sondern eine differenzierte gesellschaftliche Ordnung, sodass Frauen nicht länger benachteiligt sind.372 In diesem Sinne fordern Feministinnen beispielsweise, häusliche Arbeit wenn schon nicht als Lohnarbeit, so doch mindestens als gesellschaftliche Arbeit anzuerkennen. Eine Gesellschaft besteht nicht nur aus voll leistungsfähigen Mitgliedern  ; vielmehr gibt es im Leben eines jeden Menschen die Bedürftigkeit nach Pflege und Fürsorge. Die Leistungen für pflegebedürftige Menschen sollten auf den Schultern aller Bürgerinnen und Bürger verteilt werden.373 Allerdings schafft die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung der Pflegearbeit wiederum ein Dilemma. Wird der Wohlfahrtsstaat aufgefordert, Leistungen zu übernehmen, so werden die Empfängerinnen gerade nicht jenen gleichgestellt, die ihr Geld außer Hause verdienen können. Vielmehr werden sie zu Abhängigen des Wohlfahrtsstaates und ihre Arbeit somit nicht als gleichwertig anerkannt. Würden Pflegeleistungen tatsächlich als gemeinsame Aufgabe anerkannt, so müsste dies auch in der Vergütungsweise ihren Ausdruck finden. Mit ein bisschen Phantasie ist dies durchaus vorstellbar  : Die 370 Für eine Statistik der Aufgaben von Frauen in Pflegediensten siehe WHO 2002. 371 Vgl. Phillips 1995, S. 137–146. 372 Für das Paradox der Suche nach einem Weg, Gleichheitsforderungen zu formulieren, ohne dabei eine neue Form der Ungleichheit zu produzieren vgl. Pateman 1985, S. 136. 373 Vgl. Nussbaum 2002a.

194 Bürgerin Gehälter könnten beispielsweise im Falle eines Familieneinkommens zwischen dem »Care-Giver« und dem außer Hause Tätigen geteilt und auf separate Konten ausbezahlt werden. Vor allem muss es aber möglich sein, dass Männer und Frauen gleichermaßen die Möglichkeit auf Teilzeitarbeit haben, sodass Pflegeleistungen für beide möglich sind. Drude Dahlerup setzt sich damit auseinander, welche politischen Maßnahmen Frauen tatsächlich zu einer gleichberechtigten Situation verhelfen können.374 Sie unterscheidet sechs Maßnahmenbündel  : 1. Umverteilung von ökonomischen Ressourcen an Frauen. 2. Öffentliche Dienstleistungen wie Kinderbetreuung. 3. Politische Regulierung, insbesondere Anti-Diskriminierungs-Gesetze. 4. Schutz vor physischer Gewalt. 5. Aktionen, um Männer zur Teilnahme an häuslicher Arbeit zu bewegen. 6. Ermächtigung (»empowerment«) von Frauen.375 Diese direkten politischen Maßnahmen müssen ergänzt werden um eine Prüfung ungewollter Nebeneffekte anderer politischer Regulierungen, so beispielsweise der Steuergesetzgebung. Die Umsetzung der genannten Maßnahmen verlangt einige politische und gesellschaftliche Anstrengungen  ; kaum ein Land der Welt kann sich damit rühmen, auch nur den größeren Teil bereits geleistet zu haben. Hinsichtlich des Bürgerstatus von Frauen wird sofort eine andere Frage drängend. Der Staat ist aus feministischer Perspektive nicht immer als unterstützende Organisation anerkannt worden. Vielmehr ist die Ansicht verbreitet, staatliche Macht sei nur eine weitere Instanz der Bevormundung. Auch wenn ein durchweg staatskritischer Blick heute von freundliche-

374 Vgl. Dahlerup 1994. 375 Ebd., S. 124.

Die Ebene der Theoriebildung

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ren Perspektiven auf den Staat abgelöst worden ist,376 bleibt die Frage, ob die Durchsetzung der von Dahlerup genannten Maßnahmen nicht auch dazu führt, eigene Gestaltungshoheiten zu verletzen. Am Ende muss gar gefragt werden, ob Frauen den Staat etwa mehr brauchen als Männer. Sind Frauen gar am Ende deshalb andere Bürger, weil sie besonders abhängig sind vom Staat  ? Zu diesen Fragen ist zweierlei anzumerken. Erstens brauchen Frauen den Staat nicht mehr als andere Bürger, vielmehr brauchen sie ihn in einer anderen Weise. Insbesondere brauchen sie eine Gesetzgebung, die nicht ausschließlich auf Schutz des Eigentums und Schutz von Marktrechten, sondern auf mehr Gerechtigkeit ausgelegt ist. Gefordert wird ein Ende von rechtlichen Begünstigungen, die Frauen zum Nachteil gereichen. Und zweitens brauchen sie eine andere Politik nicht für ihre Freizeit oder für Fragen individuellen Glücks. Vielmehr ist eine andere Politik nötig, damit Frauen gleichberechtigt an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben mitwirken können – insbesondere auch an der Gestaltung als politisches Gemeinwesen und an der Mehrung des Wohlstands aller. 9.3 Die Ebene der Theoriebildung Feministinnen begründen und formulieren politische Forderungen. Es entstünde jedoch ein falsches Bild des politisch-philosophischen Feminismus, würde er allein mit dieser Arbeit identifiziert. Der Feminismus begnügt sich nicht mit der – so wichtigen – Formulierung politischer Notwendigkeiten. Vielmehr ist es Anliegen politischer Philosophinnen, auf die Notwendigkeit der Erneuerung und Differenzierung theoretischer Konzepte und Begründungsansätze aufmerksam zu machen. Vor allem wird die selbstverständliche Verwendung grundlegender politischer Konzepte infrage gestellt  – so etwa die Begriffe »Macht«, »politisches Subjekt« oder »Repräsentation«. Die Fülle der 376 Vgl. für diesen Paradigmenwechsel ebd., S. 119.

196 Bürgerin Themen kann in diesem Abschnitt nicht hinreichend erörtert werden. Eine Skizze einiger Themen soll nur auf diesen thematischen Schwerpunkt hinweisen. Eine Reflexion auf die politische Lebenswirklichkeit von Frauen kann nicht nur dazu beitragen, die Wirkungen politischer Entscheidungen anders als üblich zu sehen. Vielmehr kann sie auch dazu beitragen, vermeintlich eindeutige Konzepte aufzubrechen und ihre Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit zu erkennen. Aus Perspektive des Lebens von Frauen können Verhältnisse des vermeintlich politikfreien privaten Bereichs des Lebens mit Begriffen wie »Ohnmacht«, »Unterordnung«, »Unterwerfung« und »Abhängigkeit« beschrieben werden.377 Eine Erweiterung der Verwendung und Analyse des Konzepts »Macht« eröffnet insbesondere Möglichkeiten, vermeintlich private Ungerechtigkeiten als politische Anliegen zu verstehen. Voraussetzung und Ergebnis zugleich ist das Eingeständnis der Heterogenität von Machtverhältnissen. Nun sind differenzierte Analysen möglich, die auch den vermeintlich nur persönlichen Bereich des Lebens von Frauen betreffen. Differenzierungen auf Ebene der Theoriebildung betreffen auch Vorstellungen über das politische Subjekt. Nicht erst Vertreter des Kommunitarismus, sondern auch Vertreterinnen des Feminismus hegen Zweifel an der Vorstellung eines mit universalen Merkmalen ausgestatteten Subjekts als Gegenstand und Akteur des Politischen. Auch diese Überlegungen haben viele Facetten. Bestandteil sind die Vereinnahmungen der Familienmitglieder zugunsten eines Repräsentanten im politischen Leben und die selbstverständliche Rollenteilung zwischen häuslichem und öffentlichem Leben. Kritisiert wird auch, dass ein abstraktes Individuum als typisches Subjekt politischer Prozesse zu der Annahme eines durchweg selbst-interessierten Bürgers verleitet. Jane Mansbridge und andere Autorinnen konnten zeigen, dass die leitende Vorstellung eines selbst-interessierten Subjekts auf einer 377 Vgl. Phillips 1995, S. 166.

