Polarisierte Städte: soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik 9783593399744, 3593399741

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German Pages 351 pages: illustrations; 22 cm [353] Year 2013

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Polarisierte Städte: soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik
 9783593399744, 3593399741

Table of contents :
Inhalt......Page 6
Vorwort......Page 8
Einleitung: Die Aktualität der Polarisierungsthese für die Stadtforschung......Page 10
I. Polarisierungen......Page 26
Die europäische Stadt in Gefahr......Page 28
Ökonomischer Strukturwandel und Polarisierungstendenzen in deutschen Stadtregionen......Page 52
Innere Suburbanisierung? Mittelschichteltern in den neuen innerstädtischen Familienenklaven......Page 70
Die Verantwortung der Schulen für die Integration der Stadtgesellschaft in Deutschland......Page 91
Welche Bedeutung hat schulische Bildung für die städtische Integration?......Page 108
II. Potenziale......Page 128
Produktion zurück in die Stadt?......Page 130
Marginale Urbanität als neue Form der Integration in die Stadtgesellschaft......Page 152
Städtische Integration durch Sicherheits- und Kontrollpolitik?......Page 171
Die Stadt politisieren - Fragmentierung, Kohärenz und soziale Bewegungen in der »Sozialen Stadt«......Page 195
III. Politik......Page 218
Die neuen Grenzen sozialer (Stadt-)Bürgerschaft: Die Stadt in den Mehr-Ebenen- Governance-Strukturen......Page 220
Öffentliche Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor: »Comeback« der Kommunen?......Page 243
Städtisches Wohnen am Scheideweg - Anforderungen an die Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik......Page 273
Aufstieg und Fall der sozialen Stadtpolitik in Europa - Das Ende einer Ära?......Page 288
Stadtteilpolitik: Lehren aus den USA......Page 310
IV. Ausblick......Page 328
Wie könnte es weitergehen? Perspektiven der Stadtsoziologie......Page 330
Autorinnen und Autoren......Page 351

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Polarisierte Städte

Martin Kronauer ist Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Walter Siebel ist Professor i.R. für Soziologie an der Universität Oldenburg. Zusammen mit Hartmut Häußermann hat er bei Campus den Band »Stadtsoziologie« (2004) publiziert.

Martin Kronauer, Walter Siebel (Hg.)

Polarisierte Städte Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik

Campus Verlag Frankfurt/New York

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39974-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2013 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Hausfassaden in Berlin © picture alliance, 360-Berlin/Jens Knappe Satz: Fotosatz L. Huhn, Linsengericht Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany Dieses Buch ist auch als E-Book erschienen. www.campus.de

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung: Die Aktualität der Polarisierungsthese für die Stadtforschung Martin Kronauer, Walter Siebel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Polarisierungen Die europäische Stadt in Gefahr Edmond Préteceille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Ökonomischer Strukturwandel und Polarisierungstendenzen in deutschen Stadtregionen Martin Gornig, Jan Goebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Innere Suburbanisierung? Mittelschichteltern in den neuen innerstädtischen Familienenklaven Susanne Frank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die Verantwortung der Schulen für die Integration der Stadtgesellschaft in Deutschland Christine Baur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Welche Bedeutung hat schulische Bildung für die städtische Integration? Chris Hamnett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

II. Potenziale Produktion zurück in die Stadt? Dieter Läpple . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

6 Inhalt Marginale Urbanität als neue Form der Integration in die Stadtgesellschaft Felicitas Hillmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Städtische Integration durch Sicherheits- und Kontrollpolitik? Jens Wurtzbacher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Stadt politisieren – Fragmentierung, Kohärenz und soziale Bewegungen in der »Sozialen Stadt« Andrej Holm, Henrik Lebuhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

III. Politik Die neuen Grenzen sozialer (Stadt-)Bürgerschaft: Die Stadt in den Mehr-Ebenen-Governance-Strukturen Europas Yuri Kazepov. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Öffentliche Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor: »Comeback« der Kommunen? Hellmut Wollmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Städtisches Wohnen am Scheideweg – Anforderungen an die Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik Bernd Hunger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Aufstieg und Fall der sozialen Stadtpolitik in Europa – Das Ende einer Ära? Simon Güntner, Uwe-Jens Walther. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Stadtteilpolitik: Lehren aus den USA John Mollenkopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

IV. Ausblick Wie könnte es weitergehen? Perspektiven der Stadtsoziologie Martin Kronauer, Walter Siebel, Uwe-Jens Walther. . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Vorwort

Das vorliegende Buch ist dem Gedenken an Hartmut Häußermann gewidmet, der am 31. Oktober 2011 verstarb. Er war mit seinen Beiträgen zur Stadtforschung richtungsweisend in Deutschland und international hoch geschätzt. Für die Autorinnen und Autoren dieses Bands und viele andere, die aus pragmatischen Gründen in ihm nicht vertreten sein können, war er verlässlicher Kollege, Inspirator und großherziger Freund. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigten ihn vornehmlich zwei Themen, die Einkommenspolarisierung in deutschen Stadtregionen und deren soziale Folgen sowie mögliche Ansätze zur Überwindung der ausgrenzenden Wirkungen konzentrierter Armut in städtischen Quartieren. Beide Themen sind von zentraler stadtsoziologischer und stadtpolitischer Bedeutung, deshalb greifen wir sie im Folgenden auf. Am Zustandekommen des Buchs sind viele beteiligt, denen wir danken möchten. Nicole Zeuner und die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen mit dem Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung der HumboldtUniversität zu Berlin haben es uns ermöglicht, dass sich die Autorinnen und Autoren zu einem Symposium getroffen haben, um gemeinsam erste Entwürfe ihrer Beiträge zu diskutieren. Sofern es gelungen ist, mehr als nur einen der üblichen Sammelbände zustande zu bringen, geht dies auf den gemeinsamen Verständigungsprozess zurück. Talja Blokland war maßgeblich an der Organisation des Symposiums und ersten Konzeptionierungen des Buchs beteiligt. Dass sie sich aus sehr nachvollziehbaren Gründen aus dem Herausgeberkreis zurückziehen musste, haben wir sehr bedauert. Uwe-Jens Walther und die anderen Mitglieder des Lesekreises, den Hartmut Häußermann einst ins Leben gerufen hatte und der sich noch immer trifft, Birgit Glock, Martin Gornig, Wulf Hopf und Jens Wurtzbacher, lasen die Manuskripte und diskutierten sie mit uns, was das Lektorieren sehr bereichert und erleichtert hat. Susanne Frank und ihre studentischen MitarbeiterInnen Ute Leman, Kaja Rocks und Fabian Menke waren von größter Hilfe beim Re-

8 Vorwort digieren. Judith Wilke-Primavesi, die Verlagsleiterin Wissenschaft im Campus Verlag, hat die Herausgabe großzügig unterstützt. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Martin Kronauer, Walter Siebel

Berlin und Ameno im August 2013

Einleitung: Die Aktualität der Polarisierungsthese für die Stadtforschung Martin Kronauer, Walter Siebel

Drei Perspektiven stadtsoziologischer Forschung In den Städten verdichten sich die emanzipatorischen Möglichkeiten, aber auch die Problemlagen und zerstörerischen Wirkungen moderner, kapitalistischer Gesellschaften. Über die Lebensqualität in der Gesellschaft entscheidet der Umgang mit den Fremden, die die Städte bevölkern, der Umgang mit den sozialen Ungleichheiten innerhalb der Städte und zwischen ihnen und der Umgang mit den ökologischen und sozialen Folgen von Wachstum und Schrumpfen der Städte. Zwar ist die Stadt heute nicht mehr als »unabhängige Variable« (Häußermann/Siebel 2004: 100) zu denken. Verstädterung und Urbanisierung haben den Stadt-Land-Gegensatz zunächst abgeschwächt und schließlich überwunden (Häußermann 2006: 257). Wohl aber wirken die Städte »als Katalysator, Filter oder Kompressor gesellschaftlicher Entwicklungen« (Häußermann/Siebel 2004: 100). Dies gilt insbesondere für gesellschaftliche Ungleichheit. Ungleichheiten der Klassenlage und Einkommen, des Geschlechts, der Lebensstile und Lebensphasen manifestieren sich in den Sozialräumen der Städte, ihrer Ausstattung mit Infrastruktur und Wohnraum, der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit ihrer öffentlichen Plätze. Städte erzeugen diese Ungleichheiten nicht, aber sie können sie verstärken oder auch abschwächen und ihre problematischen Folgen mehr oder weniger kompensieren. Eine enge Koppelung von Arbeitsmärkten und Wohnungsmärkten zum Beispiel verschärft die Ungleichheit dadurch, dass sie die sozialräumliche Segregation verstärkt. Einkommensschwache konzentrieren sich dann in Quartieren mit schlechterer Wohnqualität, oft auch mit einer schlechteren Versorgung mit öffentlichen und privaten Dienstleistungen und einem schlechten Ruf, der sich etwa bei der Arbeitssuche bemerkbar macht. Auf diese Weise können negative Nachbarschaftseffekte, die die Lebensqualität und Lebenschancen zusätzlich beeinträchtigen, wirksam werden (Häußermann/Kronauer 2009). Städte können

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aber auch durch einen sozialen Wohnungsbau, der ohne Diskriminierungen alle Wohngebiete einbezieht, derartige Effekte abschwächen oder vermeiden. Sie können überdies durch die Bereitstellung von Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen und von öffentlichen Gütern oder auch als öffentliche Arbeitgeber dazu beitragen, Einkommensungleichheit und deren Folgen zu vermindern. Sie sind dabei allerdings auf eine nationale Gesetzgebung angewiesen, die ihnen lokale Verantwortlichkeiten und Kompetenzen überträgt, vor allem aber auf Einkommensquellen (eigenständige Finanzquellen, Länder- und Bundesmittel, europäische Gelder und auf die Standortentscheidungen von Unternehmen), die sie nur begrenzt beeinflussen können. Stadtforschung muss folgerichtig immer eingebunden sein in die Analyse gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Beispielhaft dafür seien die demographischen Veränderungen genannt (Häußermann/Siebel 1987), die Prozesse der Deindustrialisierung und die Entwicklung der »Dienstleistungsgesellschaften« (Häußermann/Siebel 1995). Dabei interessieren aber nicht allein deren Auswirkungen auf die Städte, vor allem was die Ungleichheiten betrifft, sondern ebenso die Bearbeitung der gesellschaftlichen Entwicklungen durch die Städte, vor allem ihre Potenziale zur Bewältigung und Eindämmung von sozialen Ungleichheiten. Das von Häußermann häufig gebrauchte Bild der Stadt als »Integrationsmaschine« (z. B. Häußermann 2006: 257) bringt dies prägnant zum Ausdruck. Er bezeichnete damit Strukturmerkmale europäischer Städte einer bestimmten Epoche, die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, in den dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zur bisher vollsten Entfaltung kam und seither einen Niedergang erlebt, ohne dass bereits entschieden wäre, welche Epoche sie ablöst (siehe hierzu auch den Beitrag von Préteceille in diesem Band). Ende des 19. Jahrhunderts waren die europäischen Städte, konfrontiert mit den dramatischen Folgen der Industrialisierung und der sie begleitenden und vorantreibenden Klassenspaltung, zum Experimentierfeld sozialstaatlicher Maßnahmen geworden, noch ehe überhaupt von einem Sozialstaat im engeren Sinn die Rede sein konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten sie als »Integrationsmaschinen« arbeitsteilig und im Rahmen expandierender, lokal ebenso wie regional und national organisierter Sozialstaaten. Mit der Bereitstellung kollektiver Güter, der Ausweitung sozialer Dienste und dem sozialen Wohnungsbau trugen sie dazu bei, die Ungleichheiten in den Lebensbedingungen zu verringern, Aufstiegsmobilität zu fördern und die Lohnabhängigen »vor Ort« in die bürgerliche Gesellschaft einzubinden (Häußermann 2006: 258) – all dies unter der Voraussetzung hoher ökono-

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mischer Wachstumsraten und relativer, weitgehend auf die erwerbstätigen Männer beschränkter Vollbeschäftigung. Die wieder zunehmende Arbeitslosigkeit und Armut in den Städten sowie deren sozialräumliche Verdichtung, aber auch die Finanzknappheit der Städte zeigten seit den 1980er Jahren an, dass die »Integrationsmaschine« ins Stocken geraten war. Beides, die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen mit Blick auf ihre Manifestationen in den Städten und das Aufspüren der Potenziale, mit denen die Städte die Entwicklungen verarbeiten können, verbindet sich in einer gesellschaftlicher Aufklärung verpflichteten Stadtsoziologie mit einem Dritten, dem politischen Impetus, mittels der eigenen Forschungen zu intervenieren. Stadtpolitik ist gleichermaßen Untersuchungsgegenstand (Häußermann u. a. 2008) wie Betätigungsfeld, Intervention eine notwendige Konsequenz der eigenen Erkenntnisse, sie muss aber immer auch von der kritischen Distanz wissenschaftlicher Erkenntnis geleitet sein. Die drei Perspektiven, die Hartmut Häußermanns Arbeit angeleitet haben, sind für fruchtbare stadtsoziologische Forschung wegweisend und unverzichtbar. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind deshalb diesen Perspektiven zugeordnet: der Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen sozialer Ungleichheit und ihrer Manifestationen in den Städten (I); den Potenzialen, die Städte bereithalten, um die daraus resultierenden Konflikte auszutragen und auszuhalten, die Ungleichheiten einzudämmen oder gar zu überwinden (II); der Stadtpolitik, die seit einiger Zeit eine ambivalente Aufwertung erfährt (III). Gelten diese Beiträge im Wesentlichen den Versuchen einer Gegenwartsdiagnose, so werden wir im Abschnitt IV offene Forschungsfragen für die Zukunft formulieren, die den gleichen drei Perspektiven verpflichtet sind und an die vorliegenden Beiträge anknüpfen.

Im Fokus: Polarisierte Städte Die Vorstellungen von der zweigeteilten Stadt (»dual city«, Mollenkopf/Castells 1992) oder der sich im Zuge der Globalisierung polarisierenden Metropolen (Sassen 1991) sind amerikanischen Ursprungs. Ihre Übertragbarkeit auf europäische Städte wurde bislang mit guten Gründen von europäischen Forschern immer wieder in Frage gestellt (siehe Hamnett 2003 und Préteceille in diesem Band). Als Häußermann und Siebel 1987 in Deutschland eine »Polarisierung der großen Städte« diagnostizierten (Häußermann/Siebel

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1987: 44), meinten sie damit ein Auseinanderdriften von wachsenden und schrumpfenden Städten und Stadtregionen, nicht eine interne Polarisierung der Städte. Gibt es inzwischen Anlass genug, nun doch auch eine solche Polarisierung innerhalb deutscher und anderer europäischer Städte zu bedenken? Im Sinne der zuerst genannten stadtsoziologischen Perspektive müssten sich dafür Indizien anführen lassen, die, was die gesellschaftliche Entwicklung der Ungleichheit betrifft, auf eine Tendenz zur Polarisierung hindeuten. Weiterhin müssten plausible Gründe dafür sprechen, dass sich diese Tendenz auch in den Städten bemerkbar macht oder bemerkbar machen wird und zu einer sozialen und politischen Neukonturierung städtischer Ungleichheiten führen dürfte. In der Tat gibt es mittlerweile auch in Deutschland dafür zumindest zwei deutliche Anhaltspunkte. Der erste besteht in der seit Mitte der 1990er Jahre zum ersten Mal erkennbaren Tendenz zu einer Einkommenspolarisierung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die oberen und insbesondere die unteren Einkommensgruppen nehmen auf Kosten der mittleren zu (Goebel u. a. 2010). Dieser Trend wurde in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre (vorläufig?) gestoppt, ohne dass sich bislang jedoch die Schere wieder schließen würde (Grabka u. a. 2012). Aus stadtsoziologischer Sicht ist dabei vor allem bemerkenswert, dass sich die Polarisierungstendenz durchgängig auch auf der Analyseebene von Stadtregionen zeigt. Je nach Beschäftigungs‑ und Branchenentwicklung fällt sie zwischen den Regionen unterschiedlich stark aus, aber überall macht sie sich bemerkbar (Goebel u. a. 2012). Der Beitrag von Gornig und Goebel führt diese Argumentation weiter. Der zweite Anlass, sich mit der Polarisierungsfrage auseinanderzusetzen, liegt im sozialpolitischen Kontext, in dem sich gegenwärtig die Tendenz zur Einkommenspolarisierung zeigt. Die funktionstüchtige »Integrationsmaschine Stadt« war, wie bereits angesprochen, auf einen expandierenden Sozialstaat angewiesen und schon in den 1980er Jahren ins Stocken geraten. Gleichwohl gingen selbst in Großbritannien unter Thatcher die Sozialausgaben in ihrem Gesamtumfang nicht zurück (nicht zuletzt wegen der Arbeitslosigkeit und der steigenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern). Und viele europäische Städte, mit Ausnahme der britischen, hatten es noch während der 1980er und 1990er Jahre vermocht, grundlegenden Verpflichtungen zu einem sozialen Ausgleich nachzukommen (Préteceille in diesem Band). Seither haben sich die ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse allerdings dramatisch verändert. Die Ummünzung der Bankenkrise in eine

Einleitung

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Staatsschuldenkrise nach 2008 bedeutet einen massiven Angriff von Finanzkapitalinteressen auf die Sozialstaaten vor allem der südeuropäischen Länder, das Dogma vom Sparkurs ist in seinen sozialpolitischen Auswirkungen aber auch weit darüber hinaus innerhalb der Europäischen Union zu spüren. Der Sozialstaatsexperte Herbert Obinger prognostiziert für die meisten OECDLänder Einschnitte in die grundlegenden sozialen Sicherungssysteme, nachdem die Einsparmöglichkeiten in anderen Bereichen bereits ausgeschöpft wurden (Obinger 2012). Dies aber dürfte nicht zuletzt die Mittelklassen betreffen, die in einem erheblichen Maße auf die Renten- und Krankenversicherung angewiesen sind. Und die sozialen Ausgleichsmöglichkeiten auf der lokalen Ebene würden weiter geschwächt (siehe Préteceille in diesem Band). Es gibt somit sehr gute Gründe, auch in Deutschland und Europa den Blick auf Polarisierungen in den Städten zu richten – im Sinn einer von Indizien und Theorie geleiteten Suchstrategie, nicht einer Behauptung bereits gesicherter Erkenntnis. Letztere wäre schon deshalb unzulässig, weil es ja noch die widerständigen Potenziale in den Städten und die Handlungsmöglichkeiten lokaler und überlokaler Politik zu berücksichtigen gilt.

Entwicklungen von Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung Von einer »soziale[n] Polarisierung bei Einkommen und Vermögen« (Schäfer 1995) war in Deutschland schon vor der zweiten Hälfte der 1990er Jahr die Rede. Allerdings war damit gemeint, dass die Haushaltseinkommen der bestverdienenden sozialen Gruppe (der Selbstständigen) und der einkommensschwächsten sozialen Gruppe (der Sozialhilfeempfänger), die beiden »Pole« der Einkommensverteilung nach sozialen Gruppen also, weiter auseinanderrücken. Als Polarisierung interpretierte Schäfer insbesondere die wachsende Einkommensdistanz der Haushalte der Selbstständigen zu allen anderen Haushalten (ebd.: 620). Auf eine quantitative Ausweitung der »Pole« mit den höchsten und den niedrigsten Einkommen zulasten der Einkommensmitte deuten jedoch im Zeitvergleich erst die Befunde zur Einkommensverteilung seit den späten 1990er Jahren hin, und damit in der Tat auf eine neue Qualität von Einkommens‑ und sozialer Ungleichheit. Beide Ungleichheitstendenzen – dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden und dass sich die Einkom-

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menspole zulasten der Einkommensmitte ausdehnen – können sich überlagern, was in Deutschland in der Tat zutrifft (Goebel u. a. 2012). Auch für deutsche Städte wurden bereits für die 1980er Jahre Polarisierungstendenzen diagnostiziert. Die Befunde, die Alisch und Dangschat in Hamburg anhand von Einkommenssteuerstatistiken erhoben, ergaben allerdings ein widersprüchliches Bild, mit kaum erklärbaren Phasen der Zu‑ und Abnahme von Polarisierung (hier verstanden als Zunahme von armen und reichen Quartieren auf Kosten von Quartieren mit mittleren Einkommen; Alisch/Dangschat 1998: 131, 134 f.). Die auf robusterer Datengrundlage gewonnenen Aussagen über unterschiedlich ausgeprägte, aber gleichwohl durchgängige Polarisierungstendenzen der Einkommen in den Stadtregionen (Gornig/Goebel in diesem Band) stärken nun die stadtsoziologische Polarisierungsthese und eröffnen weitere Forschungsfragen nach den sozialräumlichen Manifestationen und Folgen. Dass die Wiederkehr und Verfestigung von Arbeitslosigkeit und Armut, beginnend in den 1980er Jahren, problematische sozialstrukturelle Folgen zeitigen und dem Selbstverständnis sozialer Demokratien widersprechen, wird in Europa schon lange debattiert. Der einschlägige Begriff hierfür ist »Exklusion« oder soziale Ausgrenzung. Im Unterschied zu einer allein auf Einkommensungleichheit ausgerichteten Sicht rückt der Exklusionsbegriff (darin dem »Lebenslagenansatz« verwandt) qualitative Ungleichheitsmerkmale in den Blick, und dies nicht nur in der Einkommensdimension, sondern auch in den Beschäftigungsverhältnissen, im Bürgerstatus und den sozialen Nahbeziehungen. Soziale Ausgrenzung erfolgt »mehrdimensional« und meint einen Verlust von Teilhabemöglichkeiten über die verschiedenen Dimensionen hinweg (Kronauer 2010). Auch hier kommen sozialräumliche Wirkungsfaktoren und damit Stadtstrukturen zum Zug. Die These der Nachbarschaftseffekte besagt, dass die räumliche Konzentration von Armut und Arbeitslosigkeit die Benachteiligungen in der sozialen Lage noch verstärkt und dazu beiträgt, dass Ausgrenzungsrisiken von einer Dimension auf andere »überspringen« (ein Beispiel: anhaltende Arbeitslosigkeit zwingt zum Umzug in ein Quartier mit noch erschwinglichen Mieten und verengt die sozialen Kontakte auf Menschen in ähnlicher Lage, was es wiederum erschwert, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, da Arbeitsstellen zumeist informell vermittelt werden). Dass es derartige Nachbarschaftseffekte gibt, ist kaum strittig, wohl aber, wie stark sie ins Gewicht fallen. Der derzeitige, noch sehr unvollkommene Wissensstand spricht dafür, dass die Nachbarschaftseffekte gegenüber in-

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dividuellen Faktoren eine eher geringe Rolle spielen, gleichwohl nicht zu vernachlässigen sind (mit Bezug auf Armut Friedrichs 2013: 36; mit Bezug auf Jugendkriminalität Oberwittler 2013: 76; für die USA siehe Elliott u. a. 2006 und Sampson 2012, letzterer mit einer stärkeren Betonung der Effekte). Wenn in der Befragung von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern in zwei sehr unterschiedlichen Quartieren mit hohen Armutsraten in Hamburg das Wohngebiet kaum als ausgrenzungsverstärkender Faktor genannt wurde, spricht dies noch nicht gegen die These von Nachbarschaftseffekten, vielmehr zugunsten sozialstaatlicher Präsenz in den Quartieren, die solche Effekte abschwächen (Kronauer/Vogel 2004). Ausgrenzungsprozesse können sowohl im Kontext wachsender Ungleichheit (im Sinne einer Spreizung bei stabilen Mittellagen) als auch im Kontext einer Polarisierung im Sinne abnehmender Mittellagen stattfinden. In der Tat konnte Exklusion in Deutschland noch bis in die 1990er Jahre hinein von der Politik, aber auch der Wissenschaft weitgehend ignoriert werden (im Unterschied zu Ländern wie Frankreich oder England), weil sich die gesellschaftliche Mitte von ihr nicht bedroht fühlte. »Die kollektiven Dämme tariflicher Regelungen und der individuelle Schutz erworbener Qualifikationen bewahrten Facharbeiter und Angehörige der (abhängig beschäftigten) Mittelklassen vor sozialem Abstieg.« (Kronauer 2010: 227) Die Risiken von Langzeitarbeitslosigkeit und Ausgrenzung konzentrierten sich hingegen auf Angehörige der Arbeiterschaft mit geringen Qualifikationen. Sie betrafen in Deutschland überdies in stärkerem Maße als in Frankreich und England ältere Erwachsene und weniger Jugendliche, die möglicherweise eher bereit gewesen wären wie die Jugendlichen der französischen und englischen Vorstädte zu revoltieren. Auch der gesellschaftliche Kontext dieser Ungleichheitsform, die Ausgrenzung, hat sich in Deutschland mittlerweile geändert. Nach wie vor gilt, dass die Ausgrenzungsrisiken sozialstrukturell ungleich verteilt sind, in erster Linie Angehörige der Arbeiterschaft (häufig verbunden mit einem Migrationshintergrund) betreffen, während die Mittelklassen noch immer weitgehend von Ausgrenzung verschont bleiben (Groh-Samberg 2009). Die zunehmende Entsicherung der Arbeits‑ und Beschäftigungsverhältnisse seit den 1990er Jahren, die nach der Jahrtausendwende noch einen starken zusätzlichen politischen Schub erhielt, hat aber mittlerweile auch die Mittelklassen erfasst. Für die jüngeren Kohorten verlängert sich die Phase der Unsicherheit beim Einstieg ins Berufsleben, die Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit nehmen bei ihnen zu. Dass die subjektive Verunsicherung in die-

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sen Klassen das nach objektiven Indikatoren zu erwartende Maß bisweilen übersteigt, hat damit zu tun, dass es hier auch einiges zu verlieren gibt (Kronauer 2008). Welche Formen die »Wohlstandskonflikte« (Vogel 2009) unter diesen Umständen in den Städten annehmen werden, zumal wenn sich die Tendenz zur Einkommenspolarisierung festigen sollte, ist noch nicht ausgemacht. Als zentrales Konfliktfeld zeichnet sich allerdings bereits die schulische Bildung ab, das für die intergenerationelle Statussicherung der Mittelklassen entscheidende Medium. Susanne Frank zeichnet in ihrem Beitrag zu diesem Band das Bild einer familienorientierten Mittelklasse, die es in die Stadt zieht (oder in der Stadt hält) wegen der Möglichkeiten, Arbeit in den IT-gestützten Berufen zu finden, aber auch wegen der Infrastrukturangebote, die es den Müttern erlaubt, berufstätig zu sein. Zugleich ist es eine Mittelklasse, die auf Absicherungen in einer zunehmend entsicherten beruflichen Umwelt bedacht und angewiesen ist, vor allem aber auf eine Kontrolle ihrer städtischen Umwelt, einschließlich der Bildungseinrichtungen, zum Wohl ihrer Kinder. Die praktische Abkapselung in sozial homogenen »Familieninseln« in der Stadt verbindet sich bei ihr mit einer prinzipiellen Offenheit den Problemen der Stadt gegenüber, einer Bereitschaft zur Solidarität mit den Benachteiligten »auf Distanz«. Auf Distanz allerdings sind die durch ein segregiertes Schulwesen reproduzierten sozialen Spaltungen in den Städten kaum zu lösen. Denn wenn es einen gesicherten Befund zu Nachbarschaftseffekten gibt, dann bezieht er sich auf die Auswirkungen eines Schulsystems, das die sozialen Ungleichheiten, die sich im Sozialraum manifestieren, stützt. Wegen der großen Bedeutung, die diesem Faktor für die Zukunft von Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung in den Städten zukommt, sind ihm zwei Beiträge dieses Bandes gewidmet, einer von Chris Hamnett, einer von Christine Baur. Gerade im internationalen Vergleich wird bewusst, welche Verantwortung den lokalen Schulinstitutionen in den Städten zukommt, aber auch wie schwierig es ist, die sozialen Spaltungen in den Städten zu überwinden.

Potenziale, Gegenkräfte Jedes Sturmläuten wegen der drohenden Folgen einer sozialen Polarisierung in den Städten läuft Gefahr, wieder einmal die Gegenkräfte zu unterschätzen und damit zu Recht auf taube Ohren zu stoßen. Fahrlässig wäre es aber auch,

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es beim Sturmläuten zu belassen und nicht die Gegenkräfte systematisch zu untersuchen und damit die eigenen Befürchtungen vielleicht sogar gegenstandslos zu machen. Edmond Préteceille weist in seinem Beitrag, der gleichermaßen unter der Rubrik Ungleichheiten, Polarisierungen, Ausgrenzung wie unter der Rubrik Potenziale zu verorten wäre, auf die erstaunlichen Widerstandskräfte hin, die europäische Städte in vielen Ländern angesichts und trotz des Vormarsches neoliberaler Politiken in den 1980er und 1990er Jahren entwickelten. Er spricht von »Resilienz«, was bereits die Ausrichtung des Widerstands anzeigt: eher ausweichend und verteidigend als offensiv. Zu verteidigen galt es das Erbe europäischer Städte, zu einem sozialen Ausgleich beizutragen. Und aus demselben Erbe stammten auch die Verteidigungskräfte, die sich einem völligen Ausverkauf, der Umwandlung in »entrepreneurial cities«, verweigerten: dem städtischen Gemeinwohl immer noch verpflichtete Administrationen; öffentlicher Grundbesitz und Wohnungsbestand, die immer noch öffentlichen Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen zuließen; städtische Mittelklassen, die sich immer noch bewusst waren, dass ihre Lebensqualität in erheblichem Maße von öffentlich bereitgestellten Gütern und Sozialleistungen abhängt. Dennoch wurde in dieser Zeit bereits viel Terrain verloren, mit der Umorganisation von städtischen Dienstleistungen nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien, der Privatisierung oder Teilprivatisierung öffentlicher Versorgungseinrichtungen und dem Verkauf von Wohnungen. Ob jene genuinen Ressourcen der europäischen sozialen Stadt angesichts der desaströsen Erfahrungen mit der Abhängigkeit von Finanzmärkten wieder stärker werden oder ob die Umwandlung der Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise nun erst recht den Sturm auf die letzten Bastionen der europäischen sozialen Stadt einläutet, ist eine offene Frage. Die Antwort hängt von politischen Kräfteverhältnissen ab, vornehmlich auf nationaler und transnationaler, europäischer Ebene. Aber auch die Städter selber – und vor allem sie – haben als solche mitzureden. Andrej Holm und Henrik Lebuhn loten in ihrem Beitrag aus, an welchen Konfliktpunkten sich städtische Proteste entzünden und soziale Bewegungen entwickeln. Das »Recht auf die Stadt«, das in solchen Bewegungen geltend gemacht wird, bezieht sich vor allem auf öffentliche oder als öffentlich zu begreifende Güter wie ein Recht auf Wohnung. Um solche Rechte kämpfen derzeit auch städtische Bewegungen in Spanien (gegen Zwangsräumungen) oder auch in Bulgarien (gegen die Erhöhung der Energiepreise). Holm und Lebuhn plädieren dafür, dass lokale Politik sich auf

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urbane Bewegungen stützt, sie als Ressource begreift, um Kräfte für die soziale Stadt zu bündeln und zu stärken, anstatt sie immer wieder abwehren zu wollen. Haben die Städte Möglichkeiten, der Polarisierung wirtschaftlich gegenzusteuern? Die Einkommenspolarisierung fällt in den Stadtregionen am stärksten aus, in denen sich die Dienstleistungsbeschäftigung zulasten von Industriebeschäftigung entwickelt (Goebel u. a. 2012; Gornig/Goebel in diesem Band). Dies verweist auf die größeren Einkommensunterschiede im Dienstleistungssektor als im industriellen Sektor – eine Folge des unterschiedlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den Sektoren, der unterschiedlichen Betriebsgrößen, Beschäftigungsverhältnisse und Produktivitätsniveaus. Eine folgerichtige Konsequenz, um der Einkommenspolarisierung entgegenzuwirken, wäre die Stärkung der industriellen Basis der Städte. Eine solche industriepolitische Strategie haben Geppert u. a. (2009) im Rahmen einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung für Berlin entwickelt. Im vorliegenden Band unterstreicht Dieter Läpple nicht nur die Bedeutung der lokalen Ökonomien für den Arbeitsmarkt und die Vermeidung von Ausgrenzungsprozessen, sondern er tritt auch dem Mythos der »postindustriellen Stadt« entgegen. Denn dieser unterschätzt nicht nur die vorhandenen industriellen Potenziale, sondern er trägt in seinen lokalpolitischen Konsequenzen noch dazu bei, sie zu verspielen. Mit der migrantischen lokalen Ökonomie ist inzwischen ebenfalls eine wichtige Ressource wirtschaftlicher und sozialer Integration herangewachsen, die noch zu wenig lokalpolitische Beachtung findet. Dazu der Beitrag von Felicitas Hillmann. Sozialräumliche Segregation kommt als Mittel der Konfliktvermeidung zwischen Städtern unterschiedlicher sozialer Klassenposition, ethnischer Herkunft, Lebensstile und Lebens‑ und Familienphasen an ihre Grenzen, wenn aus Unterschieden Ungleichheiten werden, die sich zu Gegensätzen und sozialen Spaltungen vertiefen. Türwächter und »gated communities« in den Vierteln der Wohlhabenden auf der einen Seite, von Investoren und Behörden »aufgegebene« Viertel der Armen, in denen Polizeiübergriffe regelmäßig zu Revolten der Unterdrückten führen, auf der anderen Seite, sind bekannte Folgen in Städten, in denen sich Ungleichheiten derart zuspitzen. Städtische Lebensqualität geht verloren, wenn Parks am Abend unpassierbar werden, Überwachungskameras jeden Schritt auf öffentlichen Plätzen festhalten oder private Sicherheitsdienste die Nutzung immer größerer Stücke privatisierter, vormals öffentlicher Räume mit den Mitteln des Hausrechts einschränken und kontrollieren.

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Europäische Städte haben ihre eigenen informellen, zivilgesellschaftlichen Regeln herausgebildet, die Konflikte zwischen einander Fremden in öffentlichen Räumen zu vermeiden helfen. Sie stiften Verlässlichkeit in anonymen Begegnungen und ergeben sich aus der regelmäßigen Interaktion selbst. Jens Wurtzbacher rückt diese Ressource städtischen Zusammenlebens ins Zentrum seines Beitrags, Préteceille erwähnt sie mit Verweis auf Elias’ Prozess der Zivilisation. Da diese kostbare zivile Ressource sozialer Selbststeuerung durch ein Übermaß gesellschaftlicher Ungleichheit gefährdet wird, bedarf sie ihrerseits des Schutzes sozial ausgleichender Institutionen, um wirksam bleiben zu können. Wurtzbacher erörtert darüber hinaus Möglichkeiten der Stärkung zivilgesellschaftlicher Potenziale. Dazu gehört eine demokratische Partizipation der Bewohner auf Quartiersebene in den sie betreffenden Sicherheitsfragen, einschließlich ihrer Möglichkeit, die Sicherheitsorgane in Konfliktsituationen zu kontrollieren.

Politik Die europäischen Städte haben bislang im Verlauf ihrer Geschichte mit dem Aufstieg von Territorial- und Nationalstaaten immer mehr an politischer Selbstbestimmung eingebüßt. Umso bemerkenswerter sind die europaweit festzustellenden Tendenzen einer Aufwertung der regionalen und lokalen Politikebene. So spricht Le Galès (2002: 6) von einer generellen Zunahme der Bedeutung regionaler und lokaler Akteure im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung. Während Nationalstaaten an Regelungskraft einbüßen, gewinnen regionale Unterschiede für die Standortentscheidungen global operierender Unternehmen an Bedeutung. Gleichzeitig bietet sich die Europäische Union als Partnerin für regionale und lokale Projekte an. In ihrem Handlungsspielraum offiziell eingeschränkt durch das Subsidiaritätsgebot, das nach wie vor den Mitgliedsstaaten die Sozial- und Verteilungspolitik überlässt, paktiert die Europäische Union entwicklungs- und beschäftigungspolitisch vielfach direkt mit den subnationalen Ebenen (Beispiele sind Europäischer Sozialfonds und Politik der social cohesion, der Angleichung der regionalen Lebensbedingungen). Eine Aufwertung der lokalen Ebene stellt Yuri Kazepov in seinem Beitrag auch für die Sozialpolitik einer Reihe europäischer Länder fest. Die Folgen der Dezentralisierung sind, wie er darlegt, allerdings zumindest für dieses

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Politikfeld zwiespältig. Auf der einen Seite eröffnet sie den Städten Möglichkeiten, nach neuen Lösungen zur Überwindung von Armut zu suchen. Auf der anderen Seite jedoch gefährden die Individualisierung der Angebote – und ihre Kehrseite, die Individualisierung der Sanktionen – den Kernbestand moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit, die Universalität und Verbindlichkeit der zu gewährleistenden sozialen Rechte. Die Gefahr ist dann besonders groß, wenn die Dezentralisierung auf eine Verschiebung der Probleme auf die finanziell und institutionell am schlechtesten ausgestattete Ebene hinausläuft und mit Spardiktaten verknüpft wird. Gerade in der Sozialpolitik käme es somit nicht nur auf eine zwischen nationaler und lokaler Ebene geteilte, sondern von beiden Seiten auch tatsächlich eingelöste, koordinierte Verantwortung für die sozialen Bürgerrechte an. Eine vielversprechende europäische Gegenbewegung auf kommunaler Ebene gegen die Politik der Privatisierung oder Teilprivatisierung öffentlicher Güter behandelt Hellmut Wollmann in seinem Beitrag. Entgegen marktwirtschaftlicher Dogmatik hat sich die Privatisierung von Energie- und Wasserversorgung (ebenso wie etwa die Privatisierung der Eisenbahnen) weder ökonomisch noch in der Qualität der Leistungserbringung in der erwarteten Weise ausgezahlt. Dass viele Kommunen nun die Verantwortung für diese Dienstleistungen zurückgewinnen wollen (oder bereits wieder übernehmen), hat aber nicht allein wirtschaftliche und Qualitätsgründe. Es ist auch der in lokalen Regierungen und Verwaltungen immer noch bewussten Verpflichtung geschuldet, den sozialen Ausgleich zu fördern – durch Einflussnahme auf die Preisgestaltung bei lebensnotwendigen Gütern sowie auf den lokalen Arbeitsmarkt durch öffentliche Beschäftigung oder auch durch die Möglichkeit, mit den erwirtschafteten Einnahmen andere öffentliche Leistungen zu subventionieren. Wie erfolgreich die Gegenbewegung sein wird, ist allerdings keineswegs ausgemacht. Auch Bernd Hunger kritisiert in seinem Beitrag die Privatisierungspolitik, auf die sich viele Kommunen in Deutschland eingelassen haben. Insgesamt zieht er eine kritische Bilanz der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik des Bundes und der Städte. Allerdings verweist auch er auf eine wichtige Ressource, die die Immobilien- und Finanzmarktkrise in den deutschen Städten weniger stark hat durchschlagen lassen als andernorts in Europa oder den USA: den hohen Anteil von Mietwohnungen im Wohnungsbestand. Hunger plädiert dafür, die Versorgung mit Wohnraum wieder vornehmlich als öffentliche Aufgabe zu begreifen, in der Tradition europäischer Stadtpolitik. Dies sei umso mehr geboten, als angesichts zunehmender Einkommensun-

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gleichheit, zunehmender regionaler Unterschiede zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten und Stadtregionen und angesichts der Zuspitzung ökologischer Probleme neue Aufgaben auf den Wohnungs- und Städtebau zukommen. Mit der von Hunger diskutierten Wohnungspolitik ist ein wichtiges Instrumentarium angesprochen, mit dem Städte auf die soziale Zusammensetzung von Nachbarschaften, mithin auf Nachbarschaftseffekte Einfluss nehmen können. Gerade der Rückzug des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau seit den 1980er Jahren hat, zusammen mit der Privatisierung von Beständen und dem Auslaufen von Mietbindungen, in Deutschland die sozialräumliche Segregation in den Städten gefördert (Häußermann 2000: 16). Die problematischen Folgen der zunehmenden sozialräumlichen Konzentration von Arbeitslosigkeit und Armut in bestimmten Quartieren versuchen nun die Städte in Deutschland (etwa im Rahmen des Programms »Soziale Stadt«) und Europa, mehr oder weniger unterstützt von ihren regionalen oder nationalen Regierungen, durch nachbarschaftsbezogene Politiken abzuschwächen oder gar zu kompensieren. Sie sind in der Regel mit der richtigen Einsicht konzipiert, dass die Ressortaufteilung der städtischen Verwaltungen (aber auch die Aufteilung der Kompetenzen zwischen unterschiedlichen Regierungsebenen) einer angemessenen Quartierspolitik, die auf die Bedürfnisse der Bewohner ausgerichtet ist, zuwiderläuft. Simon Güntner und Uwe-Jens Walther arbeiten in ihrem Beitrag im europäischen Vergleich heraus, wie ambitioniert diese Konzepte sind, aber auch auf welche Hindernisse sie bei der Umsetzung stoßen. Ihr Zwischenfazit ist ernüchternd: Die Programme hätten es vor der Finanzkrise nicht vermocht, die Situation in den Fördergebieten nachhaltig zu stabilisieren oder gar zu verbessern. Und ihre institutionelle Verankerung sei nach wie vor prekär. Wieder zeigt sich das bereits im Beitrag von Kazepov angesprochene Problem. Eine wirksame Politik gegen soziale Ungleichheit auf lokaler Ebene setzt die institutionelle Einbindung in eine auf dasselbe Ziel hin ausgerichtete Politik der Daseinsfürsorge auf nationaler Ebene voraus. Zu dem gleichen Schluss kommt John Mollenkopf in seinem Beitrag, in dem er die verschiedenen Ansätze zu einer quartiersbezogenen Politik in den USA nachzeichnet. Hier wurden Quartierseffekte noch sehr viel direkter als in Europa und ohne Berücksichtigung von Arbeitsmärkten und sozialstaatlicher Absicherung für anhaltende Armut verantwortlich erklärt. Die daraus folgenden sozialen Experimente, die sich allein auf die Umsiedlung von armen Haushalten in bessergestellte Quartiere beschränkten, haben die gewünschte Wirkung, eine Überwindung der Ar-

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mut, soweit es die bisherigen Evaluationen zeigen, nicht erbracht (siehe auch Häußermann/Kronauer 2012). Soziologische Gegenwartsanalysen, die zugleich mögliche Gegentendenzen und die dafür bereitstehenden Potenziale berücksichtigen müssen, um angemessen zu sein, stehen vor dem Dilemma, ihre Aussagen und ihre Prognosen relativieren zu müssen. Dies ist den Widersprüchen und damit der prinzipiellen Veränderbarkeit ihres Gegenstands geschuldet und charakterisiert deshalb auch den vorliegenden Band. Gleichwohl erschließen sich wichtige Seiten der Gegenwart mit ihren Potenzialen nur durch ein theoretisch und empirisch angeleitetes Suchen. Im Abschnitt IV diskutieren wir einige Forschungsfragen, die die hier angesprochenen Themen weiterführen können. Und nun wünschen wir uns interessierte Leser und den Lesern eine interessante Lektüre.

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I. Polarisierungen

Die europäische Stadt in Gefahr Edmond Préteceille

Einleitung Die vergleichende Untersuchung städtischer Ungleichheiten und Segregation hat zu einer Debatte darüber geführt, was denn das Besondere an der städtischen Erfahrung in Europa sei.1 Der vorliegende Beitrag erörtert zunächst, wie sich diese Debatte innerhalb der Stadtforschung und im Vergleich mit Untersuchungen über die US-amerikanische Erfahrung entwickelt hat. Er behandelt die verschiedenen Dimensionen, in denen der Idealtyp der europäischen Stadt definiert wird, hebt dabei vor allem auf die soziale, wohlfahrtstaatliche Dimension ab und auf die besonderen politischen Umstände, unter denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Entfaltung kommen konnte. Der zweite Teil kontrastiert die Ausbreitung neoliberaler Ideen und Politiken auf der nationalen und europäischen Ebene in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der Konsolidierung der europäischen sozialen Stadt. Der dritte Teil untersucht die dramatischen Veränderungen im Gefolge der Finanz‑ und Wirtschaftskrise und die daraus erwachsende Gefahr, dass die europäische soziale Stadt unter dem Druck der Sparmaßnahmen und der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen auseinanderbrechen könnte. Der abschließende Teil diskutiert die Versuche, einen politischen Wandel auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene herbeizuführen, und die soziale Bewegung, die eine solche politische Umorientierung befördern könnte. 1 Anmerkung des Übersetzers: Das im englischen Original verwendete »specific urban experience« bezieht sich nicht allein auf die besonderen Prozesse der Urbanisierung und Stadtpolitik in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem auch darauf, wie sie insbesondere in Frankreich in den 1960er und 1970er Jahren von der New Urban Sociology interpretiert und theoretisch kontrovers verarbeitet wurden. Diese Debatte wurde zugleich grundsätzlich als Konstitutionsdebatte der Disziplin Stadtsoziologie geführt (vgl. Walther 2003).

