Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik [1 ed.] 9783428485420, 9783428085422

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Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik [1 ed.]
 9783428485420, 9783428085422

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SEOG-YUN SONG

Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 49

Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik

Von Seog-Yun Song

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Song, Seog-Yun: Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik I von Seog-Yun Song. - Berlin: Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 49) Zug!.: Bielefeld, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08542-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-08542-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1995 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Sielefeld als Dissertation angenommen. Meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Dieter Grimm, Richter des Bundesverfassungsgerichts, danke ich herzliehst für die engagierte Betreuung der Arbeit und für die freundliche Unterstützung, die ich während meines Studienaufenthalts in Sielefeld erfahren habe. Frau Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff gebührt mein Dank für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens: Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Helge Rossen, der mir ein freundlicher und anregender Gesprächspartner war und für die sprachliche Verbesserung der Arbeit viel Mühe aufgewandt hat. Für die Unterstützung bei den Korrekturen habe ich mich bei Frau Nicole Pippke, Frau Dorit Müller und Frau Astrid Kortemeyer zu bedanken. Finanziell gefördert wurde diese Arbeit durch die Heinrich-Hertz-Stiftung des Landes Nordrhein-Westfalen, den Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts e.V. und die Fazit-Stiftung. Danken möchte ich auch Herrn Verleger Prof. Dr. jur. h. c. Norbert Sirnon für die Aufnahme der Arbeit in das Verlagsprogramm des Hauses Duncker & Humblot. Schließlich danke ich meiner Frau, die mein Studium in Deutschland begleitet hat. Bielefeld, im August 1995

Seog-Yun Song

Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................ ............................... ...... .......... ............ .. .................. .. 13 1. Kapitel Politische Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie Deutschlands A. Konstitutionelle Monarchie und der Strukturwandel der Gesellschaft ....................... 21 B. Entwicklung der politischen Parteien und Verbände .................................................. 24

I. Politische Parteien in der verspäteten Parlamentarisierung ................................... 24 I. Die Formung des Parteiensystems und sein Charakter .................................... 24 2. Der Strukturwandel der politischen Parteien und ihre soziale Basis .............. 26 3. Gesamtbewertung .............................................................................................. 31 II. Verbände im Staatsinterventionismus .................................................................... 32 1. Unternehmer-, Agrar- und Mittelstandsverbände ............................................. 33 2. Gewerkschaften ................................................................................................. 35 3. Gesamtbewertung .............................................................................................. 37 III. Die Beziehung zwischen politischen Parteien und Verbänden ............................ 38

C. Politische Parteien und Verbände in der Staats- und Staatsrechtslehre ..................... 42 I. Politische Parteien im Staatsrecht .......................................................................... 42 II. Politische Parteien und Verbände in der Staats- und Staatsrechtslehre ................ 43 I. Die methodische Wende und die Lehre von politischen Parteien und Verbänden ................................................................................................................ 43 a) Parteienlehre der frühkonstitutionellen Staatswissenschaft ......................... 43 b) Parteien- und Verbändelehre des spätkonstitutionellen Positivismus ......... 44 c) Parteien- und Verbändelehre der Positivismuskritiker ................................ 47 2. Die Staatsauffassung und die Lehre von politischen Parteien und Verbänden ...................................................................................................................... 50

2. Kapitel Politische Parteien und Verbände in der Weimarer Republik A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik ............................. 53

I. Entstehung der Weimarer Republik ....................................................................... 53 1. Der politische Umbruch .................................................................................... 53 a) Oktoberreform .............................................................................................. 53 b) Übergang in die Republik ............................................................................ 55 2. Die Nationalversammlung und die Weimarer Verfassung ............................... 60

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Inhaltsverzeichnis II. Die gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik ......................................... 64 1. Die Struktur der Industrie ................................................................................. 65 2. Die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft ................................................. 66 3. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital ........................ 68 4. Konjunkturschwankungen und Weltwirtschaftskrise ..................................... 70

B. Die Entwicklung der politischen Parteien und Verbände in der Weimarer Republik ....................................................................................................................... 73 I. Politische Parteien .................................................................................................. 73 1. Die Kontinuität des Parteiensystems ................................................................. 73 2. Die soziale Basis der politischen Parteien ........................................................ 75 3. Der weltanschauliche Charakter der politischen Parteien und die Problematik der Koalitionsbildung .............................................................................. 77 4. Politische Parteien in der Verfassungskrise der Weimarer Republik ............... 82 5. Die Schwäche der politischen Parteien gegenüber der NS-Bewegung ............ 85 II. Verbände ................................................................................................................ 90 1. Unternehmerverbände ........................................................................................ 90 2. Gewerkschaften ................................................................................................. 93 3. Agrarverbände ................................................................................................... 98 4. Mittelstandsverbände ........................................................................................ 100 5. Der Struktur- und Funktionswandel der Verbände .......................................... 101 III. Die Beziehung zwischen politischen Parteien und Verbänden ........................... 103

3. Kapitel Politische Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik A. Politische Parteien ..................................................................................................... 110 I. Das Schweigen der Weimarer Verfassung zu den politischen Parteien und sein Hintergrund .................................................................................................. 11 0 II. Politische Parteien im sonstigen Staatsrecht ....................................................... 117 III. Verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien ..................................... 118 B. Verbände .................................................................................................................... 121 I. Die Entstehungsgeschichte des Art.165 WV ....................................................... 121 II. Verfassungsrechtliche Stellung der Verbände ..................................................... 126 III. Der vorläufige Reichswirtschaftsrat ..................................................................... 128 IV. Sonstige Institutionalisierung der Einflußwege der Verbände .......................... 132

4. Kapitel Politische Parteien und Verbände in der Staats· und Staatsrechtslehre der Weimarer Republik A. Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre ............................................................................................................................ 134 I. Der Weimarer Methodenstreit ............................................................................. 135 II. Die politischen Richtungen .................................................................................. 139 III. Das Verhältnis von Methoden- und Richtungsstreit ........................................... 141

Inhaltsverzeichnis

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B. Die Lehre von den politischen Parteien und Verbänden im Lichte des juristischen Positivismus ..................................................................................................... 143 I. Der Weimarer Positivismus ................................................................................. 143 I. Der Staatsbegriff .............................................................................................. 143 2. Die Demokratielehre des juristischen Staatsbegriffs ...................................... 145 3. Politische Parteien ........................................................................................... 146 4. Verbände .......................................................................................................... 149 5. Methodische Auflockerung des Weimarer Positivismus ................................ !51 6. Radbruch .......................................................................................................... !52 7. Fazit ................................................................................................................. 154 II. Die Parteien- und Verbändelehre Kelsens ........................................................... !56 I. Der methodische Standpunkt und die Staatsauffassung ................................. !56 2. Die Parteienlehre ............................................................................................. !57 3. Die Verbändelehre ........................................................................................... !59 4.Fazit ................................................................................................................. l59 III. Der juristische Positivismus mit Anti-Weimarer Position .................................. 160 1. Die rechtsliberale Richtung bei Calker ........................................................... 160 2. Die Systemopposition bei Tatarin-Tarnbeyden .............................................. 162 3. Fazit ................................................................................................................. 168 C. Die Lehre von den politischen Parteien und Verbänden der dekonstruktiven Stufe der Positivismuskritik ....................................................................................... 169 I. Die dekonstruktiv geprägte Positivismuskritik .................................................... 169 I. Subjektivierung des Rechts bei Laun .............................................................. 169 2. Die Politisierung der Staatsrechtslehre bei Triepel ........................................ 170 II. Die Parteien- und Verbändelehre des demokratischen Pluralismus bei Wittmayer .................................................................................................................... 172 I. Methodische und politische Grundlagen ......................................................... 172 2. Die Demokratielehre ....................................................................................... 173 3. Politische Parteien ........................................................................................... 176 4. Verbände .......................................................................................................... 177 5. Fazit ................................................................................................................. 177 III. Die Parteienlehre von Triepel .............................................................................. 178 IV. Die Parteienlehre von Koellreuter ...................................................................... 180 I. Politische und methodische Grundlagen ......................................................... 180 2. Die Parteienlehre ............................................................................................. 182 D. Die Lehre von den politischen Parteien und Verbänden in der seinsbezogenen Begriffsbildung der Staats- und Staatsrechtslehre ..................................................... 184 I. Die methodische Ausgangslage ........................................................................... 184 II. Die Staatsauffassung ............................................................................................ 186 1. Schmitt ............................................................................................................. 187 2. Smend .............................................................................................................. 188 3. Heller ............................................................................................................... 189 III. Das Demokratieverständnis ................... ............ ............ ......................... .............. 190 I. Schmitt ............................................................................................................. 190 2. Smend .............................................................................................................. 193

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Inhaltsverzeichnis

3. Heller ............................................................................................................... 194 IV. Die Parteienlehre .. ... .. ... ... ... ..... .. .. .. .. .. ... ... .. ... ... .. .. .. ... ... .. ..... .. .. ... ... .. .. ... .. ........ .. .. . 197 1. Der Parteienstaat als eine Form der Repräsentation ....................................... 198 2. Die Lehre des pluralistischen Parteienstaates bei Schmitt ............................. 200 3. Der massendemokratische Parteienstaat bei Leibholz .................................... 204 V. Die Verbändelehre .............................................................................................. 208 VI. Fazit ...................................................................................................................... 211 Epilog ...... ............................ ... ............. ............................... ................. ....... .... .... ...... ...... 213 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 215

Einleitung A. Da in der Demokratie die staatliche Herrschaft zwar auf dem Willen des Volks beruhen muß, jedoch nicht von ihm selbst ausgeübt werden kann, sind für die Herstellung der staatlichen Handlungs- und Wirkungseinheit Zwischenglieder unerläßlich. Politische Parteien und Verbände bilden diese Brücke zwischen Staat und Gesellschaft, indem sie die Meinungs- und Interessenvielfalt in der Gesellschaft durch ihre Beteiligung an der politischen Willensbildung zusammenfassen und in die staatliche Entscheidung überführen 1• Beide Akteure sind also in der Gesellschaft beheimatet und gleichzeitig auf den Staat bezogen. Die Vermittlungsfunktion wird aber von politischen Parteien und Verbänden jeweils unterschiedlich wahrgenommen2 • Politische Parteien erfüllen ihre Aufgabe dadurch, daß sie über ihre Mitwirkung bei der politischen Meinungsbildung hinaus an Wahlen teilnehmen und so die dem Staat zugerechneten Entscheidungen zu bestimmen suchen, die von den gewählten Funktionsträgern getroffen werden. In diesem Bemühen verwirklicht sich ihre Vermittlerfunktion, die sich von den vielfältigen Funktionen sonstiger gesellschaftlicher Gruppen unterscheidet. Bei der Wahlvorbereitung reduzieren die politischen Parteien die Meinungs- und Interessenvielfalt der Gesellschaft, die zuvor auch von den Verbänden schon zusammengefaßt wurde, weitgehend auf wenige entscheidungsfähige Alternativen. Diese werden im Wahlkampf der Gesamtwählerschaft als Parteiprogramm vorgestellt und verwandeln sich im Fall des Wahlsieges zur Regierungspolitik. Die Funktion der Verbände beruht demgegenüber nur auf dem Willen und der Zustimmung ihrer Mitglieder. Die Verbände beschränken sich daher grundsätzlich darauf, partikulare Interessen zu verfolgen, und sie streben danach, diese Interessen den Inhabern politischer Entscheidungsgewalt zu vermitteln. Das Handeln der Verbände zielt folglich auf die Entscheidungsträger im politischen System, während die politischen Parteien, soweit sie

1 Zur Vermittlerrolle der politischen Parteien siehe Henke, Das Recht der politischen Parteien, S.I8; Grimm, Die politischen Parteien, S.323. Zur Vermittlerrolle der Verbände siehe Grimm, Verbände, S.373; Krüger, Die Stellung der Interessenverbände in der Verfassungswirklichkeit, S.l219ff. 2 Zu diesem Funktionsunterschied siehe Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, S.195f.; dens., Parteien in der westlichen Demokratien, S.23ff.; Grimm, Verbände, S.378; Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, S.l37f.

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Mandate errungen haben, selbst solche Träger darstellen. Je größer die Bedeutung eines Entscheidungsträgers ist, desto interessanter wird er als Adressat der Verbände3• Aus diesen Funktionsunterschieden ergibt sich eine Art Arbeitsteilung zwischen politischen Parteien und Verbänden bei der Meinungs- und Interessenvermittlung4. Die Verbände leisten nicht nur die Vorarbeit des Meinungs- und lnteressenausgleichs, die die politischen Parteien weiter in politische Handlungsprogramme umformen können, sondern sie liefern auch, gestützt auf ihre je spezifische Sachkompetenz, Informationen über Interessenlagen in der Gesellschaft und mögliche Auswirkungen der politischen Entscheidungen. Da aber die Verbände ihrem Wesen nach auf die Durchsetzung der eigenen Interessen orientiert sind, wird die Konfliktlösung zwischen den Verbänden häufig auf die Vermittlung dritter Instanzen wie - neben staatlichen Stellen - der politischen Parteien angewiesen sein. Den politischen Parteien, die ihrem Wesen nach nicht nur von den Mitgliedern, sondern auch von der Wählerschaft abhängig sind, kommen darüber hinaus die Aufgaben zu, die schwach oder nicht organisierten Sonderinteressen in der Gesellschaft zu berücksichtigen und sich um solche Interessen zu kümmern, die die Gesellschaft im ganzen betreffen, also nicht nur durch bestimmte Gruppen organisiert werden können. Angesichts dieser vielschichtigen Funktionen der politischen Parteien und Verbände im politischen System war und ist umstritten, wie sich die normative Verfassung zu ihnen stellen soll. Sind sie wegen ihrer Verwurzelung in der Gesellschaft für die Verfassung, die die Staatsgewalt organisiert, irrelevant oder müssen sie wegen ihrer Unentbehrlichkeit für die Staatswillensbildung und wegen ihrer Mitwirkung in den Staatsorganen selbst verfassungsrechtlich geregelt werden? Die meisten Verfassungen gehen den ersteren Weg. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, daß die moderne Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht auf die politischen Parteien und Verbände vorbereitet war. Um die notwendigen Grundlagen für den Versuch einer Aufklärung dieser Problematik herzustellen, soll im folgenden zum einen das Gefüge der sozialen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Bedingungen nachgezeichnet werden, von denen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der politischen Parteien und Verbände beeinflußt wurde. Zum anderen bedarf es aber auch einer Vergewisserung über die Grundstrukturen der modernen Verfassung. Denn erst so läßt sich erkennen, in welcher Weise Stellung und Funktion der politischen Parteien und Verbände im Prozeß ihrer Entstehung verfassungspolitisch und vor allem verfassungsrechtlich reflektiert wurden.

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Steinberg, Die Interessenverbände in der Verfassungsordnung, S.31f. Grimm, Verbände, S.375ff.

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B. Politische Parteien und Verbände sind ein relativ junges Phänomen. In den Anfängen des modernen Staates waren sie unbekannt. Der moderne Staat entstand in der Form des absoluten Staates. Der absolute Staat beanspruchte alle politische Macht, indem er die unabhängigen Träger der verstreuten Herrschaftsrechte des Mittelalters privatisierte und seinen eigenen Herrschaftsapparat aufbaute5 • Die absolutistische Staatsmacht war dabei nicht- wie es der modernen Auffassung entspräche - funktionell, sondern physisch-personell zugeordnet, legitimiert und gebunden. Auf dieser Grundlage unterschied sich der absolute Staat von der privatisierten Gesellschaft, die von der Teilnahme am Staat ausgeschlossen, aber auch - wegen des beibehaltenen Feudalsystems - in sich noch lange nicht herrschaftsfrei war6 • Der Gesellschaft fehlte es auch an einer gegen den Staat abgegrenzten Autonomiesphäre. Dieser entschied materiell über das Gemeinwohl und nahm umfassende Verfügungsbefugnisse über die Sozialordnung und die persönliche Lebensweise in Anspruch. Solange allein dem Staat die Verfügung über die Politik zustand und der Gesellschaft keine Autonomiebereiche eingeräumt waren, konnte es für außerstaatliche politische Gruppen wie politische Parteien und Verbände keinen Platz geben. Das absolute Politikmonopol des Staates wurde erst durch das Auftreten einer bürgerlichen Öffentlichkeit bedrohe. Deren Träger kamen aus dem Bildungsund Besitzbürgertum, das sich in denjenigen Teilbereichen des absolutistischen Systems allmählich herausgebildet hatte, in denen ökonomische und administrative Aufgaben zu bearbeiten waren, und dessen Bedeutung im Verhältnis zu derjenigen der überkommenen herrschenden Stände (Klerus und Adel) schnell und stetig zunahm. Weil und soweit dieser Teil des dritten Standes mangels politischer und rechtlicher Anerkennung seiner sozialen Bedeutung eine eigene Identität suchen mußte, bildete sich allmählich eine von Staat und Kirche unabhängige öffentliche Sphäre heraus. Beginnend im scheinbar interessenneutralen Gebiet der Kultur, weitete sie sich jedoch bald in das Feld der Wirtschaft aus, in dem die freie Entfaltung der bürgerlichen Wirtschaftskraft durch die feudal, zünftisch und "polizeylich" bestimmte Ordnung des absoluten Staates stark unterdrückt wurde. Die Forderung nach kultureller und wirtschaftlicher Autonomie zielte auf die Preisgabe des umfassenden staatlichen Lenkungsanspruchs gegenüber der Gesellschaft.

l Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, S.!Off.; Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.56ff. 6 Über die Beziehung von Staat und Gesellschaft im Absolutismus siehe Grimm, aaO., S.59f.; ders., Staat und Gesellschaft, S.l7f. 7 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S.13ff.; ders., Die Zukunft der Verfassung, S.4lf.; Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.42ff.

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Als sich diese Forderung immer weiter ausbreitete, wurde sie zum Politikum, das eine grundlegende Änderung unvermeidlich machte. Die Gesellschaft politisierte sich. Das Volk trat nun in die Politik ein. Das Politikmonopol des Staates zerbrach. Das Volk wurde selbst zum Souverän oder Teilhaber an politischen Entscheidungen. In der Vorstellung des Bürgertums erschien dieser Prozeß allein im Wege einer uneingeschränkten Verwirklichung der Grundprinzipien individueller Freiheit und Gleichheit möglich. Zu diesem Zweck hielt das Bürgertum eine Volksvertretung für notwendig. Da das politische Handeln des Volkes aber ohne organisierte Zwischenglieder zwischen Staat und Individuen in der Tat unmöglich war, entstanden politische Parteien und später Verbände8. Der Geburtsort der politischen Parteien lag im Parlament9 • Sie entstanden, wo sich die Abgeordneten des ursprünglichen "Honoratioren"-Parlaments zu Fraktionen zusammenschlossen und sich bemühten, ihre Wählerbasis in der Gesellschaft zu festigen. Mit zunehmender Bedeutung des Parlaments im Staat und mit der weiteren Teilnahme der Gesellschaft an der Politik seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts spielten die politischen Parteien im politischen System eine immer wichtigere Rolle. Sie begannen in der parlamentarischen Demokratie nicht nur bei der politischen Meinungsbildung, sondern auch bei der Bildung der Staatsorgane als wichtigster Faktor zu fungieren. Die Entstehung der Verbände war demgegenüber durch die sukzessive Ausbildung einer freien Marktwirtschaft bedingt. Im unpersönlichen Marktmechanismus schlossen sich die sozial Schwachen zusammen, um Nachteile in der wirtschaftlichen Sphäre mit den Instrumenten des politischen Kampfes auszugleichen. Freilich wurden solche Assoziationen lange vom Staat unterdrückt. Als der Staat angesichts des Versagens der freien Marktwirtschaft zu einer aktiven Wirtschaftspolitik überging, begannen sich indes auch die sozial starken Interessen zu organisieren und suchten nach Möglichkeiten der Einflußnahme auf die staatlichen Entscheidungen. Damit erschienen zuerst die Organisationen der sozial starken Interessen als Verbände. Die politische Partizipation in der Massendemokratie eröffnete dann jedoch immer breiter organisierten Interessen den Zugang zu Möglichkeiten der Einflußnahme auf den Staat. C. Die moderne Verfassung entsprach in ihrer Entstehungsphase dem Gesellschaftskonzept des Trägers der Systemänderung, des Besitz- und Bildungsbürgertums. Das Bürgertum glaubte, die Gesellschaft könne in der Freiheit und Autonomie der Individuen ohne staatliche Steuerung zu Gemeinwohl und

' Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.73. 9 Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, S.28ff.

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Gerechtigkeit gelangen 10• Den Modellfall bildete der freie Markt. Ökonomische Probleme konnten nach der bürgerlichen Auffassung dann effizient und gerecht gelöst werden, wenn die Einzelnen ohne fremde Steuerung frei miteinander konkurrieren konnten. Das Marktprinzip wurde auch in den politischen Bereich übertragen. Die Referenzgrundlage für das führende Prinzip des gesamten Sozialsystems verlagerte sich aus dem Bereich des Politischen in denjenigen der wirtschaftlichen Beziehungen. Der Staat wurde nicht mehr als Herrschaft über die Gesellschaft gefordert, sondern sollte nur noch dem Schutz ihrer Selbststeuerung dienen. Der Abkoppelungsvorgang der Teilsysteme der Gesellschaft vom Staat wurde als Trennung von Staat und Gesellschaft bezeichnet und die moderne Verfassung auf der Grundlage dieses Trennungsschemas entworfen 11 • Die Zurückdrängung des Staates bedeutete aber keinesfalls, daß er überflüssig wurde 12 • Die Automatik von Individualfreiheit und Gemeinwohl, die das bürgerliche Sozialmodell prägte, war von alleine nicht funktionsfähig. Ein System, das in der gleichen individuellen Freiheit aller gründete, war organisations- und schutzbedürftig. Die in unverbundene Individuen aufgelöste und zur Verfolgung eigener Interessen freigesetzte Gesellschaft hatte jedoch die Eigenschaft eines handlungsfahigen Kollektivs verloren. Diese Kollektivität mußte deshalb außerhalb der Gesellschaft rekonstruktiert werden, eben als Staat 13 • Die Trennung von Staat und Gesellschaft verwies so zugleich auf die Unvollkommenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat existierte als Kompensation dieser Unvollkommenheit weiter. Er verlor zwar seinen alle Teilsysteme der Gesellschaft erfassenden Steuerungsanspruch, mußte aber stark genug sein, die gesellschaftliche Autonomie vor Störungen zu schützen. Für diese Aufgabe mußten lokale und partikulare Gewalten möglichst beseitigt und alle Herrschaftsbefugnisse und Machtmittel beim Staat konzentriert werden. Die Notwendigkeit eines Gewaltanwendungsmonopols des Staates, das der Absolutismus angestrebt, aber nicht vollendet hatte, führte zum Fortbestehen der Souveränität in der modernen Verfassung 14 • Der Staat durfte aber andererseits nicht so stark werden, daß er

10 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.llff.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, S.26ff.; Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.94ff., IOiff.; Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, S.l3. 11 Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, S.l8ff.; Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.I3ff., S.67ff.; ders., Staat und Gesellschaft, S.I3ff.; ders., Die Zukunft der Verfassung, S.l3f.; Luhmann, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S.67ff. 12 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.l5f.; ders., Staat und Gesellschaft, S .19; Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, S .31 ff. 13 Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, S.5. 14 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.66f.; ders., Die Zukunft der Verfassung, S.46f.

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seine Schutzfunktion für die auf individueller Freiheit begründeten Sozialordnung überschreiten konnte. Das Trennungsschema trug hier zur Gewährleistung der neuen Sozialordnung gegenüber dem Staat bei. Die Forderung, daß das politische System dem neuen Sozialmodell kompatibel werden sollte, fand in der modernen Verfassung die Lösung 15 • Sie garantierte die Grundlagen der bürgerlichen Sozialordnung, also Freiheit und Gleichheit sowie deren Konkretisierung in Form der Grundrechte. Die Grundrechte wurden vom Staat aus gesehen als Handlungsschranken, von der Gesellschaft aus als Abwehrrechte verstanden. Der Staat besaß im Grundrechtsbereich zwar Handlungsmöglichkeiten für die Sicherung der gleichen Freiheit und gegen die Störung der Sozialordnung. In der Verfassung wurden sie jedoch negativ als Eingriff in die Individualfreiheit aufgefaßt und besonderen Anforderungen unterworfen. Dazu überließ die Verfassung die Handlungsmöglichkeiten des Staates im Grundrechtsbereich nicht seinem Ermessen und sah in ihrem organisatorischen Teil das Gewaltenteilungsprinzip vor. Die Beschränkung der individuellen Freiheit war danach nur in Gestalt eines Gesetzes möglich, das im Parlament mit Zustimmung der dort repräsentierten Gesellschaft beschlossen wurde. Der Staat durfte nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung im grundrechtlich geschützten Bereich handeln. Ob sich seine Tätigkeit in den gesetzlich erlaubten Grenzen hielt, prüften unabhängige Gerichte. Wird die Verfassung als Rahmen und Richtmaß für Politik betrachtet, so erzwingt sie notwendig und unvermeidlich eine reduktive Selektion, insoweit sie bewirkt, daß die in der Gesellschaft vorfindliehen konkreten Inhalte auf der Ebene des politischen Systems nur in bestimmten, mehr oder weniger stark abstrahierenden Formen reformuliert werden können 16 • Der grundlegende Maßstab dieser Selektion war in der Entstehung der modernen Verfassung das Trennungsschema, aus dem ihre Struktur im ganzen entwickelt wurde. Die Verfassung kannte also lediglich den Staat einerseits und die Gesellschaft andererseits. Sie stellte die Gesellschaft frei, damit sie sich ohne fremde Steuerung entwickeln konnte, und band den Staat, damit er nur der Sicherung der gesellschaftlichen Autonomie dienen konnte. Die bürgerliche Öffentlichkeit, die schon in der Entstehungsphase der Verfassung vorhanden war und dem Staat die Bedürfnisse der Gesellschaft entweder durch Revolution oder durch Reform zu vermitteln suchte 17 , verstand die Verfassung daher nur als Instrument der Absicherung individueller Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft. Sie

ll Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.21ff.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, S.29ff.; ders ., Die Zukunft der Verfassung, S.47f.; Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, S.6. 1 ~ Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. ISf.; Luhmann, aaO., S.l71f. 17 Habermas, aaO., S.45f.

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erwartete keine Zwischenglieder zwischen Staat und Individuen, die sie vielmehr als für den Freiheitsmechanismus gefährlich ansah. In einem politischen System jedoch, das auf der Basis gesellschaftlicher Beteiligung an staatlichen Entscheidungen errichtet wird und die Pluralität von Meinungen und Interessen anerkennt, ist das staatliche Handeln ohne organisierte Zwischenglieder mit gesellschaftlicher "Heimat" und staatlichem "Zielort" in der Tat unmöglich. Die Entstehung der politischen Parteien und Verbände war also, anders als dies die Verfassung selbst vorgesehen hatte, eine notwendige Folge des modernen Verfassungsstaates. Ihre Existenz ist deshalb unabhängig von der Anerkennung der positiven Verfassung. Ihre Funktion ist auch nicht von der Verfassung geschaffen. Sie lassen sich wegen ihrer Vermittlungsfunktion nicht problemlos in die Systemgrenze von Staat und Gesellschaft einbinden, auf die die Verfassung zugeschnitten ist. D. In der Weimarer Republik, die die Staatsgewalt erstmals in Deutschland demokratisch organisierte, trat dieses Problem in voller Schärfe auf. Die Weimarer Republik war einerseits der Parteienstaat, den die deutsche Geschichte früher nicht kannte. Sie stützte sich andererseits auf eine Gesellschaft, die sich, schon längst vom klassisch liberalen Modell entfernt, weitgehend organisiert hatte. Die Weimarer Verfassung brachte zwar diese neue Situation mittelbar und unmittelbar vielfach zum Ausdruck, jedoch ohne eindeutige Stellungnahme zu ihrer Bedeutung in der verfassungsrechtlichen Gesamtordnung. Dagegen stand die Staats- und Staatsrechtslehre in ihrem Ausgangspunkt nicht weit entfernt von dem auf das bürgerliche Sozialmodell gestützten Verfassungsverständnis. Dann stellte sich die Frage, ob und inwieweit die durch eine nicht mehr zeitgemäße Lehre interpretierte Verfassung in einer strukturell veränderten neuen Situation ihren regelnden Zugriff auf die soziale und politische Wirklichkeit erstrecken kann und soll. Diese Frage beschäftigte auch die Staats- und Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Daraus ergaben sich verschiedene neue Einsichten, die jedoch nicht zu einer angemessenen Lösung der Problematik führten. Wenn man sich die Frage stellt, woran die Weimarer Republik scheiterte, könnte eine Analyse der Parteien- und Verbändelehre in der Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre einen Erklärungsfaktor unter anderen bieten. Die Frage der vorliegenden Arbeit lautet, wie die Staats- und Staatsrechtslehre der Weimarer Republik auf die in der Verfassungswirklichkeit bedeutende Rolle von politischen Parteien und Verbänden reagierte. Da viele Elemente der Weimarer Verfassung sowie der Weimarer Staatsrechtslehre nur aus der Tradition des Kaiserreichs, die auch unter veränderten Bedingungen weiterwirkte, erklärlich sind, werden im 1. Kapitel die politischen Paarteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie und der Staatsrechtswissenschaft dieser Zeit

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Einleitung

dargestellt. Im 2. Kapitel werden die politischen Parteien und Verbände in der Weimarer Republik im Kontext der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung untersucht. Die relativ ausführliche Darstellung der realen Seite der politischen Parteien und Verbände beruht auf der Überzeugung, daß die Staatsund Staatsrechtslehre stets auf die konkrete Problemlage ihrer Zeit reagiert und daher nur im Zusammenhang mit dieser verstanden werden kann. Diesen beiden vorbereitenden Kapiteln folgt eine Analyse der positivrechtlichen Regelungen über politische Parteien und Verbände in der Weimarer Republik. In dem sich anschließenden 4. Kapitel, das den Schwerpunkt der Arbeit bildet, wird die Parteien- und Verbändelehre der Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre im Hinblick auf den Methoden- und Richtungsstreit erläutert.

1. Kapitel

Politische Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie Deutschlands A. Konstitutionelle Monarchie und der Strukturwandel der Gesellschaft Die Entwicklung der politischen Parteien und Verbände war einerseits wegen ihrer Staatsgerichtetheit von dem Verfassungssystem und andererseits wegen ihrer Wurzeln in der Gesellschaft von deren sozialer und wirtschaftlicher Struktur geprägt. Die Besonderheit der deutschen Geschichte vor 1918 besteht unter anderem darin, daß ein außerordentlich schneller und durchgreifender Industrialisierungsprozeß ungewöhnlich lange nicht von der Parlamentarisierung des Regierungssystems und von ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung begleitet worden war 1; die "Synchronisierung von sozialökonomischer und politischer Entwicklung" 2 hatte insoweit versagt. Trotz aller politischen Kämpfe um ein parlamentarisches Verfassungssystem in der Revolution von 1848 sowie im preußischen Verfassungskonflikt zwischen 1862 und 1866 und trotz des grundlegenden Wandels der Gesellschaftsstruktur in der Industriellen Revolution und in dem Prozeß zum hochentwickelten Industrieland blieb die deutsche konstitutionelle Monarchie ohne wesentliche Änderung bis zum Ende des Kaiserreichs bestehen. Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie stützte sich auf das monarchische Prinzip, das durch die Unterscheidung zwischen Innenhabung und Ausübung der Staatsgewalt die traditionelle Legitimationsgrundlage der Herrschaft bewahrte und zugleich mit dem bürgerlich-liberalen Postulat verfassungsrechtlicher Bindung an bestimmte Inhalte und Formen versöhnte3 • Ein bürgerlicher Rechtsstaat kam in der deutschen Verfassungsgeschichte ohne Demokratie zustande. Die konstitutionelle Monarchie war ein Ausdruck der für Deutschland lang anhaltenden Situation, in der der Absolutismus nicht mehr und die Volkssouveränität noch nicht existenzfähig war.

Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur, 5.56. Weh/er, Das Deutsche Kaiserreich, 5.17. 3 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S.113ff., 5.138. 1

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

In der dualistischen Struktur des Verfassungsstaates strebte das Parlament mühsam verstärkten Einfluß in der Politik an. Es gab aber kaum ernsthafte Versuche für die Überwindung des Dualismus, für die Übernahme der Regierungsverantwortung durch die parlamentarischen Kräfte mehr, nachdem sich die Nationale Frage durch drei erfolgreiche Kriege "von oben" gelöst und der gemäßigte Flügel der Liberalen sich als Nationalliberale Partei für die Zusammenarbeit mit dem Obrigkeitsstaat entschieden hatte. Die Industrielle Revolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte zu einem grundlegenden Wandel der Sozialstruktur in Deutschland4 . In der neuen industriellen Welt veränderten sich nicht nur die Produktionsweise der Güter, sondern auch das Leben der Menschen in den Familien und am Arbeitsplatz, die Art und Weise der zwischenmenschlichen Beziehungen und insgesamt die Bewegungsgesetze der Gesellschaft. Die Gründungszeit des deutschen Kaiserreichs lag in der Hochkonjunkturperiode zwischen 1850 und 1873, die mit der Industriellen Revolution eng verbunden war. Der Optimismus des Wirtschaftsliberalismus in dieser Phase bildete einen der Hintergründe der Zusammenarbeit von Junkerturn und Nationalliberalen. Die im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich auf dieser Basis zustandekommende Reformgesetzgebung schuf die rechtlichen Instrumentarien für die nationale Einigung und die wirtschaftliche Ordnung. In dieser immer enger werdenden Zusammenarbeit war auch auf der Verfassungsebene die Möglichkeit einer allmählichen Parlamentarisierung des Reichs, seiner Verwandlung in eine parlamentarische Monarchie nicht ausgeschlossen5. Der Glaube der Liberalen an die Selbststeuerungskraft der Wirtschaft zerbrach jedoch schon in der Weltwirtschaftskrise, die mit dem Wiener Börsenkrach von 1873 begann, sich 1879 auf dem Tiefpunkt befand und mit einigen kurzen Erholungspausen bis 1895 andauerte6. Diese Krise führte auch zum Ende der kurzen politischen Konjunktur des deutschen Liberalismus. Angesichts des Versagens der "unsichtbaren Hand" eines freien Marktes erschien eine aktivere Rolle des Staates unabdingbar. Den Wendepunkt vom Wirtschaftsliberalismus zum Staatsinterventionismus markiert Bismarcks Einführung der Schutzzollpolitik im Jahre 1879, die gleichzeitig seinen politischen Bruch mit den Nationalliberalen bedeutete. Die Neuorientierung zum Interventionsstaat war doppelsinnig. Auf der einen Seite bedeutete sie über die Wende der Wirtschaftspolitik vom Freihandel zum Schutzzoll eine Stärkung von Staat und Regierung gegenüber der im Parlament vertretenen bürgerlichen Gesellschaft und erschwerte dadurch die verfassungs4

5 6

Näheres darüber bei: Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland 1750-1914. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.184ff. Borchardt, aaO., S.196ff.

A. Strukturwandel der Gesellschaft

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politische Entwicklung zum parlamentarischen System7 • Auf der anderen Seite wurde der Übergang zum Staatsinterventionismus gerade von der Rückständigkeit der Entwicklung des bürgerlichen Verfassungsstaates in Deutschland begünstigt8. Der deutsche Staat war niemals der Staat der bürgerlichen Gesellschaft geworden, er konnte deshalb eine relativ unabhängige Position gegenüber der in politischen Parteien organisierten und im Parlament repräsentierten Gesellschaft einnehmen. Vor diesem Hintergrund vermochte er seine Aufmerksamkeit auch auf die Kehrseite des bürgerlichen Gerechtigkeitsbildes zu richten und sich gegen die bürgerliche Gesellschaft durchzusetzen. Der Übergang zum Interventionsstaat war aber keine einseitige Aktion des Obrigkeitsstaates; er fand vielmehr in Wechselwirkung mit der Industriegesellschaft statt9 • Während der Wirtschaftskrise vollzog sich auch ein tiefgreifender Strukturwandel des Industriesystems, der mit dieser Krise verknüpft und dadurch beschleunigt wurde. In einer Situation, in der der liberale Grundsatz des freien Wettbewerbs unter den kleinen und mittelgroßen Betrieben zur Anarchie der Produktion in der Gesamtwirtschaft führte, wurde versucht, den Wirtschaftsprozeß stärker zu kontrollieren. Dies überschnitt sich mit dem voranschreitenden Prozeß der Unternehmenskonzentration. Die industriellen Großunternehmen wuchsen zum einen seit den I 870er Jahren rasch an und erweiterten sich über die Grenze des eigenen Landes hinaus. Zum anderen schlossen sich die Betriebe je nach Branchen oder Interessen zu Kartellen und Syndikaten zusammen. Die Rezepte gegen die Krise blieben aber nicht auf die innerwirtschaftliche Ebene beschränkt. In der Wirtschaftsgesellschaft setzte sich zunehmend die Ansicht durch, daß staatliche Interventionen für die wirtschaftliche Stabilität und auch für eine Entschärfung des Sozialkonflikts unvermeidlich seien. Die Wirtschaftsgesellschaft bereitete dann auch ihrerseits aktiv auf die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Politik vor. Die Gründungswelle der Verbände im letzten Viertel des I 9. Jahrhunderts 10 ist ein Indiz für diese Entwicklung. Der Übergang zum Interventionsstaat ergab sich also auch aus der Bereitschaft der sich politisierenden und organisierenden Wirtschaftgesellschaft Der Annährung von Staat und Gesellschaft im Prozeß der Entstehung des Interventionsstaates und der weitgehenden Organisierung der Gesellschaft kommt eine entscheidende Bedeutung in der Verfassungsgeschichte des Deutschen Kaiserreichs zu. Aufgrund dieser Entwicklung wurde nämlich die allgemeine Verfassungsfrage, die bisher die Politik bestimmte, von der wirtschaftlichen Frage überlagert. Der Obrigkeitsstaat mit konstitutioneller Monarchie Boldt, aaO., S.l86ff. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.152f. 9 Weh/er, Der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaates in Deutschland, S.38ff.; Fenske, Wahlrecht und Parteiensystem, S.206. 10 Weh/er, aaO., S.41. 7

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

konnte damit über und zwischen den konkurrierenden Interessen der Gesellschaft seine Stellung weiter behalten und so über die Jahrhundertwende hinaus bis zum Ende des ersten Weltkrieges überleben.

B. Entwicklung der politischen Parteien und Verbände I. Politische Parteien in der verspäteten Parlamentarisierung

1. Die Formung des Parteiensystems und sein Charakter Die relativ späte Entstehung der deutschen politischen Parteien war die Folge der lang verzögerten Etablierung parlamentarischer Institutionen. Die Frühform der politischen Parteien als locker organisierter Gruppen innerhalb der politischen Bewegungen fand ihren Aufschwung in der Revolution von 1848/49, wobei sich eine relativ feste Organisation der Parlamente in Fraktionen und daneben "politische Vereine" als außerparlamentarische Organisationen der politischen Parteien entwickelte. In dieser Zeit wurden die fünf politischen Richtungen, die sich bereits im Vormärz ansatzweise ausgebildet hatten, deutlicher; das demokratische Bürgertum, das liberale Bürgertum, der politische Katholizismus, der Konservatismus und die Arbeiterbewegung organisierten sich politisch 11 • Der Organisationsfortschritt des Parteiwesens wurde erst in der nachrevolutionären Reaktionszeit gebremst und rückgängig gemacht. Er nahm dann jedoch im Jahrzehnt vor der Reichsgründung einen neuen und entscheidenden Aufschwung. Die liberalen Kräfte versuchten in dieser Zeit, auch anläßlich des preußischen Heeres- und Verfassungskontlikts, die Führungsposition in der Politik zu übernehmen. Sie zeigten jedoch Schwächen im Kampf um die Reform des bürokratischen Obrigkeitsstaates und waren nicht in der Lage, das zeitgenössische Zentralproblem - die Frage der nationalen Einheit - aus eigener Kraft zu lösen. Der nationale Einigungsprozeß - wesentlich vorangetrieben durch die erfolgreiche Außenpolitik Bismarcks - brachte dem politischen Liberalismus die Niederlage und führte zu seiner endgültigen Spaltung 1866/67 in die Linksliberalen und die Nationalliberalen. Die mangelnde Initiative der liberalen Kräfte bei der politischen Entwicklung beschleunigte auch den Übergang von einer Politik für die Gesamtheit des Volkes hin zu einer Klassenpolitik und die Loslösung der Sozialdemokraten und des politischen Katholizismus vom politischen Liberalismus. Der Trennungsprozeß der Sozialdemokraten von der bürgerlichen Demokratie hatte bereits in der Revolution 1848/49 eingesetzt und sich einerseits wegen der 11 Über die Herausbildung des Fünfparteiensystems Ritter, Politische Parteien in Deutschland vor 1918, S.l02f.; ders., Die deutschen Parteien 1830-1914, S. llff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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vergleichsweise starken Staatsgerichtetheit der Arbeiterbewegung in ihren sozialen und politischen Forderungen, andererseits wegen der ambivalenten Haltung der Liberalen gegenüber der zunehmenden Emanzipation der Arbeiterschaft und deren sozialen Forderungen weiter entwickelt. Dieser Prozeß schloß aber erst in den frühen 70er Jahren ab, zu einem Zeitpunkt also, in dem sich die Mehrheit der Liberalen schon mit der "Realpolitik" Bismarcks arrangiert hatte 12• Aufgrund der kleindeutschen Lösung der nationalen Frage wurden schließlich die Katholiken die konfessionelle Minderheit im protestantisch-norddeutsch geprägten Kaiserreich. Am Anfang der 70er Jahre gründete der politische Katholizismus eine neue Massenpartei, das Zentrum. Entscheidend für die Etablierung dieser Partei war der von Bismarck geführte und auch von den Liberalen unterstützte Kulturkampf13 • Nach der Entstehung und Etablierung der Parteien des politischen Katholizismus und der Arbeiterschaft war das Fünfparteiensystem, das trotz aller Fusionen, Spaltungen und Namensänderungen im Kaiserreich unverändert blieb und auch den Übergang zur Weimarer Republik überdauerte, um die Mitte der 70er Jahre vollständig ausgebildet. Es bestand aus Linksliberalen, Nationalliberalen, dem Zentrum, den in Freikonservative und Deutschkonservative gespaltenen Konservativen und der sozialistischen Arbeiterbewegung 14 • Die Funktion der politischen Parteien im Kaiserreich war wie in jedem Verfassungsstaat wesentlich von der Grundstruktur der Verfassung, insbesondere von dem Grad ihrer Parlamentarisierung bedingt 15 • Die Reichsverfassung kannte wegen ihrer föderativen Struktur keine Reichsregierung aus Fachministern, sondern den Bundesrat als Bevollmächtigte der einzelstaatlichen Regierungen und den Reichskanzler als eine Art Einmann-Regierung, der die Reichsämter führte. Der Reichskanzler war dabei allein vom Vertrauen des Kaisers abr.ängig. Der Reichstag konnte in dieser Struktur der Reichsverfassung über eine weitgehend begrenzte Einflußmöglichkeit auf die politischen Entscheidungen verfügen. Als sich die politischen Parteien in Deutschland ausbildeten, hatten sich bereits seit langem die hochentwickelten staatlichen "Subsysteme" der Bürokratie und des Heereswesens fest etabliert. Demgegenüber besaßen die politischen Parteien zunächst keine breite soziale Basis. Sie mußten sich fast ausschließlich auf die schmale Schicht des Bildungsbürgertums stützen. Auch die Strömungen in der politischen Philosophie, die die Richtungen der politischen Parteien bestimmten, hatten ihrerseits noch kaum Eingang in den Staatsapparat gefunden. Ritter, Die deutsche Parteien 1830-1914, S.l5. Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, S.126ff.; Ritter, aaO., S.l7. 14 Ritter, Politische Parteien in Deutschland vor 1918, S.l03. 1s Über die Grundstruktur der Reichsverfassung nur Boldt, aaO., S.l71ff. 12 13

I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

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Im Zeitpunkt ihrer Entstehung verfügten die politischen Parteien kaum über Möglichkeiten einer verantwortlichen und folgenreichen Beeinflussung der Politik. Sie waren deshalb von einem stark weltanschaulich-doktrinären Charakter geprägt 16• Die Reichsverfassung gewährleistete dem Parlament, in dem die politische Parteien saßen, zwar Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Gesetzgebung, sie blieben jedoch weiterhin von der Regierungsbildung ausgeschlossen. In dieser Lage waren sie nicht gezwungen, im Kampf um die politische Macht soziale und ökonomische Gegensätze zu überbrücken und sich zustimmend oder ablehnend an der Regierungspolitik zu orientieren 17 • Zwar erlangten die politischen Parteien in der Zeit des Kaiserreichs zunehmend mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in der Politik und machten im Wege einer stillschweigenden oder ausdrücklichen Anpassung an das bestehende System und einer zunehmenden Bindung an wirtschaftliche Interessen tiefgreifende Wandlungsprozesse durch. Solange sie aber durch die Verfassung von der Übernahme der Regierungsverantwortung ausgeschaltet blieben, verschwand ihr ursprünglich doktrinärer Charakter nicht, sondern wurde lediglich durch neue Elemente überlagert18 • Darin lagen die direkten und indirekten Ursachen der Probleme des Parteiensystems im Kaiserreich: der Zersplitterung der politischen Parteien, der Schwierigkeit der Etablierung einer festen Zusammenarbeit zwischen ihnen und der scharfen Flügelkämpfe innerhalb der Parteien 19• In der Phase einer stagnierenden Parlamentarisierung der Regierung schienen die politischen Parteien für die neue Generation keine erheblichen Wirkungsmöglichkeiten in der Politik zu bieten. Dies führte für die politischen Parteien auch zu Rekrutierungsproblemen besonders in der zweiten Hälfte des Kaiserreichs, die sich bis in die Weimarer Republik auswirkten.