Kritik der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich«

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Annahme beruht, die weder theoretisch notwendig ist, noch der Wirklichkeit des Bürgerseins entspricht.378 Was schließlich das Thema »politische Repräsentation« angeht, so wird in der politischen Philosophie seit geraumer Zeit erörtert, dass die Vorstellung der »Abbildung« von Wählerpräferenzen und Voten im politischen Prozess nicht nur eine Vereinfachung darstellt, sondern auch empirisch falsch ist. Kollektive Präferenzen können gemäß mathematischen Grundsätzen kein bloßes Aggregat von Individualpräferenzen sein. In feministischen Positionen wird darüber hinaus deutlich gemacht, dass politische Repräsentationspraktiken unwirksam sind, solange diese auf einem schlichten Vertretungsmodell beruhen.379 9.4 Kritik der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« Die Ansätze zu einer Revision der Theoriebildung sind vielgestaltig. Relativ einhellig sind dagegen die Einwände gegen eine zentrale Unterscheidung in der politischen Philosophie. Feministinnen haben sich gegen die Dichotomie zwischen »privat« und »öffentlich« als zentrale Kategorien der politischen Philosophie gewandt. Zunächst konnte darauf hingewiesen werden, dass die Unterscheidung selbst nicht eindeutig ist. Entweder ist sie deckungsgleich mit derjenigen von »Staat« und »Gesellschaft«. Dann trifft sie aber nicht das, was mit dem »Privaten« bezeichnet werden soll  : die häusliche Sphäre familiären Lebens. Oder sie bedeutet »nicht-häuslich« gegenüber »häuslich«. Dann wird übersehen, dass es andere Bereiche des Privaten gibt, die weder dem staatlichen Leben noch dem Bereich der Gesellschaft als Forum sekundärer Assoziationen zugehören. Neben dem »Häuslichen« gilt

378 Für eine Kritik der Vorstellung, Kooperation beruhe notwendig auf dem Konzept der selbst-interessierten Person, vgl. die Beiträge in Mansbridge et al. 1990. 379 Vgl. Phillips 1995.

198 Bürgerin auch die Sphäre der Ökonomie als Bereich des Privaten.380 Die Unklarheiten bezüglich der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« können auch interpretiert werden als Unschärfe in der Charakterisierung des »Öffentlichen«. Werden mit »dem Öffentlichen« politische Institutionen bezeichnet, so verkennt die Unterscheidung zwischen »privat« und »öffentlich«, dass es jenseits politischer Institutionen eine Zivilgesellschaft gibt, die nicht ausschließlich privaten Anliegen dient. Wichtiger aus feministischer Perspektive ist, dass die Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« zu ideologischen Zwecken genutzt wird oder diese Zwecke voraussetzt. Bereits die Bezeichnung »privat« suggeriert, es gebe einen Bereich, der von politischer Einflussnahme frei ist und überdies frei sein sollte. Auch Philosophen der Neuzeit haben nicht davor zurückgeschreckt, eine eindeutige Zuordnung beider Bereiche nach Geschlecht vorzunehmen. Solange von Aufzuchts- und Erziehungspflichten die Rede ist, werden Mutter und Vater genannt,381 sobald es um die Herrschaft und Gewalt geht, nur der Vater.382 Auch wenn die Macht des Familienvaters nach John Locke keineswegs unbeschränkt ist,383 ist seine Rolle unmissverständlich diejenige eines Familienoberhauptes in der häuslichen Gemeinschaft. Zwar ist diese Rolle deutlich unterschieden von derjenigen in der politischen Gesellschaft. Dass die »Menschen«, welche die politische Gesellschaft gründen, aber nur Männer sind, versteht sich von selbst.384 Im Ergebnis sind »öffentlich« und »privat« nicht nur Beschreibungen für unterschiedliche Sphären gesellschaftlichen Lebens. Vielmehr dienen sie zugleich als »kulturelle Klassifikationen« und »rhetorische Label«.385 Im politischen Diskurs sind sie machtvolle Begriffe, mit denen einige Interessen und Ansprüche aus dem politischen Diskurs 380 Vgl. Moller Okin 1991, S. 68–70. 381 Vgl. Locke 1977, S. 238–239. 382 Vgl. ebd., S. 239, 242. 383 Vgl. ebd., S. 252. 384 Vgl. ebd., S. 253–255. 385 Fraser 1992, S. 131.

Kritik der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich«

199

ausgeschlossen werden können, um andere als »öffentliche Angelegenheiten« in den Vordergrund zu drängen und zu legitimieren. Feministinnen sind sich weitgehend darin einig, dass die Kategorien »privat« und »öffentlich« sowohl für Gleichheitsforderungen als auch für Anliegen von Frauen wenig hilfreich sind. Die Dichotomie dient dazu, sozial konstruierte und oft als wünschenswert erachtete Rollen von Frauen zu verfestigen. Die Urteile darüber, was genau an dieser Unterscheidung als fehlgeleitet gelten muss, fallen jedoch unterschiedlich aus. Eine Untersuchung der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« in der politischen Philosophie zeigt zwei Tendenzen. Während in der Philosophiegeschichte eine explizite Unterscheidung zwischen Familie und politischem Leben getroffen wurde, indem die Eigenschaften beider Sphären deutlich und oft in patriarchalischer Sprache charakterisiert wurden, werden heute erstens zwei unterschiedene Sphären selbstverständlich vorausgesetzt, ohne die qualitativen Differenzen zu benennen.386 Dagegen teilen Feministinnen die Auffassung, dass sowohl der Bereich des Häuslichen wie auch der Bereich des politischen Lebens mit Rücksicht auf die Anliegen von Frauen nur verstanden werden kann, wenn die vielfältigen Beziehungen zwischen beiden erkannt werden. Es kann nicht bezweifelt werden, dass der Staat die Familie und persönliche Verhältnisse mitgestaltet. Deshalb muss diskutiert werden, in welcher Weise er dies tut und es tun sollte. Wird der Raum des Privaten nicht als eine abgeschlossene Kapsel gesehen, sondern als eine Formation, die durchdrungen ist von dem, was um sie herum passiert und was dadurch ermöglicht oder verhindert wird, müssen Gesetzeslagen daraufhin überprüft werden, was sie in diesem Raum bewirken. Zweitens ist Bestandteil feministischer Forderungen auch ein für Männer wie Frauen gleichberechtigter Zugang zu Privatheit und zu Funktionen als öffentlicher Person als Möglichkeit der Abgrenzung – auch gegenüber der Familie. Die Bürotür zu schließen und einen Rückzugsort zu haben, ist ein Privileg, das immer noch 386 Vgl. Moller Okin 1991, S. 70–71.