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Edmond Préteceille

1. Die europäische soziale Stadt Die Stadtsoziologie in Europa hat sich vornehmlich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. In Ländern wie Frankreich und England führten Untersuchungen der Segregation und der städtischen Ungleichheiten zu einer Kritik an der Klassenungleichheit in der Stadt und den negativen Folgen der Klassensegregation (Chombart de Lauwe u. a. 1952; Glass 1964). Die neo-marxistische Stadtsoziologie, die sich in den späten 1960er Jahren herausbildete, trieb die Kritik einen Schritt weiter, indem sie analysierte, wie die herrschenden kapitalistischen Kräfte und Prozesse die Klassensegregation und Ungleichheiten erzeugten, wobei sie die staatlichen Politiken als Teil dieser Prozesse betrachtete (Castells 1972; Harloe 1977; Harloe/Lebas 1981; Lojkine 1977; Lojkine/Préteceille 1970).2 Als sich die Forschung erweiterte, entstand auch ein etwas komplexeres Bild, zunächst dadurch, dass lokale Politiken, insbesondere die von sozialdemokratisch, sozialistisch und kommunistisch regierten Kommunen, einbezogen wurden. Letztere existierten in einigen Ländern über Jahrzehnte hinweg und waren in der Lage, auf lokaler Ebene eine weniger ungleiche Stadt, manchmal auch eine weniger segregierte Stadt zu schaffen – das »rote« Bologna wurde in den 1970er Jahren häufig als ein positives Beispiel angeführt. Oft waren die Ergebnisse dieser Politik zwiespältig, aber sie konnten sicherlich nicht einfach als die Durchsetzung der städtischen Logik des Kapitals begriffen werden (siehe beispielsweise Bleitrach u. a. 1981). Die rasche Internationalisierung der Stadtforschung, zu der das Research Committee 21 (die Sektion Stadt- und Regionalforschung in der Internationalen Gesellschaft für Soziologie) und das International Journal of Urban and Regional Research erheblich beigetragen haben, führte zu einem breiteren Austausch über Forschungsergebnisse, die aus Städten in den USA, Kanada, Lateinamerika und in Osteuropa, das seinerzeit noch vom sowjetischen Sozialismus beherrscht wurde, gewonnen worden waren. Der Vergleich mit US-amerikanischen Städten war unvermeidlich, da sich ja die Stadtsoziologie zuerst in Chicago akademisch etabliert hatte. Der Gedankenaustausch in den 1970er Jahren konfrontierte die europäischen Forscher mit einer sehr viel offeneren Form der Herrschaft kapitalistischer 2 Ich habe eine detailliertere Darstellung dieser Geschichte für Paris verfasst (Préteceille 2012). Die ersten Jahrgänge des International Journal of Urban and Regional Research veröffentlichten derartige Beiträge über viele europäische Städte.



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Interessen (Judd 1984; Logan/Molotch 1987; Mollenkopf 1983) und sehr viel schärfer ausgeprägten städtischen Ungleichheiten und Segregationen – insbesondere rassischer Segregation. Die Vorherrschaft der englischen Sprache als Vermittlerin der Globalisierung in der Forschung und der starke Einfluss der US-amerikanischen Hochschulen legten es nahe, sich beim Verständnis von Segregation an der binären Vorstellung – die gespaltene/zweigeteilte Stadt – zu orientieren, die die scharfe Ausprägung der rassischen Segregation in den amerikanischen Städten zum Ausdruck bringt. Sie weist den Weißen und den Schwarzen gleichsam getrennte Räume zu, wie es auch heute noch in den Metropolen New York und Chicago der Fall ist. Allerdings war der Kontrast zu den europäischen Städten so groß, dass die europäischen Forscher, selbst wenn sie die städtischen Ungleichheiten und die Segregation kritisch betrachteten, doch die Unterschiede zu den amerikanischen Städten wahrnehmen und erklären mussten, die sich etwa in der Versorgung mit Sozialwohnungen, öffentlichen Schulen, öffentlichem Nahverkehr, Gesundheitsdienstleistungen oder auch in den deutlich niedrigeren Kriminalitätsraten zeigten. Diese Reflexion über Differenzen gehörte zu einer breiteren intellektuellen Strömung, die sich mit unterschiedlichen Varianten kapitalistischer Gesellschaften – dazu leistete die französische Regulationsschule wichtige Beiträge – und unterschiedlichen Varianten des Wohlfahrtskapitalismus (Esping-Andersen 1990) auseinandersetzte. Zur gleichen Zeit, als die US-amerikanische Erfahrung wichtige theoretische Konzepte hervorbrachte, die die Stadtforschung weltweit beeinflussten, entstand bei uns eine Fülle von Forschungen, die die Eigenheiten europäischer Städte herausarbeiteten. Zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen bestand eine deutliche Spannung. Das jeweilige Augenmerk richtete sich entweder auf globale Kräfte, die sich auf der ganzen Welt vereinheitlichend bemerkbar machen konnten, oder aber auf regionale Besonderheiten. Häußermann und Haila (2005: 54) schlugen ein Verständnis des Idealtyps der europäischen Stadt vor, das sie in fünf Merkmalen zusammenfassten: ausreichend großer öffentlicher Grundbesitz, um einen öffentlichen Einfluss auf die Entscheidungen über die Landnutzung nehmen zu können; die öffentliche Bereitstellung von Infrastruktur und deren Dienstleistungen; die Legitimität öffentlicher Eingriffe in die Stadtplanung, in Verbindung mit einem nationalstaatlichen gesetzlichen Rahmen und einer starken Stellung der Lokalregierungen; sozialstaatliche Politik mit Sozialleistungen und sozialem Wohnungsbau, ausgestattet mit einem legitimen Auftrag, für das Wohl-

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ergehen aller in der Stadt zu sorgen; langfristige Debatten und Projekte zur Verbesserung städtischer Lebensqualität und der Förderung einer modernen Stadt, die Klassenwidersprüche und soziale Ungleichheiten überwindet. Implizit ist in ihrer Definition die lange Geschichte europäischer Städte enthalten, deren Bedeutung viele Autoren hervorgehoben haben (darunter Kälble 2000, auf den sie sich beziehen): Mehrere Jahrhunderte urbaner Lebensweise haben viele Städte physisch geprägt, Denkmäler, Kirchen, Paläste, Plätze der Macht, Theater, Opernhäuser und Museen in ihrer Mitte konzentriert, die den symbolischen Wert dieser Räume bestimmen und sichtbar machen, warum ein großer Teil des Bürgertums die Stadt wertschätzte. Solche besonderen Merkmale tragen dazu bei, dass die europäische Stadt als weniger sozial segregiert und ungleich wahrgenommen wird als die USamerikanische Stadt. Die Marktkräfte, die am meisten für Segregation und städtische Ungleichheit verantwortlich sind, werden durch eine weniger ungleiche Bereitstellung städtischer Ressourcen und durch weniger ungleiche Formen der räumlichen Verteilung sozialer Gruppen – deren Einkommen wiederum weniger ungleich verteilt ist – abgeschwächt. Ein Faktor, der in seiner Bedeutung für die Abschwächung der Segregation gemeinhin unterschätzt wird, besteht in einer für europäische Städte charakteristischen, historisch und räumlich fragmentierten Art des Bauens. In vielen Gebieten wurde (und wird) zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils nur ein Gebäude auf einem relativ kleinen Grundstück errichtet. Die Quartiere setzen sich deshalb aus Gebäuden unterschiedlicher Qualität zusammen, die zu unterschiedlichen Zeiten gebaut wurden und in die Menschen in unterschiedlichen Perioden einzogen. Auf diese Weise bildete sich eine sowohl im Hinblick auf den sozioökonomischen Status als auch auf die Haushaltsformen gemischte Wohnbevölkerung heraus. Im Gegensatz dazu sind die erst in jüngerer Zeit entstandenen, groß angelegten suburbanen Wohngebiete in beiden Dimensionen viel homogener. Häußermann und Haila gehen nicht weiter auf Besonderheiten der städtischen Sozialisation in ihrem Idealtyp ein, wenngleich sie mit einer Diskussion dieser Frage, ausgehend von Georg Simmel, beginnen. Sie weisen darauf hin, dass Simmels Definition städtischer Sozialbeziehungen nur einen Aspekt der Großstadt ins Auge fasst und andere Aspekte ignoriert, wie etwa die engen und schützenden lokalen Sozialbeziehungen in Nachbarschaften der Arbeiterklasse in derselben Großstadt. Daran anschließend schlage ich vor, dass es ebenfalls zu den Eigenheiten der europäischen Stadt gehört, eine gewisse Balance zwischen zwei unterschiedlichen Erfahrungsweisen zu er-



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möglichen, nämlich einerseits zwischen der städtischen Erfahrung, in öffentlichen Räumen der legitimen Gegenwart des Anderen ausgesetzt zu sein, und andererseits der städtischen Erfahrung engerer Beziehungen zu vertrauten Menschen, zu Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn. Darüber wird in Begriffen wie »starken« und »schwachen« Bindungen (Granovetter 1973) oder Brücken schlagenden (»bridging«) und einschließenden (»bonding«) Verbindungen (Blokland 2003) diskutiert. Ich schlage also vor, dieses Element der Definition der europäischen Stadt hinzuzufügen, wiederum auf der Grundlage der langen Sozialgeschichte europäischer Städte, und behaupte, dass die städtische Kultur etwa von Berlin oder Paris, die so viele Beobachter faszinierte, nicht die unmittelbare Wirkung besonderer urbaner Lebensumstände war, sondern das langfristige Ergebnis städtischer Geschichte, gekennzeichnet durch Dichte, Heterogenität und die vergleichsweise friedlichen Begegnungen zwischen Fremden im öffentlichen Raum der Stadt. Insofern lässt sich sagen, dass Norbert Elias’ Werk Der Prozess der Zivilisation (Elias 1939) eng mit der Erfahrung städtischen Lebens in der europäischen Stadt verbunden ist. Dieser kurze Hinweis unterstreicht auch die Bedeutung des öffentlichen Raums, ein weiteres Element, das nur implizit in Häußermanns und Hailas Definition enthalten ist. Stellt man den Idealtyp den empirischen Realitäten europäischer Städte gegenüber, dann ergibt sich ein vieldiskutiertes Problem aus den sozialstaatlichen Unterschieden innerhalb Europas und deren Auswirkungen auf die Städte. Für die historische Phase etablierter europäischer Sozialstaaten schlägt Mingione (2005) die mittlerweile klassische, auf Esping-Andersen zurückgehende Unterscheidung von vier Regimen vor: das skandinavische Regime, das korporatistische Regime von Kontinentaleuropa, das südeuropäische Regime und das liberale Wohlfahrtsstaatsregime wie es von Großbritannien repräsentiert wird. Wir können davon ausgehen, dass die beiden zuerst genannten Regime nationale Rahmenbedingungen bereitstellten, die die soziale, politische und physische Struktur der Städte weitgehend in einer Weise geformt haben, die dem zuvor angesprochenen Idealtyp recht nahe kommt. Der Fall Großbritannien, der für das liberale Regime steht, unterscheidet sich zwar im Hinblick auf die nationalen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und die Mischungsverhältnisse zwischen den Beiträgen von Markt, Staat und privaten Haushalten sowohl vom skandinavischen als auch vom kontinentaleuropäischen Regime. Was die Städte betrifft, so bestand allerdings bis in die 1970er Jahre hinein eine weitgehende Ähnlichkeit zu den

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beiden Letztgenannten, vor allem hinsichtlich der Reichweite öffentlicher Regulierung und Planung, der Bereitstellung von Dienstleistungen und des großen Umfangs der öffentlichen Wohnungsversorgung. Die Städte im südeuropäischen Regime wiederum waren trotz ihrer langen Geschichte, die einige Züge des Idealtyps wie die städtische Kultur und die Wertschätzung des öffentlichen Raums hervorgebracht hatten, davon weiter entfernt; denn sie engagierten sich sehr viel weniger in der öffentlichen Versorgung mit Infrastruktur und Sozialleistungen – und in den meisten Fällen nur selten in der Bereitstellung von Sozialwohnungen – , und der lockerere Umgang mit städtischer Regulierung und Planung ging Hand in Hand mit einem stärkeren Einfluss traditioneller ökonomischer Akteure der Stadtentwicklung auf die öffentliche Politik. Obwohl viele Elemente der europäischen sozialen Stadt – wie Sozialwohnungen, Stadtplanung, kommunale Dienstleistungen – ihre Wurzeln in Debatten, Gesetzen und Experimenten des späten 19. Jahrhunderts hatten, entwickelte sie sich doch vollständig in den meisten Fällen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, während der drei Jahrzehnte, die in Frankreich die trente glorieuses genannt werden. Diese drei Jahrzehnte stetigen ökonomischen Wachstums stellten günstige Bedingungen bereit dank zunehmender öffentlicher Ressourcen, die es erlaubten, ambitioniertere Politiken zu verfolgen, und einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit, die soziale Integration durch Arbeit gewährleistete und die »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel 1995) festigte. Ich will an dieser Stelle jedoch die Bedeutung der politischen Umstände hervorheben. Nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs war die politische Macht der Kapitalistenklasse geschwächt, da sie mit ihrer schwankenden Haltung den Aufstieg der Nationalsozialisten und der faschistischen Regime in Italien, Spanien und Portugal zugelassen oder manchmal mit den Nazis oder den Regimen, die diese unterstützten, kollaboriert hatte. Umgekehrt hatten die meisten Arbeiterparteien wegen ihres Beitrags zur Mobilisierung, der den Sieg über die Nazis erst ermöglichte, oder in manchen Fällen sogar wegen ihrer bedeutenden Rolle in den Widerstandsbewegungen an Legitimität gewonnen. Und als Reaktion auf die dunklen Jahre strahlten die humanistischen Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit eine erneuerte, universelle Anziehungskraft aus, was dazu führte, dass die Wiedereinsetzung der politischen Demokratie durch starke Forderungen nach einer sozialen Demokratie ergänzt wurden. Während dieser drei Jahrzehnte wurde die europäische soziale Stadt zu einer weit verbreiteten Realität, vorangetrieben insbesondere durch sozialde-



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mokratische, sozialistische oder kommunistische Lokalregierungen, die auf städtischer Ebene die sozialen Kompromisse umsetzten, die auf der nationalen Ebene eingegangen worden waren. Wenn somit die kulturelle Komponente der europäischen Stadt als das Ergebnis einer langen Geschichte gesehen werden kann, so ist die soziale Komponente jüngeren Datums. Sie wurde für eine vergleichsweise kurze Zeit und unter besonderen politischen Umständen verwirklicht.

2. Konsolidierung und Infragestellung der sozialen Stadt Die Phase des stetigen wirtschaftlichen Wachstums und des Konsenses über ein universalistisches Wohlfahrtssystem endete Mitte der 1970er Jahre. Die Arbeitslosigkeit nahm zu und beanspruchte mehr soziale Ressourcen, und dies zu einer Zeit, als sich das wirtschaftliche Wachstum abschwächte und in vielen europäischen Ökonomien, aber auch in den USA, die Deindustrialisierung als folgenreicher Prozess bemerkbar zu machen begann. Die Regulationsschule interpretierte diesen Sachverhalt, zunächst unter Hinweis auf die Erfahrungen in den USA (Aglietta 1976), als eine Krise des fordistischen Akkumulationsregimes und untersuchte, wie sich die Krise in verschiedenen Ländern entwickelte (Boyer 1986). Manche haben aus dieser erklärungsmächtigen und komplexen Analyse der wirtschaftlichen Krise der 1970er Jahre die Idee einer Krise der fordistischen Stadt abgeleitet und wollten damit städtische Veränderungen überall in der kapitalistischen Welt erklären. Dies war allerdings eine allzu grobe Vereinfachung, die weder die wichtigen Unterschiede in den Varianten des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus noch die unterschiedliche Geschichte der Städte oder die unterschiedlichen politischen Prozesse in den einzelnen Ländern zur Kenntnis nahm. In der Tat wuchs der Einfluss neoliberaler Vorstellungen, die eine Rückkehr zur Lösung sozialer Probleme durch den Markt anpriesen, innerhalb der rechten Eliten vieler europäischer Länder. Gleichzeitig war die Linke geschwächt – sei es, weil die europäischen sozialdemokratischen Parteien, die oftmals an der Macht waren, für unfähig galten, mit der Situation fertig zu werden und für die übermäßige Bürokratisierung der Sozialsysteme verantwortlich gemacht wurden, sei es weil die kommunistischen Parteien in ihrem Versuch scheiterten, sich von ihrer Bindung an ein immer weniger attraktives sowjetisches Modell zu lösen und eine neue Vision eines demokratischen

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kommunistischen Projekts zu entwerfen, das eine Antwort auf die Probleme moderner, entwickelter kapitalistischer Gesellschaften mit Sozialstaaten hätte liefern können (das Scheitern des eurokommunistischen Projekts). Die dramatischste Veränderung fand in Großbritannien mit der Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 statt. Sie ging unverzüglich daran, alle öffentliche Verantwortung für die Wohlfahrt aus der Politik und den Institutionen Großbritanniens zu entfernen und durch Marktprozesse zu ersetzen, überzeugt davon, dass der Staat das Problem und nicht die Lösung sei. Sie griff die britische soziale Stadt an allen Fronten an: durch die Privatisierung von Versorgungsunternehmen und Bahn, den Verkauf öffentlicher Wohnungen, durch die Verpflichtung der lokalen Behörden, die Bereitstellung von Dienstleistungen für private Anbieter zu öffnen und die Einschränkung ihrer Autonomie, durch die Beseitigung der für die Stadtregion zuständigen Behörden und, und, und… Trotz starker Opposition, Proteste und Widerstands der Lokalregierungen konnte sie ihre Linie durchsetzen, und innerhalb von zehn Jahren veränderte sie die öffentlichen Institutionen und Politiken so sehr, dass die britische Stadt vom Modell der europäischen sozialen Stadt immer mehr abwich und sich der US-amerikanischen Stadt mit ihrer weitgehenden Vorherrschaft der Marktkräfte annäherte. Überall in Europa gewannen die gleichen neoliberalen Ideen an Schubkraft, aber ihre Umsetzung blieb eingeschränkter und gewissermaßen fortschrittlicher. Nirgendwo beherrschten sie unverzüglich die politische Tagesordnung. In Frankreich zum Beispiel setzte sich der 1975 veröffentlichte Bericht zur Wohnungspolitik, den Raymond Barre verfasste – ein Ökonom, der in seinen jungen Jahren Hayek übersetzt hatte und im folgenden Jahr Premierminister unter der rechten Präsidentschaft von Giscard d’Estaing wurde –, für einen Wechsel von der Subventionierung des öffentlichen Wohnungsbaus zu Geldtransfers an Haushalte ein, die diesen helfen sollten, am Markt eine Wohnung zu finden. Die Politik wurde zwar umgesetzt, die Unterstützung der Haushalte – allocation logement – eingeführt, aber die Subventionierung des öffentlichen Wohnungsbaus wurde lediglich reduziert, jedoch nie aufgegeben, und nur ein sehr kleiner Bestand an Sozialwohnungen wurde verkauft, ganz im Gegensatz zur Erfahrung in Großbritannien (Forrest/Murie 1988). Die politischen Bedingungen in den einzelnen Ländern wichen von denen in Großbritannien ab. In Skandinavien, den Niederlanden und Deutschland blieben sozialdemokratische Parteien stärker und waren oft in der Regierung vertreten, und die konservativen Parteien hatten sich nicht



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vollständig den neoliberalen Ideen zugewandt, so dass der soziale Kompromiss über den Sozialstaat in weit größerem Maße bestehen blieb. Besonders krass fiel der Kontrast zwischen Frankreich und Großbritannien aus. Kurz nachdem Thatcher gewählt worden war und damit begonnen hatte, den Sozialstaat und die soziale Absicherung der Arbeiter abzubauen und die Wirtschaft und insbesondere die Finanzmärkte zu deregulieren, wurde in Frankreich der Sozialist Mitterand Präsident, nationalisierte die Banken und einige Großunternehmen, verstärkte die Arbeitsgesetzgebung und setzte eine Reform in Gang, die den Staat dezentralisierte und den Lokalregierungen mehr Macht, Verantwortung und Mittel übertrug, somit die französische soziale Stadt festigte. Spanien und Portugal hatten, nachdem sie endlich von ihren faschistischen Diktaturen befreit waren, ebenfalls in bestimmten Phasen sozialistische Regierungen, die begannen, sowohl sozialstaatliche Politiken als auch solche der Dezentralisierung zu entwickeln. Die 1980er Jahre bedeuteten somit, außer für Großbritannien, eine Konsolidierung der europäischen sozialen Stadt und in gewissem Umfang auch deren geographische Expansion nach Süden. Die Zunahme von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit setzten allerdings auch die Auseinandersetzung mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Tagesordnung der Stadtpolitik, selbst bei linken Stadtverwaltungen. So hatte etwa der Greater London Council, bevor er abgeschafft wurde, mit Versuchen einer Industriepolitik begonnen. Damit erweiterte sich der Umfang städtischer Politik durch die Einbeziehung einer weiteren Dimension, ohne jedoch sozialstaatliche Politik zu ersetzen. Dies ließ die Städte zu noch wichtigeren Akteuren in einer Zeit werden, als die Nationalstaaten ihre wirtschaftlichen Planungsambitionen zurücknahmen und einige ihrer Kompetenzen bezüglich der Regulierung von Märkten der Europäischen Union übertrugen. Le Galès (2002) legte diesen Wiederaufstieg der europäischen Städte als wichtige politische Akteure umfassend dar. Aufgrund unterschiedlicher Prozesse der Dezentralisierung verzeichneten Städte in vielen europäischen Ländern während jener Zeit Zugewinne an Macht und Ressourcen, wiederum mit Großbritannien als deutlicher Ausnahme (Pickvance/Préteceille 1991). Damit sollen die Verbreitung neoliberaler Vorstellungen oder die Auswirkungen neoliberaler Politik keineswegs unterschätzt werden. Aber diese betrafen während der 1980er und 1990er Jahre zumeist die nationale Politikebene, mit der Privatisierung von bis dahin öffentlichen Unternehmen, der Deregulierung von Finanzmärkten, der Einführung von Managementmethoden in den öffentlichen Dienst, die Letztere auf eine Marktlogik hin

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ausrichteten – die Ersetzung des Begriffs »Nutzer« durch den des »Klienten« war hierfür ein ausdrückliches Zeichen –, die Einschränkung in der Bereitstellung gewisser Güter oder Leistungen – wie etwa von Sozialwohnungen in Deutschland, wo der öffentliche Wohnungsbau zurückgefahren und viele Wohneinheiten verkauft wurden, was den Bestand erheblich reduzierte –, der Wechsel von universalistischen Sozialpolitiken zu kategorialen, die auf besondere Gruppen abzielen etc. Eine wichtige politische Dimension dieser Konsolidierung des neoliberalen Denkens bestand in der Entwicklung der Europäischen Union. Obwohl in mehreren einflussreichen Ländern zu bestimmten Zeitpunkten linke Parteien die Regierungsgewalt innehatten und die Bildung eines sozialen Europa hätten vorantreiben können, waren sie untereinander zu sehr gespalten und verpassten die Gelegenheit. Im Gegensatz dazu erwiesen sich die neoliberalen Parteien, allen voran die Großbritanniens, als sehr effizient, wenn es um die Verbreitung ihrer Ideen und die Bildung von Koalitionen ging. So erfolgreich waren sie, dass die Europäische Kommission zum Vorkämpfer der Idee wurde, der Markt sei die beste Lösung für alles, und viele Nationalstaaten verpflichtete, soziale Dienstleistungen als Waren zu behandeln und den Märkten zu öffnen. Jede Alternative, ein sozialeres Europa mit einer besseren sozialen Absicherung der Lohnabhängigen und sozialen Rechten aufzubauen, wurde ausdrücklich abgelehnt. Ganz abgesehen davon, dass ein Teil der Sozialdemokratie selbst zu den neoliberalen Ideen umgeschwenkt war, wie etwa Dominique Strauss-Kahn in Frankreich, der als Wirtschaftsminister in der Regierung Jospin, was die Privatisierungen und die Deregulierung der Finanzmärkte angeht, alle Rekorde früherer rechter Regierungen gebrochen hat. Die Politik der Städte und ihrer Regierungen haben sich in den meisten europäischen Ländern allerdings weniger gewandelt als die auf der nationalen Ebene. Stadtplanung und Aufsicht über die Landnutzung, die Versorgung mit grundlegender städtischer Infrastruktur, mit Sozialwohnungen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Leistungen für Kinder und Ältere, die Unterstützung kultureller Aktivitäten, Sozialleistungen, all dies blieb in vielen Städten ein zentraler Bestandteil der Politik von Lokalregierungen. Deshalb ist die Hypothese einer generellen Bewegung der Neoliberalisierung, die die Städte durch eine Verschiebung der Maßstäbe staatlicher Politik erfasst habe (Brenner 2004), auf dieser Ebene und für diese Periode nicht gerechtfertigt. In den frühen 2000er Jahren hatten viele europäische Städte einen besonderen Charakter bewahrt, gestützt auf die Existenz von öffentlichen Räu-



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men, öffentlichen Gütern und öffentlichen Dienstleistungsangeboten, die Aufrechterhaltung sozialer Solidarität durch unterschiedliche Mischungen sozialstaatlicher Leistungen und die Verpflichtung, für ein gewisses Maß an städtischer Gleichheit und Demokratie zu sorgen. Gleichwohl müssen vier typische Veränderungen erwähnt werden: Die erste hat zu tun mit dem bereits angesprochenen stärkeren Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt. Immer häufiger nahm dies die Form einer Orientierung an Wettbewerbsfähigkeit an, also vor allem an der Fähigkeit, Firmen und Investoren von außerhalb anzuziehen, in einer Konkurrenz mit anderen Städten. Städte bieten Steuererleichterungen, erschlossenes Gelände und Infrastruktur an, um Firmen anzusiedeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Die zweite besteht in der Förderung von Großprojekten, vor allem für kulturelle Aktivitäten – Museen, Theater – oder Sportveranstaltungen – Stadien und ähnliches –, das »Bilbao Modell« oder das »Barcelona Modell«. Derartige Projekte sollen die Stadt attraktiver für Besucher machen, aber auch für gut qualifizierte Bewohner, die sich von dem modernen und positiven Image der Stadt einnehmen lassen, und schließlich für Unternehmen, die wiederum von der Verfügbarkeit solcher Arbeitskräfte angezogen werden (zur Bedeutung von Image und urbaner Lebensweise für die »kreative Stadt« siehe Florida 2005). Beide Veränderungen weisen auf eine deutliche lokalpolitische Verschiebung in den Prioritäten hin, nämlich die Interessen privater Unternehmen zu bedienen. Allerdings waren die Folgen der erstgenannten Veränderung für den städtischen Haushalt in den meisten Fällen begrenzt genug, um nicht die Ausgabenstruktur der Sozialpolitik der Stadt zu gefährden; und die zweite Veränderung betraf in Wirklichkeit nur eine beschränkte Zahl großer Städte. Insgesamt gesehen trifft also die weitverbreitete Idee einer Verschiebung hin zur unternehmerischen Stadt (entrepreneurial city) zwar sicherlich auf den Diskurs darüber zu, aber die Mehrheit der Städte in Europa war davon realiter nur begrenzt betroffen. Die beiden anderen Veränderungen betreffen die sozialen und urbanen Auswirkungen der ökonomischen Umstrukturierungen und der Immigration. Die dritte typische Veränderung zeigt sich in der Wiederkehr von Nachbarschaften der Armut als sozialem Problem. Augenscheinlich passt dies in das dramatische Bild der zweigeteilten Stadt, das so viel Anklang in den Medien findet und in der akademischen Welt durch das weithin erfolgreiche

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Global-City-Modell (Sassen 1991) verstärkt wurde. Tatsächlich aber war der Wandel in der Beschäftigungsstruktur großer Städte wie Paris oder London nicht gekennzeichnet durch eine Zunahme der armen Kategorien auf der einen Seite und der wohlhabenden Kategorien auf der anderen bei einer verschwindenden Mitte. Die Zahl der Hochqualifizierten (professionals) wuchs zwar sehr stark an; aber das Gleiche gilt für die Kategorien der mittleren und unteren Mitte. Diese wiederum leben weniger segregiert, was zu einer beträchtlichen sozialen Mischung in vielen Stadtgebieten beiträgt. Angestellte im Handel und den persönlichen Dienstleistungen sind bedeutend zahlreicher geworden, haben aber nur zum Teil den rasch sinkenden Anteil der Arbeiter und der Angestellten in den Büros kompensieren können (Hamnett 1994, 2003; Préteceille 1995, 2006). Ähnliche Tendenzen zeigten sich in vielen Städten. Im Fall von Paris ging die Segregation zwischen den meisten sozioökonomischen Kategorien zurück, mit der Ausnahme eines geringen Anstiegs zwischen den Hochqualifizierten im privaten Sektor und bestimmten Kategorien der Arbeiterklasse. Allerdings entwickelte sich ein schärferer Gegensatz zwischen wohlhabenden Nachbarschaften, die immer exklusiver wurden, und einer erheblichen, wenn auch begrenzten Zahl3 von Arbeitervierteln, in denen Arbeitslosigkeit und Prekarität deutlich anstiegen (Préteceille 2006). Eine solche Polarisierung der Extreme lässt sich in vielen europäischen Städten beobachten. Sie hat politische Programme auf städtischer, nationalstaatlicher und selbst europäischer Ebene angeregt, die sich gezielt an »Nachbarschaften der Exklusion« (Musterd u. a. 2006) wenden und eine neue Entwicklung der europäischen sozialen Stadt, ihrer Probleme und Politikansätze bedeuten. Die vierte typische Veränderung resultiert aus der starken Zuwanderung von Migranten in viele europäische Städte. Städte wie Paris und London oder auch Hafenstädte waren schon lange Orte der Immigration und der Anwesenheit zahlreicher Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft. Aber nach dem Ende der Kolonialzeit kam es zu neuen und stärkeren Einwanderungswellen, weitgehend von außerhalb Europas. In manchen Ländern war die Einwanderung ursprünglich von Unternehmern gefördert wor 3 Die Zahl derartiger Nachbarschaften und ihrer Bewohner, ebenso wie das Ausmaß ihrer Probleme, ist groß genug, um sie zu einem neuen und wichtigen Bestandteil der Sozialpolitik werden zu lassen. Allerdings lebt dort nur eine Minderheit der Arbeiterklasse, so dass die Segregation der Kategorien der Arbeiterklasse insgesamt nicht zunimmt, außer für Industriearbeiter (blue collar workers).



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den, die billigere Arbeitskräfte für ihre Fabriken und Bergwerke benötigten. Die harten Lebensbedingungen in den Herkunftsländern und die Anwesenheit von Freunden und Verwandten in europäischen Städten, die bessere Zukunftsmöglichkeiten versprachen, ließen die Immigration dann zu einem Selbstläufer werden. Sie breitete sich auch in Länder aus, die keine Arbeitskräfte anwarben, aber bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, wie etwa die skandinavischen Länder, oder in südeuropäische Städte in Ländern wie Griechen­land, Spanien und Italien beispielsweise, aus denen Menschen vor nicht allzu langer Zeit noch emigriert waren, die aber mittlerweile wegen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und auch als Eingangstore in die Europäische Union attraktiv für Immigranten wurden. Weil die meisten von ihnen ursprünglich an‑ und ungelernte Arbeiter gewesen waren, litten sie mehr als andere unter den Auswirkungen von Wirtschaftskrise und Deindustrialisierung seit Mitte der 1970er Jahre. Aber rassische Diskriminierung, direkte wie indirekte, ausdrückliche wie systemische, verstärkte noch ihre Schwierigkeiten, Arbeit oder eine Wohnung zu finden und sich eine berufliche Laufbahn aufzubauen, und sie belastete die Beziehungen zu Behörden und öffentlichen Dienstleistern, vor allem aber zur Polizei. Dies führte zu einer Segregation von Immigranten oder Menschen mit Migrationshintergrund (der zweiten, selbst der dritten Generation), die noch krasser ausfällt als eine allein aufgrund ihres sozialökonomischen Status (für Paris: Préteceille 2011). Sie widerspricht deutlich der Vision von Gleichheit, die angeblich zu den von den europäischen Städten geteilten Werten gehört. Den sichtbarsten Ausdruck findet sie in der räumlichen Konzentration eines Teils der migrantischen Bevölkerung in einer Reihe von armen Nachbarschaften, was die bereits angesprochenen negativen Nachbarschaftseffekte noch durch ethnisch-rassische Diskriminierung verstärkt. Die Probleme am Arbeitsmarkt und in den Beziehungen zu öffentlichen Dienstleistern und zur Polizei führten immer wieder zu städtischen Revolten, von den Vororten Lyons 1979 bis zu denen von Stockholm 2013. Eine der besten Studien zu den sozialen und städtischen Bedingungen der Revolten in solchen benachteiligten Vierteln findet sich bei Lagrange und Oberti (2006), die die Welle der Unruhen in Frankreich 2005 untersuchten. Viele Beobachter interpretierten diese Veränderungen als eine Amerikanisierung europäischer Städte, mit einer Herausbildung von Gettos vergleichbar denen in New York oder Chicago. Gegen eine solche Gleichsetzung sprechen viele Argumente (Wacquant 2008: II–5). Nur drei seien angeführt. Als erstes der Umfang und die Verbreitung öffentlicher Dienstleistungen in

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den Städten Europas. Zweitens fällt die ethnisch-rassische Segregation in den meisten untersuchten europäischen Fällen (für Paris: Préteceille 2011) deutlich niedriger aus als in US-amerikanischen Städten.4 In Paris lebt nur eine Minderheit der Einwanderer aus dem Maghreb oder aus Afrika südlich der Sahara in Quartieren, in denen sie eine Bevölkerungsmehrheit bilden. Und das Segregationsniveau der Immigranten hat sich während der 1990er Jahre nicht verändert – ganz im Gegensatz zur Darstellung in den Medien, die geradezu eine Explosion in der Zunahme der Segregation suggerierte. Während der 1970er und 1980er Jahre ging die Segregation in den meisten französischen Großstädten sogar zurück (Pan Ké Shon 2013: 37), was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass viele Einwanderer während der 1960er Jahre in Slums, »bidonvilles«, leben mussten. Drittens ist das Ausmaß der mit diesen Quartieren verbundenen Gewalt viel geringer als das in den USamerikanischen Gettos, ob man nun zum Vergleich die Mordrate in diesen Gebieten oder die Gewaltakte während der städtischen Revolten heranzieht. Während der Aufstände von 2005 in den »banlieues«, die mehrere Wochen andauerten, kam niemand ums Leben außer den beiden Jugendlichen, deren Tod bei der Verfolgung durch die Polizei die Aufstände entzündet hatten, und einem älteren Mann, der einen Herzschlag erlitt. Dies steht in krassem Gegensatz zu der Behauptung eines amerikanischen Journalisten seinerzeit, Paris sei gefährlicher als Bagdad. Dennoch macht die Lage in diesen Quartieren der Ausgrenzung deutlich, dass die europäische soziale Stadt heute Probleme damit hat, eine erhebliche Minderheit der Einwanderer sozial zu integrieren – im Unterschied zur wichtigen integrativen Rolle, die sie in den Nachkriegsjahren gespielt hat, zusammen mit der Integration in den Arbeitsmarkt und mittels einer auf die Arbeiterschaft ausgerichteten Politik. In vielen städtischen Aufständen brachten die Jugendlichen ihre Wut auf die staatlichen Behörden, lokale wie nationale, dadurch symbolisch zum Ausdruck, dass sie Schulen in der Nachbarschaft, Kindergärten, öffentliche Bibliotheken, kulturelle Einrichtungen und Sportstätten in Brand setzten.

4 Musterd (2005) hat einen umfassenden Vergleich mit ähnlichen Schlussfolgerungen veröffentlicht, die von ihm zusammengestellten Daten werfen allerdings Probleme der Homogenität bezüglich der Reichweite, der einbezogenen Gebiete und der verwendeten Kategorien auf.



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3. Angriff des Finanzkapitals auf den Sozialstaat Die Subprime-Krise, die 2008 die Finanzkrise und anschließend die Wirtschaftskrise auslöste, enthüllte die wirkliche Bedeutung der »Finanzinnovationen«, die so viele während der 1990er Jahre in ihren Bann gezogen und glauben gemacht hatten, die »Finanzindustrie« und die ihr angeschlossenen Dienstleistungen seien der neue wirtschaftliche Kernbereich der Großstädte, dem unbedingter Vorrang für deren Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung eingeräumt werden müsse, der Bereich, in dem die Innovation der Motor des Wohlstands sei. In der Tat nimmt das Finanzkapital eine dominierende Stellung ein, und diese Vorherrschaft erlaubt es ihm, sich einen großen Teil der in der Wirtschaft erzeugten Werte anzueignen. Dies geschieht immer mehr auf spekulativem Weg mit kurzfristigen Profitzielen – Hochfrequenzhandel ist dafür das extreme Beispiel – und immer weniger durch produktive Investitionen, die im Allgemeinen eine längere Kapitalbindung erfordern. Das widerspricht nicht nur der vom Mainstream vorgebrachten Rechtfertigung für die Ausweitung der Finanzmärkte, sie seien das effiziente Mittel zur Allokation von Geldmitteln, wo die Wirtschaft sie benötige, sondern macht die Finanzmärkte auch immer anfälliger für die Erzeugung und das Platzen spekulativer Blasen. Die alte Frage der Regulationsschule bleibt weiterhin aktuell: Lässt sich der Prozess der kapitalistischen Akkumulation stabilisieren? Welche politischen und institutionellen Prozesse könnten dies in der gegenwärtigen Situation bewirken? Die Vertreter der Macht des Finanzkapitals scheinen nicht nach Mitteln der Stabilisierung zu suchen, sie tun vielmehr alles, um eine Regulierung zu verhindern. Sie haben kein Interesse daran, dass ihre Möglichkeiten, spekulative Profite einzufahren, begrenzt werden. Selbst Krisen sind noch profitabel für diejenigen, die einen Vorteil aus ihnen schlagen können. Lehman Brothers ging bankrott, aber Goldman Sachs ging aus der Krise nur noch mächtiger hervor. Krisen bringen die Gefahr mit sich, dass einige Wettbewerber untergehen; allerdings haben die Finanzinstitute erfolgreich die Idee verbreitet, sie seien »too big to fail« und müssten deshalb mit den Steuergeldern der Nationalstaaten gerettet werden, sobald sie in eine zu große Schieflage gerieten. In der Tat fanden massive Staatsinterventionen statt, um die meisten Banken und Finanzinstitute vor dem Desaster zu retten, das sie selbst heraufbeschworen hatten – nur ein weiteres Beispiel für die Privatisierung von

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Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten, in diesem Fall aber in einem massiven und extremen Ausmaß. Die Krise breitete sich jedoch auf die Gesamtwirtschaft aus und reduzierte damit die Steuereinnahmen der Staaten. Sogleich sahen die Banken, Finanzinstitute und Hedgefonds wieder eine Möglichkeit, Kapital aus der Krise zu schlagen und eröffneten spekulative Angriffe auf die schwächsten Staaten der Eurozone, bissen also in die Hand, die sie gerade gefüttert hatte. Daraufhin starteten konservative Parteien überall in Europa zusammen mit den von Neoliberalen beherrschten europäischen Institutionen wie der Europäischen Kommission eine abgestimmte Kampagne, um die Interpretation der Krise als einer Staatsschuldenkrise, die aus übermäßigen öffentlichen Ausgaben resultiere, durchzusetzen. Nachdem die desaströsen Folgen der Vorherrschaft des Finanzkapitals und der Spekulation zwangsläufig ans Licht der Öffentlichkeit hatten kommen müssen, und nachdem in den ersten Monaten unmittelbar nach der Krise lautstarke politische Debatten über die notwendige Kontrolle der Finanzmärkte geführt worden waren, setzten jene Parteien und Institutionen alles daran, derartige Konsequenzen durch die Verbreitung der entgegengesetzten Deutung zu verhindern: Übertriebene Ausgaben der öffentlichen Hand infolge einer allzu generösen Sozialpolitik und die daraus folgende Staatsverschuldung seien die wirklichen Gründe der Krise, und die spekulativen Angriffe seinen nichts anderes als ein Ausdruck der Fähigkeit des Marktes, derartige Schwachstellen offenzulegen. Das neue politische Dogma, Tag für Tag von den Medien bereitwillig verkündet, behauptet deshalb, die Krise lasse sich nur auf zwei Wegen überwinden, erstens durch Einsparungen bei den Ausgaben für Sozialpolitik und zweitens durch Steuererleichterungen für Unternehmen, die Verringerung der Arbeitskosten und die Deregulierung der Arbeitsmärkte mit dem Ziel, die Flexibilität der Arbeit zu erhöhen, um dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der privaten Unternehmen wiederherzustellen, schließlich Arbeitsplätze zu schaffen und neue Steuerquellen zu erschließen … Dies sind weitgehend die gleichen Rezepte wie diejenigen Thatchers, aber mit zwei Unterschieden: Sie werden nun ansatzweise in allen Ländern der Europäischen Union durchzusetzen versucht, wobei die Europäische Kommission selbst die Sparpolitik betreibt; und die Vorherrschaft des Finanzkapitals ist heute dank der Deregulierungspolitik von Thatcher und Reagan, die von vielen Regierungen, einschließlich sozialdemokratischen, nachgeahmt wurde, sehr viel stärker ausgeprägt. Um die neue Situation auf den Punkt zu bringen: Die City von London, die Hauptnutznießerin von



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Thatchers und Blairs Politik in Großbritannien, ist heute einer der Hauptakteure bei der finanziellen Spekulation gegen Länder der Eurozone und die eigentliche Anführerin der Kampagne zur Durchsetzung der Sparpolitik und des Abbaus der Sozialpolitik. Die Subprime-Krise von 2008 hatte bereits einige begrenzte direkte Auswirkungen auf europäische Städte. Obwohl dies ursprünglich unterschätzt wurde, da ja die europäischen Banken angeblich seriöser wirtschafteten, stellte es sich nach und nach heraus, dass einige von ihnen aktiv auf dem Subprime‑ und Derivatenmarkt tätig gewesen waren, deren Zusammenbruch die Krise ausgelöst hatte. Sie hatten auf diesen Märkten nicht nur zu ihrem Nutzen (und anschließend mit Verlusten) spekuliert, sondern auch ihre Kunden dazu verführt, solche Avantgarde-Produkte mit den besten Bewertungen durch Standard & Poor’s und die anderen Rating-Agenturen zu kaufen. Zu diesen Kunden gehörten eine Reihe von Lokalregierungen und öffentlichen Einrichtungen, die nun mit extremen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und absurd hohe Geldsummen zurückzahlen müssen. In Frankreich und Belgien wurde Dexia zum symbolträchtigsten Akteur in diesem Drama. Ursprünglich handelte es sich dabei um eine öffentliche französische Bank, eine Tochtergesellschaft der Caisse des Dépôts, deren Aufgabe darin bestand, das Geld lokaler Regierungen zu verwalten und sie mit niedrig verzinsten Darlehen zu versorgen, um ihnen bei ihren Investitionen in Infrastruktur und Dienstleistungen behilflich zu sein. Sie wurde zunehmend privatisiert und internationalisiert. Ihr Vorstandsvorsitzender, Pierre Richard, ein ehemaliger Stadtplaner und hoher Staatsbeamter, der eine Schlüsselrolle beim Entwurf der Dezentralisierungsgesetze von 1982 unter der ersten sozialistischen Regierung Mitterands gespielt hatte, wurde öffentlicher Bankier und führte dann die Bank in die Privatisierung und ihre Verwicklung in die »modernsten« Finanzgeschäfte. Als die Krise Dexia in aller Schärfe erreichte, musste er zurücktreten, er verließ die Bank aber mit einer Pension von 600.000 Euro jährlich. Im April 2013 hatten ungefähr 80 französische Lokalregierungen und öffentliche Einrichtungen gegen Dexia geklagt, weil Dexia sie mit falschen Versprechungen in gefährliche Finanzprodukte gelockt habe. In einigen Ländern schlug sich die Krise unmittelbar in der Wohnungssituation der Städte nieder. Vor allem in Spanien führte das Platzen der Finanz- und Immobilienblase dazu, dass hunderttausende von Haushalten ihr Haus oder ihre Wohnung verloren, weil sie infolge von Arbeitslosigkeit nicht mehr ihre Hypotheken bedienen konnten – und dies wegen der allgemeinen