2. Der Strukturwandel der politischen Paneien und ihre soziale Basis Die Integration der Nationalliberalen in der nationalen Frage 1866 und ihre darauf folgende Zusammenarbeit mit dem Reichskanzleramt seit 1867 bedeutete freilich noch nicht, daß es auf der innenpolitischen Ebene keine verfassungspolitischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern mehr gab. Die Nationalliberalen unterstützten zwar die Reichsregierung bei der Gestaltung freier wirtschaftlicher Betätigung, bei der Festigung der rechtsstaatliehen Grundsätze und auch im Kulturkampf. Sie konnten aber andererseits Bismarcks Bemühen, durch Änderungen des Strafrechts, des Presserechts, des Vereins-

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AaO., S. l04; Fraenke/, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, S.39f. Ritter, aaO., S.l05; ders., Die deutschen Parteien 1830-1914, S.30. Ritter, Politische Parteien in Deutschland vor 1918, S.I04. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914, S.30.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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rechts und durch eine Einschränkung des Koalitionsrechts eine bessere Grundlage für staatliche Maßnahmen gegen die "reichsfeindlichen" Kräfte zu schaffen, weitgehend verhindem 20. Das bis dahin noch vornehmlich nach politischen Gesichtspunkten gegliederte Parteiensystem wandelte sich tiefgreifend durch die Wende der Wirtschafts- und Innenpolitik Ende der 1870er Jahre21 • Angesichts der Wirtschaftskrise nach 1873, die auch durch eine strukturelle Krise der Landwirtschaft verschärft wurde, steigerten sich wirtschaftspolitische Interessengegensätze, insbesondere in Bezug auf den Kampf um die Schutzzollpolitik, und drangen in die politische Auseinandersetzung ein. Der Rückzug der politischen Parteien aus der Auseinandersetzung um verfassungspolitische Fragen und die Verengung ihrer Tätigkeit auf eine wirtschaftlich-soziale Interessenvertretung wurde durch die auf die Schwächung der politischen Potenz des Parlaments und die Spaltung der Nationalliberalen abzielende Politik Bismarcks bewußt gefördert. Diese Entwicklung der politischen Parteien wurde auch durch das Aufkommen der mächtigen Verbände, die im Zusammenhang mit Kampf um Schutzzölle entstanden und in der politischen Öffentlichkeit bald in Konkurrenz zu Parteien traten, beschleunigt. Neben der parteiprogrammatischen Hinwendung zur Interessenpolitik fand Anfang der 90er Jahre auch eine wesentliche Zäsur auf der Organisationsebene statt22 • Bis dahin stützten sich die bürgerlichen Parteien auf die Honoratiorenkreise, die nur im Wahlkampf aktiv waren, und hatten keine außerparlamentarische Massenorganisation. Unter dem Konkurrenzdruck der Sozialdemokratie, die nach der Streikwelle von 1889/90 in Verbindung mit den Gewerkschaften über eine Massenorganisation verfügte, versuchten sie dann, sich zu permanent tätigen Massenparteien zu entwickeln. Die tiefere Ursache dafür lag aber wohl in der stärkeren politischen Mobilisierung weiter Bevölkerungsschichten durch die ökonomische Krise. Da die Krise vor allem in der Landwirtschaft schwerwiegend war, entstand in diesem Gebiet eine besonders starke Massenbewegung unter neu gegründeten Agrarverbänden. Diese Verbände ersetzten mit ihrer Massenorganisation den älteren Honoratiorenparteien den fehlenden Parteiapparat und übte damit einen massiven Einfluß aus. Der programmatische und organisatorische Wandel zu Massen- und Interessenparteien war zwar eine unvermeidliche Folge der Interessenvervielfältigung und Politisierung der Bevölkerung im Industrialisierungsprozeß. In der Lage jedoch, in der der Zugang der politischen Parteien zur Regierungsverantwortung blockiert war, verlief diese Entwicklung innerhalb der herkömmlichen Parteien-

AaO., S.l9. Ritter, Politische Parteien in Deutschland vor 1918, S.I08; ders., Die deutschen Parteien 18301914, S.19ff. 22 Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914, 23ff. 20 21

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

struktur und trug dazu bei, daß die politischen Parteien auf jeweils relativ geschlossene Sozialmilieus fixiert blieben23 • Zwar wechselte die Grundlage der Parteienpolitik von Weltanschauungen zu Interessen und damit auch die politische Bedeutung einzelner Parteien, das deutsche Parteiensystem insgesamt blieb aber im wesentlichen unverändert. Die Stagnation der Parteienentwicklung erschwerte langfristig sowohl die Bildung einer parteiübergreifenden politischen Allianz unter dem verfassungspolitischen Gesichtspunkt einer weiteren Parlamentarisierung der Politik als auch die Entwicklung der politischen Parteien zu Volksparteien mit verbreiterter sozialer Basis. Dies ist der Rahmen, in dem die Beziehungen zwischen den einzelnen politischen Parteien und ihrer sozialen bzw. konfessionellen Basis sowie ihre Entwicklung im Strukturwandel des Parteienwesens gesehen werden sollten. Das Zentrum24 , "der politische Ausschuß der Organisationen des katholischen Deutschlands"25 war die Reaktion des politischen Katholizismus auf die Herausforderung des Kulturkampfes. Es stellte sich gegen die liberale Wirtschaftspolitik, gegen die Vorherrschaft protestantischer Eliten im Reich und gegen die unitarische Tendenz. Seine Wählerschaft stammte aus dem katholischen Sozialmilieu, das eine komplexe Mischung aus konservativer katholischer Aristokratie und katholischem Klerus, dem traditionellen Mittelstand, dem Bürgertum und der katholischen Arbeiterschaft war. Das Zentrum, das nach den mit seiner Gründung verfolgten Zielen keine klerikale Partei war, konnte von seiner Geburt an einen gewissen Handlungsspielraum gegenüber der katholischen Kirche behaupten. Seine Versuche, die Wählerbasis über das katholische Sozialmilieu hinaus zu erweitern, waren aber nicht erfolgreich. Da das Zentrum wegen seiner differenzierten sozialen Zusammensetzung und wegen seiner relativ großen Unabhängigkeit von der Unterstützung anderer Parteien bei den Stichwahlen26 nach rechts wie nach links bündnisfähig war, spielte es nach dem politischen Rückzug der Nationalliberalen eine Schlüsselrolle bei der Mehrheitsbildung im Parlament. Dieser große politische Bewegungsspielraum führte gleichwohl nicht dazu, daß das Zentrum zur Änderung der verfassungspolitischen Lage beitrug. Angesichts der Industrialisierung, Urbanisierung und darauffolgenden Säkularisierung der Gesellschaft konzentrierte es sich vielmehr

Lepsius, aaO., S.67; vgl. auch Ritter, aaO., S.49ff. Bergsträsser, aaO., S.I26ff.; Lepsius, aaO., S. 69ff.; Ritter, aaO., S.50ff.; Weh/er, Das Deutsche Kaiserreich, S.83ff. 2s Lepsius, aaO., S.70. 26 In Reichstagswahlen galt absolutes Mehrheitswahlsystem. Vereinigte keiner der Kandidaten im ersten Walhgang mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich, so fand ein zweiter Wahlgang als Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl des ersten Wahlgangs statt. Näheres darüber bei: Fenske, aaO., S.l06, S.liSff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.3, S.863, S.868ff. 23

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B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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auf die Absicherung des katholischen Sozialmilieus und auf die Interessenvertretung seiner Wähler gegenüber der Regierung. Neben dem Zentrum war die Sozialdemokratie durch die Verbindung mit einem bestimmten Sozialmilieu gekennzeichnee7 • Sie stützte sich vor allem auf eine in den Arbeiterwohnvierteln der großen Städte mit überwiegend protestantischer Bevölkerung entstandene Klientel. Der Zusammenschluß der beiden sozialdemokratischen Parteien im Jahr 1875, der durch den doppelten Druck der polizeistaatliehen Angriffe auf die Arbeiterbewegung einerseits und der wirtschaftlichen Krise andererseits beschleunigt wurde, brachte einen Aufschwung der Partei. Auch während der Geltungsdauer des Sozialistengesetzes 1878-1890 konnte dieser Aufschwung der Sozialdemokratie nicht gebremst werden. Bei der Reichstagswahl im Jahre 1890 vereinte die sozialdemokratische Partei die meisten Stimmen auf sich, was sich aber wegen ihrer Isolation bei der Stichwahl und aufgrund einer sie benachteiligenden Wahlkreiseinteilung nicht in ihrem Mandatsanteil widerspiegelte. In der Folgezeit verdreifachte sich ihre Stimmenzahl bis zum Jahr 1912 auf etwa 4,25 Millionen. Die sozialdemokratische Partei wurde durch diese letzte Reichstagswahl des Kaiserreichs mit 110 Sitzen die größte Fraktion. Trotz dieses schnellen Wachstums gelang es der sozialdemokratischen Partei aber nicht, in andere soziale Schichten und andere Berufsfelder einzudringen und so ihre soziale Basis über die gewerbliche Arbeiterschaft mit protestantischem Hintergrund hinaus zu verbreitern. Die Bemühungen um einen Stützpunkt in der katholischen Arbeiterschaft und bei den Landarbeitern hatten nur sehr begrenzten Erfolg. Auch in dem neuen Mittelstand der Beamten und Angestellten, der mit dem Strukturwandel der Industriegesellschaft und der Entstehung des Interventionsstaates sowohl im Staat und als auch in der Privatwirtschaft rapide an Bedeutung gewann, konnte die Sozialdemokratie kaum Fuß fassen. Unter diesen Umständen verzögerte sich die Weiterentwicklung der Sozialdemokratie von einer Arbeiter- zu einer ArbeitnehmerparteL Im Gegensatz zum Zentrum und zur Sozialdemokratie verfügten die Liberalen im Kaiserreich über keine eindeutige soziale bzw. konfessionelle Basis28 • Der als entscheidende Wählerbasis der Liberalen anzusehende Mittelstand war zu heterogen, um eine feste soziale Grundlage zu bieten. Diese Schwäche wurde nach der Wende im Jahr 1879 deutlich sichtbar. Die Nationalliberalen, die bis dahin in Allianz mit dem Staat eine Schlüsselrolle bei der Reichsgründung gespielt hatten, konnten seine Unterstützung nicht mehr erwarten. Die Hinwendung des Staatsapparates zum antiliberalen Kurs bedeutete ohne eine festgefügte Organisation und eine geschlossene Subkultur in der Wählerbasis eine ernsthafte Krise. Vor diesem Hintergrund trat auch die 21

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Bergsträsser, aaO., S.l38ff.; Lepsius, aaO., S.73ff.; Ritter, aaO., S.59ff.; Wehler, aaO., S.87ff. Bersgträsser, aaO., S.J40ff.; Lepsius, aaO., S.70ff.; Ritter, aaO., S.65ff.; Wehler, aaO., S.80ff.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

latente Spannung im eigenen Lager hervor, und dies führte den linken Flügel zur Sezession. Die Betonung der Interessenpolitik nach der Wende der Politik Bismarcks sowie die Organisierung der Gesellschaft nach Interessen - die sich im Aufschwung einer starken Agrarbewegung und in der politischen Organisation des alten Mittelstandes mit antiliberaler Prägung einerseits und der raschen Verabschiedung der Arbeiterschaft vom Liberalismus andererseits ausdrückte führten insgesamt zur Erosion der Wählerbasis des politischen Liberalismus. Die Bemühungen, diese Schwierigkeiten zu überstehen, waren nicht erfolgreich. Wenn es den Nationalliberalen gelang, auch im gewerblichen und landwirtschaftlichen Mittelstand Fuß zu fassen, führte dies zu heftigen Spannungen zwischen den freihändlerischen und protektionistischen Gruppen in der Partei. Auch die Erneuerungsversuche des Linksliberalismus durch eine sozialliberale Politik konnten die Arbeiterschaft nicht zurückgewinnen. In der Endphase des Kaiserreichs versuchten die Liberalen auch eine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten. Die von den Nationalliberalen angestrebte Bildung eines Reformblocks mit dem Linksliberalismus und der Sozialdemokratie scheiterte aber an der konservativen Sammelbewegung; das Stichwahlbündnis der Linksliberalen mit den Sozialdemokraten hatte wegen der konkurrierenden Lage beider Parteien und der Abhängigkeit der Linksliberalen von der Unterstützung der Rechtsparteien nur einen begrenzten Erfolg. Die Konservativen stützten sich auf ihre enge Bindung an die Agrarinteressen im ostelbischen Preußen und in Mecklenburg, die oft von adligen Großgrundbesitzern vertreten waren. Ihre einseitige Abhängigkeit von der Unterstützung durch diese Interessen erschien in der Zeit der Reichsgründung als preußischer Partikularismus und ließ die Konservativen dabei eine Oppositionsrolle spielen. Im Jahr 1876 paßten sich die Konservativen durch die Gründung der deutschkonservativen Partei der neuen Situation der gewonnenen Einheit auf dem Fundament der Reichsverfassung im nationalen Sinne an29 • Die Deutschkonservativen unterstützten von 1879 bis 1890 die Politik Bismarcks und vergrößerten ihren StimmanteiL Langfristig bewirkte der Prozeß der Industrialisierung und Verstädterung jedoch die Schwächung der Bindungskraft des Sozialmilieus im ostelbischen Agrargebiet Der Ausweg aus dieser Lage war die Umwandlung zu einer ausgeprägten Massen- und Interessenpartei. Die deutschkonservative Partei wandte sich entschieden gegen den neuen Freihandelskurs Anfang der 90er Jahre und vertrat in enger Verbindung mit dem Bund der Landwirte einseitig die Forderungen der Landwirtschaft. In diesem Anpassungsprozeß an eine politisierte Bauernschaft konnte sie ihre soziale Basis neu befestigen, wobei die quasifeudale paternalistische Beziehung durch eine wirtschaftliche Interessenvertretung substituiert wurde. 29

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.4, S.29.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Die deutsche Reichspartei 30, die zweite konservative Partei im Kaiserreich, spielte in Verbindung mit der Reichsleitung und der preußischen Verwaltung eine Vermittlerrolle zwischen Deutschkonservativen und Nationalliberalen bei der Bildung rechter Parlamentsmehrheiten31 • Diese Partei bemühte sich in den letzten Jahren vor 1914 zwar um die Abkopplung der Konservativen von der einseitigen Vertretung landwirtschaftlicher Interessen und um die Erneuerung des Konservatismus. Da sie weder über eine eigene Massenorganisation in den Wahlkreisen noch über eine feste soziale Basis verfügte, war sie von der Unterstützung durch die Regierung und den Bund der Landwirte zu sehr abhängig, als daß sie dieses Ziel tatsächlich erreichen konnte. 3. Gesamtbewertung Trotz der strukturellen Probleme des Parteiwesens steigerte sich während des Kaiserreichs, insgesamt gesehen, der Einfluß des Parlaments. In der Wilhelminischen Ära wurde es unmöglich, daß die Reichskanzler ohne Unterstützung der Parlamentsmehrheit im Reichstag ihre Ämter langfristig beibehielten. Den Hintergrund dieser Einflußzunahme des Reichstags bildete die faktische Entwicklung der Reichsleitung zur Reichsregierung. Die Verselbständigung der Reichsleitung gegenüber den verbündeten Regierungen im Bundesrat forderte also verstärkte Zusammenarbeit zwischen Reichsleitung und Reichstag. Die Schlußfolgerung, daß sich hierin eine allmähliche Entwicklung zum Parlamentarismus ankündigte, wäre jedoch voreilig32 • Dafür fehlte es an der Möglichkeit zur Herausbildung einer regierungsfähigen Mehrheit im Parlament, für die eine parteiübergreifende politische Allianz notwendig war. Diese Allianz war aber wiederum ohne Umstrukturierung des Parteiensystems, ohne Orientieru11g der politischen Parteien an verfassungspolitischen Fragen und ohne ihre Entwicklung zu Volksparteien mit erweiterter sozialer Basis nicht denkbar. Die politischen Parteien waren zu sehr auf ihre sozial-konfessionelle Basis fixiert und mit ihrem status quo im Kaiserreich relativ zufrieden. Infolgedessen wollten sie das Risiko eines möglichen Verlustes ihrer Wählergruppe im Fall der Umstrukturierung des Systems nicht eingehen und konkurrierten miteinander um die beste-

Ritter, aaO., S.80ff. Beispiele dafür sind die Kartellpolitik von 1887 und die Blockpolitik von 1907. In diesen beiden Fällen kamen unter Initiative der Reichskanzler, jeweils von Bismarck und von Bülow, Wahlbündnisse, die konservative und nationalliberale Kräfte - im Jahr 1907 auch Teile der Linksliberalen - zusammenfaßten und sich gegen die Sozialdemokratie und das Zentrum stellten, zustande. Daraus ergab sich eine zwar nicht kompakte, aber relativ übersichtliche Mehrheitsbildung von Bündnisparteien im Reichstag. Näheres bei: Huber, aaO., S.l50ff., S.293f. 32 Boldt, aaO., S. I92ff.; Neumann. Die Parteien der Weimarer Republik, S.25f.; Ritter, aaO., S.85ff. 30

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

benden konkreten Einflußmöglichkeiten auf den Obrigkeitsstaat. Die Regierung konnte unter diesen Umständen die Mehrheitsbildung im Reichstag, wie im Kartellreichstag 1887-1890 und im sogenannten Bülowblock 1907-1909, weiter initiieren. Eine parlamentarische Mehrheitsbildung aus eigener Kraft gelang den politischen Parteien erst im Juli 1917, bemerkenswerterweise in einer Krisenlage, in Form des Interfraktionellen Ausschusses aus Sozialdemokratie, Zentrum und den Linksliberalen (und zeitweise den Nationalliberalen), der sich freilich zuerst mit inneren Spannungen beschäftigen mußte und infolgedessen nur bedingt aktionsfähig war. Die grundlegend durch das Verfassungssystem des Kaiserreichs bedingte Unterentwicklung des Parteiensystems bildete eine schlechte Voraussetzung für die in der Weimarer Verfassung eingeführte parlamentarische Demokratie, für deren Funktionieren die Mitwirkung der politischen Parteien lebenswichtig war. 11. Verbände im Staatsinterventionismus Die Geburtsstunde der Verbände lag in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts33. Durch den Aufstieg zu einem politischen Machtfaktor - Eintritt in den Prozeß der politischen Willensbildung und Einfluß auf die politischen Entscheidungen -begannen die Verbände in dieser Zeit, sich aus dem allgemeinen Vereinswesen herauszulösen. Den Hintergrund bildete die zunehmende Organisierung der Wirtschaftsgesellschaft im Gefolge des entstehenden Staatsinterventionismus. Die Entwicklung der Verbände im Kaiserreich zeigt ein komplexes Bild, das die ungleichmäßigen Prozesse des ökonomischen Wachstums und des sozialen Wandels vor dem Hintergrund der verzögerten politischen Modernisierung widerspiegelt. Hier sollen zunächst die Verbände, die als sozial und politisch anerkannte Akteure ihre Interessen artikulierten, betrachtet werden. Dabei werden insbesondere ihr Standpunkt bei der Handels- und Schutzzollpolitik und ihre Gewinn und Verlust-Rechnung im Industrialisierungsprozeß berücksichtigt. Danach soll die Entwicklung der Gewerkschaften, die sich um die soziale und politische Anerkennung bemühten, dargestellt werden.

33 Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, S.262f. Fn.l; vgl. auch Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, S.l14.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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1. Unternehmer-, Agrar- und Mittelstandsverbände Es gab im Deutschen Kaiserreich zwei industrielle Spitzenverbände: den CentTalverband Deutscher Industrieller und den Bund der Industriellen34• Der CentTalverband war bis zur Gründung des Bundes der Industriellen der einzige industrielle Spitzenverband und übte einen machtvollen Einfluß auf die Politik aus. Anlaß für seine Gründung im Jahr 1876 war der Streit um die Handelsund Zollpolitik, der mit der nachlassenden Durchsetzungskraft der liberalen Wirtschaftspolitik infolge eines Konjunktureinbruchs verbunden war. Teile der Industrie, vor allem die binnenmarktorientierte Schwer- und Montanindustrie, verlangten für den Schutz vor ausländischer Konkurrenz eine Erhöhung der Zölle und sammelten sich zu diesem Zweck im Centralverband. Der Centralverband bemühte sich im Bündnis mit der politischen Organisation der Großagrarier, dem Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, um einen handelsund zollpolitischen Kurswechsel und erreichte dieses Gründungsziel; die Regierungsvorlage des Zolltarifs von 1879 entstammte unmittelbar einem Entwurf des Centralverbandes35• Da die Eingriffe der öffentlichen Hand in die Wirtschaft einzelne Industriezweige unvermeidlich auf Kosten anderer begünstigten, trugen sie zu einer stärkeren Differenzierung der industriellen Interessen bei. Vor diesem Hintergrund entstand der zweite industrielle Spitzenverband. Die exportorientierte Leicht- und Fertigindustrie, die inzwischen an Bedeutung gewonnen hatte, begann ihr durch die Schutzzollpolitik vernachlässigtes Interesse an den billigen Rohstoffen und am Abbau der Auslandszölle zu vertreten, und organisierte sich 1895 im Bund der Industriellen. Neben dem Gegensatz in der Zollpolitik zeigte der Bund der Industriellen Unterschiede in Gegenstand und Methode der Interessenartikulation. Während sich der CentTalverband seit seiner Gründung auf die Regierung und Verwaltung, vor allem die preußischen Ministerien, als Einflußadressaten konzentrierte, schienen dem Bund der Industriellen auch die politischen Parteien als Adressaten der Interessenartikulation wichtig. Er übte ferner seinen Einfluß anders als der CentTalverband auch auf lokaler Ebene von "unten" und von "innen" aus. Die beiden Spitzenverbände versuchten bis 1914 ohne große Erfolge, ihre Gegensätze zu überbrücken. Sie fanden erst in der Kriegssituation auf Initiative der Chemieindustrie zu einer lockeren organisatorischen Basis für die Zusammenarbeit: der Kriegsausschuß der deutschen Industrie (1914) und später der Deutsche Industrierat (1916 ).

34 Über Untemehmerverbände, Huber, aaO., S.JOI7ff.; Stegmann, Die Erben Bismarcks, S.32ff.; Ullmann, aaO., S.77ff., S.l33ff. 35 Nipperdey, aaO., S.265.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

Die tiefere Ursache der Gründung der Agrarverbände im Kaiserreich lag im relativen Gewichtsverlust der Agrarwirtschaft beim Übergang vom Agrar- zum Industriestaat und in der damit verbundenen Strukturkrise der deutschen Landwirtschaft. Die Agrarwirtschaft versuchte ihre abnehmende gesamtwirtschaftliche Bedeutung durch politische Einflußnahme zu kompensieren 36 • Die einflußreichste der verschiedenen Agrarorganisationen war der Bund der Landwirte. Der Kurswechsel in der Handelspolitik von Bismarcks Nachfolger, Leo v. Caprivi, bildete den unmittelbaren Anlaß seiner Gründung im Jahr 1893. Der Bund der Landwirte war anders als die bisherigen landwirtschaftlichen Organisationen eine agrarische Massenbewegung mit einer entsprechenden Massenorganisation. Mit etwa 300000 Mitgliedern und einem bis in die Wahlkreise hinein durchstrukturierten Apparat übte er auf die einzelnen Abgeordneten, die politischen Parteien und die Parlamente massiven Druck aus. In den Kriegsjahren büßten die Agrarverbände stark an Einfluß ein. In der Kriegswirtschaft war die Rüstungsindustrie vorrangig, und bei der Lebensmittelversorgung erschienen die Interessen der Verbraucher, der Soldaten sowie der Zivilbevölkerung wichtiger als die der Produzenten. Auf der Verliererseite im Industrialisierungsprozeß fanden sich auch Handwerk und Kleinhandel37 • Die Unterschiede der Interessen zwischen den Wirtschaftszweigen im Mittelstand waren zu vielfältig und kompliziert, als daß der Mittelstand im Kaiserreich die organisatorische Zersplitterung überwinden konnte. Anders als bei Industrie und Agrarwirtschaft vermochten die freien Verbände darüber hinaus sich nicht durchzusetzen, sondern wurden von den feudalistisch-ständischen Organen wie Kammern und Innungen fortwährend bedrängt. Aus der organisatorischen Unterentwicklung ergab sich eine schwache Fähigkeit zur Interessenvermittlung. Der Mittelstand bekämpfte diesen Bedeutungsschwund durch eine Ideologisierung des Begriffs des Mittelstandes als der eigentlich staatstragenden Schicht in einer in zwei antagonistische Klassen zerfallenen Gesellschaft und durch die Gründung der nicht auf der objektiven Interessenlage, sondern auf dieser Ideologie aufgebauten Mittelstandsverbände. Unter diesen Umständen gewann die Mittelstandsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder an Bedeutung. Der herkömmliche Mittelstand von Handwerk und Kleinhandel, der den rechten Flügel der Mittelstandsbewegung bildete, sammelte sich im Reichsdeutschen

,. Über Agrarverbände Huber, aaO .. S.l003ff.; Stegmann, aaO., S.37ff.; VI/mann, aaO., S.85ff., S.l44ff. 37 Über Mittelstandsverbände Huber, aaO., S.IO!Off.; Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, S.65ff.; Stegmann, aaO., S.40ff.; VI/mann, aaO., S.94ff., S.l54f.; Wink/er, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, S.44ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Mittelstandsverband, der eine antiliberale und antisozialistische Politik vertrat38 • Darüberhinaus beteiligte dieser Mittelstandsverband sich mit dem Centratverband Deutscher Industrieller und dem Bund der Landwirte an der Gründung des "Kartells der schaffenden Stände", das ein Ergebnis der Sammlungspolitik von "Roggen und Stahl" war und sich auch mit antisemitischen und antisozialistischen Parolen für einen starken Staat und für die Erhaltung des gesellschaftlichen status quo engagierte39 • Der linke Flügel der Mittelstandsbewegung, den hauptsächlich der wegen des Strukturwandels der Industrie immer weiter ins Vorfeld drängende neue Mittelstand aus wirtschaftlich unselbständigen Angestellten ausmachte, organisierte sich um den Hansa-Bund. Anlaß für seine Gründung war die Reichsfinanzreform 1909, mit der die Allianz von Großgrundbesitz und Schwerindustrie ihre Interessen erneut durchsetzte40. Der Hansa-Bund zielte, durchaus mit zeitweiligem Erfolg, auf die Herauslösung des industriellen Großbürgertums aus seinem Bund mit dem Großgrundbesitz und wollte auf diese Weise dem deutschen Bürgertum einen seinem wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Einfluß in der Politik sichern. In den Kriegsjahren, in denen sich der Organisierungs- und Zentralisierungsprozeß der Mittelstandsverbände weiter fortsetzte, wurde ihre politische Bedeutung indes immer geringer.

2. Gewerkschaften Im Unterschied zu den anderen Verbänden mußten sich die Gewerkschaften im Kaiserreich in der politischen und sozialen Isolierung betätigen41 • Als sich ein großer Teil des Bürgertums mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs von der politisch liberalen Tradition verabschiedete und sich auf ökonomische Interessen zu konzentrieren begann, erwies sich die Hoffnung der Arbeiterbewegung auf die Verwirklichung politisch-sozialer Freiheit durch eine Zusammenarbeit mit den liberalen Kräften endgültig als unrealisierbar. Der Zerfallsprozeß des Bündnisses zwischen liberaler Nationalbewegung und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung stellte den Hintergrund der Gründungswelle der Gewerkschaftsdachorganisationen zum Ende der 60er Jahren dar. Die beiden sozialdemokratischen Gewerkschaften, der Lassalle'sche Allgemeine Deutsche Arbeiterschaftsverhand und die von A. Bebel und W. Liebknecht gegründeten Internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, schlossen sich - wie die sozialdemoStegmann, aaO., S.249ff. Nipperdey, aaO., S.277f.; Stegmann, aaO., S.360ff. 4!J Huber, aaO., S.I021; Stegrrumn, aaO., S.l76ff. 41 Über die Entwicklung der drei Richtungsgewerkschaften Huber, aaO., S.ll41 ff., S.ll75ff., S.l225ff.; Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, S.l6-115; Wehler, aaO., S.94f. 38

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

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kratischen Parteien in Gotha - im Jahr 1875 zusammen. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung überlebte trotz der Verfolgung unter dem Sozialistengesetz zwischen 1878-1890 und der "Reform von oben" durch die Einführung des Sozialversicherungssystems. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes entwickelte sie sich so explosiv zu einer Massenbewegung, daß sich ihre Mitgliederzahl zwischen 1890 und 1905 fast verfünffachte. Die Freien Gewerkschaften überschritten im Jahr 1904 die Millionengrenze; 1914 hatten sie 2,5 Millionen Mitglieder. Außer den sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften gab es im Kaiserreich noch zwei Dachverbände der Richtungsgewerkschaften: den liberalen Verband der Hirsch-Duockersehen Gewerkvereine (seit 1869) und den Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften (seit 1899). Die liberale Arbeiterbewegung trat für einen Interessenausgleich auf friedlichem Weg und damit für das partnerschaftliche Modell ein. Die kompromißlose Reaktion von Staat und Arbeitgebern gegenüber der Arbeiterbewegung und die sich damit verhärtende Konfrontation und Polarisierung machten es ihr schwer, das Vertrauen der Arbeiterschaft beizubehalten und neu zu gewinnen. Unter diesen Umständen konnten die liberale~ Gewerkvereine kaum auf ein so explosives Wachstum wie bei den sozialdemokratischen Gewerkschaften hoffen. Sie konnten aber, wenn auch auf bescheidenem Niveau, ihre Stabilität aufrechterhalten. Die Mitgliederzahl betrug im Jahr 1905 116000 und blieb bis zum Ersten Weltkrieg fast unverändert. Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften stützte sich auf den Gedanken einer ständischen Gliederung von Wirtschaft und Gesellschaft und trat für eine harmonische Kooperation von Kapital und Arbeit ein. Die meisten Mitglieder kamen aus dem katholischen Milieu, in dem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung kaum festen Fuß fassen konnte. Innerhalb kurzer Zeit übertraf der christliche Dachverband die liberalen Gewerkschaften und wurde zweitstärkster Verband: 1905 zählte seine Mitgliedschaft 188000 Personen. Vor dem Ersten Weltkrieg konnte die soziale und politische Isolierung der Arbeiterbewegung nicht durchbrachen werden. In der machtpolitischen Konstellation des späten Kaiserreichs standen sich zwei strategische Konzeptionen gegenüber: Während die eine Richtung für den Ausbau der Sozialverfassung und damit für die Integration der Gewerkschaften in das monarchische Gesellschaftssystem plädierte, hielt die andere Richtung, deren mächtigste Befürworter sich auf die schwerindustriellen Interessen stützten, eine massive Unterdrückung der Arbeiterbewegung für unvermeidlich. Keine dieser beiden Richtungen konnte sich bis 1914 durchsetzen42 • In dieser labilen Lage wollten die Gewerkschaftsführer trotz der innerverbandliehen Oppositionsströmungen jedes unkal-

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Schönhoven, aaO., S.85ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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kulierbare Risiko vermeiden und auf dem Weg der Legalität bleiben. Sie bemühten sich um die politische Anerkennung als gleichberechtigte Sozialpartner, konnten hierbei jedoch erst während des Ersten Weltkrieges deutliche Erfolge erzielen. Nach Ausbruch des Krieges verzichtete die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung auf die traditionelle Friedenspolitik und ordnete sich gemeinsam mit den liberalen und christlichen Gewerkschaften in die nationale Einheitsfront ein43 . Mit diesem Kriegspatriotismus übernahmen die Gewerkschaften einerseits die Verantwortung für die Disziplinierung der Arbeiter, deren Elend in einem lange dauernden totalen Krieg immer unerträglicher wurde. Andererseits konnten sie 1916 mit dem "Vaterländischen Hilfsdienstgesetz" ihrem Ziel, als gleichberechtigte Partner der Unternehmer anerkannt zu werden, näher kommen. Im Hilfsdienstgesetz wurden neben den Freizügigkeitsbeschränkungen, wie der Arbeitspflicht für die Männer und der Begrenzung der freien Arbeitswahl, eine Regelung über die Arbeiterausschüsse und Schlichtungsinstanzen getroffen, die die Anerkennung der Gewerkschaften und einen den Unternehmern gesetzlich auferlegten Korporationszwang beinhaltete44 • Vor dem Hintergrund der Mißstimmung der breiten Bevölkerung wegen des unerwartet lange dauernden Krieges überforderte ihre Doppelfunktion als kriegswirtschaftliche Ordnungsinstanz und als Interessenorganisation der Arbeiter die Gewerkschaften immer mehr. Die Gewerkschaftsführungen entschieden sich in dieser schweren Lage weiter für die Kooperation mit dem Obrigkeitsstaat, obwohl die konstitutionelle Monarchie in einem bis dahin geschichtlich beispiellosen totalen Krieg ihre Untauglichkeit als modernes Herrschaftssystem und ihre unterentwickelte Reformbereitschaft deutlich bewies. Diese Strategie des Reformismus setzte die Gewerkschaftsführung im wesentlichen unverändert in der Stunde der Revolution und in der Weimarer Republik fort. 3. Gesamtbewertung Insgesamt gesehen war die Entwicklung der Verbände im Kaiserreich durch organisatorische Fortschritte und die Zunahme politischen Einflusses charakterisiert45. Die Verbandsorganisation differenzierte sich nach spezifischen Interessen und vollzog gleichzeitig einen Zentralisierungsprozeß nach dem Spitzenverbandsprinzip. Dabei gewannen die Verbände an Stabilität mit der Folge, daß sich die wesentlichen Strukturelemente des deutschen Verbandssystems in dieser

AaO., S.94ff. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.5, S.J06ff. •s Nipperdey, aaO., S.267f.; VI/mann, aaO., S.ll7ff. 43 44

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

Epoche herausbildeten. Unter diesen Umständen setzte allmählich die Bürokratisierung der Verbandsorganisation ein und traten bei der Machtverteilung innerhalb der Verbände neben die herkömmlichen Honoratioren die neuen Funktionäre. Mit den organisatorischen Fortschritten wuchs auch der politische Einfluß der Verbände. In allen Phasen des politischen Prozesses in Staat und Gesellschaft suchten sie Einflußmöglichkeiten. Unter den Einflußadressaten standen zwar wegen der Grundstruktur der konstitutionellen Monarchie Regierung und Verwaltung nach wie vor an der Spitze; aber auch Parlamente und politische Parteien gewannen zunehmend größere Bedeutung. Auch das Gewicht der öffentlichen Meinung wurde als Einflußadressat im Kaiserreich immer wichtiger. Indem immer breitere Bevölkerungsschichten sich politisieren ließen, konnten die Verbände seit den 90er Jahren durch Presse und Versammlungen sowohl Regierung und Verwaltung als auch Parlamente und politische Parteien wirksam unter Druck setzen. Um die gesamte Struktur des Verbandssystems im Kaiserreich zu verstehen, könnte die Typologie von Philippe C. Schmitter hilfreich sein46 • Er unterscheidet zwei Hauptformen der Interessenvermittlung, eine pluralistische und eine korpora~ive, und untergliedert jede Hauptform wiederum in eine staatliche und eine gesellschaftliche Variante. Nach dieser Typologie war das Verbandssystem im deutschen Kaiserreich hauptsächlich pluralistisch strukturiert. Daneben gab es immer noch berufsständisch-staatskorporative Elemente insbesondere bei den Verlierern im Industrialisierungsprozeß und neuerdings gesellschaftskorporative Ansätze nach der Jahrhundertwende47 • Freilich blieben die Gewerkschaften im Kaiserreich von diesem Verbandssystem ausgeschlossen. Sie wurden erst im "Kriegssozialismus" und dann unter der Demokratie der Weimarer Republik schrittweise integriert. 111. Die Beziehung zwischen politischen Parteien und Verbänden

Die Entstehung des Interventionstaates und der Verbände war für die politischen Parteien, die sich noch keinen anerkannten Status in Verfassung und Politik hatten sichern können, eine Herausforderung. Die Wende der Politik Bismarcks zielte auch auf die Schwächung der politischen Parteien ab. Dadurch wollte er die Vorherrschaft des Staates über die Gesellschaft sichern. In diesem Zusammenhang zeigten neu entstehende Verbände, wie der Centralverband Deutscher Industrieller, die Neigung, nicht die politischen Parteien zu ergänzen, Schmitter, Interessenvermittlung und Regierl>arkeit, S.94ff. Vgl. Abelshauser, Freiheitlicher Korporalismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S.l59; Nocken, Korporalistische Theorien und Strukturen in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, S.29f.; Ullmann, aaO., S.122. 46 47

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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sondern mit ihnen zu rivalisieren oder sie sogar zu verdrängen48 . Diese Tendenzen auf Seiten des Staates und der Verbände gipfelten in der Gründung des aus Interessenvertretern und Wirtschaftsexperten zusammengesetzten Volkswirtschaftsrats49. Unter der Initiative Bismarcks und mit Unterstützung der wirtschaftlichen Gruppen aus Handel, Industrie und Landwirtschaft wurde 1881 der preußische Volkswirtschaftsrat errichtet. Die Aufgabe dieses neuen Organs und des geplanten, aber nicht verwirklichten Volkswirtschaftsrats auf Reichsebene war auf die beratende Stellungnahme zu den wichtige wirtschaftliche Interessen betreffenden Gesetzes- und Verordnungsentwürfen beschränkt. Aber die Möglichkeit, daß der Volkswirtschaftsrat im Fall eines Staatsstreichs als ständisches Vertretungsorgan das Parlament ersetzen könnte, war vorhanden50• Nachdem die Bemühungen Bismarcks um die Erweiterung des preußischen Volkswirtschaftsrats auf die Reichsebene am Widerstand der politischen Parteien gescheitert waren, verlor der Volkswirtschaftsrat seine Bedeutung als potentielles Ersatzorgan des Parlaments51 • Die Tendenz der Verbände, mit den politischen Parteien zu konkurrieren, wurde in der Endphase des Kaiserreichs abermals erkennbar. Äußeres Indiz für diese Tendenz war die Entstehung von Verbandskoalitionen wie des Hansabundes und des Kartells der schaffenden Stände52 • In einer Situation, in der die Schwäche der konstitutionellen Monarchie, wie etwa in der Daily-TelegraphAffäre im Jahr 1908, deutlich geworden war, die vorhandenen politischen Kräfte, einschließlich der politischen Parteien, sich jedoch zur Überwindung der Systemkrise unfähig erwiesen, entstand ein neues Vakuum in der Politik. Die Auseinandersetzung zwischen dem Hansabund und dem Kartell der schaffenden Stände über allgemeine politische Fragen wie Parlamentarisierung und die Wahlrechtsreform zeigt, daß die Verbände in dieser Situation ihre Machtbasis zu erweitern und sich neben die politischen Parteien zu stellen versuchten. Diese Entwicklung unterschied sich von der Errichtung des Volkswirtschaftsrats dadurch, daß sie nicht von dem Staat gesteuert wurde. Die Verbände waren im Kaiserreich zwar nicht in der Lage, mit den politischen Parteien im ganzen zu konkurrieren; sie übten jedoch großen Einfluß auf die einzelnen politischen Parteien und ihre gesamte Struktur aus 53• Zum einen leisteten die Verbände den politischen Parteien wichtige Dienste durch die Mobilisierung der Wählerschaft. Dadurch ließen sich die Massen in die Politik hineinziehen und steigerte sich auch die Wahlbeteiligung. Soweit aber diese Nipperdey, aaO., S.268; Nocken, aaO., S.30. Abelshauser, aaO., S.l54ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.4, S.I026ff. 50 Huber, aaO., S.l036; Weh/er, aaO., S.l20. 51 Huber, aaO., S.l030f. 52 Nipperdey, aaO., S.227; Nocken, aaO., S.30. 53 Ullmann, aaO., S.l20f.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

Politisierung der Massen nur auf partikulare Interessen ausgerichtet war, verursachte zum anderen der wachsende Einfluß der Verbände bei der Entwicklung des Parteiwesens Probleme. Die Interesseneogegensätze zwischen den Verbänden nahmen schnell den Charakter tiefgreifender ideologischer Antagonismen an. In dieser Form konnten sie von den politischen Parteien kaum noch mit allgemeineren, tendenziell Universalistischen Gesichtpunkten vermittelt werden. Die konfligierenden gesellschaftlichen Interessen setzten sich in einigen Parteien ohne nennenswerte Filterung und Brechung durch. Der inner- und zwischenparteiliche Ausgleich wurde dadurch erheblich erschwert. Die Verbände suchten auf verschiedenen Ebenen nach Möglichkeiten, auf die politischen Parteien Einfluß zu nehmens.t. Bei der Kandidaturaufstellung und im Wahlkampf unterstützten sie die ihren Interessen nahestehenden Kandidaten durch den Einsatz von Organisation und Finanzmitteln. Auf die Gesetzgebung wirkten sie durch sachliche Information, durch persönliche Beziehungen in Wahlkreis und Beruf und auch durch die Drohung der Nicht-Wiederwahl ein. Das tatsächliche Gewicht des Verbandseinflusses kann nur in Bezug auf die Beziehung zwischen bestimmten Parteien und bestimmten Interessen dargelegt werden55 • Die engste Verbindung zwischen politischen Parteien und Verbänden entstand zwischen der deutschkonservativen Partei und dem Bund der Landwirte. Dank der Unterstützung des Bundes der Landwirte fand die deutschkonservative Partei die bis dahin fehlende Massenbasis in der Bauernschaft, sie verzichtete dafür aber gleichzeitig auf den Versuch, im städtischen Mittelstand Fuß zu fassen. Infolge dieser Verbindung wandelte sich die deutschkonservative Partei von einer Verfassungs- zu einer Interessenpartei. Die Nationalliberalen brachte der Vorrang der Wirtschaftsinteressen in der Politik in eine Zerreißprobe. Der innerparteiliche Interessenpluralismus - die Abhängigkeit von den agrarischen Wahlkreisen unter der städtischen und industriellen Parteiführung, der Konflikt zwischen Schwer- und Leichtindustrie, zwischen Bildung und Besitz, die Rücksicht auf zünftlerische Mittelstandskreise trotz liberalistischer Wirtschaftsideen und Interessen - wurde auf die Tagesordnung gesetzt. Das Zentrum wurde demgegenüber durch die Ökonomisierung der Politik relativ bevorzugt, da die wirtschaftlichen Interessen innerhalb des katholischen Volksteils in eigenen Verbänden organisiert waren. Auch im Fall innerparteilicher Interessengegensätze konnte sich die konfessionspolitische Parole von der notwendigen Einheit der katholischen Minderheit durchsetzen. Die politischen Parteien waren freilich nicht nur das Objekt der verbandliehen Einflußnahme. Sie waren auch Initiatoren bei der Gründung der Verbände und Unterstützer ihrer weiteren Entwicklung, so wie es jahrzehntelang in der BezieS4 jj

Nipperdey, aaO., S.269ff. AaO., S.272ff.; Stegmann, aaO., S.l40ff., S.305ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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hung zwischen sozialdemokratischer Partei und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung der Fall war6 • In den beiden sozialdemokratischen Richtungen der Arbeiterbewegung behauptete sich der Primat der Partei gegenüber der Autonomie der Gewerkschaften. Nach dem "ehernen Gesetz" der Lassalleaner konnte Gewerkschaftsarbeit den Durchschnittslohn, der vom Bevölkerungswachstum determiniert wurde, auf Dauer niemals über das Existenzminimum erhöhen. In der marxistischen Perspektive der Eisenacher war sie nur Teil eines systemimmanenten Krieges im Kapitalismus, dem im Emanzipationskampf des Proletariats für die endgültige Aufhebung der Arbeit-Kapital-Beziehung nur eine taktische Funktion zukam. Der Primat der Partei wurde aber seit Anfang der neunziger Jahre herausgefordert, und zwar von der neuen Generation der Gewerkschaftsführer, die als Kinder des Proletariats geboren und aufgewachsen waren und ihre Karriere als Gewerkschaftler in der Zeit des Sozialistengesetzes begonnen hatten57 • Nach den harten Auseinandersetzungen zwischen 1903 und 1906 gab die Partei ihren Primatanspruch auf, so daß die Gewerkschaften im ökonomischen Aktionsbereich Autonomiespielräume gewannen. Seit dem Mannheimer Parteitag 1906 war die Beziehung zwischen der sozialdemokratischen Partei und den Freien Gewerkschaften auf dem Prinzip der Gleichberechtigung aufgebaut58 • Den Hintergrund dieser Entwicklung stellte die Bedeutungszunahme der Gewerkschaften im gesamten sozialdemokratischen Lager dar. Im ganzen gesehen war die Entstehung und Entwicklung der Verbände im Kaiserreich ein notwendiges Ergebnis des Übergangs zum Staatsinterventionismus und der Interessenorganisierung in der Industriegesellschaft Solange aber die politischen Parteien die Initiative in der Politik nicht ergreifen konnten, eröffnete dies den Verbänden die Möglichkeit, direkt mit dem Obrigkeitsstaat zusammenzuarbeiten und so mit den politischen Parteien zu konkurrieren. In der Phase der Stagnation der Verfassungsentwicklung zur parlamentarischen Demokratie drängte die politisierte Gesellschaft also in die Verbände hinein59• Dies war mit dem Rückgang der Verfassungspolitik, der "Ökonomisierung" der politischen Parteien gekoppelt. Die relative Übermacht der Verbände im autoritären Interventionsstaat schwächte die integrierende Kraft der politischen Parteien und kam den Gegnern der Entwicklung zum Parteienstaat zugute60•

Schönhoven, aaO., 5.3lff. AaO., S.48, 5.67ff. 18 AaO., S.69. '" Wehler, aaO., 5.94; Boldt, aaO., S.204. 60 Nipperdey, aaO., 5 .279. 16 17

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

C. Politische Parteien und Verbände in der Staats- und Staatsrechtslehre Die politischen Parteien und später die Verbände erweiterten ihren Spielraum und Einfluß enorm und sicherten ihren Platz im realen politischen System der konstitutionellen Monarchie. Diese Entwicklung fand jedoch keinen Niederschlag in den positiven Verfassungen. Solange das bürgerliche Sozialmodell als Grundlage der modernen Verfassung auch in den Verfassungen der konstitutionellen Monarchie galt, sahen diese Verfassungen außer der Wahl keine Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft vor. Die Mißachtung der Notwendigkeit vermittelnder Instanzen durch die konstitutionellen Verfassungen kann als allgemeine Schwäche der bürgerlichen Verfassung erklärt werden. I. Politische Parteien im Staatsrecht Die Indifferenz der positiven Verfassungen ließ sich jedoch auf der gesetzlichen Ebene nicht konsequent durchhalten. Die politischen Parteien mußten dank ihrer tatsächlichen Macht, wenn auch nur allmählich, vereinzelt und indrekt, in positiven Gesetzen Beachtung finden. Die Rechtsgrundlage ihrer Tätigkeit waren zunächst die allgemeinen Regelungen des Vereinsrechts61 • In den bestehenden Vereinsgesetzen wurden politische Parteien als "politische Vereine" bezeichnet und strengerer Kontrolle unterstellt. Unter anderem galt für die "politischen Vereine" bis zum Jahr 1899 das Verbindungsverbot, d.h. das Verbot des organisatorischen Zusammenschlusses der einzelnen Ortsvereine zu einer überregionalen Partei. Diese Regelung stellte ein empfindliches Hemmnis für die Kraftentfaltung der politischen Parteien dar. Ausgenommen von den vereinsrechtlichen Beschränkungen waren "Wahlvereine" nach § 17 ReichswahlG62. Die auf der Reichsebene tätigen politischen Parteien genossen danach bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen in Form von Wahlvereinen eine vorübergehende Lockerung der sonstigen Vereins- und Versammlungsbeschränkungen.

61 Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, S.l5f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.4, S.7f.; Tillmann, Staat und Vereinigungsfreiheit im 19. Jh., S.I07ff.; Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S.l4. 62 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.3, S.866ff.; Tillmann, aaO., S.I09ff.

C. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre

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II. Politische Parteien und Verbände in der Staats- und Staatsrechtslehre

1. Die methodische Wende und die Lehre von politischen Parteien und Verbänden Daß die politischen Parteien und Verbände außerhalb der positiven Verfassungen der konstitutionellen Monarchie blieben, hieß freilich nicht, daß sie sich auch nicht im Blickfeld der Staats- und Staatsrechtslehre befanden. Ob und inwieweit die Erscheinungen außerhalb der positiven Verfassungen zu ihrem Forschungsgegenstand werden, hängt von dem methodischen Selbstverständnis der Wissenschaft ab. Dies ist auch bei den unterschiedlichen Haltungen der Staats- und Staatsrechtslehre gegenüber politischen Parteien und Verbänden zu beobachten. a) Parteienlehre der frühkonstitutionellen Staatswissenschaft Daß die politischen Parteien in der frühkonstitutionellen Staatswissenschaft als Problemfaktoren überhaupt wahrgenommen wurden, war eine Folge der damaligen methodischen Richtung. Die dogmatische Bearbeitung des Staatsrechts wurde dabei nicht von dem Gedanken einer logischen Einheit des konstituierten Systems geleitet, sondern in dem Konzept einer wirklichen sozialen Einheit des staatlichen "Organismus" gegründet63 • Solange es an einem einheitlichen Staatsrecht zu fehlen schien, stellte sich die Staatsrechtslehre die Aufgabe, den Staat so, wie er sich vorfand, als eine geschichtliche Gemeinschaft darzustellen. Unter diesen Umständen wurde neben der staatsrechtlichen Dogmatik großes Gewicht auf die allgemeine Staatslehre und die Rechtsphilosophie gelegt. Es war die Rede von der Idee einer Enzyklopädie der Staatswissenschaft64 • Diese Atmosphäre ennöglichte den Staatsrechtslehrern, die faktische Entwicklung der politischen Parteien im politischen System zu sehen und sie in ihr Forschungsfeld aufzunehmen. Im Vonnärz, als die politischen Parteien mehr oder weniger bloße theoretische Konstrukte blieben, entwickelte sich auch die Parteienlehre ohne konkrete Grundlage. Die Erfahrung der Revolution 1848 führte die Zeitgenossen aber zu der Erkenntnis, daß sich in den politischen Parteien eine tatsächlich existierende politische Macht des vorwärtsdrängenden liberalen Bürgertums gegen das Standesinteresse verkörperte65 • In der Wiederbelebungsphase der politischen Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, S.65ff., S.l64, S.175f. Als ein typisches Beispiel dafür vgl. Ahrens, Juristische Enzyklopädie, insb. S.797ff. 6l Über die Entwicklung der liberalen Parteilehre Schieder, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus. 63

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

Parteien nach der Reaktion wurden sie eine so weit verbreitete Erscheinung des politischen Lebens, daß sie nicht mehr nur von den Liberalen wie Mohl, Bluntschli u.a. 66 , sondern auch auf der Seite der Konservativen für eine unvermeidliche Tendenz gehalten werden mußten. Der konservative Staatslehrer Stahl unterschied von seinem politischen Standpunkt aus die Parteien der Legitimität die politischen Richtungen der absoluten, ständischen und konstitutionellen Monarchie - von den Parteien der Revolution, unter denen er das politische Spektrum zwischen Kommunismus und parlamentarischer Monarchie verstand67 . Im ganzen gesehen spiegelte sich die tatsächliche Entwicklung des Parteiwesens in der Parteienlehre der konstitutionellen Monarchie relativ deutlich wider. b) Parteien- und Verbändelehre des spätkonstitutionellen Positivismus Zusammen mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erlebte die Staatsrechtslehre eine epochale methodische Wende. Die Bemühungen von Gerber, die begriffsjuristische Methode aus dem Privatrecht ins öffentliche Recht einzuführen68, fand im Hinblick auf die wesentlichen Änderungen der politischen Verhältnisse weitgehend Zustimmung. Seine Forderung nach einer systematischen Betrachtung des positiven Staatsrechts anhand der ihm zugrundeliegenden Prinzipien und nach einer Reinigung der Dogmatik des positiven Staatsrechts von allen nichtjuristischen - philosophischen, geschichtlichen und politischen Elementen69 wurde in einer ihrer Erfüllung günstigen Situation erhoben. Zum einen schaffte die Reichsgründung eine einheitliche positivrechtliche Grundlage, auf die sich eine juristisch systematische Staatsrechtslehre stützen konnte. Zum anderen wurden auch die sozialen und politischen Voraussetzungen für die Verbreitung der juristischen Methode in der Staatsrechtslehre durch die Reichsgründung hergestellt. Gerbers Aufruf zur Trennung des Staatsrechts von der Politik bedeutete in der damaligen Konstellation ohne weiteres einen Aufruf zum Verzicht auf das verfassungspolitische Ziel des Liberalismus, die Fortentwicklung hin zum parlamentarischen System70. Indem die Bismarcksche Reichsgründung die Sehnsucht des deutschen Bürgertums nach nationaler Einheit erfüllte, wurde seine große Mehrheit, die inzwischen auch ihren fort-

66 Vgl. Moht, Robert von Mohl. Politische Schriften, S.239ff.; Bluntschli, Charakter und Geist der politischen Parteien. 67 Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. 68 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.361 ff.; Oertzen, aaO., S.l63ff.; Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S.92ff.; Stotleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd.2, S.331ff.; Withelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S.l29ff. 69 Gerber, Über öffentliche Rechte, S.l4 und S.27. 70 Grimm, aaO., S.363f.; Oertzen, aaO., S.289ff.; Wilhelm, aaO., S.l39ff., S.l52ff.

C. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre

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schrittliehen Charakter eingebüßt hatte, bereit zur Versöhnung mit dem status quo. Die theoretischen Ansätze von Gerber wurden bei Laband ausgebaut, insbesondere in seinem Epoche machenden Werk, dem vierbändigen "Staatsrecht des deutschen Reichs". Für Laband war die Reichsverfassung "nicht mehr der Gegenstand des Parteistreits, sondern ... die gemeinsame Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe" 71 . Es entstehe daher mehr Bedürfnis nach einer Verfassungsdogmatik, die auch die Fragen und Zweifel der Praxis nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts beantworten könne72 • Die Notwendigkeit, das positive Recht nicht im Licht politischer Wunschvorstellungen, sondern auf einer bestimmten wissenschaftlichen Grundlage auszulegen, war in der Staatsrechtslehre schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend anerkannt. Die Gerher-Laband-Schule wollte jedoch die Staatsrechtslehre über die damals herrschende und durchaus als wissenschaftlich anerkannte Methode, zum Verständnis des positiven Rechts auch die Ideen und die politische Wirklichkeit heranzuziehen, hinaus weiter "reinigen". Die Aufgabe des Reichsstaatsrechts sei die Feststellung der juristischen Natur der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse und die Auftindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen sie untergeordnet seien73 • Daher liege die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik allein "in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. Dies ist, abgesehen von der Erforschung der geltenden positiven Rechtssätze, d.h. der vollständigen Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes, eine rein logische Denktätigkeit. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt es kein anderes Mittel als die Logik; ... alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich sein mögen - sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang"74. Nach dieser methodischen Sicht sei "die Schaffung eines neuen Rechtsinstitutes, welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht untergeordnet werden kann, gerade so unmöglich wie die Erfindung einer logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen Naturkraft"75. Dieser Glaube an die logische Vollkommenheit der juristischen Methode schloß in der Tat die Möglichkeit aus, daß die reale Problematik, die sich nicht auf allgemeinere Rechtsbegriffe zurückführen ließ, einen Platz im Staatsrecht71 72 73 74

75

Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reichs Bd.l, I.Aufl. 1876, Vorwort S.5.