200 Bürgerin ungleich verteilt ist.387 Forderungen nach einer Neubewertung des »Privaten« sind jedoch nicht primärer Gegenstand, sondern Ergebnis weitaus tiefgründigerer Diskussionen. 9.5 »Das Persönliche ist politisch« Auf beide Differenzierungsvorschläge reagieren Vertreter feministischer Positionen in der politischen Philosophie. Mit einer fehlgeleiteten Abgrenzung zwischen »privat« und »öffentlich« geht etwa nach Jean Bethke Elshtain allzu leicht eine Entwertung des häuslichen Lebensbereiches einher.388 Sie argumentiert, dass der familiäre Lebensbereich aber mindestens in der amerikanischen Gesellschaft ein zentraler, auch politisch bedeutungsstiftender Raum ist. Hier werden Werte der Zuneigung und Liebe gepflegt, die eine moralisch gebietende Natur entfalten können, die weit über den Bereich eines vermeintlich privaten Lebens hinausweisen.389 Folgerichtig wendet sich Elshtain auch gegen das Konzept des öffentlichen Raums als eines idealisierten Spezialraums. Werte der Zugehörigkeit, Anerkennung und Liebe sind in der Familie beheimatet. Statt jedoch einen idealen öffentlichen Raum zu entwerfen, fordert Elshtain eine »öffentliche Welt«, die durchdrungen ist von Lebenswirklichkeit, Idealen und durchaus auch Konflikten familiären Lebens.390 Nur so kann die Wechselwirkung beider Seiten gewürdigt und positiv genutzt werden. Elshtains Blick auf die Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« ist kohärent mit ihrer auch als »konservativ« bezeichneten feministischen Perspektive. Denkerinnen, die dem Liberalismus verpflichtet sind, haben einen anderen Schwerpunkt gewählt. Sie weisen auf Folgen der Entpolitisierung des Privaten durch die Abgrenzung 387 Vgl. Moller Okin 2001, S. 87–90. 388 Vgl. Elshtain 1993, S. 321–323. 389 Vgl. ebd., S. 327. 390 Vgl. ebd., S. 347.

»Das Persönliche ist politisch«

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gegenüber dem »Öffentlichen« hin. In diesem Sinn hat Susan Moller Okin eine kritische Relektüre von Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit angestoßen.391 Nach ihrer Interpretation hat John Rawls mit seiner unkritischen Rede von »Parteien« und »Familien« als Repräsentanten in einem Verteilungsszenario des Urzustands nicht nur ein patriarchalisch geprägtes Familienbild vertreten. Vielmehr hat er in seiner politischen Theorie zugleich Ungerechtigkeiten innerhalb der Familie zugelassen.392 Familien, in denen Gerechtigkeit herrscht, werden zudem bei ihm wie selbstverständlich als Bedingung moralischer Entwicklungsmöglichkeiten in Anspruch genommen.393 Es kommt Rawls nicht in den Sinn, dass es familieninterne Ungerechtigkeiten geben kann, für deren Thematisierung und Beseitigung auch staatliche Instanzen gefragt sind. Nach Moller Okin schließt er damit nur folgerichtig an eine Tradition des Liberalismus an, in welcher das »Recht auf Privatheit«  – wie bereits bei Locke  – den männlichen Haushaltsvorstehern vorbehalten bleibt. Notwendiger Bestandteil der politischen Theorie sind dagegen Forderungen, die zu einer gerechten Struktur des Persönlichen mit Rücksicht auf gemeinsame Pflichten beitragen können. Wieder geht es um die Gestaltung zwischen einander wechselseitig bedingender Sphären des Lebens von Bürgerinnen und Bürgern. Als eine ebenfalls dem politischen Liberalismus verpflichtete Denkerin macht Martha C. Nussbaum auf einen allgemeinen Punkt aufmerksam und führt zugleich weitere Differenzierungen ein. In Auseinandersetzung mit Ansätzen im Feminismus, die den Liberalismus wegen seiner vermeintlichen Kulturblindheit und auch wegen seiner Rigorosität kritisieren, unterstreicht Nussbaum, dass gerade ein liberales Politikverständnis Frauen in ihren Anliegen wirksam unterstützen kann. Ein politisch-liberaler Ansatz muss dazu nur konsequent durchgeführt werden. Gerade die Perspektive auf das Individuum und nicht 391 Moller Okin 1991  ; 1989. 392 Moller Okin 1991, S. 71. 393 Ebd.

202 Bürgerin seine Bindungen ermöglicht eine Politik der Rechte, die vermeintlich private Bereiche durchdringt. Auch mit Rücksicht auf Frauen sollte gelten, dass jede Einzelne als Zweck betrachtet wird, sodass auch jeder einzelnen Frau politische Aufmerksamkeit gilt.394 Der Fehler liberaler Theorien liegt nicht in ihrer Fixierung auf das Individuum, sondern darin, dass das Leitthema nicht konsequent genug durchgeführt wurde.395 Die Förderung von Gerechtigkeit zwischen Personen macht nur dann vor der Haustür halt, wenn private Bindungen als unpolitischer Lebensbereich fehlinterpretiert werden. An den konservativen und liberalen Kritiken der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« wird deutlich, dass diese weder mit einem kommunitaristisch-konservativen, noch mit einem individuenzentrierten Politikverständnis kommunizierbar sind. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeit und Notwendigkeiten der Durchdringung von Persönlichem und Politischem neu zu bedenken. Die feministische Kritik richtet sich aber nicht allein auf eine Neubewertung des »Privaten« und den Verzicht auf eine politisch motivierte Grenzziehung zwischen »privat« und »öffentlich«. Es wird auch erörtert, in welcher Weise die Bestimmung von »Öffentlichkeit« revidiert werden muss. Nancy Fraser setzt  – wie andere Feministinnen der kritischen Schule  – ihre Kritik bei dem habermasschen Öffentlichkeitskonzept an.396 Sie zeigt, dass die von Habermas geleistete Rekonstruktion von Öffentlichkeit nicht nur idealisierend, sondern geradezu falsch sei. Statt ein umfassender Raum freier Deliberation unter Gleichen zu sein, müsse die Öffentlichkeit in ihrer historischen Entstehung als eine von männlichen Idealen durchdrungene Sphäre gesellschaftlichen Lebens gesehen werden, die sich in bewusster Abgrenzung gegenüber weniger machtzentrierten Konstellationen von Öffentlichkeit durch394 Vgl. Nussbaum 2002b, S. 32. 395 Vgl. ebd., S. 38. 396 Vgl. Fraser 1992.

»Das Persönliche ist politisch«

203

setzen konnte. Nach dieser Diagnose bleiben kaum Möglichkeiten, die Konzeption der »Öffentlichkeit« zu reparieren. Anders wird die Situation von Seyla Benhabib beurteilt.397 Sie schlägt vor, die diskurstheoretische Rechtfertigung von konfliktregulierenden Normen um zwei Aspekte anzureichern. Erstens gelte es anzuerkennen, dass Diskursregeln keine impliziten Voraussetzungen in einer konsensorientierten Sprechsituation sind. Vielmehr müssen sie unabhängig von diskurstheoretischen Annahmen gerechtfertigt und unabhängig von der Diskurssituation institutionalisiert werden. Während Habermas dem zweiten Aspekt durchaus zustimmen kann, stellt der erste eine Herausforderung für seine theoretischen Grundannahmen dar. Dass Menschen in einem zu Zwecken der Verständigung geführten Dialog einander als Freie und Gleiche begegnen, ist notwendige Voraussetzung argumentativer Rede, nicht jedoch nur eine Rahmenbedingung. Zweitens müsse der Diskurs nicht nur offen sein mit Rücksicht auf mögliche Beteiligte. Vielmehr müsse er auch offen sein für Problemstellungen, die aus der konkreten Lebenswirklichkeit der einzelnen Beteiligten resultieren.398 Wenn etwa Frauen unter einer Ungleichverteilung häuslicher Pflichten leiden, müssten sie auch das Recht haben, genau dies zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses zu machen. Nicht als abstrakte Gleiche, sondern als Personen mit je eigenen Lebensgeschichten sollten Menschen im Raum des Politischen respektiert werden. Nur so lasse sich vermeiden, dass mit dem Raum der Öffentlichkeit nicht zugleich ein tabuisierter Bereich persönlicher Probleme geschaffen werde. Die verschiedenartigen Kritiken der Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« zeigen, dass Feministinnen keinesfalls mit einer Stimme sprechen, wenn sie die Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« anprangern. Trotzdem ist es richtig zu sagen, dass sie alle, wenn auch aus unterschiedlicher Warte, die Doktrin unterschreiben würden  : »Das Persönliche ist politisch«. Voraussetzung ist, dass die 397 Vgl. Benhabib 1999. 398 Vgl. Benhabib 1987, S. 87.