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Wirtschaftskrise in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Dabei besagt das entsprechende Gesetz, dass die Haushalte, sobald ihr Eigentum an Haus oder Wohnung an die Banken zurückfällt, nicht nur ihre Wohnung verlieren, sondern auch noch weiterhin die Hypotheken zurückzahlen müssen – obdachlos und verschuldet bis ans Lebensende! Die konservative spanische Regierung weigerte sich, das Gesetz zu ändern, um die Banken zu schützen, die sich bereits in einer schwierigen Lage befanden. Die Krise stellte für viele Städte deren Strategien zur Wirtschaftsentwicklung in Frage und gefährdete die Investitionen, die sie in industrielle Zonen, Infrastruktur, Bürogebäude und dergleichen gemacht hatten, um Unternehmen anzuziehen, die Arbeitsplätze schaffen und die Steuereinnahmen steigern sollten. Städte wurden ebenfalls von der zunehmenden Arbeitslosigkeit ihrer Bevölkerungen betroffen und von der Verdrängung fester durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, was den Bedarf an Sozialausgaben für die Arbeitslosen und arbeitenden Armen ansteigen ließ. Als aus den genannten Gründen die Nachfrage nach Leistungen aus den lokalen öffentlichen Haushalten zunahm, gingen gleichzeitig die Ressourcen infolge sinkender Steuereinnahmen und der Sparpolitik der Zentralregierungen zurück. Obwohl die Lokalregierungen offiziell in vielen Ländern selbstständig sind, müssen sie einen Sparkurs verfolgen, und die einzige Wahl, die ihnen bleibt, besteht darin, entweder die Sozialausgaben zu kürzen oder die lokalen Steuern zu erhöhen; oft aber müssen sie beides zugleich. Von der Sparpolitik geht auch ein starker Druck in Richtung Privatisierung öffentlicher Güter auf die Städte aus: von Infrastruktur, Verkehr, Versorgungsbetrieben, Grundstücken etc. Es sind dieselben Rezepte, die Internationaler Währungsfonds und Weltbank Entwicklungsländern verschrieben hatten und die sie wegen ihrer zweifelhaften Effekte später wieder hatten infrage stellen müssen. Inzwischen lautet die Begründung nicht mehr, dies sei der richtige Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung, sondern nur noch, er sei alternativlos, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Rasch breiten sich neue Formen der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen aus, die die Einflusssphäre profitabler Operationen erweitern und zugleich den privaten Betreibern mehr Garantien über die Kontrolle ihrer Profite zusichern: Public-Private-Partnerships werden inzwischen für Projekte genutzt, die früher als typisch für die nicht vom Markt beherrschte Sphäre galten, wie etwa öffentliche Krankenhäuser oder das neue Gebäude des Verteidigungsministeriums in Paris. Der vielleicht symbolträchtigste Fall in Frankreich war die Entscheidung, im Departement Seine-Saint-Denis,



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lange Zeit eine Bastion der Kommunistischen Partei im Norden der Vororte von Paris und bekannt als ein Gebiet des Munizipalsozialismus, Public-Private-Partnerships zu nutzen, um öffentliche Sekundarschulen zu bauen oder zu renovieren. Die Kommunistische Partei verlor ihre Führungsrolle 2008, und der neue sozialistische Präsident der Lokalregierung (conseil général) entschied, derartige »moderne« Instrumente für die Erbringung von Dienstleistungen einzusetzen. Diese Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen geht sehr viel weiter als das, was bis vor kurzem möglich war, mit sehr viel längeren Verträgen, strikteren Verpflichtungen des öffentlichen »Partners«, die Profitabilität des privaten Betreibers zu gewährleisten, und stärker eingeschränkter Kontrolle über die gelieferte Leistung. Privatunternehmen haben mittlerweile drei Jahrzehnte lang mit derartigen Public-Private-Partnerships experimentiert, und Großbritannien war dabei ein wichtiges Laboratorium. Sie haben ihr Spezialwissen für finanzielle Konstruktionen entwickelt, die Investoren anziehen, für ausgeklügelte, von spezialisierten Anwaltskanzleien entworfene Verträge, für das Management von Dienstleistungen mithilfe von Techniken, die die neuen Konzepte der Ausbeutung der Arbeitskraft (Boltanski/ Chiappello 1999) auf Tätigkeiten übertragen, die früher von der öffentlichen Ethik der Qualität und Fürsorge bestimmt waren. Damit treten wir in ein neues Zeitalter der privaten Produktion und Kontrolle der vielfältigen Dimensionen städtischen Lebens ein, für das Privatunternehmen wie IBM bereits umfassende Hochtechnologiekonzepte von städtischer Produktion, Dienstleistungen und Kontrolle vorbereiten, die von der Polizei über den Verkehr bis zum Bildungswesen und der Altenpflege reichen und lokalen Behörden unter der sexy Marke der »intelligenten Stadt« verkauft werden sollen. Die Wirtschaftskrise verschärft Ungleichheiten, Prekarität, Armut und Ausgrenzungsprozesse. Die Fähigkeit der sozialen Stadt, vor diesen zu schützen oder ihre Wirkungen abzuschwächen, wird durch den organisierten neoliberalen Angriff untergraben, den die Europäische Kommission aufrechterhält. Mit wachsender Ungleichheit der Einkommen und immer weniger gebremster Konkurrenz auf den Immobilien- und Wohnungsmärkten müssen soziale Segregation und städtische Ungleichheiten zunehmen. Besonders gravierend wirkt sich die Krise in Städten Südeuropas aus, wie in Griechenland und Spanien, wo auch der Druck von Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Weltbank am größten ist, den Sozialstaat abzubauen, dessen Ausbau das gemeinsame Europa

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zuvor erst angeregt hatte. Aber auch in vielen anderen Ländern sind die Krisenfolgen recht deutlich zu spüren, in der Arbeiterklasse ebenso wie in den Mittelklassen, deren Lebensqualität und Hoffnungen auf sozialen Aufstieg, ja selbst auf soziale Stabilität sie unterhöhlen. In Gesellschaften, in denen Managementkonzepte die Konkurrenz aller gegen alle schüren, im privaten Sektor ebenso wie im öffentlichen, zersetzt der Wettbewerbsindividualismus die Werte der Solidarität und die sozialen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. In den Mittel- und unteren Mittelklassen ebenso wie in der einigermaßen stabilen Arbeiterklasse können die Erschütterungen der eigenen Stellung und die zunehmende Unsicherheit dazu führen, sich von den ärmeren Teilen der Bevölkerung absetzen zu wollen, um sich selbst vor den schlimmsten Auswirkungen der Krise zu schützen (Cartier u. a. 2008). Dies ist ein besonders sensibler Punkt mit Blick auf die Beziehung zu armen Immigranten. Sie und ihre Kinder sind die ersten Opfer von Arbeitslosigkeit und Exklusion, und das trägt zu einer höheren Schulabbruchrate, Straffälligkeit und Drogenhandel in armen Arbeitervierteln mit einer hohen Konzentration von Immigranten bei. Es schafft überdies Voraussetzungen dafür, dass sich einige Jugendliche (wieder) dem Islam zuwenden, auf der Suche nach einer Umkehrung des Stigmas und der Bestätigung einer wertvollen Identität (Kapko 2007; Kepel u. a. 2011). Bei einigen geht dies bis zur Unterstützung fundamentalistischer Ideen und der Verbindung zu terroristischen Netzwerken über Moscheen und das Internet, wie kürzlich in Frankreich und England zu beobachten war. Rechtsradikale politische Bewegungen haben seit Jahrzehnten Fremdenfeindlichkeit und Rassismus als ihre wichtigste Ressource genutzt. Überall in Europa haben sie zugenommen. Sie wurden nach dem 11. September 2001 durch den »Krieg gegen den Terrorismus« gestärkt, der zu einer breiten Stigmatisierung der Muslime ausgeweitet wurde, und auch viele nicht-extreme konservative Parteien sind dieser Linie gefolgt, sei es aus ideologischen Gründen, sei es aus Furcht vor dem zunehmenden Einfluss der Rechtsextremen bei den Wahlen. Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse treten deshalb offener zu Tage, und die Integrationskraft der europäischen sozialen Stadt wurde erheblich geschwächt.



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4. Kann die europäische Stadt widerstehen? Nach den heftigen neoliberalen Vorstößen, für die Griechen und Spanier derzeit einen hohen Preis zahlen, scheint die Unterstützung für das vorherrschende Dogma der Sparsamkeit nachzulassen. Nachdem der Sparkurs eine Abwärtsspirale von Rezession, Arbeitslosigkeit und schrumpfenden öffentlichen Einnahmen erzeugt hat, wie von Ökonomen vorausgesagt, zögern einige Regierungen wegen der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen und der zunehmenden Unzufriedenheit ihrer Bevölkerungen, ihn fortzusetzen. Eine Reihe von Skandalen hat überdies offengelegt, dass Sparsamkeit nicht für jedermann gilt. In Griechenland werden endlich die Steuerprivilegien der Kirche, der Reeder und verschiedener Minister, die dank ihrer Konten in der Schweiz Steuerflucht begehen konnten (und ihre Namen von der Liste der Eigentümer solcher Konten, die die Behörden gegen Steuerbetrug verwenden sollten, gestrichen hatten) in der Öffentlichkeit diskutiert. In Frankreich dauerte es Monate, um den Fall J. Cahuzac zu enthüllen, des mit der Umsetzung der Sparpolitik beauftragten sozialistischen Finanzministers, der nach Monaten des Leugnens zugeben musste, dass er ein Konto in der Schweiz hatte, das anschließend nach Singapur verlegt worden war und wahrscheinlich Geld enthielt, das ihm Pharmaunternehmen gezahlt hatten, die er zuvor im Gesundheitsministerium »kontrolliert« hatte, um die Kosten für Gesundheitsausgaben zu senken. Dann kam Offshore Leaks, der Zusammenschluss eines internationalen Netzwerks von Journalisten, um das ungeheure Ausmaß der Steuerflucht über Konten in Steueroasen offenzulegen. Dann warf die Europäische Union die Frage auf, wie es dazu kommen kann, dass Unternehmen wie Google und Apple so wenig Steuern bezahlen. Dann äußerte sich das Komitee des US-Senats besorgt über die Steueroptimierungspraktiken von Apple, das seine Tochtergesellschaften in Irland dazu nutzt, die Steuerbelastung niedrig zu halten … Einige sozialdemokratische Parteien beginnen, eine kritischere Haltung gegenüber der Europäischen Union und nationalen Sparpolitiken einzunehmen. Dies ist in den zurückliegenden Monaten etwa der Fall bei der SPD (wir sollten uns allerdings daran erinnern, das François Hollande während der Präsidentschaftswahlen das Finanzkapital zum Hauptgegner erklärt hatte, aber sehr wenig dagegen unternahm, nachdem er gewählt worden war). Wenn sich eine solche Wendung bestätigen sollte, dann könnte das die Voraussetzungen für einen weitreichenden Politikwechsel in der Europäischen Union schaffen. Aber noch ist es ein Traum.

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Lokalregierungen zögern, den Sparkurs zu übernehmen, da sie stärker in direktem Kontakt zur sozialen Situation und den Ansprüchen der Bevölkerung stehen und die Folgen bei den Wahlen fürchten müssen. Interessanterweise haben einige von ihnen in den letzten Jahren den Weg einer Rekommunalisierung von Dienstleistungen eingeschlagen (siehe den Beitrag von Wollmann in diesem Band), zum Beispiel bei der Wasserversorgung, deren Privatisierung zwar den Preis, aber weder die Qualität noch die Investitionen hat ansteigen lassen. Allerdings hängen die Lokalpolitiker bei der Finanzierung weitgehend von der Zentralregierung ab und in ihrer politischen Karriere von ihrer Parteiführung. Letztlich wird die Widerstandskraft der europäischen sozialen Stadt vor allem von den Reaktionen ihrer Bevölkerung und der Bereitschaft zu ihrer Mobilisierung abhängen. Diese war sehr stark in Griechenland, allerdings mit geringer Außenwirkung. Sie ist immer noch sehr stark in Spanien, zuerst mit der Bewegung der »indignados«, jetzt mit der sehr aktiven Bewegung gegen Zwangsversteigerungen und Zwangsräumungen, »stop desahucios«. Starker Widerstand richtet sich ebenfalls gegen die Privatisierung öffentlicher Kliniken in Madrid. Das Problem besteht darin, dass die größten Linksparteien selbst eine Verantwortung für die Sparpolitik tragen. Sie unterstützen keine Bewegungen, die sie nicht selbst kontrollieren, und sie helfen ihnen nicht dabei, eine europäische Dimension zu entwickeln, die ihnen ein breiteres Gehör und eine breitere politische Wirkung verschaffen würde. Viele zogen es bislang vor, die nationalistische Karte zu spielen, die umso leichter wirkt, als die Europäische Union als verantwortlich für Sparpolitik, Deregulierung, Deindustrialisierung und unkontrollierten Wettbewerb angesehen wird. Die europäische soziale Stadt wird überleben, wenn Europa sie nicht der Brutalität des Marktes ausliefert; wenn sie in die Lage versetzt wird, ihren Bürgerinnen und Bürgern Schutz zu gewähren und Chancen zu eröffnen; wenn solidarische Beziehungen innerhalb der europäischen Städte Immigranten und ihre Kinder einbeziehen und zu wahrhaft europäischen solidarischen Beziehungen werden. Übersetzung aus dem Englischen von Martin Kronauer.



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Ökonomischer Strukturwandel und Polarisierungstendenzen in deutschen Stadtregionen Martin Gornig, Jan Goebel

1. Ein kurzer Blick zurück: Die Entwicklung bis 1989 Die Städte sind mit der Industrialisierung groß geworden. Industrialisierung und Urbanisierung sind historisch gesehen untrennbar miteinander verbunden (Croon 1963).Trotz der Dominanz industriellen Wachstums trugen allerdings auch tertiäre Funktionen in vielen Städten wesentlich zur wirtschaftlichen Stärke bei. Die Regionalökonomie zeigte jedoch lange Zeit wenig Interesse an solchen strukturellen Unterschieden, denn alle Städte und Stadtregionen – mit welcher funktionalen Ausrichtung auch immer – wuchsen. Zurück blieben die ländlich-peripheren Räume. Mit den sektoralen Strukturumbrüchen in den USA und Westeuropa Mitte der 1970er Jahre aber änderten sich schlagartig auch die regionalen Wachstumsmuster (Hall/Hay 1980; Norton 1986). Nicht mehr die Entwicklungsdifferenzen zwischen Zentrum und Peripherie, sondern die zwischen den verschiedenen Agglomerationen bestimmten nun das Bild. Betroffen waren vor allem von der Montanindustrie geprägte Regionen. Sie hießen von nun an altindustrialisierte Regionen. In Westdeutschland standen dafür exemplarisch das Ruhrgebiet und das Saarland. In Ostdeutschland war davon noch nichts zu spüren. Das Gebiet der DDR war vor dem Zweiten Weltkrieg eine wirtschaftlich überdurchschnittlich entwickelte Region in Deutschland. Zu den ökonomisch stärksten Regionen zählten vor allem die sächsischen Ballungsräume (Leipzig, Chemnitz, Dresden). So lag dort 1939 auch der Industriebesatz (Beschäftigte im produzierenden Gewerbe je Einwohner) deutlich höher als in den westlichen Landesteilen. Im nördlichen Teil der späteren DDR dominierte die Reichshauptstadt und Industriemetropole Berlin. Die übrigen Regionen in Mecklenburg, in Vorpommern und in der Mark Brandenburg waren dagegen stark ländlich geprägt und wiesen Anzeichen wirtschaftlicher Rückständigkeit auf (Gornig/Häußermann 1998).

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Martin Gornig, Jan Goebel

Nach der deutschen Teilung war der Zwang, die regionalen Wirtschaftsstrukturen zu verändern, in der DDR sehr viel größer als in der Bundesrepublik. Dies nicht nur deshalb, weil der Umfang von Kriegszerstörung und Demontage größer war, sondern auch weil schlicht das Wirtschaftsgebiet kleiner war. Durch die regionale Spezialisierung der Wirtschaft waren somit nur Teile des notwendigen Gesamtproduktionsprozesses vorhanden. Gleichzeitig konnten im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) nur bedingt fehlende Teile der Produktionsstufen durch Importe substituiert werden. Aus diesen Gründen war der Aufbau neuer – bislang kaum in Ostdeutschland vertretener – Industrie erforderlich. Die Standorte der neuen Industrien lagen zumeist außerhalb der traditionell starken Industriezentren im Süden der DDR und in Berlin. Beispiele hierfür sind der Aus- und Aufbau des Schwermaschinenbaus in Magdeburg, der Metallerzeugung in Eisenhüttenstadt oder der Werftindustrie in den größeren Küstenstädten. Diese Industrialisierungsstrategie hat zu erheblichen Veränderungen der regionalen Strukturen geführt. Schon bis 1970 war der Anteil der nördlichen Regionen an der Industriebeschäftigung der DDR mit rund 20 Prozent um ein Viertel höher als vor dem Zweiten Weltkrieg. Bis 1989 – kurz vor dem Zusammenbruch der DDR – lag der Anteil bei fast 25 Prozent (Gornig/Häußermann 1999).

2. Strukturwandel nach 1990 Unmittelbar nach der Vereinigung Deutschlands wurden die ökonomischen Entwicklungsperspektiven der ostdeutschen Städte und insbesondere Berlins in aller Welt außerordentlich positiv eingeschätzt (Häußermann u. a. 2008a). Insbesondere in der Immobilienbranche überwogen nahezu euphorische Wachstumserwartungen. Diese Wachstumserwartungen manifestierten sich in der Vielzahl von Neubauprojekten, die vor allem im Bürobereich angesiedelt waren. Die Immobilienpreise in den großen ostdeutschen Städten zogen deutlich an. Auch die ökonomische Theorie und hier allen voran die »Neue Ökonomische Geographie« verband mit dem Fall des Eisernen Vorhangs für die Stadtregionen in der Mitte Europas die Erwartung großer Wachstumsimpulse (Krugman/Vanables 1993; Bröcker/Jäger-Roschko 1996; Baldwin u. a.



Ökonomischer Strukturwandel und Polarisierungstendenzen

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1997). Tatsächlich konnten die meisten großen Städte wie Hamburg, München oder Wien nach 1990 überdurchschnittlich an Wirtschaftskraft und Bevölkerung gewinnen. Die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland sah nach 1989 allerdings anders aus: Nach der Vereinigung kam es zu einem nahezu vollständigen Zusammenbruch der DDR-Industrie. Die Gesamtbeschäftigung nahm nicht zu, sondern Jahr für Jahr reduzierte sich die Zahl der Arbeitsplätze (Gornig/Häußermann 2000). Gerade auch die großen Zentren in Ostdeutschland – und hier allen voran die Bundeshauptstadt Berlin – eine lange Phase dersich Stagnation und Schrumpfung. So verlor Ostbei, dass dieerlebten West-Berliner Wirtschaft von der Wirtschaftsentwicklung im Westen Berlin mit dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR abkoppelte. Kaum besser erging es den durch marode innerstädtische Bausubstanz geprägten seine Steuerungsfunktion in Staat, Partei und Ökonomie. Auch West-Berlin Städten im Süden der DDR. Zwar entwickelte sich die Industrie hier eher blieb hinter der Entwicklung in den alten Bundesländern zurück. Insbesonüberdurchschnittlich, die Bevölkerung wanderte aber auch aus den großen Städten Leipzig dere die Verluste in der vormals hoch subventionierten Industrie trugen dazu und Dresden ab dass (Gornig/Häußermann 2002). bei, die Westberliner Wirtschaft sich von der Wirtschaftsentwicklung im Westen abkoppelte. Kaum besser erging es den durch marode innerstädim Südeneinmaliger der DDR. Zwar Gleichzeitigtische setzteBausubstanz ein in seinergeprägten relativenStädten Höhe historisch Stromentwickelte westlicher sich die Industrie hier eher überdurchschnittlich, die Bevölkerung wanderte Direktinvestitionen ein (Burda 2006). Seit 2000 ist allerdings eine spürbare Konsolidierung aber auch aus den großen Städten Leipzig und Dresden ab (Gornig/Häußerder Industrie in den ostdeutschen Großstädten erkennbar (Abbildung 1). mann 2002).

Abbildung 1: Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe – Entwicklung 2000-2009 Abbildung 1: Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe – 2000 = 100Entwicklung 2000–2009 (2000 = 100) 140 135 130

Deutschland

125 120 115

Westdeutsche  Städte

Ostdeutsche  Städte

110 105 100 95 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und Länder, der Länder, 2012. Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der 2012.

Die Industrie, die heute in Ostdeutschland anzutreffen ist, weist zwar immer noch spezifische Charakteristika im Firmenverhalten auf (Görzig u.a. 2008). Mit den alten Industriekombinaten

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Martin Gornig, Jan Goebel

Gleichzeitig setzte ein in seiner relativen Höhe historisch einmaliger Strom westlicher Direktinvestitionen ein (Burda 2006). Seit 2000 ist allerdings eine spürbare Konsolidierung der Industrie in den ostdeutschen Großstädten erkennbar (Abbildung 1). Die Industrie, die heute in Ostdeutschland anzutreffen ist, weist zwar immer noch spezifische Charakteristika im Firmenverhalten auf (Görzig u. a. 2008). Mit den alten Industriekombinaten der DDR hat sie aber nahezu nichts mehr gemein. Dies betrifft nicht nur die Produkte und Produktionsweisen, sondern häufig auch die Art der regionalen Verflechtung. In der ersten Modernisierungsphase nach 1990 gab es häufig nur eine schwache horizontale Integration der neuen Industriebetriebe in der Region. Die Verflechtungsbeziehungen waren eher durch die Heimatregionen der Unternehmen geprägt, die die Direktinvestitionen in Ostdeutschland durchführten. Der Begriff von den (industriellen) Kathedralen in der (ökonomischen) Wüste Ostdeutschlands machte die Runde. Noch heute sind die räumlichen Verflechtungsbeziehungen der Industriebetriebe sicherlich lockerer als man dies beispielsweise von württembergischen Unternehmen annimmt. Mit dem upgrading der Produktpalette in Ostdeutschland hat aber tendenziell auch die Einbindung in regionale Produktions- und Wissensnetzwerke zugenommen. Dies gilt beispielsweise für die Automobilund Mikroelektronik-Cluster. Hier entstehen integrierte Produktionsmilieus, die zwar global aufgestellt, aber durchaus auch regional verankert sind. In den westdeutschen Großstädten war nach einem kurzen Vereinigungsboom der Entwicklungstrend der Industrie zunächst ebenfalls negativ. Im Laufe der Zeit allerdings spezialisierte sich die deutsche Industrie immer weiter auf sogenannte forschungsintensive Branchen (Elektrotechnik, Maschinenbau, Fahrzeugbau, Chemie). In den Jahren 2007 und 2008 wurde die Industrie sogar zum Wachstumsmotor auch in den großen westdeutschen Städten. Mit der globalen Finanz- und Wirtschaftkrise wurde dieser Prozess aber jäh unterbrochen. Für die Folgejahre zeigt sich aber durchaus eine Fortsetzung des positiven Trends (Gornig/Schiersch 2012). Unverkennbar ist gleichzeitig, dass sich in Deutschland wie in anderen Hochlohnländern eine neue ökonomische Basis entwickelt. Sie ist nicht nur durch hoch spezialisierte Industrien geprägt, sondern vor allem auch durch wissensintensive Dienstleistungen. Diese weisen ähnlich wie die Industrie eine überregionale Handelbarkeit auf (Illeris 2005; Beyers 2005; Gornig 2005) und können sich damit räumlich mehr und mehr konzentrieren (Südekum 2005; Geppert u. a. 2008).



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Als besonders erfolgreich beim Aufbau wissensintensiver Dienstleistungen zum Beispiel in den Finanz- und Mediensektoren galten lange Hamburg, Frankfurt und München. In Ostdeutschland dagegen sind bislang die ökonomischen Potenziale solcher dienstleistungsorientierter Cluster wenig Abbildung 2: Entwicklung der Bruttowertschöpfung der Finanzierung, Vermietung, 130 Unternehmensdienstleistungen 2000–2009 (2000 = 100) Deutschland

130 125

Deutschland

125 120 120 115 Westdeutsche  Städte 115 110

Ostdeutsche  Städte

Westdeutsche  Städte

Ostdeutsche  Städte

110 105 105 100 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

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100 2000

2001

2002

2003

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2009

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2012. Abbildung 3: Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes in deutschen Städten 2000– 2009 (2000 = 100) 124 Deutschland

124 120

Deutschland 120 116 116 112 Westdeutsche  Städte 112 108

Ostdeutsche  Städte

Westdeutsche  Städte

Ostdeutsche  Städte

108 104 104 100 2000

2001

2002

2003

2004

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2006

2007

2008

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100 2000

2001

2002

2003

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2005

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Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2012.

2007

2008

2009

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Martin Gornig, Jan Goebel

ausgeprägt (Eickelpasch u. a. 2009). In den größeren Städten wie Dresden, Leipzig oder vor allem Berlin scheint aber auch hier ein Aufholprozess eingesetzt zu haben. Dies gilt insbesondere seit 2006 für die Finanz- und Unternehmensdienste (Abbildung 2). Seit der Finanzkrise liegen die Ostdeutschen Zentren sogar in der Entwicklungsdynamik vor dem Westen. In der Folge konnten im Verlauf der letzten Jahre die Großstädte Ostdeutschlands auch in der Wirtschaftsleistung insgesamt ihre Position leicht verbessern (Abbildung 3). Ein wichtiger Grund dafür, dass in den letzten Jahren Großstädte im Westen wie im Osten überdurchschnittlich wachsen, ist offenbar auch, dass immer mehr junge Menschen das großstädtische Leben bevorzugen. Die Städte werden im Vergleich zu den übrigen Regionen jünger (Geppert/Gornig 2010). Traditionell profitieren die Städte von der Zuwanderung junger Menschen, die eine weiterführende Ausbildung absolvieren wollen. Relativ neu ist aber, dass immer mehr dieser Menschen nach Abschluss der Ausbildung in den großen Städten bleiben. Berlin, Dresden und Leipzig können hier gerade auch im Vergleich zu den lange bevorzugten Städten im Westen zulegen (Abbildung 4). Abbildung 4: Entwicklung der Einwohnerzahl insgesamt in in deutschen deutschen Städten 2000– Abbildung 4: Entwicklung der Einwohnerzahl insgesamt Städten 2000-2009 2009 (2000 = 100) 2000 = 100 103,0 102,5 Westdeutsche  Städte

102,0 101,5

Ostdeutsche  Städte

101,0 100,5

Deutschland

100,0 99,5 99,0 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Quelle: Statistische des Bundes undder derLänder, Länder, 2012. Quelle: Statistische ÄmterÄmter des Bundes und 2012.

Ü2/3. Folgen für die Städte Die Deindustrialisierung der Ökonomie hat tiefe Spuren in den Städten hinterlassen. Davon



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3. Folgen für die Städte Die Deindustrialisierung der Ökonomie hat tiefe Spuren in den Städten hinterlassen. Davon zeugen nicht nur hier und da Industriebrachen und leerstehende Fabrikgebäude. Mindestens ebenso spürbar wie die ausgeprägten Wachstumsdifferenzen zwischen den Städten sind die Folgen der Deindustrialisierung für die Einkommens- und Sozialstrukturen in den Städten. Industrialisierung, kollektive Lohnfindung und Sozialstaat führten im 20. Jahrhundert zu einer starken Reduktion der Einkommensdifferenzen. Zumindest bis in die 1970er Jahre hinein war für die breiten Schichten der Lohnempfänger die Teilhabe am Wohlstandswachstum gesichert. Die mit der Industrialisierung entstandenen Städte spielten bei der Minderung der Einkommensunterschiede in Europa eine zentrale Rolle. Im Zusammenwirken von ökonomischem Wachstum und stadtpolitischer Regulierung haben sie sich als Integrationsmaschinen erwiesen (Häußermann/Kapphan 2000). Umgekehrt könnte nun die Folge von Deindustrialisierung und Tertiärisierung eine zunehmende Lohndifferenzierung sein. Hierfür spricht zumindest die ökonomische Theorie. Die These zur Expansion der Dienstleistungsbeschäftigung fußt auf der Kombination zweier Effekte: Nachfragesteigerungen durch eine positive Einkommenselastizität und geringe Produktivitätssteigerungen durch die zeitliche und räumliche Bindung von Produzenten und Kunden (Fisher 1939). Schon früh wurde erkannt, dass die geringen Potenziale für Produktivitätssteigerungen auch Nachfrageengpässe verursachen können (Baumol 1967). Steigen die Masseneinkommen, so steigen ohne Produktivitätszuwächse auch die Preise für Dienstleistungen. Produktivitätsschwache (einfache) Dienstleistungen können im Zeitverlauf nur an Beschäftigung gewinnen, wenn ihre Entlohnung relativ zur Gesamteinkommensentwicklung zurückbleibt. Produktivitätsstarke (hochwertige) Dienstleistungen können dagegen auch bei steigenden Löhnen expandieren, da ihre Kosten pro Leistungseinheit (Lohnstückkosten) nicht steigen müssen. Im Tertiärisierungsprozess entstehen dann parallel also sowohl relativ schlecht entlohnte einfache Dienstleistungsjobs als auch hoch produktive und hoch entlohnte Dienstleistungsjobs. Im Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft nimmt die Lohnspreizung zu (Harrison/ Blue­stone 1988). Das Faktum einer zunehmenden Polarisierung der Einkommensverteilung ist seit Ende der 1970er Jahre für die Staaten der USA nahezu unbestritten (Bernstein u. a. 2002). In Deutschland hingegen wurde noch weit

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Martin Gornig, Jan Goebel

in die 1990er Jahre hinein von einer eher uneinheitlichen Veränderung der Einkommensverteilung ausgegangen. Seit 2000 nimmt aber die Einkommensdifferenzierung auch in Deutschland spürbar zu (Goebel/Krause 2007; OECD 2011). Auf regionaler Ebene ist die Frage nach der Einkommenspolarisierung im Zusammenhang mit der Diskussion der Global Cities (Sassen 1991), der Dual City (Mollenkopf/Castells 1991) oder der Divided Cities (Fainstein u. a. 1992) aufgenommen worden. Die in den Thesen formulierte Vermutung, dass die Einkommenspolarisierung vor allem auch eine Entwicklung in den großen Städten sei, hat in Westeuropa zu einer Fülle von Studien zur Veränderung der Sozialstrukturen in Großstädten geführt. Die meisten dieser Studien zu Oslo (Wessel 2000), zu Helsinki (Vaattovaara/Kortteinen 2003), zu Amsterdam und Rotterdam (Burgers/Musterd 2002) beruhen allerdings auf einer sehr schmalen empirischen Basis. Nur in wenigen Fällen wie für London (Hamnett 2003) und Zürich (KollSchretzenmayr u. a. 2005) konnten repräsentative Einkommensdaten verwendet werden. Auch für deutsche Großstädte liegen viele Studien zur Einkommens- und insbesondere Armutsentwicklung vor. Siehe hierzu den Überblick in Aehnelt u. a. (2009). Besonders intensiv ist hierbei die Beobachtung der räumlichen Prozesse im Monitoring Soziale Stadt in Berlin (Häußermann u. a. 2008b). Allerdings sind nur partiell statistische Informationen zur Einkommenspolarisierung aus den Studien ableitbar. Sie sind zudem aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden untereinander nicht vergleichbar. Ein bislang für diese Fragestellung wenig genutzter Datensatz ist das Sozioökonomische Panel. Es enthält Angaben zum Einkommen, zum Wohnort und zu vielen andern sozioökonomischen Daten von rund 20.000 Haushalten in Deutschland. Diese Daten wurden bislang vornehmlich auf nationaler Ebene oder für Ostdeutschland insgesamt ausgewertet (Goebel u. a. 2010) bzw. nach bestimmten Wachstumstypen analysiert (Goebel u. a. 2012). Hier sollen aktuelle Auswertungen speziell für die Gegenüberstellung west- und ostdeutscher Großstadtregionen verwendet werden. Die empirische Analyse stellt vor allem auf die Beobachtung einer Einkommenspolarisierung ab. Von besonderem Interesse ist daher die Entwicklung der Einkommensränder (Esteban/Ray 1994). Bei der Operationalisierung der empirischen Messung von Einkommenspolarisierung gibt es kein eindeutiges Vorgehen. Klassische Ungleichheitsindexe wie der Gini-Koeffizient messen den Abstand zwischen den einzelnen Personen oder Gruppen



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einer Gesellschaft, vereinfacht ausgedrückt also, wie stark die Spreizung der Einkommensverteilung ausgeprägt ist. Polarisierung hingegen legt den Fokus nicht nur auf den Abstand zwischen den Einkommen, sondern auch auf die Anzahl der Personen mit niedrigen, bzw. hohen Einkommen relativ zu den Personenanteilen im mittleren Einkommenssegment. Ungleichheit fokussiert also die Abweichung vom globalen Mittelwert einer Verteilung, wohingegen Polarisierung das Maß der Clusterung um lokale Mittelwerte thematisiert (Amiel u. a. 2010). Polarisierung und wachsende Ungleichheit müssen daher nicht immer gleichzeitig auftreten, es kann sogar sein, dass trotz steigender Polarisierung eine sinkende Ungleichheit zu beobachten ist. Zur Messung der Polarisierung in der Einkommensverteilung werden drei Gruppen gebildet: Unten, Mitte und Oben. Eine allgemein anerkannte Praxis der empirischen Abgrenzung der oberen bzw. unteren Einkommensränder existiert allerdings nicht. Hier werden die Einkommensbereiche in Anlehnung an den deutschen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gebildet. Sie beziehen sich auf reale Haushaltsnettoeinkommen. Unterschieden werden folgende Gruppen: –– Unterer Bereich (Niedrige Einkommen): Haushaltseinkommen bei weniger als 70 Prozent des Median –– Mittlerer Bereich (Mittlere Einkommen): Haushaltseinkommen mindestens 70 Prozent des Median, aber nicht mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens –– Oberer Bereich (Hohe Einkommen): Haushaltseinkommen mehr als 150 Prozent des Median Eine mögliche Polarisierung der Einkommensverteilung kann in verschiedenen Dimensionen beobachtet werden. Eine dieser Dimensionen sind die Personenanteile, die auf die drei Einkommensgruppen entfallen. Steigen im Zeitverlauf die Anteile der Ränder zu Lasten der Mitte, liegt somit Einkommenspolarisierung vor. Auf eine solche Betrachtung zielt beispielsweise die Diskussion um die Bedeutungsverluste der mittleren Einkommensgruppen (shrinking middle class) ab (Grabka/Frick 2008; Goebel u. a. 2010). Für die Abbildung von Polarisierung der Einkommensverteilung bieten sich demnach zunächst die unmittelbare Analyse der Personenanteile der Einkommensgruppen der jeweiligen Gruppen bzw. ihre Veränderungen an. Zur Beurteilung zeitlicher wie räumlicher Vergleiche, wie hier angestrebt, ist die Verwendung von einer einzigen Kennzahl (Index) mit klar definierten Axiomen zur Bewertung von Einkommenspolarisierung hilfreich. Der In-

zunächst die unmittelbare Analyse der Personenanteile der Einkommensgruppen der

jeweiligen Gruppen bzw. ihre Veränderungen an. Zur Beurteilung zeitlicher wie räumlicher 60 wie hier angestrebt istMartin Gornig, Jan Goebel Vergleiche die Verwendung von einer einzigen Kennzahl (Index) mit klar definierten Axiomen zur Bewertung von Einkommenspolarisierung hilfreich. Der Index dex, der der üblichen Beschreibung der Veränderung von Personenanteilen der der üblichen Beschreibung der Veränderung von Personenanteilen am nächsten kommt, am nächsten kommt, ist der von Reynal-Querol 2002 vorgeschlagene Polaist der von Reynal-Querol 2002 vorgeschlagene Polarisierungsindex, risierungsindex,

wobei nwobei die Anzahl Gruppen darstellt und πi dieund relative Größe der Größe Gruppeder i. n die der Anzahl der Gruppen darstellt πi die relative Gruppe i. DerWert, geringste Wert, denerreicht der Index erreicht, dann Der geringste den der Index ist null. Diesististnull. z.B.Dies dannist derz. B. Fall, wenn alle der Fall, wenn alle Personen der mittleren Einkommensgruppe zugehörig Personen der mittleren Einkommensgruppe zugehörig sind. Den höchsten Wert von 1 weist sind. Den höchsten Wert von 1 weist der Index auf, wenn die mittlere Einder Index auf, wenn die mittlere Einkommensgruppe undbeiden damit alle kommensgruppe verschwunden ist und damitverschwunden alle Personenistden Personen den beiden Randgruppen zuzuordnen sind. Zur Abschätzung der Fehlerstatistischen Randgruppen zuzuordnen sind. Zur Abschätzung der statistischen wahrscheinlichkeit bei der Bestimmung des verwendeten Polarisationsmaßes Fehlerwahrscheinlichkeit bei der des verwendeten Polarisationsmaßes wurden wurden die Konfidenzintervalle über ein Bootstrapping-Verfahren die Konfidenzintervalle über ein Bootstrapping-Verfahren ermittelt. Wirermittelt. haben in diesem Fa Wir haben in diesem Fall mit 500 Replikationen gearbeitet. mit 500 Replikationen gearbeitet. Bei einem Blick auf die Entwicklung der Personenanteile der drei Einkommensgruppen in Deutschland insgesamt, fallen vor allem die stetigen Bei einem Blick auf dieder Entwicklung der dreiseit Einkommensgruppen in Anteilzuwächse Haushalte der mitPersonenanteile niedrigen Einkommen der Jahrtausendwende ins Auge 5). stetigen Dieser Trend setzte sich auch in den mit Deutschland insgesamt, fallen(Abbildung vor allem die Anteilzuwächse der Haushalte Jahren 2007 und 2008 fort, in denen die konjunkturelle Entwicklung deut- Trend setz niedrigen Einkommen seit der Jahrtausendwende ins Auge (Abbildung 5). Dieser lich besser wurde, ebenso wie im Krisenjahr 2009. Gleichzeitig ist auch der sich auch in den Jahren 2007 und 2008 fort, in denen die konjunkturelle Entwicklung deutlic Anteil der Haushalte mit mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens besser wurde, ebenso im2008 Krisenjahr Gleichzeitig ist auch Der der Anteil der Haushalte zwischen 2000wie und nahezu2009. kontinuierlich gestiegen. deutliche mit mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens zwischen 2000 und 2008 nahezu Rückgang im Anteil an Personen in Haushalten mit höherem Einkommen kontinuierlich gestiegen. Der deutliche Rückgang im Anteil an Personen in Haushalten mit im Krisenjahr 2009 wurde bereits ein Jahr später wieder kompensiert. Die Anteilsverschiebung zuwurde den Rändern zeigt sichspäter auchwieder im Index höherem Einkommen im Krisenjahrhin 2009 bereits ein Jahr kompensiert. von Reynal-Querol (Abbildung 6). Von 2000 bis 2008 verschieben sich die Anteile durchgängig in Richtung auf eine Stärkung der Ränder der EinkomAbbildung 5: Entwicklung der Einkommenspolarisierung in Deutschland 1995 bis 2010 mensverteilung. Nach kurzer Unterbrechung 2010 liegt der Index über dem Wert von 2008. Der graue Bereich um die Linie für den Indexwert markiert den statistischen Unsicherheitsbereich bei einer Fehlerwahrscheinlichkeit von fünf Prozent. Im längerfristigen Vergleich sind demnach die Anteilsverschiebungen eindeutig statistisch signifikant. Die stärksten Anteilsverschiebungen sind dabei in der Beobachtungsperiode 2000 bis 2006 festzustellen. Der Polarisationsindex nach Reynal-Que-



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Abbildung 5: Entwicklung der Einkommenspolarisierung in Deutschland 1995 bis 2010

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

rol stieg um gut fünf Prozent. Seit 2007 ist dagegen eher eine SeitwärtsQuelle: SOEP, eigene Berechnungen. bewegung festzustellen. Auf dem 95-Prozent-Niveau ist statistisch gesichert weder eine weitere Zu- noch eine Abnahme der Einkommenspolarisierung Die Anteilsverschiebung hin zu den Rändern zeigt sich auch im Index von Reynal-Querol festzustellen. Dies deckt sich auch mit Ergebnissen zur Entwicklung der ge(Abbildung 6). Von 2000 bis 2008 verschieben sich die Anteile durchgängig in Richtung auf nerellen Ungleichheit (Grabka u. a. 2012). Auch hier ist in den letzten Jahren eine Stärkung der Ränder der Einkommensverteilung. Nach kurzer Unterbrechung 2010 liegt keine statistisch gesicherte Veränderung des Gini-Koeffizienten beim realen der Index über dem Wert von 2008. Der graue Bereich um die Linie für den Indexwert Haushaltsnettoeinkommen zu beobachten. markiert den statistischen Unsicherheitsbereich bei einer Fehlerwahrscheinlichkeit von fünf Eine vergleichbare Analyse wäre nun auch für einzelne Stadtregionen Prozent. Im längerfristigen Vergleich sind demnach die Anteilsverschiebungen eindeutig oder gar Städte wünschenswert. Die Fallzahlen im SOEP in der Größenstatistisch signifikant. ordnung von 20.000 Haushalten lassen das aber nicht zu. Es werden daher die ostdeutschen Stadtregionen als Summe den Resultaten für die westdeutDie stärksten Anteilsverschiebungen sind dabei in der Beobachtungsperiode 2000 bis 2006 schen Stadtregionen gegenübergestellt. Die Abgrenzung der Stadtregionen festzustellen. Der Polarisationsindex nach Reynal-Querol stieg um gut fünf Prozent. Seit 2007 selbst erfolgt dabei auf der Ebene von Raumordnungsregionen. Sie entist dagegen eher eine Seitwärtsbewegung festzustellen. Auf dem 95-Prozent-Niveau ist spricht weitgehend der Abgrenzung der Stadtregionen des Bundesamtes für statistisch gesichert weder eine weitere Zu- noch eine Abnahme der Bauwesen und Raumordnung (Abbildung 7). Zur weiteren Reduzierung der Einkommenspolarisierung festzustellen. sich auch mitZeiträume Ergebnissen(Abbilzur statistischen Unsicherheiten werdenDies für deckt die markanten Entwicklung generellen Ungleichheit (Grabka u.a. 2012). Auch hier ist den letzten dung 8) dieder Jahre zusammengefasst. Verglichen werden dann dieinDurchJahren keine statistisch gesicherte Veränderung des Gini-Koeffizienten beim realen Haushaltsnettoeinkommen zu beobachten.