AaO., AaO., AaO., AaO.,

Vorwort S.4. Vorwort S.6. 2.Aufl. 1888, Vorwort S.11. I.Aufl. 1876, Vorwort S.6.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

liehen System finden konnte76 • Die politischen Parteien, die weder ausdrücklich vom positiven Staatsrecht noch von den allgemeinen Rechtsbegriffen hergeleitet werden konnten, wurden im Siegeszug der Gerher-Laband-Schule aus dem Gebiet der Staats- und Staatsrechtslehre ausgeschlossen. Bei der Erörterung des Reichstages ignorierte Laband fast völlig die Möglichkeit einer staatsrechtlichen Bedeutung der politischen Parteien. Er sah den Reichstag der Reichsverfassung nicht wesentlich unterschieden von "dem im konstitutionellen Staatsrecht längst wissenschaftlich erörterten Begriff der sogenannten Volksvertretung". Allein dieser herkömmliche Begriff, der freilich keine politische Parteien kannte, war schon genug "für die staatsrechtliche Konstruktion des Reichstages als eines Organs des Reichs und für die reinjuristische Bestimmung der ihm obliegenden Funktionen'm. Die politischen Parteien tauchten unter diesen Umständen, abgesehen von einer kurzen Erwähnung im Zusammenhang mit dem freien Mandae8, nur in Bezug auf die Wahlvereine nach § 17 ReichswahlG auf9 • Obwohl der institutionelle Zusammenhang der Wahlvereine mit den politischen Parteien bereits beim Erlaß dieses Gesetzes dem Gesetzgeber wohlbekannt war und obwohl sie tatsächlich nur als Hilfsorgane der politischen Parteien fungierten80, wurde diese materielle Beziehung bei Laband ignoriert. Auch in dem wichtigsten Werk von Jellinek, seiner "Allgemeinen Staatslehre"81, war die negative Haltung gegenüber den zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnden Organen trotz des unterschiedlichen Forschungsgebietes nicht wesentlich anders. Die politischen Parteien und Verbände gehörten nicht einmal zum Gegenstand der Staatslehre, den Jellinek - ausgehend von der grundlegenden methodischen Unterscheidung - wiederum in zwei Bereiche, nämlich die soziale Staatslehre und die Staatsrechtslehre, einteilte82 . Sie wurden, wie öffentliche Meinung, Familie, Wirtschaft u.a., in die Gebiete der Sozialwissenschaften eingeordnet und lediglich im Hinblick auf die Beziehung oder, genauer gesagt, die Beziehungslosigkeit der Staatslehre zu den Sozialwissenschaften erörtert. Jellinek sah zwar die Wechselwirkung zwischen Staat und Gesellschaft. Sie gehöre aber nicht dem Forschungsgebiet der Staatslehre, sondern allein den durch Spezialisierung gesonderten Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften an 83 .

Vgl. Oertzen, aaO., S.255f. Laband, aaO., Neudruck der S.AuH. 1911, S.293f. 78 AaO., S.297f. 79 AaO., 5.333. 80 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.3, S.866ff. 81 Dieses Werk erschien zuerst im Jahr 1900 unter dem Titel, "Das Recht des modernen Staates Bd.1 Allgemeine Staatslehre"; ab 2. AuH. im Jahr 1905 hieß es "Allgemeine Staatslehre". 82 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 5.20. 83 AaO., 5 .99. 76

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C. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre

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Politische Parteien seien als solche nicht Gegenstand der Staatslehre selbst, da eine vollendete Einsicht in ihr Wesen nur möglich sei, wenn man sie als gesellschaftliche Bildungen begreife, und da ihre Organisationen keinen staatlichen Charakter hätten, der abgeschlossene Gebilde fordere. In der staatlichen Ordnung habe der Begriff der politischen Parteien als solcher keinen Platz, wie groß ihr Einfluß auf den Staat auch sein möge84 . Politische Parteien seien, vom Standpunkt der Gesellschaftslehre aus betrachtet, der Kampf der Gesellschaft um die staatliche Herrschaft85 . Diese Definition wurde bei Jellinek vom Standpunkt der Staatslehre her nicht ergänzt. Jellinek erkannte die Verbände deutlich als eine neue Erscheinung in der Industriegesellschaft Neben dem herkömmlichen Genossenschaftswesen stehe "ein sehr entwickeltes Vereinswesen, das der Staat zwar reguliert, aber inhaltlich nicht bestimmt, dessen Zweck in der Versorgung sozialer Interessen besteht, die individuelle Tätigkeit ergänzend, die staatliche unterstützend oder vorbereitend, so daß man ohne Kenntnis des Vereinswesens kein völliges Bild von der Befriedigung der Kollektivinteressen eines bestimmten Volkes erhält" 86. Bei der juristischen Bewertung dieser Erscheinung distanzierte er sich aber von der Lehre Gierkes sowie von derjenigen L.v.Steins. Jellinek schloß zwar die Bedeutung des Vereinswesens für die soziale Betrachtung des Staates nicht aus, lehnte jedoch die staatsrechtliche Bewertung kategorisch ab87 . Seine "Allgemeine Staatslehre" war insgesamt ein Versuch, der juristischen Methode über die Staatsrechtslehre hinaus auch in der allgemeinen Staatslehre Geltung zu verschaffen. Die historischen, politischen und sozialen Elemente wurden daher zwar erwähnt, dies aber ohne Vermittlung mit den juristischen Aussagen 88 . Neue juristische Erkenntnisse über die politischen Parteien und Verbände waren dabei nicht zu erwarten. c) Parteien- und Verbändelehre der Positivismuskritiker Einen interessanten Kontrast zu Jellinek bildete R. Schmidt in seiner ein Jahr später erschienen "Allgemeinen Staatslehre". Schmidt wandte sich dabei eindeutig gegen den zeitgenössischen Trend, den Staat rein juristisch zu betrachten89. Er war der Auffassung, "die rechtlichen Regeln des Staatslebens lassen sich nun einmal von den Menschen und Verhältnissen nicht isolieren, für die 04

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AaO., 5.114. AaO., S.l!6. AaO., S.l06. AaO. Grimm, aaO., 5.302. Schmidt, Allgemeine Staatslehre Bd.l, Vorrede S.7f.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

und aus denen sie entstehen". Die juristischen Probleme sollten daher methodisch nicht in einer strengen Trennung von den benachbarten Wissenschaftszweigen behandelt werden. Vor diesem Hintergrund hielt er die politischen Parteien und Verbände für einen genuinen Gegenstand der allgemeinen Staatslehre90 und kam zu der Erkenntnis: "Die Parteien sind die staatsbildenden Kräfte des Gesellschaftslebens, insbesondere auch die Kräfte, welche das Staatsrecht ausbilden" 91 • Eine Gegenströmung gegen die Welle des juristischen Positivismus stellte die Lehre von Gierke dar. Wie Pranz Wieacker später eindrucksvoll zusammengefaßt hat92 , "kämpfte er folgerecht gegen die beiden Fronten, die er sich durch den Zerfall der ursprünglichen Einheit der Gemeinschaften gegenüberstehen sah: gegen die im absoluten Staat vorbereitete, durch die Französische Revolution verwirklichte Allmacht des modernen Staates und gegen den durch die Aufklärung vorbereiteten, in der bürgerlichen Gesellschaft der Industriellen Revolution verwirklichten Individualismus". Die Zauberformel Gierkes sei dabei der "Organismus" der menschlichen Gruppen. Die Gesellschaft erscheine ihm als Hierarchie solcher Gruppen, die vom Einzelnen über die Familie, die Genossenschaften und die Selbstverwaltungskörper bis zum Staat als der körperlichen Gestalt des Gesamtvolks organisch aufsteige, in dem der Gegensatz zwischen Staat und Bürger, Gesellschaft und Individuum, öffentlichem und privatem Recht aufgehoben sei. Dank seiner gruppenfreundlichen Grundposition konnte Gierke zwar die politischen Parteien und Verbände als rechtliches Problem ansehen. In seinem deutschen Genossenschaftsrecht erwähnt er politische Parteien aber lediglich als einen Typus der verschiedenen politischen Vereine, die wiederum als eine der zahlreichen Erscheinungsformen des modernen freien Vereinswesens verstanden wurden93 • Gierke räumte dabei den politischen Vereinen, also nicht etwa auch unmittelbar den politischen Parteien, bloß die Anwartschaft darauf ein, daß sie sich, wie dies in England und Amerika längst geschehen war, zu einem integrierenden Bestandteil des staatlichen Lebens entwickeln könnten94 • Auf eine weitere Darstellung und eigene Stellungnahme verzichtete er5 • Zu dem modernen freien Vereinswesen zählte Gierke auch Vereine für die Interessenvertretung eines Standes, einer Berufsklasse und eines Geschlechts96•

AaO., S.8ff. AaO., S.243. 92 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S.455. 93 Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht Bd.l, S.893ff. 94 AaO., S.895. 9s Vgl. Schieder, aaO., S.47; Tillmann, aaO., S.l07ff. 96 Gierke, aaO., S.900f. 90 91

C. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre

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Der Unterschied zu den politischen Vereinen, die die unmittelbare Einwirkung auf politische Angelegenheiten bezweckten, liege darin, daß sie eine Änderung der sozialen Lage der von ihnen vertretenen Klasse durch unpolitische Mittel herbeizuführen suchten. Zu diesen unpolitischen Mitteln gehörte jedoch bei Gierke über die Tätigkeit auf der privatrechtliehen Ebene hinaus auch eine Belehrung der öffentlichen Meinung und der Behörden. Die Interessenvertretung beschränke sich, so legte er weiter dar, nicht auf die Dimension der je vertretenen Personenklasse. Wie bei "Vereinen für die Wahrung der Interessen des Grundbesitzes", Vereinen "für Beförderung der Gewerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts" und unterschiedlichen Arbeitervereinen könne sie sowohl gegenüber der gesamten übrigen Gesellschaft und als auch gegenüber dem Staat selbst stattfinden. Die Gruppen, die ihre partikularen Interessen gegenüber dem Staat durch Öffentlichkeitsarbeit zu vermitteln versuchten, hatten also bei Gierke keinen politischen Charakter, sondern wurden als ausschließlich privatrechtliche behandelt. In dieser Struktur war für die mit dem Staatsinterventionismus bald in weitem Umfang entstehenden Verbände kein Platz vorbereitet. Das theoretische Verdienst Gierkes als eines Vorläufers des modernen Pluralismus, der den Gruppen neben dem Staat explizit öffentliche Funktionen zusprach97 , ging, wie gesehen, nicht so weit, daß er den politischen Parteien und Verbänden auch eine hervorgehobene politische Funktion einräumte, die sich von der Funktion des allgemeinen zivilrechtliehen Vereinswesens unterschied. Dies zeigt, daß das gruppenorientierte Gesellschaftsverständnis allein ihnen noch keinen ausreichenden theoretischen Platz anbieten konnte. Solange seiner Genossenschaftslehre das Verfassungsbild der konstitutionellen Monarchie zugrunde lag, blieben seine Abkehr vom liberalen Sozialmodell und seine fruchtbaren Einsichten in die spontane Rechtsschöpfung der gesellschaftlichen Gruppen immer noch innerhalb der Grenzen obrigkeitsstaatliehen Denkens eingeschlossen; daraus folgend stand der Staat weiter für sich über der Gesellschaft98 • Unter diesen Umständen verhielt seine Lehre sich zurückhaltend gegenüber den neuen politischen Akteuren, die sich als Werkzeuge und Schöpfungen einer sich frei entfaltenden modernen Gesellschaft "von unten" her dem Staat näherten. Die von Franz Wieacker kritisierte Schwäche der Konzeption von Gierke, "daß sie sich an dem veralteten Modell der vorindustriellen Gesellschaft orientiert und die Realität der Wirtschaftsgesellschaft des späten 19. Jahrhunderts nicht mehr bewältigt hat" 99, trifft auch auf Gierkes Darstellung der politischen Parteien und Verbände zu. Sein politischer Ausgangspunkt lag in der "Rekorporierung" der Gesellschaft im vorliberalen Sinne, in der Wendung gegen die frei zu

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Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandverfassung, S.l8f. Eisfeld, Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, S.23ff.; Wieacker, aaO., S.454f. Wieacker, aaO., S.455.

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

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schließende und zu lösende Assoziation der Einzelnen zugunsten der Korporation mit ihrer dauernden rechtlichen Bindung des Individuums 100•

2. Die Staatsauffassung und die Lehre von politischen Parteien und Verbänden Wie das Beispiel Gierkes zeigt, kann die Durchsetzung der juristischen Methode allein nicht hinreichend den Versuch erklären, die staatsrechtliche Bedeutung der politischen Parteien und Verbände systematisch zu ignorieren 101 • Auch die über den Unterschied der methodischen Standpunkte in der Staatsrechtslehre hinaus verbreitete Staatsauffassung spielte dabei eine wesentliche Rolle. Die Anschauung des Staates, die aus der Romantik und der Lehre Hegels stammte und den Staat als eine übergesellschaftliche, die Einheit des Ganzen verkörpernde Ordnungsmacht verstand, bildete ein entscheidendes Hindernis für die staatsrechtliche Bewertung der politischen Parteien und Verbände 102 • Diese Staatsauffassung ließ sie nur als Vertreter partikularer gesellschaftlicher Interessen der Regierung, die über der Gesellschaft den Staat in seiner Ganzheit und Einheit vertrat, gegenüberstehen. In der Abwehr gegen eine solche Staatsauffassung verstanden die Junghegelianer im Vormärz die politischen Parteien als Gegensatz zu dem bestehenden Staat, als Bewegungskräfte der demokratischen und liberalen Ideen gegen das vorhandene System 103 • Die Parteienlehre der Junghegelianer war also in der Reaktion gegen die restaurative Staatsauffassung nicht an der Anerkennung der politischen Parteien als gleichberechtigter Teilkräfte im politischen System, sondern an der Rechtfertigung der geistigen Tendenz zur Systemänderung Eisfeld, aaO., S.24; Ott, Recht und Realität der Untemehmerkorporation, S.58. Die Bedeutung der politischen Parteien und Verbände wurde auch bei Haenel, der im Anschluß an die Genossenschaftslehre Gierkes sein "Deutsches Staatsrecht" verfaßte, nicht wesentlich anders als bei Gierke gesehen. Verbände wurden im genossenschaftlichen Verständnis hervorgehoben; politischen Parteien wurden demgegenüber wie bei Laband übersehen. Daraus resultiert zwar, daß die Haltung der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs gegenüber den politischen Parteien "im Ergebnis" vom Unterschied der methodischen Richtungen unabhängig war (dazu, Gusy, aaO., S.l5). Hieraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, daß die methodischen Unterschiede innerhalb der staatsrechtlichen Parteienlehre insgesamt nicht mehr berücksichtigt werden müßten. Die Ergebnisse der verschiedenen Staatsrechtlehren stimmten nur in der politisch stabilen Situation des Kaiserreichs überein, in der nahezu alle Staatsrechtslehrer der konstitutionellen Monarchie mehr oder weniger stark gewogen waren. Die jeweiligen methodischen Perspektiven unterschieden sich jedoch erheblich, und diese Unterschiede führten spätestens in der krisenhaft-dynamischen Phase der Weimarer Republik dann auch zu ganz verschiedenen Konsequenzen innerhalb der staatsrechtlichen Diskussion. 102 Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, S.4ff.; Schieder, aaO., S.34ff. 103 Schieder, aaO., S.36ff. 100 101

C. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre

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orientiert. Diese dynamisch-fortschrittliche Parteienlehre büßte jedoch an Einfluß in gleichem Maß ein, in dem sich immer mehr Liberale nach dem Scheitern der Revolution 1848 und insbesondere während der Reichsgründung unter dem Namen der "Realpolitik" zu einem Kompromiß mit dem Obrigkeitsstaat bereit fanden. Stattdessen wurde in dieser Entwicklung die Parteienlehre des schweizerischen Staatslehrers Friedrich Rohmer aktuell. Rohmer unternahm im Vormärz, anders als die Junghegelianer, eine statische psychische Analyse der politischen Parteien. Er verglich dabei die vier politischen Richtungen - radikal, liberal, konservativ und absolut - mit dem Menschenalter - dem Knaben, dem Jüngling, dem Mann und dem Greis - und behauptete, ohne wissenschaftlich bedeutende Begründung, der Radikalismus und der Absolutismus seien inhaltslos und die Annährungsmöglichkeit zwischen Liberalismus und Konservatismus sei größer als die zwischen Radikalismus und Liberalismus sowie zwischen Konservatismus und Absolutismus 104• Es war kein Zufall, daß eine solche Parteienlehre Anschluß an die deutsche liberale Parteienlehre mit ihrer Anpassung an den status quo fand 105 • Die Anerkennung der Obrigkeitsstaatsidee in der deutschen liberalen Parteienlehre, die sich auch schon im Vormärz in der Parteienlehre des gemäßigt liberalen Hegelianers Rosenkranz angedeutet hatte 106, kann in der Parteienlehre von Bluntschli deutlich beobachtet werden. "Die politischen Parteien sind keine Glieder in dem Organismus des Staatskörpers, sondern sie sind freie, in ihrer Zusammensetzung dem wechselnden Beitritt und Austritt anheim fallende Gesellschaftsgruppen" 107 • "Das Staatsrecht ... weiß nichts von Parteien; die Verfassung und die Staatsordnung sind das gemeinsame fest gegründete Recht für Alle ohne Unterschied der Partei" 108 • Die Ausblendung der vermittelnden Instanzen in der Staatsrechtslehre war also nicht nur durch die formal-methodische Wende der Staatsrechtslehre, sondern auch durch ihre material-politische Ausrichtung, die grundsätzlich die Position der Mehrheit des deutschen Bürgertums im Kaiserreich widerspiegelte, bedingt. Eine Aufwertung der politischen Parteien und Verbände war daher nicht zu erwarten, solange die Staatsrechtier der Meinung waren, daß die Verfassung der konstitutionellen Monarchie von einer weiteren Politisierung der Gesellschaft unberührt bleiben sollte. Die Bedeutung der Staatsauffassung in der herrschenden Gerher-Laband-Schule wird allerdings nicht offenkundig, weil diese Staatsauffassung wegen der methodisch engen Begrenzung dieser Lehre und wegen ihrer scheinbar politisch neutralen Argumente hinter dem rein

Rohmer, Die Lehre von den politischen Parteien. Schieder, aaO., S.40f. Ein typisches Beispiel dafür war 8/untsch/i, Charakter und Geist der politischen Parteien. 1116 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.397; Schieder, aaO., S.39f. 107 Bluntschli, aaO., S.9. 108 AaO., S.S. 104

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I. Kap. Parteien und Verbände in der konstitutionellen Monarchie

juristischen Diskurs versteckt blieb. Die Staatsauffassungen des juristsehen Positivismus offenbarten sich aber in der Politisierung der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik und auch in der damaligen Diskussion um die politischen Parteien und Verbände 109• Die Berücksichtigung der Staatsauffassung trägt auch zur geschichtlichen Erkenntnis der Vermittlungsinstanzen in der Verfassungswirklichkeit des Kaiserreichs bei. Die Unterscheidung Bismarcks zwischen "reichstreuen" und "reichsfeindlichen" Parteien 110 sowie die zögernde und "negative" Integration der Katholiken und der Arbeiterschaft111 lassen sich auf die Obrigkeitsstaatsidee zurückführen. Die Stellungnahme Hubers, die einerseits den juristischen Positivismus im Kaiserreich wegen seiner zögernden Anerkennung der Verfassungsrechtsqualität der politischen Parteien kritisiert112, andererseits jedoch den Staat der konstitutionellen Monarchie als einen harmonischen Zustand zwischen dem Pluralismus der Gesellschaft und der Einheit des Staates, sogar als einen "aus dem Pluralismus der Parteien durch die Mehrheitsentscheidung zur Einheit integrierte(n) Staat" versteht113, muß mithin als eine sich auf die eigene Staatsauffassung stützende Stellungnahme relativiert werden. Im gleichen Kontex~ wie bei Huber zeigt auch die Weimarer Staatslehre, daß sich aus der methodischen Überwindung des juristischen Positivismus nicht unbedingt eine parteien- und verbändefreundliche Lehre ergab.

Siehe dazu unten 4. Kap. B. Ritter, Politische Parteien in Deutschland vor 1918, S.107. 111 Lepsius, aaO., S.78. 112 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.4, S.6. 113 AaO., S.14f. 109

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2. Kapitel

Politische Parteien und Verbände in der Weimarer Republik A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik I. Entstehung der Weimarer Republik

1. Der politische Umbruch

Die Entstehung der Weimarer Republik war eine Folge komplizierter Vorgänge, die sich nach dem militärischen Zusammenbruch unter schweren inneren Erschütterungen und äußeren Bedrängnissen abspielten. Der Wechsel der Staatsfonn vollzog sich in zwei Stufen, zunächst von der konstitutionellen in eine parlamentarische Monarchie und dann von dieser in die Republik 1• a) Oktoberrefonn Auf Grund des militärischen Zusammenbruchs an der Westfront im Sommer und Herbst 1918 war die Oberste Heeresleitung (OHL), die seit 1916 im Rahmen der "totalen Mobilmachung" aller Kräfte der Nation eine tatsächliche Diktaturgewalt ausgeübt hatte, gezwungen, um den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes zu ersuchen. Bei den Beratungen im Großen Hauptquartier zu Spa am 28. und 29. September beschlossen die führenden Persönlichkeiten des Kaiserreichs auf Initiative der OHL, ein Waffenstillstands- und Friedensangebot an Wilson, den Präsidenten der USA, zu richten und diese Aktion durch eine innenpolitische Refonn in Gestalt einer Parlamentarisierung der Reichsregierung abzustützen. Vor diesem Hintergrund bildete der am 3. Oktober zum Reichskanzler ernannte Prinz Max von Baden sein Kabinett unter Mit1 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S.25ff.; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.205ff.; Böckenförde, Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.S, S.535ff.; Kolb, Die Weimarer Republik, S.lff, S.163ff.; ders. (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik; Wink/er, Von der Revolution zur Stabilisierung, S.19ff.; ders., Weimar, S.l3ff.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

wirkung der Mehrheitsparteien im Reichstag. Dies war ein entscheidender Schritt auf dem Weg von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie. Es wäre jedoch zu einseitig, die Parlamentarisierung des Regierungssystems als einen Vorgang anzusehen, der mit dem Zweck, die Ausgangslage der erwarteten Waffenstillstands- und Friedensverhandlung zu verbessern, allein auf Initiative der OHL und des Kaisers eingeleitet wurde. Der Reichstag hatte bereits vor der militärischen Niederlage sein Machtpotential demonstriert. Durch die Friedensresolution im Jahre 1917, die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses und die Aktualisierung des konstitutionellen Budgetrechts als Mittel der Einflußnahme auf die Politik hatte er bereits eine grundlegende Wende in den Verfassungsverhältnissen in Gang gesetzt2 • Der Prozeß einer Ausweitung der Macht des Reichstags blieb mangels Einigkeit und politischen Machtwillens der Mehrheitsparteien zunächst stecken. Er führte daher nicht schon vor dem Herbst 1918 dazu, daß der Reichstag über seine Stellung als Kontrolleur der Staatsleitung hinaus auch die aktive Teilnahme an der politischen Entscheidung und die Übernahme der Regierungsverantwortung anstrebte. Als aber die Aussichten !luf einen militärischen Sieg endgültig geschwunden waren, begann der Reichstag, sein Machtpotential entschlossen einzusetzen, und ergriff die Initiative in der Verfassungsfrage. Am 28. September, vor der Entscheidung im Großen Hauptquartier, verlangte der Interfraktionelle Ausschuß eine Veränderung der Reichsverfassung mit dem Ziel der Parlamentarisierung der Regierungsgewale. Daß sich diese Forderung ohne Machtprobe zwischen OHL und Reichstagsmehrheit durchsetzen konnte, beruhte auf Ludendorffs Kalkül, sich nicht gegen die Mehrheitsparteien zu stellen, sondern ihnen den Zugang zur Macht zu ermöglichen und damit die unangenehme Aufgabe der Beendigung des Krieges und die Verantwortung dafür zuzuschieben4 • Die neue Reichsregierung unter dem Kanzler Prinz Max von Baden bereitete zeitlich parallel zum Notenwechsel mit Wilson über die Friedensbedingungen in Zusammenarbeit mit den Mehrheitsparteien eine Verfassungsreform vor. Am 28. Oktober vollzogen zwei verfassungsändernde Gesetze den verfassungsrechtlichen Übergang zur parlamentarischen Monarchie. Fortan war der Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstags abhängig; Reichstagsabgeordnete konnten jetzt Minister werden, ohne ihr Mandat niederlegen zu müssens. Dieser Reformprozeß fand jedoch bei der Bevölkerung keine besondere Aufmerksamkeit, da 2 Bermbach, Die Entstehung des Interfraktionellen Ausschusses: Ein Schritt auf dem Weg zur Parlamentarisierung. 3 Matthias!Morsey, Die Bildung der Regierung des Prinzen Max von Baden, S.64. 4 AaO., 5.66. 5 Boldt, aaO., S.212f.; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd.2, Nr.349, Nr.350.

A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

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sich die öffentliche Meinung zu diesem Zeitpunkt auf die Beendigung des Krieges und die Bedingungen dafür, einschließlich der Frage der Abdankung des Kaisers, konzentrierte. Die Erfolgsaussichten der Oktoberreform können im Nachhinein unterschiedlich beurteilt werden. Kaum zu bezweifeln ist jedoch, daß die bisherige Reichsleitung, die OHL und der Kaiser, nicht bereit war, sich der neuen zivilen Reichsleitung aus Mehrheitsparteien unterzuordnen und sich von ihr kontrollieren zu lassen6 • Indizien dafür bilden unter anderem der von der Seekriegsleitung ohne Wissen der Reichsregierung angeordnete Flottenvorstoß in die Nordsee sowie die Abreise des Kaisers ins Große Hauptquartier zu Spa am 29. Oktober. Dies deutet darauf hin, daß sich die Gruppen gegen die Parlamentarisierung schon im Oktober zu einer Gegenaktion formierten und daß die Machtprobe, die Ende September bei der politischen Entscheidung für den Übergang zur parlamentarischen Monarchie nicht stattgefunden hatte, noch nicht endgültig entschieden, sondern nur verschoben war. Vor diesem Hintergrund konnte die Oktoberreform noch keine Endstation darstellen; die weitere Entwicklung fand ihren Ausgang dort, wo die konservativen Kräfte ihren Widerstand aufnahmen7 • b) Übergang in die Republik Die Revolution begann am 28. Oktober mit der Befehlsverweigerung der Matrosen der vor Wilhelmshaven versammelten Hochseeflotte gegenüber der Seekriegsleitung, die sich für die letzte aussichtslose Schlacht entschieden hatte, und dem sich daran anschließenden Aufstand der Matrosen und Soldaten in Kiel. Bereits am 4. Oktober übernahmen die Soldatenräte die Macht in Kiel. In den nächsten Tagen kapitulierten die alten Staatsapparate überall in den Ländern vor der Aufstandsbewegung, die in Arbeiter- und Soldatenräten organisiert war. Die revolutionäre Welle erreichte am 9. November die Reichshauptstadt Berlin. In dieser Situation, in der die Straßen von den Massen besetzt waren und sich die Soldaten dem Aufstand anschlossen, veröffentlichte der Reichskanzler Prinz Max von Baden ohne Ermächtigung des Kaisers dessen Abdankung und übergab die Reichskanzlerschaft an den Führer der Mehrheitssozialdemokratie, Friedrich Ebert. Max von Baden war dabei der Meinung, daß die Monarchie nur dann überleben könnte, wenn der Kaiser und sein Kronprinz abdanken würden. Ebert versicherte bei der Übernahme des Reichskanzleramtes, die Macht auf der Basis der Oktoberverfassung auszuüben. Er wollte lediglich die bisherige Koalition der Mehrheitsparteien um die Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich 6 Kolb, aaO., S.5; Sauer, Das Scheitern der parlamentarischen Monarchie; Wink/er, Weimar, S.25f. 7 Rürup, Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, S.220.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

während des Krieges von der SPD abgespaltet hatten, erweitern und auf diese Weise ein Übergangskabinett bilden; die Frage der Staatsform sollte hingegen einer umgehend zu wählenden verfassungsgebenden Nationalversammlung vorbehalten bleiben8• Als aber sein Parteifreund Scheidemann in einer Ansprache, die er vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus an die versammelten Massen hielt, ohne vorherige Verständigung mit der Parteiführung die Republik proklamierte und als die Berliner Soldatenräte, die seit dem Nachmittag des 9. November die tatsächliche Macht innehatten, auf Mitwirkung der Räte bei der Bildung der provisorischen Regierung drängte, entschloß sich Ebert, anstelle der Bildung eines sozialistisch-bürgerlichen Koalitionskabinetts die direkte Verständigung mit der USPD zu suchen. So kam am 10. November zwischen der SPD und USPD eine Vereinbarung über die Bildung einer neuen, paritätisch zusammengesetzten Regierung, des Rats der Volksbeauftragten, zustande. Diese Vereinigung wurde am gleichen Tag in der Räteversammlung in Berlin mit Beifall aufgenommen. Zeitlich parallel zum revolutionären Umbruch im Reich und in den Einzelstaaten verhandelte die deutsche Delegation, an deren Spitze kein Vertreter des die eigentliche Verantwortung für die deutsche Kapitulation tragenden Generalstabs, sondern der Zentrumspolitiker Erzberger stand, die Waffenstillstandsbedingungen. Am Morgen des 11. November wurde das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet; es trat wenige Stunden später in Kraft. Ebert und seine Parteifreunde waren mit dem Ergebnis der Oktoberreform im wesentlichen zufrieden und hielten die revolutionären Ereignisse im November für übertlüssig9 • Die politischen Aufgaben, die von ihnen als vorrangig angesehen wurden, Jagen in der Lösung der Probleme, die der verlorene Krieg hinterließ: die Sicherung der Lebensmittelversorgung, die Rückkehr und Entlassung der Soldaten, ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß und die Umstellung der Kriegswirtschaft auf die Friedensproduktion. Für diese Aufgaben schien die revolutionäre Atmosphäre der Novembertage nicht günstig; als notwendig wurden vielmehr das reibungslose Funktionieren des Verwaltungsapparats und die Disziplin in der Armee angesehen. Vor diesem Hintergrund setzten die Führer der Mehrheitssozialdemokraten auf die Unterstützung durch die Führungseliten des Kaiserreichs - Bürokratie, Unternehmerschaft und Offizierskorps -, statt eine tiefgreifende Strukturreform anzustreben, die der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik ein festeres Fundament geschaffen hätte. Diese Grundeinstellung der Führung der Mehrheitssozialdemokraten bestimmte die Richtung der politischen Ereignisse in der RevolutionsHuber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.5, S.690f.; Kolb, aaO., S.7. 'Kolb, aaO., S.19; vgl. auch Böckenförde, aaO., S.29ff.

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A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

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phase, so etwa den Erlaß des Rats der Volksbeauftragten vom 11. November 1918 10, demzufolge die bisherige Beamtenschaft im wesentlichen Teil unverändert blieb. Sie prägte aber auch die Übereinkunft zwischen Ebert und General Groener, dem Nachfolger Ludendorffs, die am 10. November zustandekam11 • Die beiden Männer waren sich darin einig, daß der Wechsel der Kriegslage in den Frieden möglichst reibungslos vollzogen, durch die Einberufung der Nationalversammung der verfassungslose Zustand schnell beendet und in diesem Prozeß der linksradikale Einfluß ausgeschaltet werden sollte. Der Inhalt der Übereinkunft entsprang dem Bedürfnis nach gegenseitiger Unterstützung für diese Ziele. Die OHL erkannte Ebert als neuen Träger der Regierungsgewalt an, während dieser die Unterstützung des Rats der Volksbeauftragten für die Bemühungen der militärischen Führung, die Befehlsgewalt der Offiziere in der Truppe aufrechtzuerhalten, versprach. In der unübersichtlichen Situation des 10. November hätte sich Ebert schwerlich für einen anderen Weg entscheiden können 12• Einige Tage nach der Übereinkunft zwischen Ebert und Groener wurde auch auf der Ebene der Sozialpolitik eine richtunggebende Entscheidung getroffen: zwischen Vertretern von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, an deren Spitze der Industrielle Hugo Stinnes und der Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Carl Legien, standen, kam am 15. November ein Abkommen zustande, das auf die Gründung der "Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands" (ZAG) gerichtet war13 • In diesem Abkommen erkannten die Arbeitgeber erstmals die Gewerkschaften als "berufene Vertreter der Arbeiterschaft" und als Partner für den Abschluß kollektiver Tarifverträge an und verzichteten auf die sogenannten "gelben" Gewerkschaften. Außerdem wurden die Einrichtung von Arbeiterausschüssen und die Einführung des Achtstundentags vereinbart. Die Gegenleistung der Gewerkschaften war der - allerdings nicht ausgesprochene Verzicht auf eine grundlegende Erneuerung der Wirtschaftsordnung, nämlich die Neuordnung der Eigentumsverhältnisse durch umfangreiche Sozialisierungen. Durch die mit dem Stinnes-Legien-Abkommen vereinbarte gegenseitige Unterstützung zwischen Gewerkschaften und Unternehmerschaft wurde in einer noch labilen Situation eine Entscheidung für die paritätische Sozialpartnerschaft statt

Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd.3, Nr.8. Böckenförde, aaO., S.31f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.5, S.751ff. 12 Diese Übereinkunft stellte jedoch noch kein endgültiges Bündnis zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und der OHL dar. Die wichtigen Entscheidungen über den militärischen Kurs, die Ebert und den Rat der Volksbeauftragten von der OHL abhängig machten, fielen erst in den folgenden Wochen (Kolb, aaO., S.l3). 13 Näheres Feldrrumn/Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918-1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft; Huber, aaO., S.770ff. 10

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

einer tiefgreifenden Sozialisierung und für die Autonomie der Wirtschaft statt einer staatskorporativen Einmischung der Bürokratie getroffen 14 • Das verfassungspolitische Ziel der MSPD-Führung in den Wochen nach dem 9. November lag vorrangig in der raschen Einberufung der Nationalversammlung, für die auch fast alle anderen politisch relevanten Gruppen in den Revolutionstagen, also sowohl der größere Teil der USPD, als auch die meisten Arbeiter- und Soldatenräte, eintraten. Hingegen wurde in dieser Zeit die Position der Linksradikalen gegen die Wahl einer Nationalversammlung und für einen Rätestaat nur von einer kleinen Minderheit vertreten, die innerhalb der revolutionären Massenbewegung weitgehend isoliert und organisatorisch relativ schwach war 15 • Die überwiegende Mehrheit der organisierten Massen betrachtete die Räte lediglich als Übergangsinstitutionen und befürwortete die parlamentarische Demokratie, wobei allerdings eine umfangreiche Reform des Staatsapparates und der gesellschaftlichen Ordnung vorausgesetzt wurde. Diese Stimmung in der Basis spiegelte sich auch in den Beschlüssen des Allgemeinen Deutschen Rätekongresses wider, der in Berlin vom 16. bis zum 20. Dezember stattfand. Auf diesem Kongreß gehörten etwa 60% der rund 500 Delegierten aus allen Arbeiter- und Soldatenräten der MSPD an, während die Wortführer der Linksradikalen, K. Liebknecht und R. Luxemburg, kein Mandat erhalten hatten 16 • Der Rätekongreß setzte zum einen mit überwältigender Mehrheit den Wahltermin für die Nationalversammlung auf den 19. Januar fest; demgegenüber lehnte er den Antrag ab, einen "Nationalkongreß der Arbeiter- und Soldatenräte" einzuberufen, der über die zukünftige Verfassung auf einer das Rätesystem festlegenden Grundlage entscheiden sollte. Zum anderen nahm er die Anträge ebenfalls mit großer Mehrheit an, nach denen die Regierung beauftragt werden sollte, mit der Sozialisierung aller hierzu in Betracht kommenden Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen und alle Maßnahmen zur Entwaffnung der Gegenrevolution zu ergreifen. Er forderte darüber hinaus in den sogenannten "Hamburger Punkten" eine grundlegende Umstrukturierung des Militärwesens 17 • In diesen Beschlüssen wurde die in der Basis der Massenbewegung weit verbreitete Meinung zum Ausdruck gebracht, daß die Maßnahmen für eine Absicherung der neuen Machtverhältnisse gegen Angriffe konservativer Kräfte nicht auf die Nationalversammlung verschoben, sondern unverzüglich ergriffen werden sollten 18 •

14 Kolb, aaO., S.l3f.; Schneider, Zwischen Machtanspruch und Integrationsbereitschaft Gewerkschaften und Politik 1918-1933, S.181. 15 Kolb, Rätewirklichkeit und Räteideologie in der Revolution 1918/1919, S.l67ff. 16 Huber, aaO., S.829ff.; Kolb, aaO., S.172; Wink/er, Weimar, S.50. 17 Über die Beschlüsse des Kongresses bei: Huber, aaO., S.835ff., S.864f. 18 Kolb, Die Weimarer Republik, S.IS.

A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

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Als aber die Führung der Mehrheitssozialdemokraten auf ihren bisherigen Kurs beharrte und Reformmaßnahmen ablehnte, verschlechterte sich die Grundlage ihrer Zusammenarbeit mit der USPD-Führung, die ihrerseits von ihrem linken Flügel unter Druck gesetzt wurde. Dies führte die Revolution in eine neue Phase 19• Die Einheit der Arbeiterschaft, die am 9. und 10. November durch die Parole "kein Bruderkrieg" wieder hergestellt worden war, wurde am 28. Dezember mit dem Austreten der USPD-Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten rückgängig gemacht. Unmittelbarer Anlaß dafür war der Truppeneinsatz durch die MSPD-Volksbeauftragten bei den Weihnachtskämpfen in Berlin; eine tiefere Ursache lag indessen in den deutlichen Unterschieden zwischen MSPDund USPD-Volksbeauftragten über die Grundlinien der Politik. Während sich die USPD mit dem Austritt aus der Regierung radikalisierte, schlossen sich Anfang Januar 1919 linksradikale Gruppen zusammen und gründeten die KPD. Daran schloß sich der Januaraufstand in Berlin an, der ohne klare strategische Vorbereitung von der KPD-Führung und den Berliner Revolutionären Obleuten eingeleitet und von den Regierungstruppen niedergeschlagen wurde. Die USPD radikalisierte sich nun weiter und stellte der KPD ihre Massenorganisation zur Verfügung; die MSPD wurde dementsprechend gezwungen, immer offener die Unterstützung des Offizierkorps und des hohen Beamtenturns zu suchen und den Kontakt mit den bürgerlichen Parteien zu intensivieren. Insgesamt und unter Berücksichtigung der Kräfteverhältnisse ging es bei der Revolution nicht um die Alternative zwischen Rätediktatur und parlamentarischer Demokratie. Entscheidend war vielmehr letztlich die Frage, inwieweit die neue parlamentarische Demokratie auch einer Erneuerung des alten Militärs und der Bürokratie einerseits sowie der Gesellschaftsstruktur andererseits bedurfte20 : kurz gesagt, "um ein Mehr oder Minder an präventiver Sicherung der erstrebten Demokratie"21 • Als sich die MSPD-Führung mit der mäßigen Strukturreform zufriedengab, spalteten sich die Revolutionskräfte, so daß die linksradikale Richtung, die sonst eine Randerscheinung geblieben wäre, gestärkt wurde. Aus dieser Polarisierung innerhalb der Revolutionskräfte ergab sich auch, daß sich große Teile der Revolutionsbewegung, die, weil sie die linksradikale Richtung

Huber, aaO., S.892ff.; Kolb, aaO., S.l5f. Kolb, aaO., S.l53ff.; Rürup, Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, S.221; Wink/er, Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte 19

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m.w.N.

Diese unter den Historikern kaum mehr umstrittene Tatsache findet aber bei den Verfassungshistorikern keine genügende Resonanz. Vgl. darüber bei: Böckenförde, aaO.; Boldt, aaO., S.221ff.; Huber, aaO., S.718ff., S.777ff. 21 Winkler, aaO., S.319.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

nicht teilten, aktive Unterstützer der neuen parlamentarischen Demokratie hätten werden können, von der neuen politischen Ordnung innerlich distanzierten22 •

2. Die Nationalversammlung und die Weimarer Verfassung Die Wahl zur Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung fand am 19. Januar 1919 statt23 • Die SPD erwies sich mit etwa 38% als führende politische Kraft, während die USPD nur 7,6% der Stimmen auf sich vereinigte. Die Mehrheit in der Nationalversammlung besaßen aber die bürgerlichen Parteien, wobei das Zentrum und die DDP mit 19,7% und 18,5% der Stimmen weit vorne standen und sich die DNVP und die DVP mit 10,3% und 4,4% der Stimmen zufrieden geben mußten. Vor diesem Hintergrund konnte sich die neue Verfassung nur auf Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und bürgerlichdemokratischen Parteien stützen. Am 6. Februar wurde die Nationalversammlung im Gebäude des Nationaltheaters in Weimar eröffnet. Zuerst mußten neben den organisatorischen Angelegenheiten innerhalb der Nationalversammlung - Wahl des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Schriftführer - die rechtlichen Fundamente für den neuen Staatsbau gelegt werden. Am 8. Februar wurde der Entwurf eines "Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt" vorgelegt und bereits in der nächsten Sitzung verabschiedet. Dieses Gesetz schuf die wesentlichen Verfassungsorgane der neuen Republik und bestimmte ihre Funktionen: die Nationalversammlung als Gesetzgeber, der Staatenausschuß als Vertretung der Einzelstaaten, der Reichspräsident als Staatsoberhaupt und das Reichsministerium als Führung der Reichsregierung. Trotz seines in der Beratung unterstrichenen provisorischen Charakters war dieses Gesetz in der Tat eine Festlegung der Grundstruktur der Verfassungsorgane vor Beginn der eigentlichen Verfassungsberatung. Am 11. Februar wählte die Nationalversammlung nach diesem Gesetz Ebert zum Reichspräsidenten. Dieser beauftragte am gleichen Tag Scheidemann mit der Kabinettsbildung. So entstand in der nächsten Sitzung am 13. Februar das neue Reichsministerium, die "Weimarer Koalition" aus SPD, DDP und Zentrum.

22 Aus diesen Versäumnissen der Strukturreform sollte allerdings nicht resultieren, daß die Weimarer Demokratie wegen ihrer Geburtsfehler von Anfang an zum Scheitern verurteilt war (vgl. darüber bei Wink/er, aaO., S.316ff.). 23 Über die Nationalversammlung: Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S.46ff.; Böckenförde, Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, S.35ff.; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.224ff.; Heilfron (Hg.), Die deutsche Nationalversammlung im Jahr 1919 9Bde.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.5, S.l066ff.; Kolb, Die Weimarer Republik, S.l6f.; Rürup, Entstehung und Grundlage der Weimarer Verfassung; Wink/er, Weimar, S.69ff.; ders., Von der Revolution zur Stabilisierung, S.l35ff.

A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

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Die Verfassungsberatungen der Nationalversammlung begannen, nachdem der Regierungsentwurf am 21. Februar vorgelegt worden war4 • Dieser Entwurf fußte auf Vorarbeiten, die der linksliberale Staatslehrer Hugo Preuß als Staatssekretär des Innern bereits im November 1918 begonnen hatte. Da der Sozialdemokratie als dem zentralen Träger des Umbruchs eigene verfassungspolitische Konzepte fehlten, orientierte sich die Verfassungsgebung hauptsätzlieh an den Grundelementen einer liberalen Verfassungsstruktur, wie sie auch schon von Preuß immer wieder der Paulskirchenverfassung entlehnt worden waren. Dessen anfangliehe Vorstellungen waren durch das parlamentarische Regierungssystem mit einem vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten als Gegengewicht, durch eine stark unitarische Tendenz und durch den Verzicht auf einen Grundrechtskatalog gekennzeichnet25 • Der Regierungsentwurf kam nach Modifizierungen in einigen wichtigen Punkten - Aufnahme eines knappen Grundrechtskatalogs nach der Forderung des Rats der Volksbeauftragten und Wiedereinführung der föderativen Elemente unter dem Einfluß der Länder - zustande26• Der Regierungsentwurf wurde Ende Februar und Anfang März im Plenum der Nationalversammlung in erster Lesung behandelt und sodann dem 28-köpfigen Verfassungsausschuß (dem "Achten Ausschuß") überwiesen 27• Der Verfassungsausschuß überarbeitete in seiner Tätigkeit vom März bis Juni 1919 insbesondere den Grundrechtsteil des Regierungsentwurfs28 und schickte den neuen Entwurf

24 Über die Verfassungsentwürfe und ihre Beratung: Apelt, aaO., S.55ff.; Boldt, aaO., S.226ff.; ders., Die Weimarer Reichsverfassung, S.47ff.; Huber, aaO., S.1178ff.; Rürup, aaO.; Wink/er, Weimar, S.99ff. Unter der zeitgenössischen Literatur: Verhandlungen der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336. Anlagen zu den stenographischen Berichten Nr.391. Bericht des Verfassungsausschusses; Heilfron (Hg.), aaO.; W. Jellinek, Entstehung und Aufbau der Weimarer Reichsverfassung; ders., Revolution und Reichsverfassung; Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht. 25 Triepel, aaO., Nr.7. Vorentwurf zur Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs (Entwurf I) vom 3. Januar 1919. 26 AaO., Nr.lO. Sog. "Entwurf Preuß" vom 20. Januar 1919; Nr.l3. Entwurf 3 vom 17. Februar 1919; Nr.l4. Entwurf 4 vom 21. Februar 1919. 27 Über die Beratung im "Achten Ausschuß" vgl. Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336. 28 Dabei spielte der private Verfassungsentwurf von F. Naumann (abgeduckt in: Verhandlungen der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.17lff.), in dem er den Versuch unternahm, den aktuellen Entwicklungszustand der Gesellschaft in den Grundrechtskatalog einzubringen, eine große Rolle (Die Rede von Beyerle vor dem Verfassungsausschuß am 28. Mai 1919, in: aaO., S.367; Huber, Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechts-Entwurf). Zur Vorbereitung der Grundrechte wurde am I. Mai ein Unterausschuß eingesetzt, der nach sechs Sitzungen am 28. Mai dem Verfassungsausschuß seinen Entwurf vorlegte (Ziegler, Die deutsche Nationalversammlung 191911920 und ihr Verfassungswerk, S.l40). Über die Verhandlungen im Unterausschuß bestehen jedoch keine amtlichen Protokolle (W. Jellinek, aaO., S.l34 Fn.l4). Die

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an das Plenum zurück29. Nach der zweiten und dritten Lesung verabschiedete die Nationalversammlung am 31. Juli die Weimarer Verfassung, die vom Reichspräsidenten am 11. August ausgefertigt wurde und am 14. August mit der Verkündung in Kraft trat. Die Weimarer Verfassung erklärte das Deutsche Reich, wie die Revolution am 9. November 1918 entschieden hatte, zur Republik: die Staatsgewalt ging vom Volke aus (Art.1 WV). Diese Republik sollte, wie es nach der Entscheidung des Rätekongresses für die Einberufung der Nationalversammlung praktisch vorgegeben war, parlmentarisch-demokratisch regiert werden. Der Reichstag fungierte also als zentrales Organ der Reichsgewalt30; dementsprechend wurde er in der Verfassung an erster Stelle unter den Reichsorganen genannt (Art.20ff.). Die Weimarer Verfassung sah den vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten als Kontrollorgan des Reichstags vor (Art.4lff.). Mit der siebenjährigen Amtsdauer ohne Beschränkung der Möglichkeit der Wiederwahl ohnehin schon in einer starken Position, verfügte der Reichspräsident ferner auch über das Recht zur Reichstagsauflösung, die Befugnis zu Notmaßnahmen im Ausnahmenzustand und die Kompetenz zur Anordnung eines Volksentscheids gegen Gesetzesbeschlüsse des Reichstages31 . Theoretisch begründet wurde diese starke Position des Reichspräsidenten von den linksliberalen Verfassungsvätern zwar durch die spätliberale Kritik der repräsentativen Demokratie32; es ist jedoch andererseits nicht zu leugnen, daß die politischen Rahmenbedingungen - die noch starke obrigkeitsstaatliche Tradition, die Realität des Mehrparteiensystems u.a. -, die eine solche Reichspräsidentschaft leicht zu einer Gefahr für die parlamentarische Demokratie werden lassen konnten, nicht genug berücksichtigt worden waren, und daß auch die Absicht der bürgerlichen Kräfte, die Macht des Reichstags unter dem Motto: "Gefahr des Parlamentsabsolutis-

Entstehungsgeschichte der dort neu eingeführten Grundrechte ist daher nur insofern ablesbar, als sie in der Beratung im Verfassungsausschuß und später im Plenum diskutiert wurde. 29 Triepel, aaO., Nr.22. Entwurf 5 vom 18. Juni 1919. 30 So der DDP-Abgeordnete Ablaß: "Reichstag ist das jenige Organ, das nach der jetzigen Struktur unserer Verfassung berufen ist, die Volkssouveränität in sich am stärksten zu verkörpern" (Heilfron, aaO., Bd.S, S.3194). 31 Freilich waren die Befugnisse des Reichspräsidenten keineswegs völlig frei von einer Gegenkontrolle des Reichstags. Er konnte auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abgesetzt (Art.43) und vom Reichstag vor dem Staatsgerichtshof angeklagt (Art.59) werden. Seine Notstandsmaßnahmen mußten dem Reichstag zur Kenntnis gebracht und auf dessen Verlangen außer Kraft gesetzt werden (Art.48 Abs.3). Vor allem bedurften alle seine Anordnungen und Verfügungen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister, die vom Vertrauen des Reichstags abhängig waren (Art.50). 32 Preuß, Das Verfassungswerk von Weimar, S.426f.; Weber, Deutschlands künftige Staatsform, S.456ff.; ders., Der Reichspräsident.