204 Bürgerin Doktrin nicht als eine radikale Forderung entweder nach Zerschlagung des Privaten oder nach einer Identifizierung des Persönlichen mit dem Politischen ausgelegt wird. Feministinnen fordern keinesfalls die Abschaffung des Privaten. Vielmehr wünschen sie einen alternativen Begriff von Privatheit – und konsequent auch des »Öffentlichen«. Insbesondere fordern sie, darüber nachzudenken, wie beide Bereiche einander bedingen und durchdringen können. Im Arbeitsgebiet der politischen Philosophie fordern Feministinnen nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Rolle der Frau in einer politischen Perspektive. Vielmehr deutet die Auseinandersetzung auch in Richtung eines intern differenzierten Bürgerkonzepts. In dieser Studie wird eine Konzeption entwickelt, die auch auf diese Forderung reagieren kann. Nur wenn der Bürgerstatus nicht auf eine Familie unantastbarer politischer Rechte reduziert wird, kann auch eine Antwort gegeben werden auf die vielschichtigen Anliegen des Feminismus. Bereits Mill, der Zeit seines Lebens für die Rechte von Frauen gekämpft hat und sogar die Durchsetzung des Frauenwahlrechts im »House of Commons« erwirken konnte, weiß, dass ein Rechtstitel nur einen »kleinen Platz« im modernen Leben ausfüllen kann. Zwar ist die Rechtswirklichkeit insofern grundlegend, als sie den Ausgangspunkt für eine andere politische Wirklichkeit darstellt. Mill erläutert, dass die in Rechtskategorien festgelegte Unterordnung eines Geschlechts unter das andere falsch ist. Sie sollte durch ein Prinzip vollkommener Gleichheit ersetzt werden.399 Und dennoch ist es so, dass Sitten und Institutionen, die auf nichts anderem gründen als auf dem Recht des Stärkeren, sich in der allgemeinen Meinung verfestigen – selbst dann, wenn sie noch nie zu Recht existiert haben.400 Auch deshalb ist es notwendig, den »Bürger« als ein umfangreiches politisches Ideal zu thematisieren. 399 Vgl. Mill 1988, S. 1. 400 Vgl. ebd., S. 10.

Schluss

I

n diesem Buch wurde der »Bürger« als ein Grundlagenbegriff der aktuellen politischen Philosophie erörtert. Das Konzept des Bürgers ist nicht nur die Bezeichnung für eine staatstheoretisch begründete Zuordnung, sondern auch Bezeichnung eines politischen Ideals. Um dessen Gehalt philosophisch zu ergründen, wurden zunächst seine Kernbedeutungen hinsichtlich grundlegender Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen untersucht. Dann wurde diskutiert, wie weitere Elemente des politischen Ideals »Bürger« ausgedeutet werden können. Der Bürger ist nicht nur ein Freier und Gleicher, sondern auch durch seine Wirtschaftsbeteiligungsrechte, seine Mitgliedschaft in den freiwilligen Vereinigungen der Zivilgesellschaft und durch sein Selbstverständnis als Patriot oder Kosmopolit bestimmt. Schließlich wurde in Form eines Ausblicks dargelegt, dass die Theorie des Bürgers auch vor den Herausforderungen steht, den Bürger mit Rücksicht auf die natürliche Umwelt zu thematisieren und erneut nach der Rolle der Frau als Bürgerin zu fragen. In der Erörterung des Bürgers wurde in eine Reihe voneinander unterschiedener Bedeutungsaspekte eingeführt. Jedes dieser Elemente ist mit einer Diskussion der politischen Philosophie belegt, die in ihren wichtigsten Aussagen, Argumenten und Hintergrundannahmen verdeutlicht wurden. Obwohl es die erste Aufgabe dieser Studie ist, jene Diskurse einführend zu erläutern und insofern einen ersten Einblick in die politische Philosophie zu unterstützen, ist bereits eine Einführung auch dazu angetan, ein Bild des Untersuchungsgegenstandes zu skizzieren, das einige, unverwechselbare Eigenschaften hat. Diese Studie beendend möchte ich einige dieser Aspekte benennen. Dass die Bedeutungsgehalte Komponenten eines umfassenden politischen Konzepts sind, bedeutet nicht, dass sie alle dasselbe Gewicht

206 Schluss haben. Dennoch kann nur durch eine umfassende Thematisierung aller Elemente einer Tendenz entgegengewirkt werden, die in der politischen Philosophie in unterschiedlicher Weise auftritt. Das Konzept des Bürgers wurde und wird einseitig interpretiert, wenn es auf eine Bedeutungsebene reduziert wird. Im klassisch-liberalen Verständnis des Bürgers werden Freiheitsrechte und Gleichheitsforderungen einseitig bevorzugt. Andere Aspekte des Bürgerstatus werden auch unter der Prämisse der größtmöglichen Zurückhaltung des Staates nur in eingeschränkter Form zugelassen. In einem politisch-liberalen Bürgerkonzept wird eine Erweiterung des harten Kerns politischer Gleichheits- und Freiheitsrechte in der Regel nur dann in Erwägung gezogen, wenn über die Bedingung der Verwirklichung jener Rechte nachgedacht wird. So wird etwa dafür argumentiert, mit einer Erziehung zum Bürger Menschen zu politik- und gesellschaftsfähigen Wesen zu formen, sodass sie ihre Rechte erkennen und wahrnehmen können. Eine patriotische Haltung soll indes jene systematische Lücke füllen, die dadurch entsteht, dass Bürger sich primär als Rechtsträger, nicht jedoch als Pflichtenträger interpretieren. Auch Wirtschaftsbürgerrechte werden erörtert im Zuge der Diskussion von Chancengleichheit und somit auch als Ermöglichungsbedingungen tatsächlicher Gleichheit. Es wird verkannt, wie elementar die Möglichkeiten zur Bildung, zur Annahme einer patriotischen und kosmopolitischen Haltung, zu einer aktiven Beteiligung an der Bürgergesellschaft, zur Wirtschaftsbeteiligung und zum Leben in einer intakten Umwelt für das Selbstverständnis und die politische Verfasstheit des Bürgers tatsächlich sind. Im Gegensatz zum politischen Liberalismus haben im wiederentdeckten bürgerschaftlichen Republikanismus die politischen Teilhaberechte und Gestaltungspflichten des Bürgers einen eindeutigen Vorzug. Politische Organisation dient der Verwirklichung eines Gemeinwillens und des Gemeinwohls einer freien Bürgerschaft. In dieser Deutung wird bisweilen ein idealisierendes Bild des Bürgers gezeichnet. Insbesondere wird nicht deutlich, wie eine solche Vorstellung des Bürgers einer freien Republik mit den Grundlagen des modernen