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Martin Gornig, Jan Goebel

Abbildung 6: Entwicklung des Polarisierungsindexes nach Reynal-Querol in Deutschland

Abbildung 6: Entwicklung des Polarisierungsindexes nach Reynal-Querol in Deutsch1995-2010 land 1995–2010

Quelle: Quelle:SOEP, SOEP,eigene eigeneBerechnungen. Berechnungen.

schnittswerte der Perioden 2000 bis 2002 mit denen der Perioden 2004 bis 2006 und 2008 bis 2010. Eine vergleichbare Analyse wäre nun auch für einzelne Stadtregionen oder gar Städte Die Auswertungen zeigen für die ostdeutschen Stadtregionen eine extrewünschenswert. Die Fallzahlen im SOEP in der Größenordnung von 20.000 Haushalten me Verschiebung der Personenanteile in der ersten Periode 2000 bis 2006 lassen das aber nicht zu. Es werden daher die ostdeutschen Stadtregionen als Summe den (Abbildung 8). Besonders stark ist die Zunahme der Anteile von Haushalten Resultaten für die westdeutschen Stadtregionen gegenübergestellt. Die Abgrenzung der mit geringem Einkommen. Ihr Anteil nahm um gut 24 Prozent zu. In den Stadtregionen selbst erfolgt dabei auf der Ebene von Raumordnungsregionen. Sie entspricht Regionen der großen Städte (Berlin, Leipzig, Dresden) stieg aber gleichzeitig weitgehend der Abgrenzung der Stadtregionen des Bundesamtes für Bauwesen und auch der Anteil von Personen in Haushalten mit hohem Einkommen. Die Raumordnung (Abbildung 7). Zur weiteren Reduzierung der statistischen Unsicherheiten Zunahme betrug hier vier Prozent. Die mittlere Einkommensgruppe verlor werden für die markanten Zeiträume (Abbildung 8) die Jahre zusammengefasst. Verglichen dagegen stark an Bedeutung (minus neun Prozent). Hinweise auf das Phäwerden dann die Durchschnittswerte der Perioden 2000 bis 2002 mit denen der Perioden 2004 nomen einer schrumpfenden Mittelklasse lassen sich auch für westdeutsche bis 2006 und 2008 bis 2010. Stadtregionen finden. Allerdings sind zwischen 2000 und 2006 die Polarisierungstendenzen deutlich geringer ausgeprägt. Die mittlere Einkommensgruppe verliert ›nur‹ gut vier Prozent. Gleichzeitig ist die Polarisierung in westdeutschen Stadtregionen eher nach oben verschoben. Die Personenanteile der unteren Einkommensgruppe nehmen um fünf Prozent, die der oberen um zehn Prozent zu. 43



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Abbildung7:7:Karte KarteStadtregionen Stadtregionen in Abbildung inDeutschland Deutschland2010 2010

Die Auswertungen zeigen für die ostdeutschen Stadtregionen eine extreme Verschiebung der In der zweiten Periode zwischen 2010 kommt in den Personenanteile in der ersten Periode 2000 2006 bis 2006und (Abbildung 8). Besonders starkostdeutist die Zunahme der Anteile von mit geringem Einkommen. Ihr AnteilDie nahmPersonenum gut 24 schen Stadtregionen dieHaushalten Polarisierungstendenz zum Erliegen. Prozentder zu. mittleren In den Regionen der großen Städte (Berlin, Leipzig, Dresden) stieg aber anteile Einkommensgruppe bleiben nahezu unverändert. Die gleichzeitig auch der Anteil von Personen in Haushalten mit hohem Einkommen. Anteile der unteren Einkommen nehmen leicht zu, die der oberen Die leicht ab. betrug hier vier Prozent. Die mittlere Einkommensgruppe verlor dagegen stark an InZunahme westdeutschen Stadtregionen bleiben die Polarisierungstendenzen auch Bedeutung (minus neun Prozent). Hinweise auf das Phänomen einer schrumpfenden zum Ausklang des Jahrzehnts weiter hoch. Die mittlere Einkommensgruppe Mittelklasse lassen sich auch für westdeutsche Stadtregionen finden. Allerdings sind zwischen verliert fünf Prozent ihrer Personenanteile. Die beiden Ränder wachsen da2000 und 2006 die Polarisierungstendenzen deutlich geringer ausgeprägt. Die mittlere gegen weiter kräftig. Am unteren Rand ist der Zuwachs diesmal sogar deutEinkommensgruppe verliert ›nur‹ gut vier Prozent. Gleichzeitig ist die Polarisierung in lich kräftiger. westdeutschen Stadtregionen eher nach oben verschoben. Die Personenanteile der unteren Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf dass Zuge derzu.DeindusEinkommensgruppe nehmen um fünf Prozent, die derhin, oberen umim zehn Prozent

triealisierung der Beschäftigung die Einkommenspolarisierung stark zugenommen hat. In den ostdeutschen Stadtregionen Berlin, Leipzig und Dresden hat, insbesondere in der Kombination von Deindustriealisierung und Schrumpfung, die Polarisierung stark zugenommen. Zwischen 2000 und 2006 stieg der Polarisierungsindex sprunghaft an (Abbildung 9). Mit Er-44 holungstendenzen in der Industrie und auch wieder gesamtwirtschaftlichem

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Martin Gornig, Jan Goebel

Abbildung 8: Veränderung der Personenanteile nach Einkommensgruppen in deutschen Abbildung 8: Veränderung der Personenanteile nach Einkommensgruppen in deutschen

Stadtregionen 2000 bis 2010 %:in %: Stadtregionen 2000 bis in 2010 25

2000  –  2006

2006  –  2010

20 15 10 5 0 -­‐5 -­‐10 Westdeutsche Stadtregionen

Ostdeutsche Stadtregionen

Niedrige  Einkommen  

Westdeutsche Stadtregionen

Mittlere  Einkommen  

Ostdeutsche Stadtregionen Hohe  Einkommen  

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Wachstum konnte bis 2010 keine signifikante Änderung im Polarisierungsindex festgestellt werden. In der zweitenInPeriode zwischen 2006 und 2010 kommt in den ostdeutschen Stadtregionen d den westdeutschen Stadtregionen fällt über die gesamte Periode die Polarisierungstendenz zum Erliegen. Personenanteile Einkommensgruppe Polarisierungstendenz nicht Die geringer aus als in der denmittleren Stadtregionen Ostdeutschlands. Die Entwicklung ist aber viel kontinuierlicher. Der Polarisiebleiben nahezu unverändert. Die Anteile der unteren Einkommen nehmen leicht zu, die der rungsindex nimmt im Westen sowohl zwischen und 2006 als auch oberen leicht ab. In westdeutschen Stadtregionen bleiben 2000 die Polarisierungstendenzen auch nochmals bis 2010 zu. Dies dürfte Ausdruck eines gleichförmigeren wirtzum Ausklang des Jahrzehnts weiter hoch. Die mittlere Einkommensgruppe verliert fünf schaftsstrukturellen Wandels hin zu den Dienstleistungen und einer damit Prozent ihrer Personenanteile. Die beiden Ränder wachsen dagegen verbundenen schleichenden Einkommenspolarisierung sein. weiter kräftig. Am unteren Rand ist der Zuwachs diesmal sogar deutlich kräftiger.

Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass im Zuge der Deindustriealisierung der 4. Fazit Beschäftigung die Einkommenspolarisierung stark zugenommen hat. In den ostdeutschen Stadtregionen Leipzig und Dresden hat, insbesondere Kombination Der Berlin, langfristige wirtschaftliche Strukturwandel hin in zuder mehr Dienstleis-von Deindustriealisierung starkIntensität zugenommen. Zwischen tungen ist – und wennSchrumpfung, auch teilweisedie mitPolarisierung unterschiedlicher – in den westund ostdeutschen Großstadtregionen zu beobachten. Allerdings weist 2000 und 2006 stieg der Polarisierungsindex sprunghaft an (Abbildung 9). Mit Deutschland in den Jahren seit 2007 im internationalen Vergleich eine beErholungstendenzen in der Industrie und auch wieder gesamtwirtschaftlichem Wachstum sonders erfolgreiche Spezialisierung auf forschungsintensive Industrien auf. konnte bis 2010 keine signifikante Änderung im Polarisierungsindex festgestellt werden.

In den westdeutschen Stadtregionen fällt über die gesamte Periode die Polarisierungstendenz nicht geringer aus als in den Stadtregionen Ostdeutschlands. Die Entwicklung ist aber viel

wirtschaftsstrukturellen Wandels hin zu den Dienstleistungen und einer damit verbundenen schleichenden Einkommenspolarisierung sein.

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Abbildung9: 9:Entwicklung Entwicklungdes desPolarisierungsindexes Polarisierungsindexes nach Abbildung nachReynal-Querol Reynal-Querolin indeutschen deutschen Stadtregionen 1995 bis 2010: Stadtregionen 1995 bis 2010:

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen.

Und solche forschungsintensiven Branchen wie Pharmazie, Medizintechnik, aber auch die Elektrotechnik oder der Fahrzeugbau zeigen eine eher hohe Affinität zu großstädtischen Standorten mit ihren ausgebauten Verkehrs-, Ü2/4. Fazit Bildungs- und Forschungsinfrastrukturen. Mit der Tertiärisierung der Wirtschaftsstrukturen ist auch eine zunehDer langfristige wirtschaftliche Strukturwandel in Richtung auf mehr Dienstleistungen ist – mende Polarisierung der Haushaltseinkommen in den Großstadtregionen zu wenn auch teilweise mit unterschiedlicher Intensität – in den west- und ostdeutschen verzeichnen. Insbesondere in der Periode zwischen 2000 und 2006 nimmt Großstadtregionen zu beobachten. Allerdings weist Deutschland in den Jahren seit 2007 im die Einkommenspolarisierung rasant zu. Dies dürfte viele Ursachen haben, internationalen Vergleich eine besonders erfolgreiche Spezialisierung auf forschungsintensive die teilweise auch direkt im politischen Bereich liegen, wie beim Abbau der Industrien auf. Und solche forschungsintensiven Branchen wie Pharmazie, Medizintechnik, Arbeitsmarktregulierung. Aber auch die ausgeprägte Deindustrialisierung aber auch die Elektrotechnik oder der Fahrzeugbau zeigen eine eher hohe Affinität zu dürfte unmittelbar zur Schwächung der mittleren Einkommensgruppen, zu großstädtischen Standorten mit ihren ausgebauten Verkehrs-, Bildungs- und denen vielfach auch Facharbeiter zählen, geführt haben. In diese Richtung Forschungsinfrastrukturen. weist auch, dass mit der Wiedererstarkung der Industrie – insbesondere auch in ostdeutschen Großstädten – sich die Polarisierungstendenzen zumindest Mit dem Tertiärisierung der Wirtschaftsstrukturen ist auch eine zunehmende Polarisierung der reduziert haben. Haushaltseinkommen in den Großstadtregionen zu verzeichnen. Insbesondere in der Periode

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Martin Gornig, Jan Goebel

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Innere Suburbanisierung? Mittelschichteltern in den neuen innerstädtischen Familienenklaven Susanne Frank

Die rasante Entstehung und Verbreitung neuer Familienenklaven ist ein markantes Phänomen der aktuellen Stadtentwicklung. Als »neue Familienenklaven« bezeichne ich neu errichtete Siedlungen, die sich in Anlage und Gestaltung deutlich von ihrer gewachsenen Umgebung abgrenzen und speziell auf die Interessen und Bedürfnisse von Mittelschichtfamilien ausgerichtet sind. Die neue Begeisterung von Mittelschichtfamilien für das Stadtleben ist einer der markantesten Züge des Trends zur Reurbanisierung, der eine tiefgreifende Wende in der westlichen Stadtentwicklung markiert. Dass sich junge Menschen – so sie denn die Mittel dazu haben – ein Häuschen im Grünen suchen, sobald sich Nachwuchs einstellt, galt jahrzehntelang als selbstverständlich. Nun aber entscheiden sich immer mehr Eltern, die sich ein vorstädtisches Eigenheim sicherlich leisten könnten, gezielt und bewusst für den Weg in die Stadt, oder, was weit häufiger der Fall ist, für den Verbleib in der Stadt. Die neue Stadtlust der Mittelschichtfamilien und das Bestreben der Städte, citynahe Lagen den spezifischen Ansprüchen dieser heiß umworbenen Zielgruppe entsprechend (umzu)gestalten, verändern das Gesicht und das soziale Gefüge vieler innerer Städte erheblich. Politiker, Planerinnen und Developer1 sind fieberhaft bemüht, die Einfamilienhausnachfrage innerhalb der Stadt zu befriedigen. In diesem Zusammenhang wird ihnen nahegelegt, »innenstadtnahen Wohnungsneubau in Form von Wohnungen und Wohnformen [zu realisieren], die bisher primär im Stadtrandbereich oder suburbanen Raum zu finden waren« (Sandfuchs 2008: 83). Die Schaffung familiengerechter Wohnungen allein reiche aber nicht aus: Darüber hinaus gelte es, so die Handlungsempfehlungen einer empirica-Studie, das gesam 1 Aus Gründen der Lesefreundlichkeit werden im Folgenden – sofern beide Geschlechter gemeint sind – die männliche und die weibliche Form abwechselnd gebraucht.

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te Wohnumfeld auf die Bedürfnisse von Mittelschichteltern und Kindern auszurichten und deshalb ganze Familienquartiere zu entwickeln, um »den Familien alle Vorteile des Lebens im Einfamilienhausgebiet in der Peripherie zu geben und ihnen zusätzlich die Vorteile der urbanen Lage schmackhaft zu machen« (Porsch 2004). Stadtpolitik, -planung und Immobilienentwicklerinnen haben sich diese Ratschläge sehr zu Herzen genommen. Vor allem auf zentrumsnahen Brachen schießen neue Familiensiedlungen wie Pilze aus dem Boden, die sich reger Nachfrage erfreuen. Letztere sind, was Größe, Baustile, Ausstattung, Kaufpreise und also die jeweiligen sozialen Adressaten angeht, recht unterschiedlich geartet. Das Spektrum reicht von relativ einfach bis nobel und typologisch von noch eher seltenen gated communities wie z. B. den Puccini-Hofgärten in Berlin-Weißensee oder dem Aachener Barbarossapark über halboffene Townhouse-Siedlungen wie den Prenzlauer Gärten oder den Marthashof in Berlin-Prenzlauer Berg bis hin zu offenen, aber klar umgrenzten Baugruppenprojekten; dazu gehören etwa Berlin-Rummelsburger Bucht oder Freiburg-Vauban.2 In diesem Aufsatz sollen jedoch nicht die zahlreichen Unterschiede zwischen den Familienquartieren thematisiert werden. Vielmehr möchte ich jene Gemeinsamkeiten in den Blick nehmen, die ins Auge fallen, wenn man versucht zu verstehen, auf welche spezifischen Interessen und Bedürfnisse von Mittelschichteltern diese Siedlungen reagieren. Dies scheint mir erforderlich zu sein, wenn es in einem zweiten Schritt dann um die Frage der Bedeutung dieser Siedlungen für die soziale und räumliche Entwicklung der Städte gehen soll. Meine Überlegungen basieren auf einer bereits über zwei Jahre andauernden theoretischen und empirischen Beschäftigung mit dem »neuen« Familienwohnen in verschiedenen deutschen Städten. Im Rahmen dieses explorativen Projekts habe ich durch Ortserkundungen, Beobachtungen, Dokumentenanalysen, Bildinterpretationen, standardisierte Befragungen, 2 Zu einem Gesamtbild des »neuen Familienwohnens in der Stadt« gehörten auch die Entwicklungen im Bestand: Hier richtet sich das Interesse der urban orientierten Mittelschichten vor allem auf attraktive Altbau-, meist Gründerzeitviertel mit ihren besonderen sozialen und baulichen Qualitäten. Der Prenzlauer Berg ist ein Paradebeispiel für Familienquartiere, die maßgeblich dadurch entstanden sind, dass vor allem JungakademikerInnen kollektiv die Familiengründungsphase erreichen und in ihren Wohnvierteln verbleiben – aus Yuppies werden Yupps (young urban professional parents, Karsten 2003), aus Dinks werden Diwiks (double income with kids, Frank 2012).



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formelle Gespräche und vor allem auch informelle Unterhaltungen eine Vielzahl von Informationen gesammelt, die aber noch der weiteren Ergänzung und Systematisierung bedürfen. Insofern bitte ich meine Thesen als vorläufige Diskussionsangebote zu verstehen. Warum zieht es junge Eltern in die neuen Familiensiedlungen? Wie verschiedene Studien und auch meine eigenen Beobachtungen zeigen, speist sich das riesige Interesse der jungen Stadteltern an den innenstadtnahen Familienquartieren aus unterschiedlichen Quellen. Sehr pragmatische Erwägungen verbinden sich mit ökonomischen, sozialen, sozialpsychologischen und kulturellen Motiven zu einer komplexen und durchaus widersprüchlichen Gemengelage. Zunächst einmal gehören kurze Wege sowie differenzierte Infrastrukturund Versorgungsangebote zu den viel gerühmten Vorzügen des innerstädtischen Wohnens, auf die nicht nur, aber besonders diejenigen angewiesen sind, die in den flexiblen, entgrenzten Arbeitswelten der neuen Kreativ-, Wissens- oder Dienstleistungsökonomien tätig sind. Dies gilt in besonderem Maße für Eltern, die vor der Herkulesaufgabe stehen, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Zudem gibt es gerade in städtischen Familienhaushalten oft keine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, sondern beide Partnerinnen sind berufstätig. Die alltäglichen Pflichten, Interessen und Wege von zwei, drei, vier oder noch mehr Personen unter einen Hut zu bringen, gelingt nur an spezifisch leistungsfähigen Orten, die eine Vielfalt von Möglichkeiten in guter Erreichbarkeit bieten. Klaus Brake spricht von Innenstädten deshalb als »komplexen ›Optionsräumen‹« (Brake 2012: 24). Darüber hinaus gehören funktionierende soziale Netzwerke in räumlicher Nähe zu den Ressourcen, auf die berufstätige Eltern bei der Alltagsbewältigung existenziell angewiesen sind. Dabei geht es vor allem um (spontane) gegenseitige Unterstützung bei der Kinderbetreuung, aber auch um sonstige Hilfestellungen. Nachbarschaftsbeziehungen spielen hier eine zentrale Rolle. Mittelschichteltern ist es sehr wichtig, unter »ihresgleichen« zu wohnen – auch deshalb, weil sie wissen, dass unkomplizierte, verlässliche und deshalb alltagstaugliche Netzwerke auf der Basis sozialer und kultureller Homogenität gedeihen. Auch daher rührt der Wunsch nach Nachbarn, die derselben sozialen Schicht und Altersgruppe angehören und sich zudem in derselben Familienphase befinden. In Neubaugebieten, die zeitgleich bezogen werden, lässt sich dieses Anliegen sehr gut und ungleich viel besser realisieren als in Bestandsquartieren.

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Dass Sozialstruktur zum entscheidenden Kriterium der Wohnstandortwahl avanciert (Frank 2012), hat auch eine weitere, härtere Seite. In den sozial zunehmend polarisierten Großstädten sorgen sich Mittelschichteltern in erheblichem Maße um die Sozialisation ihrer Kinder sowie vor allem um die Qualität der frühkindlichen, schulischen und sonstigen Bildung. Multikulturelle Stadtteile bzw. solche mit einer hohen Zahl von sozial schwachen bzw. bildungsfernen Familien werden diesbezüglich als sehr ungünstig betrachtet. Erst kürzlich hat mir die Mitarbeiterin eines Investors, der eine Townhousesiedlung am alten Schlachthof in Berlin Friedrichshain entwickelt hat, berichtet, dass die größte und beinahe einzige Sorge der zukünftigen Bewohner (übrigens ausschließlich Ärzte und Rechtsanwälte) der sozialen Situation an den lokalen Schulen galt. »Education« und »Location« hängen auf das engste zusammen (Butler/Robson 2003: 146ff). Soziokulturelle Homogenität im Quartier kann zudem das Gefühl von Sicherheit und sozialer Kontrolle vermitteln. In dieser Hinsicht wie auch in seinen anderen Facetten ist der Komplex Sicherheit eine wesentliche Triebkraft der Entstehung von Familienenklaven. Als Wertanlage hat die City-Immobilie dem suburbanen Häuschen längst den Rang abgelaufen; sie bietet also Investitionssicherheit. Bei Bewohnern von gated communities mag die Sorge um die physische Sicherheit ausgeprägt sein; dieser Aspekt ist in den offenen und halboffenen Familiensiedlungen kaum bedeutend. Übergreifend und groß dagegen ist das Bedürfnis, den Kindern ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich möglichst frei bewegen können, zugleich aber relativ geschützt sind vor stadttypischen Gefahren oder Verunsicherungen, wie sie von Straßenverkehr, Kriminalität oder Begegnungen mit unliebsamen Personen(-gruppen) ausgehen (können). Hierzu trägt neben der sozialen Zusammensetzung auch die baulich-räumliche Abgeschlossenheit der Familienenklaven wesentlich bei. Es handelt sich fast immer um aus einer Hand gestaltete, deutlich abgegrenzte Ensembles, die die Distanz zu ihrer städtischen Umgebung materiell und symbolisch hervorheben (vgl. Rieniets 2011). Ein großer Teil der Siedlungen ist zudem von Mauern, Zäunen oder hohen Hecken umgeben. Wenn Autos überhaupt zugelassen werden, sind die Gebiete im Inneren verkehrsberuhigt; anderen als Anwohnerverkehr gibt es ohnehin kaum. So ist denn Privatheit ein weiterer wichtiger Schlüsselbegriff zum Verständnis der neuen Wohnprojekte, der auch in den Werbe- und Imagebroschüren immer besonders herausgestrichen wird. »Townhouses: Urbane Privatsache« lautet etwa der Slogan der Prenzlauer Gärten. Neben dem Privatbesitz an Grund und Boden, privaten Eingängen, Gärten und Stellplätzen



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bedeutet »privat« bisweilen auch, dass die Nutzung von Grün- und Gemeinschaftsflächen, Parks, Spielplätzen und Wegen, die das nachbarschaftliche Miteinander fördern sollen, den Bewohnern der Anlage vorbehalten bleibt. Nicht zuletzt unterstreicht das Wohneigentum in einem der neuen Familienquartiere mit ihrer herausgehobenen, oft hochwertigen Architektur die soziale Stellung der Bewohnerinnen. Die großzügige Stadtwohnung hat die Villa im Grünen auch als Statussymbol abgelöst. Sie befriedigt das Bedürfnis nach sozialer Distinktion. Internationale Studien zum Mittelschichtwohnen zeigen zudem, dass Wohnung und Wohnort immer stärker als Ausdruck und Ausweis der eigenen Identität wahrgenommen werden: »One’s residence is a crucial, possibly the crucial identifyer who you are. « (Savage u. a. 2005: 207) Wohnung und Wohnquartier werden damit zu bedeutenden »Lebensstilisierungselementen« (Rorato 2011).

Dörfer in der Stadt Die Erkenntnis, dass Urbanität mit ihren Gegensätzen, Spannungen und Ambivalenzen von vielen der neuen Städter vor allem als »Hintergrundmusik« nachgefragt wird (Rauterberg 2005), machen sich vor allem diejenigen zunutze, die Quartiere oder Wohnanlagen für die heiß umworbenen Nutzergruppen neu entwickeln. Das Ergebnis ist die rasante Vermehrung von »Urban Villages«: von abgegrenzten, introvertierten Familiensiedlungen, die ein behütetes, dörfliches Wohn- und Lebensgefühl inmitten der Stadt versprechen. Dabei ist letztere als Bezugspunkt, Kontrast und Komplement immer präsent. In den Werbeprospekten und auch in Berichten ihrer Bewohner werden die Familienquartiere als Oasen der Ruhe, Sicherheit, Ordnung und Vertrautheit beworben – umbrandet, umtost vom urbanen Treiben. »Sind wir hier noch in der Stadt? Und ob!« warben die Eldenaer Höfe. Diese Beschwörung der räumlichen Nähe zur Stadt bei gleichzeitiger Betonung der sozialen und psychischen Distanz zu ihr verbindet sämtliche Projekte. »Kann man gleichzeitig in der Stadt und auf dem Land leben?« fragt der Investor Stofanel rhetorisch. Der Berliner »Marthashof« ist die Antwort: »Das urbane Dorf ist ein Ort mit grünen Flächen und Natur – eine Idylle, wo Menschen sich beschützt und geborgen fühlen können.«3: »Aus dem ruhelosen Treiben 3 So Stofanel-Inhaber Ludwig Stoffel in der Berliner Zeitung (zit. n. Schröder 2008).

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der umliegenden Metropole kehren Sie in die erholsame Geborgenheit ihres friedlichen Hauses im Marthashof zurück.« (Website Stofanel) Ganz ähnlich wirbt der Developer des Gilde Carrées in Hannover: Hier wird »eine besondere Wohnform entwickelt, die sich nach den Notwendigkeiten und Bedürfnisse von heutigen Stadtbewohnern richten. Zum einen also die vielfältigen urbanen Qualitäten der Innenstadt zu nutzen, zum anderen privates Wohneigentum in Form eines Hauses zu erwerben und nicht auf den Genuss von Ruhe, Garten und Hof verzichten zu müssen.« (Website Gilde Carrée, Grammatikfehler im Original).4

Innere Suburbanisierung Diese Rhetorik der Vereinigung der besten Eigenschaften von Stadt- und Landleben unter Vermeidung der jeweiligen Nachteile ist aus der Suburbanisierungsgeschichte bestens bekannt (Frank 2003: 275 ff.). Im Konzert mit den anderen genannten Charakteristika – Einfamilienhäuser (meist) mit (Handtuch-)Garten, ganz überwiegend im Eigentum, Familienbezogenheit, sozioökonomische und -kulturelle Homogenität, Betonung von Privatheit und Gemeinschaft, Abgrenzung von der Stadt sowie Absicherung gegen die Gefahren und Unwägbarkeiten des Stadtlebens (Fremdheit, Kontingenz) – ist auch und gerade sie in meinen Augen ein Indiz dafür, dass mit den neuen Familiensiedlungen Wohnwünsche und -bedürfnisse in die Innenstädte verlagert werden, die bislang suburban verortet und erfüllt wurden. Wie im Bereich Schule und Bildung besonders deutlich wird, trägt die Enklavenbildung zudem gezielt dazu bei, sich gegen Statusgefährdungen und -verunsicherungen zu schützen, die von sozial schwächeren oder marginalisierten Gruppen ausgehen könnten. Deshalb bin ich der Auffassung, dass die heutigen Familieninseln als funktionale Äquivalente der fordistischen Vorstadtsiedlungen gelten können. Ich schlage daher vor, die Verbreitung der Familienenklaven in den Städten als eine neue, modernisierte 4 Viele andere Developer werben sehr ähnlich; dazu gehört selbst der Entwickler des Car Lofts in Berlin Kreuzberg. Im Werbe- bzw. Imagevideo mit dem Titel »The coolest garage in Berlin« heißt es (in Versform): »Live in the middle / of the city but with the feeling / of your own house in the country. / With a garden and a garage / right on your floor.« (http:// www.youtube.com/watch?v=ENCcAO3jAwA, letzter Zugriff am 19.11.2012)



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Form von Suburbanisierung zu betrachten – angepasst an die gewandelten Geschlechterbeziehungen und die neuen Arbeitsverhältnissen der flexiblen Ökonomie (Frank 2012).

Family Gentrification Die Verbreitung der Familiensiedlungen ist ein wesentliches Element der international zu beobachteten Umgestaltung der inneren Städte für die Bedürfnisse und Ansprüche der neuen Mittelschichten. Aus diesem Grunde haben die Familienenklaven auch in den Gentrifizierungsdebatten ihren festen Platz. Anders als in den USA, wo Peter Marcuse (1986) den Begriff schon Mitte der 1980er in die US-amerikanische Debatte eingeführt hat, um damit »die abschließende Phase der Auf- und Umwertung eines Wohnviertels« zu kennzeichnen, in der Personen zuziehen, »die älter als 30 Jahre sind und kleine Kinder haben« (Alisch 1993: 126), wurden Familien diesseits des Atlantik lange zu den von den zahlungskräftigen Yuppies und Dinks aus den Innenstädten verdrängten Gruppen gezählt. Nun aber tauchen sie auch in europäischen Städten vermehrt auf der Seite der Gentrifier-Haushalte auf (Karsten 2003, Frank 2012). Ich halte es für sehr sinnvoll und notwendig, begrifflich zwischen Reurbanisierung und Gentrifizierung zu unterscheiden, wie dies etwa Haase u. a. (2009) einfordern, und natürlich stellen sich die Entwicklungen in unterschiedlichen Städten sehr unterschiedlich dar. Vielerorts aber ist die Verbreitung der ausdrücklich die Mittelschichten adressierenden Familiensiedlungen unverkennbar Teil eines »class remake of the central urban landscape«, um hier den treffenden Ausdruck von Neil Smith (1996: 39) zu benutzen. Tim Rieniets meint in den abgeschirmten Berliner Townhouse-­ Siedlungen gar eine »qualitativ neue Dimension« des Gentrifizierungsgeschehens zu erkennen: »Vollzog sich dieser Prozess bisher dispers, d. h. verteilt über zahlreiche sanierte Wohnungen, Ladenlokale, Baulücken und Aufstockungen, verhalten sich die Urban Villages wie Kolonien der Gentrifizierung.« (2011: 98)

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Zwei Konzepte zur Deutung der Verbreitung der Familiensiedlungen »Family gentrification« und »innere Suburbanisierung« sind zwei Versuche, die rasante Vermehrung von Mittelschicht- bzw. Familienenklaven deutend auf den Begriff zu bringen. Die Einordnung in den Prozess der Gentrifizierung unterstreicht dabei vor allem den Klassencharakter der Entwicklung, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen wird die fortschreitende Inbesitznahme der inneren Städte durch die »kreative Klasse«, die »neue Dienstleistungsklasse« oder einfach die »neue Mittelklasse« als räumliche Dimension und damit wesentlicher Bestandteil jenes anhaltenden Prozesses betrachtet, in dem sich die in der kultur- und wissensbasierten Dienstleistungsökonomie führende, um nicht zu sagen »herrschende« Klasse als solche erst formiert.5 Zum anderen betont der Begriff auch die mit der (Wieder-) Aneignung der inneren Städte durch die Mittelschichten in der Regel einhergehende Verdrängung von statusniedrigeren Gruppen aus den Cities, darunter maßgeblich auch Familien. Der Begriff der »inneren Suburbanisierung« dagegen hebt vor allem auf die Verbreitung einer mit bestimmten, nämlich den zuvor genannten Attributen und Werthaltungen verbundenen Wohn- und Lebensweise ab, die bisher fest in den Vorstädten verankert war, sich nun aber von diesen loslöst und ausgerechnet an jenen Ort wandert, der bislang immer als das ganz andere der Suburbanisierung galt. Die neuen Mittelschichten (und darunter besonders auch die Familien) sind unzweifelhaft die treibende Kraft dieses Prozesses. Im Unterschied zur Gentrifizierung kann man die Suburbanisierung aber auch unabhängig von einer bestimmten sozialen Klasse als Trägergruppe denken. Auch das ›alte‹, ›traditionelle‹ fordistische Suburbia, das unser Vorstellungsbild vom suburbanen Leben so tiefgreifend und nachdrücklich prägt, war zwar weit überwiegend, aber keineswegs ausschließlich ein Mittelschichtenphänomen. Beide Konzepte zur Beschreibung und Deutung der Entwicklung und Verbreitung der neuen Familiensiedlungen in den inneren Städten, Family Gentrification und innere Suburbanisierung, akzentuieren also unterschied 5 Vor allem in der angelsächsischen Diskussion wird Gentrifizierung als räumlicher Bestandteil eines Prozesses der Klassenbildung analysiert. Butler und Hamnett konstatieren schon früh: »Gentrification is seen as an aspect of recent middle-class formation in Britain.« (1994: 483)



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liche Gesichtspunkte, schließen einander aber keinesfalls aus. Tatsächlich fallen beide in vielen Fällen zusammen. Ein großer Teil der Projekte in Berlin, auf die ich mich hier empirisch vor allem beziehe, gehört sicher dazu.

Urban Villages: Ausdruck von Entsolidarisierungsprozessen? Aus diesen Überlegungen ergibt sich nun die Frage der Konsequenzen für die soziale und räumliche Entwicklung der inneren Städte. Sind die Familienenklaven als Angriff auf Idee und Ideal der »inneren Stadt für alle« 6 zu bewerten? Wenn wir einen Moment (und vermutlich kontrafaktisch) davon ausgehen, dass es eine solche »innere Stadt für alle« bisher tatsächlich gegeben hat, spricht vieles dafür, darunter natürlich insbesondere die Verdrängung bisheriger Bewohnergruppen und das soziale Abgrenzungs- und Schließungsbestreben, das die Gestaltung der neuen Familienquartiere ebenso wie die Handlungsweisen ihrer Bewohnerinnen materiell und symbolisch zum Ausdruck bringen. So signalisiert die Bauweise selbst offener oder halboffener Anlagen noch deutlich genug, dass die Wohnsiedlung, der dazugehörige Spielplatz oder die Grünanlage nur den Anwohnern vorbehalten sein sollen. Wer aber, so wiederum Rieniets, eigene Einrichtungen benutzen kann und will, dem wird leicht unterstellt, keinen Bedarf an der Nutzung und Finanzierung öffentlicher Infrastrukturen zu haben. Dies werde als Zeichen für »die Bereitschaft« verstanden, »gegen das Solidaritätsprinzip städtischen Zusammenlebens zu verstoßen« (2011: 97): Es ist »die Geste […], die den Unmut […] schürt.« Diese habe wiederum Auswirkungen auf die Bedeutung des öffentlichen Raums der Stadt: »Denn sobald ihm eine potentielle Nutzergruppe abhandenkommt, ist er auch nicht mehr Raum gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung.« (Ebd.) Das Abgrenzungsbestreben der Mittelschichten zeigt sich sehr deutlich auch in den vielerorts anzutreffenden »Schulkämpfen«. Die um die Bildungszukunft ihrer Kinder sehr besorgten Stadteltern mobilisieren ihr ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, um zu verhindern, dass ihre Kinder 6 So der Titel einer Sektionsveranstaltung im Rahmen des Soziologiekongresses 2012, in der ich einige dieser Thesen zur Diskussion gestellt habe.

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Schulen oder Klassen mit (zu) vielen Kindern aus bildungsfernen Familien besuchen. »The battleground is for education as much as for housing«: Was Chris Hamnett in Bezug auf die Gentrifizierungsprozesse in London konstatiert (2003: 2422), trifft auch hierzulande in zahlreichen Städten zu.7 Diese und andere Gründe haben viele Beobachterinnen veranlasst, die abgeschlossenen oder abgeschirmten Wohninseln der neuen Mittelschichten als Ausdruck und Katalysator der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung zu betrachten: Solchermaßen entmischte Quartiere stünden für eine »Fragmentierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft, in der soziale Verantwortung und Gerechtigkeit sowie Toleranz für den anderen keinen Platz mehr haben« (Tilman Harlander, zit. n. Kortmann 2011). Sie werden als Ausdruck einer umfassenden Bewegung, mit der sich die »Eliten« vom Rest der Gesellschaft »abkoppeln«, und damit als »Symptome« einer entstehenden »Zweiklassengesellschaft« gedeutet (Neubacher/Schmidt 2008). Auch Rowland Atkinson (2006) hat die Enklavenbildung als Ausdruck einer fortschreitenden »middle-class disaffiliation« interpretiert.

Privilegiert, aber vulnerabel Es gibt nicht viel, was man gegen diese Sichtweise setzen kann. Aber vielleicht doch etwas. Und hier möchte ich zunächst auf einen (zumindest die Soziologin) irritierenden Befund verweisen, der sich durch sämtliche Studien zieht: Nämlich die prinzipiell urbanophile Grundhaltung, die die jungen Stadteltern in den neuen Familiensiedlungen durchgehend an den Tag legen. Die Lust auf Stadt, die Lust an der Stadt teilen und betonen alle. Sie schwärmen vom quirligen städtischen Leben, von der internationalen Zusammensetzung der Bevölkerung, von der Buntheit der Lebensstile und von der Mannigfaltigkeit des kulturellen Angebots. Nun kann man natürlich davon ausgehen, dass die unisono zur Schau gestellte Begeisterung für das Stadtleben vollkommen geheuchelt ist. Wer das aber für zu einfach hält, muss sich fragen, wie die Diskrepanz zwischen dem Bekenntnis zu städtischer Diversität und Differenz und den sozialen

7 Bekannte Beispiele sind die gescheiterte Hamburger Schulreform oder die Anstrengungen, in Berlin-Kreuzberg eine evangelische Schule zu gründen.



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wie räumlichen Abgrenzungs- und Schließungstendenzen, die gerade auch die jungen Stadteltern an den Tag legen, erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang sind neuere Studien von Bedeutung, die sich mit den Widersprüchen und Ambivalenzen beschäftigen, die die Situation der häufig in den neuen Wissens-, Kreativ- und Dienstleistungsbranchen tätigen Mittelschichten(-Eltern) kennzeichnen. Diese zeigen übereinstimmend, wie häufig die Gewinner von Globalisierung und ökonomischer Transformation ihre soziale Situation selber als instabil und ungewiss erleben: Sie sehen sich als »relativ privilegiert, aber auch relativ vulnerabel« (Heinz Bude zit. n. Feddersen/Unfried 2011). Das Ende der Aufstiegsgesellschaft der Nachkriegszeit ist offensichtlich, und die weltweite Wirtschaftsund Finanzkrise hat vielen die Krisenanfälligkeit ihrer Arbeitsplätze überdeutlich vor Augen geführt. Allgemein wird die Mitte der Gesellschaft von wachsender Verunsicherung ergriffen (Mau 2012, Bude 2011, Groh-Samberg/Hertel 2010, Wirtschaftsdienst 2011, Q | Agentur für Forschung 2010, Vogel 2010, Burzan 2008). Statusängste sind weit verbreitet; Häußermann hat gar von »Statuspanik« gesprochen (Häußermann 2009: 149). Richard Sennett hat deutlich herausgearbeitet, welch tiefgreifende soziale und psychologische Folgen es hat, wenn den Menschen im flexiblen Kapitalismus die Erfahrungen der Langfristigkeit, Verlässlichkeit und damit von stabilen Lebensphasen abhandenkommen. Trotz ihres relativen Wohlstands leiden viele Menschen permanent »unter der Angst, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Diese Angst ist sozusagen in ihre Arbeitsgeschichte eingebaut« (2000: 21). Wie Steffen Mau (2012: 97) beobachtet, haben sich »Wohlstandssorgen« und »Ängste vor Sicherheitsverlusten« in den letzten Jahren »geradezu epidemisch verbreitet«.8 8 Wenn ich meine Thesen zur Diskussion stelle, wird häufiger eingewendet, dass die Haushalte, die sich den Erwerb von Wohneigentum in einer der neuen innerstädtischen Familiensiedlungen leisten können, doch wohl recht gut verdienen und vermutlich kaum von ökonomischer Unsicherheit bedroht sein können. Während das Erste natürlich zutrifft, kann ich das Zweite so keineswegs durchgehend bestätigen: Ängste vor Arbeitsplatz- und Statusverlust sind weit verbreitet. (Ich gestehe aber gerne noch einmal zu, dass meine Empirie unvollständig ist bzw. der Ausweitung und Systematisierung bedarf.) Zur knappen Illustration greife ich hier drei Familien heraus, die in drei unterschiedlichen Siedlungen leben. Familie eins: Er, Ingenieur, baut weltweit Anlagen für einen großen deutschen Automobilkonzern, sie ist Teilzeit arbeitende Projektmanagerin bei einem großen IT-Spezialisten. Zwei Kinder. Beide verdienen gut; sie kaufen ein Haus. Dann trifft die Wirtschaftskrise sie hart: Er wird auf Kurzarbeit gesetzt, sie verliert ihren Job. Für einen Moment haben sie das

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Im beruflichen Alltag setzen darüber hinaus der immer härter werdende Konkurrenzdruck, extreme Leistungsanforderungen sowie der Anspruch, zeitlich permanent verfügbar und sozial wie räumlich jederzeit mobil zu sein, viele Menschen erheblich unter Stress: »Der Wohlstand der Mitte verdankt sich permanenter Anstrengung und Anspannung.« (Vogel 2011: 507)9 Eltern sehen sich in besonderem Maße mit dem Problem bzw. der Frage konfrontiert, wie sie ihren Kindern angesichts der permanenten Unsicherheit in der Arbeitswelt die erforderliche Verlässlichkeit, Sicherheit und Stabilität in den sozialen und räumlichen Bezügen gewährleisten sollen. Werte wie »enge Bindungen« und »langfristiger Zusammenhalt«, die auch von nicht-traditionellen Familien hoch geschätzt werden, »passen zunehmend weniger in Wirtschaft und Gesellschaft, die von Kurzfristigkeit und Flexibilität geprägt sind« (Henry-Huthmacher 2008: 3). Sennett beschreibt, wie häufige (meist beruflich bedingte) Ortswechsel Nachbarschaften immer neu und für eine kurze Weile zusammenwürfeln. »Diese sind nicht ohne Geselligkeit oder gutnachbarliches Verhalten, aber niemand in ihnen wird auf längere Zeit zum Zeugen des Lebens seiner Nachbarn.« (2000: 23) Im Besonderen sorgen sich Eltern um die Zukunft ihrer Kinder. Dabei geht es den wenigsten noch um sozialen Aufstieg, wie dies in den vorherigen Generationen noch eine fast selbstverständliche Erwartungshaltung war. Für viele ist das Halten der errungenen Statusposition bereits Aufgabe und Herausforderung genug (vgl. Q |Agentur für Forschung 2010: 7).

Gefühl, »vor dem Nichts zu stehen«. Er arbeitet inzwischen wieder normal, sie hat einen neuen Job weit unter ihrer Qualifikation angenommen. Sie sagt: »Der Schock von 2008 sitzt uns tief in den Knochen.« Familie zwei: Er ist hoch dotierter Projektmanager und Consultant in der Werbebranche, sie Journalistin bei einer größeren Zeitung. Zwei Kinder. Sie bauen ein Haus. Zwei Jahre nach Bezug muss er seinen Job aufgeben: Burn-out. Seither kann er nur noch kleinere Brötchen backen. Ihre Zeitung befindet sich in einer Dauerkrise, so dass sie permanent um ihren Job fürchtet, an dem das Familieneinkommen nun hauptsächlich hängt. Familie drei: Er ist ein bekannter Top-Manager in der Internetbranche, sie ist Hausfrau. Drei Kinder. Sie sind vermögend und kaufen ein Haus in einer abgeschirmten Siedlung, weil er um die Sicherheit seiner Familie besorgt ist. Die Branche ist schnelllebig: In den fünf Jahren, die die Familie dort wohnt, hat er bereits viermal das Unternehmen gewechselt (bzw. wechseln müssen). Er selber hat das Gefühl, »hoch zu fliegen, aber auch jederzeit tief fallen zu können«. 9 Eine aktuelle repräsentative Studie zeigt, dass 78 Prozent der Deutschen den Entwicklungen in der Arbeitswelt sorgenvoll und ablehnend gegenüberstehen. Beklagt werden zunehmendes Einzelkämpfertum und soziale Kälte (Körber-Stiftung/nextpractice 2012).



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Abb. 1: Karikatur von Thomas Plaßmann. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Quelle: RaumPlanung 163, S. 30

Dass dies nur über qualifizierte Bildung und Ausbildung funktionieren kann, ist im Mittelschichtenbewusstsein zutiefst verankert: »Insbesondere Angehörige der Mittelschichten müssen in Bildung investieren, um Abstiege zu vermeiden.« (Knötig 2010: 336) Der Stellenwert von Bildung wächst ständig. Dabei ist den Eltern klar, dass gute Bildung heute eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreiche Bedingung für eine erfolgreiche berufliche Zukunft ist. Sicher ist nur: »Ihr Fehlen [bedeutet] eine Garantie für Misserfolg.« (Q | Agentur für Forschung 2010: 11) Tim Butler und Garry Robson betrachten die kulturelle Reproduktion deshalb als »perhaps the defining characteristic of the middle class« (2003: 5).

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Familienenklaven als Coping-Strategien In Anlehnung an Butler und Robson (2003) möchte ich die Herausbildung der innerstädtischen Familienenklaven deshalb als eine räumliche CopingStrategie der in der globalen Ökonomie zwar erfolgreichen, aber mit ihr dennoch tendenziell überforderten und verunsicherten Mittelschichteltern interpretieren. Je stärker Unsicherheit und Anpassungsdruck in der Berufswelt, desto größer der Wunsch – gerade von Eltern, die ja zu großen Teilen selber in Klein- und Mittelstädten sowie in Suburbs aufgewachsen und sozialisiert worden sind – nach einem »sicheren Hafen«: nach einem sozial und kulturell nicht verunsichernden, überschaubaren und weitgehend kontrollierbaren persönlichen Wohnumfeld. Einen solchen Stabilitätsanker verheißen abgeschirmte Stadtteile mit soziokultureller Mittelklasse-Hegemonie, dem eigenen Haus und vergleichsweise beständige Nachbarschaften. Und in oder nahe solchen Quartieren, in denen Familien mit ähnlichen biographischem Mustern, Ressourcen, Werthaltungen und Zukunftshoffnungen dominieren, erwarten die Eltern auch die Schulen zu finden, in denen die eigenen Kinder mit Peers aus der eigenen Gruppe zusammentreffen, was wiederum als unerlässlich für den Erwerb nicht nur von formalen Bildungszertifikaten, sondern vor allem auch eines spezifischen »Habitus von Bildung« betrachtet wird, der erforderlich ist, um sich später am Karrieremarkt zu behaupten (vgl. Bude 2011: 22). Die Herausbildung von Urban Villages in den inneren Städten kann also als eine kollektive räumliche Bewältigungsstrategie von Familienhaushalten beschrieben werden, die Anforderungen und Zumutungen der flexiblen Ökonomie zu kompensieren und ihren Kindern den Weg in eine möglichst sichere Zukunft zu bahnen. Deutlich wird, dass sozialräumliche Selbsteinschließung bzw. Abschottung und Abgrenzung als wesentlicher Teil der Reproduktionsstrategie der Mittelklasse verstanden werden müssen (Butler/ Robson 2003: 164 ff., Helbrecht 2009: 14).