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mus" abzuschwächen, durchaus erkennbar war3 • Im übrigen wurde der Reichsrat zur Vertretung der Länder gebildet (Art.60ff.). Der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung enthielt die Grundrechte. Im ersten Abschnitt wurden die klassischen liberalen Freiheitsrechte der Individuen verbürgt (Art.109ff.). Im zweiten Abschnitt über "das Gemeinschaftsleben" (Art.119ff.) fanden sich die politischen Freiheitsrechte und eine Reihe von Institutsgarantien: Ehe und Familie, Selbstverwaltung der Gemeinden sowie das Beamtentum. Daran schlossen sich der dritte Abschnitt über "Religion und Religionsgesellschaften" (Art.l35ff.), der vierte über "Bildung und Schule" (Art.142ff.) und zum letzten der fünfte über "das Wirtschaftsleben" (Art.l5lff.). Die bemerkenswertesten Veränderungen gegenüber den Grundrechtsgehalten des vorigen Jahrhunderts lagen im letzten Abschnitt. Art. I 51 erklärte als Grundnorm des Wirtschaftslebens: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen". Diesem Grundsatz entsprechend wurde einerseits die wirtschaftliche Freiheit - die Handels- und Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit und die Garantie des Eigentums- in mehr oder weniger deutliche Grenzen eingebunden und andererseits eine Reihe von sozialen Grundrechten und Zielerklärungen in die Verfassung aufgenommen. Bei der Verfassungsgebung bemühten sich verständlicherweise verschiedene gesellschaftliche Kräfte -Beamte, Kirchen, selbständiger Mittelstand, Gewerkschaften, Unternehmer u.a. - darum, eigene spezielle Forderungen im Grundrechtskatalog zu verankern. Diese Forderungen konnten nur um den Preis aufgenommen werden, daß die Verfassung einen Kompromißcharakter erhielt. Da aber ein richtungweisendes Programm für eine gesellschaftliche Neuordnung während des politischen Umbruchs 1918/19 nicht hinreichend deutlich ausgearbeitet worden war, wurden in manchen Teilen der Verfassung dementspre-

33 Vgl. darüber bei: Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, S .194ff. Hier sollte aber Fraenkels Analyse ein wenig differenzierter aufgenommen werden. Aus der von ihm im Grunde zutreffend beobachteten Tatsache, daß die plebiszitären Elemente im Regierungssystem der Weimarer Verfassung "das Produkt des obrigkeitsstaatliehen Denkens" (Fraenkel, aaO., S.I98) waren, ergibt sich nicht unmittelbar "eine plebiszitär-autoritäre Verfassung" (aaO.) oder ein "Geburtsfehler, an dem die Weimarer Republik zugrunde gegangen ist" (aaO., S.201). Die Artikel über den Reichspräsidenten solltentrotzihres umstrittenen Entstehungshintergrundes an sich, also im juristisch-technischen Sinne, als nicht undemokratisch angesehen werden (vgl. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.237ff.). Ihre Funktion hing daher von der weiteren Entwicklung des Verfassungsstaates ab. Darüber hinaus sollte betont werden, daß die Weimarer Republik grundsätzlich nicht an der Verfassung, sondern an den Menschen scheiterte (Boldt, Die Weimarer Reichsverfassung, S.61ff.), und daß die Weimarer Verfassung daher "keine mißglückte Verfassung, sondern eine unglückliche Verfassung" war (Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution, FAZ S.April 1990, Nr.81, S.35). Vgl. auch das Staats- und Demokratieverständnis der linksliberalen Verfassungsväter in 3. Kap. A. I.

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chend nur formale Kompromisse geschlossen, bei denen verschiedene Weltanschauungen und Interessen nebeneinandergeordnet wurden und die inhaltliche Entscheidung aufgeschoben blieb34• Insgesamt gesehen bildet die Weimarer Verfassung ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte. Einerseits verkündete sie das demokratische Prinzip als Legitimationsgrundlage der politischen Herrschaft und fungierte dadurch nicht mehr nur herrschaftsmodifizierend, sondern auch herrschaftskonstituierend; sie ergänzte andererseits die bürgerlich-liberal konzipierten Grundrechte durch sozialstaatliche Elemente35 • Wie sich diese neue Verfassung entfalten würde, hing allerdings von der zukünftigen Entwicklung der Republik ab. Die außen- und innenpolitische Lage war für die Bewährung einerneuen Verfassung keineswegs günstig. Parallel zu den Verfassungsberatungen mußten Regierung und Nationalversammlung über die Annahme der Friedensbedingungen, die von allen Fraktionen in der Nationalversammlung für weit überzogen gehalten wurden, entscheiden. Meinungsunterschiede unter den Ministern hinsichtlich der Friedensbedingungen hatten den Rücktritt des ersten Reichskabinetts Scheidemann zur Folge; das nächste Kabinett setzte sich ohne Vertreter der DDP lediglich aus der SPD und dem Zentrum zusammen. Auch innenpolitisch mußte sich die junge Republik gegen eine Reihe von Umsturzversuchen seitens ihrer rechten und linken Gegner schützen. Dies war aber nur der Anfang einer krisenhaften Geschichte. Der Weimarer Verfassung fehlte es also an der Chance, sich in einer normalen Situation zu bewähren. So konnte sie sich nicht zur gemeinsam anerkannten Spielregel der politischen Konkurrenten entwickeln, sondern wurde selbst zum politischen Streitobjekt. II. Die gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

Für die Entfaltung der neuen Demokratie war die soziale und wirtschaftliche Ausgangslage äußerst ungünstig. Während der ganzen Jahre der Weimarer Republik litt die Gesellschaft, ohne je Stabilität zu erreichen, unter einer Abfolge von Krisen, die durch die relative Wachstumsschwäche der Wirtschaft und durch die Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen Partikularinteressen bedingt waren. Schon der verlorene Krieg hinterließ eine nur mühsam zu bewältigende nationale Notlage36• Nach vier Kriegsjahren erreichte das Sozialprodukt 34 Kirchheimt!r, Weimar - und was dann?, S.31ff. Es ist aber fraglich, ob in der damaligen Situation solche formalen Kompromisse überhaupt zu vermeiden waren (vgl. darüber bei: Wink/er, Weimar, S.l04, S.l07). Jl Grimm, Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition, S.8. 36 Hardach, Deutschland 1914-1970, S .52ff.

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lediglich die Hälfte seines Vorkriegsniveaus. Deutschland mußte den Verlust von 13% des Vorkriegsterritoriums, 10% der Bevölkerung, 15% des Ackerlandes, 75% der Eisenvorkommen sowie die Verminderung der Produktionskapazität von Roheisen um 44%, von Stahl um 38% und von Kohle um 26% hinnehmen. Erst 1928/29 war das Produktions- und allgemeine Wohlstandsniveau von 1913 erreiche7, und schon kam es zur letzten Probe, an der die Weimarer Demokratie schließlich scheiterte.

1. Die Struktur der Industrie Trotz des politischen Umbruchs und der kriegsbedingten Schwierigkeiten machte die Weimarer Gesellschaft keinen grundlegenden Strukturwandel durch; es herrschte in der gesellschaftlichen Entwicklung eher Kontinuität vor. Wie vor dem Krieg verschob sich das Gewicht zwischen den Wirtschaftssektoren weiter vom Primär- zum Sekundär- sowie Tertiärbereich, so daß 1933 29% der Beschäftigten in der Landwirtschaft, 41% in der Industrie und 30% im Dienstleistungshereich tätig waren38 • Allerdings wurde nun deutlich erkennbar, daß die Entwicklung in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft verlief. Zwischen der Volkszählung von 1907 und der von 1925 lag die Wachstumsquote der Beamten und Angestellten mit 66,3% viel höher als die der Arbeiter mit 24,4% 39 . An der Spitze des industriellen Wachstums standen wie in den letzten Vorkriegsjahrzehnten neue Industriezweige wie Chemie, Elektrotechnik und Teile des Maschinenbaus, die jetzt von den künstlichen Ersatzstoffen, von den Innovationen im Nachrichtenwesen durch Telefon und Rundfunk und von der allgemeinen Elektrifizierung sowie der beginnenden Motorisierung profitierten. Demgegenüber blieb die Entwicklung der Schwerindustrie weiter zurück. Und schließlich schritt, was die Struktur der Gesamtindustrie betraf, der Prozeß der horizontalen und vertikalen Konzentration sowie der Karteliierung schnell voran. Diese technischen und organisatorischen Veränderungen40 wurden von einem Rationalisierungsschub in der Serien- und Massenfabrikation begleitet. Er erleichterte schwere Körperarbeit wesentlich, führte jedoch zu einer höheren psychischen Belastung der Akkord- und Fließbandarbeiter41 • Als Begleiterscheinung der Rationalisierung gewann die Arbeitslosigkeit nach der Hyperinflation AaO., S.S6f. AaO., S.85. 39 Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, S .144f. 40 Feldmßn, Der deutsche organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914-1923, S.l54ff., S.l6S; Maier, Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren: Errungenschaften und Defekte, S.199; Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, S.l 29f. 41 Über die Auswirkungen vom Taylorismus und Fordismus in der Weimarer Republik bei: Maier, Zwischen Taylorismus und Technokratie. 37

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einen strukturellen Charakter: der konjunkturelle Aufschwung wirkte sich, wie die relativ hohe Arbeitslosenquote 1927/28 zeigt, auf dem Arbeitsmarkt nicht voll aus42 •

2. Die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft Auch die Prozesse der Annährung zwischen Staat und Wirtschaftsgesellschaft, die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in Gang gekommen waren, gingen zwar mit teilweise neuen Variationen, jedoch ohne wirkliche Richtungsänderungen weiter43 • Neu war dabei zum einen, daß im Bereich des privaten Sektors nun stärker die Initiative für eine Zusammenarbeit mit dem Staat ergriffen wurde44 • Der augenfälligste Unterschied gegenüber den Verhältnissen im Kaiserreich bestand aber vor allem darin, daß nun die organisierte Arbeiterbewegung als anerkannter Partner in das soziale System eingetreten war. Schon die Kriegswirtschaft hatte in großem Maße die Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft gefördert45 • Angesichts der Knappheit von Waffen, Munition und Lebensmitteln dehnte sich die staatliche Regulierung auf den Produktionsbereich und auf die Preisbildung aus. Die Produktionsmittel blieben zwar weiter in privatem Besitz; ihre Nutzung stand aber unter staatlicher Kontrolle. Vor diesem Hintergrund entstanden verschiedene Instanzen, in denen die Vertreter des Staates und der Privatwirtschaft zusammenarbeiteten. Es ist daher nicht verwunderlich, daß es während der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre Versuche gab, das staatskorporatistische Modell der Kriegswirtschaft in der Friedenswirtschaft weiter zu entwickeln. Diese Tendenz wurde durch die Idee der Gemeinwirtschaft von Wichard von Möllendorf und Walther Rathenau geprägt46 • Da diese beiden ausgebildeten Ingenieure während des Krieges an der Spitze der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium beim Aufbau der Kriegswirtschaft eine wichtige Rolle gespielt hatten, stellte die Gemeinwirtschaftsidee eine Koppelung der praktischen Erfahrungen aus der Kriegswirtschaft mit Elementen aus verschiedenen korporatistischen Theorien Peukert, Die Weimarer Republik, S.l21f.; Schönhoven, aaO., S.152f. Als auf diesen Punkt gerichtete Arbeiten unter anderen: Abelshauser, Die Weimarer Republik - Ein Wohlfahrtstaat?; ders., Freiheitlicher Korporalismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S.l99ff.; Feldman, aaO.; Maier, Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren; Nocken, Korporatische Theorien und Strukturen in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, S.Jiff. 44 Maier, aaO., S.l96. 45 Feldman, aaO., S.l54ff.; Nocken, aaO., S.31. «~ No-vy, Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion der Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik, S.132ff.; Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914-1918, S.56ff. 42 43

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dar. Im Hintergrund spielte auch der zu dieser Zeit sehr populäre Glaube an die Effizienz von Technokratie und Planung eine Rolle47 • In diesem Konzept wurde versucht, das liberal-kapitalistische und individualistische System durch ein neues "organisches" Modell, das in verschiedenen Stufen berufsständisch errichtet werden sollte, zu ersetzen. Die Gemeinwirtschaftsidee fand in der Übergangsphase zur Republik Zustimmung aus einem breiten politischen Spektrum: einerseits sahen die konservativen Kräfte, zu denen etwa General Groener gehörte, die Möglichkeit der Verwirklichung einer klassisch-konservativen berufsständischen Ordnung48 , und dem rechten Flügel der MSPD bedeutete sie andererseits - in der Situation, in der es den Sozialdemokraten wegen der Diskrepanz zwischen sozialrevolutionärer Theorie und parlamentarisch-demokratisch orientierter Praxis an einem eigenen Konzept fehlte - eine Vorstufe zur Verwirklichung des Sozialismus49 • Vor diesem Hintergrund konnte sich der aristokratisch-konservative Möllendorf als Unterstaatssekretär des von den Sozialdemokraten geführten Reichswirtschaftsamtes bzw. Reichswirtschaftsministeriums für seinen Plan einsetzen. Die Gemeinwirtschaftsidee stieß jedoch auf harte Widerstände der Wirtschaftsgesellschaft und war frühzeitig zum Scheitern verurteilt. Der Unternehmerschaft bedeutete die Kriegswirtschaft eine wachsende Abhängigkeit von der Bürokratie, die wegen ihrer Schwerfälligkeit das Vertrauen der Industrie in die Fähigkeit des Staates, die Wirtschaft vernünftig zu organisieren und sinnvoll zu lenken, immer stärker strapazierte. Ein großer Teil der Unternehmer versuchte daher die durch den Krieg bedingte staatliche Kontrolle abzubauen und die Wirtschaftsautonomie wiederzuerlangen. Diese Bemühungen fanden Zustimmung auch bei den Gewerkschaften, die nach anfänglicher Begeisterung für den Kriegssozialismus ebenfalls keine guten Erfahrungen mit dem staatlich geregelten Wirtschaftssystem gemacht hatten. Die gemeinsame ablehnende Position von Unternehmern und Gewerkschaften hinsichtlich der bestehenden Kriegswirtschaftsbürokratie setzte sich bei der Errichtung des Reichsamtes für wirtschaftliche Demobilmachung vom 12. November 1918 durch50• Die Führung dieses Amts übernahm Oberstleutnant Koeth, der Möllendorfs Plan ablehnte und demgegenüber große Profite der Industrie und hohe Löhne der Arbeiter befür-

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Maier, Zwischen Taylorismus und Technokratie, S.l98ff.

Novy, aaO., S.131. Zunkel, aaO., S.72. In diesem Zusammenhang lag Max Cohens Plan über eine Arbeitskammer als Oberhaus des künftigen Parlaments (Fraenkel, Rätemythos und soziale Selbstbestimmung, S.l19ff.; Maier, aaO., S.200ff.). so Dieses Amt existierte auch im Kabinett Scheidemanns als Reichsministerium für wirtschaftliche Demobilmachung bis zu seiner Auflösung vom I. Mai 1919 weiter (Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.5, S.l084; Bd.6, S.342). 48

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wortetes 1• Auf Initiative des Demobilmachungsamtes wurde die Wirtschaftskontrolle durch die Verwaltung immer weiter gelockert und abgeschafft. Das gemeinsame Vorgehen der Unternehmer und Gewerkschaften gegen die staatsbürokratische Einmischung führte schließlich zu dem Stinnes-Legien-Abkommen. Die Abkehr vom Staatskorporalismus bedeutete zwar eine Ablehnung der vom Staat unmittelbar dirigierten Wirtschaft, nicht aber eine Rückkehr in die Situation des Kaiserreichs. Das im Krieg entstandene Näheverhältnis zwischen Staat und Wirtschaft bestand weitgehend - wenn auch teilweise in anderen Formen fort. Der Weimarer Staat griff stärker als das Kaiserreich in den Wirtschaftsprozeß ein. Er verfügte mit dem Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzministerium über die dazu notwendigen zentralen Behörden und nach der Erzbergersehen Finanzreform von 1920 auch über die fiskalischen Voraussetzungen. Die Staatsquote wuchs in der Weimarer Republik ständig, so daß sie im Jahr 1932 fast doppelt so hoch wie vor dem Krieg lags2•

3. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital Die Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital verlief - trotz der von Anfang an vorhandenen Kritik in beiden Lagern - in den Anfangsjahren der Weimarer Republik relativ reibungslos. Diese Zusammenarbeit versetzte Unternehmer und Gewerkschaften in die Lage, maßgebenden Einfluß auf den Staat auszuüben: Die Gewerkschaften konnten jetzt ihre Interessen in gesamtwirtschaftliche Politik einbringen und wichtige Fortschritte in der Sozialpolitik erzielen; den Unternehmern gelang es, trotz des politischen Umbruchs das Fortbestehen des bisherigen Wirtschaftssystems, insbesondere der Eigentumsordnung, abzusichern. Aus der Sicht des Staates waren die schwachen Koalitionsregierungen somit von den Schwierigkeiten einer Schiedsrichterrolle entlastet. Der Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital in den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde in großem Maße durch eine schleichende Inflation begünstigt, die bereits im Krieg eingesetzt hatte53 • Die Gewerkschaften unterstützten die Preiserhöhungen ihrer industriellen Partner, die durch Lohnerhöhungen - wenn auch nicht ganz im gleichen Tempo - kompensiert wurden. Dank der Inflationskonjunktur kam nahezu eine Vollbeschäftigung zustande und konnte in Deutschland die Konjunkturkrise der Weltwirtschaft von 1920/21

Feldman, aaO., S.l60. sz Abelslwuser, Die Weimarer Republik - ein Wohlfahrtstaat?, S.30. SJ Über die Inflation und ihre Bewertung bei: Kolb, aaO., S.l77ff. m.w.N.; Wink/er, Weimar, S.l43ff.; ders., Von der Revolution zur Stabilisierung, S.373ff. SI

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verhindert werden. So trug die Inflation zur Entschärfung der Interessenkonflikte in den schwierigen Anfangsjahren der Weimarer Republik und damit zum Schutz der jungen Demokratie bei. Die Inflationspolitik setzte aber voraus, daß die Kosten des Interessenausgleichs auf die nicht- bzw. schwach organisierten Interessen abgewälzt wurde54 • Vor allem wurde dabei der traditionelle Mittelstand betroffen. Durch die Aufwertungskontroversen seit Mitte der 20er Jahre wurden die Interessengegensätze innerhalb des Mittelstandes verdeutlicht und verstärkt. Dies führte zur Spaltung der bürgerlichen Parteien und erschwerte dadurch die Bildung einer stabilen Koalitionsregierung. Der Inflationsprozeß beschleunigte sich indes seit Ende 1922 dramatisch und erreichte im September 1923 seinen Höhepunkt. Die Parität der Mark zum Dollar erhöhte sich von 8000 im Dezember 1922 über 20000 im April 1923 zu 1 Mill. im August55 • Nach Einführung der Rentenmark konnte zwar die Währung stabilisiert werden. Die Spielräume für eine Konfliktmilderung durch Geldentwertung waren aber nach der Erfahrung der Hyperinflation viel geringer geworden. Zum einen forderten U.S.-amerikanische Finanzkreise eine Stabilisierung der Währung als Gegenleistung für Anleihen und Kapitalinvestionen. Zum anderen verbreitete sich in der deutschen Unternehmerschaft die Ansicht, daß die Überbelastung der Wirtschaft - durch die lohnpolitische Umverteilung und sozialpolitische Maßnahmen - für die Krise verantwortlich sei und daher große Teile des Klassenkompromisses von 1918119 rückgängig gemacht werden sollten. Hingegen wurden die Gewerkschaften enorm geschwächt56: Die Hyperinflation vernichtete die Gewerkschaftsfonds, und die darauf folgende Stabilisierungskrise, in der die Arbeitslosenzahl etwa 2 Mill. erreichte, erschütterte ihre Organisation. So veränderte sich das soziale Gleichgewicht in kurzer Zeit zugunsten der Unternehmer. In dieser Situation gelang es den Sozialpartnern nicht, eine neue Grundlage der Zusammenarbeit zu finden. Damit wurde die ZAG funktionsunfahig, und dies führte dazu, daß die unmittelbare Auseinandersetzung zwischen den Tarifparteien an Bedeutung zugunsten einer Regulierung durch den Staat verlor7 •

S4 Abelshauser, Freiheitlicher Korporalismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S.l61; Maier, Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren, S.l97. ss Über den Verlauf der Hyperinflation Borchardt, Wachstum und Wechsellagen 1914-70, S.699; Hardach, aaO., S.94; Kalb, aaO., S.50. 56 Maier, aaO., S.197; H. Mommsen, Klassenkampf oder Mitbestimmung, S.20; Wink/er, Von der Revolution zur Stabilisierung, S.392. 17 Abelshauser, aaO., S.l63; Schönhoven, aaO., S.l50.

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Mit dem Zwangsschlichtungsrecht nach der Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 192358 und ihrer Einführungsverordnung vom 29. Dezember übernahm das Arbeitsministerium über die Rolle eines Vermittlers hinaus dann auch eine Führungsposition. Der aktive Eingriff des Staates in den Tarifabschluß kam insgesamt gesehen den geschwächten Gewerkschaften zugute, da sie mit Hilfe der Querverbindungen der Arbeiterbewegung von Links- über Mittel- bis Rechtsparteien das gestörte Gleichgewicht gewissermaßen ergänzen konnte. Das Reichsarbeitsministerium, das von 1920 bis 1928 der den Christlichen Gewerkschaften nahestehende Zentrumspolitiker Heinrich Brauns leitete, arbeitete darauf hin, bei der staatlichen Zwangsschlichtung die unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik sozial abzufedern. Die Zwangsschlichtung sollte- ihre Unvermeidlichkeit vorausgesetzt - ursprünglich nur als Ausnahmeregelung fungieren. Ihre häufige Anwendung schwächte jedoch die Kompromißfähigkeit der Tarifparteien und höhlte damit die Tarifautonomie aus. Sie verlagerte darüber hinaus die Verantwortung auf den Staat, der durch seine Schiedsrichterrolle ohnehin nie beide Parteien gleichermaßen zufriedenstellen konnte. Diese Last erschien noch schwerer, wenn der Staat dabei gewissermaßen als Schutzvorrichtung für die Gewerkschaften funktionierte. Aus dem tiefen Eingriff des Staates in die Tarifaut-onomie ergab sich also die Gefahr, daß in dem Fall, in dem sich eine der Tarifparteien dem Urteilsspruch des Schlichters nicht unterwarf, nicht nur der soziale Friede, sondern auch das gesamte politische System in Frage gestellt war. Eine solche Gefahr wurde Realität, als im Spätherbst 1928 die Schwerindustriellen im Ruhrgebiet das Ergebnis der staatlichen Schlichtung nicht akzeptierten und rund 250000 Metallarbeiter aussperrten59• 4. Die Konjunkturschwankung und die Weltwirtschaftskrise

Im Vergleich zu ihrer Anfangs- und Endphase befand sich die Weimarer Gesellschaft in der Zeit zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise in einer relativ stabilen Lage. Nachdem sich die Währung seit der Errichtung der Rentenmark im November 1923 stabilisiert hatte, erholte sich die Wirtschaft und erzielte dann 1926/27 eine hohe Wachstumsquote. Vor diesem Hintergrund wurden 1926 das Arbeitsgerichtsgesetz und 1927 das Gesetz über Arbeitsver58 Diese Verordnung wurde eigentlich für die Umstellung der Löhne und Gehälter von der Papierauf die Goldmark eingeführt, blieb jedoch·bis zum Erlaß des nationalsozialistischen Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit in Kraft (Fraenke/, Der Ruhreisenstreit 1928-1929 in historischpolitischer Sicht, S.lOl). Näheres über das Schlichtungswesen der Weimarer Republik bei: Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918-1933. " Näheres darüber bei: Fraenkel, aaO., S.l05ff.; Kolb, aaO., S.l77; Wink/er, Der Schein der Normalität, S.558ff.

A. Politische und gesellschaftliche Struktur der Weimarer Republik

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mittlung und die Arbeitslosenversicherung, die zu den bedeutendsten Errungenschaften in der Weimarer Sozialpolitik zu zählen sind, eingeführt60 • Die Wirtschaft in Deutschland litt aber auch in dieser Phase unter strukturellen Problemen: Die Investitionen blieben niedrig; das wirtschaftliche Wachstum war schwächer als in den anderen Industrieländern; die Arbeitslosenzahlen blieben hoch. Eine wirkliche Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse kam also auch in den relativ ruhigen Jahren der Weimarer Republik nicht zustande61 • Die Weltwirtschaftskrise, die durch den New Yorker Börsenkrach vom Ende Oktober 1929 ausgelöst wurde, traf die strukturell schwache Wirtschaft der Weimarer Republik besonders hart62 • Schon die Statistiken zeigen die Stärke der Krise. Ein Vergleich der Indizes des Tiefpunkt-Jahres 1932 mit dem Jahr 1928 (=100) zeigt: Volkseinkommen in laufenden Preisen 58, Bruttoanlageninvestition in laufenden Preisen 31, Industrieproduktion insgesamt 58, Investitionsgütererzeugung 38 und Konsumgüterproduktion 7463 • Vor allem begleitete die Wirtschaftskrise eine dramatische Zunahme der Arbeitslosigkeit, die zugleich eine ernsthafte Bedrohung der politischen Stabilität darstellte. Die Zahl der Arbeitslosen stieg - nach offiziellen Angaben - von I ,3 Mill. im September 1929 über 3 Mill. im September, 4,3 Mill. im September 1931 auf 5,1 Mill. im September 1932 an. Sie überschritt dann Anfang 1932 die 6 Mill.-Grenze64 . Damit waren ein Drittel der Arbeitnehmer ohne Beschäftigung. Ein solcher Verlauf der Krise erzeugte über ihre wirtschaftlichen Auswirkungen hinaus eine sozialpsychologisch panikartige Stimmung in der gesamten Bevölkerung, die von den rechten und linken Gegnern der Republik schonungslos ausgenutzt wurde. Die Weltwirtschaftskrise, die in den anderen Industrieländern Anlaß für die Entstehung korporativer Formen der Interessenpolitik bot, konnte in Deutschland nicht einmal die friihere Intensität der Zusammenarbeit zwischen Unternehmerschaft und Gewerkschaften wiederbeleben65 • Die Unternehmer sahen in der Massenarbeitslosigkeit zunehmend eine Gelegenheit zur Revision der Weimarer Sozialverfassung, in der sie den Hauptgrund der wirtschaftlichen Misere ausmachten. In der Basis der Gewerkschaften blieb das seit der Hyperinflation gewachsene Mißtrauen gegenüber der Arbeitsgemeinschaft, daß diese für die Versäumung vieler Chancen der Arbeiterbewegung in den Anfangsjahren der Republik verantwortlich sei, nach wie vor stark. Vor diesem Hintergrund konnten sich die auf der Spitzenebene unternommenen Versuche zur Neubelebung Näheres darüber bei: Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, S.85ff., S.l03ff. Kolb, aaO., S.l82ff. m.w.N.; Wink/er, aaO., S.26ff. 62 Kalb, aaO., S.l18f. 63 Hardach, aaO., S.56; Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S.l99ff. 64 Barchardt, aaO., S.708; Kalb, aaO., S.IIS. 65 Abelshauser, aaO., S.l64ff. 60 61

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

der Zentralarbeitsgemeinschaft im Jahr 1930 nicht durchsetzen. Die Errichtung einer neuen gemeinsamen Grundlage zur Krisenbekämpfung hätte in diesem Zeitpunkt kaum die wirtschaftlichen Fakten verändert, da die Gewerkschaften und Unternehmer 1930/31 noch die Deflationspolitik für die richtige Lösung hielten. Als aber 1931/32 angesichts der Verschärfung der Krisenlage die Atmosphäre für eine aktive Krisenbewältigungsstrategie günstig wurde, hätte eine solche Grundlage zur Überwindung der Krise unter Beibehaltung demokratischer Verhältnisse beigetragen. Die Antwort auf die wachsende Wirtschaftskrise sah Brüning, der Kanzler des ersten Präsidialkabinetts, in einer rigorosen Deflationspolitik66 • Die Priorität seiner Politik lag nicht in der Bekämpfung von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit; er war vielmehr entschlossen, die Krise als Mittel zu benutzen, die Reparationsfrage endgültig zu lösen. Aus diesem Grund hielt er trotz der rapiden Beschleunigung der Krise nach dem Bankenkrach vom Juli 1931 und trotz der dementsprechend wachsenden innenpolitischen Kritik bis zu seiner Entlassung am 30. Mai 1932 an der Deflationspolitik fest. Die wirtschaftlichen Sachzwänge, die Brüning keine Handlungsspielräume für eine aktive Konjunkturpolitik durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eröffnet hätten67 , existierten freilich in Wirklichkeit damals nicht68 • Zahlreiche Vorschläge für die Beendigung der Deflationspolitik und für wirtschaftspolitische Alternativen von verschiedenen Seiten69 - auch aus dem Kreis seiner engen Berater - lehnte Brüning wegen seines außenpolitischen Ziels ausnahmslos ab. Eine Änderung der Brüningschen Wirtschaftspolitik wäre bereits im Sommer 1931 70 oder spätestens um die Jahreswende 1931/3271 möglich gewesen. Dies hätte den Tiefpunkt der Krise vorverlegt und damit andere politische Folgen herbeigeführt. Erst das zweite Präsidialkabinett Papens leitete die Maßnahmen für die Belebung der Wirtschaft ein, deren Effekte die Bevölkerung dann aber erst nach der Auflösung der Weimarer Republik zu spüren bekam.

66 Über die Bewertung der Politik Brünings bei: Kolb, aaO., S.l99ff. m.w.N.; Wink/er, Weimar, S.408ff. 67 So Borcfwrdt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise; vlg. auch bei: ders., Wirtschaftliche Beratung in der Krise. 68 Ho/tfrerich, Alternativen zur Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise?; vgl. auch bei: ders., Vernachlässigte Perspektiven der wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik. 69 Näheres darüber Holtfrerich, Alternativen zur Wirtschaftspolitik, S.619ff. 70 Holtfrerich, aaO., S.629. 71 Wink/er, Diskussion, in: ders. (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933, S.l52.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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B. Die Entwicklung der politischen Parteien und Verbände in der Weimarer Republik I. Politische Parteien

Die Bemühungen der politischen Parteien um eine parlamentarische Monarchie wurden von der revolutionären Welle im November 1918 überholt, so daß sie in der Umbruchsphase zunächst im Hintergrund der politischen Ereignisse blieben. Mit der Entscheidung der Revolution für die parlamentarische Demokratie kehrten sie aber nicht nur auf die politische Bühne zurück, sondern bekamen auch eine wesentlich neue Rolle zugewiesen. In der parlamentarischen Demokratie standen die politischen Parteien nicht mehr bloß als Vertreter der Gesellschaft der Regierung gegenüber. Sie mußten nun selbst in den Staat hinein, dessen Organe personell besetzen und mit Gestaltungskraft und Verantwortung die Politik ausrichten. So war die parlamentarische Demokratie zum größten Teil auf die Mitwirkung der politischen Parteien angewiesen. Die Entscheidung für die parlamentarische Demokratie bedeutete also - obwohl dies von den Zeitgenossen nicht hinreichend erkannt wurde - zugleich die Entscheidung für den Parteienstaat 1. Die Kontinuität des Parteiensystems

Die Grundstruktur des deutschen Parteiensystems zeigte indes eine bemerkenswerte Kontinuität bei dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie72• Der politische Umbruch brachte zwar eine Reihe von neuen Parteigründungen; dahinter bestanden jedoch die alten politischen Strömungen im wesentlichen unverändert fort73 • Aus dem konservativen Lager, das im Kaiserreich in die deutschkonservative Partei und die deutsche Reichspartei gespalten gewesen war, entstand am 24. November 1918 die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), deren Programm die Wiedereinführung der Monarchie vorsah74• An dieser Gründung waren auch Kreise der christlichsozialen, der deutschvölkischen und der antisemitistischen Gruppen beteiligt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen für eine einheitliche liberale Partei gründeten am 15. Dezember 1918 die von Stresemann geführten Teile 72 Darüber vor allem Ritter, Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 19181920; Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. 73 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.2, S.243f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.S, S.935ff.; Kolb, Die Weimarer Republik, S.lOff., S.l6; Wink/er, Weimar, S.62ff. Weiteren Literaturhinweis über einzelne Parteien bei: Kolb, aaO., S. l70. 74 Die Programme der politischen Parteien in der Weimarer Republik bei: W. Mommsen, Deutsche Parteiprograrnme, S .425ff.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

der Nationalliberalen die Deutsche Volkspartei (DVP), die die Staatsform der Republik parteiprogrammatisch offenhielt Die Linksliberalen und auch ein Teil der früheren Nationalliberalen schlossen sich am 20. November 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zusammen, die sich auf den Boden der Republik stellte. Für den politischen Katholizismus war eine neue Parteigründung nicht nötig. Das Zentrum blieb, abgesehen von einer kurzfristigen Namensänderung zur Christlichen Volkspartei, erhalten. Es konnte aber die Gründung der betont föderalistischen Bayerischen Volkspartei (BVP) 1918 und deren Fraktionsbildung 1920 nicht aufhalten. Neben dem politischen Katholizismus zeigte auch die Arbeiterbewegung, die in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) konzentriert war, eine starke Kontinuität. Es gelang der SPD in der Weimarer Republik jedoch nicht, die einzige politische Vertretung der Arbeiterbewegung zu bilden. Die Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) während des Krieges blieb zunächst bestehen. Nachdem der linke Aügel der USPD 1920 in die inzwischen gegründete KPD übertrat und der rechte Aügel in die SPD zurückkehrte, standen sich bis zum Ende der Weimarer Republik zwei Arbeiterparteien gegenüber. Außer den fünf Hauptströmungen waren wie im Kaiserreich mehrere Splitterparteien - hier die Parteien, die unter 4% der abgegebenen Wählerstimmen erhielten - vertreten75• Die Parteien nationaler Minderheiten, die im Reichstag von 1912 über 28 von 397 Gesamtsitzen verfügt hatten, konnten aufgrund der Gebietsabtretungen nach dem Versailler Vertrag nur noch ein bis zwei Mandate stellen. Zu den Splitterparteien gehörten auch die Nationalsozialisten bis zu ihrem Siegeszug seit 1930. Eine nennenswerte Stärke erlangte zeitweise die mittelständische Wirtschaftspartei: sie erhielt in den Wahlen 1928 und 1930 je 23 Mandate mit 4,5 bzw. 3,9% der abgegebenen Stimmen. Der Stimmanteil der Splitterparteien ging im Vergleich zu dem Kaiserreich (1912: 13,6%) zunächst zurück (1919: 1,3%), stieg aber seit 1920 (5, 1%) wieder an und erreichte 1930 mit 20,8% einen Höhepunkt. Nachdem bei der Wahl im Juli 1932 ein großer Teil der bisherigen Stimmen für die Splitterparteien durch die NSDAP aufgesaugt worden war, ging ihr Anteil wieder auf 8% zurück. So spielten die Splitterparteien in der Weimarer Republik, abgesehen von einigen Ausnahmefällen, keine große Rolle, obwohl aus ihrer Entwicklung einige wichtige Indizien für die Wählerwanderung erschlossen werden können. Insgesamt gesehen blieb das im Kaiserreich ausgebildete Parteiensystem- allerdings nicht ohne Krisensymptome- bis 1928 im wesentlichen stabil. In den ersten Monaten nach der Revolution fanden allerdings innerhalb der politischen Parteien zunächst Veränderungen der Machtverhältnisse statt76• Besonders deutlich war dies bei den bürgerlichen Parteien. Die Politiker und Jj

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Darüber bei: Ritter, aaO., S.l27f. Ritter, aaO., S.128.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Gruppierungen, dje bisher zu den linken Flügeln der alten Parteien gehört hatten, gewannen in den Parteiführungen an Gewicht. Im Zentrum wurde Erzherger zur repräsentativen Persönlichkeit und verbesserten die Politiker aus der Christlichen Gewerkschaftsbewegung ihre Stellung in der Partei. Auch in den Führungsgremien der DDP besaß nun die Gruppe um das "Berliner Tageblatt", die die Parteigründung initiiert hatte und zu einer engen Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten tendierte, mehr Einfluß als in der Führung der Fortschrittlichen Volkspartei. Selbst in der DNVP mußten die Politiker, die mit der reaktionären Strömung der Deutschkonservativen sympathisiert hatten, zunächst im Hintergrund bleiben. Diese Machtverschiebungen in den genannten Parteien erwiesen sich jedoch nicht als dauerhaft. Die innerparteilich rechts stehenden alten Kräfte gewannen bis 1920 große Teile ihrer verlorenen Positionen wieder. Die Enttäuschung des sozialistischen Lagers über die erhebliche Kontinuität der bürgerlichen Kräfte war auch ein Grund dafür, daß die sich radikalisierende USPD auf Kosten der SPD ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft verstärken konnte. Dieser Druck von links führte wiederum zur Schwächung des Rechtsflügels der SPD. Die Voraussetzungen einer Polarisierung der politischen Parteien waren damit frühzeitig gegeben77 •

2. Die soziale Basis der politischen Parteien Eine wesentliche neue Voraussetzung für die politischen Parteien in der Weimarer Republik war die weitgehende Demokratisierung der politischen Konkurrenz78 • Die wahlrechtliche Privilegierung der oberen Schichten in den Ländern und Kommunen war nun beseitigt; die früher regierungsnahen Kräfte konnten keine Wahlunterstützung durch die staatliche Verwaltung mehr erwarten. Um unter den neuen Bedingungen der Massendemokratie zu überleben, versuchten die bürgerlichen Parteien stärker als zuvor eigene Massenorganisationen zu schaffen, sich also zu "Integrationsparteien"79 zu entwickeln. Ein Indiz dafür war die damalige Neigung der bürgerlichen Parteien, sich selbst als "Volkspartei"80 zu bezeichnen. 77 Über die Polarisierung des Weimarer Parteiensystems bei: Fenske, Wahlrecht und Parteiensystem, S .319ff. 78 Ritter, aaO., S.131. 79 Vgl. zum Begriffspaar der Repräsentations- und Integrationspartei die erstmals 1932 veröffentlichte Studie von S. Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik, S.l05ff. 80 Die Bezeichnung als "Volkspartei" sollte von dem Parteientypus der Volkspartei, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet und die Otto Kirchheimer Allerweltspartei (catch-all party) genannt hat (Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteisystems), unterschieden werden. Während es sich bei dem Begriffspaar der Repräsentations- und Integrationspartei um die Organisa-

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Diese Entwicklung stellte für diejenigen politischen Parteien, die bereits im Kaiserreich über eine Massenbasis aus eng geschlossenen Sozialmilieus verfügt hatten, keine neue Herausforderung dar81 • Das Zentrum konnte sich weiter auf den katholischen Teil der Bevölkerung stützen und blieb relativ stabil. Die SPD war nach wie vor mit der Arbeiterschaft verbunden, obwohl sie wegen der Spaltung der Arbeiterbewegung einen Teil ihrer Wählerschaft an die KPD abgeben mußte. Die DNVP konnte im Gegensatz zu den Konservativen vor dem Krieg nicht mehr allein auf die Großgrundbesitzer im ostelbischen Gebiet und den Bund der Landwirte zurückgreifen. Neben ihren Kontakten zur evangelischen Kirche und zu den Agrarverbänden suchte sie enge Beziehung zu völkisch-nationalistischen Gruppen wie dem "Alldeutschen Verband", dem "Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten" u.a.. So fand sie bis zum Vormarsch der NSDAP eine feste Basis im nationalistischen Milieu der Weimarer Republik, das sich aufgrund des vereinheitlichenden Drucks der Kriegs- und Nachkriegsereignisse aus den teilweise sehr heterogenen Richtungen der Vorkriegszeit herausgebildet hatte. Dagegen gelang es den liberalen Parteien nicht, enge Verbindungen zu großen außerparlamentarischen Massenorganisationen zu schaffen. Aus der weitgehend heterogenen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft ergab skh also kein geschlossenes Milieu. Der Liberalismus, der noch in der Anfangsphase der Weimarer Republik seine alte Stärke behalten konnte, verlor ab 1924 rasch seine Integrationskraft Die überkommene bzw. neu ergänzte soziale Basis der politischen Parteien erfuhr in der Weimarer Republik keine wesentliche Erweiterung. Das Zentrum konnte zwar in der Wahl zur Nationalversammlung dank der starken Mobilmachung gegen die neue Kulturpolitik einen überproportionalen Stimmenanteil auf sich vereinigen, bereits ab 1920 setzte sich jedoch die stetig und langsam abnehmende Tendenz, die bereits im Kaiserreich zu spüren war, fort. Den Sozialdemokraten brachte der Übergang in die Weimarer Republik einen erheblichen Zuwachs. So schien sich zuerst der ununterbrochene Aufstieg der Partei weiter fortzusetzen. Der Stimmanteil der sozialistischen Parteien fiel jedoch schon 1920 wieder auf den Stand von 1912 zurück und erfuhr danach keine wesentliche Ausweitung. Den Konservativen stellte sich die Lage nicht anders dar. Abgesehen von den Krisenwahlen 1924, in denen sie die Proteststimmen der ehemals liberal wählenden städtischen Bevölkerung für sich gewinnen konnten, blieb ihr Vorkriegsanteil nahezu unverändert. Die bereits vor dem Krieg bestehende enge Verbindung der politischen Parteien zu bestimmten

tionsstruktur der politischen Parteien handelt, geht es bei dem Begriffspaar der Weltanschauungsbzw. Interessenpartei und Volkspartei um das Programm und die damit verbundene Verhaltensweise der politischen Parteien. 81 Über die soziale Basis der politischen Parteien bei: Lepsius, aaO., S.63ff.; Peukert, Die Weimarer Republik, S.l49ff.; Ritter, aaO., S.l3lf.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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sozialen Gruppen blieb, abgesehen von einer vorübergehenden Bewegung während der Übergangsphase, in der Weimarer Republik bestehen. Die politischen Parteien versuchten nicht ernsthaft, ihre Basis nach außen zu erweitern, sondern verfestigten ihre bereits vorhandenen Beziehungen zu den ihnen jeweils nahen wirtschaftlichen und sozialen Interessen weiter. 3. Der weltanschauliche Charakter der politischen Parteien und die Problematik der Koalitionsbildung Die fortlaufende Entwicklung der politischen Parteien zu Interessenparteien mit Massenorganisationen in der Weimarer Republik führte nicht zu einer Überwindung ihres historisch begründeten weltanschaulichen Charakters82 • Wie in der konstitutionellen Monarchie wurden die partikularen Interessen durch Ideologien, die ihnen allgemeine Bedeutung zu verleihen versuchten, aufgerüstet. Die politischen Parteien waren demgegenüber nicht in der Lage, die Interessengegensätze in der Gesellschaft mit eigenen Konzepten zu vermitteln und damit die Konflikte abzumildern. Sie stellten vielmehr entweder eine formale Zwischenstation der Politisierung der Interessen dar oder trugen dazu bei, daß sich die Interessengegensätze durch weltanschauliche Begründungen noch verschärften. Solange eine Heilserwartung gegenüber der Politik in der Bevölkerung vorherrschte und die politischen Parteien, ohne eigene Initiativen dagegen zu ergreifen, sich schleppen ließen, mußten die politischen Entscheidungen, die in einer parlamentarischen Demokratie nur durch Kompromisse erzielt werden können, unvermeidlich die Wählerschaft enttäuschen. Der verbliebene und teilweise noch verstärkte weltanschauliche Charakter der politischen Parteien verengte einerseits den Spielraum derjenigen Parteien, die die politische Verantwortung trugen und dafür Kompromisse eingehen mußten, und bot andererseits denjenigen Parteien, die an der äußerst Rechten und Linken jeden Kompromiß ablehnten, die Chance, Proteststimmen auf sich zu sammeln. In der konstitutionellen Monarchie waren die politischen Parteien nicht gezwungen, eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament zu bilden. Sie hatten im Grunde genommen lediglich eine Oppositionsrolle gegenüber der Regierung gespielt und sich an diese gewöhnt. Dieses konstitutionell monarchisch geprägte Rollenverständnis der politischen Parteien hinterließ über den Übergang in die Weimarer Republik hinaus seine Spuren83 • Die Parteien, die sich an der Regierungsbildung beteiligten, bildeten nicht nur den Stützpunkt der Regierung gegen Angriffe der Oppositionsparteien, sondern übten auch selbst durch Kritik an der Regierung die Funktion einer parlamentarischen Opposition. So standen die 82 83

Ritter, aaO., S.l34; Schulze, Weimar, S.85. Kolb, aaO., S.73; Ritter, aaO., S.121ff.; Winkler, aaO., S.598.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Regierungsparteien oft in einem Spannungsverhältnis zu den von ihnen getragenen Reichsregierungen. Veränderte sich der Standpunkt der Regierungsparteien gegenüber dem Kabinett infolge kurzfristiger Änderungen der innerparteilichen Machtkonstellationen ständig, so war eine berechenbare konsequente Politik schwerlich zu erwarten. Kein Politiker vermochte in der Weimarer Republik, vielleicht mit Ausnahme von Gustav Stresemann, dessen Führungsposition in der DVP allerdings keineswegs unangefochten war, mit einer geschlossenen Unterstützung seiner eigenen Partei in die Regierung zu gehen. Dieses Rollenverständnis der politischen Parteien bildete zusammen mit ihrem weltanschaulichen Charakter einen wichtigen Hintergrund für die schwachen und instabilen Koalitionsregierungen in der Weimarer Republik. Das spezifisch parlamentarische Wechselspiel von regierungsbildenden Mehrheitsparteien und systemimmanenten Oppositionsparteien konnte sich in der Weimarer Republik nicht verwirklichen84• Bereits in der Nationalversammlung lehnten die außerhalb der Weimarer Koalition stehenden Parteien - DNVP, USPD und teilweise auch DVP - nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Grundlagen des politischen Systems ab. Die Lage wurde noch schwieriger, als die Weimarer Koalition schon in der Juliwahl von 1920 ihre Mehrheit verlor. Während dabei die Sitze von SPD, Zentrum und DDP von 78% auf 44,6% dramatisch schrumpften, konnten die Oppositionsparteien starke Gewinne verbuchen85 • Den unmittelbaren Anlaß dafür bildete zwar der Vertrauensverlust der Regierungsparteien wegen der politischen Unruhen infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches; ein tieferer Grund lag aber in der Formierung und Vermehrung der rechten und linken Systemgegner, die bereits 1919 ihre Positionen gegen die neue Verfassungsordnung bezogen hatten. Da die Weimarer Koalitionsparteien nicht wieder die Mehrheit erreichen konnten, beschränkten sich seit 1920 die Möglichkeiten für die Regierungsbildung auf drei Modelle: den "Bürgerblock" von Zentrum, DDP, bis zur DNVP, die Große Koalition von der SPD bis zur DVP und die Minderheitskabinette der bürgerlichen Mittelparteien. Keine dieser Möglichkeiten bot aber eine stabile Koalitionsregierung. Die ersten beiden Modelle litten unter dem Richtungsstreit in den Grundfragen der Außenpolitik oder der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die bürgerlichen Minderheitskabinette waren auf Unterstützung oder zumindest Tolerierung seitens der SPD oder der DNVP angewiesen. Vor diesem Hintergrund mußten die Reichsregierungen je nach den anstehenden Problemen ständig wechselnde Mehrheiten finden.

84 Über die Koalitionsmodelle bei: Kolb, aaO., S.72; Ritter, aaO., S.l25; Stürmer, Koalitionen und Oppositionen. 85 Die Ergebnisse der Reichstagswahlen bei: Kolb, aaO., S.258f.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Die Problematik der Koalitionsregierungen ergab sich freilich grundlegend aus der schwankenden Koalitionspolitik der Akteure, der politischen Parteien86 . Besonders große Schwierigkeiten hatten dabei zwei Flügelparteien: die SPD und die DNVP. Die SPD stellte- abgesehen von wenigen Monaten im Jahr 192487 bis 1932 die stärkste Fraktion im Reichstag und stand bis zum Ende der Weimarer Republik unzweifelhaft auf dem Boden der Verfassung. Ihre Rolle in der Weimarer Republik entsprach aber weder dem politischen Gewicht der Partei, noch genügte sie der insoweit zu erwartenden Verantwortung für eine funktionsfähige parlamentarische Demokratie. Die Mehrheitssozialdemokraten entschieden sich in der Übergangsphase für eine Zusammenarbeit zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum aufgrund der liberal-demokratischen Spielregeln. Dies brachte die SPD aber nicht dazu, konsequent die Führungsrolle in der Regierung aktiv zu übernehmen. Vielmehr wuchsen die Vorbehalte der Partei gegen eine Regierungsbeteiligung: nach der Wahlniederlage 1920 schied die SPD aus der Regierung aus; nach der Stärkung der Parteilinken durch die Vereinigung mit der Rest-USPD wurde eine Koalitionsbildung mit den bürgerlichen Parteien noch schwieriger. Diese Problematik beruhte auf der Diskrepanz zwischen den Programmpunkten, die über die bürgerliche Demokratie hinaus auf dem sozialistischen Endziel beharrten, und der Realität der Politik, bei der die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien unvermeidlich schien. Vor diesem Hintergrund wurde mit dem reformistischen Görlitzer Programm von 1921 der Versuch unternommen, sich von einer Klassenpartei zu einer Volkspartei umzuwandeln88. Im Heidelberger Programm von 1925 wurde dies aber wieder rückgängig gemacht89. So gelang es der SPD nicht, einen klaren Ausgleich zwischen Grundsatzfragen und Machtfragen zu finden. Da aber wichtige besonders außenpolitische - Entscheidungen ohne Mitwirkung der SPD nicht möglich waren, unterstützte sie die bürgerlichen Kabinette, ohne selbst daran beteiligt zu sein. Die SPD geriet damit in eine komplizierte Stellung: eine halbe Regierungspartei auf der Oppositionsbank. In Preußen führten die Sozialdemokraten hingegen unter der Führung von Otto Braun eine stabile Koalitionsregierung mit Zentrum, DDP sowie - zeitweilig - DVP und trugen damit nicht unerheblich zur Konsolidierung der Republik bei. Noch größere Schwierigkeiten hatte die DNVP bei ihrer Koalitionspolitik zu bewältigen. Sie trat einerseits entschieden gegen die parlamentarische Demokratie ein, mußte aber andererseits bestrebt sein, nach Möglichkeit einen stärkeren Einfluß im vorhandenen politischen Raum auszuüben, um die Interessen ihrer

86 Über Koalitionspolitik der politischen Parteien bei: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S.63ff., 75ff.; Kolb, aaO., S.74ff. 87 Dabei bildeten die DNVP und der Landbund zusammen die stärkste Fraktion im Reichstag. 88 Wink/er, Von der Revolution zur Stabilisierung, S.434. 89 Wink/er, Der Schein der Normalität, S.320ff.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Klientel vertreten zu können. In dieser Konstellation schwankte die Partei zwischen zwei Optionen, nämlich zwischen der konsequenten Systemopposition und einem begrenzten Zusammengehen mit dem Weimarer Staat. Nachdem sich seit 1924 die politischen Verhältnisse konsolidiert hatten, wurde die Forderung der Interessengruppen hinter der Partei nach einer Koalitionsbildung mit den bürgerlichen Parteien immer lauter. So beteiligte sich die DNVP 1925 und 1927 an dem Bürgerblockkabinett Dieser Annäherungsprozeß der Deutschnationalen an die Republik fand sein Ende, als 1928 der vehemente Systemgegner Hugenberg den innerparteilichen Machtkampf für sich entschied und die gemäßigten Kräfte aus der Partei drängte. Tendierte die DNVP zur Zusammenarbeit mit der NSDAP, so war eine Bürgerblockregierung nicht mehr möglich. Das Zentrum, das verschiedene Sozialgruppen der katholischen Bevölkerung hinter sich hatte, war sowohl nach rechts als auch nach links koalitionsfähig. Aufgrund dieser hohen Flexibilität beteiligte sich das Zentrum nicht nur von 1919 bis zur Entlassung Brünings 1932 an allen Reichsregierungen, sondern spielte auch in den meisten Fällen der Koalitionsbildung eine Schlüsselrolle. Der Schwerpunkt der Macht innerhalb des Zentrums bewegte sich jedoch langsam nach rechts, bis im Dezember 1928 der konservative Prälat Ludwig Kaas zum Parteiführer gewählt wurde. In dem Umfang, in dem sich diese Entwicklung während der Präsidialregierung Brünings weiter beschleunigte, wurde die Bereitschaft der Partei zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten wesentlich geringer. Die beiden liberalen Parteien waren, abgesehen von dem Teil der DVP, der eine Koalitionsbildung mit der SPD zu vermeiden suchte, offen für alle drei Koalitionsmodelle. Zu Problemen führte freilich die tendenzielle Erosion ihrer traditionellen Wählerbasis. Der Stimmanteil der beiden liberalen Parteien, der in der Anfangsphase der Weimarer Republik über 20% lag, schrumpfte bis 1928 auf zwei Drittel, dann bis 1932 rasch auf etwa 2% der abgegebenen Stimmen. Die Stimmen für die liberalen Parteien, die 1920 noch zwischen diesen, also von der DDP zur DVP gewandert waren, gingen dann 1924 zur DNVP über. Ein großer Teil dieser Stimmen verließ die DNVP zwar bei der Wahl 1928; diese kamen aber nicht ins liberale Lager zurück, sondern den mittelständischen bzw. agrarischen Interessenparteien zugute, die der parlamentarischen Demokratie kritisch gegenüberstanden. Die Schwächung der liberalen Mitte brachte nicht nur die betroffenen Parteien, sondern wiederum das gesamte politische System in Schwierigkeiten. In der Weimarer Republik war die alleinige Regierungsbildung durch Flügelparteien, auch wenn die Wahlergebnisse sie rechnerisch erlaubt hätte, schwer vorstellbar, da eine solche Option wegen des gegenseitigen Mißtrauens zu unsicher warx'. Aus diesem Grund fungierten die bürgerlichen 90

Ritter, aaO., S.l25.

8. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Mittelparteien in den Koalitionsregierungen als eine Art Garantie dafür, daß die politische Existenzbasis der Arbeiterschaft oder der bürgerlichen Kräfte nicht berührt würde. Die Schwächung der liberalen Parteien bedeutete daher zugleich die Erschütterung der Sicherheitsgarantie gegen eine Polarisierung der Politik, solange die gegensätzlichen Standpunkte beider Flügelparteien unüberbrückbar blieben und auch nicht wenigstens tolerierbar erschienen. Das Wahlergebnis von 1928 erscheint in diesem Blickwinkel bemerkenswert. Während die SPD dabei einen großen Wahlsieg erzielte, erlebten alle Bürgerblockparteien Stimmenverluste91 • Nach dieser Wahl bildete die Große Koalition auf Initiative der SPD im Grunde die einzige Möglichkeit der Regierungsbildung. Der "Bürgerblock" verfügte nicht mehr über die erforderliche Parlamentsmehrheit, auch entschied sich die DNVP kurz darauf deutlich für den Systemoppositionskurs; ein Minderheitskabinett der Mittelparteien, das ein Kabinett der Wahlverlierer mit etwa ein Viertel der abgegebenen Stimmen dargestellt hätte, war politisch nicht sinnvoll. Vor diesem Hintergrund entstand nach mühsamen Verhandlungen zwischen SPD und DVP eine Regierung der Großen Koalition unter Führung des Sozialdemokraten Hermann Müllern. Sie litt aber während ihrer ganzen Amtszeit unter dem Richtungsstreit zwischen den beiden Flügelparteien in der Koalition. Dieser Druck wurde auf der einen Seite durch einen weiteren Rechtsruck der DVP nach dem Tod Stresemanns 1929 noch stärker; auf der anderen Seite war die Flexibilität der SPD, die sich gegen die weiter verschärfte Sozialfaschismusthese der KPD verteidigen mußte, nicht grenzenlos belastbar. Die Große Koalition wurde beendet, als im März 1930 die Verhandlungen über die Sanierung der Arbeitslosenversicherung zwischen SPD und DVP scheiterten. Die taktische Ungeschicklichkeit der SPD und das Fehlen eines langfristigen Konzeptes der Sozialdemokratie für die parlamentarische Praxis dürfen dabei zwar nicht übersehen werden93 • Einen tieferen Grund für die Auflösung der letzten parlamentarischen Regierung bildeten jedoch der tiefgreifende Rechtsruck auf Seiten der bürgerlichen Kräfte und ihre zunehmende Ablehnung einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Da aber eine Regierungsbildung ohne Mitwirkung der SPD unter Einhaltung der parlamentarisch-demokratischen Spielregeln schwer vorstellbar war, gewann die Alternative einer Preisgabe des parlamentarischen Regierungssystems immer mehr an Attraktivität. Sie wurde bereits vor der Auflösung der Großen Koalition vor Davon kann nur die kleine Niederlage des Zentrums als vorübergehend bezeichnet werden. Bracher, aaO., S.257ff.; Kolb, aaO., S.85f.; Winkler, Der Schein der Normalität, S.52lff.; ders., Weimar, 334ff. 93 Ein flexibleres Verhalten der Sozialdemokraten mit mehr Einsicht hätte jedoch in der damaligen Konstellation die Lebensdauer der Großen Koalition lediglich um einige Monate, also bis zum Herbst 1930 verlängern können (Wink/er, Weimar, S.597). 91

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6 Song

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

allem von Reichspräsident Hindenburg und seiner Umgebung sowie von der Führung der Reichswehr unter General Schleicher zielstrebig vorbereitet und konnte nicht nur auf Seiten der politischen Rechten und der agrarischen Interessen, die ohnehin nicht auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie standen, sondern nun auch in nicht geringem Maß bei der politischen Mitte und den industriellen Interessen Unterstützung finden 94.

4. Politische Parteien in der Verfassungskrise der Weimarer Republik Am 30. März 1930, also nur drei Tage nach dem Rücktritt der Großen Koalition95, entstand das Präsidialkabinett Brüning. Damit begann der Prozeß einer planmäßigen Ausschaltung des Parlaments und der politischen Parteien, der überdies von zahlreichen Verfassungsdurchbrechungen begleitet w~. Da das Kabinett Brüning, das aus Politikern der bürgerlichen Parteien zusammengesetzt war, keine Parlamentsmehrheit hinter sich hatte, mußte es sich mit der Drohung einer Parlamentsauflösung und dem Mittel der Notverordnung durchsetzen. Diese Konstellation führte im Juli 1930 zur Reichstagsauflösung. Die anschließende Wahl im September fand vor dem Hintergrund des dramatischen Konjunkturrückgangs statt und schenkte den radikalen Parteien einen großen Sieg: der NSDAP eine Zunahme der Mandatzahl von 12 auf 107 und der KPD von 57 auf 77. Nach diesem Wahlergebnis war die Bildung einer positiven Mehrheit im Reichstag unmöglich geworden. Daß auch eine negative Mehrheit nicht zustande kam, lag an der Entscheidung der SPD für eine Tolerierungspolitik97 . Während der Amtszeit des Kabinetts Brüning schwächten sich Macht und Einfluß des Parlaments und der politischen Parteien in schnellem Tempo weiter ab; demgegenüber verlagerte sich folgerichtig die Staatsgewalt auf die Exekutive, insbesondere auf den Reichspräsidenten und seine Berater. Das Kabinett Brüning verlor in der sich seit Sommer 1931 beschleunigenden Wirtschaftskrise immer mehr an Unterstützung in der Bevölkerung und wurde - trotz der Bemühungen für eine Erweiterung der Existenzbasis nach rechts - vehement von der nationalen Opposition, also von DNVP, Stahlhelm und NSDAP, bekämpft. Nach der Wiederwahl von Hindenburg im April 1932 versuchte Schleicher als Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium das Kabinett Brüning durch

.. Bracher, Parteienstaat, Präsidialsystem und Notstand; Wink/er, aaO., S.362ff. 9s Dies war auch ein Indiz dafür, daß der Übergang zum Präsidialregime gut vorbereitet war (Wink/er, aaO., S.375). 96 Über den AuflösungsproreS der Weimarer Demokratie bei: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S.271ff.; Kolb, aaO., 123ff.; Wink/er, Der Weg in die Katastrophe; ders., Weimar, S.357ff. 97 Näheres darüber bei: Kolb, aaO., S.l27; Wink/er, Der Weg in die Katastrophe, S.207ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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eine noch stärker rechtsgerichtete Präsidialregierung zu ersetzen. Zugleich verhandelte er mit Hitler in der Absicht, sich die notwendige Unterstützung der NSDAP für sein neues Kabinett zu sichern. Dafür zeigte er sich bereit, die "positiven" Faktoren der NS-Bewegung in den neuen autoritären Staat einzubeziehen. Die nachfolgenden Ereignisse - Entlassung Brünings, Bildung des Kabinetts der "nationalen Konzentration" unter der Kanzlerschaft von Papen, in dem Schleicher selbst die Führung des Reichswehrministeriums übernahm, Auflösung des Reichstags und Aufhebung des SA-Verbots - entsprachen den Abmachungen Schleichers mit Hitler. Das neue Kabinett von Papen und Schleicher führte darüber hinaus am 20. Juli die "Reichsexekution" gegen die sozialdemokratisch geführte Landesregierung in Preußen durch. Die preußische Regierung, die seit der Landtagswahl im April 1932 lediglich eine geschäftsführende Regierung war, wurde durch den Einsatz der Reichswehr zum Rücktritt gezwungen. Damit verlor die SPD ihre letzte Machtbastion und geriet in eine völlige politische Isolierung. Bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 erzielten die beiden extremen Parteien abermals große Erfolge. Die NSDAP wurde dabei mit 230 Parlamentssitzen die größte Fraktion. Sie bildete zusammen mit der KPD, die nun über 89 Mandate verfügte, eine negative Mehrheit im Reichstag. Nach dieser Wahl lehnte die NSDAP die Tolerierung des Kabinetts Papen ab und forderte eine Neubildung der Regierung unter ihrer Führung. In dieser Lage fiel dem Zentrum, das wegen der Entlassung Brünings enttäuscht war und nach dem Wahlergebnis eine Möglichkeit der parlamentarischen Mehrheitsbildung mit der NSDAP besaß, neues Gewicht zu. Es näherte sich dem Oppositionskurs der NSDAP gegen das Kabinett Papens, so daß am 30. August Göring zum Reichtstagspräsidenten gewählt wurde. Als deutlich wurde, daß nur ein geringfügiger Teil des neuen Reichstags (DNVP und DVP) hinter dem Kabinett Papen stand, löste Hindenburg erneut das Parlament auf. Hieran läßt sich die Differenz zwischen dem ohne parlamentarischen Rückhalt agierenden Kabinett Papen und dem vom Parlament tolerierten Kabinett Brüning ersehen98 • Nach der Struktur der Weimarer Verfassung konnte also auch ein Präsidialkabinett nur so lange funktionieren, als das Parlament es gewähren ließ. Ein Präsidialkabinett ohne parlamentarische Unterstützung hatte hingegen keine Chance, sich zu behaupten. Der Gedanke Papens, die Neuwahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben und ohne Parlament zu regieren, konnte auch wegen der Gefahr, daß das Zentrum und die NSDAP den Reichspräsidenten wegen einer Verletzung der Reichsverfassung vor dem Staatsgerichtshof anklagen könnten (Art.59 WV), nicht in die Tat umgesetzt werden.

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Boldt, aaO., S.250f.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Nach der Wahl im November 1932 konnte sich die NSDAP zwar weiter als stärkste Fraktion im Reichstag behaupten, verlor aber rund 2 Mill. Stimmen. Neben dem Rückgang der Wählerstimmen, der sich auch bei den Kommunalwahlen in Thürigen fortsetzte, wurden weitere Anzeichen dafür erkennbar, daß der Höhepunkt der NS-Bewegung bereits überschritten war. Der Standpunkt Hitlers, lediglich unter der Voraussetzung einer eigenen Kanzlerschaft an der Regierung teilzunehmen, stieß in der Partei zunehmend auf Bedenken. Eine Regierungsbeteiligung der NSDAP ohne Hitlers Kanzlerschaft hielt z.B. der Wortführer des "linken" Flügels, Gregor Strasser, für annehmbar. Darüber hinaus verschärften sich die Konflikte innerhalb der Partei und der SA, deren Grund in einer unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Anhängerschaft lag. Demgegenüber blieb die Position Papens, dem der Reichspräsident weiterhin sein Vertrauen aussprach, auch nach der Wahl unvermindert schwierig, weil die Sitzverhältnisse im Reichstag im wesentlichen unverändert blieben. Papen nahm dann seinen Gedanken wieder auf, durch die Parlamentsauflösung ohne Bekanntmachung eines Wahltermins das Präsidialkabinett von jeder Kontrolle des Reichstags zu lösen. Da aber Art.25 Abs.2 WV festlegte, daß die Neuwahl spätestens am sechzigsten Tag nach der Parlamentsauflösung stattfinden mußte, hätte dies einen Verfassungsbruch dargestellt, der Hindenburg nicht hinnehmbar erschien. Angesichts dieses Dilemmas entwickelte Schleicher ein neues Konzept: eine "Querfront" von den Gewerkschaften bis zur Strasser-Gruppe in der NSDAP sollte gebildet werden. Mit der Ernennung Schleichers zu Papens Nachfolger am 30.12.1932 bekam dieses Konzept zwar eine Chance. Bald stieß es jedoch auf Widerstände. Zum einen konnte sich Strasser, der seine Bereitschaft zur Vizekanzlerschaft anzeigte, in der NSDAP nicht durchsetzen. Zum anderen rief das Programm der neuen Regierung, das unter anderem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Annäherung an die Gewerkschaften enthielt, in dem Führungskreis von Industrie und Landwirtschaft den Verdacht wach, die bisherige Entwicklung zum autoritären Staat solle rückgängig gemacht werden. Die Kräfte, die das Modell des autoritären Staates weiter fortführen wollten, hielten in dieser Situation die Unterstützung durch die Massenbasis der NSBewegung für notwendiger denn je und strebten eine Übereinkunft mit Hitler an, um so eine Alternative zur Politik Schleichers zu ermöglichen. Die Kontakte zur NSDAP wurden von dem gestürzten Reichskanzler Papen initiiert. Im Januar 1933 verhandelte er einerseits mit Hitler über die Bedingungen für eine Koalitionsbeteiligung der NSDAP, wobei Hitler seinen Führungsanspruch schrittweise durchsetzte. Andererseits spielte er eine aktive Vermittlerrolle zwischen Hitler, der DNVP-Führung und dem Reichspräsidenten. Diese Initiative Papens erreichte einen wichtigen Punkt, als er Mitte Januar von Rindenburg den Auftrag bekam, die Voraussetzungen für die Bildung einer neuen

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Regierung zu schaffen. Dies bedeutete zwar die Abkehr des Reichspräsidenten von Schleicher, aber noch keine Entscheidung darüber, wie das neu zu bildende Kabinett aussehen sollte. Dem preußisch geprägten ehemaligen Generalfeldmarschall war die Kanzlerschaft eines Österreichischen Gefreiten, der überdies Verhandlungslösungen letztlich unzugänglich erschien, höchst unsympathisch. Sein langes Abwägen und Zögern fand erst unter Einfluß der Gerüchte über die Vorbereitung eines Militärputsches durch die Reichswehrführung ein Ende. Am 30.Januar wurde Hitler zum neuen Reichskanzler ernannt. In seinem Kabinett waren unter anderen Papen als Vizekanzler und Hugenberg als Wirtschafts- und Ernährungsminister beteiligt. Da das Kabinett Hitler keine Unterstützung der Parlamentsmehrheit besaß, stellte es wie seine Vorgänger seit 1930 ein Präsidialkabinett dar. Wesentlich neu war aber, wie die darauffolgende Entwicklung der Geschichte zeigte, die Tatsache, daß nun die Staatsmacht in der Hand einer Gruppe lag, die keine Scheu vor der Zerstörung der Demokratie und des Rechtsstaates hatte.

5. Die Schwäche der politischen Parteien gegenüber der NS-Bewegung Der Untergang der Weimarer Demokratie war kein unvermeidlicher, gewissermaßen schicksalhafter Prozeß. Bis in die letzten Stunden der Republik vollzog sich jeder Schritt in diesem Prozeß als eine Entscheidung unter mehreren Möglichkeiten99 • Freilich verengte sich der Spielraum seit Sommer 1932, als die Verfassung durch die negative Mehrheit der radikalen Parteien lahmgelegt war, in entscheidendem Maß. Trotzdem war die Lage nicht ausweglos 100; es fehlte vielmehr an dem politischen Willen gegen eine totalitäre Diktatur, und zwar besonders bei denjenigen Kräften, die bis 1930 die parlamentarische Demokratie nach dem autoritären Modell umzuformen versuchten und die schließlich das entstandene Machtvakuum ausfüllten. Diese alten Vordemokratischen Eliten wollten zwar nicht eine totalitäre Diktatur der NSDAP, sie glaubten jedoch, die Massenbasis der NS-Bewegung für die von ihnen erstrebte autoritäre Überformung der Weimarer Republik nutzen zu können. So waren sie in einer Situation der Systemkrise, in der ein Ausweg nur mit dem von den gemäßigten politischen Kräften zu unterstützenden entschlossenen Widerstand gegen die HitleeLösung hätte gefunden werden können, zur Zusammenarbeit mit der NSDAP bereit. Trotz der Tatsache, daß die Weimarer Demokratie im Grunde genommen an ihren Gegnern scheiterte, bleibt allerdings die - freilich in einer anderen DirnenKolb, aaO., S.l40f.; Winkler, Weimar, S.604ff. Vgl. dariiber bei: Kolb/Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher; Grimm, Verfassungserfüllung-Verfassungsbewahrung-Verfassungsauflösung. 99

100

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

sion zu stellende: Fehler der Verteidiger müssen von der Schuld der Angreifer unterschieden werden! - Frage offen, ob denn die Träger der parlamentarischen Demokratie von Weimar, nämlich die Kräfte der demokratischen Mitte und Linken, ihre historische Aufgabe erfüllt hatten 101 • Die systemtragenden Parteien waren der Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie und ihren Mechanismen der Krisenbewältigung nicht genügend gewachsen. Das Rollenverständnis dieser Parteien war bis zum Ende der letzten parlamentarischen Regierung von der Tradition der konstitutionellen Monarchie geprägt. Ihre Struktur blieb im wesentlichen unverändert so stehen, wie sie um die Jahrhundertwende ausgebildet worden war. Freilich wandelte sich die Gesellschaft auch während der Weimarer Zeit weiter. Besonders bemerkenswert ist dabei die Lockerung der traditionellen Beziehung zwischen den politischen Parteien und ihren sozial-moralischen Milieus. Die Arbeiterschaft fühlte sich nicht mehr so stark wie früher verpflichtet, die SPD zu wählen 102• Bei der Reichstagswahl von 1928 z.B. stimmten lediglich 30% der Wahlberechtigten für die beiden sozialistischen Parteien, obwohl fast jeder zweite Wahlberechtigte (beim Stand von 1925) Arbeiter war. Demgegenüber be\cam die SPD immer mehr Stimmen aus anderen Schichten als der der Industriearbeiter: deren Anteil wurde nach einer Analyse nach der Reichstagswahl von 1930 auf etwa 40% geschätzt103 • Trotz der Umschichtung ihrer Wählerschaft war die SPD aber von ihrer Mitgliederschaft her gesehen nach wie vor eine Arbeiterpartei: der Arbeiteranteil der gesamten Mitglieder lag 1930 - einschließlich der Hausfrauen, die mit den Arbeitern verheiratet waren - bei etwa 70%. Neben den Arbeitern erreichten lediglich die Angestellten mit etwa 10% eine statistisch faßbare Bedeutung. Das traditionelle Bündnis zwischen Zentrum und Katholiken hatte sich bereits im Kaiserreich tendenziell abgeschwächt: in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Quote der Zentrumswähler unter der katholischen Bevölkerung bei etwa 80% gelegen, bereits 1912 bei unter 60% 104• Die Integrationskraft des Zentrums in dem katholischen Teil der Bevölkerung sank auch während der Weimarer Zeit weiter. Im November 1932 gaben lediglich 46,5% der wahlberechtigten Katholiken ihre Stimme für das Zentrum und die bayerische Volkspartei ab 105 • Aufgrund der weitgehenden Säkularisierung und der Interessendifferenzierung innerhalb der katholischen Bevölkerung war es unvermeidlich, daß die katholische Subkultur an Integrationskraft verlor.

Kolb, aaO., S.l42; Wink/er, aaO., S.597. Wink/er, Der Weg in die Katastrophe, S.108ff. 103 S. Neumann, aaO., S.33; Wink/er, aaO., S.llO Fn.IOO. 104 Lepsius, aaO., S.69. 10s Ritter, aaO., S.132. 101

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B. Entwicldung der Parteien und Verbände

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Die Bemühungen des Zentrums, sich ins evangelische Lager auszuweiten 106, brachten keinen Durchbruch. So blieb das Zentrum bis zum Ende, ohne sich zu einer Mitgliederpartei entwicken zu können, der politische Ausschuß der Organisationen des katholischen Deutschlands. Ohne Unterstützung der Kirche war es nicht funktionsfähig, wie sein Zerfall im Jahr 1933 zeigte 107 • Insgesamt gesehen konzentrierten sich diese beiden Parteien auf die Beibehaltung der sich nun lockemden Verbindung mit ihrer traditionellen Basis, nicht auf eine über diese hinausgehende Ausweitung. Sie konnten daher angesichts der Erschütterung des Parteiensystems seit 1928, die vor allem durch die inzwischen orientierungslos gewordene Wählerschaft aus der bürgerlichen Mitte verursacht wurde, lediglich abwehrend reagieren, ohne eine konstruktive Lösung vorweisen zu können. Den nicht katholischen Mittelparteien 108 gelang es nicht, ihre alte Stärke zu bewahren. Durch ihren Zerfall wurden wichtige Voraussetzungen für den Untergang der Weimarer Demokratie geschaffen: das dadurch entstandene Machtvakuum erleichterte zum einen die Rückkehr der alten Eliten zur Macht, die sich später für die Hitler-Lösung entschied; die überproportionale Abwanderung der Wählerschaft der Mittelparteien ins NS-Lager trug zum anderen dazu bei, daß sich die NSDAP einen parlamentarischen Stützpunkt für die Machtergreifung schaffen konnte 109 • Der Zerfall der bürgerlichen Mitte in der Weimarer Republik wurde von einer Zersplitterung der Parteien begleitet: zuerst kam es zur Gründung der Wirtschaftspartei (1920) und der Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (1926) im gewerblichen Mittelstand, dann zur Gründung der Agrarparteien, also der Deutschen Bauernparteien sowie der Christlich-nationalen Bauern- und Landvolkpartei im Jahr 1928 und schließlich zur Gründung des Christlich-sozialen Volksdienstes und der Konservativen Volkspartei, die der Abspaltung des linken Flügels der DNVP folgteu 0 • Angesichts dieser weitgehenden Zersplitterung fehlte es freilich nicht an Bestrebungen, die Richtung umzukehren. So wurde mit der Umwandlung der DDP in die Deutsche Staatspartei 1930 ein Zusammenschluß der gemäßigten bürgerlichen Kräfte

106 Dazu können das "Essener Programm" von Adam Stegerwald im Jahr 1920, das auf Basis der Christlichen Gewerkschaften eine Christlich-nationale Volkspartei zu griinden versuchte (Roder, Der Christlich-nationale Gewerkschaftsbund (DGB) im politisch-ökonomischen Kräftefeld der Weimarer Republik, S.267ff.), sowie die 1930 vergeblich versuchte Erweiterung der Partei nach rechts durch Zusammenarbeit mit den Splittergruppen aus der DNVP (Morsey, Die deutsche Zentrumspartei, S.295ff.; S. Neumann, aaO., S.45) gezählt werden. 107 Morsey, aaO., S.395ff. 108 Damit sind hier die Parteien gemeint, die zwischen Zentrum und DNVP standen. 109 Die NSDAP erlangte die Staatsmacht zwar nicht durch ihren Wahlsieg. Ohne Wahlerfolge von 1930 und 1932 wäre jedoch ihre Machtergreifung von Anfang an ausgeschlossen gewesen. 110 Über diese Splitterparteien bei: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.l69ff., S.l86ff.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

versucht111 • Daran schlossen sich mehrere ähnliche Unternehmungen an, die jedoch keine nennenswerten Erfolge hatten 112 • Der Zerfall der Mittelparteien setzte sich schließlich unaufhaltsam fort. Die Mittelparteien waren demnach nicht in der Lage, die in der Wirtschaftskrise weitgehend verschärften Interessengegensätze innerhalb des Mittelstandes entgegen der Propaganda der radikalen Rechten zu arrangieren. Es gab auch keinen Rückhalt bei der Industrieführung, die sich von der Sammlungsbewegung der Mittelparteien distanzierte. So verschob sich einerseits der Schwerpunkt der bürgerlichen Sammlungspolitik immer mehr nach rechts bis zur Herausbildung der Harzburger Front113; andererseits konnte die NSDAP in den Wahlen 1932 die orientierungslosen Stimmen aus der bürgerlichen Mitte aufsaugen, die bis vor 1929/30 nicht einmal die primäre Zielgruppe der nationalsozialistischen Propaganda gebildet hatte 114• Die überkommenen politischen Parteien waren nicht nur in ihrer Verbindung mit einem bestimmten Sozialmilieu starr, sondern auch gegenüber der jüngeren Generation. Durch ihren Mangel an Phantasie und Pathos, der sich über alle ideologischen Grenzen hinweg einem zu eng gefaßten Rationalismus verdankte, schienen die etablierten Parteien den jüngeren Zeitgenossen unattraktiv und langweilig. Die Weimarer Jugend, die sich insgesamt durch die verschiedensten irrationalen Strömungen begeistern ließ, wurde repräsentiert von den Jahrgängen um 1890, die von den Erfahrungen der Frontsoldaten und der für sie unerwarteten Kriegsniederlage geprägt waren, und der Generation der Jahrhundertwende, die sich in der Gesellschaft überflüssig fühlte 115 • Solange die politischen Parteien sich mit dem neuen Zeitgeist nicht auseinandersetzten, war ihre Überalterung unvermeidlich. Dabei bildete auch die SPD, also die einzige Partei mit eigener Massenorganisation unter den republiktragenden Kräften, keine Ausnahme. Im Jahr 1926 waren 18% der SPD-Mitglieder bis zu 30 Jahre alt und 45% bis zu 40 Jahre, während bei der KPD die Zahl von 1927 bei 31,8% und 64,5% lag 116• Der zeitgenössische Beobachter Sigmund Neumann machte zu Recht den Einfluß eines vulgarisierten Positivismus auf die SPD seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts für ihren Immobilismus verantwortlich 117 • Es erschien nicht nur ihm symptomatisch, "daß der Wahlaufruf der geistigen Elite der SPD 111 Jones, Sammlung oder Zersplitterung?, S.268ff.; Matthias/Morsey, Die Deutsche Staatspartei, S.31ff. 112 Jones, aaO., S.272ff. m AaO., S.303. 114 Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, S.l57ff. 115 Über die Generationsproblematik in der Weimarer Republik bei: Peukert, aaO., S.25ff., S.94ff. 116 Winkler, Der Weg in die Katastrophe, S.585. Eine andere Angabe zeigt die Veralterung der SPD noch dramatischer: 1930 lag die Quote der Mitglieder unter 25 Jahren unter I 0%, die niedriger als die der über 60jährigen war (Bracher, aaO., S.67; S. Neumann, aaO., S.36). 117 S. Neumann, aaO., S.35f.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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zu den Reichswahlen 1930 fast nur von Wissenschaftlern unterzeichnet war, während für die Kommunisten in einer entsprechenden Kundgebung fast ausschließlich Künstler eintraten". Die Altersstruktur der Abgeordneten im Reichstag von 1930 zeigt die Generationsproblematik zwischen alten und neuen Parteien deutlich 118 • Während sich dabei die Zahlen der Abgeordneten unter 40 Jahren auf 20 von 143 bei der SPD, 7 von 68 beim Zentrum, 3 von 41 bei der DNVP und 2 von 30 bei der DVP beliefen, erreichten sie bei der NSDAP 77 von 105 und bei der KPD 55 von 77. Durch den Vormarsch der beiden extremen Parteien vermehrte sich die gesamte Zahl der Abgeordneten, die jünger als 40 waren, im Vergleich zum Reichstag von 1928 um mehr als das Doppelte. Wird berücksichtigt, daß im Verhältniswahlsystem der sichere Platz auf der Liste für den Gewinn der Mandate entscheidend ist, muß dies als Versäumnis der überkommenen Parteien gegenüber der jüngeren Generation gewertet werden. Da die Proteststimmung der jungen Leute gegen die bestehende Gesellschaft von den etablierten Parteien nicht kanalisiert wurde, geriet sie unter den Einfluß von Interessen, die die irrationalen Strömungen ins Extrem zu treiben und für eigene Zwecke auszunutzen wußten. Freilich war der dramatische Aufstieg der NSDAP nicht ausschließlich durch die Probleme der überkommenen Parteien bedingt. Dahinter stand vielmehr auch der rigorose Kampf einer sich als Bewegung verstehenden Partei, der auch in den militanten Aktivitäten der sogenannten Sturmabteilung (SA) vorangetrieben wurde. Es darf schließlich auch nicht übersehen werden, daß die NSDAP die strukturellen Probleme der alten Parteien weitgehend überwand. Es gelang ihr, über die im Modernisierungszug veralteten Abgrenzungen zwischen den sozialen Gruppierungen hinaus eine neue nationalistische Massenbasis zu schaffen und dadurch in stärkerem Maß als die anderen Parteien den Charakter einer Volkspartei anzunehmen 119• Die soziale Zusammensetzung der NSDAP-Mitgliedschaft von 1930 sah wie folgt aus (in Klammern jeweils die Anteile an der Gesamtbevölkerung): Arbeiter 28,1 (45,9), Angestellte 25,6 (12,0), Selbständige 20,7 (9.0), Beamte 8,3 (5,1), Bauern 14,0 (10,6) und Sonstige 3,3 (17,4) 120• Diese Angaben zeigen zum einen, daß in der NSDAP der Mittelstand (Selbständige, Angestellte und Beamte) überrepräsentiert war, zum anderen aber auch, daß die NSDAP andere Berufsgruppen, insbesondere auch Teile der Arbeiterschaft, für sich gewinnen konnte. Von der Altersstruktur her gesehen war die NSDAP eine durchaus junge Partei 121 • Beim Stand von 1930 waren fast

AaO., 5.133 Fn.8. Falter, Wer verhalf der NSDAP zum Sieg?, S.l3ff.; Kolb, aaO., S.ll7f., 210f.; Wehner, Die Partei mit den vielen Gesichtern. 120 Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, S.175. 121 Kater, Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, S.229ff.; Kolb, aaO., S.117. 118 119

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

70% aller Mitglieder unter 40 Jahren und 37% unter 30 Jahren. Offenbar übte die NSDAP auf die Jahrgänge seit 1890 über alle Sozialschichten hinweg eine starke Anziehungskraft aus. Insgesamt gesehen herrschte unter den politischen Parteien in der Weimarer Republik eine Lage, in der sie sich um der Erhaltung ihrer herkömmlichen Klientel willen gegenseitig blockierten. Obwohl die Krisensymptome dieses Systems offenkundig waren, erlagen die Parteien bei ihren Erneuerungsversuchen im Grunde genommen doch ihrer kurzsichtigen Selbstbezogenkeit. Keine Partei hatte den Mut, das Risiko einzugehen, diese Blockierung zu durchbrechen und eine dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprechende neue Positonsbestimmung zu formulieren. Eine solche Situation konnte sich allerdings nicht als dauerhaft erweisen. II. Verbände

Auf Grund des politischen Umbruchs und des gesellschaftlichen Strukturwandels während der Kriegs- und Nachkriegsjahre machten die Verbände tiefgreifende Wandlungsprozesse durch. Hier soll zuerst die Entwicklung der Verbände in Bezug auf die verschiedenen Berufsgruppen nachgezeichnet und dann die Bedeutung dieser Entwicklung erörtert werden. 1. Unternehmerverbände

Worin sich das Industrieverbandssystem in der Weimarer Republik am augenfälligsten von dem des Kaiserreichs unterschied, war die Entstehung eines einheitlichen Spitzenverbandes. Angesichts der politisch und wirtschaftlich prekären Situation in der Übergangsphase sahen sich die Unternehmer gezwungen, die Rivalität an der Spitze ihres Verbandsystems zu beseitigen und die Zentralisierung der industriellen Interessenvertretung voranzutreiben. Im April 1919 schlossen sich die drei großen Industrieverbände - der Centtalverhand deutscher Industrieller, der Bund der Industriellen und der Verein zur Wahrung der Chemischen Industrie -, die bereits in der Kriegswirtschaft in lockerer Form zusammengearbeitet hatten, in dem Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) zusammen 122 • Der RDI stellte jedoch nicht die einzige Spitzenorganisation der Industrie dar: parallel zu ihm existierten die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die 1913 entstand und für Tarifverhandlungen 122 Über die Entstehung, Organisation und Binnenstruktur des RDI bei: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.l060, S.l064ff.; Stegmann, Unternehmerverbände (Geschichte), S.l62ff.; U/lmann, aaO., S.l33ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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mit den Gewerkschaften zuständig war, sowie der überkommene Spitzenverband der öffentlich-rechtlichen Handelskammern, der Deutsche Handelstag, der sich seit 1918 Deutscher Industrie- und Handelstag nannte, fort. Die Gründung des RDI bedeutete allerdings kein Ende der Interessenkonflikte innerhalb der Industrie. Nun waren unter einem Dach zwei Gruppen vereint: der schwerindustrielle Flügel einerseits und eine lockere Koalition aus Chemie-, Elektro-, Maschinen-, und Fertigindustrie andererseits. Der Schwerindustrie gelang es in der Übergangsphase, eine dem Zuwachs der neuen Industriezweige entsprechende Kräfteverlagerung zu verhindern. Einen wichtigen Hintergrund dafür bildete der Rohstoffmangel, der durch den Verlust der Industriegebiete in Lothringen, an der Saar und in Oberschlesien noch härter wurde. So konnte die Schwerindustrie zwischen 1919 und 1925 sowie zwischen 1931 und 1933 den Präsidenten des RDI aus ihren Reihen stellen. Organisatorisch wichtige Stützpunkte der Schwerindustrie waren der Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und der Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnarnverein), der der einflußreichste Regionalverband war. Damit verfügten die Schwerindustriellen über nicht unerhebliche Möglichkeiten für ein vom RDI unabhängiges eigenständiges Handeln. Demgegenüber kam der Gruppe aus den neuen Wachstumsindustrien immer mehr Gewicht innerhalb des RDI zu, weil die wirtschaftliche Bedeutung dieser Industrien zunahm. So kam Carl Duisberg, Präsident des RDI zwischen 1925 und 1931, aus der Chemieindustrie. Für die Unternehmerschaft stellte der Klassenkompromiß in der Umbruchphase lediglich die provisorische Lösung für eine Notsituation dar. Nachdem sich die Unternehmer durch Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gegen alle Sozialisierungsforderungen erfolgreich gewehrt hatten, versuchten sie die sozialen Errungenschaften der Revolution rückgängig zu machen 123 • Innerhalb der Industrie herrschte jedoch keine Einigkeit darüber, in welchem Umfang und mit welchen Strategien dieses Ziel verfolgt werden sollte. Auf der einen Seite wurde nach wie vor der "Herr-im-Haus"-Standpunkt vertreten, der- nicht nur in ökonomischen Interessen, sondern auch in überkommenen sozialen Mentalitäten und Verhaltensmustern begründet - eine Gleichberechtigung der Arbeiterschaft kategorisch ablehnte. Die treibende Kraft dieser Richtung bildeten der Ruhrkohlenbergbau und die mit ihm durch vertikale Konzentration verbundene Eisen- und Stahlindustrie. Diese Industriebranchen waren von der relativen Wachstumsstagnation stark betroffen, von der Binnenmarktorietierung geprägt und von hinreichender Arbeitsdisziplin sowie niedrigem Lohnniveau abhängig.

123 Über die Politik der Unternehmer bei: Blaich, Staatsverständnis und politische Haltung der deutschen Unternehmer 1918-1930; Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S.l83ff.; Stegmann, aaO., S.l64f.; Ullmann, aaO., S.l41f.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Vor diesem Hintergrund waren die schwerindustriellen Interessen nicht nur bei der Auflösung der ZAG wesentlich beteiligt, sondern setzten sich auch in allen Phasen der Weimarer Republik für die Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch ein autoritäres System ein. Diese Orientierung fand auch in einem großen Teil der mittelständischen Unternehmer aktive Gefolgschaft. Auf der anderen Seite befürworteten die exportorientierten neuen Wachstumsindustrien einen reformierten Kapitalismus. Während zwischen 1924 und 1928 die Investitionsintensität der Schwerindustrie bei 21,8% lag, erzielte die Kunstseidenindustrie 253,3%, die chemische Industrie 49,7% und die elektrotechnische Industrie 42,1 %. Die Wachstumsindustrien waren also in der Lage, hohe Löhne und ein zunehmend dichteres Sozialsystem durch technische Innovationen und eine aktive Absatzpolitik auf dem Weltmarkt ökonomisch besser zu verkraften. Ihr Einfluß nahm auch in der Führung des RDI insbesondere nach der Wahl Duisbergs zum Präsidenten beachtlich zu; dies führte im Zeichen der konjunkturellen Erholung des Jahres 1926 zu einem Kurswechsel des Reichsverbandes, der im September dieses Jahres durch eine Rede des stellvertretenden Vorsitzenden Silverberg 124 der Öffentlichkeit bekannt wurde. Mit seiner eindeutigen Stellungnahme für eine Wiederbelebung des Geistes der ZAG und für die Einbindung der SPD in die Regierungsverantwortung appellierte Silverberg dabei an eine Aussöhnung der Unternehmer mit der parlamentarischen Demokratie. Dieser Neuorientierung des politischen Kurses des Reichsverbandes folgte jedoch keine neue Phase der Zusammenarbeit zwischen Industrie und Gewerkschaften. Der Führung des RDI gelang es nicht, eine feste Front von Unternehmern aus den Wachstumsindustrien zu schließen, die die vehemente Feindschaft der stagnierenden Industriesektoren gegenüber den Gewerkschaften und der SPD hätte überwinden können. Unter der Regierung der Großen Koalition von Müller verfolgte die Führung der Schwerindustrie bewußt eine Strategie des offenen Konflikts mit Arbeiterschaft und Weimarer Staat, wie der Verlauf des "Ruhreisenstreits" zeigte. Nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise ging das gesamte Unternehmerlager relativ geschlossen in die Offensive gegen die Große Koalition. Unter dem Präsidialregime entstanden dann wieder Meinungsunterschiede über das Ziel und den Weg der Neuorientierung. Streitig waren dabei die Fragen einer parlamentarischen Absicherung der Regierung Brüning durch eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten, der Spielräume für eine neue Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, der weiteren Unterstützung von Brünings Politik, der Beurteilung der NSDAP - auch im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Aufnahme in eine rechte Koalitionsregierung - und schließlich der Einschätzung des Kurses von Schleicher. Der schwerindustrielle Flügel trat unter kategorischer 124 Silverberg war ein bedeutender rheinischer Braunkohlproduzent und als DVP-Mitglied Anhänger Stresemanns (Blaich, aaO., S.l71).

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Ablehnung jeder Zusammenarbeit mit der Arbeiterschaft für eine grundlegende Umstruktierung der Politik ein: eine vom Parlament unabhängige Präsidialdiktatur nach Art.48 WV bzw. eine Neuorientierung von Staat und Wirtschaft nach dem Muster der ständischen Ordnung. Für dieses Ziel wurde auch eine Annährung an die NSDAP nicht ausgeschlossen, obwohl die aktive Unterstützung der NSDAP sowie der Kanzlerschaft Hitlers auf einen kleinen Teil der Schwerindustriellen eingeschränkt blieb. Hingegen vertrat die Führung des RDI, in der zu dieser Zeit die Wachstumsindustrien stärkeren Einfluß besaßen, einen gemäßigt autoritären Kurs, der allerdings ohne Rückendeckung durch die wichtigen Fach- und Regionalverbände nicht weiter verfolgt werden konnte. 2. Gewerkschaften Der Übergang in die Weimarer Republik brachte für die Gewerkschaften eine weitgehende Beteiligung am politischen System 125 • Das Verhalten der Gewerkschaften während der Revolution war indes zwiespältig. Während die Gewerkschaftsbasis an den Ereignissen im November 1918 aktiv beteiligt war, blieben die Gewerkschaftsführungen davon distanziert und wurden so durch die revolutionäre Welle in den Hintergrund gedrängt. In dieser politischen Bedrängnis bewahrten sie die Kontinuität ihrer reformistischen Politik und intensivierten die Kontakte zu den Unternehmern bis zum Abschluß des Stinnes-Legien-Abkommens. Dieses Abkommen bedeutete zusammen mit der Beseitigung der Restriktionen, die sich aus dem Belagerungszustand und dem Hilfsdienstgesetz ergeben hatten, und der Beschränkungen der Vereinsfreiheit durch den Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 126, daß die Gewerkschaften ihre vollständige Anerkennung durch den Staat und die Unternehmer erreichten und daß sie nunmehr in keinem Bereich der Politik auf Dauer ausgeschlossen werden konnten. Die drei Richtungsgewerkschaften nutzten diese Gelegenheit zur organisatorischen Erneuerung durch eine Zusammenfassung der Einzelverbände unter das Dach eines Bundes, ohne aber - anders als bei der Unternehmerschaft - einen einheitlichen Spitzenverband der gesamten Arbeiterschaft errichten zu können. Die Freien Gewerkschaften gründeten auf dem ersten Nachkriegskongreß in Nürnberg vom 30. Juni bis 5. Juli 1919 eine einheitliche Dachorganisation: den

115 Eine Gesamtdarstellung der Gewerkschaften in der Weimarer Republik bei: Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S.l36ff.; ders., Zwischen Machtanspruch und Integrationsbereitschaft Gewerkschaften und Politik 1918-1933; Schönlwven, Die deutschen Gewerkschaften, S.116ff. 126 Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd.3, Nr.7.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) 127 • Er trat an die Stelle der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, die bis dahin eine lockere Vereinigung der Einzelverbände repräsentiert hatte. Auf diesem Kongreß wurde auch die Politik der Generalkommission für den "Burgfrieden" im Krieg und für Arbeitsgemeinschaft mit der Unternehmerschaft in der Übergangsphase mit deutlicher Mehrheit bestätigt. Darüber hinaus vertrat die Führung der Freien Gewerkschaften die Position, daß eine Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik notwendig sei und daß deren soziale Grundlage im Sinne eines Interessenausgleichs mit der Unternehmerschaft befestigt werden müsse. Sie war nämlich der Meinung, daß der Sozialismus in der politischen Demokratie auf legalem Weg verwirklicht werden konnte. Die Gegner dieser Hauptströmung versammelten sich um den Deutschen Metallarbeiterverband (DMV), dessen kritische Haltung gegenüber der Führung zu seinem frühzeitigen Austritt aus der ZAG im November 1919 führte 128 • Anfang der 20er Jahre schloß der ADGB Kooperationsverträge mit den sozialdemokratisch orientierten Organisationen der Angestellten und Beamten: dem Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB) 129• Den Hintergrund dieser Entwicklung bildete die Linkswendung vieler Angestellter während des Krieges und der Revolution und die damit verbundene Erkenntnis, in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer den Arbeitern gleich zu stehen 130• Diese Zusammenarbeit wurde jedoch nicht weiter vertieft, weil sich das traditionelle Statusdenken der Angestellten und Beamten als letztlich doch nicht überwindbar erwies. Der revolutionäre Umbruch führte zunächst die Christlichen Gewerkschaften und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine zur Gründung eines nichtsozialistischen gemeinsamen Dachverbandes am 20. November 1918: des DeutschDemokratischen Gewerkschaftsbundes, der einige Monate später in Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) umbenannt wurde 131 • Da aber das gemeinsame Ziel lediglich in der Abwehr gegen die beiderseits unerwünschte Fortsetzung der Revolution lag, erwies sich die gemeinsame Existenzgrundlage schnell als zu schmal. Nachdem im November 1919 die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine diesen Dachverband verlassen hatten, blieben im DGB der Gesamtverband der

127 Über Organisation und Programmatik des ADGB bei: Potthoff, Freie Gewerkschaften 19181933, S.25ff., 152ff.; ders., Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, S.58ff., 102ff.; Wink/er, Von der Revolution zur Stabilisierung, S.275ff. 128 Potthoff, Freie Gewerkschaften, S.74; Schneider, Zwischen Machtanspruch und Integrationsbereitschft, S.l81; Wink/er, aaO., S.267ff. 129 Potthoff, aaO., S.26ff. 13 Kocka, Klassengesellschaft im Krieg 1914- 1918, S.71ff. 131 Schneider, Die christlichen Gewerkschaften: 1894-1933, S.486ff.

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B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Christlichen Gewerkschaften, der Gesamtverband deutscher Angestelltenverbände und - bis 1926 - der Gesamtverband deutscher Beamtengewerkschaften132 • Die Christlichen Gewerkschaften verstanden sich als Organisationen in der Volksgemeinschaft, die sich klassenübergreifend auf die "organische" Zusammensetzung der Stände stützen sollte. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine errichteten mit dem Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände auch einen eigenen Dachverband und verfolgten ihre sozialliberalen Vorstellungen weiter133 • Der Sturz des Obrigkeitsstaates führte die Gewerkschaften zur organisatorischen Entfaltung: Zwischen 1918 und 1920 wuchsen die Mitgliederzahlen der Freien Gewerkschaften von 1,5 auf über 8 Mill., die Mitgliederzahlen der Christlichen Gewerkschaften und der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine verdoppelten sich auf über 1,1 Mill. bzw. 225000. Werden die Mitglieder der anderen Gewerkschaften sowie der Angestellten- und Beamtenorganisationen mitgezählt, gab es 1920 insgesamt etwa 12,5 Mill. organisierte Arbeitnehmer 134 • Der Machtzuwachs der organisierten Arbeiterschaft konnte bei dem Kampf gegen den antirepublikanischen Putsch von Kapp und Lüttwitz zwischen dem 13. und 16. März 1920 unter Beweis gestellt werden. Die Putschisten scheiterten an dem größten Generalstreik in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte, an dem etwa 12 Mill. Arbeitnehmer teilnahmen 135 • Dieser Sieg der Gewerkschaften offenbarte jedoch auch ihre Überforderung im politischen System und zeigte die Grenzen ihrer Macht. Die ADGB-Führung mußte in der Tat die Verantwortung für den Schutz des Staates gegen die reaktionäre Revolte übernehmen. Die dafür verfügbare Kraft resultierte jedoch aus einem Zusammenschluß von Gruppen mit höchst unterschiedlichen Zielvorstellungen. Mit dem Zusammenbruch des Putsches traten die Gegensätze innerhalb der Streikfront dann auch schnell wieder ans Licht. Die Strategie der ADGB-Führung, mit diesem Sieg die politische Lage endgültig zugunsten der Arbeiterschaft zu wenden, fand keine Unterstützung durch die rechts und links von ihr stehenden Gruppen. Im Endergebnis wurde die bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung - mit einer starken Einbuße an Autorität - wiederhergestellt; die von der ADGBFührung gestellten Forderungen nach weiteren Reformen im Staatsapparat sowie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik blieben unerfüllt. Dies zeigt, daß die gewerkschaftliche Macht auch auf ihrem Höhepunkt lediglich für die Verteidigung der Weimarer Demokratie ausreichte, nicht aber für ihre weitere Konsolidierung und Fortentwicklung. Über Organisation und Programmatik des DGB bei: Schneider, aaO., S.465ff., 497ff. Schönhoven, aaO., S.131. 134 Über die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften bei: Potthoff, Freie Gewerkschaften, S.42ff.; ders., Gewerkschaften und Politik, S.40ff.; Schneider, aaO., S.366, S.452. m Potthoff, Gewerkschaften und Politik, S.261ff. 132 133

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Die Parität der Gewerkschaften und der Unternehmer, die in der Anfangsphase der Weimarer Republik erreicht worden war, verschob sich während der Hyperinflation und Währungsstabilisierung wieder rasch zuungunsten der Gewerkschaften. Bis Ende 1924 schrumpften die Mitgliederzahlen der drei Richtungsgewerkschaften fast auf die Hälfte des Standes von 1920. Nun nahmen die Gewerkschaften eine abwehrende Haltung gegenüber den Angriffen der Unternehmer in der Arbeitszeit- und Lohnfrage ein. Angesichts der Ungleichheit der realen Machtpositionen optierten sie, wenn auch nicht offenkundig, für eine staatliche Zwangsschlichtung. Der organisatorische Verfall der Gewerkschaften erreichte die Talsohle erst 1926, in der der ADGB nur noch 3,9 Mill., die Christlichen Gewerkschaften 531000 und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 163000 Mitglieder zählten. Allerdings konnten sich die Mitgliederzahlen der drei Richtungsgewerkschaften in den folgenden Jahren wieder erholen und 1929 immerhin 5,8 Mill. erreichen. Insgesamt bescherte die Zeit zwischen 1924 und 1929 auch den Gewerkschaften trotz der Schwächung ihrer Macht eine gewisse Konsolidierungsphase. Sie konnten sich, einigermaßen von der Politik entlassen, auf den eigenen Aufgabenhereich - die Stabilisierung der Gewerkschaftkassen, den organisatorischen Aufbau, die Bildungspolitik, die Pressearbeit u.a. - konzentrieren 136• In diese Entwicklung gingen freilich auch die Erfahrung der Gewerkschaften in den Krisenjahren während und nach der Hyperinflation ein, in denen sie den zu Beginn der 20er Jahre erzielten Mitgliederzuwachs besonders unter der weiblichen, jugendlichen, ungelernten und ländlichen Arbeiterschaft zum großen Teil wieder verloren. Trotz aller Bemühungen konnte die fortdauernde Problematik der gewerkschaftlichen Binnenstruktur nicht überwunden werden. Die Gewerkschaftstätigkeit blieb wie vor dem Krieg hauptsächlich Sache der männlichen erwachsenen Facharbeiter in den Großstädten 137 • Dazu kam ein neues Problem: Die Entstehung der strukturellen Arbeitslosigkeit durch Rationalisierung spaltete die Arbeiterschaft dauerhaft in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose 138 • Die relativ ruhige Phase in der Entwicklung der Gewerkschaften ging mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise schnell zu Ende 139• Der ADGB allein verlor zwischen 1929 und 1932 mehr als eine Mill. Mitglieder. Besonders stark betroffen waren dabei die Organisationen mit hohem Frauen- und UngelerntenPotthoff, Freie Gewerkschaften, S.63ff.; Schneider, aaO., S.458ff. Potthoff, aaO., S.46ff.; Schneider, aaO., S.435ff. 138 Schönhoven, aaO., S.l57. 139 Über die Lage der Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise bei: Jahn, Gewerkschaften in der Krise. Zur Politik des ADGB in der Ära der Präsidialkabinette 1930 bis 1933 ; Roder, Der christlich-nationale Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im politisch-ökonomischen Kräftefeld der Weimarer Republik, S.454ff.; Schneider, Die christlichen Gewerkschaften, S.688ff.; ders., Zwischen Machtanspruch und Integrationsbereitschaft, S.l91ff.; Schönhoven, aaO., S.l61ff. 136 137

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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anteil. Noch schlimmer war das Problem der Arbeitslosigkeit unter den Mitgliedern: 1932 hatten 44,2% der ADGB-Mitglieder keine Arbeit und 22,0% lediglich verkürzte Arbeie 40• Aus dieser Entwicklung ergab sich ein Rückgang der Beiträge, der wiederum die Kampffähigkeit der Gewerkschaften schwächte. Die Maßnahmen der Gewerkschaften gegen die Krise waren nicht sehr erfolgreich. Die 1930 geführten Gespräche der Spitzenverbände von Arbeit und Kapital für eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit blieben ohne Ergebnis. Zu diesem Zeitpunkt besaß die Gewerkschaftsführung keinen großen Spielraum: Die Unternehmerische Doppelstrategie von Kooperationsangeboten auf Spitzenebene und rigoroser Haltung in den Tarifauseinandersetzungen auf Betriebsebene erschwerte das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsführung und Basis; die ADGB-Führung mußte gegen die seit der Abspaltung der kommunistisch gesinnten Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) von 1929 gestärkten linksradikalen Mobilisierungskampagnen einen eigenen Kurs durchsetzen. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit fehlte es auf Seiten des ADGB nicht an Überlegungen, die auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gerichtet waren. In diesem Zusammenhang wurde auch der WTB-Plan entwickelt und zur Jahreswende 1931132 vorgelegt 141 • In diesem Plan wurde eine Belebung der deutschen Binnenwirtschaft durch öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorgeschlagen, die mit einem Finanzvolumen von zwei Milliarden Reichsmark eine Million Arbeitsplätze neu herstellen sollten. Er konnte sich jedoch auch in den eigenen Reihen nicht durchsetzen, da in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die programmatische Frage des Rangverhältnisses zwischen Sozialisierung und Arbeitsbeschaffung, also zwischen den Strategien der Systemänderung und der Systemstabilisierung noch nicht geklärt war. Demgegenüber rückte bei den Christlichen Gewerkschaften die Idee der ständischen Ordnung stark in den Vordergrund, wobei dies freilich nicht mit einer Abwendung von der Weimarer Republik verbunden war 142 • Während der Weltwirtschaftskrise schrumpfte die Kraft der organisierten Arbeiterbewegung insgesamt fast auf den Stand der Vorkriegszeit. So gerieten die Gewerkschaften in eine hoffnungslose Defensive gegenüber den konservativen Angriffen, die etwa in ihrer zurückhaltenden Reaktion auf den Preußenschlag der Papen-Regierung deutlich wurde.