Schluss

207

Staatsbürgertums und mit einer in sich differenzierten Gesellschaft in Verbindung gebracht werden kann. Eine zweite prägende Eigenschaft der Bürgerkonzeption ergibt sich, wenn die Komponenten nicht eindimensional interpretiert werden. Vielmehr wird mit jedem der skizzierten Bedeutungselemente des Bürgers gleichsam ein Raum aufgespannt zwischen den Polen der jeweiligen staatlichen Ermöglichungsbedingungen einerseits und des Vollzugs bürgerlicher Selbständigkeit andererseits. Wie der Grenzverlauf innerhalb jeder Komponente der bürgerlichen Lebensform beschaffen ist, kann nicht allgemein festgelegt werden. Auch die inhaltliche Ausgestaltung folgt nicht abstrakten Prinzipien. Worin Bildungsgüter bestehen, was genau Gleichheit in einer Gesellschaft bedeutet und wie Wirtschaftsbeteiligung aussehen könnte, wird von kulturellen Gegebenheiten ebenso abhängen wie von ökonomischen Möglichkeiten und jeweiliger politischer Organisationsform. Die sich jeweils ergebenden Formationen und institutionellen Verwirklichungsformen können nicht allgemein bestimmt werden, sondern sind Ergebnis unterschiedlicher Kräfteverhältnisse. Idealtypisch sind allerdings die Leitideen, nach denen sich das Bürgerideal ausdifferenzieren lässt. Sowohl ihre Bestimmung als auch die Erörterungen ihres jeweiligen Gehalts waren in dieser Studie orientiert sowohl an den großen Themen der politischen Philosophie in ihrer Geschichte als auch an den zentralen Gegenständen der Auseinandersetzung in der aktuellen Diskussion. Als abgeschlossen kann die Darstellung des geräumigen Bürgerstatus schließlich erst gelten, wenn auch zwei wichtige Anfragen gehört worden sind. Seit der französischen Revolution ist die Idee des Vollbürgers verbunden mit der Vorstellung, ein jeder Bürger habe dieselben politischen Rechte. Auch wenn die Idee nur schrittweise verwirklicht werden konnte, so ist es doch wichtigster Kern des Bürgerstatus, dass Rechte unbedingt gelten. Dies gilt unabhängig davon, wie der Einzelne sich zu leben entschieden hat und was er leistet. Gilt dies auch dann noch, wenn Elemente des Bürgerideals berücksichtigt werden, die jenseits der Vorstellungen grundlegender Rechte und Freiheiten liegen  ?

208 Schluss Diese Frage kann beantwortet werden, nachdem zuvor eine weitere Präzisierung vorgenommen worden ist. Es gilt zu klären, wie sich das Bürgersein zu anderen Rollen und Identitäten des Menschen verhält und wie das Verhältnis von politischer Institution und Bürger gedacht werden kann. Konzeptionen des Bürgerstatus unterscheiden sich nicht nur darin, was als Gehalt des politischen Ideals »Bürger« gesehen wird. Vielmehr unterscheiden sie sich auch darin, wie der Status des Bürgers im Konzert anderer Rollen des in Gesellschaft lebenden Menschen interpretiert wird. Wenn es eine Skala gäbe, mit welcher die Intensität des Verhältnisses von politischer Rolle als Bürger und dem Leben eines Menschen bestimmt würde, stände an einem Ende der Skala die Konzeption des Bürgers in einer liberalen Demokratie. Bürger zu sein bedeutet in jenem Kontext, eine Rolle unter vielen möglichen anderen zu übernehmen.401 Man könnte sich gar die Einnahme der Bürgerrolle wie die Übernahme eines Amtes vorstellen, das in einem Büro vollzogen wird, das betreten und auch wieder verlassen wird. Zwar ist der Bürgerstatus ein besonderer, insofern er rechtlich gesichert und in politische Institutionen eingebettet ist. Er unterscheidet sich aber nicht grundlegend davon, ein Vater, ein Künstler oder ein Werkzeugmacher zu sein. Jede Rolle wird temporär und willentlich übernommen und in einem mehr oder weniger festgelegten Rahmen geltender Regeln nach persönlichen Vorstellungen ausgefüllt. Mit jeder Rolle gehen auch Gebote und Verbote einher. So wie ein Vater, ein Künstler oder ein Werkzeugmacher sich einer festgelegten Rahmenordnung beugen muss, gilt dies auch für den Bürger. Am anderen Ende der Skala ständen Entwürfe, nach denen Menschen in einem umfassenden Sinne  – aufgrund ihrer natürlichen geselligen Natur, wegen der Beschaffenheit des Politischen oder aus ganz anderen Gründen – voll und ganz darin aufgehen, Bürger zu sein. Zwar mögen solche Konzeptionen des Bürgers heute als konservative 401 So Van Gunsteren 1998.

Schluss

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Träumerei gelten  ; unverkennbar ist aber auch in unseren Gesellschaften von heute die Suche nach mehr politischer Gemeinschaft. Auch Debatten um Bürgerpflichten und Bürgertugenden scheinen von dem Leitbild einer Intensivierung des politischen Lebens inspiriert zu sein. Kommen wir zurück zu unserer Skala, so ist das eine Mal der Raum des Politischen ein selbständiger Lebensbereich und mehr oder weniger technisch beschreibbar. Auf jeden Fall kann er von anderen Dimensionen des Lebens getrennt werden. Das andere Mal ist das Politische Bestandteil der Identität des Menschen. Es kann zu weiten Teilen mit seinen anderen Funktionen, Aufgaben und Rollen in Verbindung gebracht werden. Es ist wohl richtig zu sagen, dass politische Philosophinnen unserer Zeit ihre Position in größerer Nähe zur ersten Möglichkeit anlegen werden  ; die zweite Option wird dagegen nur als eine extreme Denkmöglichkeit in Betracht gezogen. Liegt die Bestimmung irgendwo zwischen beiden Polen, wird damit auch die These vertreten, der Bürgerstatus fülle nicht das Leben eines Menschen aus. Jedoch wird er mehr oder weniger umfänglich einen Teil seines Lebens beanspruchen. Aber auch im Fall einer moderaten Einschätzung des Verhältnisses von Bürgerrolle und Privatleben wird vorausgesetzt, dass die Bürgerrolle als eine kohärente Funktion beschrieben werden kann. In der in diesem Buch skizzierten Theorie des Bürgers wird gerade dies in Zweifel gezogen. Es wurde erläutert, dass das Bürgerideal aus Elementen besteht, die weder aufeinander reduzierbar sind, noch insgesamt als Übernahme einer »Rolle« interpretiert werden können. Mit Rücksicht auf jedes Element wurden spezifische Rahmenbedingungen und Interpretationsmöglichkeiten erörtert. Die Freiheit des Bürgers besteht aus fünf verschiedenen gleichursprünglichen Freiheitsformen, deren Schutz eingeklagt wird. Gleichheitsforderungen sind inhaltlich zu spezifizieren  ; insbesondere ist das systematische Verhältnis von Hinsichten der Gleichheit und Begründung der Gleichheit zu bedenken. Dabei muss die politische Gleichheit im Vordergrund stehen. Wirtschaftsbeteiligung

210 Schluss scheint nicht nur ein Grundrecht zu sein  ; vielmehr dient sie dazu, den Bürger als eine unabhängige Person zu etablieren. Das Leben in der Zivilgesellschaft ist Ausdruck bürgerlicher Freiheit  ; dies gilt insbesondere hinsichtlich der nicht mit gesamtgesellschaftlich identifizierbaren Parteilichkeit und Solidarität der Bürgerinnen untereinander. Die als Patriotismus beschriebene Zugehörigkeitskultur bleibt kritisch zu prüfen  ; eine wichtige Hinsicht ihrer Rechtfertigung ist der Zusammenhang mit einer weltbürgerlichen Haltung, die an grundlegenden Gerechtigkeitsforderungen ihren Maßstab findet. Das Verhältnis von Bürgerstatus und Umwelt wird ebenfalls heute in die Überlegungen zum Bürger integriert  ; Ideale der Umweltgerechtigkeit und der Nachhaltigkeit tragen dazu bei, auch die Anforderungen zugunsten kollektiver Ziele neu zu denken. Schließlich wird die Bürgertheorie auch im Lichte der Revisionen des politischen Feminismus erneut auf den Prüfstand gestellt. Vor allem vor einer allzu leichtfertigen Abgrenzung zwischen dem Privaten und dem Politischen wurde gewarnt. Es ist und bleibt ein anspruchsvolles Projekt, dem Ideal des Bürgers immer wieder auch zur politischen Wirklichkeit zu verhelfen.