NIMBY, aber keine grundsätzliche Entsolidarisierung Dies alles bedeutet nun aber keineswegs, dass den Mittelschichteltern die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwachen Familien bzw. die soziale Selektivität des Bildungssystems völlig egal wären; ebenso wenig igno-



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rieren sie die wachsende soziale Spaltung und die sonstigen Probleme der Großstadt. Im Gegenteil – als in der Regel politisch gut Informierte und Interessierte nehmen sie diese sehr wohl wahr, und sie erfüllen sie mit beträchtlicher Sorge. In einer zunehmend unsicherer, härter und immer noch leistungsorientierter werdenden Gesellschaft halten sie es aber dennoch nicht für ratsam oder verantwortungsvoll, ihr eigenes Leben bzw. die (Bildungs-)Zukunft ihrer Kinder als »Einsätze für die Aushandlung eines neuen gesellschaftlichen Kompromisses« bereitzustellen (Bude 2011: 18), auch wenn sie einen solchen im Grunde für dringend erforderlich halten. Den Satz: »Ich kann meine multikulturellen Ideale doch nicht auf dem Rücken meines Kindes ausleben«, habe ich häufig gehört, wenn es darum ging, dass Eltern selber eigentlich gerne in sozial und ethnisch gemischten Quartieren wohnen (würden), ihre Kinder wegen der starken Präsenz von Kindern aus bildungsfernen Familien aber nicht auf die dortigen Schulen schicken (würden). Dafür sind ihre Wohlstands- und Statusängste zu groß und ihr Einblick in die Funktionsweise der wissensbasierten Konkurrenzgesellschaft zu tief und genau. Sie haben ein starkes Interesse daran, dass die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens angepackt und gelöst werden – dies aber bitte (im Wortsinne) »woanders«, also an einem anderen Ort und nicht in ihrem unmittelbaren Wohn- und Lebensumfeld. Man muss diese Haltung der Mittelschichteltern als NIMBY (»Not In My Back Yard«) bezeichnen, und man kann ihr Verhältnis zur Stadt kaum anders als ›kulinarisch‹ oder, wie Rieniets (2011: 98) dies tut, als »touristisch« beschreiben: Großstadterlebnisse werden sorgfältig ausgewählt und in verträglichen Häppchen konsumiert. Was nicht »schmeckt«, wird sorgfältig aus dem eigenen Leben herausgehalten. Trotzdem halte ich es für vorschnell, deshalb in den Familieninseln eine grundsätzliche Tendenz zu Entsolidarisierung und Intoleranz verkörpert zu sehen. Vielmehr möchte ich die These wagen, dass die Möglichkeit der Enklavenbildung, also die Chance, nicht in allzu engen persönlichen Kontakt mit den Lebenswelten der sozial Schwachen und Marginalisierten zu kommen, eine wichtige Voraussetzung für eine gegenüber den sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der aktuellen Stadtentwicklung ansonsten sensible und unterstützungsbereite Einstellung und damit auch für Solidarität auf der gesamtstädtischen Ebene ist. Verschiedene Studien stützen meine Wahrnehmung. Zwei davon möchte ich hier beispielhaft herausgreifen: So hat eine Untersuchung zu Einstellungen der Mittelschicht in Nordrhein-Westfalen auf sehr anschauliche Weise

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herausgearbeitet, dass das Bewusstsein für die sozialen Verwerfungen der aktuellen Gesellschaftsentwicklung und für »den steigenden Druck und die Situation der Schwachen« hoch sind (Q | Agentur für Forschung: 8). Beklagt werden »das Gefühl erodierender Gemeinsamkeit«, der »zerbröselnde soziale Kitt« und die Tendenz zur »Zwei-Klassen-Gesellschaft« (ebd.: 6, 8). Eine Tendenz zur »aggressive(n) Abgrenzung nach unten« konnten die Forscher nicht feststellen (ebd.: 8) Das Solidaritätsbedürfnis und die Sehnsucht nach einer »gemeinschaftsbasierten Antwort« auf den gesellschaftlichen Wandel sind groß (ebd.: 5) – ebenso aber auch der Wille, sich in der real existierenden Ellenbogengesellschaft zunächst einmal selber zu behaupten. Dieselbe Ambivalenz kennzeichnet auch den Bildungsbereich: Auf die Tatsache, dass der Bereich von Schule und Bildung heute ebenso von »Konkurrenz, Polarisierung und Selektion« geprägt ist wie die Arbeitswelt, reagieren die Mittelschichteltern mit heftiger emotionaler Ablehnung (ebd.: 11). Stattdessen fordern sie »Chancengleichheit«, »gemeinsames Lernen« und »einen harmonischen, menschlichen und kindgerechten Schulalltag«. Zugleich aber wollen sie auch sichergestellt wissen, »dass ihre Kinder als Gewinner aus dem Bildungswettbewerb hervorgehen« (ebd.: 13). In dieselbe Richtung weisen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zu solidarischen Einstellungsmustern, die Hartmut Häußermann, Katrin Luise Läzer und Jens Wurtzbacher vor einigen Jahren in privilegierten und benachteiligten Quartieren in vier deutschen Großstädten (Berlin, Köln, Leipzig, Mannheim) durchgeführt haben. Darin haben sie gerade auch bei den Privilegierten ein hohes lokales Solidaritätspotential, ausgedrückt in Umverteilungsbereitschaft, gefunden. Über drei Viertel der Befragten befürworteten die finanzielle Privilegierung der benachteiligten Quartiere auch in Zeiten knapper Kassen; gut 60 Prozent sprachen sich für einen stadtweiten »Solidaritätszuschlag« aus, »um die Lebensbedingungen in schlechter gestellten Vierteln zu verbessern« (2004: 35, 49 ff.). In dieses Bild passt auch, dass die Forderung nach einer gezielten Bevorzugung von Schulen in benachteiligten Quartieren bzw. mit schwieriger sozialer Zusammensetzung in Form von mehr Geld und/oder mehr Personal gemeinhin auf breite Zustimmung stößt. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass den Mittelschichten durchaus bewusst ist, dass solche Schulen und Quartiere bedeutende Integrationsleistungen für die Gesamtstadt bzw. die Gesamtgesellschaft erbringen – Integrationsleistungen, an denen sie sich nicht zuletzt durch ihren Rückzug in Mittelschicht-Enklaven selber nicht oder kaum beteiligen. Die Bereitschaft, dazu einen finanziellen Beitrag zu



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leisten, bringt die innere Zerrissenheit der Mitte besonders gut zum Ausdruck. Man kann sie als Beruhigung des schlechten sozialen Gewissens und im Sinne eines »Freikaufens« interpretieren. Sie lässt sich aber auch als Ausdruck der realistischen Einsicht deuten, dass private Initiative hier wenig nützt und stadtpolitisches Handeln deshalb gefordert ist.10 »Neoliberal ist die Mitte im Grunde nicht«, hat Franz Walter (2010) den verbreiteten Wunsch nach sozialem Ausgleich kommentiert.

Fazit Ziel dieses Beitrags war es, die prägenden Eigenschaften der sprunghaft sich vermehrenden innenstadtnahen Familieninseln herauszuarbeiten und letztere auf ihre Bedeutung für die Entwicklung der Städte hin zu befragen. Diesbezüglich habe ich argumentiert, dass die neuen Mittelschichtsiedlungen einen Trend zur inneren Suburbanisierung markieren: In ihnen erlebt das klassische Suburbia eine zeitgemäße innerstädtische Reformulierung. Zugleich sind sie vielerorts zentraler Bestandteil von Gentrifizierungsprozessen. Besagte Entwicklungen gehen mit Verdrängungs- und Schließungstendenzen im Wohnumfeld wie vor allem auch im Bildungssystem einher. Aber auch wenn diese Tendenzen unbestreitbar sind, zögere ich, die Familienenklaven als Ausdruck einer grundsätzlichen Entsolidarisierung der Mittelschichten mit schwächeren oder bildungsfernen sozialen Gruppen zu betrachten. Wachsende Statusunsicherheiten und die Sorge um die Zukunftschancen ihrer Kinder befördern gerade bei den Eltern das Bedürfnis, die Ungewissheiten, Spannungen und Probleme der großen Stadt sozial wie räumlich auf Abstand zu halten. So werden Gymnasien wie Wohngebiete immer mehr zu »Refugien der Selbstähnlichkeit in einer Welt heilloser Differenzen«, um hier noch einmal eine schöne Formulierung von Heinz Bude zu verwenden (2011: 12). Dies muss aber keineswegs bedeuten, dass den Mittelschichten (-Eltern) die drängenden kulturellen und sozialen Fragen der Stadtgesellschaft völlig gleichgültig sind. Unter der Voraussetzung, an den Schulen und im Wohnumfeld weitgehend unter sich bleiben zu dürfen, sind große Teile der »nervösen Mitte« (Vogel 2010) bereit, die gezielte Entwicklung und spezielle Förderung benachteiligter Stadtteile und Schulen zu unterstützen, de 10 Für diesen letzteren Hinweis danke ich Walter Siebel.

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ren Probleme gerade Eltern überdeutlich vor Augen stehen. Ihre Solidarität ist also deutlich eine aus der Distanz. Nichtsdestoweniger sollten die Städte daran arbeiten, sich diese zunutze zu machen. Zueignung Diese sicherlich sehr strittigen Thesen möchte ich mit diesem Beitrag gerne zur Debatte stellen. Er berührt viele der zentralen Fragen, die auch Hartmut Häußermann bis zuletzt umgetrieben haben. Einige meiner Beobachtungen und Deutungen konnte ich mit ihm noch kontrovers diskutieren – zuletzt zu fortgeschrittener Stunde im Rahmen einer der geselligen Runden, zu denen er gerne an seinen Küchentisch einlud, weil er das Denken (ebenso wie das Essen und Trinken) in Gesellschaft liebte. In tiefer Dankbarkeit für die anregenden wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, die Zusammenarbeit und vor allem auch für die Freundschaft der letzten Jahre sei ihm dieser Aufsatz gewidmet.

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Innere Suburbanisierung?

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Die Verantwortung der Schulen für die Integration der Stadtgesellschaft in Deutschland Christine Baur

1. Einleitung Die Umsetzung des Bildungsauftrags der Institution Schule stößt seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Internationalen Schulleistungsstudien PISA und IGLU auf ein starkes öffentliches und bildungspolitisches Interesse. Ein Recht auf Bildung ist im Grundgesetz nicht explizit formuliert und es obliegt den Bundesländern, eigene Formulierungen verfassungsrechtlich zu verankern. In der Berliner Verfassung etwa hat jeder junge Mensch »[…] ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identität und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten« (Paragraph 2, Berliner Verfassung). Tatsächlich zeigt sich, dass in Deutschland schulischer Erfolg so eng an die soziale Herkunft geknüpft ist wie in keinem anderen Teilnehmerland an den Studien. Besonders bildungsbenachteiligt ist die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen, in deren Familien in einer anderen Sprache als Deutsch kommuniziert wird. Auch wenn die aktuellsten Ergebnisse der IGLU-Studie bescheinigen, dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren die besten Lernzuwächse verzeichnen konnten, so sind ihre Bildungsnachteile nur relativ zurückgegangen. In der Bildungsforschung wird das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland als eine der stärksten Ursachen für Benachteiligung gesehen, da es die Schülerinnen und Schüler weit früher als in anderen Ländern in leistungsbezogene Schulformen aufteilt (Solga/ Wagner 2007; Schümer 2004). Doch kann Schule allein die Aufgaben stemmen, die ihr gesellschaftlich zugewiesen werden? Welche weiteren benachteiligenden Faktoren gibt es, und wie entstehen überhaupt Schulen, an denen wenig Lernzuwachs statt-



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findet? Welche Rolle spielt das sozialräumliche Umfeld der Schulen, das oftmals der Wohnort der Schülerinnen und Schüler ist? Die wachsende soziale Spaltung in den deutschen Städten birgt die Gefahr der sozialen Exklusion von Kindern und Jugendlichen, die in benachteiligten Quartieren leben. Diesen Befund bestätigt die aktuelle DIFU-Studie zur Segregation in den Städten, nach der die Segregation von Kinderarmut in vielen Städten bei über 30 Prozent, in Berlin und Hamburg bei über 40 Prozent liegt. Das bedeutet, dass in Berlin mehr als 40 Prozent der Kinder in andere Bezirke und Nachbarschaften umziehen müssten, um eine Gleichverteilung von Kinderarmut über das Stadtgebiet herzustellen (Dohnke u. a. 2012). Die stadtsoziologische Forschung erweitert hier die Bildungsforschung um die Frage nach sozialräumlichen Rahmenbedingungen und gesamtstädtischen Wanderungs- und Segregationsprozessen, die einen Einfluss auf Bildung haben. Die Abwanderung der bildungsnahen Mittelschicht aus Quartieren mit überdurchschnittlich hohen Quoten an Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern, Arbeitslosen und Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationhintergrund vor der Einschulung ihrer Kinder hat Konsequenzen für die soziale und ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft an den lokalen Schulen. Sie werden überwiegend von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aus dem nahen Schulumfeld besucht, die zu Hause wenig oder gar nicht deutsch sprechen und deren Familien häufig von staatlichen Transferleistungen abhängig sind. Die Befürchtung der Eltern, dass das Leistungsniveau an Schulen mit überwiegend sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern sinkt, entspricht auch den Datenanalysen der PISA-Studien (Schümer 2004). Bei der Suche nach Lösungsansätzen zur Verbesserung der Bildungschancen und damit der Stärkung der Integrationskraft der Schulen für die Stadtgesellschaft müssen demnach Erscheinungsformen und Wirkungen von Segregationsprozessen berücksichtigt werden.

2. Ethnische und soziale Segregation in den Schulen Einige Bildungsforscherinnen und -forscher weisen auf die negative Wirkung einer hohen sozialen und ethnischen Segregation an Schulen hin, die vor allem an Hauptschulen zu finden ist und sich in geringen schulischen Leistun-

. Ethnische und soziale Segregation in den Schulen

ge Bildungsforscherinnen und -forscher weisen 92 Christine Baur auf die negative Wirkung einer alen und ethnischen Segregation an Schulen hin, die vor allem an Hauptschulen nd sich in geringen schulischen Leistungen ausdrückt (Schümer gen ausdrückt (Schümer 2004; Solga/Wagner 2007). Aber auch die 2004; Grund- Solga/W schulen von ethnischersind Entmischung betroffen, Entmischung worauf eine Studie des ). Aber auch diesind Grundschulen von ethnischer betroffen, wo Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration ie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration aufmerksam hat. Die Untersuchung der Segregation an Berliner merksam gemacht hat.gemacht Die Untersuchung der Segregation an Berliner Grundsch Grundschulen ergab, dass fast zwei Drittel der Kinder mit Migrationshinfast zwei Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund auf eine Grundschule g tergrund auf eine Grundschule gehen, an der überwiegend Kinder mit Miberwiegend Kinder mit Migrationshintergrund beschult werden. Gleichzeitig b grationshintergrund beschult werden. Gleichzeitig besucht die Mehrzahl der rzahl der Kinder deutscher Herkunft (sieben vonSchulen, acht) Schulen, inMindenen die M Kinder deutscher Herkunft (sieben von acht) in denen die n Migrationshintergrund hat (Fincke/Lange Diese2012). Ungleichverteilung de derzahl einen Migrationshintergrund hat 2012). (Fincke/Lange Diese Unlerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund basiert im Wesentlic gleichverteilung der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund basiert der im Wesentlichen auf der und residentiellen Segregation derdem esidentiellen Segregation Bewohnerinnen Bewohner und auf Bewohnerinnen und Bewohner und auf dem Schulwahlverhalten der Eltern. lwahlverhalten der Eltern. Motor dieser Entwicklung sind Eltern, die an der Qu Motor dieser Entwicklung sind Eltern, die an derzweifeln Qualität der lichen Einzugsgrundschulen in diesen Quartieren undstaatlichen Schulen mit ein Einzugsgrundschulen in diesen Quartieren zweifeln und Schulen mit einem nderen pädagogischen oder Leistungsprofil oftmals in privater Trägerschaft be

besonderen pädagogischen oder Leistungsprofil oftmals in privater Trägerschaft bevorzugen. n Schulen spiegeln sich die Problemlagen des Quartiers und dessen Bewohner In den Schulen spiegeln sich die Problemlagen des Quartiers und dessen ohner in konzentrierter Form wider. in Die soziale und ethnische Segregation in d Bewohnerinnen und Bewohner konzentrierter Form wider. Die soziale tieren undund Schulen veranschaulichen exemplarisch die Daten aus einem ethnische Segregation in den Quartieren und Schulen veranschaulichen exemplarisch dieim Daten aus einem Grundschuleinzugsbereich im Berliner ndschuleinzugsbereich Berliner Bezirk Mitte – Ortsteil Moabit – einem Bezirk – Ortsteil Moabit – einem Programmgebiet der Sozialen Stadt. rammgebiet derMitte Sozialen Stadt.

Abb. Sprengel, 1: Moabiter Sprengel, Bevölkerungund und Transferleistungsbezug, in Prozent in Prozent 1: Moabiter Bevölkerung Transferleistungsbezug,

Quelle: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009, 2009, eigene Berechnungen. le: Monitoring Soziale Stadtentwicklung eigene Berechnungen.



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Vergleicht man die zusammengefassten Werte der fünf Moabiter Schulen (Abb. 2, s. u.) mit jenen des Einzugsgebietes (Abb. 1), gibt es eine relativ geringe Erhöhung des Anteils an Ausländerinnen und Ausländern und eine um etwa ein Drittel höhere Anzahl an Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache in den Schulen. Besonders auffallend ist jedoch die Verdreifachung der Lernmittelbefreiung im Vergleich zum Transferleistungsbezug im Einzugsgebiet der Grundschulen (Baur 2013: 39 f.). Ein Grund für die erhöhte ethnische und soziale Segregation an den Schulen im Vergleich zur Bewohnerschaft des Einzugsbereichs könnte die höhere Geburtenrate bei Migrantinnen und Migranten sein. Die Ergebnisse der Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration weisen jedoch insbesondere auf das elterliche Schulwahlverhalten als Antrieb für und ethnische Entmischung hin. Dies zeigt sich auch icht man die diesoziale zusammengefassten Werte der derSchulen fünf Moabiter Schulen (Abb. 2, s.u am deutlich höheren Anteil an ausländischen Schülerinnen Schülerndes an Anteils a des Einzugsgebietes (Abb.1), gibt es eine relativ geringe und Erhöhung des Moabiter Sprengels im ein jeweiligen Grundschuleinzugsderinnenden undSchulen Ausländern und eine um als etwa Drittel höhere Anzahl an Schül gebiet (Fincke/Lange 2012: 18). Ein Vergleich der von Baur (2013: 49) verglihülern nicht-deutscher Herkunftssprache in den Schulen. Besonders auffallend chenen Gymnasialempfehlungen für die untersuchten Schulen im Moabiter die Verdreifachung der Lernmittelbefreiung im Vergleich zum Transferleistun Schulsprengel zeigt, dass die Anzahl der Gymnasialempfehlungen bei hoher zugsgebiet der Grundschulen (Baur Anteil 2013:an39f.). Lernmittelbefreiung und hohem Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund unterdurchschnittlich ist (ebd.: 49). Diese Befunde entsprechen den Ergebnissen der PISA-Studien und vieler Kompositions: Grundschulen im Moabiter Sprengel, imwenn Durchschnitt; Herkunft, Lernmittelbe studien, wonach die Leistungen sinken, die Anteile von Schülerinnen

zent

Abb. 2: Grundschulen im Moabiter Sprengel, im Durchschnitt; Herkunft, Lernmittelbefreiung, in Prozent

: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Be- eigene nungen. rechnungen.

und für die erhöhte ethnische und soziale Segregation an den Schulen im Vergl ner/innenschaft des Einzugsbereichs könnte die höhere Fertilität von Migrantin

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Christine Baur

und Schülern mit Migrationshintergrund und mangelnden Kenntnissen der Landessprache sowie sozioökonomischen Benachteiligungen in Schulklassen steigen (Vellacott u. a. 2003: 27; Stanat 2006b: 196). Hinzu kommen diskriminierende Praktiken bei der Schullaufbahnempfehlung, die sowohl im Rahmen der IGLU-Studien als auch der Bielefelder Studie von Gomolla und Radtke aufgezeigt wurden. Bei der Frage nach der Entscheidung für die Schullaufbahnempfehlung benennen befragte Lehrerinnen und Lehrer Sprachprobleme der türkischen Schülerinnen und Schüler, antizipierte Misserfolgserlebnisse und unsichere Prognosen über die Bewältigung von Anforderungen in den höheren Schulen als Grund für eine nicht-gymnasiale Laufbahnempfehlung (Gomolla/Radtke 2007). Schulen können für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Orte der sozialen Exklusion darstellen, wenn sich dort Armut, Sprachschwierigkeiten und Bildungsferne konzentrieren und ein lernminderndes Milieu entsteht, das sich zum Beispiel an hohen Fehlzeiten der Schülerinnen und Schüler und einer gestörten Unterrichtsatmosphäre zeigt (Baur 2013: 130 f.).

3. K  onzepte der Bildungs- und Stadtpolitik zur Verbesserung der Bildungschancen Die Bildungsbenachteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund wirft die Frage nach Konzepten zur Verbesserung der Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Bildungs- und der Stadtpolitik auf. Inwiefern die Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation an Schulen und in den Quartieren in Handlungskonzepten zur Verbesserung der Bildungschancen eine Rolle spielt, soll im Folgenden zusammengefasst werden (ausführlich hierzu ebd.: 173 ff.). 3.1  Die ›Ausländerquote‹ an Schulen und ihre Folgen Bereits in den 1970er Jahren stellte der starke Zuzug ausländischer Kinder und Jugendlicher über die Familienzusammenführung die Kommunen und Landesverwaltungen vor Herausforderungen, die kommunale und bildungs-



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politische Maßnahmen nach sich zogen. In Berliner Schulklassen wurden mit der 1984 herausgegebenen Ausführungsvorschrift der Senatsverwaltung für Bildung – ›AV ausländische Schüler‹ – Quoten zur Begrenzung des Anteils ausländischer Schülerinnen und Schüler eingeführt, die bis 1995 wirksam waren. In der Folge wurden reine Ausländerregelklassen eingerichtet, um die 30 Prozent-Quote aufrechterhalten zu können. Gab es zum Beispiel mehr als 50 Prozent ausländische Schülerinnen und Schüler bei der Anmeldung in der Grundschule oder für die siebte Klasse der Oberschule, so wurden eine reine Ausländer-Regelklasse und weitere Klassen, in denen nicht mehr als 30 Prozent ausländische Schülerinnen und Schüler beschult wurden, gebildet. Weiterhin waren die kommunalen Schulverwaltungen aufgefordert, so genannte Ausgleichsmaßnahmen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 1984) zu organisieren. Diese beinhalteten nicht nur die Verschickung einzelner Schülerinnen und Schüler, sondern auch ganzer so genannter Vorbereitungsklassen und Eingliederungslehrgänge für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler ohne Deutschkenntnisse in andere Stadtteile oder Bezirke mit einem geringeren Anteil an ausländischen Schülerinnen und Schülern Die Bildung von Ausländerregelklassen erfolgte nach ethnischer bzw. staatsbürgerlicher Herkunft, das heißt oftmals unabhängig von den Sprachkenntnissen oder dem Leistungsstand der Kinder. Auch wurde die sozioökonomische Lage der Schülerinnen und Schüler bei der Verteilung nicht berücksichtigt. Diese Regelung erschien daher weniger dem Fördergedanken geschuldet als der Hilflosigkeit, einer wachsenden Zahl von Kindern mit einem erhöhten Bedarf an Sprachbildung konzeptionell zu begegnen. Die aufnehmenden Schulen in den Bezirken mit einer geringeren Ausländerquote erhielten weder eine bessere Ressourcenausstattung noch Qualifizierungsmaßnahmen für Pädagog/innen. Somit beförderte die Bildung von Ausländerregelklassen, Vorbereitungsklassen und Eingliederungslehrgängen eher die ethnische Segregation und nicht die Sprachbildung im Deutschen und die Integration in die Stadtgesellschaft. 3.2 Auflösung von Schuleinzugsbereichen und die Forderung nach Bürgerschulen Mit der Forderung nach Aufhebung von Grundschuleinzugsbereichen und freier Schulwahl verknüpfen vor allem Bildungsökonom/innen die Hoff-

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nung, die Abwanderung der bildungsbewussten Mittelschicht aus benachteiligten Quartieren aufhalten zu können. Der Wettbewerb unter den Schulen, gefördert durch die freie Schulwahl der Eltern, soll darüber hinaus die Qualität verbessern und der sozialen Entmischung in den Schulen entgegenwirken. Dieses Verfahren stößt jedoch aus verschiedenen Gründen auf Kritik. Aus schulplanerischer Sicht entstehen nicht vorhersehbare Kosten bei übernachgefragten Standorten, zumal das Recht auf freie Schulwahl gleichzeitig mit dem Recht auf einen Platz in der nächstliegenden Grundschule gekoppelt sein kann, wie dies in Nordrhein-Westfalen der Fall ist. Zudem könnte die freie Grundschulwahl der Eltern die soziale und ethnische Segregation an den Schulen eher verstärken als abschwächen (Hebborn 2006). Mit der Umsetzung der freien Schulwahl im Primarbereich gibt es in Deutschland bisher wenig Erfahrung. Nordrhein-Westfalen hat seit einigen Jahren eine verstärkte Leistungsorientierung und den schulischen Wettbewerb im Schulgesetz verankert. Dazu gehören verbindliche Grundschulgutachten, Schulrankings und die Abschaffung der verbindlichen Schuleinzugsbezirke seit dem Schuljahr 2008/2009. Erste empirische Ergebnisse zur Auswirkung der freien Schulwahl belegen weder den Rückgang noch eine Verstärkung der bestehenden ethnischen und sozialen Segregation an den Schulen (Makles/Schneider 2013: 62). Andere europäische Länder haben bei der freien Grundschulwahl bereits einen Erfahrungsvorsprung. In Englands Schulen hat der wettbewerbsorientierte Bildungsmarkt zu einer verstärkten Segregation in leistungsmäßiger, sozialer und ethnischer Hinsicht geführt (van Ackeren 2006: 303 f.). Zudem besteht eine enge Koppelung zwischen Wohnort und Leistungsergebnissen der Schülerinnen und Schüler (Hamnett u. a. 2007). Überdies suchen sich die begehrten englischen Schulen ihre Schülerinnen und Schüler direkt oder in Profil- und Leistungsklassen aus. In Frankreich wurde die Schulwahlmöglichkeit innerhalb festgelegter Schulbezirke nur geringfügig erweitert. Das hat nicht verhindern können, dass die Eltern mittels Deckadressen und bestimmten Profilwünschen versuchen, ihre Kinder an den begehrten Schulen außerhalb des Bezirks unterzubringen. Die Fähigkeit bildungsnaher Eltern, bei der Schulwahl gezielt Recherchen anzustellen und ihren Kindern dadurch Vorteile zu verschaffen, fördert die soziale Entmischung von Schulen (Field u. a. 2007: 64 f.). In Deutschland werden inzwischen auch Erfahrungen aus den USA mit Bürgerschulen diskutiert. Der Kerngedanke der Bürgerschule ist die freie Schulwahl der Eltern und eine Finanzierung der Schulen über Bildungs-



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gutscheine, wobei die Gleichstellung der Bürgerschule mit den staatlichen Schulen bei der finanziellen Ausstattung – unterstützt durch Stiftungen – gefordert wird (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2012). Bürgerschulen sollen in stärkerer Eigenverantwortung und entsprechend den lokalen Erfordernissen Schulprofile entwickeln. Intendiert ist, mit der freien Schulwahl den Wettbewerb um Schülerinnen und Schüler zu verstärken und damit auch die Qualität der Schulen zu verbessern (Dohmen 2007: 37). Eltern soll unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen die Möglichkeit eröffnet werden, eine Schule auszusuchen, deren Profil den Neigungen und Interessen ihrer Kinder entspricht (Der Paritätische Gesamtverband 2012). Für die USA hat sich gezeigt, dass die Vergabe von Bildungsgutscheinen an überwiegend einkommensschwache Familien und die damit verbundene Möglichkeit einer Ummeldung ihrer Kinder an eine Privatschule den Konkurrenzdruck auf Schulen mit schwachen Leistungsergebnissen erhöht (Dohmen 2005). Allerdings lastet auch ein erheblicher sozialer Druck auf den Eltern, die sich in besonderer Weise engagieren müssen (z. B. in verpflichtenden Elternkursen), um den Ansprüchen der Privatschulen zu genügen. Eine beträchtliche Anzahl an Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten Verhältnissen gibt ihren Platz an einer Privatschule wieder auf. Klärungsbedarf gibt es zu der Frage, wie begehrte Schulen mit der Übernachfrage umgehen und wie Eltern über Schulprofile informiert werden. Die bisherige Aufnahmepraxis der Privatschulen ist, sich die Kinder selbst auszusuchen. Bildungsgutscheine müssten zudem mit zusätzlichen Ressourcen bei Kindern mit besonderem Förderbedarf (z. B. Sprachbildung, emotionalkognitive Störungen, Behinderungen usw.) ausgestattet sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Auflösung der Schuleinzugsbereiche die ethnische, soziale und leistungsbezogene Segregation der Schülerinnen und Schüler befördern dürfte und die diskutierte Vergabe von Bildungsgutscheinen für den Besuch einer Bürgerschule nicht allen Kindern den Zugang zu begehrten Schulen eröffnen würde. Allerdings besteht für Deutschland weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der Auswirkung der Aufhebung der Schuleinzugsbereiche.

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3.3  Bildungsreformen und Qualitätsentwicklung von Schulen In den Bundesländern werden Reformansätze in allen Bildungsetappen diskutiert. Seit PISA erhält die Frühförderung mit Bildungsplänen (Kultusministerkonferenz), Sprachstandsfeststellungen und die Förderung der Sprachbildung ein besonderes Gewicht. Das Ziel der Qualitätssteigerung der Schulen hat in vielen Bundesländern Schulstrukturreformen und die Entwicklung der Unterrichtsqualität und -organisation als zentrale Themen der Schulentwicklungsplanung angestoßen. Dazu gehören die Teilnahme an internationalen und nationalen Schulleistungsvergleichen, die Individualisierung der Lernprozesse, duales Lernen in allen Schularten, die Verbesserung der Übergänge zwischen den verschiedenen Bildungseinrichtungen und eine höhere Eigenverantwortung der Schulen. Zur Überprüfung der Qualität und daraus abzuleitenden Handlungsempfehlungen werden Schulinspektionen eingesetzt. Kommunale Strategien und Bundesprogramme fördern zudem den Einbezug lokaler und kommunaler Kooperationspartner. Vor allem die Sprachbildung erhält in allen Bildungsetappen eine hohe Bedeutung, zumal die PISA-Studien vor allem bei Jugendlichen, deren familiale Sprachpraxis nicht Deutsch ist, einen Leistungsrückstand festgestellt haben. Eine vermehrte Verwendung der deutschen Sprache außerhalb der Familie reicht offensichtlich nicht aus, wenn nicht gleichzeitig der gezielte Erwerb einer Bildungssprache erfolgt (Gogolin 2009: 266 f.). Mangels Gelegenheit zum Kontakt mit Einheimischen wird mit Gleichaltrigen der eigenen Ethnie und Sprachgruppe zwar häufiger deutsch oder eine Mischform mehrerer Sprachen gesprochen, jedoch fehlt es an einheimischen Sprachvorbildern in Schule und Quartier (Baur 2013: 118 f.). 3.4  Entwicklung der Schulstruktur Deutschlandweit gibt es in den letzten Jahren einen Trend zur Schulstrukturentwicklung. Die Hauptschule als von Eltern nicht mehr akzeptierte und von Bildungsforscher/innen kritisierte Schulform wurde in den meisten Ländern abgeschafft bzw. es wurden parallel dazu integrative Schulformen mit mehreren Bildungsgängen entwickelt. Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen setzen auf ein Zwei-Säulen-Modell mit der mehrere Bildungsgänge zusammenfassenden Sekundarschule und dem Gymnasium. Schulen



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werden zunehmend in Ganztagseinrichtungen umgewandelt und als Lernund Lebensorte begriffen, die in Kooperation mit außerschulischen Partnern einen rhythmisierten Tagesablauf mit Lern- und Förderangeboten wie auch Freizeitgestaltung organisieren. In einigen Bundesländern erhalten Schulen, die sozial besonders belastet sind, zusätzliche Lehrkräfte zur verstärkten Sprachförderung. Kriterien sind der Anteil an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache und Empfänger/ innen sozialstaatlicher Leistungen. Für Berlin zeigt sich, dass Schulen am Stadtrand mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern aus sozialtransferabhängigen Ein-Elternfamilien vergleichbare Sprachproblematiken aufweisen wie innerstädtische Schulen mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten. Dieser Befund zeigt einmal mehr, dass bereits die soziale Segregation an Schulen bildungsbenachteiligend wirkt. Die Schulstrukturreform bietet die Voraussetzung für eine stärkere soziale und Leistungsdurchmischung der Schülerschaft, da sie alle Bildungsabschlüsse an einer Schule ermöglicht. Die Öffnung von Schulen, ihre Kooperation mit lokalen und kommunalen Partnern und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, letztlich die Einbindung in regionale Bildungsverbünde ist unabdingbar. 3.5  Beispiel – Die Berliner Integrierte Sekundarschule Im Schuljahr 2010/2011 wurde in Berlin die Integrierte Sekundarschule als Zusammenfassung mehrerer Bildungsgänge neben dem Gymnasium eingeführt. Die Schwerpunkte der Integrierten Sekundarschule liegen in der Individualisierung, das heißt der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler, im Dualen Lernen zur verstärkten Berufsorientierung, dem verbesserten Übergang von der Sekundarschule in die Ausbildung oder das Studium und im ganztägigen Lernen. Mit der Einrichtung von Sekundarschulen werden verschiedene Ziele verfolgt: Sie sollen dazu beitragen, soziale Herkunft und Bildungserfolg zu entkoppeln. 13 Schuljahre (statt zwölf bei den Gymnasien) bieten den Schülerinnen und Schülern mehr Zeit, um sich auf das Abitur vorzubereiten. Erwartet wird eine stärkere soziale und Leistungsheterogenität in den Klassen, somit kann das Modell als eine Maßnahme gegen Segregation bewertet werden. Allerdings zeigt sich im dritten Jahr nach der Schulreform, dass die Integrierten Sekundarschulen zwar viel Innovationsbereitschaft bei der Orga-

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nisation des Unterrichts und der Schule als Lern- und Lebensort zeigen, es dennoch so genannte »Brennpunktschulen« gibt, worunter ca. 15 bis 20 Prozent der Grundschulen und Integrierten Sekundarschulen mit einem oftmals hohen Anteil an lernmittelbefreiten Kindern und Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund fallen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2013). Sie sollen ab 2014 mehr Ressourcen erhalten, um die an sie gestellten Herausforderungen bewältigen zu können. Vor allem für die Integrierten Sekundarschulen hat sich gezeigt, dass die Wirkungen einer Schulstrukturreform auf die schulische Segregation begrenzt sind, sofern keine weiteren Steuerungselemente angesetzt werden, die der sozialen und ethnischen Segregation an Schulen begegnen. 3.6  Lösungsansätze auf Quartiersebene und Bildungsverbünde Das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt (vgl. Güntner/Walther in diesem Band) wurde 1999 gestartet, um der zunehmenden sozialen und räumlichen Spaltung in den Städten Deutschlands entgegenzuwirken. Nach Paragraph 171e BauGB wurde mit ihm die Bündelung von investiven und sonstigen Maßnahmen zur Stadterneuerung und Aufwertung von benachteiligten Gebieten angestrebt. Ausgangspunkt sind empirische Befunde, die belegen, dass die räumliche Konzentration von Armut, Arbeitslosigkeit und geringem Bildungsniveau der Bewohnerinnen und Bewohner Sozialisationsbedingungen schafft, die die Kinder und Jugendlichen über die individuelle Soziallage hinaus zusätzlich benachteiligen und stigmatisieren (Häußermann/ Kronauer 2009). Wohn- und Arbeitsverhältnisse sollten demnach über das Programm verbessert und soziale Strukturen stabilisiert werden, unter anderem durch die Vernetzung der lokalen Akteurinnen und Akteure und die Aktivierung der Bevölkerung, sich für ihre Belange im Quartier zu engagieren. Ein integriertes Handlungskonzept schließlich sollte Förderprogramme und Ressourcen gebietsbezogen bündeln und Verwaltungsstrukturen weiterentwickeln. Bei der Umsetzung des Programms erhielt die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen in den Programmgebieten Vorrang. Die Priorität des Themas Bildung hat in der letzten Dekade zu einer Vernetzung von Quartiersmanagement, Schulen und weiteren Bildungsträgern, Einrichtungen der Jugendhilfe, Wohnungsbaugesellschaften, Eltern und Polizei zu Bildungsverbünden geführt (Bundesministerium für Verkehr 2010).



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In Berlin haben bereits die Ergebnisse des Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2008 und 2009 dazu geführt, dass fünf Gebiete, genannt »Aktionsräume plus«, herausgefiltert wurden, die in besonders hohem Maße komplexe Problemlagen durch Arbeitslosigkeit und Transferleistungsbezug aufweisen (Häußermann 2008; ders. 2009). Sowohl die Berliner Senatsverwaltungen als auch die Bezirke zielen mit dem quartiersübergreifenden Ansatz darauf ab, den sozialen Zusammenhalt in Berlin zu bewahren (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2013). Mit den »Aktionsräumen plus« werden nicht nur bestehende Fördergebiete stärker miteinander vernetzt, sondern auch die angrenzenden Quartiere. Die Kürzung der Fördersumme des Bundesprogramms Soziale Stadt im Jahre 2013 ist angesichts dieser Befunde erstaunlich, zumal die Länder keinen entsprechenden Ausgleich finanzieren können. Interventionen hinsichtlich einer sozialen Inklusion in der Wohnumgebung sind weiterhin notwendig, wenngleich der Einfluss der gesamtwirtschaftlichen Lage Deutschlands und deren Auswirkungen auf die Arbeitsmarkt- und Ausbildungssituation der Jugendlichen und ihrer Familien dadurch nicht kompensiert werden kann (Häußermann u. a. 2010). Die beschriebenen Maßnahmen auf bildungs- und stadtpolitischer Ebene leisten zwar einen Beitrag zur Erhöhung der Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, ein deutlicher Rückgang der Bildungsbenachteiligung wird jedoch nicht sichtbar. Dieser Umstand weist auf die Notwendigkeit hin, dass Schulen und ihre Partner die ethnische und vor allem soziale Segregation als zentrale Bestandteile der Bildungsbenachteiligung verringern sollten.

4. Desegregationsmaßnahmen zur Erhöhung der Bildungschancen Welche Erfahrungen gibt es in anderen Ländern, sozialer und/oder ethnischer Segregation in Schulen entgegenzusteuern? Frankreich unternimmt seit 2004 Versuche, Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Quartieren in bessergestellte Quartiere per Bus zu transportieren und dort zu beschulen. Dabei wird der radikale Ansatz verfolgt, Schulen ohne Leistungserfolge zu schließen und in kleinschrittiger Vorgehensweise bei allen Beteiligten und

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Betroffenen Akzeptanz und Mitwirken bei dieser Desegregationsmaßnahme zu erreichen (Baur 2010). Vorbild ist das in den USA lange Zeit praktizierte Busing, mit dem farbige Schülerinnen und Schüler in Bussen an überwiegend von Weißen besuchte Schulen transportiert wurden, um die gesetzlich abgeschaffte Rassentrennung in die Praxis umzusetzen. Bei der Frage der Übertragbarkeit dieser Ansätze auf Deutschland bietet vor allem die USamerikanische Praxis, die auf das offizielle Busing folgte, Ansatzpunkte. 2007 erklärte es der Supreme Court (oberster Gerichtshof ) für unzulässig, Schülerinnen und Schüler auf Grund ihrer ethnischen Herkunft öffentlichen Schulen zuzuteilen. Zahlreiche Distrikte suchten daraufhin nach anderen Wegen, eine soziale und ethnische Mischung an Schulen herzustellen und Armutsschulen zu vermeiden. Als Kriterien wurden beispielsweise der sozioökonomische Hintergrund, der Bildungsstand der Mutter, die Schulleistungen, die zuhause gesprochene Sprache und das Niveau der Sprachkenntnisse im Englischen angelegt (McKoy/Vincent 2008: 136). So entstanden erfolgreiche Magnetschulen, die mit einem besonderen Profil Schülerinnen und Schüler aus einer weiteren Schulumgebung anziehen und Diversität an Schulen fördern. In Schulen mit einer hohen Abbrecher/ innenquote und geringen Leistungen bei Vergleichstests sowie einem hohen Anteil an armen Schülerinnen und Schüler werden nicht nur der Lehrkörper und die Schulleitung ausgetauscht, sondern die soziale Mischung der Schülerschaft gefördert. Mit dem Austausch sollen verfestigte niedrige Leistungsanforderungen durchbrochen und höher qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer eingesetzt werden. Dies wurde nach Kahlenberg (2009) im Wesentlichen dadurch erreicht, dass die Magnetschulen –– d en Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler mit alimentierter Schulspeisung (Armutsindikator) auf maximal 40 Prozent begrenzten, –– bildungsbewusste Mittelschichteltern mit einem Leistungsprofil, Reformpädagogik und einer internationalen Ausrichtung ansprachen, –– Eltern frühzeitig bei der Entwicklung des Schulprofils einbezogen. Die Zusage, dass alle Schulen eines Distrikts eine vergleichbare Qualität des Curriculums und der Schulorganisation aufweisen, ist die Bedingung dafür, dass die Eltern ein Losverfahren akzeptieren, das sowohl Schülerinnen und Schüler aus wohlhabenden wie aus einkommensschwachen Familien den Zugang zu den Schulen ermöglicht. Eine weitere Bedingung ist, dass an keiner Schule des Distrikts der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die von der Zuzahlung zur Schulspeisung befreit sind, mehr als 10 Prozent vom Mittel-



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wert aller in dieser Form Unterstützten abweicht. Bei dieser Umgestaltung der Schullandschaft darf die Schließung von Schulen mit einem Negativ-Image und die Neueröffnung mit einem veränderten Profil kein Tabu sein, denn nur so lässt sich verhindern, dass das einer Schule anhaftende Stigma fortwirkt.

5. Fazit Die vorgestellten Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen reichen nicht aus, um schulische und berufliche Integration zu gewährleisten. Teilweise haben sie den Anspruch, die soziale und ethnische Segregation an Schulen zu verringern, eine aktive Steuerung der Zusammensetzung der Schülerschaft vermeiden sie jedoch. Schulen allein sind nicht in der Lage, soziale Belastungen des Quartiers, die sich in verschärfter Form an den Schulen wiederfinden, zu bewältigen. Die Auflösung von Schuleinzugsbereichen und die Vergabe von Bildungsgutscheinen haben sowohl in den USA als auch in einigen europäischen Ländern Segregation eher befördert als Bildungschancen erhöht. Wenn staatliche Vorgaben bei der Schulplatzvergabe an Gewicht verlieren, ist mit einem Anstieg der Segregation zu rechnen, da Schulleitungen vorzugsweise leistungsstarke Schülerinnen und Schüler mit bildungsnahen Eltern aussuchen. Die Schulstrukturreformen in vielen Bundesländern haben das vielgliedrige Schulsystem verschlankt und die unbeliebte Hauptschule weitgehend abgeschafft. Am Beispiel der Berliner Integrierten Sekundarschule werden die unterrichtsbezogenen und schulorganisatorischen Fördervorhaben und das Ziel, die soziale Segregation zu verringern, deutlich. Allerdings wird die ethnische und soziale Segregation an vielen Schulen in benachteiligten Quartieren nicht aktiv verringert, wobei eine Quotierung nach Herkunft, wie in den 1980er und 1990er Jahren in Berlin praktiziert, auch aus ethischen Gründen nicht wiederholbar wäre. Daher wird die Schulstrukturreform zwar eine wichtige Grundlage bei der Erhöhung der Bildungschancen sein, ohne weitere Maßnahmen wird sie dieses Ziel aber nicht erfüllen können. Die Einbettung von Schulen in Bildungsverbünde und die damit erhoffte Bündelung von Bildungsressourcen ist ein wichtiger Weg, der die Schulen

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mit den bildungsrelevanten Akteurinnen und Akteuren im Quartier und stadtweit verbindet. Interventionen über das Programm Soziale Stadt und integrierte Handlungsstrategien werden weiterhin notwendig sein, um der sozialen Exklusion von Kindern und Jugendlichen in benachteiligten Quartieren und ihren Schulen zu begegnen. Ohne Strategien, die die ethnische und soziale Segregation in Bildungseinrichtungen verringern, werden auch Bildungsverbünde die Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler nicht in deutlichem Maße verbessern können. Es führt kein Weg daran vorbei, die sozioökonomische Integration in den Schulen zu steuern und die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Lernmittelbefreiung zu begrenzen. Inwiefern weitere Kriterien, wie die Ausbildung der Mutter oder Sprachschwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler Berücksichtigung finden sollten, müsste sorgfältig abgewogen werden. Letztlich ist die Einrichtung eines Bildungs-Monitoring notwendig, um Segregationsprozesse in Schulen und Quartieren und die Entwicklung der Leistungsergebnisse der Schülerinnen und Schüler zu beobachten und damit eine Grundlage für gegensteuernde Maßnahmen zur Verfügung zu haben.