Schönhoven, aaO., S.170. AaO., S. l73ff. 142 Schneider, Die christlichen Gewerkschaften, S.697ff.

140 141

7 Song

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

3. Agrarverbände

Der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft während der Kriegsjahre setzte sich auch in der Weimarer Republik fort 143 • In der parlamentarischen Demokratie spiegelten sich die wirtschaftlichen Interessen, die in organisierter Form miteinander konkurrierten, in den politischen Machtverhältnissen klarer als im Kaiserreich wider. Es war nun schwieriger, den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft in einer hochentwickelten Industriegesellschaft durch politische Mittel - durch ein Wahlsystem, das die überproportionale Vertretung der Agrarinteressen ermöglichte, durch die personelle Verbindung zwischen Großagrariern und hohen Beamten u.a. - auszugleichen. Auf der gesellschaftlichen Ebene wurde die Landwirtschaft von den alten Bündnispartnern isoliert: Für die Industrie lag das Schwergewicht bei der Kooperation mit den Gewerkschaften; um die Beziehung zum gewerblichen Mittelstand zu verbessern, mußten die grundlegenden Interessenkonflikte zwischen den Herstellern der Agrarprodukte auf dem Lande und ihren Konsumenten in den Städten gelöst werden. Die Lage der Landwirtschaft in der Weimarer Republik wurde darüber hinaus durch die organisatorische Spaltung der Agrarverbände erschwert144 • Der Landwirtschaft gelang es also nicht, aus der Zusammenarbeit der Agrarverbände in der Kriegswirtschaft unter dem Kriegsausschuß - seit November 1918: Reichsausschuß der deutschen Landwirtschaft - einen einheitlichen Dachverband zu errichten. Während des Krieges geriet der Bund der Landwirte (BdL) in eine schwierige Situation. Bei der Zusammenarbeit mit dem Staat für die Kriegsernährungswirtschaft verlor der BdL seinen Einfluß auf den kleinen und mittleren Grundbesitz, der von den Auswirkungen der Kriegsernährungswirtschaft stärker als der große Grundbesitz betroffen war. Diese Lücken wurden in der Umbruchphase von der Landbundbewegung gefüllt, die mit einer kaum übersehaubaren Vielfalt zuerst in Form lokaler Gruppierungen entstand und sich dann im Lauf des Jahres 1919 bis auf die Ebene der Einzelstaaten hinauf organisierte. Obwohl die Landbünde mit den überkommenen Agrarverbänden sowohl personelle Verbindungen als auch programmatische Gemeinsamkeiten besaßen, waren sie organisatorisch von ihnen unabhängig. Trotz der Bemühungen des BdL um eine Vereinigung errichteten die Landbünde im Juli 1919 eine eigene Dachorganisation, den Deutschen Landbund. Erst zur Jahreswende 1920/21 kam eine Fusion zwischen dem BdL und dem Deutschen Landbund in den Reichs-Landbund zustande, der allerdings lediglich einen lockeren Zusammenschluß der sehr verschiedenen Organisationen darstellte. Die dogmati'"3 Allgemein über die Lage der Landwirtschaft in der Weimarer Republik bei: Gessner, Agrarverbände in der Weimarer Republik, S.l3ff.; Ullmann, aaO., S.ll4f. 144 Über die Organisation der Agrarverbände bei: Flemming, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie, S.l69ff., 229ff.; Gessner, aaO., S.37ff.; Ullmann, aaO., S.l45ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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sehe Auffassung des BdL zu den Agrarinteressen überdauerte jedoch die organisatorische Umstrukturierung und blieb im Reichs-Landbund vorherrschend. Die Führung dieser Organisation bildeten ausschließlich die Großgrundbesitzer, unter denen die westelbischen Großagrarier gegenüber dem ungebrochenen Übergewicht der ostelbischen Junker ihre Stellung verbessern konnten. Neben dem Reichs-Landbund bestanden noch drei weitere Agrarverbände: Die Vereinigung der deutschen Bauemvereine, deren Schwerpunkt in den katholischen Gebieten lag; der Deutsche Bauembund, der 1909 mit Unterstützung der nationalliberalen Kräfte als Gegengewicht zum BdL gegründet worden war und bis 1927 existierte; der Bayerische Bauernbund (seit 1922: Bayerischer Bauemund Mittelstandbund), der sich 1927 mit der Errichtung der Deutschen Bauemsehaft auf die Reichsebene ausdehnte. Mit der organisatorischen Spaltung konnte die Landwirtschaft Anfang und Mitte der 20er Jahre ihre Interessen, die nach wie vor auf eine protektionistische Handelspolitik konzentriert waren, nicht erfolgreich durchsetzen. Die Krise der Landwirtschaft 1927/28 zwang aber die Agrarverbände, eine engere Zusammenarbeit anzustreben. So entstand 1929 die Grüne Front, die die wichtigsten Agrarverbände - den Reichs-Landbund, die Vereinigung der deutschen Bauemvereine, die Deutsche Bauemsehaft u.a. - unter einem wenn auch lockeren Dach zusammenfaßte 14s. In der Endphase der Weimarer Republik konnte die Landwirtschaft ihre Interessen gut durchsetzen 146• Die Präsidialkabinette waren einerseits vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig, der aktiv für die Agrarinteressen eintrat; andererseits erschien die Unterstützung der Agrarverbände aufgrundder fehlenden parlamentarischen Machtbasis nötiger als zuvor. Je erfolgreicher sich die zollpolitischen Forderungen der Landwirtschaft durchsetzten, desto größer wurde jedoch die Gefahr einer Isolierung der deutschen Wirtschaft im Weltmarkt und damit der Widerstand der Industrieverbände, die negative Auswirkungen auf den deutschen Export befürchteten. Um diesen Interessenkonflikt abzufangen, versuchte Brüning die Agrarkrise durch binnenwirtschaftliche Maßnahmen wie der Osthilfe zu überwinden. Da aber die dafür nötigen finanziellen Mittel in der Wirtschaftskrise sehr begrenzt waren, konnte die agrarfreundliche Politik der Präsidialkabinette die hohen Erwartungen der Landwirtschaft letztlich doch nicht erfüllen. So gewann innerhalb der Agrarverbände der Wunsch rasch die Oberhand, sich von der Weimarer Republik radikal zu verabschieden.

14s 146

Gessner, aaO., S.96ff. AaO., S.183ff.; Ullmann, aaO., S.l5lf.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

4. Mittelstandsverbände Wie die Landwirtschaft mußte auch der gewerbliche Mittelstand in der Weimarer Republik an Einfluß einbüßen 147 . Er geriet einerseits in soziale Isolation; andererseits waren die politischen Mittel, die im Obrigkeitsstaat den sozialen Bedeutungsverlust des Mittelstandes kompensiert hatten, in der parlamentarischen Demokratie nicht mehr effektiv. Der Mittelstand versuchte diese schwierige Lage dadurch zu überwinden, daß sich die Verbände von Handwerk und Einzelhandel jeweils zu einheitlichen Spitzenorganisationen zusammenschlossen148. Im Oktober 1919 wurde der Reichsverband des Deutschen Handwerks gegründet, der einen lockeren Dachverband der fünf verschiedenen Organisationen darstellte. Im Bereich des Einzelhandels verminderten sich die seit der Vorkriegszeit bestehenden Interessengegensätze zwischen Warenhäusern und Kleinhandel, so daß im Novermber 1918 - wenn auch in einer sehr lockeren Form - eine gemeinsame Dachorganisation, die Arbeitsgemeinschaft - seit 1919: Hauptgemeinschaft -, des Deutschen Einzelhandels errichtet werden konnte. Im Gegensatz zu dem relativ erfolgreichen Zentralisierungsvorgang innerhalb des gewerblichen Mittelstandes blieben - im Vergleich mit dem Kartell der schaffenden Stände sowie dem Hansa-Bund im Kaiserreich - die integralen Mittelstandsverbände in der Weimarer Republik ohne große Bedeutung. Verantwortlich hierfür war zum einen die soziale Isolation des Mittelstandes, die eine Zusammenarbeit mit Industrie- und Agrarverbände erschwerte, und zum anderen das Bestehen eigener lnteressenparteien, die die integralen Mittelstandsverbände überflüssig machten. Daß in der parlamentarischen Demokratie der gewerbliche Mittelstand seine Forderungen gegenüber Regierung, Parteien und konkurrierenden Interessen weit schwerer als im Kaiserreich durchsetzen konnte, zeigte sich vor allem, als die Reichshandwerksordnung, durch die das Handwerk sein langjähriges Ziel verwirklichen wollte, eine umfassende Pflichtorganisation gesetzlich zu verankern, an den Widerständen der Gewerkschaften sowie der Unternehmer- und Agrarverbände scheiterte 149. Die Folgen waren eine wachsende Kritik des Mittelstandes an der parlamentarischen Demokratie und seine Hinwendung zu einem autoritären Staat mit korporativer Binnenstruktur. Tatsächlich war der gewerbliche Mittelstand in der Weimarer Republik aber gar nicht unverhältnismäßig benachteiligt. Die "Panik des Mittelstandes" war eher die Folge einer

147 Über die Lage des gewerblichen Mittelstandes in der Weimarer Republik allgemein bei: Wink/er, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, S.26ff. 148 Über die Organisation der mittelständischen Verbände bei: Wink/er, aaO., S.84ff., S.lOOff.; UllmLlnn, aaO., S.l55ff. 149 Wink/er, aaO., S.93ff.; VllfTILlnn, aaO., S.l59ff.

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Situation, in der er sich gegenüber den mächtigen Interessengruppen ohne den gewohnten staatlichen Schutz alleingelassen fand 150• Der Übergang in das Präsidialregime bedeutete für den gewerblichen Mittelstand eine neue Situation 151 • Die größere Unabhängigkeit der Regierung ermöglichte die Wiederaufnahme der sozialprotektionistischen Mittelstandspolitik des Kaiserreichs. Allerdings konnten die mittelstandsfreundlichen Maßnahmen der Präsidialkabinette die rasche Radikalisierung des Mittelstandes nicht bremsen. Anzeichen einer politischen Radikalisierung im gewerblichen Mittelstand waren bereits vor der Weltwirtschaftskrise erkennbar, als sich das Landhandwerk an dem Bauernprotest beteiligte. Unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise übersprang diese Radikalisierung die Grenze zwischen Stadt und Land. Damit lehnten immer größere Teile des Mittelstandes die Weimarer Republik ab und gingen ins nationalsozialistische Lager über.

5. Struktur- und Funktionswandel der Verbände Auf Grund der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Kriegsund Nachkriegsjahre erlebte das Verbandssystem qualitative und quantitative Veränderungen. Die explosive Gründungswelle der Verbände während der Kriegsjahre, die durch die Ausweitung der staatlichen Wirtschaftslenkung verursacht worden war, überdauerte den Wechsel in die Weimarer Republik. Neben der Erweiterung der Interventionspolitik des Weimarer Staates stellte die Zentralisierung des Entscheidungsprozesses auf Reichsebene einen neuen Impuls für die Verbandsgründung dar. Von den Reichsverbänden, die im Jahre 1930 bestanden und deren Entstehungsjahr sich ermitteln ließ, waren 23% in der Kriegs- und 38% in der Nachkriegszeit entstanden, davon knapp die Hälfte allein in den Jahren 1919 und 1920152 • Mit der Zunahme der Mitgliederzahlen sowie dem wachsenden Organisationsgrad während der Weimarer Republik wuchs den Verbänden größere Bedeutung im politischen System zu. Die organisatorische Entwicklung der Verbände in der Weimarer Republik war durch eine stärkere Zentralisierung gekennzeichnet. Alle Interessen versuchten, sich in einheitlichen Spitzenverbänden, also in den "Verbänden der Verbände", zusammenzuschließen. Am erfolgreichsten war dabei die Unternehmerschaft. Den Gewerkschaften gelang es nicht, die überkommenen Unterschiede organisatorisch zu überwinden, während sich in den jeweiligen Richtungs-

Wink/er, aaO., S.35. Zum gewerbliche Mittelstand in der Endphase der Weimarer Republik bei: Wink/er, aaO., S.I40ff. 152 Ullmann, aaO., S.174. 150

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

gewerkschaften das Spitzenverbandprinzip weitgehend festigte. Die Landwirtschaft und der gewerbliche Mittelstand konnten zwar friiher oder später eigene Spitzenverbände errichten; diese blieben jedoch sehr lockere Organisationen. Als Einflußadressaten der Verbände gewannen in der parlamentarischen Demokratie Parlament und politische Parteien viel größeres Gewicht als in der konstitutionellen Monarchie. Dies änderte jedoch nichts daran, daß die hohe Ministerialbürokratie ein wichtiger Ansprechpartner bliebm. Im Hinblick auf den Machtzuwachs der Exekutive und die Schwäche des Parteiensystems wurde die Beziehung zwischen Ministerialbürokratie und Verbänden, die sich im Kaiserreich gebildet und im Krieg vertieft hatte, weiter intensiviert. Dabei spielten das Mißtrauen gegenüber der Parteipolitik und die "Ideologie der Sachlichkeit" in konservativen Kreisen eine große Rolle. Auf Grund des Einflußrückgangs von Parlament und politischen Parteien unter den Präsidialkabinetten gewann neben den verstärkten Kontakten zur Ministerialbürokratie neuerdings der direkte Zugang zu dem Reichspräsidenten und seiner Umgebung an Gewicht. Die Beziehung zwischen Verbänden und Ministerialbürokratie wurde teilweise so eng, daß ein Ministerium als Anwalt bestimmter Interessen handelt~. Ein typisches Beispiel dafür war das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft154• Seit der Krise der Landwirtschaft 1927/28 kam dieses Ministerium, unabhängig von dem Regierungswechsel, den Forderungen der Agrarverbände weitgehend entgegen. Für die Unternehmerschaft blieb die Exekutive trotz des Bedeutungszuwachses von Parlament und politischen Parteien in der Weimarer Republik der wichtigste Adressat der InteressenvertretungiSS. Der RDI unterhielt enge Kontakte mit der Ministerialbürokratie, besonders zum Reichswirtschaftsministerium, zum Reichsfinanzministerium und zum Auswärtigen Amt. Diese Beziehung intensivierte sich in den Jahren der bürgerlichen Kabinette und insbesondere der Präsidialregierungen. Vor allem spielten dabei personelle Verbindungen eine große Rolle. Sie wurden unter anderen dadurch gepflegt, daß die Beamten aus der hohen Reichsbürokratie als geschäftsführende Präsidialmitglieder des RDI gewonnen wurden. Nachdem den Gewerkschaften die Interessenvermittlung gegenüber der Regierung und der Ministerialbürokratie möglich geworden war, legten sie besonderes Augenmerk auf das Reichsarbeitsministerium; hingegen wurden trotz dessen großer Bedeutung für die Gewerkschaften kaum Kontakte zum Reichswirtschaftsministerium hergestellt156• Während der Präsidialregierung mußten die Gewerkschaften im Vergleich zu den

AaO., S.l79f. AaO., S.l51. ~~~ Blaich, aaO., S.l68f.; Ullmann, aaO., S.l38ff. 1 ~ Potthoff, Freie Gewerkschaften. S.267ff.

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anderen wirtschaftlichen Interessen starke Benachteiligungen hinnehmen, obwohl sie sich angesichts des Bedeutungsverlustes von Parlament und politischen Parteien für einen besseren Zugang zur Regierung einsetzten. Die Zunahme ihrer Bedeutung und ihres Einflusses erlaubte den Verbänden nicht, weiterhin in ihrer zwar staatsbezogenen, letztlich aber doch immer außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegenden Position zu verbleiben. Die Beziehung zwischen Staat und Verbänden wurde in der Weimarer Republik in großem Maße wechselseitig: die Verbände wurden stärker in die politische Entscheidung und Konsensbildung einbezogen als im Kaiserreich. Diese Entwicklung spiegelte sich vor allem in der weitgehenden Institutionalisierung der Einflußwege zur Verwaltung wider 157 • Das Verbandssystem in der Weimarer Republik war im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern äußerst modern 158 • In seiner hochkomplizierten Struktur können mit Hilfe der Typologie Philippe C. Schmitters drei Hauptströmungen unterschieden werden: die staatskorporative, die gesellschaftskorporative und die pluralistische Variante. Dem staatskorporativen Element kam in der Anfangs- und Endphase der Weimarer Republik eine starke Bedeutung zu. Während es sich in der Anfangsphase in einem mit der Erfahrung der Kriegswirtschaft verknüpften Rätekonzept darstellte und zur Demokratisierung der Industriegesellschaft "von unten" beitrug, lag sein Schwerpunkt in der Endphase bei konservativ-autoritären Ständemodellen, die gegen die sozialen und politischen Errungenschaften der Weimarer Demokratie gerichtet waren. Das gesellschaftskorporative Element fand sodann in dem Stinnes-LegienAbkommen und seinen Wiederbelebungsversuchen Ausdruck. Schließlich waren nicht wenige Teile des Verbandssystems in vielfaltigen und kaum überschaubaren Formen pluralistisch strukturiert. 111. Die Beziehung zwischen politischen Parteien und Verbänden

Die parlamentarische Demokratie bildete eine neue Ausgangsbasis für das Verhältnis zwischen politischen Parteien und Verbänden. Für die Verbände nahm das Gewicht des Reichstags und der politischen Parteien als Adressaten der Einflußnahme deutlich zu.

Siehe dazu unten 3. Kap. B. IV. Über die Struktur des Verbandsystems in der Weimarer Republik bei: Abelshauser, Korporalismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S.169f.; Nocken, Korporalistische Theorien und Strukturen in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, S.31ff.; Ullmann, aaO., S.l82. 1' 7 158

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Dies galt auch für die Unternehmerschaft 159 • Die unmittelbare Tätigkeit der Unternehmer in der Parteipolitik erwies sich jedoch nicht als ein erfolgreiches Mittel, obwohl einige Großindustrielle als Mitglieder der bürgerlichen Parteien im Reichstag saßen. Eine solche Offenlegung der Verbindung industrieller Interessen mit den bürgerlichen Parteien bildete einen willkommenen Ansatzpunkt für die Kritik der politischen Linken und schwächte die Anziehungskraft bei den Wählermassen. Als effektiver erwies sich vielmehr die finanzielle Unterstützung. Mit Geldspenden an die nichtsozialistischen Parteien versuchte die Industrie, die Bildung industriefreundlicher Gruppen in diesen Parteien zu begünstigen und dadurch ihre Interessen indirekt im Parlament vertreten zu lassen. So konnten die Unternehmer, während sie in der Öffentlichkeit den Eindruck parteipolitischer Neutralität zu erwecken suchten, hinter den Kulissen auf die politischen Parteien Einfluß nehmen. Es ist z.B. bekannt, daß der schwerindustrielle Flügel der DVP an dem Kurswechsel der Partei aktiv beteiligt war, der zum Ende der letzten parlamentarischen Koalitionsregierung im März 1930 führte 160• Die Kontakte der Unternehmer zur nationalsozialistischen Bewegung waren im Vergleich mit ihrer Beziehung zu den bürgerlichen politischen Kräften gering. Da für den überwiegenden Teil der Unternehmer die Machtergreifung Hitlers kein erstrebenswertes Ziel darstellte, nahm lediglich ein kleiner Teil der Unternehmer direkte Kontakte zur NS-Bewegung durch finanzielle Unterstützung oder personelle Verbindungen auf. Die Frage der Verantwortung der Unternehmer für den Untergang der Weimarer Demokratie ist damit allerdings noch nicht erschöpfend abgehandelt. Der auch in den 20er Jahren nicht unterbrochene Kampf der Schwerindustrie gegen das soziale und politische System der Weimarer Republik führte nicht wenige Teile der Industrie, vor allem mittlere und kleine Unternehmen, in die Radikalisierung nach rechts und unterhöhlte die Stabilitätsgrundlagen der parlamentarische Demokratie; in der Krisensituation der Endphase entfernte sich fast das gesamte Unternehmerlager von der parlamentarischen Demokratie und trat für ein neues autoritäres System ein. Dadurch trieb die Unternehmerschaft die Auflösung der Weimarer Republik voran und erleichterte der NSDAP den Weg zur Macht 161 • In der parlamentarischen Demokratie erweiterten sich die Mitwirkungsmöglichkeiten der Gewerkschaften. Nun war auch für Gewerkschaftler der Zugang zur Regierung eröffnet. Darüber hinaus ließ es die labile politische Lage in der Weimarer Republik nicht zu, daß die Gewerkschaften sich darauf beschränkten, Blaich, aaO., S.l66ff.; VI/mann, aaO., S.l39f. lohn, Zur politischen Rolle der Großindustrie in der Weimarer Staatskrise, S.222. 16 1 Über die Beziehung zwischen Unternehmerschaft und NS-Bewegung sowie ihre Bedeutung bei: lohn, aaO.; Turner, 'Alliance of Elites' as a Cause of Weimar's Collapse and Hilter's Triumph?; Kolb, aaO., S.213ff. m.w.N. 1 ~9

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B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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den Trägern der politischen Entscheidungen ihre Interessen zu vermitteln. Sie wurden vielmehr eng in die Gesamtverantwortung des politischen Systems eingebunden, die sie dann jedoch nicht auf Dauer tragen konnten. Was das Verhältnis von politischen Parteien und Gewerkschaften angeht, führte der Übergang in die Weimarer Republik nicht zu wesentlich neuen Entwicklungen. Auffällig ist jedoch, daß die Gewerkschaften - ihrer gehobenen Stellung im politischen System und ihrer Interessenlage entsprechend - gegenüber den politischen Parteien eigenständigere Position bezogen. Das verstärkte Selbstbewußtsein der Freien Gewerkschaften spiegelte sich in dem Beschluß zur Neutralität gegenüber den politischen Parteien auf dem Nürnberger Kongreß wider, der das 1906 von SPD und Freien Gewerkschaften geschlossene Mannbeimer Abkommen aufhob 162 . Auch der gemeinsame Wille der verschiedenen Flügel in den Freien Gewerkschaften, angesichts der Spaltung der parteipolitischen Vertretung der Arbeiterschaft die Einheit zu bewahren, spielte dabei eine große Rolle. Nach der Vereinigung von MSPD und Rest-USPD bildete für große Teile der Freien Gewerkschaften die parteipolitische Orientierung in Wirklichkeit kein Problem mehr. Hingegen standen die linken Konkurrenten des ADGB - anarcho-syndikalistische Arbeiterunionen in der Anfangsphase und die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) in der Endphase der Weimarer Republik - der KPD nah 163 . Die Christlichen Gewerkschaften verfügten demgegenüber über Verbindungen zum gesamten Spektrum der bürgerlichen Parteien 164• Während das Schwergewicht der katholisch geprägten Gewerkschaften dabei bei der Zentrumspartei lag, waren die evangelischen Verbände stärker mit der DVP und DNVP verbunden. Die Initiative von Stegerwald 1920, eine gewerkschaftliche Mittelpartei zu gründen, kam vor diesem Hintergrund zustande 165• Das Projekt scheiterte jedoch an den überkommenen Bindungen der katholischen Arbeitnehmerschaft zum Zentrum. Die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine sahen zuerst in der DDP den wichtigsten parteipolitischen Gesprächspartner, fanden jedoch nach dem Untergang der liberalen Parteien keine politische Heimat mehr166• In der Endphase der Weimarer Republik versuchten die Gewerkschaften zwar, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, sich gegen die autoritäre Wende zu

162 Über das Verhältnis zwischen Freien Gewerkschaften und politischen Parteien bei: Potthoff, Freie Gewerkschaften, S.217ff.; ders., Gewerkschaften und Politik, S.352ff., S.374ff. 163 Deppe/Roßnuum, Kommunistische Gewerkschaftspolitik in der Weimarer Republik. 164 Über die Beziehung zwischen Christlichen Gewerkschaften und politischen Parteien bei: Schneider, Die christlichen Gewerkschaften, S.622ff.; Roder, aaO., S.312ff. 16s Schneider, aaO., S.636ff. 166 Roder, aaO., S.317ff.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

wehren 167• Sie waren jedoch schon zu sehr geschwächt, als daß sie dabei hätten Erfolg haben können. Die Freien Gewerkschaften mußten nach der Septemberwahl 1930 die Politik der Brüning-Regierung tolerieren, um einen weiteren Vormarsch der Nationalsozialisten zu verhindern; die Christlichen Gewerkschaften begrüßten demgegenüber die Ernennung des früheren Geschäftsführers zum Reichskanzler und blieben bis zu seinem Sturz loyal. Gegen das "Kabinett der nationalen Konzentration" von Papen bildeten die drei Richtungsgewerkschaften eine einheitliche Gegenposition. Die Reaktionen der drei Richtungsgewerkschaften auf die NS-Bewegung waren bis zu ihrer Machtergreifung durchaus kritisch, obwohl die Christlichen Gewerkschaften wegen des nationalsozialistisch orientierten Mitgliedverbandes, des Deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverbandes (DHV) 168 , Schwierigkeiten hatten, eine geschlossene Abwehr zu formieren. Trotz dieser Ablehnung blieb das Anwachsen der NS-Bewegung nicht ohne Wirkung. Angesichts der Ohnmacht der überkommenen Parteien, insbesondere nach der Juliwahl 1932, entstand in den Gewerkschaften der Gedanke, sich von den traditionellen Bündnissen mit den politischen Parteien zu distanzieren und sich - entsprechend dem "Querfront"-Konzept Schleichers nach rechts zu öffnen. Nach der Machtergreifung der NSDAP zeigten die Gewerkschaften darüber hinaus Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung, was allerdings mit der Zwangsauflösung der Freien Gewerkschaften und der "freiwilligen" Auflösung der anderen Gewerkschaften beantwortet wurde. Für die Bündnisverhältnisse der Agrarverbände mit den politischen Parteien bedeutete der Übergang in die parlamentarische Demokratie keine allzu tiefe Zäsur169• Die Sozialdemokraten fanden in der Landwirtschaft - von den Landarbeitergewerkschaften abgesehen - keine neue Unterstützung. Große Teile der Agrarverbände sahen weiterhin in den mittleren und konservativen Parteien ihren politischen Stützpunkt. In der Umbruchphase lockerten sich die traditionellen Verbindungen von politischen Parteien und Agrarverbänden vorübergehend. Die Spannungen zwischen der DNVP und dem BdL, der auch seinerseits an Einfluß auf die Landwirtschaft einbüßte, brachten der DNVP im Jahr 1919 eine Wahlniederlage. Die katholischen Bauernvereine, in deren Führung der antiparlamentarisch gesinnte katholische Adel stand, griffen das Zentrum wegen seiner Linksorientierung an. Diese Spannungen führten aber, abgesehen von der Bayerischen Volkspartei, nicht zu einer Spaltung der Partei. Im allgemeinen bildeten die Agrarinteressen die konservativen Rechtsflügel in den mittleren und konservativen Parteien.

167 Über politische Verhalten der Gewerkschaften in der Endphase der Weimarer Republik bei: Jahn, aaO.; Potthoff, Freie Gewerkschaften, S.230ff.; Schneider, aaO., S.736ff. 168 Näheres darüber bei: Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. 169 Über die Beziehung zwischen Agrarverbänden und politischen Parteien bei: Gessner, aaO., S.28ff.; Schumacher, Land und Politik, S.317ff.

B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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Bei den Wahlerfolgen der DNVP von 1920 und 1924 spielte die Unterstützung des BdL bzw. des Reichs-Landbundes eine große Rolle. Der Agrarflügel, der jedoch bis dahin eine starke Minderheit in der Partei stellte, gewann unter der Führung des Grafen Westarp langsam die Oberhand. Dies führte dazu, daß die DNVP zeitweise ihre Systemoppositionsrolle milderte und sich zum praktischen Einsatz für die Agrarinteressen bereit zeigte. Als Folge dieser Entwicklung verlor aber die DNVP die inzwischen gewonnene nichtagrarische mittelständische Wählerschaft an die Splitterparteien, wie das Wahlergebnis von 1928 zeigt. Im Zentrum wurde seit 1918 der Agrarflügel durch den Vormarsch des Christlichen Gewerkschaftsflügels unter Stegerwald sowie des Katholischen Volksvereins unter Führung des Geistlichen Brauns deutlich geschwächt. Trotz der daraus folgenden Spannungen blieb das Verhältnis zwischen Zentrum und Bauernvereinen im wesentlichen intakt. Der liberal geprägte Deutsche Bauembund stand zuerst der DDP, dann der DVP nahe. In der Grünen Front gab es Richtungsstreitigkeiten darüber, ob die Landwirtschaft kompromißlos gegen den Weimarer Staat kämpfen oder - freilich ohne das System anzuerkennen - in beschränktem Umfang mit ihm zusammenarbeiten sollte. Dieser Streit rückte durch die Radikalisierung des Reichs-Landbundes, in dem 1930 die Anhänger des radikalen Oppositionskurses um Hugenberg gegen den gemäßigten Flügel um Graf Westarp, Mactin Schiele u.a. einen endgültigen Sieg erzielten, rasch in den Vordergrund170• Der Reichs-Landbund stellte sich fortan entschieden der Regierung Brüning entgegen, beteiligte sich an der Harzburger Front, nahm bereits Ende 1931 einen Nationalsozialisten in das Präsidium auf und trat im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl für Hitler ein. Diese Entwicklung des Reichs-Landbundes verschärfte die Spannungen innerhalb der Grünen Front. Die Deutsche Bauernschaft trat bereits 1930 aus. Die Vereinigung der deutschen Bauernvereine ging den Weg in die Nationalopposition nicht mit, obwohl eine deutliche Radikalisierung in den rheinischen und westfälischen Bauernvereinen zu erkennen war. Insgesamt gesehen bildeten die Agrarverbände in der Weimarer Republik eine der Hauptstützen der konservativen Gegner der parlamentarischen Demokratie; relativ früh ging ein großer Teil von ihnen in das Lager der radikalen Opposition über.

170 Über die politische Radikalisierung der Landwirtschaft bei: Gessner, aaO., S.219ff.; Ullmmm, aaO., S.l52f. Vgl. auch Zollitsch, Adel und adlige Machteliten in der Endphase der Weimarer Republik. Standespolitik und agrarische Interessen.

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2. Kap. Parteien und Verbände in der Weimarer Republik

Im gewerblichen Mittelstand konnten die sozialistischen Parteien in der Weimarer Republik weiterhin kaum Fuß fassenm . Die Konkurrenz um seine Stimmen blieb im Grunde genommen eine Angelegenheit der bürgerlichen Parteien. Während dabei der Mittelstand in katholischen Gebieten relativ konstant dem Zentrum seine Treue bewies, war im evangelischen Mittelstand eine Wählerbewegung deutlich erkennbar. Die mittelständischen Stimmen, die zu Beginn der Weimarer Republik hauptsächlich die DDP unterstützt hatten, wanderten zunächst über die DVP (1920) zur DNVP (1924). Dann stärkten sie vorübergehend die Splitterparteien und landeten schließlich bei der NSDAP. Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewann die NSDAP mit hohem Tempo an Attraktivität unter der mittelständischen Wählerschaft172• Sie konnte sich im Kleinhandel, der weniger traditionsbewußt als das Handwerk war, leichter festigen. Dabei wurden die Gegensätze zwischen Groß- und Kleinbetrieben, die mit dem Antisemitismus amalgamierten Ressentiments des Kleinhandels gegen die Warenhäuser, geschickt ausgenutzt. Diese Entwicklung spiegelte sich auch auf der Verbändeebene wider. Nach langen innerverbandliehen Auseinandersetzungen verließen die Organisationen der Großbetriebe im Herbst 1932 den Dachverband, die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels; zugleich trat der langjährige jüdische Vorsitzende Heinrich Grünfeld zurück. Der Übergang des Handwerks ins nationalsozialistische Lager fand, ähnlich wie in der Landwirtschaft und dem Einzelhandel, zuerst auf der lokalen und regionalen Ebene statt. Eine führende Rolle spielten dabei die Handwerkerverbände im nördlichen Gebiet der Republik. Angesichts des wachsenden Drucks von unten und auch von außen, der eine Wahl zwischen Anpassung und Auseinanderbrechen der Handwerkerorganisationen erzwang, beugte sich die Führung des Reichsverbandes des Deutschen Handwerks schrittweise den nationalsozialistischen Forderungen. Aufs Ganze gesehen stellte das Verhältnis zwischen politischen Parteien und Verbänden eine erhebliche Schwachstelle der Weimarer parlamentarischen Demokratie dar 173• Die politischen Parteien, die lange Zeit die Rolle des Gegenspielers des Obrigkeitsstaates gewohnt waren, hatten ohnehin Schwierigkeiten, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, die nicht nur die Vertretung der verschiedenen Interessen in der Gesellschaft, sondern auch ihren Ausgleich nach einem übergreifenden politischen Konzept forderte. Die politischen Parteien taten sich noch schwerer, wenn die gesellschaftlichen Interessen in den außerordentlich entwickelten Verbänden, die ihrerseits massiven Einfluß auf die Das Verhältnis von Mittelstand und politischen Parteien bei: Wink/er, aaO., S.121ff. Über die Beziehung des gewerblichen Mittelstandes zur NSDAP bei: Wink/er, aaO., S. 157ff.; Ullmann, aaO., S.161ff. 173 Bracher, aaO., S.86; Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus, S.219f.; Stürmer, aaO., S.246ff.; Ullmann, aaO., S.I78f. 171

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B. Entwicklung der Parteien und Verbände

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politischen Entscheidungsprozesse ausübten, organisiert waren. Den systemtragenden Parteien der Weimarer Republik gelangestrotz durchaus vorhandener Bemühungen nicht, sich den Anforderungen eines demokratischen Staates in einer hoch organisierten Industriegesellschaft entsprechend umzustrukturieren. Vor diesem Hintergrund wurde oft nicht innerhalb der politischen Parteien, sondern unter den Verbänden ein Interessenausgleich gefunden, der dann gegen die politischen Parteien durchgesetzt wurde; nicht selten trafen sich auch die gegensätzlichen Interessen ohne jede ausgleichende Vermittlung in Parlament und in Koalitionsregierungen. In der Endphase der Weimarer Republik senkte sich die Waagschale weiter zugunsten der Verbände. Dabei wurde aber gleichzeitig die Machtgrenze der Verbände deutlich. Sie waren von ihrem Wesen her weder in der Lage, die politischen Parteien zu ersetzen, noch fähig, die krisenbedingt verstärkten Interessenkonflikte selbst zu lösen 174• Die gegensätzlichen Interessen drängten ohne genügende Kanalisation in die Regierung, die freilich nicht alle Seiten zufriedenstellen konnte. So wandten sie sich zum Schluß enttäuscht der Straße zu, wo die Propaganda der radikalen Kräfte vorherrschte. In dieser Lage waren nicht nur die Regierung, sondern auch das Verbandssystem selbst überfordert. Immer mehr Verbände litten unter den radikalisierten Forderungen der Basis und den damit verbundenen innerverbandliehen Gegensätzen und verloren damit allmählich die Kontrolle über die eigenen Organisationen. Die der Krise der politischen Parteien zu verdankende Blüte der Verbände kann also zugleich auch als ein Krisensymptom des Verbandswesens in der Weimarer Republik verstanden werden. In dieser Situation gelang es der NS-Bewegung, über die herkömmlichen Grenzen hinweg verschiedene Teile der Bevölkerung an sich zu binden und sich damit zu einer neuen organisatorischen Form zu entwickeln. Ihr programmatisches Ziel war allerdings weit davon entfernt, die freien Organisationen der Gesellschaft zu schützen und zu fördern.

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Siehe dazu Einleitung A.

3. Kapitel

Politische Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik A. Politische Parteien Das Parlament bildete schon im Kaiserreich- im Unterschied zur Vorstellung der klassisch-liberalen Parlamentarismuslehre - keinen Ort der offenen, auf Wahrheitstindung abzielenden Diskussion, die- wenn überhaupt- nur innerhalb einer relativ homogenen bürgerlichen Gesellschaft vorstellbar wäre, sondern einen Ort, in dem die in politischen Parteien organisierten Meinungen und Interessen aufeinander trafen. Wenn sich die Weimarer Verfassung für die parlamentarische Demokratie entschied, so war die Existenz der politischen Parteien dabei also von vornherein vorausgesetzt. Ebenso war damit vorausgesetzt, daß die politischen Parteien über ihre Tätigkeit im Parlament und die Bildung der nun von dessen Vertrauen abhängigen Regierung hinaus in allen Bereichen der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken würden 1• I. Das Schweigen der Weimarer Verfassung zu den politischen Parteien und sein Hintergrund

Diese Lage spiegelte sich aber im Text der Weimarer Verfassung nicht wider: In den Regelungen, in denen die politischen Parteien hätten erwähnt werden können2, tauchten sie nicht auf, sondern wurden ein einziges Mal und an einer eigentlich überraschenden Stelle, nämlich in Art.l30 Abs.l in Bezug auf das Beamtenrecht erwähnt. Daraus ergibt sich, daß die Weimarer Verfassung im Grunde genommen zu den politischen Parteien schwieg. Unter den Länderverfassungen erwähnte hingegen die thüringische Verfassung die politische Partei1 Die Weimarer Praxis zeigt, daß die politischen Parteien auch dort, wo - als Gegengewicht zum parteipolitisch beherrschten Parlament -ein plebiszitär-demokratisches Element in die Verfassung eingeführt wurde (Reichspräsidentenwahlen oder Volksbegehren), eine zentrale Rolle spielten. 2 Drei mögliche Stellen der Weimarer Verfassung flir die Erwähnung der politischen Parteien könntennach Radbruch genannt werden: wo von dem Ursprung aller Staatsgewalt, von der Stellung der gewählten Abgeordneten und von Regierung die Rede ist (Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, S.288f.).

A. Politische Parteien

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en, indem sie in Art.6 Abs.2 Satz 2 feststellte: "Jede Partei oder Wählergruppe erhält auf je 15000 der für ihren Vorschlag abgegebenen Stimmen einen Abgeordneten"3. Die politischen Parteien wurden freilich von den Vätern der Weimarer Verfassung keineswegs bekämpft, vielmehr durchaus positiv gesehen. Für Hugo Preuß\ der als linksliberaler Vertreter der Genossenschaftslehre Gierkes bereits im Kaiserreich mit pluralistischen Ansätzen scharfe Kritik am Obrigkeitsstaat geübt hatte, war die Bedeutung der politischen Parteien im modernen Staatsleben nicht zweifelhaft. In den Verfassungsberatungen der Nationalversammlung verteidigte er entschieden die selbstverständliche Notwendigkeit der Parteienherrschaft in der parlamentarischen Demokratie gegen die obrigkeitsstaatliche Kritik von DVP und DNVp5. Diesen Standpunkt wiederholte er später in seinem Kommentar zur Weimarer Verfassung: "Das ist der Irrtum der Lehre Rousseaus, daß die volonte generate sich in rechtlich faßbarer Weise betätigen könne ohne organisatorische Zwischenbildungen zwischen Individuen und Gesamtheit"; und: "Um die Repräsentation der öffentlichen Meinung des ganzen Volkes rechtlich zu organisieren, setzt diese rechtliche Organisation die Selbstorganisation des Volkes in politischen Parteien stillschweigend voraus" 6 ; schließlich: "Erst diese Selbstorganisation der Parteien gibt der Demokratie die Lebensfähigkeit, die das unorganisierte Nebeneinander gleichberechtigter Individuen nicht besitzen könnte" 7• Es stellt sich deshalb die Frage, warum diese offene Anerkennung der Rolle der politischen Parteien in einer modernen Demokratie in der Weimarer Verfassung keinen Niederschlag fand, sondern lediglich "stillschweigend" vorausgesetzt wurde. Da die Frage der Konstitutionalisierung der politischen Parteien in keiner Phase der Verfassungsgebung auf die Tagesordnung gesetzt und diskutiert worden war, kann der Grund nur in den allgemeinen Rahmenbedingungen des Entstehungsprozesses der Weimarer Verfassung gesucht werden. Dabei scheint die geistig-wissenschaftliche Atmosphäre der linksliberalen Verfassungsautoren eine Rolle gespielt zu haben, weil es weder eine politische Vorentscheidung der Revolution, die eine solche Möglichkeit ausgeschlossen hätte,

Hier zitiert nach: Lietzau, Die staatsrechtliche Stellung der politischen Parteien, S.31. Über Hugo Preuß bei: Lehnert, Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der "verfaßten" Politik; Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß' für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar; Schefold, Hugo Preuß (1860-1925) Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik. 5 Heilfron, aaO., Bd.7, S.351ff. 6 Preuß, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reichs, S.269. 7 AaO., S.45. 3

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

noch Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung, die sich gegen eine entsprechende Initiative der Verfassungsschöpfer entschieden hätte, gab. Hugo Preuß, der anders als viele seiner Fachkollegen die politische und sozialwissenschaftliche Bedeutung der politischen Parteien erkannte, war ebenfalls nicht in der Lage, diese Erkenntnis in der staatsrechtlichen Dogmatik durchzusetzen. Er beobachtete, daß der überlieferten staatsrechtlichen Dogmatik ein objektiver Maßstab fehlte, anband dessen für die politischen Parteien - als neue Phänomene "zwischen" Staat und Gesellschaft - ein eigenständiger Platz hätte ausgemessen werden können, und daß die Versuche, die rechtliche Ordnung auf die politische Parteien auszudehnen, nur geringen Erfolg gezeigt hatten. Damit rechtfertigte er aber ohne weiteres den Zustand, "daß Verfassungen und Gesetze die Voraussetzung ihrer Wirksamkeit, das Parteiwesen, mit keiner Silbe erwähnen" 8 • Er versuchte zwar, die überlieferte Dogmatik nicht parteifeindlich auszudeuten9 ; dies führte jedoch nicht dazu, daß sie der Realität des modernen Parteienstaates entsprechend auch umstrukturiert worden war. Die herkömmliche staatsrechtliche Dogmatik, die auf dem Trennungsschema von Staat und Gesellschaft aufgebaut war, wurde auch bei Preuß nicht so weit gelockert, daß die parteienstaatliche Wirklichkeit ihren Niederschlag in der Weimarer Verfassung finden konnte. Insofern war er methodisch - trotz seiner kritischen Distanz - nicht völlig frei von dem herrschenden juristischen Positivismus10. Über die Methodenfrage hinaus ist aber auch von Bedeutung, in welchem Umfang die parteienstaatliche Realität in der modernen Demokratie von den linksliberalen Intellektuellen der Weimarer Zeit wahrgenommen oder für wünschenswert gehalten wurde. Dabei steht es außer Frage, daß sie hauptsächlich gegen den Obrigkeitsstaatsgedanken, gegen "die Regierung über den politischen Parteien" und für die Parteienregierung waren. Ob dies aber eine vorbehaltlose Anerkennung des Parteien"staates" bedeutete, bedarf genauerer Untersuchung. Es gibt mehrere Andeutungen, die darauf hinweisen, daß die pluralistischen Ansätze der politischen Parteien von den linksliberalen Verfassungsschöpfern nur in begrenztem Umfang akzeptiert wurden. Insoweit bemerkenswert war die Diskussion um die Bezeichnung "Deutsches Reich" im Verfassungsentwurf, in welcher der Antrag der USPD für die Formulierung "Deutsche Republik" trotz der Unterstützung der MSPD an der bürgerlichen Mehrheit in der Nationalversammlung scheiterte. Hugo Preuß begründete in den Verfassungsberatungen die Bezeichnung "Deutsches Reich". "Es (das Reich als das Idealbild nationaler Einheit: Verf.) ist durch die Ereignisse der Preuß, aaO., S.269. AaO., S.270ff. 10 Schefold, aaO., S.451.