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Per sonenr egister Appiah, Kwame 29, 165, 166 Aristoteles 20, 30, 57f., 61, 64, 76f., 102f., 124f. Auclert, Hubertine 185 Barber, Benjamin 164 Behse, G. 33 Bell, Derek R. 175, 178 Bellah, Robert N. 130f. Benhabib, Seyla 27, 60, 74f., 203 Berlin, Isaiah 36, 40 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 59, 63 Boyes, Roger 147, 167 Bradley, A.C. 125 Constant, Benjamin 36, 38–40 Dahl, Robert 61f., 75 Dahlerup, Drude 194f. Di Fabio, Udo 95f. Dobson, Andrew 28, 168, 176 Donner, Wendy 45 Dworkin, Ronald 57 Eberly, Don E. 100 Elshtain, Jean Bethke 186, 200 Falk, Richard 174 Faulks, Keith 27 Finley, M. I. 58 Fraser, Nancy 198, 202 Friedman, Milton 79, 84–87, 91, 126f. Friedman, Rose 84–87 Galston, William 130f. Gellner, Ernest 153 Gilligan, Carol 188

Glazer, Nathan 164 Gutman, Amy 122, 134–39 Habermas, Jürgen 49, 54, 87, 91, 95f., 109f., 146, 152, 154–56, 202f. Hailwood, Simon 176 Havel, Vaclav 115f. Held, Virginia 188 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21, 99, 104f., 114 Herder 124 Hobbes, Thomas 42, 80–82 Hobsbawm, Eric J. 52 Holmes, Stephen 65 Honneth, Axel 92, 94 Humboldt, Wilhelm von 121, 123f., 138 Ignatieff, Michael 29, 147 Jonas, Hans 177, 182 Kallhoff, Angela 140f. Kant, Immanuel 42, 50, 94, 162f. Kateb, George 116 Kersting, Wolfgang 67, 69 Kymlicka, Will 71 Leist, Anton 144 Locke, John 42–44, 80–82, 103f., 133, 198, 201 Luhmann, Niklas 91 Macedo, Stephen 129, 132 Machiavelli, Niccolo 47 MacIntyre, Alasdair 15, 145, 147–150 MacKinnon, Catharine A. 189 MacPherson, C. B. 49, 78f., 82f.

224 Personenregister Madison, James 114 Mansbridge, Jane 196f. Márai, Sándor 117 Marshall, T. H. 53, 59, 172f. Mill, John Stuart 44f., 48f., 106, 126, 129, 138, 204 Miller, David 151 Moller Okin, Susan 198–200, 201 Münkler, Herfried 160 Murphy, Liam 119 Nagel, Thomas 119 Nipperdey, Thomas 122 Norman, Wayne 71 Nussbaum, Martha C. 13, 29, 32, 68, 70, 77, 139–141, 163–65, 173f., 193, 201f. Offen, Karen 185 Ogilvie, Robert S. 120 Ostrom, Elinor 180f. Pateman, Carole 193 Pettit, Philip 25, 46f. Phillips, Anne 185, 193, 196f. Platon 77, 125 Pocock, J. G. A. 19, 60f. Putnam, Robert 105f., 109 Rawls, John 25, 42, 44, 53, 55, 65f., 96, 107, 118, 127–130, 137, 142, 175, 201 Riedel, Manfred 102 Rosenblum, Nancy L. 112f., 190 Rousseau, Jean-Jacques 21, 35f., 42f., 47, 52, 80–82

Sandel, Michael J. 108f., 160 Schmidt, James 103, 114 Sen, Amartya 12, 59, 64, 68, 164 Shklar, Judith N. 93f. Sidgwick, Henry 150 Skinner, Quentin 41 Smith, Adam 126 Soulé, Edward 85 Soysal, Yasemin Nuhoğlu 60 Steenbergen, Bart van 172 Sternberger, Dolf 146, 154 Sunstein, Cass R. 65, 108, 160, 174 Taylor, Charles 156–158 Turner, Bryan S. 79 Ulrich, Peter 13, 28, 78f., 88–90, 96 Van Gunsteren, Herman R. 26, 73, 208 Viroli, Maurizio 31, 47, 108, 143, 148f. Waldron, Jeremy 161 Walzer, Michael 111, 115, 119 Warren, Mark E. 100, 105 Weil, Hans 121, 142 Westbrook, Robert B. 50 Wolf, Ursula 64 Wollstonecraft, Mary 186 Yack, Bernard 149 Young, Iris Marion 74, 191

Sachr egister Anerkennung 72, 89, 92–94, 108, 116, 147, 155, 159f., 166, 175, 185, 188, 193, 200 Arbeit 21, 47, 55, 81–83, 89f., 92–97, 135, 172, 189, 193f. Bildung 14, 27, 29, 32, 34, 64, 68, 75, 86, 101, 121–127, 130, 133f., 137–140, 142, 172, 206 Bildungsbürger verstanden als gebildeter Bürger (»educated citizen«) 14f., 19, 28f., 31, 34, Kap. 6, 169, 184 verstanden als Standesbegriff 14, 28f., Kap. 6 Bildungsgüter 122–124, 139–142, 207 Brüderlichkeit 32, 99, 116–119 Bürger als Bourgeois (besitzender Stadtbewohner) 21, 140 als Citoyen (Staatsbürger) 20f., 143 als Kosmopolit/Weltbürger 10, 15f., 29, 146, 161–167, 170, 205f., 210 als Mitglied der Zivilgesellschaft 10, 13, 110 als Mitglied in der bürgerlichen Gesellschaft 22, 35 als Mitglied einer politischen Gemeinschaft 31, 122, 171 als Partner und Bruder 13, Kap. 5 als politische Person 9, 12, 16, 24, 28f., 31 als Rechtssubjekt 9, 19, 21f., 27, 33f. als Rolle (unter anderen Rollen bzw. Identitäten des Menschen) 14, 139, 198f., 204f., 208f. Bürgerbegriff/Bürgerkonzept 9, 11

adjektivische/qualifizierte Bürgerkonzepte 19, 28f., 31 als Epochenbegriff 11, 18–24 als gesellschaftlicher Reflexionsbegriff 11, 23f. die Form des Bürgerkonzepts 30 der Gehalt des Bürgerkonzepts 22, 30, 32 in der Antike 9f., 18–20, 30f., 57, 60f., 76, 143, 146, 163 im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit 18, 20f. in der Moderne 10, 18 im klassisch-liberalen Verständnis 206 im bürgerschaftlichen Republikanismus 206f. Vieldimensionalität der Bürgerkonzeption 11, 30, 33 Bürgerin 10, 16f., Kap. 9, 205, 210 bürgerliche Gesellschaft 21, 99, 101–104, 106 bürgerliche Erziehung (»civic education«) bzw. Erziehung zum Bürger 122–124, 127–139 bürgerliche Interessen 103 bürgerlicher Zustand 41f., 50 Bürgerstatus 9f., 13, 16, 18f., 52, 157, 159f., 173 als Ausdruck einer gelungenen politischen Lebensform 10, 19, 44, 94 als geräumiges politisches Ideal 13, 16f., 19f., 22, 26f., 30, 32f., 89, 95–98, 119, 142, 145, 180, Kap. 8.5, 187f., 204–210 »indirekte Bürgerschaft« 190 verbunden mit politischer Teilhabe