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Welche Bedeutung hat schulische Bildung für die städtische Integration? Chris Hamnett »Heutzutage kann man von einem Kind kaum erwarten, dass es im Leben erfolgreich ist, wenn ihm die Chance einer Ausbildung versagt wird.« Brown vs. School Board of Education, 1954

Einleitung Die Forschungsliteratur der letzten 30 bis 40 Jahre über städtische Armut und Ausgrenzung hebt durchweg die zentrale Bedeutung von Bildung hervor: Zusammen mit der De-Industrialisierung, der sich verändernden Struktur des Arbeitsmarktes, der Migration und des ethnischen Wandels, der geringen Qualifikation und den schlechten Wohn- und Gesundheitsverhältnisse nimmt Bildung eine Schlüsselrolle ein. Zwar können einige der städtischen Armutsprobleme dem industriellen Wandel und dem Verlust von Arbeitsplätzen zugeschrieben werden, die westliche Städte in den letzten Jahrzehnten (Wilson 1996) getroffen haben. Obgleich die Verfügbarkeit guter und ausreichend gut bezahlter Jobs wichtig ist, leuchtet dennoch ein, dass ebenso entsprechend qualifizierte Beschäftigte existieren müssen, die überhaupt in der Lage sind, solche Jobs wahrzunehmen. Genauso wie das Vorhandensein von Arbeitsangeboten ist das Qualifikationsniveau der Belegschaft von entscheidender Bedeutung. Ein niedriges Bildungsniveau schließt fast per definitionem Personen von einem breiten Spektrum potenzieller Arbeitsplätze aus. Welche Bedeutung Bildung für Lebenschancen, für die Reproduktion oder die Verringerung von Ungleichheiten und für sozialen Aufstieg hat, haben viele Sozialwissenschaftler und Politiker seit Langem erkannt. Lesen, Rechnen, Wissen und soziale Kompetenzen – d. h. Bildung – sind der Schlüssel, der uns sowohl den Zugang zu, als auch den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt und ganz allgemein die soziale Integration eröffnet. Bildung fungiert als ein zentrales Element in der sozialen Reproduktion von Privilegien und Nachtei-

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len in der Gesellschaft. Es überrascht nicht, dass viele Sozialreformer sich seit dem 19. Jahrhundert sowohl mit der Verfügbarkeit von Bildung für benachteiligte soziale Gruppen als auch mit den Unterschieden im Bildungsniveau zwischen verschiedenen Klassen und sozialen Gruppen beschäftigt haben. Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die meisten westlichen Industriestaaten, die Elementarbildung auf breitere Schichten der Bevölkerung auszuweiten. Es war deutlich geworden, dass der arbeitenden Bevölkerung grundlegende Lese- und Rechenfertigkeiten vermittelt werden mussten; gleichzeitig sollte die soziale Integration gestärkt werden. Das Interesse an Bildungserweiterung setzte sich während des 20. Jahrhunderts fort und führte in den meisten westlichen Industrieländern zu einer Verlängerung der Schulpflicht bis zum Alter von 16 oder mehr Jahren und später zur Öffnung der Hochschulen für breitere Schichten bei niedrigen oder minimalen Studiengebühren. Von einer besser qualifizierten Arbeiterschaft erhoffte man wirtschaftliche Vorteile und gleichzeitig mehr Chancengleichheit und soziale Aufstiegsmöglichkeiten. So verkündete unvergesslich Tony Blair 1997 bei seiner Wahl zum britischen Premierminister, er wolle drei Schwerpunkte setzen: »Bildung, Bildung, Bildung«. Der Grundgedanke dabei ist einfach: benachteiligten Gruppen Ausbildungsmöglichkeiten zu eröffnen und ihnen so die Möglichkeit zu geben, der Gefahr der Verarmung zu entkommen. Dennoch ist in einer Reihe von Ländern das Problem der Ungleichheiten von Bildung und Bildungserfolg geblieben, die auf die soziale und ethnische Herkunft zurückzuführen sind. In Großbritannien war das Sekundarschulsystem bis Mitte der 1970er Jahre zweigliedrig und hochselektiv, wobei eine Prüfung im Alter von elf Jahren die Schüler in zwei Ausbildungsgänge teilte – Grammar School und Secondary Modern School (Gymnasium und Real-/ Hauptschule) mit stark durch soziale Klassen geprägtem Ergebnis (Halsey u. a. 1980). Neuere Arbeiten (Ball 2008; Raffe u. a. 2006) zeigen, dass trotz Einführung der Gesamtschule in Großbritannien Unterschiede nach sozialer Klasse und Ethnie in Bildungsniveau und -abschluss das System immer noch kennzeichnen. Diese begleiten den gesamten Weg durch das Schulsystem bis zum Hochschuleintritt (Hills 2010). Bill Rammell, der damalige britische Labour Minister für Hochschulbildung, sagte: »Wenn Sie aus den zwei oberen sozioökonomischen Gruppen stammen, haben Sie eine 80-prozentige Chance, auf die Universität zu kommen. Wenn Sie aus den zwei unteren sozioökonomischen Gruppen kommen, liegt diese Chance nur bei 20 Prozent.«



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Im Weißbuch des britischen Ministeriums für Bildung aus dem Jahr 2010, das den Titel Bedeutung des Unterrichts trägt, heißt es: »Unsere Schulen sollten Motoren der sozialen Mobilität sein, um Kindern zu helfen, die Willkür von Geburt und Hintergrund zu überwinden […]. Aber gegenwärtig schließt unser Schulsystem nicht Lücken, sondern es erweitert sie. Kinder aus ärmeren Familien liegen bereits bei der Einschulung hinter Mitschülern aus wohlhabenderen Familien zurück und fallen während ihrer weiteren Schullaufbahn immer mehr zurück. Die Spanne des unterschiedlichen Bildungserfolgs, die sich zwischen Arm und Reich abzeichnet, weitet sich zu Beginn der Grundschule, wird schlimmer bis zum GCSE (Mittlere Reife) und wird zu einer tiefen Kluft an dem Zeitpunkt, an dem (viel zu wenige) Schüler ihr Abitur (A-levels) machen«. (Department for Education 2010: 7). Der konservative Minister für Bildung, Michael Gove, erklärte sogar in der Einleitung zum Weißbuch: »Im Laufe der Geschichte waren die meisten Menschen Opfer von Kräften, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Die geografische und soziale Herkunft diktierte mit überwältigender Wahrscheinlichkeit ihre Zukunft. Jobs waren selten eine Frage der Wahl und in der Regel durch den Beruf des Vaters vorgegeben. Chancen für Frauen außerhalb des Hauses waren beschränkt. Reichtum entschied über den Zugang zu kulturellen Gütern. Die Horizonte waren schmal und oft begrenzt, Glück eine Frage der Zeit und des Zufalls. Bildung hingegen bietet einen Weg zur Befreiung aus diesen auferlegten Zwängen. Bildung ermöglicht es den Einzelnen, einen erfüllten Beruf zu wählen, das gesellschaftliche Umfeld zu gestalten, ihr inneres Leben zu bereichern. Sie macht es uns allen möglich, die Geschichte unseres Lebens selbst zu schreiben.« (Department for Education 2010: 6)

Die Benachteiligung einiger Gruppen im Bildungssystem ergibt sich aus einer Vielzahl von Gründen, die nicht zuletzt in der sozialen Klasse liegen. Umfangreiche empirische Belege zeigen, dass Schüler aus unteren sozialen Klassen die Schule früher verlassen und dass ihr Bildungserfolg niedriger ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal studieren, ist viel geringer als jene von Schülern mit einem höheren sozialen Status. Die Ursachen dafür sind bisher Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen. Sie umfassen geringere elterliche Ansprüche und Erwartungen, Peer-Group-Einflüsse, schlechte Wohnverhältnisse und niedrige Einkommen. Alle diese Einflüsse bilden zusammen ein soziales Ethos, das Bildung und Leistung weniger betont als den Wunsch, überhaupt ›herauszukommen‹ und Arbeit zu finden. Richard Hoggart hat dies brillant in seinem klassischen Buch The Uses of Literacy (1957)

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gezeigt. Er beschreibt darin das Aufwachsen in einem armen Arbeiterviertel von Leeds, England, und die Wahrnehmung und Rolle von Bildung in der Nachbarschaft. Ähnliche Schilderungen gibt es über die Bildungserwartungen und Hindernisse für Bildungschancen und Bildungserfolg in einigen armen, schwarzen innerstädtischen Nachbarschaften in den Vereinigten Staaten (Henig u. a. 1999). Am anderen Ende des Spektrums der sozialen Klassen und Einkommen haben viele Eltern aus der Mittelschicht hohe soziale Erwartungen an ihre Kinder. Sie engagieren sich stark bei der Suche nach guten Bildungschancen in dem Bemühen, ihre Bildungsabschlüsse zu maximieren und so ihre Chance zu verbessern, auf eine gute Universität zu gehen und einen guten Arbeitsplatz zu bekommen. Als solche haben sie ein starkes Interesse daran, ihre Privilegien zu sichern, obwohl sie selbst dies wahrscheinlich nicht so sehen würden. Solche Eltern sind sich in der Regel der Vorteile von Bildung sehr bewusst und kennen die Struktur und Funktionsweise des Bildungssystems gut. Dies führt oft dazu, dass sie eine Vielzahl von Strategien verfolgen, um die Bildungschancen ihrer Kinder zu maximieren – entweder entscheiden sie sich für das private Schulwesen oder bleiben im öffentlichen Schulsystem, suchen aber den Zugang zu den besten unter den öffentlichen Schulen, was einen Familienumzug bedeuten könnte, um die Aufnahmechancen ihrer Kinder zu erhöhen. Das wichtigste Problem sind jedoch niedrige Bildungserwartungen und Chancen für benachteiligte Gruppen. Bildung ist in den letzten Jahren auch in vielen europäischen Ländern zu einem wichtigen Thema geworden – aus weitgehend ähnlichen Gründen. Erstens haben eine Vielzahl von Forschern die klassenbasierte Art der Bildung in Frankreich und Spanien und anderswo dokumentiert, bei der es hochselektive öffentliche Eliteschulen und private Schulen gibt. Zweitens haben Forscher auf die Randposition vieler Immigranten bzw. ethnischer Minderheiten im Bildungssystem hingewiesen. Diese hat zu einem großen Problem für entfremdete junge Menschen geführt, die glauben, durch das Bildungssystem und von der Gesellschaft im Allgemeinen faktisch marginalisiert zu werden. Einige von ihnen haben einzig und allein die Aussicht darauf, ein Leben lang Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu beziehen. Sie haben nichts zu tun, haben keinen Ort, an den sie gehen könnten, kein Geld um etwas zu tun und nichts, auf das sie sich freuen könnten. Ohne Bildungsabschlüsse können diese Gruppen in gering qualifizierten, Niedriglohn- oder gar keinen Arbeitsplätzen stecken und auf Armutsviertel mit begrenzten Gelegenheiten für soziale Mobilität verwiesen bleiben. Dies kann dazu führen,



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und hat bei den benachteiligten Gruppen dazu geführt, dass Wut und Frustration ausbrachen und sich in Unruhen und Ausschreitungen äußerten. Es fällt auf, dass diejenigen, die im Zuge der Londoner Unruhen vom Sommer 2011 verurteilt wurden, eher ziemlich niedrige Qualifikationen besaßen. Bessere Ausbildungschancen können daher als wichtig für die soziale Stabilität sowie für den Abbau von Ungleichheiten und Erweiterung von Chancen angesehen werden. Ob dies in erster Linie das Ergebnis eines rassistischen Bildungssystems, schlechter Sprachkenntnisse, niedriger Einkommen oder das Ergebnis eines Mangels an sozialer Integration, einer Kultur der niedrigen Erwartungen oder von dysfunktionalen Familienverhältnissen ist, ist heiß umstritten. Klar ist indes, dass einige, aber nicht alle Einwanderer geringe Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg aufweisen, und dass das Ergebnis geringe soziale Mobilität, niedrige Einkommen und ein hohes Maß an Wut und Frustration sind. Anderen Gruppen geht es dagegen sehr gut (Hamnett u. a. 2007; Butler/Hamnett 2011a, 2011b). Wer diese Gruppen jeweils sind, variiert von Land zu Land. In den USA sind die Probleme möglicherweise noch tiefgehender, wegen der Geschichte sozialer Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung und wegen des hohen Niveaus an ethnischer Segregation in den Städten, das durch die Suburbanisierung der weißen und schwarzen Bevölkerung und der Konzentration von Minderheiten in den Innenstädten entstanden ist. Dies hat in den Schulen zu einer scharfen Rassentrennung und zu deutlichen Unterschieden bei der Höhe der Schulabbrecher und den Bildungsniveaus nach der ethnischen Zugehörigkeit geführt, die sich trotz der rechtlichen De-Segregation des Schulsystems fortgesetzt haben. Das Thema der ethnischen Mischung in den Schulen ist in den USA seit langem von Bedeutung. Dort hat die ethnische Segregation der Wohnstandorte eher zu einer Trennung zwischen innerstädtischen Schulen mit einem hohen Anteil von schwarzen Schülern und solchen aus ethnischen Minderheiten und vorstädtischen Schulen mit einem hohen Anteil von weißen Schülern geführt (Clotfelter 1999; Frankenberg/ Lee 2002; Ledwith/Clark 2007). Bis vor relativ kurzer Zeit war dies kein großes Problem in europäischen Städten, aber seit die Zahlen wie die Anteile der ethnischen Minderheiten der Bevölkerung in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Niederlande, Belgien und Großbritannien zunehmen, wurden solche Fragen im Zusammenhang mit der städtischen ethnischen Segregation und sozialen Ausgrenzung wichtiger. In Großbritannien wurde zur Diskussion gestellt, dass einige – aber nicht alle – ethnische Minderheiten faktisch ›parallele Leben‹ lebten und vom Mainstream durch ihre

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Wohnsituation schulisch und kulturell ebenso getrennt seien wie in Bezug auf ihre Normen, Erwartungen und Erfahrungen (Burgess u. a. 2005). In dem Maße, wie dies zutrifft, ist es ein potentielles Problem. So stellten Johnston/Wilson (2005) fest: »In einem Land, das zunehmend multiethnisch und multikulturell geprägt ist, wird auch das Thema der ethnischen Zusammensetzung der Schüler von immer zentralerer Bedeutung für die Diskussion über Sinn und Zweck des Schulbesuches überhaupt.« (S.45)

Die Geografie der Bildungschancen und schulischen Leistungen Angesichts der deutlichen räumlichen Unterschiede in der Verteilung von Arbeitslosigkeit, beruflichen Fertigkeiten und Einkommen in den meisten westlichen Ländern und einem daraus resultierenden Muster von residentieller Segregation verwundert es nicht, dass es auch eine Geografie der Bildungserfolge gibt, deren niedrigste Werte tendenziell in den armen Innenstädten und peripheren sozialen Wohnsiedlungen liegen, wo mehr Benachteiligte und untere Einkommensschichten konzentriert sind (Gordon 1996; Oberti 2007), während sich die höchsten Werte in den sozial privilegierten Bereichen finden. Am meisten ausgeprägt ist dieses Problem in den großen Städten, wo die Unterschiede zwischen verschiedenen Stadtteilen nach klassenspezifischer und ethnischer Zusammensetzung besonders markant sind und sich die Probleme der geringen Bildungschancen und des Bildungsniveaus am stärksten in benachteiligten Gebieten manifestieren. Jüngste Daten für Großbritannien zeigen, dass der geringe Bildungserfolg besonders stark in den nördlichen, ehemals industriellen Städten und Teilen der Londoner Innenstadt ausgeprägt ist, wo eine große Zahl von Jugendlichen die Schule mit niedrigen Bildungsabschlüssen verlassen, was wiederum deutliche Auswirkungen auf ihre Fähigkeit hat, gute Arbeitsplätze auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Dies wurde ›Ausbildung zum Misserfolg‹ (schooling for failure) genannt. Verschiedene solcher mehr oder weniger geschlossenen ›Kreisläufe der Ausbildung‹ in verschiedenen Bereichen produzieren sehr unterschiedliche Bildungsergebnisse. Es ist wichtig herauszufinden, wie diese funktionieren und zu versuchen, einige dieser Nachteile zu reduzieren (Ball u. a. 1995; Butler 2003).



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Klasse und ethnische Segregation in Schulen In vielen Ländern spiegelt und verstärkt die Art und Weise, wie Schulen ihre Schüler und Schülerinnen rekrutieren und zuteilen, die Segregation nach sozialer Klasse und Ethnizität. In Systemen, bei denen die Schule über den Einzugsbereich der Nachbarschaft rekrutiert und verteilt, werden die sozialen Merkmale der Umgebung in den Schulen reproduziert. Arme Gebiete haben tendenziell Schulen mit Konzentrationen von armen Schülern und umgekehrt. Mit anderen Worten: Es gibt eine deutlich ausgeprägte Geografie der Bildung in den meisten Ländern, die soziale Ungleichheiten nach Bildungsangeboten, Zugang und Abschlüssen bzw. Leistungsergebnissen reflektiert und verstärkt (Butler/Hamnett 2007). Schulen mit hohen Konzentrationen von Schülern aus benachteiligten Milieus können oft Probleme bei Disziplin und Verhalten bereiten. Dies kann ein Problem für Lehrer sein und dazu führen, dass ältere und erfahrene Lehrer oft versuchen, solche Schulen zugunsten von Schulen mit weniger Disziplin- und Verhaltensproblemen zu verlassen. So können die Lehrer, die diese Stellen besetzen, jünger und weniger erfahren sein und oft die Schule so schnell wie möglich wieder verlassen. Häufig ist das Ergebnis ein hoher Umschlag an Lehrern und ein Mangel an Stabilität für die Schüler. Den Lehrern kann man nicht wirklich vorwerfen, dass sie eine ruhige und gut erzogene Umwelt vorziehen. Der Unterricht in Schulen mit großen Disziplin- und Verhaltensproblemen kann sehr belastend sein. Dieser Umstand stellt ein geografisch strukturiertes Bündel von Bildungschancen und -einschränkungen dar. Er hat Auswirkungen in Bezug auf das Verhalten der Eltern und die Schulwahl – obwohl diese stark von der Struktur des Zuteilungssystems der Schule beeinflusst sind, insbesondere davon, ob und in welchem Maße die Eltern frei zwischen Schulen wählen können oder ob ihnen strikt Plätze an einer örtlichen Schule auf der Grundlage des Wohnsitzes zugewiesen werden. Die geografisch vermittelte Ungleichheit der Bildungschancen kann sich durch Schulwahl oder Schulvermeidung herstellen, entweder auf der Basis der individuellen Wahlfreiheit der Eltern oder, sofern die Eltern über das entsprechende Wissen und die entsprechenden Ressourcen verfügen, durch Umzüge in die Nähe attraktiverer Schulen. In Ländern wie den Niederlanden, wo es den Eltern freisteht, ihre Schule innerhalb des staatlichen Systems auszuwählen, bilden sich besonders seitens der weißen Mittelschicht Prozesse der Auswahl und Vermeidung von Schulen heraus. Sie wollen ihre Kinder auf überwiegend weiße Schulen schicken, so dass die weniger gewünschten Schulen zunehmend von ethnischen Minderheiten dominiert werden.

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So ist die Entstehung der sogenannten weißen und schwarzen Schulen in den Niederlanden zu verstehen (Gramberg 1998; Clark u. a. 1992; Karsten 1994; Karsten u. a. 2003; Boterman 2012). Diese Tendenz spiegelt sich auch in Ländern wie Spanien, wo private Schulen in großen Städten wie Madrid von Kindern der weißen Mittelschicht dominiert werden, die den staatlichen Schulen die Schüler der Arbeiterklasse und Immigranten überlassen (Fernandez Enguita 2010). In Ländern wie Deutschland, wo die Schulpolitik die meisten Kinder ihrer lokalen Schule in der Nachbarschaft zuweist (Noreisch 2007), hindert dies die Mittelschicht-Eltern bis zu einem gewissen Grad daran, das System ›auszutricksen‹, aber es verstärkt auch die WohnUnterschiede in Bezug der Zusammensetzung nach Klasse und Ethnie oder nach Einwanderung. Hierin liegt das grundlegende Problem derjenigen, die den Grad der Bildungsungleichheit in Gesellschaften reduzieren möchten, in denen sich residentielle Segregation in sozialer Segregation nach Klasse und Ethnizität in Schulen der Nachbarschaft abbildet. Das Ausmaß und die Ursachen solcher Segregation variieren je nach der Struktur und Organisation des Schulsystems, der Existenz und Art der Kluft zwischen öffentlichen und privaten Schulen und der Freiheit der elterlichen Schulwahl. Die Gründe für die Segregation in Schulen sind komplex. Clotfelter (1999) argumentiert, dass jede schulische Segregation in erster Linie ein Ergebnis der hohen Wohnsegregation ist; Rangvid (2007) hingegen zeigt, dass in Kopenhagen das Niveau der schulischen Segregation über dem der residentiellen Segregation liegt. Clark u. a. (1992) zeigen auch, dass in den niederländischen Städten, in denen die Eltern die Freiheit der Schulwahl haben, ein wesentlicher Grund für die Erhöhung der Schulsegregation die starke Tendenz weißer Eltern ist, Schulen der gleichen Ethnie zu wählen. Diese Feststellung wird durch Karsten (1994), Karsten u. a. (2003) und Ladd u. a. (2009) verstärkt. Karsten (1994) weist darauf hin, dass in den Niederlanden nach Angaben von Schulleitungen, wenn der Anteil von Schülern aus Minderheiten 50 bis 60 Prozent überschreitet, dies »weiße Eltern veranlasst, ihre Kinder von der Schule zu nehmen und ihnen das niederländische Schulwahlsystem dazu jede Gelegenheit gibt, dies tun« (S. 211). In anderen staatlichen Schulsystemen, in denen die Eltern nicht über dieses Maß an Freiheit über die Schulauswahl verfügen, sind die wichtigsten Mechanismen für die soziale Selektion in den Schulen der Immobilienmarkt und die Umzüge in Gebiete mit ›besseren‹ Schulen, die oft die Schulen mit einem bevorzugten sozialen und ethnischen Mix sind. Dies ist vielleicht am deutlichsten in den USA zu erkennen, wo an innerstädtischen Schulen ethnische Minderheiten



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vorherrschen, während die Schulen in den Suburbs als Ergebnis unterschiedlicher Wohnstandortwahl eher von Weißen dominiert sind. Die Behauptung, alle ethnischen Minderheiten seien bildungsfern, wäre jedoch falsch. Im Gegenteil: Einige bringen sowohl in Großbritannien als auch in den USA besonders gute Leistungen im Bildungssystem – sowohl in der Schule als auch im College. Die bekanntesten darunter sind die Chinesen und Inder. In Großbritannien gibt es eine Hierarchie der Bildungsabschlüsse nach Ethnizität und Geschlecht mit chinesischen, indischen und anderen asiatischen Schülern und Schülerinnen an der Spitze, gefolgt von weißen Briten, Schwarzafrikanern, Pakistani und Bangladeschi sowie Schüler männlichen Geschlechts aus der Karibik am unteren Ende. In mancher Hinsicht ist die Existenz dieser Hierarchie insofern ermutigend, als sie deutlich zeigt, wie die Ranglisten der Leistung nicht durch weiße britische Schüler beherrscht werden. Im Gegenteil stammen die Schülerinnen und Schüler mit den höchsten Ansprüchen und der größtmöglicher Realisierung dieser Ansprüche (und mit einem niedrigen Niveau an Verhaltensproblemen) aus ethnischen Minderheiten. Andere ethnische Minderheiten finden sich indessen im unteren Bereich (Hamnett u. a. 2007). Dieser Umstand hat in Großbritannien zu einer hitzigen Debatte über die Ursachen einer solchen Hierarchie von Bildungsabschlüssen geführt. Im Lager der politischen Linken wird darauf hingewiesen, dass das Bildungssystem rassistisch sei, da nur die Kinder der schwarzen Bevölkerung schlecht abschnitten. Auf der politisch anderen Seite wird argumentiert, das Problem sei grundlegend kultureller Natur und stünde in engem Zusammenhang mit deutlichen ethnischen Unterschieden und sowohl den Aspirationen als auch dem Vorkommen von Alleinerziehenden und zerrütteten Familien. Auch einige farbige Pädagogen und politische Sprecher der schwarzen Bevölkerung vertreten die Ansicht, dass es verfehlt sei, ›die Schuld dem System zu geben‹. Ähnliche Debatten über die unterschiedlichen Erfolge ethnischer Minderheiten im Bildungssystem lassen sich in anderen Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden beobachten. In Deutschland gelten Türken als diejenige Gruppe mit viel höheren Schulabbrecherquoten. Die Studie Ungenutzte Potenziale des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (2009) ergab, dass 30 Prozent der Türken und derjenigen türkischer Herkunft keinen Schulabschluss besitzen und nur 14 Prozent das Abitur oder die letzte Prüfung, die zur Hochschulreife führt, ablegten – verglichen mit 50 Prozent in anderen Migrantengruppen. Man kann darüber diskutieren, ob diese Unterschiede immanente Faktoren der türkischen Einwanderungsgesellschaft spiegeln oder Faktoren

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innerhalb der deutschen Gesellschaft oder eine Kombination aus beiden – klar ist indessen, dass türkische Einwanderer wegen ihrer schlechteren Bildung weniger in der Lage sind, wirtschaftlich voranzukommen.

Wie die gesellschaftliche Reproduktion von Ungleichheit durch Bildung durchbrochen werden kann Das Problem, vor dem die politischen Entscheidungsträger stehen, lautet: Wie kann man das Muster der Bildungsungleichheit durchbrechen – insbesondere dort, wo es durch die residentielle Segregation tief im Schulsystem eingebettet ist. In demokratischen westlichen Gesellschaften mit ihrer Freiheit der Wahl des Wohnstandorts, sofern diese das Einkommen zulässt, ist es schlechterdings unmöglich, sich in großem Maßstab darauf zu verlegen, eine soziale Mischung beim Wohnen durch Sozialtechnologien (Social Engineering) herzustellen. Aber wenn Schulen die soziale Mischung in der Nachbarschaft widerspiegeln, dann perpetuiert dies soziale Spaltungen und damit Unterschiede in Chancen und Bildungsniveaus. Eine Alternative dazu ist es, durch busing, also den Transport mit Schulbussen, die Schüler von einem Schuleinzugsbereich zu einem anderen Bereichen zu bringen, was in den USA in den Versuchen der De-Segregation ausprobiert wurde. Dies ist nicht sehr beliebt. Ein anderer Lösungsansatz, den die eine oder andere Gemeinde in Großbritannien versuchsweise eingeführt hat, ist ein System der zufälligen Zuteilung auf Schulen – wobei Kinder nach dem Zufallsprinzip einer beliebigen Schule in einem Gemeindebereich zugeteilt werden, um mit einer Situation zu brechen, in der die Einzugsgebiete der Schulen lediglich die sozialen Merkmale ihrer Nachbarschaft spiegeln. Es gibt noch andere mögliche Ansätze, und im verbleibenden Teil meines Beitrags werde ich einige wichtige Aspekte der britischen Lösung skizzieren, die sowohl von New Labour als auch der derzeitigen Koalitionsregierung vorgeschlagen werden. Zunächst ist es jedoch wichtig, an das amerikanische Head-Start-Programm und an das britische Äquivalent Sure Start zu erinnern. Den Programmen liegt die Tatsache zugrunde, dass die Unterschiede in den schulischen Leistungen und Schulabschlüssen früh im Leben einsetzen, noch bevor die Kinder in die Grundschule gehen. Üblicherweise überträgt sich das niedrige Bildungsniveau der Eltern in den ersten Jahren auf die Kinder, wenn diese daran scheitern, grundlegende Lesefähigkeiten zu erwerben oder einen



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anspruchsvolleren Wortschatz zu entwickeln. Deswegen betrachtet man die Bildungsbenachteiligung als etwas, das bereits zu Hause beginnt und dann in der Grundschule verankert und durch Sekundarschule verstärkt wird. Daher besteht die Notwendigkeit, frühzeitig einzugreifen, um die grundlegende Lesefähigkeit benachteiligter Kinder durch bessere und kostengünstige Bildungsangebote in der Vorschulerziehung zu verbessern. Dies sind wertvolle Programme, die frühe, sozial bedingte Nachteile reduzieren, sie haben aber keinen Einfluss auf die Schulempfehlungen für das Gymnasium oder auf Unterschiede in der Schulqualität.

Die britische ›Lösung‹? Historisch gesehen hatte Großbritannien ein zweigliedriges System der Ausbildung, bei dem selektive Gymnasien die Crème de la Crème der fähigsten Schüler vom elften Lebensjahr an abzogen und ihnen die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs boten. Während sich dies in der Regel für die wenigen ausgewählten als sehr erfolgreich erwies, wurden die restlichen 80 Prozent zu Secondary Modern Schools verdammt, in denen man davon ausging, dass sie im Alter von 16 Jahren in die Welt der Routinearbeiten entlassen würden. Folglich schaffte die Labour-Regierung in den 1970er Jahren das binäre System ab und ersetzte es durch ein »integriertes« (comprehensive) System, bei dem Schüler aller Befähigungen in Nachbarschaftsschulen gingen. Damit war die Hoffnung verbunden, dass dies die Chancen für alle und nicht nur für ein paar Ausgewählte erweitern würde. In Wirklichkeit aber spiegelte und verstärkte die lokale Form der Rekrutierung in diesen Schulen schlichtweg die bestehenden Spaltungen der residentiellen Segregation, insbesondere in den großen Städten, mit ihrer klassenbedingten Segregation. Kinder in Arbeitervierteln gingen überwiegend auf Schulen der Arbeiterschaft und Kinder aus Mittelklasse-Nachbarschaften wechselten überwiegend auf MittelschichtSchulen. Dies führte in der Konsequenz zu einigen Gesamtschulen in den ärmeren Gebieten mit niedrigeren Bildungserwartungen und -niveaus als in Schulen in Mittelschichtgebieten. Muster der sozialen Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen wurden geografisch im Schulsystem reproduziert. Tony Blairs New Labour-Regierung brachte dieser Umstand im Jahr 1997 dazu, neue Wege zu suchen, wie höhere Standards in leistungsschwachen Schulen gefördert werden könnten. Dies war Teil einer der größeren

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Frage, wie die Standards der öffentlichen Dienstleistungen im Allgemeinen zu verbessern seien. Angesichts der politischen Orientierung der neuen Regierung überraschte es nicht, dass das Ergebnis ein Quasi-Marktmodell von ›Zuckerbrot und Peitsche‹ war, ein System von Zielvereinbarungen, Leistungsindikatoren und Sanktionen für schlechte Anbieter. Bezogen auf Bildung legte das Modell ein größeres Gewicht auf die elterliche Schulwahl, auf die Schaffung von mehr Akademien außerhalb des bestehenden kommunal dominierten Systems der Schulversorgung – ein gezielter Versuch, mit der Kultur der niedrigen Erwartungen und Leistung zu brechen und Schulen und ihre Leistungsstandards durch jährlich regierungsamtlich veröffentlichte Statistiken aus verschiedenen Jahren zu bewerten und diese Informationen zusammen mit den Ergebnissen der regelmäßigen Inspektionen zu veröffentlichen. Im Ergebnis ziehen die Eltern bei der Schulwahl zunehmend Vergleiche der Leistungsspiegel und Evaluationsergebnisse heran. Das Kalkül der Regierung ist, dass Eltern so zunehmend Schulen favorisieren, die als erfolgreich gelten, und sie Schulen vermeiden, von denen man meint, dass sie ›versagen‹ – und damit die Standards höher treiben (Butler/Hamnett 2010). Ein weiterer Aspekt dieser Perspektive liegt darin, dass das ›Scheitern‹ von Schulen unfähigen Lehrern und schlechtem Management von Schulleitern zugeschrieben wird. Wenn es also möglich ist, die Schulleiter durch solche zu ersetzen, die bereit sind, die Schulen voranzubringen, dann würden sich die schulischen Leistungen verbessern. Zwar ist die Qualifikation von Mitarbeitern wichtig, doch kann dieser Fokus auf das Management statt auf die soziale Zusammensetzung der Schüler auch als eine Ablenkung gesehen werden. Allerdings glaubt die Regierung, dass es einfacher ist, das Problem der schlechten schulischen Leistungen eher durch Veränderung des Schulethos anzugehen, als durch die Veränderung von Merkmalen der Schüler oder über die grundlegenderen Fragen des kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrunds, der sehr schwierig und teuer, wenn nicht unmöglich, zu ändern ist. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das Versagen von Schulen in erster Linie auf unfähige Lehrer oder Managementfehler zurückzuführen ist, wenn bei solchen Aussagen die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft nicht in Betracht gezogen wird. Dies klingt so, als seien Flugzeugabstürze auf das Versagen des Piloten zurückzuführen, statt auf die schlechte Qualität der Wartung, das schlechte Wetter usw. Die Vorstellung, dass die grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten durch Änderungen im Management und Selbstverständnis von Schulen angegangen werden können, scheint mir grundsätzlich problematisch zu sein.



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Während ein solches quasi marktförmiges System zumindest in der Theorie teilweise attraktiv sein mag, hat es in der Praxis doch mit Problemen zu kämpfen. Zunächst dürfen die Eltern Präferenzen für eine begrenzte Anzahl von Schulen auflisten (bis zu sechs in London), die innerhalb oder außerhalb ihrer lokalen Schulbehörde liegen können, aber sie erhalten keine Platzgarantie für eine ihrer bevorzugten Schulen in den hoch nachgefragten Bereichen Londons. Daher ist der Begriff der elterlichen ›Wahl‹ eine falsche Bezeichnung. Was schnell entsteht, ist eine Hierarchie der Schulen im Hinblick auf die wahrgenommene Attraktivität oder Beliebtheit, wo die Beliebtesten unter ihnen Anmeldungen im Verhältnis von acht bis neun zu eins pro Platz haben und die am wenigsten Beliebten (mit in der Regel schlechterem Bildungsniveau) Verhältnisse von eins zu eins oder sogar weniger aufweisen können. Zweitens bedeutet Mangel an Plätzen an den attraktiveren Schulen, gemessen an den Anmeldungen, dass die Schulen knappe Plätze rationieren müssen. Dies geschieht in der Regel über ein System der Zuteilung der Plätze auf der Grundlage von festgelegten Kriterien, deren wichtigstes die Entfernung des Wohnorts zur Schule ist. Das Ergebnis dieses Systems der Rationierung von Plätzen ist, dass die Plätze denjenigen angeboten werden, die am nächsten an der Schule wohnen, was in der Regel auf der Basis irgendeines GIS-Systems ermittelt wird. Das Ergebnis: Die Einzugsgebiete der begehrtesten und beliebtesten Schulen verkleinerten sich eher, da diejenigen Eltern mit finanziellen oder sonstigen Ressourcen Möglichkeiten fanden, eine Adresse innerhalb des Einzugsgebiets zu bekommen. In einigen Fällen kann dies bedeuten, dass das System ausgetrickst wird, indem Räume im Einzugsgebiet angemietet werden, so dass Eltern oder Verwandte diese als eigene Adressen angeben können usw. Am anderen Ende finden sich möglicherweise die am wenigsten beliebten Schulen, die mehr Plätze als Bewerber haben, in der Situation, dass die Kommune sie zum Ausgleich der enormen Unterschiede in Angebot und Nachfrage ausnutzen. Kinder, die es nicht auf eine der beliebten Schulen schaffen, weil sie nicht nah genug wohnen, könnten feststellen, dass sie einer unpopulären Schule viele Kilometer weiter entfernt zugeordnet werden, was oft mit einem umständlichen Schulweg verbunden ist. Generell liegen die besten Schulen mehr in Mittelschicht-Gebieten mit gutem Ausbildungsniveau. Die Eltern aus der Mittelschicht mit finanziellen Mitteln versuchen dann, sich in das Einzugsgebiet einzukaufen und überlassen denjenigen, die keine Ressourcen haben, die zugewiesenen Schulplätze, die übrig bleiben (Hamnett/Butler 2011).

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Das Ergebnis sei, so wird argumentiert, dass in East London dieses ›präferenzbasierte‹ Schulsystem durch die wohnungsbezogene Zuordnung der Schulplätze durch die lokalen Behörden, welche die knappen Plätze an den besten Schulen rationieren müssen, zu einer Reproduktion sozialer Vorteile und Nachteile geführt hat. Wer in der Nähe der beliebtesten Schulen lebt, bekommt mit höchster Wahrscheinlichkeit dort einen Platz; während diejenigen, die weiter weg wohnen, kaum berücksichtigt werden und möglicherweise Plätze an unbeliebten Schulen zugewiesen bekommen, die weiter entfernt liegen. Dies hat bei den Eltern zu einem hohen Maß an Unzufriedenheit mit diesem Verfahren und zu einer Vielzahl von elterlichen Strategien geführt, angemessene Schulen für ihre Kinder zu finden. Die Lösung des Problems durch die derzeitige Regierungskoalition besteht erstens darin, weiter die elterliche Schulwahl und das Recht von Eltern und anderen zur Gründung neuer Schulen zu betonen. Zweitens wird die Weiterentwicklung des Academy-Programms vorangetrieben, das versucht, neue Schulen insbesondere in benachteiligte Gebieten zu bringen, die nicht unter den Reputationsproblemen der bestehenden leistungsschwachen staatlichen Schulen leiden. Diese Schulen starten den Schulbetrieb ohne solche Vorbelastungen und stellen hohe Anforderungen an das Verhalten der Schüler und das Engagement der Eltern und behalten sich das Recht vor, störende Schüler von der Schule zu verweisen. Derzeit gibt es an vielen dieser Schulen eine hohe Nachfrage nach Plätzen, aber ob ihr Ausbildungsniveau sich verbessert, bleibt abzuwarten. Wenn dies gelingt, könnte es eine erfolgreiche Lösung der Bildungsungleichheit sein. Es besteht jedoch das Risiko, dass die Akademien die bestehenden Ungleichheiten einfach in einer neuen Form reproduzieren. Die neue Koalitionsregierung hat weiter die Marktlösung vorangetrieben, indem sie es begrüßt, dass Eltern und anderen Gruppen ihre eigenen Schulen einrichten, um die Unzulänglichkeiten der lokalen staatlichen Schulen zu vermeiden. Das grundsätzliche Problem bei dieser Vorgehensweise ist, dass es wahrscheinlich zu einer größeren sozialen Selektivität führt, bei der wohlhabendere und pro-aktive Eltern aus der Mittelschicht Schulen einrichten, die für privilegierte Kinder sorgen, so dass Kinder aus benachteiligten Schichten und Gebieten in einem zunehmend marginalisierten staatlichen Sektor untergebracht werden. Dies könnte eine Form der Bildungs-Privatisierung unter einem anderen Namen sein. Ob es die Probleme der sozialen und ethnischen Ungleichheit in der Bildung löst, bleibt abzuwarten.



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Schlussfolgerungen Städtische Reformer und diejenigen, die sich mit sozialer Ungleichheit beschäftigen, haben durchgängig argumentiert, dass Bildung der Schlüssel für den sozialen Aufstieg und für die Verringerung von Ungleichheit sei. Ohne Bildung oder mit nur begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten ist es für Menschen aus armen, benachteiligten Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, sich von den Zwängen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe zu befreien. In einer idealen Welt würden alle Kinder, unabhängig davon, wo sie leben, gleiche Bildungschancen haben. In Wirklichkeit aber ist das selten der Fall. Einer der wichtigsten Einflüsse auf die Bildungschancen und -abschlüsse ist der Einfluss des sozialen Klassenhintergrunds. Kinder aus Arbeiterfamilien haben tendenziell niedrigere Schulabschlüsse als Kinder aus Familien der Mittelschicht. Dafür gibt es viele Gründe, etwa der Hintergrund, kulturelle Erwartungen, Ansprüche und die Verfügung über Lernmittel, einschließlich der Frage, ob es zuhause Bücher gibt. Ich selbst wuchs in einem Haus fast ohne Bücher auf und weiß, was das bedeutet. Doch sind die Unterschiede in Bildungschancen, Bildungsabschlüssen und Benachteiligung nicht nur ein Ergebnis der individuellen Klassenposition oder des ethnischen Hintergrunds. Sie sind auch eine Folge der sozialen Zusammensetzung der Schüler und des Erwartungshorizonts der verschiedenen Schulen. In Schulen, die nach hochgesteckten Zielen streben, wo schulische Leistung geschätzt wird und wo die soziale Zusammensetzung der Schüler höhere Leistung fördert, ist die Schulleistung wahrscheinlich höher als in Schulen, die Schüler aus niedrigen sozialen Schichten aufnehmen und geringere Ansprüche stellen. Im britischen Kontext bedeutete das zweigliedrige Bildungssystem der Grammar und Secondary Modern Schools, das bis in die späten 1970er Jahre bestand, dass die Minderheit der befähigteren Kinder, die für Gymnasien ausgewählt wurden, hochgradig privilegiert war – verglichen mit der Mehrheit, die auf Secondary Modern Schools geschickt wurde und damit wohl zu einer Laufbahn des Scheiterns verurteilt war. All dies sollte sich mit der Einführung des Gesamtschulsystems in Großbritannien ändern, hat aber zur Reproduktion residentiell geprägter sozialer Unterschiede im Schulsystem geführt. Ein Hauptproblem liegt darin, dass die Organisation und Struktur des Systems der Schulausbildung häufig das Muster sozialräumlicher und ethnischer Segregation widerspiegelt. Schulen in begünstigten Gebieten der

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Mittelschicht, die ihre Schüler weitgehend aus diesen Gebieten beziehen, schneiden erwartungsgemäß besser ab als die Schulen in armen Wohngegenden der Arbeiterschaft oder in Einwanderungsvierteln. Zuteilungssysteme, die auf der Grundlage der Entfernung zur Schule rekrutieren, reproduzieren generell Muster von sozialräumlichen Vor- und Nachteilen. Ob und wie man versuchen könnte, diese räumlich eingeschriebenen Muster sozialer Ungleichheit aufzubrechen, stellt eines der großen Dilemmata der Politik dar. In den USA wurde mit der Politik des busing versucht, Schüler aus benachteiligten Quartieren an begünstige Schulen zu bringen und umgekehrt, aber das war sehr unbeliebt, vor allem bei den Eltern in begünstigen Gebieten, die hinnehmen mussten, dass ihre Kinder in der ganzen Stadt auf schlechtere Schulen verteilt wurden. Eine andere Lösung bestand in der Verlosung von Schulplätzen, aber auch dies erwies sich bei Eltern und Schülern als sehr unbeliebt, die in der Nähe von guten Schulen wohnten, denen aber auf der anderen Seite der Stadt Plätze an schlechteren Schulen zugewiesen und lange Fahrten zugemutet wurden. Es hat sich als schwierig erwiesen, die sozialen und räumlichen Ungleichheiten in der Bildung aufzubrechen; mögliche Lösungen blieben sozial und politisch problematisch. Die Bedeutung der Geografie in der Reproduktion von gekoppelter sozialer und schulischer Ungleichheit ist ein wichtiges Thema geblieben. Übersetzung aus dem Englischen von Uwe-Jens Walther. Der Übersetzer dankt Penny Franks und Wolf Hopf für kritische Durchsicht und wertvolle Hinweise.