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A. Politische Parteien

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jüngsten Vergangenheit nicht aufgelöst, nicht beseitigt; nur seine staatsrechtliche Organisation ist zusammengebrochen und bedarf der Erneuerung" 11 • Durch die Revolution habe sich also die Form des Staates, aber nicht der Staat als nationale Einheit, die als das Reich erkämpft geworden war, verändert. Dies führe dazu, "daß es sich ... um eine sehr große, sehr tiefgreifende Verfassungsänderung, aber schließlich doch um nichts anderes als eine Verfassungsänderung handelt" 12 • Diese Staatsauffassung von Preuß unterschied sich freilich von der von den anderen beiden bürgerlichen Parteien vertretenen Obrigkeitsstaatsidee, in deren Perspektive die Errungenschaften der Revolution prinzipiell abgelehnt werden mußten. Es ist jedoch auch nicht zu leugnen, daß sich der Staat auch bei Preuß der Verfassung insofern nicht völlig unterstellt, als ein Element des Staates, das als Reich bezeichnet wird, auch in einer grundstürzenden Umstrukturierung der Verfassung, also bei dem Wechsel des Trägers der Souveränität, unberührt bleibt und Kontinuität gewährleistet. Diese Staatsauffassung fand zwar ihren verfassungstextlichen Ausdruck lediglich in der eher symbolischen Bezeichnung "Deutsches Reich"; dahinter stand jedoch der in dem linksliberalen Lager allgemein akzeptierte Nationalstaatsgedanke, in dem der funktionale Charakter der nationalen Idee des frühen Liberalismus 13 - der Nationalstaat als Mittel für Freiheit - nur unvollständig wieder belebt wurde 14• Nach dieser Staatsauffassung der Linksliberalen sollte also zwar den politischen Parteien die regierungsbildende Funktion zugemessen werden; die Forderung nach staatlicher Kontinuität sollte jedoch erst durch den als parteineutral konzipierten Reichspräsidenten und das Fachbeamtenturn erfüllt werden. Diese Staatsauffassung fand in dem Grundrechtsentwurf Naumanns 15 einen deutlicheren Ausdruck. In diesem Entwurf unternahm Naumann über den Versuch einer aUgemeinverständlichen Formulierung der Grundrechte hinaus eine Erneuerung des liberalen Grundrechtsverständnisses in der Massendemokratie, die er als "Volksstaat" bezeichnete. Mit dem Wegfall der Monarchie sei der Staat "nicht mehr Organisation der oberen und herrschenden Klassen und Autorität zur Leistung und Versorgung der übrigen Masse", er sei nun "der

Heilfron, aaO. Bd.l, S.28. AaO., Bd.5, S.2959. 13 Gall, Liberalismus und Nationalstaat, S.288f. 14 So stützte sich die durchaus parlamentarisch demokratisch gesinnte Arbeit von Max Weber in der Umbruchsphase auf einen merkwürdigen Nationalstaatsgedanken:" ... auch über Demokratie und Parlamentarismus stehen selbstverständlich die Lebensinteressen der Nation" (Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S.297.). Über den Einfluß von Max Weber auf die Weimarer Verfassung siehe W.J.Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S.356ff. IS Abgedruckt in: Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.l7lff.; vgl. auch seine Berichterstattung dieses Entwurfs in: aaO., S.l76ff. 11

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

Ausdruck der lebendigen Organisation des Volkes" 16 • Vor diesem Hintergrund schien Naumann "das Bedürfnis nach einem Staatsbekenntnis, nach dem demokratischen Freiheitsstaat Deutschland, ... vorhanden zu sein". Für dieses Ziel entfernte er sich jedoch voreilig von der eigenen liberalen Tradition, wie sein Motto andeutet: "Umänderung des Gedankens vom Rechtsstaat in den Volksstaat"17. Dieser Standpunkt bildete den Hintergrund von Art.29 Abs.4 und 5 seines Entwurfs: "Volksvertreter sollen keine Interessenvertreter sein. Das Vaterland steht über der Partei" und von Art.38 Abs.5: "Beamte dienen nicht der herrschenden Partei, sondern dem Staat". Dem letzteren Vorschlag folgte Art.l30 Abs.l WV: "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei". Es steht freilich außer Frage, daß Naumann kein Anhänger des Obrigkeitsstaates war18• Trotzdem gilt das eigentlich nur auf die Formulierung gerichtete Bedenken von Preuß gegenüber dem Entwurf Naumanns auch inhaltlich: "ob aber darunter auch das verstanden werden wird, was Herr D. Naumann darunter verstanden zu sehen wünscht, kann ... doch recht zweifelhaft sein" 19• Naumanns Bemühung, mit seinem Grundrechtsentwurf den politischen Liberalismus der neuen Situation anzupassen, zeigte aber zum einen, daß es bei dem Übergang in die parlamentarisch regierte Massendemokratie allgemein keine leichte Aufgabe war, eine neue Legitimationsgrundlage zu schaffen, und zum anderen, daß in der Massendemokratie der politische Liberalismus zwischen Sozialdemokratie und Sozialkonservativismus über keinen großen Spielraum mehr verfügen konnte. Schließlich wird man noch fragen müssen, inwiefern die linksliberalen VerfassungsautoTen die parteienstaatliche Realität in der Massendemokratie erkannten. In der linksliberalen Gruppe herrschte noch die organische Staatsauffassung: der Staat als "Volksgemeinschaft" 20• Dies ließ sich leicht mit der liberalen Elitetheorie21 verknüpfen, die die Demokratie als eine "Volksherrschaft" in dem AaO., S.l79. AaO. Hingegen stellte der Grundrechtsentwurf der Mehrheitssozialdemokraten (abgedruckt in: aaO., S.173ff.) einen Versuch dar. die Errungenschaften der rechtsstaatliehen Tradition zu bewahren und auf dieser Basis soziale Grundrechte zu verwirklichen ( vgl. auch die Berichterstattung dieses Entwurfs von Sinzheimer, in: aaO., S.l82). 18 Vgl. nur Naumann, Demokratie und Kaisertum; ders., Politische Parteien; ders., Der Weg zum Volksstaat 19 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.l84. 20 So das DDP-Parteiprogramm von 1919: "Der demokratischen Staatsauffassung gelten Personen und Gemeinschaften nur als lebendige Zellen und Glieder, den einheitlichen Körper aber bildet die Gesamtheit" (W. Mommsen, Deutsche Paneiprogramme, 5.509.). Diese demokratische Ausprägung der organischen Staatsauffassung unterschied sich aber eindeutig von dem völkischen Gedanken der konservativen Rechten. 21 Hess, Überlegungen zum Demokratie- und Staatsverständnis des Weimarer Linksliberalismus, 5.294 16 17

A. Politische Parteien

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Sinne einer Herrschaft der Tüchtigsten und daher bloß als formales Verfahren für die Auswahl der Besten zu verstehen neigte. Dieses Demokratieverständnis stellte den Hintergrund dafür dar, daß die Funktion der politischen Parteien zu eng und nur technisch als "Führerauslese" angesehen wurde. Die Realität des Parteienstaates, in der die politischen Parteien in allen Bereichen des politischen Lebens mitwirkten, konnte mit dieser Sichtweise freilich nicht als solche wahrgenommen werden. Sichtbar war so lediglich die Spitze des Eisbergs, also der Teil der Funktionen der politischen Parteien, die mit der Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie in den Staat eintraten. Ihre gesellschaftlichen Funktionen blieben damit unentdeckt22 • Bei der Stellungnahme der linksliberalen Verfassungsschöpfer spielte aber auch die spätliberale Kritik der parteienstaatlichen Entwicklung in der Massendemokratie, die sich der Gefahr der Oligarchie unter den bürokratisierten politischen Parteien23 bewußt war, keine unwichtige Rolle. Das Problem lag aber darin, daß die Voraussetzungen der Kritik nicht hinreichend genau klargestellt wurden. Es wurde also nicht hinreichend bewußt, daß in der modernen Demokratie zwischen Staat und Volk vermittelnde Kräfte unvermeidlich sind und daß daher die in der Existenz solcher Kräfte selbst liegende Problematik nicht durch Zuflucht zu einer scheinbar neutralen dritten Kraft, sondern im wesentlichen nur durch immanente Kritik gelöst werden können. Dieses Problem scheint auf dem Zwiespalt zwischen einer fortschrittlichen Demokratietheorie und dem Mangel an konkreten Erfahrungen mit der parlamentarischen Demokratie zu beruhen. Die linksliberalen Intellektuellen gingen theoretisch weit über den klassischen Liberalismus hinaus, waren aber innerlich noch nicht auf die Herrschaft der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie vorbereitet. Insofern blieb ihr Denken unter dem Schatten der konstitutionellen Monarchie24 • Ein normaler Verlauf der parlamentarischen Demokratie hätte dieses Problem relativ reibungslos gelöst. Dieser kleine Vorbehalt wurde indes in der politischen Dauerkrise der Weimarer Republik von den Kritikern des Parteienstaates übertrieben hochgespielt.

Vgl. dazu Einleitung A. und B. Vgl. die zuerst 1911 veröffentlichte Arbeit von Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. 24 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Erinnerung von Preuß an den linksliberalen Standpunkt zur Monarchie während des Kaiserreichs: "vielmehr galt die möglichste Sozialisierung und Demokratisierung innerhalb der monarchischen Staatsfonn als einzig ernsthafte Aufgabe praktischer Gegenwartspolitik. Solcher Vernunftsmonarchismus herrschte auch im Linksliberalismus, soweit er nicht wirklich 'monarchisch bis in die Knochen' war, was zweifellos von dem größten Teil namentlich seiner preußischen Glieder gilt, die in solcher Gesinnung vielleicht sogar den Nationalliberalismus, wenigstens des Westens und Südens, übertrafen" (Preuß, Deutschlands Republikanische Reichsverfassung, S.8.). 22 23

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

Aus der bisherigen Untersuchung ergibt sich, daß der politische und wissenschaftliche Standpunkt der linksliberalen Verfassungsautoren zumindest als ein mittelbarer Grund für das Schweigen der Weimarer Verfassung zu den politischen Parteien angesehen werden kann. Die politischen Parteien wurden in der Weimarer Verfassung, wie gesagt, einmal an einer überraschenden Stelle erwähnt. Art.130 Abs.l lautete: "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei". Der Entstehungsprozeß dieses Satzes kann nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden. Die Beratung im Unterausschuß ist nicht bekannt; der Satz wurde ohne nennenswerte Diskussion im Verfassungsausschuß eingeführt25 und erfuhr danach im Plenum keine Änderung. Trotzdem kann Art.130 Abs.1 mit dem Art.38 Abs.5 des Entwurfs von Naumann ohne weiteres in Verbindung gesetzt werden26 • Der Hintergrund, der die Einführung dieses Satzes ermöglichte, ist auch in gewissem Maß mit Blick auf die spätere Diskussion im Plenum nachvollziehbar, in welcher der Antrag der MSPD für die Anwendung der Vorschriften über Arbeiter- und Angestelltenräte auf die in Art.l30 Abs.3 vorgesehene Beamtenvertretung von der bürgerlichen Mehrheit abgelehnt wurde27 • Art. I ~0 Abs.l sollte als eine Erklärung verstanden werden, die auf Grund der Besonderheit des Beamtenverhältnisses besondere Beschränkungen der politischen Gesinnungsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit der Beamten (Art.130 Abs.2) ermöglichte28 und besondere Beamtenvertretungen nach reichsgesetzlicher Bestimmung (Abs.3) erforderlich machte. Die rechtlichen Beschränkungen der Beamten bei der Tätigkeit in den politischen Parteien wurden aber in der Weimarer Republik durch die Auslegung des Art.130 Abs.2 in Verbindung mit Art.118 und 124 weitgehend aufgehoben29• Damit betraf Art.130 Abs.l nur noch die Klärung der rechtlichen Verhältnisse zwischen den Dienst- und Amtspflichten der Beamten einerseits und ihren Parteipflichten andererseits30• Eine dogmatische Vertiefung dieser Problematik fand aber in der Weimarer Republik nicht statt. Ein wichtiger Grund dafür war, daß die parteienstaatlichen Spielregeln der parlamentarischen Demokratie von einem großen Teil der Bevölkerung und von einem noch größeren Teil der Staatsrechtier nicht anerkannt und zum zentralen Streitpunkt in Politik und Lehre gemacht wurde. Hingegen wurde Art.130 Abs.l durch die Kritiker des Weimarer Parteienstaates nicht selten hervorgehoben. Sie 25 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.381f., 5.507. 26 Beyerle machte in seiner Berichterstattung bekannt, daß als Vorlage für den Entwurf des Beamtenartikels unter anderen der Vorschlag von Naumann gedient habe (Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.381f.). 27 Heilfron, aaO., Bd.6, S.3968ff., 5.3998. 28 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, 13.Aufl., S.525ff. 29 AaO., S.S27f. 30 Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, 5.36.

A. Politische Parteien

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verstanden diesen Absatz als Indiz für eine negative Stellungnahme der Weimarer Verfassung gegenüber den politischen Parteien und stellten den Abs.2, der dem Beamten den Weg in die politischen Parteien freigab, in Widerspruch zu Abs.1 31 • So wurde Art.130 Abs.1 mit der Grundsatzdebatte um den Parteienstaat verbunden32 • 11. Politische Parteien im sonstigen Staatsrecht

Anders als in dem Verfassungstext wurden die politischen Parteien auf den unteren Stufen des Staatsrechts häufiger erwähnt. Besonders deutlich sichtbar war die Rolle der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie bei der Bildung des Parlaments und bei seiner Geschäftsführung. Art.22 WV führte das Verhältniswahlsystem ein, das ohne politische Parteien nicht einmal vorstellbar ist. Dementsprechend fand die Rolle der politischen Parteien immer deutlicheren Ausdruck in Wahlgesetzen, insbesondere in Bezug auf die Beschaffenheit der Stimmzettee3• Zunächst wurde bestimmt, daß die Angabe einer Partei auf dem Stimmzettel, ohne ihn ungültig zu machen, nicht beachtet werde (§25 RWahlG von 1920)3\ dann wurde die Angabe der Partei neben oder an der Stelle der Namen der Wahlbewerber gestattet (§24 Abs.2 RWahlG von 1922)35 • Schließlich wurde verlangt, daß die Stimmzettel die politischen Parteien, denen die Kandidaten angehören, angeben müßten (§25 RWahlG36 und §44 Abs.2 RStimm037 von 1924). Die Anerkennung der tatsächlichen Verbindung der politischen Parteien mit den Wahlen ging teilweise so weit, daß die Frage nach der rechtlichen Gebundenheit der Abgeordneten an die politischen Parteien, für die sie gewählt waren, gestellt wurde. In diesem Zusammenhang sah §7 Abs.l Ziff.6 des württembergischen LandtagswahlG von 1924 den Mandatsverlust der Abgeordneten bei Austritt aus der Partei vor8 : "Ein Abgeordneter verliert seinen Sitz ... 6. durch Austritt aus derjenigen politi31 Köttgen, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtenturns im Staat der Gegenwart m.w.N. 32 Z.B. behauptete Tatarin-Tarnbeyden unter dem Präsidialregime, daß die Minister ohne weiteres als Beamten im Sinne des Art.l30 Abs.l. verstanden werden sollten. Damit bildete dies für ihn eine verfassungsrechtliche Grundlage gegen das durch politische Parteien geführte parlamentarische Regierungssystem (Tatarin-Tarnheyden, Volksstaat oder Parteienstaat?, S.ll ff.). 33 Näheres über die politischen Parteien in Wahlgesetzen bei: Lietzau, Die staatsrechtliche Stellung der politischen Parteien, S.59ff. 34 RGBI. 19201, 627. 31 RGBI. 19221, 801. 36 RGBI. 19241, 159. 37 RGBI. 19241, 173. 38 Siehe darüber, Radbruch, aaO., S.290f.; Lietzau, aaO., S.l20ff.; Pistorius, Überden Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat nach dem württembergischen Staatsrecht.

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

sehen oder anderen Vereinigung, in deren Auftrag er von einer Wählervereinigung auf ihre Vorschlagsliste gesetzt wurde" 39• Noch stärkere Anerkennung kam den politischen Parteien in ihrer Funktion als Parlamentsfraktionen zu. Während die alte Geschäftsordnung für den Reichstag im Kaiserreich40 sie unerwähnt ließ, wurden die Fraktionen in der Geschäftsordnung für den Weimarer Reichstag von 192241 ausführlich geregelt (§§7ff.). Sie stellte damit die Grundstruktur der parlamentarischen Geschäftsführung dar. Die Fraktionen bildeten zum einen die Grundlage der Zusammensetzung des Ältestenrats, des Vorstands sowie der Ausschüsse (§§9, 10, 25, 28) einerseits und der Geschäftsführung in den Ausschüssen sowie in der Vollversammlung (§§29, 82) andererseits. Zum anderen wurden die Fraktionen auch insoweit vorausgesetzt, als die Zahl von 15 Mitgliedern, die für die Bildung einer Fraktion angegeben war (§9), zur mindestens erforderlichen Zahl der Abgeordneten für verschiedene parlamentarische Aktionen gemacht wurde (§§41 Abs.2, 49, 51, 60). Wenn also Art.68 WV die parlamentarische Gesetzesvorlage "aus der Mitte des Reichstages" regelte, so wurde diese Bestimmung nach §49 der GeschäftsO in der Tat dahin beschränkt, daß eine solche Gesetzesvorlage .der Unterstützung zumindest einer Fraktion bedurfte.

Ill. Verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien Obwohl die politischen Parteien in mehreren Regelungen erwähnt wurden, gab es im Staatsrecht der Weimarer Republik keine einheitliche Regelung über ihre verfassungsrechtliche Stellung und ihren Begriff. Die politischen Parteien wurden dann in der herkömmlichen Sichtweise der juristischen Dogmatik beurteilt und je nach dem Schwerpunkt ihrer Funktion unterschiedlich wahrgenommen: als gesellschaftliche Vereine, als Wahlvorbereitungsorganisationen oder als Parlamentsfraktionen. Insofern die politischen Parteien als Organisationen in der Gesellschaft wahrgenommen wurden, stellte die Vereinsfreiheit nach Art.124 WV die verfassungsrechtliche Grundlage für die Parteienfreiheit dar, die sich während der Weimarer Republik erheblich erweiterte. Ein wichtiger Teil der alten Beschränkungen der Parteienfreiheit wurde jedoch nicht erst durch das Inkrafttreten der Weimarer Verfassung beseitigt, sondern bereits durch Ziff.2 des Aufrufs des Rats der Volksbeauftragten vom 12. November 191842 : "Die Vereins- und Versammlungsfreiheit unterliegt keiner Beschränkung, auch nicht für 39

o40 41 42

Hier zitiert nach: Pistorius, aaO., S.418. Abgedruckt in: Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd.2, Nr.234. RGBI. 192311, 101. RGBI. 1918, 1303.

A. Politische Parteien

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Beamte und Staatsarbeiter". Direkt betroffen wurden dadurch die Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechts durch das RVereinsG von 190843 • In Bezug auf die Parteienfreiheit wurden dabei insbesondere zwei Beschränkungen aufgehoben: die Pflicht der politischen Vereine, der Polizeibehörde ihre Satzung und ein Verzeichnis der Mitglieder ihres Vorstands mitzuteilen (§3 RVereinsG), sowie das Verbot der Mitgliedschaft Jugendlicher unter 18 Jahren in politischen Vereinen(§ 17)44 • Darüber hinaus wurden durch Art.l24 Abs.2 S.2, der auch für die politischen und sozialpolitischen Vereine Rechtsfähigkeit gewährleistete, weitere Beschränkungen der Parteienfreiheit beseitigt. Förmlich aufgehoben wurden dadurch §61 Abs.2 BGB a.F. 45 , der der Verwaltungsbehörde ein Einspruchsrecht gegen die Eintragung eines Vereins mit einem politischen oder sozialpolitischen Ziel in das Vereinsregister gab46 , und §43 Abs.3 a.F., der den Entzug der Rechtsfähigkeit eines Vereins vorsah, der trotz fehlender Erwähnung in seiner Satzung einen politischen oder sozialpolitischen Zweck verfolgte. Insofern sich die politischen Parteien auf Art.124 WV stützten, stellten sie juristisch eine Form des Vereins dar. Dies kann bei den Fällen des Parteiverbots während der Weimarer Republik deutlich beobachtet werden47 • Verboten wurden die politischen Parteien als rein gesellschaftliche Organisationen. In ihrer Funktion als Wahlvorbereitungsorganisationen oder als Fraktionen der gewählten Abgeordneten blieben die Parteien von dem Verbot unberührt. Allerdings konnte die Funktionsvielfalt der politischen Parteien, die die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft übergreifend gestaltete, nicht in der vereinsrechtlichen Perspektive allein erfaßt werden. So wurden die Tätigkeiten der politischen Parteien "zum" und "im" Staat in die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich48 einbezogen. Da aber bei den VerfassungsRGBI. 1908, 151. Während dabei § 17 einhellig für beseitigt gehalten wurde, blieb die Frage der Aufhebung von §3 durch Aufruf zunächst umstritten und wurde erst nach höchstrichterlichen Entscheidungen von 1930 zugunsten einer Aufhebung gelöst. Die Meinungslage über diese Frage siehe bei: Brecht, Vereins- und Versammlungsrecht, S.261ff. "RGBI. 1896, 195. 46 Die praktische Folge dieser Aufhebung war aber eher gering, da die politischen Parteien weiterhin als nicht-rechtfähige Vereine blieben und kein EintTagungsrecht ausübten (Gusy, aaO., S.16, S.35 m.w.N.). 47 Gusy, aaO., S.37ff.; Jasper, Der Schutz der Republik, S.l28ff.; Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, S.38ff.; Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien als politische Gestaltungsfaktoren in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, S.l44ff. 48 Näheres über den Staatsgerichtshof bei: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.S46ff.; W. Weh/er, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Seine Entscheidungen sind abgedruckt in: Lammers/Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Art.13 Abs.2 der Reichsverfassung, 6 Bde. 43 44

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

Streitigkeiten herkömmlich nur die Verfassungsorgane wie die Regierung oder Volksvertretung als beteiligtenfähig angesehen worden waren, mußte zuerst geklärt werden, in welchem Umfang die prozeßrechtliche Parteifähigkeit den politischen Parteien zugesprochen werden sollte49 • Die Parteifähigkeit der politischen Parteien kam zum einen unter den in Art.19 WV vorgesehenen Kompetenzen des Staatsgerichtshofs nur bei den "Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung" bestand, in Frage50• Zum anderen wurde die Parteifähigkeit nach der Funktion der politischen Parteien als Fraktionen einerseits und als Wahlvorbereitungsorganisationen andererseits in unterschiedlichem Umfang zuerkannt. Den Fraktionen wurde in verhältnismäßig ausgedehntem Maß Parteifähigkeit vor dem Staatsgerichtshof zuerkannt: bei der verfassungsrechtlichen Frage des Wahlverfahrens, bei der Frage der Verletzung der Minderheitenrechte gegenüber der Landtagsmehrheitsfraktion in der parlamentarischen Geschäftsführung und bei der Frage der Verfassungswidrigkeit eines von der Landtagsmehrheit beschlossenen Gesetzes sowie einer von der Regierung erlassenen Notverordnung. Insoweit wurde eine Konsequenz aus der Berücksichtigung der Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie gezogen, in der die Regierung auf das Vertrauen der Parlamentsmehrheit angewiesen und die Streitigkeiten zwischen Mehrheits- und Minderheitsfraktionen daher in der Tat mit den Streitigkeiten zwischen Regierung und Parlament unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie gleichzusetzen waren 51 . Solange sich die politischen Parteien hingegen nicht als Parlamentsfraktionen an den Staatsgerichtshof wandten, wurden sie nur in Bezug auf das Wahlrecht als parteifähig angesehen. Da aber keine Maßstäbe dafür vorhanden waren, welche Organisationen überhaupt als politische Parteien angesehen werden sollten, mußten zuerst ihre Begriffsmerkmale durch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs entwickelt werden. Dabei genügte es nicht, daß sich eine Vereinigung als Partei bezeichnete. Eine politische Partei mußte "einen festen Zusammenschluß einer größeren Zahl von Staatsbürgern zur Erreichung politischer Ziele" bilden, sich "zur Verwirklichung ihres Programms politisch betätigen, etwa in Versammlungen, bei Wahlen, durch Presse", und sich durch eine gewisse Dauer der Organisation sowie regelmäßiges Auftreten in der Öffentlichkeit auszeichnen52 • Bemerkenswert ist, daß der Begriff der politischen Parteien darüber hinaus mit ihrem Erfolg bei den Wahlen in Verbindung ge49 Über die Parteifaltigkeil der politischen Parteien bei: Gusy, aaO., S.46ff.; Huber, aaO., S.552; W. Weh/er, aaO., S.129ff., S.145ff.; Lietzau, aaO., S.I07ff. so Bei den Verfassungsstreitigkeiten zwischen Reich und Ländern wurde die Rechtsfahigkeit hingegen ausschließlich den Regierungen zugesprochen (Huber, aaO., S.550; Gusy, aaO., S.49). SI Siehe nur L.ammers/Simons, aaO. Bd.l, 357(363). s2 L.ammers/Simons, aaO. Bd.l , 411(414).

B. Verbände

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bracht wurde: "Für das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof können als politische Parteien nur solche Personenvereinigungen gelten, bei denen die Möglichkeit besteht, daß ihre Betätigung für das Wahlergebnis von Belang ist. Gruppen, die unzweifelhaft nicht in der Lage sind, sich Zutritt zu der Volksvertretung zu verschaffen, deren politische Betätigungsmöglichkeit also durch Gestaltung des Wahlrechts gar nicht berührt wird, sind keine Parteien im parlamentarischen Sinne und sind daher auch nicht befugt, vor dem Staatsgerichtshof ... Wahlrechtstreitigkeiten zum Austrage zu bringen" 53 • Dies zeigt, daß die politischen Parteien vom Staatsgerichtshof nicht in Bezug auf ihre allgemeine Bedeutung in der politischen Meinungsbildung, sondern lediglich in Bezug auf ihre wahlvorbereitende, parlamentsbildende Funktion wahrgenommen wurden. B. Verbände Wenn die Weimarer Verfassung schon zu den politischen Parteien, die dem Staat näherstanden, schwieg, ist es nicht verwunderlich, daß sie keine allgemeine Regelung der Verbände fand. Die Verbände blieben aber der Weimarer Verfassung andererseits auch nicht völlig fremd. Indem Art.165 WV eine Konstitutionalisierung des organisierten Wirtschaftslebens vorsah, die sich auf einen wesentlich modifizierten Rätegedanke stützte, fand das Verbandswesen insbesondere im vorläufigen Reichswirtschaftsrat eine - eher als Experiment zu bezeichnende - Institutionalisierung seiner Einflußwege auf staatliche Entscheidungen. Daß dies überhaupt möglich und dabei der Rätegedanke vor den anderen konkurrierenden Modellen - der berufsständischen bzw. gerneinwirtschaftlichen Idee - bevorzugt wurde, beruhte auf den politischen Rahmenbedingungen der Verfassungsgebung. I. Die Entstehungsgeschichte des Art.165 WV54

Nachdem sich der erste Rätekongreß im Dezember 1918 gegen den Antrag von Däumig aus der USPD entschieden hatte, das Rätesystem als Grundlage der Verfassung der zukünftigen sozialistischen Republik festzuhalten, besaß ein reines Rätesystem als Gegenmodell zur parlamentarischen Demokratie insofern AaO., S. 309(311). Über den Hintergrund der Entstehung des Räteartikels bei: Fraenkel, Rätemythos und soziale Selbstbestimmung; Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung, S.lllff.; Nörr, Die Weimarer Nationalversammlung und das Privatrecht, S.340ff.; Nase hall, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat und die Wirtschaftsvertretungen in den einzelnen Ländern zur Zeit der Weimarer Republik, S.6ff.; Schiiffer, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat. Kommentar der Verordnung vom 4. Mai 1920, S.5ff.; Tatarin-Tamheyden, Die Berufsstände, S.l44ff. 53

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

keine reale Chance, als sich die Verfassungsgebung in diesem politisch vorgegebenen Raum bewegte. Damit war jedoch die Frage des Rätesystems noch nicht endgültig gelöst. Es mußte weiter geklärt werden, ob die Rätebewegung nach der Einführung der parlamentarischen Demokratie ihre Aufgabe restlos erfüllt hatte oder ob ihre Grundelemente zur Ergänzung der parlamentarischen Demokratie in die Verfassung aufgenommen werden sollten. Die Führung der Mehrheitssozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften bevorzugte zunächst die erste Alternative: Legien war entschieden gegen die Aufnahme des Rätegedankens in die Verfassung, da er hierin eine Gefahr für die Gewerkschaftsbewegung sah; Ebert hielt die Möglichkeit, das Rätewesen zu institutionalisieren, lediglich auf der gesetzlichen Ebene für gegeben. Dementsprechend gab es von der Seite der Reichsregierung bis Ende Februar keine Anzeichen dafür, daß sie zur Einbeziehung des Rätemodells in die Verfassung bereit war. Sie nahm vielmehr am 26. Februar 1919 deutlich Stellung gegen diese Option55• Diese Atmosphäre spiegelte sich in der ersten Beratung der Verfassung im Plenum der Nationalversammlung wider, die Ende Februar und Anfang März stattfand. Abgesehen von dem Vertreter der USPD, der auf einem reinen Rätesystem beharrte56, war von der Aufnahme der Rätekonzeption in die Verfassung keine Rede. Stattdessen wurde von der Seite der MSPD eine Gesetzgebung über die Arbeiterräte gefordert, die ausschließlich im wirtschaftlichen Bereich tätig sein sollten57 • Auch Preuß hielt es für unwahrscheinlich, daß der Verfassungsausschuß Elemente des Rätesystems in die Verfassung aufnehmen würde58 • Die Einführung der Räteelemente in die Weimarer Verfassung beruhte daher auf dem Druck, der von den außerparlamentarisch formierten Gruppen ausgeübt wurde. In den Frühjahrsmonaten 1919 radikalisierte sich die Arbeiterschaft rapide, und damit verbreiterte sich die Streikbewegung, die bis Frühsommer dieses Jahres anhielt59 • Am 26. Februar wurde in Mitteldeutschland der Generalstreik ausgerufen. Nachfolgend sprachen sich am 28. Februar die Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins für die Beibehaltung der Räteorganisationen aus und protestierten gegen ihre politische Entmachtung. Die Streikbewegung erreichte ihren Höhepunkt mit der Ausrufung des Generalstreiks in den ersten Märztagen. Die Hauptforderungen der Streikbewegung waren der Einbau der Räte in die Verfassung und der sofortige Beginn der Sozialisierung. Angesichts dieser Herrfahrdt, aaO., S.115. Die Rede von dem USPD-Abgeordneten Henke am 4. März 1919 in: Heilfron, aaO. Bd.3, S.l209ff. l 7 Die Rede von dem MSPD-Abgeordneten Fischer am 28. Februar 1919 in: AaO. Bd.2, S.928f. ls Die Rede von dem Reichsminister des Innem Preuß am 3. März 1919 in: AaO., S.l119. l• Näheres über die Streikbewegung des Jahres 1919 bei: Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, S.I09ff. ll

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B. Verbände

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Entwicklung, in der sich auch immer mehr Mitglieder der sozialdemokratischen Gewerkschaften an der Streikbewegung beteiligten, hielt die Regierung Scheidemann eine Änderung ihrer bisherigen Position für unvermeidlich. Am 4. März 1919 erklärte sich die Regierung bei einer in Weimar mit Vertretern der streikenden Arbeiter geführten Verhandlung zur Anerkennung der Arbeiterräte bereit und sprach sich für ihre Verankerung in der Verfassung aus60• Diese Vereinbarung wurde am folgenden Tage als "Erklärung über die gesetzgebensehen Absichten" 61 bekanntgemacht Damit begann die Reichsregierung mit der Vorbereitung des Entwurfs eines Räteartikels62 • Parallel dazu billigte die Ad-hoc-Konferenz der SPD vom 22. und 23. März den von dem Räteexperten der Mehrheitssozialdemokratie, Hugo Sinzheimer, entwickelten Grundsatz, daß die politische Verfassung durch eine Wirtschaftsverfassung ergänzt werden sollte63 • Der heftige Widerstand der Führung der Freien Gewerkschaften konnte dabei mühsam überwunden werden, als es Sinzheimer und dem Reichsarbeitsminister Bauer gelang, Legien davon zu überzeugen, daß das Rätewesen die Position der Gewerkschaften nicht schwächen, sondern ergänzen und stärken würde64 • Die Ausarbeitung des Räteartikels innerhalb der Reichsregierung war vor allem von der Spannung zwischen den unterschiedlichen Positionen des Reichsarbeitsministeriums und des Reichswirtschaftsministeriums geprägt65 • Während das Arbeitsministerium, geführt von dem sozialdemokratischen Gewerkschaftler Bauer, in den Arbeiterräten eine Verwirklichung der alten sozialdemokratischen Forderung nach der Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Vertretung der Arbeitnehmer in Arbeitskammern und in den Wirtschaftsräten keine wesentliche Abweichung von dem Arbeitsgemeinschaftsgedanke sah, vertrat der Wirtschaftsminister Wissel als einziges Kabinettsmitglied die von seinem Staatssekretär Möllendorff entwickelte Gemeinwirtschaftsidee. Diese fand freilich in den Beratungen zum Regierungsentwurf im Kabinett keine breite Unterstützung, sondern wurde im Gegenteil nicht selten block.iert66 • Am 5. April 1919 gab die Regierung ihren Standpunkt zur Rätefrage bekannt67 • Diese Regierungserklärung

Fraenkel, aaO., S.117ff. Abgedruckt in: Schäffer, aaO., S.165ff. 62 Vgl. darüber Schulze, Akten der Reichskanz1ei. Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr.18, P.6; Nr.23, P.4; Nr.34, P.1; Nr.39, P.2. 63 Fraenkel, aaO., S.ll5. 64 AaO., S.118f. 6l Schäffer, aaO., S.14ff.; vgl. auch Schulze, aaO., Einleitung S.44ff. 66 In der Kabinettsitzung vom 4. April 1919 wurde z.B. beschlossen, den Ausdruck "gemeinwirtschaftlich" in dem Regierungsentwurf zu vermeiden (Schulze, aaO., Dok. Nr.34, P.l). 67 Verhandlung der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.393; Oertzen, aaO., S.153. 60

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

enthielt die begründete68 Regierungsvorlage eines Räteartikels, der als Art.34a des Verfassungsentwurfs der Regierung formuliert wurde69• Die politischen Auseinandersetzungen um den Räteartikel waren jedoch damit noch nicht zu Ende. Kurz nach der Bekanntmachung des Regierungsentwurfs fand der zweite Rätekongreß vom 8. bis zum 14. April 1919 statt. Die Mehrheit der Delegierten entschied sich dabei gegen das von dem Unabhängigen Sozialdemokraten Ernst Däumig vertretene reine Rätemodell und für das Zweikammennodell von Max. Cohen-Reuss70• Dieses Modell sah neben der politischen zweiten Kammer eine berufsständisch gegliederte erste Kammer vor, die auch über das Entscheidungsrecht bei der Gesetzgebung verfügen sollte und damit von der Regierungsvorlage abwich. Der Weg für die Regierungsvorlage des Räteartikels wurde endgültig erst frei, als der Weimarer Parteitag der SPD vom 10. bis zum 15. Juni 1919 den Beschluß des zweiten Rätekongresses verwarf und die Richtlinien von Sinzheimer71 annahm. Noch bevor sich aber die politischen Rahmenbedingungen völlig geklärt hatten, wurde die Regierungsvorlage des Räteartikels - im Unterschied zu den anderen neu aufgenommenen Artikeln ohne Aufarbeitung im Unterausschuß Nach anderen Angaben war jedoch diese Bekanntmachung vom 6.April datiert (Schulze, aaO., Nr.34, P.l Fn.4). 68 Diese Begründung ist abgedruckt in: Schiiffer, aaO., S.l67ff. 69 Die Vorlage der Reichsregierung, die vom Unterausschuß als Entwurf Art. 57 übernommen wurde, lautete: "Die Arbeiter sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre tariflichen Vereinbarungen werden anerkannt. Sie erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen nach Betrieben und Wirtschaftsgebieten gegliederte gesetzliche Vertretungen in Betriebs- und Bezirksarbeiterräten und einem Reichsarbeiterrate. Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung gesamtwirtschaftlicher Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausftihrung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer zu Bezirkswirtschaftsräten und einem Reichswirtschaftsrate zusammen. Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung beim Reichstag dem Reichswirtschaftsrate zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetze beim Reichstag zu beantragen, die ebenso wie Vorlagen der Reichsregierung oder des Reichsrats zu behandeln sind. Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden. Aufbau und Aufgaben der Arbeiter- und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern werden durch Reichsgesetz geregelt" (hier zitiert nach: Schiiffer, aaO., S.l3f.). 70 Max Cohen-Reuss spielte mit seiner ständestaatliehen Tendenz eine Außenseiterrolle in der Mehrheitssozialdemokratie (Fraenke/, aaO., S.ll9.). 71 Seine Rede auf dem Weimarer Parteitag ist abgedruckt in: Sinzheimer, Arbeitsrecht und Rechtssoziologie Bd.l, S.325ff.

B. Verbände

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dem Verfassungsausschuß vorgelegt. Die Beratung des Räteartikels fand im Verfassungsausschuß am 2. und 18. Juni und im Plenum der Nationalversammlung am 21. Juli statt. Dabei legte Sinzheimer in seinen Reden72 den Grundgedanken des Räteartikels dar. Sinzheimer sah die Grundlage des Räteartikels vor allem im Gedanken der sozialen Selbstbestimmung. Er machte zunächst deutlich, daß der Räteartikel nicht von dem Gedanken der Diktatur des Proletariats ausgehe, sondern an der politischen Demokratie festhalte. Der Grundgedanke des Rätesystems, das auf dieser Grundlage organisatorisch realisierbar sein sollte, bestehe darin, "daß die gesellschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar zur Geltung kommen sollen, nicht nur durch die Staatsgesetze und Staatsverwaltung hindurch .... Neben der Staatsverfassung soll eine eigene Gesellschaftsverfassung entstehen, in der die gesellschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar wirken' 173 • Dieser Grundgedanke fand im Art.l65 Abs.l WV seinen Niederschlag. Sodann ging Sinzheimer zur Organisation und zu den Aufgaben der Arbeiterund Wirtschaftsräte über. Die Arbeiterräte sollten dreistufig auf der Betriebs-, Bezirks- und Reichsebene ausgebaut werden. Sie sollten nicht in die Funktion der freien Berufsverbände eingreifen, die Arbeits- und Lohnbedingungen durch Tarifverträge und durch Arbeitsgemeinschaften zu regeln; die Aufgabe der inzwischen entstandenen Betriebsarbeiterräte sollte vielmehr in der Kontrolle der Durchführung der Tarifverträge und in der Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse in den Betrieben durch die Einführung der Mitbestimmung bestehen74 • Aus diesem Grund bedeute Abs.l Satz 2 des Regierungsentwurfs "Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt" - nicht, "daß durch die Räte die Tätigkeit und die Aktionsformen der freien Berufsverbände ... unterbunden werden sollen"75• Die Beziehung der Arbeiterräte zu den bestehenden Verbänden, insbesondere zu den Gewerkschaften, sollte keine Konkurrenz, sondern ein Ergänzungsverhältnis darstellen. Bei seiner Stellungnahme zu den Wirtschaftsräten ging Sinzheimer davon aus, daß sich ihre Funktion im Unterschied zu den Arbeiterräten auf die Gesamtwirtschaft beziehen sollte. Die Funktion der Wirtschaftsräte bestehe also darin, "durch die Zusanunenfassung aller gesellschaftlichen Kräfte, die am Produktionsprozeß des deutschen Volkes beteiligt sind, die Produktion zu steigern und die Kosten der Produktion zu mildern" 76 • Die Organisation der Wirtschaftsräte 72 Sinzheimer, Rede vor dem Verfassungsausschuß am 2. Juni 1919 in: Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, 5.393ff.; ders., Rede vor dem Plenum am 21. Juli 1919, in: Heilfron, aaO. Bd.6, 5.4258ff., S.4326ff. 73 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, 5.393. 7• AaO., 5.394. 1s Sinzheimer, Rede vor dem Plenum am 21. Juli in: Heilfron, aaO. Bd.6, 5.4265. 76 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, 5.395.

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

sollte für diese Funktion die gesamte Konstellation der Wirtschaftsgruppe in der vorhandenen Wirtschaftsordnung widerspiegeln. Im Hinblick hierauf schien Sinzheimer der Regierungsentwurf, der die Wirtschaftsräte aus Arbeiterräten und Unternehmern bestehen lassen wollte, ergänzungsbedürftig. Nicht nur die Interessen der Arbeitnehmer und Unternehmer, sondern auch die der sonst betroffenen Bevölkerungskreise, z.B. der Verbraucher, sollten dabei vertreten sein77 • Schließlich sollten die Wirtschaftsräte - wie auch das Rätesystem insgesamt wohl Einfluß auf die Politik ausüben, aber keine Entscheidungsmacht in der Politik haben. Daher sollten die politischen Rechte, die dem Reichswirtschaftsrat zukommen würden, anders als bei der berufsständischen Kammer keinen entscheidenden Faktor bei der Gesetzgebung bilden; der Reichswirtschaftsrat sollte nur über Rechte zur Mitberatung und zur Initiative bei der Gesetzgebung nicht aber über das Recht der Zustimmung zu und Ablehnung von Gesetzesentwürfen verfügen78 • Diese Stellungnahme von Sinzheimer konnte sich trotz der abweichenden Ansätze seitens der konservativen Parteien und der USPD durchsetzen und fand ihren Platz in dem letzten Artikel des Grundrechtsteils der Weimarer Verfassung. II. Verfassungsrechtliche Stellung der Verbände

Die Verankerung der Räte in der Verfassung führte nicht zu einer systematischen Regelung der Verbände als solcher unter Einschluß ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft. Art.l65 enthielt vielmehr zwei miteinander kaum vereinbare Elemente. Einerseits wurden die Organisationen der Tarifpartner und ihre Funktionen ausdrücklich anerkannt (Abs.l) und - für den organisatorischen Ausbau des Rätesystems - die Existenz der "Berufsgruppen" vorausgesetzt (Abs.2). Hiernach wurden die Verbände als rein gesellschaftliche Organisationen aufgefaßt. Andererseits wurde in Abs.2-6 der Versuch unternommen, die Funktionen der Verbände, die von deren rein gesellschaftlichem Charakter nicht mehr gedeckt waren, in verschiedenen Räten zu institutionalisie-

77 Nach dieser Stellungnahme wurde die ursprüngliche Fassung des Abs.3 im Verfassungsausschuß geändert und erweitert: "Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten ... mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind" (Hervorhebung von Verf.). 78 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.396; Heilfron, aaO. Bd.6, S.4266.

B. Verbände

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ren, solange dies die in Abs.1 zum Ausdruck gebrachte Grundbestimmung nicht verletzte. Da aber dem Ausbau des Rätesystems der Gedanke der sozialen Selbstbestimmung zugrunde lag, der eher eine Einführung der Wirtschaftsverfassung neben der Staatsverfassung als eine Umstruktierung der Staatsverfassung versuchte, war von den Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft die Rede, die in Verbindung mit Art.156 Abs.3 WV zum Ausdruck gebracht wurden79 • Die verfassungsrechtliche Lösung des staatsbezogenen Charakters der Verbände, konkreter gesagt: eine lnstitutionalisierung der Einflußwege der Verbände auf staatliche Entscheidungen, stellte also eigentlich kein Hauptthema dar. Dieser Punkt wurde innerhalb von Art.165 lediglich in Bezug auf die politischen Rechte des Reichswirtschaftsrats deutlich hervorgehoben. Ohne eine spezifische Regelung in der Verfassung wurden die Verbände also im Grunde genommen als rein gesellschaftliche Organisationen wahrgenommen, die sich auf die Vereinsfreiheit im Sinne von Art.l24 oder auf die Koalitionsfreiheit im Sinne von Art.l59 und 165 Abs.l stützten. Die Freiheit der Verbände als Gesellschaftsorganisationen erweiterte sich mit dem Übergang in die Weimarer Republik allerdings in großem Maße. Die Anwendung der §§3 und 17 RVereinsG auf die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände wurde bereits durch das Gesetz vom 26. Juni 191680 aufgehoben; das Sonderstrafrecht des § 153 Gewerbeordnung in Bezug auf gewerkschaftlichen Zwang81 wurde durch das Gesetz vom 22. Mai 191882 beseitigt. Die früher nur beschränkt, nämlich für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in den Gewerben (§152 GewO) sowie im Bergbau (§ 154 Abs.3 Gew083 ), anerkannte Koalitionsfreiheit wurde zuerst durch Ziff.8 des Aufrufs des Volksbeauftragten vom 12. November 1918 für die Landarbeiter, dann durch Art.l59 WV "für jedermann und für alle Berufe" gewährleistet. Wenn es um die Vereinsfreiheit ging, wurden, wie schon bei den politischen Parteien, die einschränkenden Bestimmungen des RVereinsG (§§3,17) und die des BGB (§§61 Abs.2 a.F., 43 Abs.3 a.F.) durch den Aufruf des Volksbeauftragten und durch Art.124 Abs.2 WV beseitigt.

79 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung Bd.336, S.395f.; vgl. auch Glum, Selbstverwaltung der Wirtschaft. 80 RGBI. 1916, 158. 81 RGBI. 1869, 245. 82 RGBI. 1918, 423. 83 ÄnderungsG der GewO vom Juli 1883 (RGBI.I883, 159). Seit 1891 wurde dies in §154a Abs.l GewO formuliert (RGBI. 1891, 261).

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

111. Der vorläufige Reichswirtschaftsrat

Das organisatorische Vorhaben des Art.l65 WV, das organisierte Wirtschaftsleben zu konstitutionalisieren, wurde während der Weimarer Republik nur teilweise erfüllt. Unter den dreistufigen Arbeiterräten und den zweistufigen Wirtschaftsräten, die Abs.2 und 3 des Räteartikels als organisatorische Grundlage vorgesehen hatten, kamen lediglich die Betriebsarbeiterräte und der Reichswirtschaftsrat zustande. Die Betriebsarbeiterräte wurden durch das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 192084 ins Leben gerufen85. Der Reichswirtschaftsrat86 wurde im Unterschied zu dem Betriebsrätegesetz durch die Verordnung der Reichsregierung vom 4.Mai 192087 geschaffen. Dieses Verfahren stützte sich auf das Ermächtigungsgesetz über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft vom 17. April 191988 . Vor diesem Hintergrund kam dem Reichswirtschaftsrat lediglich ein provisorischer Charakter zu. Der Versuch zur Schaffung eines endgültigen Reichswirtschaftsrats wurde im Jahre 1928 mit dem Entwurf eines Gesetzes über den Reichswirtschaftsrat und eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes über den Reichswirtschaftsrat untemommen89. Dieser von dem Reichswirtschaftsministerium vorgelegte Entwurf verfehlte im Reichstag trotz der gemeinsamen Unterstützung der verschiedenen politischen Richtungen knapp die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit90• So kam ein endgültiger Reichswirtschaftsrat bis zur Auflösung des vorläufigen Reichswirtschaftsrats im Jahre 1933 nicht zustande. Ebensowenig erfolgreich waren die Versuche, die Bezirkswirtschaftsräte zu errichten und den dafür notwendigen Unterbau herzustellen, der durch die Umbildung des vorhandenen öffentlich-rechtlichen Kammerwesens einerseits und durch die Neuschaffung der

.. RGBI. 1920, 147. 8s Näheres über die Entstehung des Betriebsrätegesetzes bei: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.J 104ff.; Oertzen, aaO., S.J53ff. 86 Über den Reichswirtschaftsrat bei: Dotzenrath, Wirtschaftsräte und die Versuche zu ihrer Verwirklichung in Preußen-Deutschland; Glum, Der deutsche und der französische Reichswirtschaftsrat, S.25ff.; ders., Der Reichswirtschaftsrat; ders., Selbstverwaltung der Wirtschaft, S.l30ff.; Hauschild, Der vorläufige Reichswirtschaftsrat 2 Bde.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.390ff.; Schäffer, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat Kommentar der Verordnung vom 4. Mai 1920; Tatarin-Tamheyden, Die Berufsstände, S.J65ff.; ders., Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie. Ein Kommentar zu Art.J65 RV; Teschemacher, Der Berufsstand im Licht der Staatslehre, S.50ff. 87 RGBI. 1920, 858. 88 RGBI. 1919, 394. 89 Abgedruckt in: Glum, Der deutsche und der französische Reichswirtschaftsrat, S.96ff. 90 Der Grund lag darin, daß die Wirtschaftspartei und die Bayerische Volkspartei wegen einer Differenz über 2 Sitze gegen den Gesetzesentwurf stimmten (Glum, Der Reichswirtschaftsrat, S.578 Fn.la).

B. Verbände

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Kammer der Arbeiter, Angestellten, Beamten u.a. andererseits geschaffen werden sollte91 • Die Verordnung für den vorläufigen Reichswirtschaftsrat regelte seine Zuständigkeit, die Rechtsstellung seiner Mitglieder und seine Zusammensetzung. Wie Art.l65 Abs.4 WV vorsah, besaß er das Recht zur Begutachtung und zur Initiative bei der Gesetzgebung: Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzesentwürfe von grundlegender Bedeutung sollten von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrate zur Begutachtung vorgelegt werden; er hatte das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen (Art.ll Abs.l VO). Darüber hinaus legte der Reichswirtschaftsrat zwei weitere Befugnisse fest: Er konnte zur Behandlung wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Fragen je einen ständigen Ausschuß bestellen, der von dem zuständigen Ministerium zu hören war, bevor grundlegende Verordnungen über Fragen der Kriegs- und Übergangswirtschaft erlassen oder geändert wurden (Art.ll Abs.3 VO); zur Aufklärung wirtschaftlicher und sozialpolitischer Fragen konnte er von der Regierung die Einbeziehung und Vorlage von Auskünften über wirtschaftliche Verhältnisse verlangen (Art.12 VO). Die Rechtsstellung der Mitglieder ähnelte stark derjenigen der Reichstagsabgeordneten (Art.5 VO). Sie wurden dem Repräsentationsprinzip entsprechend als Vertreter der wirtschaftlichen Interessen des ganzen Volkes erklärt. Darüber hinaus wurden ihnen die Rechte der Parlamentsabgeordneten zuerkannt: Indemnität, Zeugnisverweigerungsrecht, keine Urlaubsbedürftigkeit der Beamten oder Soldaten und Diäten. Im organisatorischen Aufbau des vorläufigen Reichswirtschaftsrats (Art.2 VO) wurde versucht, mit den Vertretern ihrer verschiedenen Teilbereiche die gesamte Wirtschaft einzubeziehen. Der Reichswirtschaftsrat bestand aus 326 Mitgliedern. Sie waren in 10 Gruppen eingeteilt. Auf die ersten 8 Gruppen waren 302 Mitglieder je nach den Wirtschafts- und Berufsbereichen - Gruppe 1: Land- und Forstwirtschaft (68 Vertreter), 2: Gärtnerei und Fischerei (6), 3: Industrie (68), 4: Handel, Banken und Versicherungswesen (44), 5: Verkehr und öffentliche Unternehmungen (34), 6: Handwerk (36), 7: Verbraucherschaft (30) sowie 8: Beamtenschaft und freie Berufe (16) - verteilt. Diese fachliche Gliederung wurde teilweise - in den Gruppen 3 und 4 - nach territorialen Gesichtspunkten ergänzt. Die beiden letzten Gruppen machten diejenigen Mitglieder aus, die jeweils von der Reichsregierung und von dem Reichsrat nach freiem Ermessen ernannt wurden. Darüber hinaus wurden die ersten sechs Gruppen, in denen die unmittelbar an der Produktion und Verteilung der Waren beteiligten Wirtschaftsbereiche vertreten waren, meistens mit einer jeweils gleichen Zahl von

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Näheres darüber bei: Dotzenrath, aaO., S.52ff.; Hauschild, aaO. Bd.l, S.495ff.