226 Sachregister 20, 22, 30, 57–62, 64, 76, 172, 185f., 206 verbunden mit Wirtschaftsbeteiligung 10, 13, 27, 79, 88, 90, Kap. 4.4, 96f., 205–207, 209f. Bürgertugenden 31, 33, 90, 100, 102f., 107–110, 112f., 125, 127–129, 131– 133, 137f., 150f., 159f., 176f., 209 Chicago School of Economics, Kritik an – 79, 84f., 87 Citizenship 9–11, 18 consumer citizenship 19, 28 cyber citizenship 19, 28 ecological citizenship 16, 19, 28 educated citizenship 14, 19 deliberative Demokratietheorie 11, 24, 54f., 62, 106, 109 Demokratie 14f., 50f., 53–55, 61f., 73, 76f., 101, 105–109, 111–115, 128f., 146, 158, 184 Paradox der – 29 »demokratische Erziehung« 127, 132–136, 137, 157 Egalitarismus, Kritik des – 67 Eigentum 79 Eigentum und Bürgerstatus 13, 38, 76–78, 82f., 87 Eigentum und individuelle Freiheit 38, 83f. Privateigentum 13, 36, 39, 77, 82, 85, 88, 183 Recht auf Privateigentum 38, 81f., 85 Schutz des Privateigentums 85, 94 Staatseigentum 77 Erziehung 139 (siehe auch bürgerliche Erziehung) Fähigkeiten des Bürgers (Liste dieser Fähigkeiten) 10, 13, 15, 32, 34, 52, 56,

68–70, 82, 89, 92, 97, 112, 118, 131, 136, 139, 142, 158f., 173, 176, 180 Familie 17, 46f., 96, 99f., 125, 128, 133, 136, 148, 194, 196, 198f., 200f. Feministische Sicht auf den Bürger­ begriff 11, 16f., Kap. 9, 210 Freiheit, Formen der – Freiheit der Lebensführung 12, 24, 37, 43–46, 49, 54–56 Freiheit von willkürlicher Machtausübung 12, 37, 46–48, 53, 55, 61 Freiheit zur politischen Selbstbestimmung (Autonomie) 12, 19, 37, 39, 50–53, 55, 74, 94 Freiheit zur Vergesellschaftung 12, 37, 48–50, 54–56, 119 Schutz vor Übergriffen 12, 37, 41–43, 45, 52, 54–56 Freiheit des Bürgers 9–12, 32, 34–38, 42, 98, 170f., 182f., 209f. als Grundlage eines politischen Ideals 32 Freiheit des Gewissens 37, 44, 46, 49, 104 Freiheit in der Wirtschaftsbeteiligung 10, 13, 78f., 84–87, 90, 94f. freie Meinungsäußerung (auch im Sinne von Kommunikationsfreiheit) 37, 39, 48–50, 54, 62, 110, 134, 136, 158f. negative und positive Freiheit 12, 36–41, 52f., 82 System der Freiheiten 12, 51–56, 85 Freiheit, Theorien politischer – 34 Freiheit, Wert der – 12, 24 Fürsorge-Ethik 188 Gemeinschaft der Bürger politische Gemeinschaft 20, 23, 26, 29–32, 34, 36f., 52, 55, 60, 65, 69f., 73f., 80, 82, 101–103, 107f., 110, 122, 133, 149f., 160, 161, 166, 170–173, 179–181, 209

Sachregister Risiko- und Verantwortungsgemeinschaft 173f. Schicksalsgemeinschaft 26, 73f., 152 Gemeinwohl 24–26, 31, 47, 52, 99, 103, 111f., 114, 156, 158f., 206 Gerechtigkeit allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung 64 »Anwendungsbedingungen« von Gerechtigkeitsforderungen nach Rawls 65f. ausgleichende Gerechtigkeit 64 Gerechtigkeitserfordernisse 26 soziale Gerechtigkeit 12, 59, 63–67, 74f., 97, 183 verteilende Gerechtigkeit 64, 66, 68, 70, 76 Gesellschaftsvertrag 35, 42, 52, 80 Gleichheit der Bürger 9–13, 31f., 34, 98, 187 Achtung und Anerkennung als Gleicher 57, 74 als Grundlage eines politischen Ideals 32 Gleichheit für benachteiligte Gruppen 71–74 Gleichheit in der Antike (Aristotelische Vorstellung der Gleichheit) 57f., 60f. Hinsichten der bürgerlichen Gleichheit 58f., 63–65, 70, 73f., 209 Wert der bürgerlichen Gleichheit 12 Gleichheitsforderungen 12f., 32, 59f., 64–66, 74, 183, 193, 199, 206, 209 Liste der Gleichheitsforderungen 12 Gleichheit, Typen der – absolute Gleichheit 58, 64, 73 Chancengleichheit 68f., 95, 206 Gleichheit an Ressourcen 13, 66, 68, 175, 183f., 194 Gleichheit an Wohlergehen 13, 66 Gleichheit in der Verteilung von Gütern und Lasten 57

227 politische Gleichheit 12, 59–66, 74f., 183, 209 Rechtsgleichheit 61, 63f., 73f., 174, 183, 206 soziale Gleichheit 12, 59 verfahrensbezogene Gleichheit 63 Globalisierung und freier Markt 87 Güter Bereitstellung öffentlicher Güter 69f., 86 Verteilung der Güter 59 Kulturgüter 70, 140f. Gemeinschaftsgüter 140, 180f. Ideal der bürgerlichen Freiheit (Selbstbestimmung) 19, 47 der bürgerlichen Gleichheit (und seine Kritik) 19, 60, 73–75, 80 des gerechten Austausches 14 des unabhängigen Bürgers 96 der Zivilgesellschaft 115f. Kommunitarismus 11, 24, 196 Kompetenzen des Bürgers 14, 16, 19, 27, 29f., 32–34, 70, 75, 97f., 135, 169 Kosmopolitismus/Weltbürgertum 11, 15f., 29, 146, 161–167, 170, 205f., 210 Legitimität des Rechtsstaates 54 Liberalismus Neoliberalismus 87, 96 politischer Liberalismus 11, 14f., 17, 24f., 27, 30, 33, 36, 44, 49, 52, 67, 82f., 96, 106, 107, 111, 124, 127– 130, 132–134, 138, 142, 159, 169, 175f., 200f., 206 Unterscheidung zwischen Entwicklungs-Liberalismus und Schutzmacht-Liberalismus 49