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II. Potenziale

Produktion zurück in die Stadt? Dieter Läpple

1. Polarisierung der Stadtentwicklung Unsere Gesellschaft und unsere Städte haben sich in den letzten 30 Jahren tiefgreifend verändert. Während die gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst auf eine Integration der unteren Schichten in die »Mitte« hinauszulaufen schien, zeigen sich seit rund 30 Jahren Konturen einer neuen Fragmentierung der Gesellschaft. Diese hat sich inzwischen zu einer Polarisierung der Stadtentwicklung verdichtet. Seit Anfang der 1980er Jahre ist die Arbeitslosigkeit in den deutschen Großstädten zum ersten Mal seit Beginn der Industrialisierung höher als auf dem Land. Insbesondere der hohe Anteil von Dauerarbeitslosigkeit in einigen Stadtquartieren verweist auf tiefgreifende strukturelle Probleme. Eine wesentliche Ursache dafür ist der vor allem mit der Globalisierung und der Einführung neuer Technologien verbundene Abbau von Arbeitsplätzen in der industriellen Produktion, von dem insbesondere Migranten betroffen waren, die ja als »Gastarbeiter« für genau diese Arbeitsplätze im Nachkriegsboom angeworben wurden. Dem Verlust von Arbeitsplätzen in den Bereichen der industriellen Fertigung sowie in traditionellen Dienstleistungen wie Transport und Verkehr stand zwar ein Wachstum in den meist höherwertigen Dienstleistungstätigkeiten gegenüber. So entstanden in Bereichen wie Beratung, Finanzierung, Werbung und Medien, Forschung und Entwicklung, EDV, Versicherungen sowie Bildung und Gesundheit neue Arbeitsplätze, in etwas geringerem Maße wuchs die Beschäftigung in unqualifizierten und gering entlohnten Dienstleistungen wie Reinigung, Bewachung oder Gastronomie – und damit die Zahl prekärer Beschäftigungen. Da sich durch Zuwanderung und vor allem durch die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit gleichzeitig das Arbeitskräfteangebot erhöht hat, kam es zu einer folgenreichen Entkopplung von Beschäftigungsentwicklung und Arbeitslosigkeit. Der zusätzliche

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Arbeitskräftebedarf wurde immer weniger aus dem Arbeitslosenbestand gedeckt, da die neuen städtischen Dienstleistungsökonomien andere, überwiegend höhere Qualifikationsanforderungen haben. Die Menschen, die in der Industrie ihren Arbeitsplatz verloren haben, wurden vielfach dauerhaft in die Arbeitslosigkeit abgedrängt. Insgesamt hat sich die Absorptionsfähigkeit städtischer Arbeitsmärkte am unteren Qualifikationsbereich gravierend verengt. Der Arbeitsmarkt bleibt den Verlierern des wirtschaftlichen Strukturwandels und zunehmend auch Migranten weitgehend verschlossen. Ein möglicher Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingt, wenn überhaupt, oftmals nur noch in einfachsten, meist prekären Dienstleistungstätigkeiten mit sehr begrenzten Aufstiegsoptionen. Sowohl der höhere Anteil von Arbeitslosen als auch die größere Ungleichheit der Einkommen beförderten eine Tendenz zur sozialen Polarisierung, die sich in der sozialräumlichen Struktur der Städte niedergeschlagen und verfestigt hat. Besonders betroffen von dieser Entwicklung waren und sind bis heute die traditionellen Arbeiterquartiere. Sie wurden vor allem mit den negativen Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels konfrontiert. Hier blieben Menschen ohne Arbeit zurück, und hier konzentrierten sich die Altlasten des Industriezeitalters. Durch einen schrittweise liberalisierten Wohnungsmarkt wurde die wachsende Zahl von städtischen Armen (Seils/Meyer 2012) in die Quartiere gedrängt, in denen sich die sozialen und ökologischen Probleme konzentrieren. In den meisten Fällen weisen diese Quartiere auch einen überdurchschnittlichen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund auf. Die dort noch verbliebenen einheimischen Mittelschichten und vielfach auch die sozialen Aufsteiger aus den Migrantenmilieus zogen weg, wodurch sich die Segregation der sozial randständigen Bevölkerung verschärfte. Mit dieser Entwicklung bildet sich eine ethnisch und kulturell sehr divergente Bevölkerung heraus, die jedoch sozialstrukturell relativ homogen ist. In allen großen Städten sind solche Prozesse einer »Residualisierung« von Stadtteilen mit einer hohen sozialen Problemdichte zu beobachten. (Häußermann 2011: 82 ff.) Aus den multiplen und kumulativen Benachteiligungen entsteht ein sich selbst verstärkendes Milieu immer geringerer gesellschaftlicher Teilhabe. Und je geringer die gesellschaftliche Teilhabe ist, umso mehr ziehen sich die verschiedenen ethnischen Gruppen in mehr oder weniger geschlossene Lebenswelten zurück, die man auch »ethnische Kolonien« nennen kann. Kurz: Es entfalten sich sozialräumliche und kulturelle Kontexte, die die Lebenschancen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen zusätzlich beein-



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trächtigen und die eine ökonomische Revitalisierung erschweren. Die Städte müssen entschiedene Anstrengungen unternehmen, um derartige Abwärtsspiralen zu stoppen. Seit Ende der 1990er Jahre zeichnet sich für die Großstädte in Deutschland eine Trendveränderung ab, die als Renaissance der Stadt bezeichnet werden kann. (Läpple 2003 und Häußermann/Läpple 2008) Anzeichen dafür sind ein verstärktes Wachstums von Arbeitsplätzen in den Städten und die Abnahme der Abwanderungen ins Umland. Die sozialen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse wirken wieder zugunsten der Städte, und das Umland verliert seine Attraktivität für junge Familien. Allerdings führen diese vor allem über Marktprozesse vermittelten Entwicklungen nicht unmittelbar zu einer Verbesserung der Situation in den benachteiligten Quartieren. Im Gegenteil: Durch die mit der Reurbanisierung verbundenen Verdrängungsoder Gentrifizierungsprozesse in den innenstadtnahen Altbauquartieren werden ärmere Haushalte in periphere Bereiche der Stadt abgedrängt. Dadurch wandert die Armut an den Stadtrand. Die Stadt wird noch stärker fragmentiert und polarisiert, sofern nicht gesamtstädtisch gegengesteuert wird, und zwar sowohl in Szenestadtteilen als auch in den benachteiligten Stadtteilen. Die Polarisierung der Stadtentwicklung und die damit verbundene Herausbildung von benachteiligten Stadtteilen haben komplexe, multidimensionale Ursachen. Neben der Bevölkerungsentwicklung kommt jedoch der städtischen Ökonomie und insbesondere dem Arbeitsmarkt – der mit dem Bildungssystem in einem sehr engen Zusammenhang steht – eine zentrale Rolle zu. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor die zentrale Arena, in der die Entscheidungen über die Lebenschancen der Menschen, über die Möglichkeiten ihrer persönlichen Lebensführung sowie ihrer sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe fallen.

2. G  lobalisierung und Tertiarisierung – unaufhaltsame Kräfte des Strukturwandels? Es ist schon vielfach darauf hingewiesen worden, dass diese neuen Formen sozialer Ungleichheit und die Polarisierung der Stadtentwicklung mit der zunehmenden Globalisierung und der Tertiarisierung der Ökonomie verbunden sind. (Häußermann u. a. 2008: 165 ff.) Allerdings wurde von anderen

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Autoren auch lange Zeit die Lösung der städtischen Beschäftigungsprobleme vor allem in einer Stärkung der Dienstleistungen und durchaus auch in einer Stärkung der globalen Ausrichtung der städtischen Wirtschaft gesehen. Globalisierung ist ein viel diskutierter Topos. Damit wird eine Vielfalt realgeschichtlicher Transformationsprozesse beschrieben, die mit einer zunehmenden internationalen Vernetzung und gegenseitiger Durchdringung von Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik verbunden sind. Besonders prägend für die neuen Muster der Globalisierung war der außerordentlich starke Anstieg ausländischer Direktinvestitionen, also der Export von Kapital, sowie die Globalisierung der Finanzmärkte. Nachdem jahrelang in der öffentlichen Diskussion der Globalisierung der Charakter einer unaufhaltsamen kausalen Kraft zugeschrieben wurde, werden angesichts der tiefgreifenden Krise des internationalen Finanzsystems Fragen nach einem möglichen Scheitern der Globalisierung gestellt (Schuman/Grefe 2008) und Forderungen einer politischen Reregulierung der Weltwirtschaft erhoben (Stiglitz 2011). Globalisierung wird heute eher als Bedrohung denn als Chance gesehen. Gleichwohl haben Städte lange Zeit versucht, sozusagen die Flucht nach voranzutreten. Fast alle Großstädte setzten auf den forcierten Aufbau und die Förderung globalorientierter Leitsektoren oder Cluster und den Ausbau ihrer City als möglichen Standort für Kontroll- und Steuerungsfunktionen beziehungsweise Knoten globaler Informations- und Wertschöpfungsnetzwerke. Bei dieser globalen Ausrichtung der Stadtpolitik wird – mehr oder weniger bewusst – unterstellt, dass die außenorientierten Wirtschaftsbereiche auf die anderen Bereiche der Stadt ausstrahlen und diese »huckepack« in die wirtschaftliche Dynamik einbeziehen. Angesichts der anhaltenden Arbeitslosigkeit in den Städten und ihrer Konzentration und Verfestigung in benachteiligten Stadtteilen wird seit einiger Zeit über lokale Ökonomie wieder verstärkt nachgedacht.1 Es wird zunehmend erkannt, dass Globalisierung nicht eine rein »exogene« Kraft ist, sondern vor allem zu einer Intensivierung eines »global-local-interplay«, also einer wachsenden Durchdringung globaler und lokaler Entwicklungsdynamiken führt (Läpple 2000). Ehe auf das Konzept der lokalen Ökonomie 1 Im Rahmen des Bund-Länder-Programms »Soziale Stadt«, in mehreren EU Initiativen und Programmen wie z. B. URBAN oder auch in dem Rahmenprogramm »Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE)« der Freien und Hansestadt Hamburg nimmt das Konzept der Lokalen Ökonomie eine wichtige Stelle ein.



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eingegangen wird, zunächst noch einige Anmerkungen zur zweiten Kraft des gegenwärtigen Strukturwandels, der Tertiarisierung, die eng mit der Globalisierung verbunden ist. Tertiarisierung wird in der Tradition von Colin Clark, Jean Fourastié und Daniel Bell als Prozess der Herausbildung einer Dienstleistungsgesellschaft beschrieben. Die Rolle der Tertiarisierung für den Arbeitsmarkt charakterisieren die beiden Ökonomen Reuter und Zinn in einem neueren Beitrag wie folgt: »Die empirischen und theoretischen Befunde deuten darauf hin, dass Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang zukünftig nur noch im Dienstleistungssektor zu schaffen sind.« (2011: 466) Vor dem Hintergrund seiner amerikanischen Erfahrungen vertritt der Havard-Ökonom und Professor an der Humboldt Universität Burda eine ähnliche Position, die er zugleich mit einer sehr entschiedenen Empfehlung verbindet: »Jedes Land muss sich der Herausforderung der postindustriellen Gesellschaft stellen, es kann nicht herumgeredet, noch kann sie aufgehalten werden.« (1997: 820) Für das – seiner Ansicht nach – industrielastige Deutschland forderte Burda ein Umdenken: »[…] vor allem vom Merkantilismus weg, der behauptet, dass das wirtschaftliche Überleben eines Landes eine produzierende Industrie voraussetzt« (ebd.). Dienstleistungen charakterisiert er als »Jobmaschine«: »Die Dienstleistungsgesellschaft bietet den fortgeschrittenen Industrieländern einen Ausweg aus der Beschäftigungskrise. Dienstleistungsjobs bieten mehr menschliche Kontakte, mehr Flexibilität und mehr Möglichkeiten zu Teilzeitarbeit.« (1997: 820) Man kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten, dass gegenwärtig in den USA eine breite Diskussion über die Möglichkeiten einer Reindustrialisierung geführt wird. Dabei nimmt Deutschland mit seinem – im Vergleich zu anderen hochentwickelten Ländern – noch relativ großen und international erfolgreichen Industriebereich implizit die Rolle eines Vorbilds ein. Präsident Obama hat in seiner »State of the Union Adress« vom Januar 2012 der Industrie eine Schlüsselrolle bei einer Revitalisierung der Wirtschaft zugewiesen. Im Zusammenhang mit der Diskussion über eine Reindustrialisierung entfaltet sich in den USA gegenwärtig auf städtischer Ebene eine breite Diskussion über Möglichkeiten und Perspektiven von urban manufacturing. Mit der Weltwirtschaftskrise hat sich in vielen Städten die einseitige Ausrichtung ihrer Ökonomien auf global orientierten Dienstleistungen als äußerst problematisch erwiesen. In diesen Diskussionen über urban manufacturing geht es sowohl um die Frage einer Stärkung lokal eingebetteter Ökonomien als auch um die Frage einer Stärkung ihrer Diversität

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durch die Reintegration von Produktionsfunktionen. Produktion zurück in die Stadt in einer postindustriellen Gesellschaft, ist dies eine realistische Perspektive? Ehe diese Frage diskutiert wird, zunächst einige Überlegungen zur lokalen Ökonomie.

3. Lokal eingebettete Ökonomien als Hoffnungsträger2 Im Kontext der sozialökonomischen Wandlungsprozesse kam es insgesamt zu einer funktionalen Ausdünnung der Städte. Immer mehr Produktionsfunktionen sind aus der Stadt verschwunden und vor allem die inneren Bereiche der Stadt wurden zu Orten des Konsums und zu Standorten hochwertiger Dienstleistungen. Gleichzeitig verdichten sich die sozialen Probleme in benachteiligten Quartieren. Wenn Arbeitslosigkeit und Armut sich in bestimmten Stadträumen so hartnäckig behaupten, liegt es nahe – auch unter Bedingungen einer global ausgerichteten Ökonomie – zu fragen, ob über die Förderung des lokalen Gewerbes die Beschäftigungs- und Lebensperspektiven der Menschen im Stadtteil, insbesondere auch die der ausgegrenzten Problemgruppen, verbessert werden können. In einem deskriptiven Zugang können die folgenden (sich zum Teil überlappenden oder miteinander verknüpften) Bereiche der lokalen Ökonomie zugeordnet werden: –– die marktorientierten Stadtteil- und Quartiersbetriebe einschließlich der Migrantenökonomie (u. a. Kleinbetriebe des Handwerks, des Einzelhandels, der Gastronomie, des Gesundheitswesens); –– der lokal ausgerichtete Bereich von Nonprofit-Organisationen (»Dritter Sektor«) und Formen einer »sozialen Ökonomie« mit Betrieben und Projekten, die Dienst- und Wohlfahrtsleistungen anbieten, die nicht über den Markt oder durch die öffentliche Hand bereitgestellt werden (z. B. in den Bereichen Pflege und Gesundheit, Erziehung und Kinderbetreuung, Kultur, Sport); –– öffentlich finanzierte lokale Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen, die vielfach verknüpft sind mit der sozialen Ökonomie. 2 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Beitrag zur lokalen Ökonomie, der für die IBA Hamburg geschrieben wurde (Läpple 2013).



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Diese Bereiche – insbesondere die Stadtteil- und Quartiersbetriebe – bieten wohnungsnahe Arbeits-, Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten und erfüllen damit wichtige Aufgaben der sozialen Integration und Sozialisation. Mit ihren überwiegend auf den Lebensalltag ausgerichteten Produktions-, Dienstleistungs- und Wohlfahrtsangeboten prägen sie die Versorgungsqualität, Nutzungsvielfalt und urbane Kultur von Stadtteilen. Mit dem Begriff der lokalen Ökonomie werden sehr unterschiedliche sozialökonomische Phänomene bezeichnet, deren Abgrenzung gegenüber nicht lokalen Bereichen kaum möglich ist. Vor allem die marktvermittelten Stadtteil- und Quartiersbetriebe werden trotz ihrer lokalen Orientierung in vielfältiger Weise von überregionalen und globalen Bezügen beeinflusst. In diesem Sinne wäre es weniger missverständlich, statt von einer – wie immer abzugrenzenden – lokalen Ökonomie von einer lokal verankerten oder lokal eingebetteten Ökonomie zu sprechen (Läpple/Walter 2003; Läpple 2005). Dieses Konzept hebt auf die lokalen Einbettungsformen ökonomischer Prozesse ab. Art und Intensität der lokalen Einbettung sind allerdings in den verschiedenen Bereichen der lokal verankerten Ökonomie unterschiedlich ausgeprägt: Für wohnungsnahe Kleinbetriebe des produzierenden und reparierenden Handwerks sind vielfach die Verfügbarkeit von bezahlbaren, kleinteiligen Gewerberäumen in einem differenzierten städtischen Nutzungsgefüge sowie der Kontakt zu möglichen Kooperationspartnern von zentraler Bedeutung. Die entscheidende Existenzbedingung kann aber auch der lokale Absatzmarkt sein – zum Beispiel bei einigen Bereichen des Einzelhandels. Häufig kommen auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieser Betriebe aus dem Quartier und manchmal wohnen die Betriebsinhaber im selben Gebäude, in dem sich die Werkstatt oder der Laden befinden. Für die lokal eingebettete Ökonomie ist der Stadtteil kein neutraler Standort, sondern er bildet ein Wirkungsfeld, das mit vielfältigen Synergien oder auch möglichen Entwicklungsblockaden verbunden ist. Zwischen dem Stadtteil und den lokal eingebetteten Ökonomien gibt es vielfache Wechselbeziehungen. Vereinfacht könnte man sagen: Die lokalen Ökonomien haben eine zentrale Bedeutung für die Lebens- und Arbeitsqualität des Stadtteils, zugleich sind die lokalen Ökonomien vom Stadtteil abhängig. Die Abhängigkeit kann positiv oder negativ sein. Aus dieser Wechselbeziehung ergeben sich also nicht nur Chancen, sondern – vor allem bei benachteiligte Stadtteilen – auch Entwicklungshemmnisse. Manche Stadtteile bieten z. B. aufgrund ihrer Monofunktionalität keine geeigneten Gewerberäume oder die lokale Kaufkraft ist schon so weit ausgedünnt, dass für die Entfaltung

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einer marktorientierten Stadtteilwirtschaft kaum mehr die erforderliche kritische Masse vorhanden ist. Besonders ausgeprägt können solche quartiersbedingten Entwicklungsblockaden in Migrantenökonomien sein (Becker 2007). Wenn beispielsweise die Unternehmensgründung als Reaktion auf die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt erfolgte und das Unternehmen aufgrund der fortgeschrittenen Segregierung der Quartiersbevölkerung vor allem von der Kaufkraft der eigenen Ethnie abhängig ist, kann sich dies zu einer existenzbedrohenden Falle entwickeln. Es besteht die Gefahr, dass die prekäre Arbeitsmarktsituation abgelöst wird durch eine noch prekärere Unternehmenssituation, die im Ruin endet (Leicht 2005). Im Bereich der lokal eingebetteten Ökonomien haben wir es in der Regel mit atypischen Betrieben und Organisationsformen zu tun (z. B. vormodernen »ethnischen« Betrieben oder »postmodernen« Partnerschaften (Läpple/ Walter 2003)), deren Problemlagen, Handlungsmuster und Entwicklungsperspektiven nicht nur von der Logik des Marktes und den Förderprogrammen der öffentlichen Akteure bestimmt werden, sondern auch von informellen Arrangements und kulturellen Normen. Aus den spezifischen Formen ihrer sozialen Einbettung sowie der »Kulturalisierung« dieser Ökonomien resultieren besondere Herausforderungen für Strategien der Bestandspflege, der Entwicklung und Vernetzung. Es genügt nicht, die traditionelle Wirtschaftsförderung auf die lokale Ebene auszurichten, sondern es müssen Handlungskonzepte entwickelt werden, die sich auf die sozialen und kulturellen Kontexte der verschiedenen Arbeitswelten der lokal eingebetteten Ökonomie einlassen. Das Konzept der lokal verankerten Ökonomie thematisiert nicht nur die spezifischen Bezüge zum lokalen Kontext, sondern zugleich auch das Spannungsverhältnis zwischen lokalen Einbettungsformen und überregionalen Wirkungszusammenhängen. Aus diesem Spannungsverhältnis können sich Probleme ergeben, z. B. ein überregionaler Wettbewerbsdruck. Es können sich aber auch wichtige Entwicklungschancen eröffnen, z. B. durch Innovationstransfers und insbesondere durch Kaufkraftzufluss und über neue Akteure von außerhalb. In benachteiligten Stadtteilen ist manchmal das Potential für die Entwicklung einer lokal verankerten Ökonomie schon so weit ausgedünnt und der Druck einer verfestigten Arbeitslosigkeit so groß, dass nur noch die Perspektive der Förderung einer staatlich alimentierten sozialen Ökonomie möglich ist. Entscheidend ist allerdings, dass auch in solch schwierigen Situationen versucht wird, beschäftigungspolitische Brücken zum »Ersten Arbeitsmarkt«



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und vor allem Übergänge aus dem Quartier in die umliegenden Stadtteile und in die Gesamtstadt zu bauen. Mit solchen Brücken-Strategien muss versucht werden zu verhindern, dass die benachteiligten Stadtteile noch mehr isoliert werden und sich bestehende ökonomische Segmentierungen und soziale Ausgrenzungen lokal verfestigen. In den strukturschwachen Stadtteilen und Wohnsiedlungen muss der strategische Fokus deshalb auf einer Aufwertung und der Öffnung der räumlichen, sozialen und ökonomischen Strukturen liegen und eine (Wieder-) Eingliederung der Unternehmen, der Beschäftigten und Arbeitssuchenden in überlokale Kreisläufe und Entwicklungszusammenhänge angestrebt werden. Im Wesentlichen geht es darum, Übergänge zu ermöglichen und zu erleichtern: aus der Schule in den Beruf, aus geförderten Arbeitsverhältnissen in den ersten Arbeitsmarkt, aus den begrenzten Bezügen der Nachbarschaft in den größeren Einzugsbereich der Stadt und Region. Es gibt keine geschlossene Vision, die den richtigen Weg für eine Stärkung lokaler Ökonomien weisen könnte. Wichtig ist eine Sensibilität für die Möglichkeiten lokaler Entwicklungsstrategien, ein Aufspüren und eine gute Einschätzung der lokalen Potenziale sowie intelligente Vernetzungsstrategien. Es kommt darauf an, Projekte zu entwickeln, die Anregungen geben zum Anders-Machen, die Lernprozesse stimulieren und die die lokale sozialökonomische Vielfalt und die Handlungsoptionen erhöhen. Entscheidend ist jedoch auch ein klares politisches Commitment der Stadt, für derartige Zukunftsinvestitionen die nötigen Ressourcen bereitzustellen. Abschließend soll dieser Handlungsansatz verdeutlicht werden anhand eines Projektes, das im Rahmen der IBA Hamburg entstanden ist, dem »Textilen Werkhof« in Wilhelmsburg. Der »Textile Werkhof« ist eine Plattform verschiedenster Akteure aus dem Bereich Mode, Textil und Produktdesign. Diese Plattform wird getragen von Aus- und Weiterbildungsträgern, Beratungsunternehmen der lokalen Wirtschaft, der Designabteilung einer Hochschule und der IBA. Standort ist eine alte Fabrik mitten im Stadtteil. Den Kern des Projektes bildet die Textilwerkstatt »NähGut«, die zwei unterschiedliche Welten verknüpft: ein berufliches Integrationsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen, die z. B. in einem Sozialprojekt Kostüme für Schultheater nähen, und ein kommerzielles Textilatelier, in dem für private Kunden Einzelanfertigungen oder ganze Kollektionen produziert werden. Durch die Verknüpfung dieser beiden Welten können Menschen aus den geförderten Arbeitsgelegenheiten in frei finanzierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze wechseln. Mit dem Aufbau des »Textilen Werkhofs« soll diese

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Arbeitsweise gestärkt werden, wozu weitere Aus- und Weiterbildungsträger als Mieter in die Fabrik geholt werden. Gleichzeitig werden Kooperationen mit Schneiderwerkstätten, Designstudios, Künstlern, Kleiderkammern und anderen Textilprojekten in der Region gesucht. Durch eine Bündelung von Kompetenz – wie besondere Verarbeitungstechniken – kann ein attraktives Leistungsspektrum für Auftraggeber wie Theater oder Designer angeboten werden. Ein weiterer Bestandteil des »Textilen Werkhofs« ist der co-workingspace. Mode- und Textildesigner können stunden-, tage oder monatsweise hochwertige Arbeitsplätze, z. B. mit Industriemaschinen, anmieten. Dazu kommen Existenzgründungsseminare und Weiterbildungsworkshops. Insgesamt ist es eine crossover-Strategie zur Förderung und Aufwertung der sozial-ökonomischen Basis des Stadtteils durch die Vernetzung von marktorientierter lokaler Ökonomie in der Form einer Manufaktur, sozialer Ökonomie, lokaler Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen, Kultur- und Kreativwirtschaft und sozialer Stadtentwicklung (Eich 2013).

4. »Urban manufacturing« – ein Ausweg aus der postindustriellen Sackgasse? In den USA ist schon lange bekannt, dass die Dienstleistungsökonomie mit einer starken Zunahme der Einkommensspreizung verbunden ist. Allerdings bestand noch lange Zeit die Hoffnung, Dienstleistungen hätten die Rolle einer Jobmaschine und wären zugleich eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. In einem kritischen Rückblick formuliert der amerikanische Politologe Francis Fukuyama die Probleme dieser Entwicklungsstrategie wie folgt: »Wir dachten, der Globalisierung nur Herr werden zu können, indem wir gar nichts mehr produzieren und lieber Dienstleistungen anbieten.« (Fukuyama 2012: 86) Als Folge dieser Entwicklung klafft heute die Einkommensschere in den USA so weit auseinander wie nie zuvor, und die Mittelklasse ist einer Erosion unterworfen. Die Branchen der verarbeitenden Industrie, über die früher immer genügend Leute den Einzug in die Mittelklasse geschafft haben, sind – so Fukuyama – »längst in chinesischer Hand« (2012: 88). Zu den Problemen der krassen Einkommensunterschiede, dem Versagen der Jobmaschine und dem Verschwinden der Mittelklassejobs kommt noch



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die hohe Krisenanfälligkeit dieser Dienstleistungsökonomien. Auf das wohl gravierendste Problem einer postindustriellen Entwicklung verweisen u. a. Gary Pisano und Willy Shih: die zunehmende Erosion der Innovationsfähigkeit. Die beiden Professoren der Harvard Business School sprechen von der Erosion der »industriellen Allmende« (»erosion of the industrial commons«) als Folge der »destruktiven Auslagerungen« von Fertigungsfunktionen (Pisano/Shih 2009). Die Strategie, immer mehr Fertigungsfunktionen in asiatische Länder zu verlagern und die wichtigen Forschungs-, Entwicklungs- und Entwurfskompetenzen in den USA halten zu wollen, ging nicht auf. Den asiatischen »Lohnfertigern« ist es über die Jahre gelungen durch den Aufbau eigener Forschungs- und Entwicklungskompetenzen, nicht zuletzt mit massiver staatlicher Unterstützung, immer größere Bereiche der industriellen Wertschöpfungskette zu kontrollieren. Heute haben die USA nicht nur die Fähigkeit verloren, anspruchsvolle High-Tech-Produkte zu produzieren, sondern verlieren zunehmend auch ihre Kompetenz und Konkurrenzfähigkeit auf dem Gebiet von Entwicklung und Entwurf komplexer Produkte.3 Nach einer Meldung von The Washington Post (Plumer 2013) gründen inzwischen chinesische High-Tech-Unternehmen in Amerika Fertigungsstätten, um sich den amerikanischen Absatzmarkt zu sichern – so beispielsweise der chinesische Computerhersteller Lenovo oder das – wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen – berüchtigte Elektronikunternehmen Foxconn. Diese hier kurz skizzierten Probleme einer postindustriellen Ökonomie konzentrieren sich in potenzierter Weise in den Städten und bilden den Hintergrund der Diskussionen über urban manufacturing. Eine gute Übersicht zu dieser Diskussion bietet ein Forschungsbericht des Pratt Center und der Brookings Institution (Byron/Mistry 2011), in dem vor allem die zentrale Rolle von kleinen städtischen Fertigungsbetrieben, der sogenannten »SUMs« (small urban manufacturers) betont wird. Die Autoren sehen in den Netzwerken dieser kleinen, spezialisierten Unternehmen, die eingebettet sind in städtische Kontexte, eine wichtige Basis für die Entwicklung der »nächsten 3 Die beiden Autoren fassen die Ergebnisse Ihrer Studie wie folgt zusammen: »Decades of outsourcing manufacturing has left U.S. industry without the means to invent the next generation of high-tech products that are key to rebuild its economy.« (Pisano/Shih 2009: 2) Diese Gefahren einer postindustriellen Dienstleistungsökonomie haben Stephen Cohen und John Zysman in ihrem Buch: Manufacturing Matters – The Myth of the Post-industrial Economy bereits vor einem Vierteljahrhundert vorausgesagt: »Manufacturing is critical to the health of the economy; lose manufacturing and you will lose – not develop – highwage service jobs.« (Cohen/Zysman 1987: XIII)

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Ökonomie« der Städte: einer Ökonomie, die nicht mehr getrieben ist von Konsum und Schulden, sondern fokussiert ist auf Produktion und getrieben wird durch Innovationen. Diese neue städtische Ökonomie soll vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten für unterschiedliche Qualifikationsniveaus bieten und damit auch wieder Aufstiegsmöglichkeiten in die Mittelklasse eröffnen. Sie soll die soziale Struktur der Städte stabilisieren und durch eine Stärkung lokaler Kreisläufe Stadtökonomien robuster machen gegen die Turbulenzen des Weltmarktes. Verwiesen wird in diesem Bericht auf die erfolgreichen Beispiele der städtischen Netzwerke der Mode- und Bekleidungsbranchen in New York, der Biotech-Unternehmen in Boston oder der Nahrungsmittelwirtschaft in Los Angeles. Diese neue Form der urbanen Manufakturen ist nicht mehr zu vergleichen mit den »Schornsteinindustrien« der Vergangenheit oder den Fabriken des Fordismus. Sie bestehen aus einem Mix aus Klein- und Mittelbetrieben, die mit ihrer kundenspezifischen, vielfach artisanalen Produktion, auf lokale Nachfrage ausgerichtet sind. Angesichts der skandalösen Arbeitsverhältnisse und der umweltbelastenden Produktionsmethoden der globalen Billigproduktion entwickelt sich eine Nachfrage nach fair und umweltgerecht produzierten Produkten. Immer mehr Leute wollen lokale Produkte. Sie wollen wissen, wer ihre Produkte wie und mit welchen Materialien produziert. Sie sind auf der Suche nach Qualität und exquisiter Ästhetik. Dies führt zu neuen Nischenmärkten beispielsweise bei Textilien, Schuhen, Schmuck, Nahrungsmitteln oder Innenausbau. Es bilden sich neue Verknüpfungen von Design und Produktion und neue Vertriebswege heraus. Auf ein wichtiges Entwicklungsfeld der urbanen Manufakturen haben Ron Shiffman mit seiner Forschungsgruppe (Shiffman u. a. 2001) und Saskia Sassen (2006) hingewiesen: die Rolle der urbanen Manufakturen als »stiller Partner« der Kreativwirtschaft. Hier kehrt sich die traditionelle Beziehung zwischen materieller Produktion und Dienstleistungen um. Historisch entwickelten sich die produktionsorientierten Dienstleistungen entsprechend den Bedürfnissen des verarbeitenden Gewerbes oder der Industrie, heute übernehmen oft die kreativen Dienstleistungen die treibende Rolle. So benötigt beispielsweise die Kulturwirtschaft des Theaters oder der Musicals Kulissen und Kostüme; das hochauflösende Fernsehen (HDTV) beschäftigt riesige Handwerksateliers, in denen die Ausstattungen für die Fernsehproduktion in Präzisionsarbeit erstellt werden und das Produktdesign braucht qualifizierte Produzenten für die Herstellung von Prototypen und für die eigentliche materielle Realisierung der Entwürfe.



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In diesem Kontext wurde ein altes Werftgelände in New York, die »Brooklyn Navy Yard«, zum Symbol der Renaissance städtischer Manufakturen. Der Kolumnist der New York Times, Joe Nocera, schrieb dazu: »I have seen the future, and it is in the Brooklyn Navy Yard. I’ve seen young entrepreneurs creating companies that actually make things – not some digital app (not that there’s anything wrong with that!) – but actual products you can hold in your hand. […] It offers something you don’t often feel these days when you contemplate the future of the American economy, with its loss of middle-class jobs and the widening of the income gap. It ­allows you to feel hopeful again.« (Nocera 2013) Weitere wichtige Stimuli und Potenziale für die Entwicklung urbaner Manufakturen ergeben sich aus der ökologischen Wende und den Versuchen, eine postfossile Gesellschaft aufzubauen. Insbesondere die Möglichkeiten, die Energieproduktion zu dezentralisieren und enger mit den Orten der Energiekonsumtion zu verbinden, eröffnen wichtige Beschäftigungsperspektiven für die Stadt und die Stadtteile. Die wohl interessantesten, aber in ihren Folgen noch kaum absehbaren Entwicklungen könnten sich aus der Weiterentwicklung des »Personal Computers« zum »Personal Fabricator« ergeben (Gershenfeld 2005). Neil Gershenfeld, Professor am MIT, forscht seit Anfang des Jahrhunderts mit 3-D-Druckern und gründete die FabLab-Bewegung, eine nichtprofitorientierte Makerhood-Bewegung, die ihre Erfahrungen und Innovationen in der Form von Open-Source-Initiativen im Netz allen frei zugängig machen. In einer Zeit, in der durch den Siegeszug der Digitalisierung sich alles in Virtualität aufzulösen scheint, ermöglicht die digital gesteuerte Technik des 3-D-Druckens (oder des »Rapid Prototyping«) die Rückkehr der materiellen Produktion ins tägliche Leben. Die Fabrication Laboratories sind das Herzstück der FabLab-Bewegung. In diesen vernetzten Kleinwerkstätten stehen computergesteuerte Modellierungs- und Produktionswerkzeuge wie Laserschneider, Fräsmaschinen, 3-D-Drucker etc. Diese Mischung aus Computer und Minifabrik spuckt fertige Produkte nach individuellen Entwürfen aus und ermöglicht eine Dezentralisierung und Verlagerung der Produktion dorthin, wo die Produkte benötigt beziehungsweise konsumiert werden. Das Motto dieser Open-Source- und Makerhood-Bewegung ist: »Der Stadtteil ist unsere Fabrik.«4 4 Das FABLAB St. Pauli in Hamburg, das nach dem Vorbild amerikanischer Fab Labs entstanden ist und seine Arbeit an der internationalen »Fab Charter« ausrichtet, charakteri-

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Inzwischen hat auch die Industrie die Technologie des 3-D-Druckens entdeckt. Neben den nicht profitorientierten Open-Source-Initiativen befassen sich immer mehr kommerzielle Profis und Wirtschaftsunternehmen mit dieser neuen Produktionstechnik. Die Anwendungen scheinen kaum begrenzt: passgenaue Hörgeräte, Zahnkronen, Prothesen, Maschinenteile, Automobilersatzteile aus Plastik, Aluminium, Stahl, Titan, Glas oder Keramik. Die Erwartungen sind groß. Die Rede ist schon von der »nächsten industriellen Revolution«, die das Ende des gegenwärtigen Industriemodells durch den Aufstieg einer neuen Heim- oder Quartiersindustrie bedeuten könnte (Anderson 2013). Wie auch immer diese euphorischen Visionen einzuschätzen sind, entscheidend ist eine neue Sensibilität und ein Interesse für materielle Produktion, verbunden mit einer erstaunlichen Begeisterung für Materialität und das Machen, nicht nur bei Intellektuellen und einer Internet-Bohème, sondern auch bei Stadtteilgruppen und Jugendlichen. Es könnte eine Bewegung entstehen, die – in Verbindung mit anderen Wandlungsprozessen – tatsächlich Produktion wieder zurück in die Stadt bringen könnte. Im Hinblick auf die Entwicklungsperspektiven von urban manufacturing ist anzumerken, dass diese neue Form städtischer Produktion an manchen Orten, wie z. B. in Brooklyn, erstaunlich erfolgreich ist, aber gerade in den Städten, die durch die De-Industrialisierung besonders stark betroffen sind, so wie Detroit, Cleveland oder St. Louis zum Beispiel, sich nur mühsam entwickelt. Es fehlen die innovativen Akteure, die Netzwerke und die spezifische, meist an eine umweltbewusste Mittelschicht gebundene Nachfrage. Ähnlich wie sich dies auch bei den lokal eingebundenen Ökonomien zeigt, sind die Entwicklungsbedingungen in den Stadtteilen, wo sich Arbeitslosigkeit und Armut konzentrieren, am schwierigsten. In den USA gibt es inzwischen mit der »Urban Manufacturing Alliance« (http://urbanmfg.org/) eine nationale Initiative, die versucht, die bisherigen Erfahrungen in der Form von best practice-Beispielen einem immer breiteren Kreis von Städten und Stadtteilgruppen zugängig zu machen. Es scheint so, als sei in den professionellen Milieus der Stadtplanung und Stadtpolitik der siert seine Arbeitsperspektiven wie folgt: »Die Produktion von High- und Low-Tech-Konsumgütern wird persönlich und passiert direkt in der Stadt, dort, wo die Konsumenten leben. Produzieren lassen sich: individuelle Objekte für den alltäglichen Bedarf; Gegenstände, die es nicht mehr gibt; Dinge, die man sich sonst nicht leisten oder gar nicht erst finden kann; aufwändige Bauteile, um eine Idee auszuprobieren; oder nicht mehr lieferbare Ersatzteile für defekte Geräte.« (Fabulous St. Pauli o. J.)



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amerikanischen Großstädte ein Paradigmenwechsel in Gang, der zu einer Revision postindustrieller Stadtpolitik führen könnte. Dabei ist allen klar, dass es keinen Weg zurück zu den »glory days« der amerikanischen Industrie gibt. »Manufacturing may never occupy the dominant position it once had in our economy, but a healthy manufacturing sector providing high-quality employment opportunities in the 21st century.« Die Zukunft wird auch weniger in der traditionellen Großindustrie gesehen, sondern in den urbanen Manufakturen: »[ …] innovation and growth are more likely to come from small, urban manufacturing networks, whose locations and density enable them to respond rapidly to the changing needs of markets, whether local, regional, or global« (Byron/Mistry 2011: 46). Wie realistisch es ist, die Produktion wieder in relevanter Weise in die Städte zu holen, muss sich erst noch erweisen. Aber es ist ein Ansatz, der ernst zu nehmen ist und der auch dazu führen könnte, die häufig sehr eng gefassten deutschen Debatten um die Potenziale der Entwicklungsperpektiven lokal eingebetteter Ökonomien durch erweiterte Konzepte und neue Ideen zu bereichern – insbesondere um den Aspekt der urbanen Manufakturen.

5. Resümee Seit den epochalen Arbeiten von Colin Clark (1940) und Jean Fourastié (1949) haben sich für die Beschreibung und Erklärung des sektoralen Strukturwandels die »Drei-Sektoren-Theorie« und die These der Tertiarisierung der Beschäftigung durchgesetzt. Als Ursache des sektoralen Wandels in der Form einer Verschiebung der Schwergewichte der Beschäftigung von der Landwirtschaft über die Industrie zu den Dienstleistungen sah Fourastié zwei Kräfte: Als dominante Triebkraft den »technischen Fortschritt«, der als Produktivitätsfortschritt in den drei Sektoren jeweils sehr unterschiedlich wirksam wird; und als weitere Kraft die unterschiedlichen Marktsättigungstendenzen, wodurch sich unterschiedliche Verbrauchsentwicklungen ergeben. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Kräfte kommt es nach Fourastié zu einer »Wanderung und Verschiebung der Beschäftigung« und damit auch zur Notwendigkeit von Berufswechseln für Arbeitnehmer und Unternehmer. Fourastiés »große Hoffnung des 20. Jahrhunderts« beruhte auf der Einschätzung, dass es bei den Dienstleistungen – im Gegensatz zum Agrar- und Industriesektor – keinen oder

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nur einen vergleichsweise geringen Produktivitätsfortschritt geben würde. Gleichzeitig unterstellte er einen unstillbaren »Hunger nach Tertiärem« für den »individuellen Verbrauch« und »die Aufrechterhaltung der zivilisatorischen Einrichtungen« wie Bildung, Kultur und Gesundheit (Fourastié 1949: 278). Mit der Tertiarisierung erwartete er nicht nur eine Humanisierung der Gesellschaft im Sinne einer »Wiederentdeckung der menschlichen Faktoren und die zunehmende Beanspruchung geistiger Fähigkeiten in der beruflichen Welt« (ebd.: 286), sondern auch das Verschwinden »der technologischen Arbeitslosigkeit«, »die früher als naturnotwendige Folge steigender Arbeitsproduktivität« begriffen wurde. Nach Fourastié werden die Menschen, die im sekundären Sektor durch den technischen Fortschritt arbeitslos werden, durch die steigende Nachfrage nach »Tertiärem« wieder in Arbeit gebracht werden. Fourastié entwickelte mit seiner brillanten empirischen Analyse eine Theorie des gesellschaftlichen Strukturwandels, die bis heute die Diskussion prägt. Allerdings sprach Fourastié nie von einer »postindustriellen Gesellschaft«. Grundbegriffe waren für ihn auch nicht »Dienstleistungen« und »Industrie«, sondern »tertiärer Sektor« und »sekundärer Sektor«. Die Zuordnung zu diesen Sektoren erfolgte ausschließlich nach dem technischen Fortschritt: »Für mich ordnet der technische Fortschritt, unabhängig von meinem Gutdünken, eine bestimmte Tätigkeit in einem bestimmten Moment entweder in den sekundären oder in den tertiären Sektor ein.« (Fourastié 1949: 80) Am Beispiel des Transports macht er auch deutlich, dass Tätigkeiten wieder aus dem tertiären Sektor ausscheiden können, wenn sich dort ein höherer technischer Fortschritt durchsetzt. In diesem Sinne spricht er auch von der »Elastizität« seiner Terminologie, deren »Sinn und Bedeutung« weniger die Einteilung der gesamten Volkswirtschaft in drei Sektoren ist, »als vielmehr drei typische Formen wirtschaftlichen Verhaltens voneinander zu unterscheiden« (ebd.). Fourastié hatte zwar eine klare Zukunftsvision, die sogenannte »tertiäre Zivilisation«, die er bildhaft auch das »gelobte Land« nannte, aber er wehrte sich gegen eine deterministische Interpretation seiner Theorie: »Die These, […] dass […] die Ausdehnung des tertiären Sektors ein Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung sei, muss entschieden zurückgewiesen werden. So formuliert ist diese These äußerst gefährlich, weil sie den Eindruck erzeugt, dass diese Aufblähung nicht nur notwendig, sondern sogar ein Anzeichen wirtschaftlichen Fortschritts sei. Sie ist indessen kein Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern ein Gesetz des technischen Fortschritts.« (Ebd.: 140)



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Es ist sehr deutlich, dass der technische Fortschritt, insbesondere in der materiellen Produktion, in der Theorie Fourastiés eine zentrale Rolle einnimmt. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob ein Erklärungsansatz des sozialökonomischen Strukturwandels nicht einer stärkeren Berücksichtigung der kulturellen Kontexte und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedarf. In ihrem Buch Dienstleistungsgesellschaften machen Hartmut Häußermann und Walter Siebel einen wichtigen Schritt zur Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. In ihrer innovativen Studie, in der sie auch einen guten Überblick über den »endlosen Kampf um die Definition« der Dienstleistungsgesellschaft geben, zeigen sie auf, dass es beim sozialökonomischen Strukturwandel keine alternativlose Entwicklungstendenz gibt, sondern dass sich, abhängig von der jeweiligen Dienstleistungskultur und dem jeweiligen Wohlfahrtsstaatsregime, ganz unterschiedliche Entwicklungspfade und Dienstleistungsgesellschafts-Modelle ergeben. In diesem Beitrag soll nicht weiter auf Fourastiés Theorien eingegangen werden. Wichtig ist mir allerdings noch eine kurze Anmerkung zu Daniel Bell, einem der Hauptvertreter der These der »postindustriellen Gesellschaft«. Bell gibt seinem Buch The Coming of Post-Industrial Society (1999) [1973] den Untertitel »A Venture in Social Forecasting« – frei übersetzt, »Eine Spekulation auf dem Gebiet der Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen«. In Gegensatz zu Fourastié ist Bells Interesse weniger auf die Wirkungsweise und die Funktionen des »wirtschaftlichen Lebens« gerichtet, sondern auf die Unterscheidung und Abfolge unterschiedlicher Gesellschaftstypen oder Gesellschaftsformationen, insbesondere auf den Übergang von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft. Diese beiden unterschiedlichen Entwicklungsphasen definiert er wie folgt: »Die Industriegesellschaften […] sind güterproduzierende Gesellschaften, in denen das Leben als Spiel gegen die technisierte Natur abrollt. […] Die nachindustrielle Gesellschaft schließlich beruht auf Dienstleistungen, ist also ein Spiel zwischen Personen.« (Bell 1985: 133 f.) Dies ist eine folgenschwere Definition. Angesichts der veränderten Beschäftigungsstruktur scheint diese Definition eine gewisse Plausibilität zu haben, aber sie verweist nicht nur die Industrie, sondern die gesamte materielle Produktion in den Status des Unzeitgemäßen. Daniel Bell hatte mit seinem Konzept der postindustriellen Gesellschaft einen ungewöhnlich starken politischen Einfluss unter anderem im Weißen Haus bei Bill Clinton sowie bei Margaret Thatcher und Tony Blair. Im Vorwort zu der Neuauflage seines Buches von 1999 schreibt er stolz: »Even the President of the United States uses the term post-industrial.« (1999: X) Nach

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Bells Einschätzung betrachten bereits alle politischen Führer der westlichen Welt »their societies to be ›post-industrial‹«. Jetzt käme es für den Rest der Welt darauf an, »how to make the transition to the post-industrial state« (ebd.). Die äußerst problematischen Folgen dieses Gesellschafts- und Politikkonzeptes wurden am Beispiel der USA kurz skizziert. Noch zugespitzer zeigen sich die Probleme einer jahrelangen postindustriellen Politik in Großbritannien, insbesondere in London. Gegenwärtig zeichnet sich jedoch ein tiefgreifender Politikwechsel ab. Schon vor fünf Jahren sagte Peter Mandelson, der damalige britische Staatssekretär für Wirtschaft, dass er es hassen würde, wenn Großbritannien als eine »post-industrial economy« bezeichnet würde, und forderte »a new age of industrial activism« (Stratton 2009). Inzwischen wirbt London, das Symbol der postindustriellen Stadt, nicht mehr mit der »coolen Kreativwirtschaft«, sondern mit der »Tech City – London’s dynamic technology hub«. Es soll nicht bezweifelt werden, dass sich in den hochentwickelten Ländern wie Deutschland oder den USA ein Wandel von der Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat, in dem Sinne, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Industrie, insbesondere die Beschäftigung im industriellen Bereich, stark zurück gegangen ist. Nicht haltbar erscheint mir allerdings die These, dass die Industrie ökonomisch ihre Bedeutung verloren habe. Der Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft erfolgt nicht durch eine Ablösung oder einer Substitution der Industrie durch Dienstleistungen, sondern in hohem Maße durch eine Transformation, die zu neuen Verflechtungs- und Bedingungszusammenhängen von Industrie und Dienstleistungen führt, wie dies in Studien zum Wirkungszusammenhang von hochwertigen Dienstleistungen und Industrie (»Service-Manufacturing-Link«) zum Ausdruck kommt: »The argument is that manufacturing cannot and should not be de-linked from typically urban ›knowledge-based‹ activities such as design and R&D. Or to put it more strongly, a manufacturing base is a necessary condition to develop and expand R&D and other high-level services. Production facilities are needed to produce small batches of innovations and new products, and test whether the concepts work in practice, and researchers need to stay in touch with the productions process.« (Van Winden u. a. 2011: 2) Die Industrie ist auch nicht aus den Städten verschwunden. Allerdings hat sie sich, unter anderem durch neue Verknüpfungen mit Dienstleistungen, tiefgreifend verändert. Und eine Gesellschaft ohne materielle Produktion bzw. ohne Güterproduktion zu konzipieren, erscheint mir mehr als



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fragwürdig. Materielle Produktion, auch in ihrer industriellen Form, bleibt nicht nur eine notwendige Basis für die vielfältige Güterwelt unserer Gesellschaft und die vielgestaltigen Stoffwechselprozesse mit der Natur, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung für vielfältige Innovationsprozesse und die Bewältigung von Zukunftsaufgaben, wie beispielsweise die Entwicklung einer postfossilen Ökonomie. Deshalb erscheint es mir treffender, bei der Charakterisierung des aktuellen sozialökonomischen Strukturwandels nicht von einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, sondern von einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft zu sprechen (Vester 2011). Es geht mir jedoch nicht um eine Frage des richtigen Begriffs, sondern um die mit den Begriffen verbundenen Implikationen. Die These, dass wir uns in einer postindustriellen Gesellschaft befinden würden, ist vielfach mit der Vorstellung verbunden, dass das Verschwinden von Industrie, Manufakturen und Handwerk aus unseren Städten nicht aufzuhalten sei. Dies mag in einzelnen Fällen vielleicht sogar zutreffen. Aber diese Haltung lenkt von der zentralen Aufgabe einer innovativen Struktur- und Stadtpolitik ab, wo intelligente Transformationen gefragt sind. In der Stadtdiskussion dominierten in den letzten Jahrzehnten Theorien mit einem sehr ausgeprägten postindustriellen bias. Dies gilt beispielsweise für die Global-City-Hypothese, die von einer räumlichen Entkopplung von Industrie und Dienstleistungen ausgeht und die Konzentration von strategischen Dienstleistungen in den global cities im komplementären Zusammenhang mit einer ausgelagerten und transnational organisierten industriellen Produktion sieht. Auch in dem Konzept der Creative City von Richard Florida haben Industrie und materielle Produktion keine Bedeutung mehr für die kreative Stadt. Und Ed Glaeser, der wohl einflussreichste Stadtökonom, schrieb vor einiger Zeit: »The shift away from heavy industry has been the salvation of urban America. For while the decline in urban manufacturing has been unavoidable, the growth of high-skill industries has enabled many cities to prosper. Unsurprisingly, cities that depend on manufacturing have tended to decline.« (Glaeser 1996: 2) Hartmut Häußermann hat in seinen Arbeiten zur sozialen Polarisierung der Stadtentwicklung immer wieder darauf hingewiesen, dass Städte, die einen Prozess der Deindustrialisierung hinter sich haben und deren ökonomische Basis nun vor allem vom Dienstleistungssektor geprägt ist, eine stärkere Polarisierung der Einkommen und eine stärkere Polarisierung der sozialräumlichen Struktur aufweisen als Städte, die noch ein solides industrielles Fundament haben (Häußermann 2011: 82).