9 Song

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer besetzt. So fand das in der Zentralarbeitsgemeinschaft eingeführte Paritätsprinzip auch im Reichswirtschaftsrat seinen Niederschlag. Das Benennungsrecht der Mitglieder kam überwiegend den freien Verbänden zu, die zum großen Teil seit der Jahrhundertwende entstanden waren und sich in der Entstehungsphase der Weimarer Republik zu den neu gegründeten Spitzenverbänden zusammengeschlossen hatten92 • Die Anteilnahme am Benennungsrecht der öffentlich-rechtlichen Verbände wie des Deutschen Landwirtschaftsrats bei der Gruppe 1 oder des Deutschen Industrie- und Handelstages bei der Gruppe 3 war hingegen gering. Auch kam der Zentralarbeitsgemeinschaft das Recht der Benennung eines großen Teils der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in der Gruppe 3 sowie der Benennung der Arbeitnehmervertreter in der Gruppe 6 zu. Schließlich legte die Verordnung hinsichtlich der Arbeitsweise des Reichswirtschaftsrats das Schwergewicht in die Vollversammlung. Die Verordnung sah lediglich zwei ständige Ausschüsse zur Behandlung der Frage der Übergangswirtschaft vor (Art.ll Abs.3 VO). Die organisatorische Entwicklung im vorläufigen Reichswirtschaftsrat wich bald nach dem Beginn seiner Arbeit in den wichtigen Punkten von dem eigentlichen Vorhaben der Verordnung vom 4.Mai 1920 ab93 • Zum einen stellte sich heraus, daß für den sachlichen Charakter der Arbeiten des vorläufigen Reichswirtschaftsrats die Vollversammlung wegen ihrer zu großen Mitgliederzahl nicht geeignet war. Das Schwergewicht der Arbeiten verlagerte sich so allmählich in die Ausschüsse. Die Vollversammlung trat im Jahre 1921 23mal, im Jahre 1922 16mal und dann seit dem Juni 1923 überhaupt nicht mehr zusammen. Statt dessen nahm die Zahl der Ausschüsse immer mehr zu, schließlich bestanden im Jahre 1923 gleichzeitig 53 Ausschüsse. Zum anderen fand ein über die berufsfachlichen Gruppen hinausgehender Zusammenschluß der Mitglieder statt: es entstanden also zwei Abteilungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter aus den ersten 6 Gruppen (Abteilung 1 und 2) sowie eine Abteilung aus den Gruppen 7 bis 10 (Abteilung 3). Diese in der Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat nicht vorgesehenen drei Abteilungen gewannen bald größere Bedeutung als die Gruppen. Die Abteilungen spielten eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der Wahlen zu den Ausschüssen und bei der Vorberatung über die Stellungnahme ihrer Mitglieder vor den Verhandlungen in den Ausschüssen. So zeigten die Abteilungen die Tendenz, sich wie die Fraktionen im Parlament Über die Verbände, die über das Benennungsrecht verfügten, vgl. Schä.ffer, aaO., S.46ff. Vgl. vor allem: Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes über den Reichswirtschaftsrat und zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes über den Reichswirtschaftsrat (abgedruckt in: Glum, Der deutsche und der französische Reichswirtschaftsrat, S.ll8ff.), S.l20ff. 92 93

B. Verbände

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zu entwickeln. Diese tatsächliche Funktion der Abteilungen ließ sich einerseits in der Geschäftsordnung des vorläufigen Reichswirtschaftsrats vom 10. Juni 192194 berücksichtigen, so daß bei den Wahlen des Vorstandes und der Ausschußmitglieder die drei Abteilungen in gleicher Zahl vertreten werden sollten (§§2 und 9). In dem Entwurf des Gesetzes für den endgültigen Reichswirtschaftsrat95 bildeten andererseits die drei Abteilungen - Abteilung 1 der Unternehmer, Abteilung 2 der Arbeitnehmer und Abteilung 3 der öffentlichen Hand, der Verbraucher und der freien Berufe - die organisatorische Grundlage des Reichswirtschaftsrats (§2 Entwurf). Während dabei Abteilung 1 und 3 sechs bzw. acht Gruppen aufwies, wurde in der Abteilung 2, in der die Spitzenverbände der verschiedenen Gewerkschaften gemeinsam über das Benennungsrecht verfügten, keine Gruppeneinteilung vorgesehen. Die organisatorische Entwicklung des vorläufigen Reichswirtschaftsrats, insbesondere seiner Abteilungen, bietet ein Beispiel dafür, daß in der Weimarer Gesellschaft nicht der Unterschied zwischen den Berufsständen, sondern die darüber hinausgehende Interessenauseinandersetzung zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern die grundlegende Problematik bildete. Diese Tatsache, die eine Folge des Machtzuwachses der Arbeiterbewegung war, fand, wie der Gesetzesentwurf für den endgültigen Reichswirtschaftsrat zeigte, solange die Anerkennung der Regierung und des Parlaments, wie die parlamentarische Demokratie funktionierte. Insgesamt gesehen erreichte das in der Weimarer Verfassung verankerte Rätesystem nicht sein beabsichtigtes Ziel. Der Grund lag zum ersten darin, daß während der Weimarer Republik das Rätewesen seine eigenständige Bedeutung nicht erweisen konnte. Seiner ursprünglichen Intention nach stellte der Räteartikel eine Ergänzung des Gedankens einer Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch den Gedanken der sozialen Selbstbestimmung dar. In seiner Verwirklichung überwog aber der gesellschaftlichen Realität entsprechend der Arbeitsgemeinschaftsgedanke so weitgehend, daß kaum noch ein Spielraum für den Gedanken der sozialen Selbstbestimmung übrig blieb. Die Betriebsräte, die zwar zur Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse in den einzelnen Betrieben beitrugen und damit ein neues Tätigkeitsfeld nach dem Gedanken der sozialen Selbstbestimmung finden konnten, wurden aber "zu dem verlängerten Arm der Gewerkschaften"%. Dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat gelang es nicht, die ihm zugeschriebene Eigenständigkeit, über die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer hinaus die Interessen "sonst beteiligter Volkskreise" zu vertreten, als funktionsfähig zu beweisen;

Abgedruckt in: Triepe/, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, Nr.58. Abgedruckt in: Glum, aaO., S.96ff. "'Fraenke/, Kollektive Demokratie, S.81. 94

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3. Kap. Parteien und Verbände im Staatsrecht der Weimarer Republik

vielmehr ergab sich daraus in der Tat "ein treues Abbild der Arbeitsgemeinschaft''97. Dariiber hinaus vertrat ein großer Teil der Arbeiterbewegung einerseits die Meinung, daß die Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht durch die Räte, sondern durch die Erweiterung der gewerkschaftlichen Tätigkeit auf die Wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen erreicht werden konnte98 , und war andererseits mit der politischen Vertretung seiner Interessen durch die politischen Parteien im Parlament zufrieden99• Darum blieb für den Reichswirtschaftsrat kein breites Tätigkeitsfeld übrig. Es fehlte zum zweiten an Kräften, die den Räteartikel im Sinne der Verfassung ernsthaft zu verwirklichen suchten. Der Räteartikel war einerseits kein Wunschkind der republiktragenden Kräfte. Seine Entstehung war dadurch möglich geworden, daß die Weimarer Koalitionsregierung den Forderungen der streikenden Arbeiter teilweise nachgab 100• Andererseits wurde der Räteartikel im Verlauf der Weimarer Republik von Teilen der konservativen Kräfte als Ansatz für den Versuch angesehen, mit der Einführung der berufsständischen Elemente die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten ihrer Interessen zu verändern. Der berufsständische Gedanke fand jedoch selbst in den konservativen Kreisen keine breite Zustimmung als eine ernst gemeinte Alternative, der eine über die Kritik an den parteien- und verbändestaatlichen Verhältnissen der Weimarer Republik hinausgehende Bedeutung hätte zukommen können. Von Bedeutung waren in diesem Zusammenhang schließlich auch die technischen Schwierigkeiten des organisatorischen Ausbaus einer Wirtschaftsvertretung, der die komplizierte Vielfalt der wirtschaftlichen Interessen umfassen sollte und dafür gegebenfalls eine gewisse Umstruktierung der Organisationen in der Gesellschaft erforderte, und damit auch die allgemeine Frage, ob und in welchem Umfang die dynamische Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Beziehung zum Staat in der positiven Verfassung verankert werden konnte101 • IV. Sonstige Institutionalisierung der Einflußwege der Verbände

Was die Beziehung zwischen Staat und Verbänden angeht, zeigt die Geschichte des vorläufigen Reichswirtschaftsrats nur, daß ein höchst interessantes Experiment über einen der möglichen Einflußwege der organisierten wirtschaftlichen Interessen auf die politischen Entscheidungen nicht funktionsfähig war. Dies änderte freilich nichts daran, daß in der Weimarer Republik die Verbände ihre Einflußnahme auf die Politik weitgehend intensivierten, und daß sich ihre Fraenul, Rätemythos und soziale Selbstbestimmung, S.l33. AaO., S. 133f. 99 Vgl. KirchMimer, Weimar - und was dann?, S.39. 100 Fraenul, Kollektive Demokratie, S.80f. 101 Vgl. dazu Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, S.SOlff.

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B. Verbände

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Einflußwege dementsprechend institutionalisierten102• So schrieben "die Geschäftsordnung der Reichsregierung" und "die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien, Besonderer Teil" von 1924103 erstmals die Beteiligung der organisierten Interessen bei der Vorbereitung der Gesetzesentwürfe vor. Zum einen wurde in §§27 Abs.1 und 29 der GGO der Reichsministerien die Hinzuziehung der Fachkreise deutlich gewährleistet 104• Zum anderen wurden in §27 Abs.2 und 3 der GGO der Reichsministerien und §11 der GO der Reichsregierung die Abwehrmöglichkeiten der Regierung gegenüber der Einflußnahme der Verbände mit starkem Druckpotential oder mit spezialisiertem Fachwissen festgelegt 105 • Durch diese Regelung wurde der unmittelbare, weder von dem Reichswirtschaftsrat noch von den politischen Parteien kanalisierte Verbändeeinfluß auf die Regierung institutionalisiert.

Vgl. darüber bei: Böhret, Aktionen gegen die "kalte Sozialisierung" 1926-1930, S.103ff. Abgedruckt in: Poetsch, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung (vom I. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924), S.l75ff. 104 §27 Abs.l GGO der Reichsministerien lautet: "Bei der Vorbereitung von Gesetzen und wichtige!! Verordnungen sind möglichst die Vertretungen der Fachkreise rechtzeitig heranzuziehen. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleibt, wo nicht Sondervorschriften bestehen, im Einzelfalle dem pflichtmäßigen Ermessen überlassen. Die Verbände müssen hinreichende Zeit haben, ihre Unterverbände zu hören und deren Äußerungen zu verarbeiten. Dasselbe gilt für die Beteiligung der Reichsvertretungen der Städte, Landkreise und Landgemeinden". Diese Hinzuziehung der Fachkreise wurde auch durch die Geheimhaltungspflicht der Reichsministerien über die Gesetzesentwürfte nicht berührt (§29 GGO der Reichsministerien). 1 ~ §27 Abs. 2 und 3 lautet: "Bevor die beteiligten Ministerien einig sind, darf nicht mit Fachkreisen in einer Weise Fühlung genommen werden, die eine den Forderungen der Fachkreise unerwünschte Entscheidung in irgendeiner Weise erschwert. Verbände heranzuziehen, deren Wirkungskreis sich nicht über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, ist in der Regel den Landesregierungen vorbehalten". Nach §11 der GO der Reichsregierung sollten Abordnungen in der Regel nur von dem federführenden Fachminister empfangen werden, und der Reichskanzler durfte nur in Ausnahmefallen die Deputationen selbst empfangen. 102 101

4. Kapitel

Politische Parteien und Verbände in der Staats- und Staatsrechtslehre der Weimarer Republik Das Weimarer Staatsrecht spiegelte den Entwicklungsstand und vor allem die tatsächliche politische Bedeutung der Parteien und Verbände nicht genügend wider. Die politischen Parteien wurden in der Verfassung im Grunde genommen nicht erwähnt. Das sonstige Staatsrecht und die staatsrechtliche Rechtsprechung mußten sie hingegen in Betracht ziehen, da ihre staatsbezogenen Funktionen nicht mehr übersehen werden konnten. Daraus ergab sich jedoch kein wesentlich neues Konzept, welches das Wesen und die Funktion der politischen Parteien umf~send regeln konnte. Auch der Versuch, die vermittelnde Funktion der Verbände durch den Reichswirtschaftsrat verfassungsrechtlich zu institutionalisieren, war nicht erfolgreich. Diese Situation änderte freilich nichts an dem Gewicht, das den politischen Parteien und Verbänden im politischen System der Weimarer Republik zukam. Demgemäß war die Lehre herausgefordert, den Abstand zwischen Wirklichkeit und Rechtslage zu überbrücken. Die Frage war nun, wie die Staats- und Staatsrechtslehre die politischen Parteien und Verbände wissenschaftlich erschließen würde. Die Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre konnte während der relativ kurzen Lebensdauer der Weimarer Republik keine systematische Lösung dieser Frage finden, aber immerhin einige richtungsweisende Ansätze entwickeln. A. Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre Zunächst war die Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre freilich weit davon entfernt, die Problematik der politischen Parteien und Verbände deren Entwicklungsstand entsprechend behandeln zu können. Zum einen konnte diese Problematik von der staatsrechtlichen Dogmatik nicht hinreichend erfaßt werden. Zum anderen erschienen sie in einer dem Obrigkeitsstaat verhafteten Perspektive, die auch in der Weimarer Republik noch vielfach eingenommen wurde, als Gefahr für die Staatlichkeit. So fand die staatsrechtliche Diskussion über die politischen Parteien und Verbände in engem Zusammenhang mit einer grundlegenden

A. Methoden- und Richtungsstreit

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methodischen und politischen Auseinandersetzung statt. Der epochemachende Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre spiegelte sich also in den Stellungnahmen der Lehre gegenüber den politischen Parteien und Verbänden wider. Eine Skizze dieses Streits soll daher der weiteren Untersuchung als Grundlage dienen 1• I. Der Weimarer Methodenstreif

Die methodischen Differenzen unter den Weimarer Staatsrechtlern beziehen sich nicht auf die Frage, ob die politischen Parteien und Verbände überhaupt als Gegenstand der Untersuchung durch Staatsrechtier aufgenommen werden durften. Der Wert einer Betrachtung der Realbedingungen des Rechts durch Staatsrechtier in geschichtlicher, politischer, philosophischer und soziologischer Perspektiv wurde von keinem Vertreter der verschiedenen methodischen Richtungen abgelehne. Die methodischen Positionen unterschieden sich vielmehr hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang die Erkenntnisse, die durch herkömmlich nicht als juristisch betrachtete Wissenschaftsdisziplinen gewonnen worden waren, mit der staatsrechtlichen Problematik in Verbindung gebracht werden könnten. Es liegt also die Vermutung nah, daß die methodischen Unterschiede bei der Thematisierung der politischen Parteien und Verbände in der staatsrechtlichen Problematik keine geringe Rolle spielten.

1 Hier werden die Auseinandersetzung um die Methode und der Streit um die grundlegende Ausrichtung wegen ihrer unterschiedlichen - formellen bzw. materiellen - Akzentuierung zunächst getrennt behandelt und danach aufeinander bezogen. Da eine umfassende Darstellung zu diesem Thema nicht vorhanden ist, läßt sich eine Rekonstruktion aus verstreuten Materien nicht vermeiden. 2 Aus der Literatur zum Weimarer Methodenstreit: I) Zur Einteilung der Hauptrichtungen der methodischen Positionen: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.6, S.l5ff.; Koch (Hg), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, S.63ff.; Leibholz, Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht; Schwinge, Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft; Tatarin-Tarnheyden, Staat und Sittlichkeit, S.52ff. 2) Aus der Sicht der Beteiligten bzw. in Bezug auf die bundesrepublikanische Diskussion in den 60er und 70er Jahren: Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Verfassung; Friedrich, Die Grundlagendiskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre; ders., Der Methoden- und Richtungsstreit; Scheuner, 50 Jahre Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer I. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in der Zeit der Weimarer Republik; Smend. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit 3) Im übrigen noch: Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre; Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik; Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S.35ff. 3 Dies gilt auch für die Vertreter der strengsten "juristischen" Methode wie Laband oder Kelsen.

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4. Kap. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

Während der Weimarer Republik befand sich die Zunft der Staatsrechtier im Sog einer epochemachenden Wandlung. Die Anfänge dieses Wandlungsprozesses waren bereits in der späten Phase des Kaiserreichs durch staatsrechtliche Arbeiten von Triepel, Smend, Kaufmann u.a. gesetzt worden4 • Dies war eine unvenneidliche Reaktion auf die methodisch bedingten Probleme, die der juristische Positivismus bei der Wahrnehmung der strukturellen Änderung der Staatstätigkeit in der hoch entwickelten Industriegesellschaft hatte. Diese Reaktion stand im Zusammenhang mit einer geistigen Strömung, die das fehlende Vennögen des vom Neukantianismus beherrschten Aufklärungsprojekts zur Selbstreflexion kritisierte. Smend erklärte in diesem Kontext zu Recht: "Die Krise der Staatslehre beruhte nicht erst auf Krieg und Umwälzung. Sie ist ein geistes-, zunächst ein wissenschaftsgeschichtliches Ereignis" 5 • Ungeachtet solcher Ansätze aus der Vorkriegszeit kann allerdings nicht geleugnet werden, daß die methodische Auseinandersetzung in der Staats- und Staatsrechtslehre erst nach dem politischen Umbruch in einem Maß an Intensität gewann, daß von einer Wende gesprochen werden kann. Im wesentlichen fand mit der Weimarer Verfassung ein Legitimationswechsel statt. Die Legitimationsproblematik, die von politischen und ethischen Fragen nicht leicht getrennt werden kann, gehörte aber nach Ansicht des herkömmlichen juristischen Positivismus eher in das metajuristische Gebiet. Sie sollte nicht den Gegenstand der staatsrechtlichen Auseinandersetzung bilden, sondern politisch gelöst und rechtlich vorausgesetzt werden6 • Während der Weimarer Republik gewann aber die neue Legitimationsgrundlage keinen breiten Konsens in der Gesellschaft, sondern wurde von nicht wenigen Teilen der Bevölkerung bekämpft. Es entstand also kein status quo, in dem ein fonnal-juristischer Gedanke seine Plausibilität stärker hätte behaupten können. Die Situation, in der die verschiedenen Werte um die Oberhand kämpften, förderte vielmehr die Forderung nach Politisierung der Staats- und Staatsrechtslehre. Bereits und gerade in der krisenhaften Anfangsphase der Weimarer Republik wurde diese Forderung lauter, indem die scheinbare Zweck- und Wertneutralität des juristischen Positivismus in Frage gestellt wurde7 • Die Politisierungstendenz der Staats- und Staatsrechtslehre

4 Korioth, Erschütterung des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich; Rennert, aaO., S.31ff.; Stnlleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd.2, S.456f.; Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S.240ff. s Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.l22. 6 Ein typisches Beispiel für diese Denkweise bildet die berühmte Formel der Anschützschen Lückentheorie: "Das Staatsrecht hört hier auf' (Meyer/Anschütz. Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7.Aufl. Teil 3, S.906). Siehe dazu auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.3, S.338ff. 7 Zur Politisierung der Staatsrechtslehre in dieser Phase Laun, Der Staatsrechtslehrer und die Politik; Wittmayer, Reichsverfassung und Politik.

A. Methoden- und Richtungsstreit

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führte unvermeidlich dazu, daß die Methodendiskussion immer stärker mit den materiellen Fragen verknüpft wurde. Da der juristische Positivismus seine inhaltliche Neutraltät nicht mehr glaubhaft machen konnte, verlor er die Basis seines Absolutheitsanspruchs8 • Diese Situation führte, verknüpft mit den allgemeinen geistigen Krisensymptomen seit der Jahrhundertwende, zu der besonderen Intensität des Weimarer Methodenstreits. Der Methodenstreit unter den Weimarer Staatsrechtlern zeigt ein sehr kompliziertes Bild, so daß es kaum möglich scheint, das gesamte Meinungsspektrum kompakt darzustellen. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, daß dieser Methodenstreit im Grunde genommen nicht zwischen den beiden etablierten Lagern stattfand; vielmehr wurde er zuerst von einigen aktiven Kritikern des juristischen Positivismus initiiert, dann wandte sich - abgesehen von Kelsen und seiner Schule - die Entwicklung der Staats- und Staatsrechtslehre dem Ziel einer Auflockerung der streng juristischen Methode zu9 • Vor diesem Hintergrund erschien der Methodenstreit im Verlauf der Weimarer Republik dem größten Teil der Staatsrechtier zunehmend eher eine Frage des "inwiefern" als eine des "entweder - oder". Eine grobe Grenzziehung zwischen den unterschiedlichen Positionen innerhalb dieses Prozesses scheint trotzdem nicht unmöglich. Dazu muß sich die Aufmerksamkeit auf die Fragen konzentrieren, in welcher Richtung die metajuristischen Erkenntnisse über den Methodendualismus hinaus Eingang in die dogmatisc3e Staatsrechtslehre fanden und ob es auch eine Richtung gab, die in der allgemeinen Auflösungsphase der herkömmlichen Methode bewußt neue Formen zu entwickeln suchte. Im folgenden sollen die verschiedenen Positionen innerhalb des Weimarer Methodenstreits dargestellt werden. Als einzige Richtung setzte sich lediglich die Wiener Schule um Hans Kelsen der allgemeinen Tendenz zur Auflockerung der streng juristischen Methode entgegen und versuchte, über die Methodendichotomie Jellineks hinaus den Staat mit dem Recht zu identifizieren sowie alle wertbezogenen und politisch-soziologischen Elemente aus der Staatsrechtswissenschaft auszuschließen. Die sonstigen Richtungen zeigten in vielfältiger Weise und mit unterschiedlicher Intensität die Bereitschaft, sich zu einer methodischen Auflockerung des Positivismus hin zu entwickeln, was insgesamt als

Für eine weitere Trennung zwischen Staatsrecht und Politik hingegen Stier-Somlo, Politik; Piloty, Poiltik als Wissenschaft. 8 Als ein Indiz dafür bezeichnet werden kann, daß der juristische Positivismus von seinen Kritikern mit der bestimmten politischen Richtung verbunden und als "liberalistische" Methode genannt wurde (Heller, Die Souveränität, S.l99; siehe auch Triepel, Staatsrecht und Politik, S.34f.). 9 So wird der juristische Positivismus dieser Zeit von Larenz und Wieacker als die erste Phase der "Abwendung vom Positivismus" und als die "auf der Suche nach der Gerechtigkeit" bezeichnet (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.84ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S.586ff.).

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4. Kap. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

"Teleologisierung" der Methode bezeichnet wurde 10• Die sogenannten "Weimarer Positivisten" wurden zuerst von den aktiven Gegnern des Positivismus kritisiert, akzeptierten sodann passiv, aber unter Vorbehalten die neue Entwicklung. Zu diesen können neben den führenden Köpfen der Heidelberger Schule, Anschütz und Thoma, Giese, Jakobi, Walter Jellinek, Nawiaski, Stier-Somlo und Radbruch gezählt werden. Auch Fritz van Calker und Tatarin-Tarnbeyden verstanden sich als Positivisten. Die soziologische Methode von Jerusalem kann, solange sie innerhalb des Jellinekschen Methodendualismus blieb, auch als eine Variante des Positivismus gelten 11 • Trotz aller Unterschiede ist den bisher genannten Staatsrechtlern gemeinsam, daß die metajuristische Erkenntnis oder die dadurch begründete Kritik des positiven Rechts mit der dogmatischen Staatsrechtslehre unverbunden blieb und die Frage nach dem Geltungsgrund des positiven Rechts damit nicht erhoben wurde. Zu den Kritikern des Positivismus können hingegen v. Hippe!, Laun, Triepel, Herrfahrdt, Wittmayer, Koellreuter u.a. gezählt werden 12 • Diese Staatsrechtier brachten unter dem Einfluß der Genossenschaftsrechtslehre, der Freirechtsbewegung oder der Interessenjurisprudenz metajuristische Fragen wie Politik, Sittlichkeit u.a. in Verbindung mit der staatsrechtlichen Dogmatik. Von dieser "teleologischen" Fortbildung des positivistischen Ansatzes und seiner Kritiker kann eine Gruppe von Staatsrechtlern abgesondert werden 13 • Diese Gruppe war sich in der Erkenntnis einig, daß es Begriffe und Institutionen der staatsrechtlichen Theorie gab, die mit dem positiven Recht nicht im Einklang standen oder sogar davon ignoriert wurden, und daß, um deren Wesen als Ganzheit zu ergreifen, seinsbezogene Erkenntnisse vorausgesetzt werden mußten 14• Diese Seinsverbundenheit wurde dabei also nicht nur im Sinne einer wertbezogenen Betrachtung bei der Rechtsanwendung verstanden, sondern

10 So Schwinge, Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft. Schwinge gehörte als Strafrechtler nicht dem engen Kreis der Staatsrechtier an. Vom Standpunkt der Heidelberger Schule sah er eine Teleologisierung der Methode in einem sehr breiten Feld: von Anschütz bis Smend. Ausgegrenzt wurden lediglich Kelsen einerseits und Holstein andererseits. Diese Einteilung von Schwinge könnte zwar zeigen, daß der methodische Wandel im großen Umfang stattfand, übersieht jedoch wesentliche Unterschiede innerhalb dieses Feldes. Vgl. in diesem Sinne Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S.l3ff.; dens., Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht. 11 Vgl. Tatarin-Tamheyden, Staat und Sittlichkeit, S.52. 12 Huber zählt auch Graf zu Dohna und Marschall von Sieberstein zu dieser Gruppe (Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.6, S.l7). 13 Siehe dazu auch unten D. I. 1' Diese Art der Anschauung wurde später von Lerche als "Stilisierung" bezeichnet: "die Art der ursprünglichen rechtlichen Formung außerdogmatischer Gegebenheiten mit der Folge, sie für die dogmatische Fragestellung überhaupt erst bereit zu machen" oder "die vorbereitende und grundsätzlich formende Bemächtigung dessen, das aus der sozialen Welt in Gestalt von Rechtserzeugnissen eindringt oder in der Hand entsteht" (Lerche, Stil, Methode, Ansicht, S.691).

A. Methoden- und Richtungsstreit

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darüber hinaus in dem Sinne, daß die Erkenntnis der Wirklichkeit als solcher die Voraussetzung für eine juristische Begriffsbildung darstellte. Zu dieser Gruppe gehörten einige Staatsrechtier der jüngeren Generation: E. Kaufmann, Holstein und Smend einerseits, C. Schmitt1s und seine Schule andererseits sowie ferner Heller, Leibholz und auch Friedrich Glum. Zu der Frage, wie der Bereich des "Wirklichen" aufgefaßt werden sollte, bestanden in der Gruppe dieser Staatsrechtier zwar sehr heterogene Auffassungen. Einig war sich diese Gruppe jedoch in der Erkenntnis, daß es sich - wie Smend fonnulierte - nicht um den Wert, sondern um die Struktur handele 16• II. Die politischen Richtungen

Mit der parlamentarischen Demokratie von Weimar fand die inzwischen weitgehend politisierte Gesellschaft Zugang zur staatlichen Macht. Diese Gesellschaft war aber längst nicht mehr bürgerlich-liberal geprägt. Sie war vielmehr eine hoch industrialisierte Gesellschaft der Massen, die je nach ihrer Weltanschauung und ihrem Interesse in hohem Maß organisiert waren. Neu legitimiert werden mußten daher nicht nur die Staatsfonn der Demokratie, sondern auch die Funktion des demokratischen Staates, an dem sich nun die vielfältig organisierten Teile der Industriegesellschaft ihren Kräften entsprechend zu beteiligen suchten. Während der Weimarer Republik wurde eine neue Fonnel für diesen Staat gefunden: der "Parteienstaat", also der Staat der in Parlament und Regierung vertretenen gesellschaftlichen Gruppierungen. Für die Aufgabe, eine Legitimation des Staates auf dieser neu gegebenen Grundlage zu schaffen, war ein neues Staatsverständnis oder überhaupt eine neue Vorstellung von dem politischen Gemeinwesen erforderlich. Solange aber die Interessen- und Meinungsvielfalt in der Gesellschaft prinzipiell als eine Gefahr für die Gemeinschaft angesehen wurde, die sich als Staat, Volk, Nation, Organismus der Berufsstände u.a. begreifen ließ, waren die Voraussetzungen für eine Legitimierung des neuen Staates nicht vorhanden. Während der Weimarer Republik konnte die Staats- und Staatsrechtslehre keinen Konsens über das Wesen und die Funktion der Massendemokratie finden. Die grundlegenden Fragen, ob die Demokratie fonnell oder materiell verstanden werden sollte und damit eine

ts Da Schmitt an dem Methodenstreit nicht aktiv beteiligt war, wurde seine methodische Position als die einer "Sphinx" bezeichnet (Schwinge, aaO., 5.19 Fn.39; vgl. zustinunend auch Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, S.206). Hinsichtlich der Zielsetzung der seinsgebundenen Wesensanalyse der Begriffe und Institutionen kann Schmitt freilich kaum unberücksichtigt bleiben (so uibholz, aaO., 5.269). 16 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.l25.

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4. Kap. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

Diktatur auch in der Demokratie möglich sein konnte und ob die Idee des Rechtsstaates lediglich ein Produkt des Liberalismus bildete oder eine darüber hinaus gehende universale Bedeutung hatte, blieben offen. Die neue Verfassungslage veranlaßte freilich eine neue staatstheoretische und staatsrechtliche Diskussion. Deren Intensität nahm erheblich zu, weil nicht wenige Teile der Staatsrechtier nicht in der Lage waren, den Machtzuwachs der politischen Kräfte aus der Gesellschaft und die Übernahme der staatlichen Macht durch sie zu akzeptieren. Die Tatsache, daß das parlamentarische Regierungssystem in der hoch politisierten und organisierten Gesellschaft unausweichlich von den politischen Parteien geführt werden mußte, hinter denen vor allem die von Verbänden vertretenen Wirtschaftsinteressen standen, wurde nur von einem Teil der Staatsrechtier ohne Vorbehalt anerkannt. Zu dieser Richtung gehörten Staatsrechtier wie Heller, Kelsen, Radbruch, Wittmayer u.a., die als Pluralisten bezeichnet werden können. Demgegenüber stieß der Vonnarsch der politischen Parteien und Verbände in der parlamentarischen Demokratie auf Bedenken von Seiten eines großen Teils der Staatsrechtler. Gemäßigte Widersacher der pluralistischen Tendenz waren im wesentlichen zwei politische Richtungen der Staatsrechtler: die Weimarer Positivisten wie Anschütz und Thoma sowie die gemäßigt konservative Gruppe um Triepel. Die erste Richtung stammte politisch von den gemäßigten Teilen der nationalliberalen Kräfte im Kaiserreich ab, die zu Beginn der Weimarer Republik ins linksliberale Lager übergingen. Die Staatsrechtier dieser Richtung standen also auf dem Boden der Weimarer Verfassung. Sie hatten sich jedoch von der Idee des Obrigkeitsstaates und von der liberalen Elitentheorie nicht genügend freigemacht, so daß die tatsächliche Funktionsweise der Massendemokratie nicht ohne Vorbehalt anerkannt werden konnte 17 • Die gemäßigt konservative Gruppe der Staatsrechtier sah in der Pluralisierungstendenz eine Gefahr für die staatliche Einheit und begründete dies letztlich mit der Sprengkraft der individualistisch-liberalistischen Idee18 • Diese Richtung wurde von Triepel, Smend, Kaufmann, Leibholz, Glum vertreten. Die Liberalismuskritik dieser Richtung wurde indes, ohne den Kernbereich der rechtstaatlichen Tradition zu verlassen, immanent geführt19 • Parteipolitisch gesehen stand diese Gruppe dem gemäßigten Flügel der DNVP nah, näherte sich aber nach dem

17 Über die allgemeine politische Position der Weimarer Positivisten vlg. Döring, Der Weimarer Kreis. 18 Vgl. nur Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien. 19 Vgl. vor allem die Stellungnahme von Triepel über den Rechtsstaat, in: VVDStRL 1932(7}, S.l96ff.

A. Methoden- und Richtungsstreit

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Sieg des Kurses der Hugenbergschen Nationalopposition den Splitterparteien der bürgerlichen Mitte an20• Durch die Immanenz ihrer Liberalismuskritik unterschied sich die gemäßigt konservative Richtung von den radikalen Anti-Pluralisten, die die Herrschaft der politischen Parteien und Verbände durch ein autoritäres System zu ersetzen versuchten. Im Blick auf dieses Ziel wurden Begriffe wie "Staat", "Volk", "Berufsstände" etc. mit einer emphatischen Bedeutung aufgeladen. Dazu gehörte zum einen eine eher retrospektiv orientierte Gruppe der Staatsrechtler, die eine Umstrukturierung des politischen Systems im Sinne der älteren "organischen" Staatsauffassung anstrebte21 • Diese Gruppe stützte sich auf den berufsständischen Gedanken von Spann und Spengler. Vertreten wurde diese Auffassung von Herrfahrdt, Tatarin-Tarnbeyden u.a. Der berufsständische Gedanke konnte aber wegen seiner stark Universalistischen Orientierung, also wegen seiner Ausblendung des staatlich-politischen Primats, auch von diesen Staatsrechtlern nicht ohne Modifizierung übernommen werden. Zum anderen entstand eine Gruppe von Staatsrechtlern, die - insbesondere in der Spätphase der Weimarer Republik - in dem Modell des Machtstaates den Ausdruck und die Realisierungsform ihrer konservativen Gesinnung suchten. Die repräsentative und erfolgreichste Figur dieser Richtung war C. Schmitt. Darüber hinaus vertrat Koellreuter in der Endphase der Weimarer Republik eine Position, die auf Sympathie für die NSDAP schließen läßt22• 111. Das Verhältnis von Methoden· und Richtungsstreit

Der Weimarer Methodenstreit kann von seinem Wesen her mit dem materiellen Richtungsstreit in der Politik über Fortschritt oder Restauration nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Auch innerhalb der gleichen politischen Richtungen sind Methodendiskussionen festzustellen. So spiegelt das gängige Bild, nach dem - abgesehen von Heller - die Positivisten den republiktreuen Staatsrechtlern zugerechnet werden, die Realität nicht wider. Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn der Betrachtungsgegenstand nicht auf die Zunft der Staatsrechtier be20 Über die politische Position dieser Gruppe in der Endphase der Weimarer Republik, die als ein Vernunftsrepublikanismus der Liberal-konservativen bezeichnet werden kann, vgl. Glum, Das geheime Deutschland: Die Aristokratie der demokratischen Gesinnung. Triepel war Mitglied der DNVP, trat aber aus der Partei aus, als Hugenberg die Führung übernahm (Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, 5.420 Fn.ISa). Vgl. auch die Entwicklung der nichtkatholischen Mittelparteien oben 2. Kap. B. I. 5. 21 Als eine umfassende Darstellung siehe nur Wink/er, Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus. 22 Döring, Der Weimarer Kreis, S.I06f. Vgl. auch Koellreuter, Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, S.21ff.

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4. Kap. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

schränkt wird. Innerhalb der republikanischen Juristen, deren Meinungslage vor allem in der Zeitschrift "Die Justiz" 23 ihren Ausdruck fand, stellten kritische Stellungnahmen gegen den herkömmlichen juristischen Positivismus keine Seltenheit dar4 • Umgekehrt war die positivistische Methode auch bei den Staatsrechtlern nicht selten zu beobachten, die sich politisch von der Weimarer Demokratie distanziert hatten. Die Unterscheidung zwischen Methodenstreit und politischem Richtungsstreit bedeutet aber keine Beziehungslosigkeit zwischen der methodischen und der politischen Position der Weimarer Staatsrechtslehre. Vielmehr wurde die methodische Frage von den damaligen Staatsrechtlern mit dem politischen Zweck in Verbindung gesetzt, ihr Element als Strategie, als "Machtfaktor"25 erkanne6 • Lediglich wurde dabei keine Einigkeit darüber erzielt, welche Methode einem bestimmten Zweck besser dienen könnte27 • Eine stabile Lage, die ein solches Urteil erleichtert hätte, war während der Weimarer Republik nicht gegeben. In der komplizierten Situation, in der jedes Element noch nicht stabil, sondern änderbar erschien, waren verschiedene Verbindungsmöglichkeiten zwischen methodischen und politischen Positionen vorhanden.

23 Die Justiz war zugleich Organ des Republikanischen Richterbundes und setzte sich vor allem praxisnah für die Reform der Justiz ein (Näheres darüber bei Rasehom, Justizkritik in der Weimarer Republik). lA Bereits in der Gründungserklärung der Redaktion, die sich aus Wolfgang Mitterrneier, Radbruch und Sinzheimer zusammensetzte, wurde gegenüber dem juristischen Positivismus eine starke Skepsis geäußert: "Wir fragen, ob die überlieferte Rechtslehre, die immer noch hauptsächlich in der privatrechtliehen Anschauung wurzelt, der geistige Ausdruck der sich neu regenden Kräfte ist. Immer noch bilden die isolierten Einzelindividuen das vorhemchende Weltanschauungsbild der Juristen. Immer noch wird auch in der Regel das gesetzte Recht als der einzige Gegenstand der rechtswissenschaftliehen Erforschung angesehen und das werdende Recht, wie es sich lebendig in dem Denken und den wirklichen Gestaltungen entwickelt, zurückgestellt" (Was wir wollen, S.3f.). In dieser Zeitschrift wurden die methodischen Positionen von der Reinen Rechtslehre über die freirechtliche Richtung von Ernst Fux bis zur wirklichkeitswissenschaftlichen Methode von Heller vertreten. 2!! So Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S.347. 26 In der Übergangsphase zur Weimarer Republik distanzierte sich z.B. Anschütz vorübergehend von der Grundposition des juristischen Positivismus (Anschütz, Die kommende Reichsverfassung, S.l15). Der Grund dafür lag in der politischen Lage, in der für die sozialistischen Kräfte die Möglichkeit vorhanden war, allein die Mehrheit zu schaffen. Dies blieb eine Episode, nachdem deutlich wurde, daß die Politik ihre liberale Grundlage nicht preisgeben würde. Siehe dazu Grimm, aaO., S.366ff. 27 Als ein typisches Beispiel dafür könnte der methodische Unterschied zwischen Heller und Radbruch genannt werden. Vgl. dazu Schneider, Positivismus, Nation und Souveränität. Über die Beziehung zwischen Heller und Radbruch.

B. Parteien- und Verbändelehre des juristischen Positivismus

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B. Die Lehre von den politischen Parteien und Verbänden im Lichte des juristischen Positivismus I. Der Weimarer Positivismus

Eingangs der Weimarer Republik konnte der juristische Positivismustrotz der Zunahme der abweichenden Positionen seit der Endphase der konstitutionellen Monarchie seine herrschende Position weiterhin behaupten. So bildeten die Teile des staatsrechtlichen Positivismus, die sich auf dem Boden der Weimarer Verfassung befanden, die herrschende Lehre, die aber im Laufe der Zeit immer stärker angefochten wurde. Eine Untersuchung der Weimarer Lehre von den Parteien und Verbänden sollte daher mit den sogenannten "Weimarer Positivisten" anfangen. In Betracht kommen insbesondere die Lehren von Anschütz, Thoma, Nawiaski und Radbruch28• Neu war in der Weimarer Republik nicht das Wesen der politischen Parteien und Verbände, sondern die Demokratie. So mußte eine Lehre von den Parteien und Verbänden in der Demokratie entwickelt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich die Weimarer Parteien- und Verbändelehre eng auf die Demokratielehre bezog. Als sich die politische Lage nach anfänglichen Unsicherheiten zugunsten der parlamentarischen Demokratie stabilisierte, begann der Weimarer Positivismus die neue demokratische Staatsform zu rechtfertigen. Unter den Weimarer Positivisten interessierte sich vor allem Thoma auch für die methodischen Fragen sowie für die Allgemeine Staatslehre. Er versuchte, die politischen Parteien und Verbände in den Zusammenhang einer systematischen Demokratielehre einzuordnen. Daher wird die Lehre Thomas im Zentrum der folgenden Darstellung liegen. 1. Der Staatsbegriff

Die Ausgangsfrage dieser Demokratielehre ging dahin, inwiefern "diese (demokratische: Verf.) Herrschaftsbildung eine >>staatlichemodernen Staates>Staates>Träger der Staatsgewalt>Volke>Organen>Staatsform>Volk>Freiheit>Gleichheit: Republik bezog Leibholz noch deutlicher Stellung gegen eine Auslieferung der Methode an jene vereinfachende Altemative246 • Aus der Auffassung, daß die Staats- und Staatsrechtslehre wie jede Erkenntnis eine bestimmte Werthaltung voraussetze und in diesem Sinne einen politischen Akzent habe, ergebe sich nicht, daß sie aufhöre, "Gegenstand echter wissenschaftlicher, d.h. sachlich gebundener Erkenntnis zu sein". Und: "Im Gegensatz zu den 'schlechten' Werturteilen, die in der reinen Sphäre der Subjektivität des Ichs verhaftet sind, stehen die zwar auch subjektiven, aber seinsverhafteten Einsichten, die in reiner Sachhingegebenheit an der politischen Wirklichkeit und den gegebenen politischen Phänomenen orientiert sind". Von diesem Problembewußtsein war der Lösungsversuch geprägt. Leibholz versuchte, die Position der methodisch rekonstruktiven Richtung im Verweis auf die Anwendungsgrenze der teleologischen Rechtsbetrachtung zu begründen. Die teleologische Betrachtungsweise sei nur dort verwertbar, wo die Mehrheit möglicher Rechtszwecke mehrere Lösungen gestatte, wie z.B. bei der Auslegung von Rechtssätzen, der Entscheidung von Kontroversen, der Konstituie-

244 245

246

Heller, Die Krisis der Staatslehre, S.l4. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.l83f. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland, Vorwort.

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4. Kap. Parteien und Verbände in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

rung rein zweckbestimmter Begriffe247 • "Sie muß aber dort versagen, wo für Zweckmäßigkeitserwägungen kein Raum ist, vor allem also bei der Analyse des spezifischen Wesens bestimmter publizistischer Begriffe und ideenbezogener Institutionen". Er fuhr fort: "Wesensbegriffe wie z.B. der Begriff des Politischen, des Staates, der Verfassung, der Regierung, der Repräsentation, der Souveränität sind seinsmäßig gebundene Begriffe und können als solche nicht im leeren Raum, sondern nur zugleich mit Hilfe der Empirie gewonnen werden" 248 • Solche Wesensbegriffe seien also Gegenstand eines objektiven Erkenntniswertes249 • Es sei dann nicht zulässig, daß sie allein von Zweckerwägungen abhängig gemacht würden. Für eine Rekonstruktion der Staats- und Staatsrechtslehre sei, im ganzen gesehen, die teleologische Methode nicht ausreichend, sie müsse vielmehr durch eine die Herstellung der zentralen Begriffe ermöglichende seinsbezogene Analyse ergänzt werden. In den beiden Werken von Schmitt und Smend sah Leibholz repräsentative Beispiele dieser methodischen Position250• II. Die Staatsauffassung Einer der wichtigsten Kritikpunkte der methodisch rekonstruktiven Richtung der Staatsrechtier betraf den formal-juristischen Staatsbegriff des juristischen Positivismus. Der Übergang in die parlamentarische Demokratie hatte eine Funktionserweiterung der Volksvertretung zur Folge. Sie wandelte sich von einem Kontrollorgan der Gesellschaft gegenüber dem Staat zu einem selbst staatsgestaltenden Organ. Die Frage lautete nun, ob die staatsrechtlichen Probleme in dieser neuen Situation mit der formal-juristischen Staatsauffassung aus der konstitutionellen Monarchie oder mit ihrer konsequenteren Fortführung durch die Reine Rechtslehre bewältigt werden konnten. Die Staatsrechtier dieser Richtung waren darin einig, daß in der Staats- und Staatsrechtslehre die reale Existenz des Staates durch den formal-juristischen Staatsbegriff weitgehend außer Acht gelassen worden war, und daß die neue Situation eine Materialisierung des Staatsbegriffs forderte. In diesem Zusammenhang kritisierte Heller die Kelsensche Identifizierung des Staates mit dem Recht als eine "Staatslehre ohne Staat"251 und sah Smend den Hauptgrund der Krise der Staats- und Staatsrechtslehre darin, daß "der Staat nicht als ein Stück der Wirklichkeit betrachtet wer-

247

Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S.l6; ders., Zur Begriffsbildung im Öffentlichen

Recht, S.268. 248 249 250

251

Leibholz. Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht, S.269. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S.l6 Fn.4. Leibholz, Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht, S.269. Heller, Die Krisis der Staatslehre, S.23.

D. Parteien- und Verbändelehre in der seinsbezogenen Begriffsbildung

187

den darf' 252 • Die Staatsrechtier dieser Richtung versuchten dann, das in jeder Form des Staates vorhandene, die Posivitität des Rechts überhaupt ermöglichende Element des Wirklichen in den Staatsbegriff einzuführen. So definierte Heller den Staat als einheitliche Willensrealität, Smend sah ihn als realen Willensverband253• Nachdem sich die Auseinandersetzung um den Staatsbegriff aber bis zu dem Problem seiner Materialisierung zugespitzt hatte, erlangten freilich die unterschiedlichen Auffassungen Bedeutung, die mit den politischen Standpunkten gegenüber der parlamentarischen Demokratie eng verknüpft waren. Die Positivismuskritiker der methodischen Rekonstruktion waren zum großen Teil, mit Ausnahme von Heller5\ bürgerlich-konservativ gesinnt und standen in innerlicher Distanz gegenüber der parlamentarischen Demokratie von Weimar. Diese Staatsrechtier neigten dazu, die Verfassungsordnung von Weimar in erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer Auflösung der staatlichen Einheit zu sehen. Vor diesem Hintergrund erachteten sie den herkömmlichen formal-juristischen Staatsbegriff als uneignet, zur Bewahrung und Verfestigung der staatlichen Einheit beizutragen, und versuchten, die substanziellen Momente des Staates über die vorhandene Verfassung hinaus hervorzuheben. 1. Schmitt

Schmitt fand dabei seinen Ansatzpunkt im Ausnahmezustand: "Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes"; und "Die Existenz des Staates bewahrt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm" 255 • Daraus ergab sich eine allgemeine Sclußfolgerung: "Die Einheit und Ordnung liegt in der politischen Existenz des Staates, nicht in Gesetzen, Regeln und irgendwelchen Normativitäten" 256 • Die normative Verfassung gelte daher "kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt" 257 • In diesem Zusammenhang verstand Schmitt die moderne bürgerlichrechtsstaatliche Verfassung als eine gemischte Verfassung, also als eine Mischform zwischen dem politischen Bestandteil, der den Staat als eine politische 252

Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.121.

m Heller, Die Souveränität, S.Sl; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.l27. Siehe in

diesem Zusammenhang auch Schmitt, Politische Theologie. 254 Wenn es aber dabei berücksichtigt wird, daß Heller nicht nur in dieser methodischen Richtung, sondern in der gesamten Zunft der Weimarer Staatsrechtier der einzige Vertreter der sozialdemokratischen Richtung war, sollte seiner Stellungnahme mehr Gewicht als das einer Person zugeteilt werden. 255 Schmitt, Politische Theologie, S.l3. 256 Schmitt, Verfassungslehre, S.IO. 257 AaO., S.22.

188

4. Kap. Parteien und

Verbäm~e

in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik

Einheit des Volkes überhaupt ermöglichte, und dem rechtsstaatliehen Bestandteil, dessen Ursprung Schmitt in dem liberalen Prinzip der bürgerlichen Freiheit sah258 • Während im ersteren also das Wesen des Staates zum Ausdruck kommen sollte, ging es bei letzterem lediglich um Art und Charakter der Staatsverwirklichung.

2. Smend Smend verstand den Staat dynamisch als lntegrationsprozeß, der nicht nur personell und funktionell, sondern auch sachlich wertbezogen stattfinden mußte259 • Als ein Integrationsprozeß stellte der Staat bei ihm einen Selbstzweck dar, er konnte so keiner fremden Zwecksetzung unterworfen werden260• Die Verfassung habe dann als die Rechtsordnung des staatlichen Integrationsprozesses ihre einzige wesentliche Aufgabe in der Gewährleistung des staatlichen Daseins. Trotz der von ihm geteilten substanziellen Staatsauffassung widersprach Smend der Denkweise Schmitts, "die das kategoriale Wesen des Staates darin findet, daß in ihm eine formale letzte Dezisionsgewalt besteht" 261 • Diese Denkweise könne nur dort gerechtfertigt werden, "wo diese letzte, 'souveräne' Instanz .auch die Repräsentation der das Ganze sachlich integrierende Werte ist: in der römischen Kirche, in der Monarchie vor der konstitutionell-nationalstaatlichen Periode", aber nicht in dem modernen Staatsleben, in dem der Kern der staatlichen Wirklichkeit nicht in einer vorübergehenden technischen Nothilfe, sondern in der Integration der inzwischen entstandenen Individuen in das normale Verfassungsleben liege. Während der Weimarer Verfassungskrise, insbesondereangesichtsder Auflösung des Präsidialkabinetts Brüning einerseits und der Veröffentlichung von "Hüter der Verfassung" und "Legalität und Legitimität" andererseits, trat der Positionsunterschied Smends gegenüber Schmitt stärker hervor62 • Nun stellte sich Smend der Rechtsstaatslehre Schmitts eindeutig entgegen: Der "Begriff des 'bürgerlichen' Rechtsstaats als eines Systems unpolitischer Abwehr und Distanzierung eines innerlich unpolitischen und staatsfremden Bürgertums gegenüber dem Staat entspricht aber nicht der Wirklichkeit unserer Verfassungsgeschichte

AaO., S.l25ff., S.200ff. Näheres über diese drei Integrationsfaktoren bei: Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.l42ff. 260 AaO., S.l89, S.l97f. 261 AaO., S.212. 262 Über die politische Option Schmitts in dieser Phase siehe bei: Huber, Carl Sehnlitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit; Noack, Carl Schmitt, S .122ff. 258 259

D. Parteien- und Verbändelehre in der seinsbezogenen Begriffsbildung

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und unseres geltenden Staatsrechts. Es ist ein polemischer Begriff, bestimmt, als Folie zu dienen für eine gegensätzliche, politischere Begriffswelt"263 • 3. Heller Heller stand im Unterschied zu Schmitt und Smend völlig auf dem Boden der Weimarer Verfassung und setzte sich für ihre Verwirklichung ein. Heller lehnte den formal-juristischen Staatsbegriff deshalb ab, weil dieser nicht in der Lage zu sein schien, eine Ausgangsbasis für die parlamentarische Demokratie in der Massengesellschaft zu bieten, die seines Erachtens notwendig über den bürgerlichen Rechtsstaat hinaus zu einem sozialen Rechtsstaat fortentwickelt werden mußte. Heller nannte seine Sichtweise im Gegensatz zur Geisteswissenschaft eine Wirklichkeitswissenschafe64 • In dieser Perspektive hielt er es für nicht ausreichend, daß Smend den Staat als "Einheitsgefüge der Sinnerlebnisse"265 bezeichnete. Diese Staatsauffassung "könnte allenfalls eine Ideenlehre des Staates, niemals aber eine Staatslehre fundieren" 266 , da der Staat kein Sinngebilde, sondern ein Seinsgebilde darstelle267 • Der Staat sei nicht "als eine Erfindung freier menschlicher Willkür", sondern "als das notwendige Produkt des in der angegebenen Natur- und Kultursituation wirkenden menschlichen Willens" entstanden268 • Ein Staatsbegriff müsse sich darum auf die wirkliche Existenz des Staates stützen: "Der Staat als eine in der gesellschaftlichen Wirklichkeit tätige Einheit" 269 • Der Staat unterschied sich bei Heller zwar mit seiner Eigenschaft der souveränen Gebietsherrschaft von den gesellschaftlichen Gruppierungen, bildete aber von seinem Wesen her zugleich, wie jeder Verband in der Gesellschaft, eine Organisation. Der Staat sei also kein "selbständiges, vom den ihn bewirkenden Menschen losgelöstes Wesen", sondern "ein wirkliches einheitliches Aktzentrum innerhalb der Vielheit wirklicher und selbständiger ... Aktzentren'm0 • Solange er Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, S.314f. Im ähnlichen Zusanunenhang nahm Triepel in seinem Diskussionsbeitrag auf der Staatsrechtslehrertagung von 1931 Stellung: "Heute wird mit dem Wort >>liberal>liberal