228 Sachregister Marktwirtschaft als Hindernis politischer und rechtlicher Gleichheit 75, 90f. als Ort vertraglicher Einigung 38, 83 und Wohlstand 87, 91 Menschenrechte 26, 37, 154, 161 Migration 26f., 161, 165, 168, 170 Minderheitenrechte siehe Rechte des Bürgers (Gruppenrechte) Nation (im Sinne von Nationalstaat) 93f., 119, 147, 151f., 165 Nationalismus 15, 143, 146–147, 151– 153, 155–157, 161, 167 Nationalist 151f. Naturzustand 42, 81, 162 Nicht-Schadens-Prinzip 44f. Öffentliche, das 198, 201 Öffentlichkeit (im Sinne von politischer Öffentlichkeit) 24, 48–51, 54f., 62, 70, 108–110, 112, 114, 155, 176, 190, 202f. demokratische – 109 lebendige – 110 ökologische Ethik 171 Patriot 15, Kap. 7 Patriotismus 11, 15f., 29, 32, Kap.7, 210 Gefahr des – 145 kulturontologischer Patriotismus 143f. liberaler Patriotismus 144 Patriotismus als Tugend 15, 144f., Kap. 7.1 Verfassungspatriotismus 15, 145f., 153–155 Pluralismus/Diversität (der Lebensformen und -stile) 44, 66, 73, 75, 110, 131 Politik der wechselseitigen Achtung 44 Politische Institutionen 9, 15, 27, 29f., 34f., 37, 59, 69, 75, 85, 91, 107, 109,

119, 126, 128, 133, 136f., 167, 175, 179, 198, 208 Pragmatismus 49 privat – öffentlich, Unterscheidung von 187, 197–200, 202–204, 210 Privatwirtschaft 21, 104f. Rechte des Bürgers 33, 36, 44, 48–50 Gruppenrechte (Minderheitenrechte) 72f. »Rechte der zweiten Generation« 58, 60, 172 Recht auf Eigentum 36, 38, 43 Recht auf politische Teilhabe 60, 185, 206 Recht auf Privatheit 36, 201 Recht auf Unversehrtheit der Person 36, 43 Republikanismus 11, 24f., 31, 36, 46f., 106–108, 112, 149, 159, 206 republikanisches Freiheitsmodell 46, 52 Republikanismus als bürgerliches Ideal 47 Sicherheit (im Sinne von Rechtssicherheit und sozialer Sicherheit) 42, 80, 85, 155, 172 Soziale Wertschätzung 92 Sozialstaat (auch im Sinne von Wohlfahrtsstaat) 58, 63, 67, 71, 100, 118, 193 Staat, Aufgaben des – 64, 68, 70, 75, 102f. Staatsbürger als freier und gleicher Bürger 21f. Ansprüche und gleiches Anrecht von Staatsbürgern 9, 12f., 23, 25f., 64f. Identifizierung mit dem eigenen politischen Gemeinwesen 10, 15, 23, 29, 32f. Staatsbürgerschaft (und politische Gleichheit) 9, 12, 59–61, 66, 75, 183, 209

Sachregister Umweltbürger 10f., 16, 28f., 31, 34, Kap. 8, 210 Umweltkompetenzen 16, 27, 29, 31f., 34, 75 Umweltmigration 170 Ungleichheiten von Gruppen von Menschen 60 Ungleichverteilung ökonomischer Mittel 38, 85 Verdienst (im Sinne von Einkommen) 93f. Vertragstheorien 38, 42f., 78, 80–82, 103, 173 Weltbürger siehe Bürger als Kosmopolit und Kosmopolitismus Werte, politische –/Werte der jeweiligen

229 politischen Lebensform 14, 23f., 33, 91, 127 Wirtschaftsbürger 11, 13, 27–29, 31, Kap. 4, 169, 178, 183, 209f. Freiheit des Wirtschaftsbürgers 13, 38, 78f., 84–87 Wert der Wirtschaftsbeteiligung 79, 90, 93f., 96f. Wirtschaftsbeteiligungsrechte/Wirtschaftsbürgerrechte 13, 78f., 88–90, 205f. Wirtschaftsethik 13, 28, 79, 88 Wohlfahrtsstaat siehe Sozialstaat Zivilgesellschaft bzw. zivile Gesellschaft 10f., 13f., 17, 21, 91, 94, Kap. 5, 134, 190, 198, 205, 210 Funktionen der – 106–110

Nach wort

D

ieses Buch verdankt sich einer transatlantischen Erfahrung. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist der Begriff des Bürgers sowohl im akademischen Diskurs als auch in der Selbstverständigung der Staatsbürger und -bürgerinnen ein zentraler Reflexionsbegriff. Im europäischen Kontext dagegen ist die Auseinandersetzung über den Bürgerbegriff wenigen Fachdisziplinen vorbehalten. Gerade in Zeiten der europäischen Krise scheint mir eine Verständigung über die Gehalte von »citizenship« jedoch besonders dringlich. Dieses Buch gilt dem Versuch, eine Diskussion über die normativen Gehalte des Bürgers über die Grenzen der eigenen Beheimatung hinweg anzustoßen. Mit ihren wegweisenden historischen Entwürfen und mit ihren aktuellen Auseinandersetzungen ist die politische Philosophie für eine solche Studie der geeignete Kontext. Für die sehr konkreten Arbeiten der Korrektur des Manuskripts und der Erstellung des Registers danke ich Michaela Bartsch, Kathi Beier, Othmar Kastner und dem Lektorat des Böhlau Verlags. Für Unterstützung zum Druck des Buches gilt mein besonderer Dank der Geschwister Böhringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Kulturabteilung der Stadt Wien. Angela Kallhoff Mai 2013

Michael Schäfer

Geschichte des Bürgertums

Michael Schäfer

GeSchichte deS BürGertuMS Böhlau

eine einführunG (utB für WiSSenSchaft 3115 S)

Das Studienbuch nähert sich der Geschichte des deutschen Bürgertums aus mehreren Perspektiven. Es verfolgt den Wandel des Stadtbürgertums als kommunaler Trägerschicht seit dem Mittelalter. Es führt in die Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums und seiner Teilformationen (Bildungsbürgertum, Wirtschaftsbürgertum, Alter und Neuer Mittelstand) ein. Das Bürgertum wird schließlich in einen engen historischen Bezug gesetzt mit Konzepten von Bürgerlicher Gesellschaft und von Bürgerlichkeit als Wertekanon und Lebensstil. Das Buch bietet Studierenden und Dozenten übersichtliche Pfade durch die verwirrende Vielfalt der Lesarten, Ansätze und Begrifflichkeiten der neueren Bürgertumsforschung. 2009. 274 S. Br. 120 x 185 mm. ISBN 978-3-8252-3115-6

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HANS-WERNER HAHN, DIETER HEIN (HG.)

BÜRGERLICHE WERTE UM 1800 ENTWURF – VERMITTLUNG – REZEPTION

Die zentrale Rolle, die der Formulierung und Vermittlung bürgerlicher Werte wie Bildung, Arbeit, Selbständigkeit im Übergang zur modernen bürgerlichen Gesellschaft zukam, steht im Blickfeld der hier versammelten Beiträge. Aus verschiedenen Perspektiven wird versucht, die Komplexität des bürgerlichen Wertediskurses in der Epoche um 1800 sowie die Prozesse der Verbreitung und Aneignung zu erschließen. Es geht dabei um die Werte selbst, die bürgerlichen Werteproduzenten, die Vermittlungsinstanzen und schließlich um die Rezipienten und Rezeptionsprozesse. Ferner wird die Bedeutung der Region Weimar-Jena in der Wertediskussion dieser Zeit und des damit verbundenen bürgerlichen Auf bruchs betrachtet. Deutlicher als bisher in der Forschung dargelegt, zeigen die Beiträge, dass man weder von einem normativen Begriff bürgerlicher Werte noch dem Bild eines feststehenden Wertekanons ausgehen kann, sondern die einzelnen Werte in ihrer Eigenart und ihrer Wirkung auf das sich neu bildende Bürgertum differenzierter beurteilen muss. 2005. 420 S. 1 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-16904-6

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