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Ich denke, dass es gute Gründe gibt, sich ernsthaft mit der Zukunft der Industrie und vor allem mit neuen Formen der materiellen Produktion in der Stadt zu beschäftigen. In unserer »Online-Gesellschaft« scheint die Materialität der Dinge an Bedeutung – vor allem aber an Beachtung – zu verlieren. Unsere Städte werden unter dem Einfluss postindustrieller Stadtkonzepte immer mehr reduziert auf Orte des monofunktionalen Wohnens, des Konsums und auf Standorte hochwertiger Dienstleistungen. Unsere Städte mit ihrer äußerst vielfältigen Bevölkerungsstruktur, ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus und ihren sozialen Fragmentierungen brauchen eine große Vielfalt an Beschäftigungsmöglichkeiten und Lernarenen – für unterschiedliche Arbeitsformen, Arbeitszeiten und vor allem für sehr unterschiedliche Qualifikationen. Die moderne Industrie und die urbanen Manufakturen bieten ein breites Spektrum an Qualifikationen und sind nicht nur stadtverträglich, sondern stadtaffin. Es lohnt sich über neue Verknüpfungen und Kooperationen von Dienstleistungen, Industrie, Kreativwirtschaft, urbanen Manufakturen, FabLabs und lokalen Ökonomien nachzudenken.

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Marginale Urbanität als neue Form der Integration in die Stadtgesellschaft Felicitas Hillmann

Einleitung Stadtentwicklung und Migration sind von jeher Zwillinge. Denn Städte haben immer davon gelebt, dass sie Immigranten aufgenommen, spezielle Stadtteile und Kolonien für sie geschaffen und Formen für den Umgang mit dem Fremden gefunden haben. Die Be- und Verarbeitung des Fremden in der Stadt und der Umgang mit »Differenz« ist ein Kernelement des Städtischen. Dieser Umgang mit der Differenz, mit den Migranten, erfolgt über die Verortung im städtischen Raum und im sozialen Raum, das heißt durch die Integration der Migranten in die Mehrheitsgesellschaft. Die räumliche Verortung erfolgte, indem den Migranten besondere Orte in der Stadt zugewiesen wurden, die für die Gesamtstadt die Rolle der ersten Eingliederung der Immigranten übernahmen. In vielen europäischen Städten gibt es bis heute solche Stadtteile, die besonders eng mit der Zuwanderungsgeschichte des jeweiligen Landes verknüpft sind. Sozial reguliert wurde der Umgang mit den Migranten in der Regel über deren ökonomische Positionierung, über die jeweilige Integration in den Arbeitsmarkt. In den Städten Nachkriegsdeutschlands ging die soziale Integration der Migranten hauptsächlich über die Einbindung in die Betriebe vonstatten. Die soziale Integration der Angehörigen der Migranten erfolgte hingegen vor Ort, bezog sich auf den Stadtteil und verlief über die Dienstleistungen des Sozialstaates. Mit der Ablösung der Industriegesellschaft und der damit einhergehenden strukturellen Arbeitslosigkeit der ehemals im produzierenden Gewerbe tätigen Migranten seit Mitte der 1980er Jahre wurde auch ihre ökonomische Integration prekär. Prozesse sozialer und räumlicher Exklusion fielen zusammen. Man diskutierte die Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen und deren Auslagerung an die Ränder der Städte. Dies wurde in der Literatur – in Übernahme anglo-amerikanischer Konzepte – als urban marginality, urbane Marginalität, beschrieben. Die in diesen Jahren erstmals

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sich verstärkende berufliche Selbstständigkeit von Migranten, die sogenannten ethnischen Ökonomien, wurden in einer defizitorientierten Perspektive überwiegend als »Sackgasse«, als Ergebnis blockierter Chancen auf einem allgemeinen Arbeitsmarkt, interpretiert. Heute sind in den Großstädten neue, gemischte Milieus entstanden. Neben die stärkere Heterogenität der Stadtbevölkerung trat eine tiefgreifende Umgestaltung der Arbeitsmärkte hin zu einer postindustriellen Struktur mit flexibleren und weniger an betrieblichen Strukturen orientierten Berufsverläufen. Die inzwischen stark angewachsene berufliche Selbstständigkeit von Migranten wird angesichts der marginalen Chancen dieser Erwerbstätigen auf dem ersten Arbeitsmarkt nunmehr ausdrücklich begrüßt und durch vielfältige Programme begleitet. Jetzt werden vor allem die Potentiale, immer wieder auch als »Standortvorteile« beschrieben, von den Stadtpolitikern betont. Die mit der beruflichen Selbstständigkeit verbundenen Risiken rücken merklich in den Hintergrund des öffentlichen Interesses. Für diesen Beitrag wurden Ergebnisse einer im Jahre 2009 in Neukölln durchgeführten Befragung über die Rolle von migrantischen Unternehmerinnen und Unternehmern für die Stadtentwicklung erneut gesichtet und es wurden aktuelle Daten zur Partizipation der migrantischen Bevölkerung in den städtischen Arbeitsmärkten herangezogen. In dieser Zusammenschau stellt sich die Position der migrantischen Ökonomien auf den städtischen Arbeitsmärkten als besonders sensibler Indikator für die strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt dar und zugleich als besonders empfängliche Projektionsfläche für Zuschreibungen von stadtpolitischer Seite. Zunächst wird im ersten Abschnitt gezeigt, wie sich in der Nachkriegszeit das Gastarbeitersystem mit seiner Wahrnehmung von Migration und Migranten als »Problem« für die Mehrheitsgesellschaft herausbildete und wie auf die aufkommenden »Integrationsschwierigkeiten« mittels sozialreformatorischer sektoraler Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt und in den Bildungsstätten reagiert wurde. Im Stadtbild kamen die »Gastarbeiter« als »Marginalisiert(e)« vor: Sie wohnten häufig in segregierten Stadtvierteln oder traten als Besucher von Hinterhofmoscheen in Erscheinung. Im zweiten Abschnitt wird die stadtsoziologische Debatte skizziert: Angeregt durch die US-amerikanische stadtsoziologische Diskussion zur urban marginality beschäftigten sich zahlreiche Stadtsoziologen in Deutschland, darunter prominent Hartmut Häußermann, mit den sich abzeichnenden sozialen und räumlichen Spaltungen in den Städten. Sie befassten sich mit



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den Exklusionsprozessen an den Rändern der Städte. Durch ihre Forschungen und den daraus hervorgehenden erstmals nicht nur defizitorientierten und sozialraumbezogenen Maßnahmen trugen sie dazu bei, dass Migranten auch als Akteure ihren Platz in den Förderprogrammen fanden. Durch die Verlagerung der Fokussierung von sektoral ausgerichteten Maßnahmen auf die Komplexität des Sozialraumes, auf die Nachbarschaften, wurden Ausgangspunkte für neue Entwicklungsansätze geschaffen – die heute fruchten. Der dritte Abschnitt präsentiert am Beispiel Berlins die migrantischen Ökonomien als einen wichtigen Ausschnitt und Ansatzpunkt einer im Entstehen begriffenen marginalen Urbanität in der Stadtentwicklungspraxis. Skizziert wird der Übergang hin zu einer Stadtgesellschaft, die das Fremde zwar zulässt, dieses jedoch trotz seiner zunehmend zentralen Position in der Mehrheitsbevölkerung weiterhin als »Außenposition« wahrnimmt. Die vielfach von der Stadtpolitik auf die migrantischen Ökonomien projizierten Potentiale erweisen sich als janusköpfig: Zwar findet sich eine überdurchschnittliche Zunahme an migrantischen Gewerbemeldungen, doch zeigen die Daten über die Arbeitsmarktintegration der ausländischen Bevölkerung insgesamt auch eine deutliche Benachteiligung dieser Gruppe auf dem Arbeitsmarkt. Anhand von Auszügen einer im Jahre 2009 durchgeführten empirischen Studie wird der momentan noch vorherrschende Missmatch zwischen dem den städtischen Institutionen zur Verfügung stehenden Instrumentarium und den Lebens- und Arbeitswelten der (migrantischen) Stadtbewohner illustriert. Das Fazit zeigt, dass die Aufladung der Debatte über migrantische Ökonomien spiegelbildlich als entweder besonders »defizitär« oder »überhöht« (= als besonderes Potenzial) einen hilflosen Versuch der Einordnung darstellt. Es spiegeln sich hier vielmehr die üblichen Probleme der postindustriellen Stadtgesellschaften: unübersichtlichere Formen der generellen Eingliederung von Menschen in Erwerbsarbeit, relativ kurzatmige Projektplanungen unter volatilen Bedingungen und die wachsende Bedeutung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen.

Migration in Nachkriegsdeutschland (West) In der Dekade unmittelbar nach Kriegsende und darüber hinaus waren in Deutschland unendlich viele Menschen unterwegs, viele von ihnen waren Ausgebombte, Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge, Staatenlose, Übersiedler.

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Die Ressentiments der Sesshaften gegen die Umherziehenden waren stark. Durch die Errichtung von Baracken und Lagern versuchten die Regierenden, Konflikte einzudämmen (Herbert 2003). Stadtentwicklung konzentrierte sich auf die (Wieder-)Herstellung einer gewissen sesshaften Normalität im Alltag, beispielsweise durch die Planung von Zentren und deren Versorgungsfunktionen. Die gewachsene Stadt mit ihrer Heterogenität auf engstem Raum, wie sie sich seit den Massenzuzügen in der Industrialisierung herausgebildet hatte, war nicht länger das Leitbild der Planer (Häußermann 2005). Die Planer orientierten sich am Vorbild der funktionalen (amerikanischen) Stadt, die sich nicht organisch entwickelt hatte und die die verschiedenen Lebensbereiche voneinander trennte. Seit 1955 hatte die deutsche Wirtschaft angefangen, Arbeitskräfte zunächst aus Italien zur landwirtschaftlichen Saisonarbeit nach Deutschland zu holen, ab Anfang der 1960er Jahre geschah dies massenhaft, und für die Industriearbeitsplätze wurden vor allem aus den südeuropäischen Ländern Arbeitskräfte rekrutiert. Aus den »Fremdarbeitern«, die es schon im Kaiserreich gegeben hatte und die während des Naziregimes in großem Stil zwangsweise eingesetzt wurden, wurden jetzt »Gastarbeiter«. Ihre Unterkunft in den Städten war genauso provisorisch wie ihr Aufenthaltsstatus, anfangs lebten sie in Sammelunterkünften. Sie waren Teil der Arbeitswelt, nicht aber Teil der Stadt. Während in den Betrieben das sogenannte Normalarbeitsverhältnis ausgehandelt wurde, nahmen die Gastarbeiter die Position an den Rändern der Arbeitsmärkte ein. Sie ermöglichten die Aushandlungen zwischen Arbeitgebern und einheimischen Arbeitnehmern, weil sie beiden Positionen dienlich waren: Die Arbeitgeber konnten durch den Import von Arbeitskräften die Löhne im Zaum halten und die Gewerkschaften konnten bessere Arbeitsbedingungen für ihre (einheimischen) Arbeitnehmer erreichen. Auch im politischen Raum durchlebten die Gastarbeiter eine Zeit der »Integration auf Widerruf«, so lautete jedenfalls die ausländerpolitische Leitlinie der Bundesregierung im Jahre 1974. Zeitgleich mit dem Anwerbestopp 1973, der in der Bundesrepublik wie in anderen europäischen Staaten verhängt wurde, bewirkte dies, dass viele, die vielleicht zurück in ihr Herkunftsland gegangen wären, nun lieber in Deutschland blieben. Sie holten ihre Familien nach. Sie wollten ihr provisorisches Leben umkrempeln: Sie zogen aus den Wohnheimen aus, suchten Mietwohnungen, sparten weniger für die Rückkehr und die Verbindungen nach Hause wurden loser (Herbert 2003: 233).



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Die »Ausländer« zogen in billige, fabriknahe Wohnungen oder in Sanierungsgebiete in der Innenstadt. Viele Vermieter nutzten diese Situation aus: Sie vermieteten ihre Wohnungen an Ausländer, ließen die Wohnungen verfallen und bekamen so die angestrebte Abbruchgenehmigung, mit der sie rentablere Bürogebäude errichten konnten. In einigen Städten entstand so etwas wie »Einwandererkolonien«, denen eine doppelte Funktion zukam: Für Neuankömmlinge wirkten sie als Integrationsschleuse in die neue Gesellschaft und gleichzeitig Ort der Orientierung und des Halts in der Herkunftskultur (Heckmann 1981). Häufig waren die Stadtteile, in denen die Einwanderer wohnten, von Planungsunsicherheiten wie zum Beispiel einem drohenden Ausbau eines Autobahnteilstücks oder Rechtsstreitigkeiten betroffen. Die zweite Generation, die Kinder der Gastarbeiter, hatte einen kaum zu erfüllenden Spagat zu bewältigen. Die Kinder sollten im deutschen Schulsystem bestehen, sie sollten aber sprachlich, emotional und sozial an die (häufig nie erlebte) Heimat gebunden bleiben. Die lange aus der öffentlichen Diskussion verdrängten, nun offensichtlichen Probleme der Integration führten zu heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit. Im Heidelberger Manifest vom 17. Juni 1981 wurde vor »Überfremdung« und »Unterwanderung« gewarnt. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung wünschte sich die Ausländer wieder weg aus Deutschland, 1983 sagten dies 80 Prozent der Befragten (Herbert 2003: 241). Die Bundesrepublik Deutschland sah sich nicht als Einwanderungsland und die regierenden Politiker gingen weiterhin davon aus, dass die Menschen, die man einst nach Deutschland holte, wieder in ihre Heimat zurückgehen würden. In den Jahren der Kohl-Regierung wurde das »Ausländerproblem« heftig diskutiert. Man plante folglich nicht mit dieser Bevölkerungsgruppe. Zwar war die Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der 1980er Jahre ein »informelles Einwanderungsland« geworden, da die Zuwanderungen dauerhaft die Abwanderungen überstiegen. Das Land wies jedoch keine reguläre Einwanderergesetzgebung und Einwanderungspolitik auf und regelte vieles in einem unübersichtlichen Klein-Klein kommunal oder auf Länderebene (Bade/Oltmer 2007: 169). Die Wahrnehmung der Ausländer durch Öffentlichkeit, Planung und Sozialreformer blieb insgesamt auf die defizitorientierte Seite der Migration fokussiert. Es war lange kein Platz für eine Wahrnehmung des Migranten als einem eigenständigen Akteur freigemacht worden, die Migranten und Migrantinnen blieben auf die Zuschauerränge am Rande der Stadtgesellschaft verwiesen. Diese polarisierte Entwicklung bildete den Ausgangspunkt für eine stadtsoziologische Analyse, die mehr oder weniger

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explizit auf den angelsächsischen Diskurs über »urbane Marginalität« rekurrierte und ihn für die deutsche Debatte fruchtbar machte.

Migration ins Nachkriegs-(West-)Deutschland – die Entstehung urbaner Marginalität Mit dem ökonomischen Strukturwandel war auch ein Sockel struktureller Arbeitslosigkeit bei den ehemaligen Industriearbeitern entstanden, und viele von ihnen waren auf kontinuierliche staatliche Transferleistungen angewiesen. Viele der Langzeitarbeitslosen gehörten zur Gruppe der ehemals speziell angeworbenen »Gastarbeiter«. In einigen Städten konzentrierten sie sich in bestimmten Stadtteilen, in Quartieren wie Berlin-Wedding, in denen traditionell die Arbeiter und Rentner lebten, oder sie waren in degradierte Gebiete gezogen, die den Planern als »Ghettos von sozial leistungsschwachen Familien« bekannt waren und die als rückständig bezeichnete Viertel in der soziologischen Literatur Karriere gemacht hatten (vgl. hierzu Zapf 1969: 55). Die Bevölkerung der Sanierungsgebiete wurde in Wissenschaft und Öffentlichkeit »gerne als Negativ-Bild zur ›Normalbevölkerung‹ dargestellt: als mittellos, überaltert, ungebildet, leicht asozial, nicht anpassungsfähig und nicht anpassungsbereit« (Zapf 1969: 126). In der fordistischen Arbeitsgesellschaft waren die Migrantinnen und Migranten funktional für die Arbeitswelt, in den Städten wurden sie ganz überwiegend in zweierlei Weise wahrgenommen: erstens als »defizitär « hinsichtlich ihrer (erwarteten oder unterstellten) Integration in die Stadtgesellschaft, und zweitens als bedrohlich jeweils dann, wenn sie begannen, im öffentlichen Raum zum Beispiel mit eigenen Symbolen wie Moscheen aufzutreten. Was im angelsächsischen stadtsoziologischen Jargon als »urban marginality« betitelt wurde, die zunehmende Peripherisierung und Stigmatisierung armer Nachbarschaften, die kontrollierende Verwaltung von Segregation und Integration als Instrument sozialer Kontrolle mit dem Ziel des Schutzes der wohlhabenden Klassen (vgl. hierzu Waquant 1999), war ein wichtiger Impulsgeber für die Analyse der Situation in den deutschen Städten. Wacquant hatte die Ghettos in den USA mit den banlieues in Frankreich verglichen. Er fragte nach der Rolle des Staates bei der Entstehung von solchen »städtischen Marginalgebieten«, er beschrieb, wie der Rückzug des Staates



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aus diesen Gebieten (über eine Begrenzung von öffentlichen Transferleistungen oder aufgrund von Nicht-Investitionen) eine Vielzahl von Städten verändert hatte. Doch handelte es sich in den verschiedenen nationalen Regimen um den gleichen Effekt? Wacquant zeigte in seinen Untersuchungen, dass das amerikanische Ghetto mit seinen urban outcasts hauptsächlich an die Geschichte der Diskriminierung von Afro-Amerikanern gebunden war und dass in den benachteiligten Stadtteilen als Heilmittel trotz kaum vorhandener Chancen die Aussicht auf einen Arbeitsplatz um jeden Preis hochgehalten wurde (workfare). In den französischen banlieues stellte sich die Situation anders dar, denn diese waren ethnisch und national heterogen und wurden auch von »einheimischen« Franzosen bewohnt. Mit der neoliberalen Revolution, so Wacquant, habe sich ein Wechsel weg von der sozialstaatlichen Regulierung hin zu einer bestrafenden Verwaltung, die das »städtische Subproletariat in eine wütende Kaste Verstoßener« verwandele und eine Kriminalisierung von Armut mit sich bringe, vollzogen (Wacquant 2006: 7 ff.). Die Massenproduktion und der Massenkonsum der Nachkriegszeit waren an die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates gekoppelt, mit dem Ende dieses Regimes – so Wacquant – zöge auch neue Armut in die Städte ein, bestimmte Stadtbezirke und ihre Bevölkerung würden isoliert, eine neue Ghettoisierung sei zu beobachten. Für diese Armut würden neue Etiketten benutzt: »Underclass« in Amerika und England, »Neue Armut« in den Niederlanden, Deutschland und Norditalien, »Exklusion« in Frankreich. Staaten funktionierten nicht mehr als »Stratifikationsmaschinen« (Esping-Anderson 1990), die räumliche Entwicklung war geprägt von Konzentration und Stigmatisierung. Europaweit wurde mit einer zwiespältigen Kombination sozialarbeitsorientierter Ansätze und repressiver, polizeilicher Maßnahmen reagiert. Die Herausbildung von marginalen öffentlichen Räumen wurde in Verbindung gesetzt mit den sich in den 1990er Jahren verstärkt abzeichnenden sozialen, ethnischen und kulturellen Unterschieden. Sie traten nun auf engstem Raum auf und wurden gerade von den durch eigene Probleme stark belasteten Stadtbewohnern am stärksten durchlebt (Madanipour 2003: 155). Die Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum führten zu einer Neudefinition der Quartiere und entfachten eine normativ aufgeladene Diskussion darüber, ab wann (positive) Differenz in (negative) Polarisierung umschlage und ab wann Interaktion (Inklusion) in Schließung (Exklusion) übergehe (Hennig 2004: 78). Nicht nur die Lebenschancen der Bewohner wurden durch die Segregation behindert, sondern man befürchtete auch eine Abnahme der sozialen Kohäsion (Häußermann 2008: 124 f.). Vielerorts

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setzte die Stadtpolitik jetzt auf area-based orientierte Handlungsansätze (Andersson/Musterd 2005: 378 ff.). Der Übergang von Armut zu Ausgrenzung tangierte die Städte in ihrem Innersten. Denn in den Städten konzentrieren sich die Folgen dieses Übergangs am deutlichsten. Das zeigte sich insbesondere in den Großsiedlungen, einer Wohnform, die ursprünglich als Pendent zur großindustriellen Fabrik geschaffen wurde und die für Alleinstehende oder Arbeitslose nicht geplant gewesen war (Kronauer 2002: 221). Doch auch die innerstädtischen Altbauquartiere gehörten zu den »Problemkindern«. Die »Integrationsmaschine Stadt« hatte ihre Integrationskraft verloren, die »riskanten Entwicklungen« und Polarisierungen in der Stadt mit ihrer multifaktoriellen Verursachung gingen einher mit einer Betonung des »ethnisch-kulturellen Konfliktpotentials in unseren Städten« (Heitmeyer u. a. 1998: 16). Viele Stadtforscher gingen nun davon aus, dass strukturelle Ungleichheiten auch »soziale Folgen« produzierten. Das Quartier konnte gesellschaftlich marginalisierten Gruppen bis dahin soziale Ressourcen bieten, beispielsweise über die Existenz stabiler Nachbarschaftsbeziehungen oder in Form von staatlichen und privaten Einrichtungen (Vogel 2003: 203 f.), doch dieser Zusammenhalt schien sich vielerorts aufzulösen und die Städte drohten in Gebiete zu zerfallen, die bestimmte Bewohnergruppen besonders stark anzogen, und die polarisierenden Effekte noch zu verstärken. Diese anhaltende sozialräumliche Polarisierung deutete in vielen Städten in Richtung einer urbanen Marginalisierung, von der insbesondere Migrantinnen und Migranten betroffen waren. So heißt es in An den Rändern der Städte: »Die Parallelität von Unterschichtszugehörigkeit und Herkunft aus einer ethnischen Minderheit bedingt eine Kumulation von struktureller Benachteiligung und Diskriminierung auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten, wodurch kaum überwindbare Barrieren der Integration entstehen können.« (Häußermann u. a. 2004: 9) Und noch mehr: die Konzentration sozialer Probleme in den Quartieren führte zu zusätzlichen Nachteilen, weil sich die Quartiere von der Mainstream-Stadtgesellschaft entfernten. Eben weil diese Quartiere stigmatisiert wurden, entwickelten sie sich zu benachteiligenden Lebensorten (Häußermann u. a. 2004: 28 f.). Die Migranten waren im urbanen Raum marginalisiert, sie spielten im öffentlichen Leben kaum eine aktive Rolle bzw. wurden nicht als »städtische Akteure« wahrgenommen. In den Stadtentwicklungsmaßnahmen sei insgesamt eine »wechselseitige, reflexive Perspektivenübernahme aus den verschiedenen Handlungslogiken heraus als Voraussetzung von Kooperation bislang kaum gegeben« (Jaschke 1998: 414).



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Viele Sozialindikatoren lagen auf lokaler Ebene nicht nach dem »Migrationshintergrund« differenziert vor, und es entstand eine vehement geführte Diskussion darüber, ob die beobachtbare Ausgrenzung zu einer Herausbildung von »Parallelgesellschaften« geführt habe und welche »Kontexteffekte« eigentlich vom Leben in einem benachteiligten Quartier auf dessen Bewohner ausgingen. Wie abgeschottet leben die Migrantinnen und Migranten eigentlich und was bedeutet das für die Städte? Häußermann trat dem zentralen Glaubenssatz der traditionellen Migrationssoziologie entgegen, dass räumliche Abschottung Kontakte mit Einheimischen verhindere und damit Integration erschwere (Häußermann 2007); Farwick (2009) zeigte am Beispiel Bremens, dass sich die Nachbarschaft nicht auf die Häufigkeit der interethnischen Kontakte auswirkte. Es stellte sich für die Stadtforschung immer dringender die Frage, wie zwischen ethnischen und sozialen Effekten einer räumlichen Konzentration unterschieden werden könnte und wie sich dies messen ließ. Offenbar wirkte sich die Benachteiligung durch den Wohnort nicht auf alle Bewohner benachteiligter Gebiete gleichermaßen benachteiligend aus: »Es ist vorwiegend die Unterschicht der Migrantenbevölkerung, die segregiert und sichtbar in den ›Ausländervierteln‹ wohnt. Nur die Unterschicht ist stark segregiert, und nur bei dieser Bevölkerung sind die sozialen Beziehungen stark lokal zentriert – und nur hier sind die Einflüsse der lokalen Umgebung tatsächlich nachweisbar.« (Häußermann 2007: 464) Wenn Jugendliche in einem Umfeld aufwüchsen, in dem niemand mehr einer Erwerbsarbeit nachginge, wirke sich dies auf die Möglichkeiten der Lebensgestaltung direkt aus (Krämer-Badoni 2002). Aber das Quartier wurde als »kollektive soziale Ressource« auch zum Ansatzpunkt für Maßnahmen gegen Ausgrenzung (Kronauer 2002). Insbesondere das Programm »Soziale Stadt« mit seinen zahlreichen Projekten reagierte durch eine Konzentration der Maßnahmen und Strategien auf die »sozialen Brennpunkte«, später »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf» genannt. Die Politiken zielten darauf ab, die Marginalisierung zu kompensieren, neue Unterstützungsangebote durch neuartige Unterstützungsnetzwerke wie beispielsweise das Quartiersmanagement zu entwickeln und die Identifikation der Bewohner mit dem eigenen Quartier zu stärken. Das Wohnquartier konnte den gesellschaftlich marginalisierten Gruppen soziale Ressourcen bieten: lokale familiäre Bindungen und stabile Nachbarschaftsbeziehungen, vor allem aber institutionelle Ressourcen in Form staatlicher und privater Einrichtungen (vgl. Vogel 2003: 203).

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Verschiedene Stadtentwicklungsprogramme reagieren auf die Analysen über die »urbane Marginalität« mit einer konsequenten Hinwendung zu integrierten Ansätzen, weg vom bis dahin üblichen Ressortdenken. Sie setzten auf sozialräumliche, quartiersbezogene Ansätze und empowerment sowie die Partizipation der Anwohner. Eine gewisse Kompensation der Marginalisierung sollte durch Kontaktangebote, durch Unterstützungsnetzwerke und durch über das Quartiersmanagement organisierte Gremien erreicht werden. Schließlich wurden Monitoring und Evaluation der durchgeführten Maßnahmen und Projekte zunehmend Teil der Stadtentwicklung. Im Windschatten dieser Diskussionen um urbane Marginalisierung und Parallelgesellschaften, entstanden hier und da sozial innovative Projekte wie beispielsweise die »Werkstatt der Kulturen der Welt« (Berlin-Neukölln), die Migranten bewusst als städtische Akteure einband. Mit dem neu eingeführten Instrument des Quartiersmanagement versuchte man, im Stadtteil zu vernetzen und stärkte die vorhandenen Ressourcen der Kiezbewohner. Die Diskussion über die »urbane Marginalität« hatte neue Formen der Intervention geschaffen. Diese Maßnahmen konnten den strukturellen Konflikt nicht auflösen – dies wurde auch von den Verfechtern des sozialraumbezogenen Ansatzes von Anfang an offen diskutiert –, doch sie haben dazu beigetragen, dass Alternativen überhaupt gedacht und ausprobiert wurden. Diese Debatte hat die Rolle von Migrantinnen und Migranten in der Stadtentwicklung neu definiert und nachhaltig verändert. Man weiß nicht, was passiert wäre, wenn es die zahlreichen Programme zur Stabilisierung der Nachbarschaften nicht gegeben hätte, doch man kann sagen, dass die Beschäftigung mit Armut und Ausgrenzung zu einem sozialpolitischen Handeln geführt hat, das der Stadtpolitik die heutigen Möglichkeiten überhaupt erst eröffnet.

Die Entstehung von marginaler Urbanität in den Städten und die Rolle des migrantischen Unternehmertums Durch die Einführung des Programms der »Sozialen Stadt« (einem Teil der Städtebauförderung) richteten sich viele Stadtentwicklungsaktivitäten auf die »benachteiligten Stadtteile« aus. Man hatte jetzt die Möglichkeit, auch die soziale Seite der Stadtentwicklung zu bearbeiten. Als Teil der Städte-



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bauförderung erhoffte man sich durch die integrierten Handlungskonzepte »eine klarere Beschreibung der Potenziale und der Akteure, die mit dem integrierten Handlungsprogramm mobilisiert werden sollen« (Häußermann 2006: 293), vor allem auch der Migranten. Sie sollten vor allem durch die Unterstützung von lokalen Ökonomien, insbesondere auch von migrantischen Ökonomien, »eingefangen« werden (Schuleri-Hartje/Reimann 2005). Dies war die richtige Entscheidung. Denn die aktuellen Daten über die migrantische Selbstständigkeit zeigen, dass Migranten inzwischen häufiger gründen als Einheimische und dass der »reguläre« Arbeitsmarkt für sie immer weniger als Ort der Integration fungiert. Überdurchschnittlich oft sind sie in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig. Seit Anfang der 1990er Jahre hat die berufliche Selbstständigkeit der Erwerbstätigen insgesamt kontinuierlich zugenommen. Ihre Anzahl hat sich zwischen 1991 und 2010 um 40,2 Prozent erhöht und zwar von etwas über 3 Millionen auf 4,3 Millionen. Im Jahr 2010 waren damit in Deutschland fast 11 Prozent der erwerbsfähigen Personen selbstständig (Statistisches Bundesamt 2011). Neben die »klassische« mittelständische Selbstständigkeit insgesamt trat seit den 1990er Jahren die Selbstständigkeit der Freelancer, der Teilzeit- und Nebenerwerbsgründer und die Hartz-IV-Aufstocker. Von über vier Millionen Selbstständigen sind rund zwei Millionen Solo-Selbstständig, das heißt solche ohne weitere Mitarbeiter. Die Prekarisierung im Bereich der Selbstständigkeit lässt sich zum Beispiel an den geringen Einkünften vieler Selbstständiger, den geringen Wachstumschancen ihrer Betriebe, langen Anlaufphasen nach der Gründung und nicht vorhandenen Sozialabgaben ablesen (siehe hier auch Bührmann/Pongratz 2010). Ein deutliches Indiz ist auch die wachsende Überschuldung vieler Haushalte. Es sind gerade die ExistenzgründerInnen, die besonders hoch verschuldet sind. Der Insolvenzbericht für das Land Berlin (2009) zeigt, dass die höchsten Schulden nach »Verschuldung aufgrund von Hypotheken« aus »Selbstständigkeit« entstehen. In den fünf Jahren seit 1999 hat sich die Zahl der überschuldeten Haushalte in Berlin von 101.000 auf 165.000 im Jahr 2004 und auf rund 200.000 Haushalte 2013 erhöht. Der Anteil der nicht-deutschen Haushalte an den Schuldnern liegt relativ stabil bei 12,5 Prozent. Auch die Betrachtung der Zahl der Gewerbean- und abmeldungen lässt den Rückschluss auf die zunehmende Bedeutung der Selbstständigkeit der Migranten in den Städten zu: Die Zahl der von Ausländern angemeldeten Gewerbe hat sich in den Jahren zwischen 2005 und 2011 in so gut wie allen Bundesländern deutlich erhöht. Die Gewerbemeldungen der Deutschen

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sind bundesweit seit 2005 von knapp 620.000 auf 486.000 gefallen, die Zahl der ausländischen Gewerbemeldungen aber von rund 120.000 auf 335.000 gestiegen. In den Bundesländern Hessen, Berlin, Hamburg und Bremen bilden die Gewerbemeldungen von Ausländern (das heißt hier sind nicht einmal die Personen mit Migrationshintergrund eingeschlossen) die Mehrheit der Gewerbemeldungen. Die Erklärung dürfte in erster Linie darin zu suchen sein, dass der reguläre Arbeitsmarkt für sie nicht ausreichend als Ort der Integration funktioniert. Aus den vier maßgeblichen statistischen Arbeitsmarktindikatoren (niedrigere Erwerbstätigenquote, höhere Arbeitslosigkeit, höhere Selbstständigkeit und steigende Gewerbemeldungen der migrantischen Erwerbstätigen) lässt sich ableiten, dass Ausländer bzw. Migranten (hier definiert als Menschen mit Migrationshintergrund) sogar besonders stark mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert sind. Im Jahre 2008 betrug dieser Anteil laut Mikrozensusdaten weiterhin 36,5 Prozent – und dies trotz der besseren Konjunkturlage. Dieser Trend setzte sich fort: 2012 waren 39,4 Prozent aller beschäftigten Ausländer in einer atypischen Beschäftigung beschäftigt (Migazin 2013). Jeder zweite Ausländer war im Niedriglohnsektor beschäftigt. Es war in den 2000er Jahren die sehr spezielle, häufig prekäre Situation der migrantischen Unternehmer, die gar nicht so recht in die Art und Weise, wie man lange Jahre Stadtentwicklung betrieben hatte, passte. Im Rahmen einer Studie zum Zusammenhang von migrantischem Entrepreneurship und sozialer Kohäsion in Berlin (Hillmann/Taube 2009) erklärte einer der damaligen LSK (Lokales Soziales Kapital)-Beauftragten, wie wenig die traditionellen Förderinstrumente mit den Gegebenheiten vor Ort korrelierten und was daraus folgte: »Man muss mit einer anderen Herangehensweise arbeiten. Man muss sich über Netzwerke oder Moderatoren oder Multiplikatoren an die Gruppen heranwagen, die vielleicht durchaus ihren Handel im Griff haben, aber auf behördendeutsch verfasste Einladungen nicht lesen oder den Sinn dahinter nicht verstehen können. Aber das kann man nur über so eine Art von streetworking machen, aber das ist natürlich enorm aufwendig und die Frage ist, wen bindet man ein? Wer ist derjenige, dem die Leute vertrauen? Man müsste die Vereinigungen besser nutzen, die migrantischen Vereine und Verbände. Mit denen müsste man noch enger zusammenarbeiten können, um diese Gruppen zu aktivieren.« (LSK-Beauftragter). Das aber ist eine zeitintensive und langwierige Aufgabe:



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»Heute funktioniert das nicht mehr, dass wir sagen: wir machen eine große Versammlung, wir laden ein, wir haben eine Tagesordnung, stellen etwas zu Essen hin und hoffen, dass sie alle kommen. Man muss das, meiner Ansicht nach, auf ganz, ganz kleine Bereiche reduzieren und sagen: Wir machen hier einen lokalen Treffpunkt mit den Unternehmen nur rund um die Passage. Was interessiert den Händler in der Passage, was unten am Bahnhof Neukölln passiert?« (Mitarbeiterin der Wirtschaftsförderung) Die ›Projektitis‹, die mit den recht kurzfristigen Planungshorizonten und Finanzierungszeiträumen einherging, führte unter anderem zu einer fehlenden Nachhaltigkeit begonnener erfolgreicher Modellprojekte und Strukturen. Bedacht wurde dabei nicht, dass die meisten Projekte auf diesem Feld eine längere Anlaufphase benötigten, allein schon, um erst einmal Zugänge zu den jeweiligen Zielgruppen herstellen zu können. Häufig waren es die migrantischen Unternehmen, die für die Behörden überhaupt einen Zugang zu den verschiedenen Communities herstellen konnten. Beispiele aus der Praxis hatten gezeigt, dass nur diejenigen Projekte wirklich Erfolg haben konnten, die auf Langfristigkeit angelegt waren und die bei Erfolg in eine Regelfinanzierung übernommen wurden. Dieses Problem des zeitlichen Missmatches wurde nicht nur von im Projekt Aktiven als frustrierend empfunden, sondern auch von den Behörden bedauert. Die Anlaufschwierigkeiten und Einarbeitungsmühen wurden systematisch unterschätzt und die Kontinuität der Projekte konnte nicht gesichert werden: »Aber das Problem ist meiner Ansicht nach immer: Was passiert nach Beendigung der Förderung? Die Nachhaltigkeit ist nie gewahrt. Kein Mensch macht die Arbeit danach. Nach anderthalb Jahren ist ein Angebot dann so gut eingeführt, dass sie auch richtig zu tun haben. Es hat sich in der Community gut rumgesprochen und es arbeiten da auch gute Kräfte. Dann ist es vorbei, keiner zahlt mehr, und dann sitzen sie wieder da und wissen nicht, wo sie hingehen sollen.« (Experte der Senatsverwaltung) Auch die Vorstellung, dass es so etwas wie »automatische Solidarität« unter den kleinen Unternehmern gäbe, stellte sich als Illusion heraus. So scheiterte die von der Wirtschaftsförderung Neukölln angestrebte engere Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und den migrantischen Unternehmen im Jahre 2009 zunächst: »Dieses Misstrauen unter den Verbänden und Vereinen war ziemlich groß und es ist uns nicht gelungen dieses Misstrauen abzubauen. Wir hatten eine andere Vorstellung. Wir dachten, dass wir mit ihnen unser Netzwerk erweitern: Ihr habt Zugang zu den Unternehmen und ihr könnt Multiplika-

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toren sein. Ich habe den Eindruck, dass sie das durchaus verstanden haben, aber daraus können sie keine Finanzierung bekommen. Deren Vorstellungen waren immer, sie beteiligen sich an der Unterstützung der Unternehmen, aber sie müssen dafür auch entlohnt werden. Eine durchaus nachvollziehbare Forderung, aber die kriegt man nur hin, wenn man arbeitsmarktpolitische Projekte macht, mit ABM, MAEs und wie sie alle heißen. Und wenn ich die mache, dann bekomme ich auch Geld und dann kann ich mit diesen Regiekosten gut leben. Insofern ist eine Konkurrenz aus dieser Situation entstanden, die wir gar nicht haben wollten, die wir auch nicht bedacht hatten.« (Mitarbeiter der Senatsverwaltung, Neukölln) Trotz dieser Schwierigkeiten und der in vielen Fällen prekären Situation der Unternehmer ist das migrantische Unternehmertum inzwischen in vielen Städten fester Bestandteil der Ökonomie und der Urbanität geworden. Häufig sind die Unternehmer Ansprechpartner für Institutionen und tragen insgesamt zu einer Stabilisierung der Stadtteile bei. Nur so lässt sich das starke Interesse verschiedener Träger wie dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR 2010) oder aber der vielen Studien zur »Standortentwicklung« verstehen. Man erhofft sich von den migrantischen Ökonomien, dass sie durch die bessere Einbeziehung ihrer Potenziale die Wirtschaftsstruktur allgemein, unter anderem auch die Ausbildungssituation, stärken könnten. Hier wirkt nun ein Umgang mit dem »Fremden/dem Anderen« fort, der typisch ist für den Umgang mit dem »Fremden« in Deutschland: Das Andere wird jeweils dann akzeptiert, wenn es eine ökonomische Verwertungslogik gibt. Das »Ethnische«, das »Migrantische« wird zum Vermarktungsfaktor in der Stadtentwicklung, wenn es irgendwie erfolgreich ist. Ein solches »Erfolgreich-Sein« kann sich sogar nur auf die Oberfläche der migrantischen Unternehmen beziehen: Für das Stadtmarketing reichen die bunten Fassaden, die Kreuzberg und Neukölln für den Touristen interessant machen. Hierin liegt ein der Stadt Berlin eigenes Potential der Urbanität (»Arm aber sexy. Bunt«) In einigen europäischen Städten, beispielsweise in London mit seiner Brick Lane oder aber in Amsterdam, hat sich ein solches Image um die von migrantischen Ökonomien geprägten Stadtteile gebildet, dass Aytar und Rath (2011) von einem »Ausverkauf des Ethnischen«, einer Kommodofizierung, sprechen. »Selling ethnic neigh­ borhoods« nennen sie die Entwicklung, solche von Migranten geprägten Stadtteile als Touristenattraktion zu nutzen. Migrantisch geprägte Stadtteile werden über das »place brand«, einem stadtpolitischen Instrument in new-



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urban-governance-Manier, zu einem vermarktungsfähigen Image aufgebaut (vgl. Shaw 2011: 386 ff.; Kloosterman 2009). Festivals und Paraden sind in diesen Städten ein weiterer Berührungspunkt von Migration und Stadtentwicklung und sorgen dafür, dass auch die Stadtteile multikulturell zelebriert werden (Dwyer 2010: 162 f.). In dieser Hinsicht ist Berlin in Deutschland führend. Die Besonderheit liegt auf der symbolischen Ebene: Die Stadt ist jetzt gelegentlich auch eine Bühne für das »Migrantische«, und die Mehrheit der Stadtbevölkerung nimmt als Zuschauerinnen und Zuschauer teil. Alle Stadtbewohner sind ausdrücklich eingeladen, an den Vorbereitungen teilzunehmen und die Beteiligung von Migrantinnen und Migranten erhält eine Form der Wertschätzung, die es in der alltäglichen Praxis sonst nicht gibt. Der »Karneval der Kulturen« als Massenevent ist der für die Allgemeinheit sichtbarste Beitrag der Migranten. Es gibt aber auch kleinere Veranstaltungen, wie beispielsweise die seit circa zehn Jahren laufenden »48 Stunden Neukölln«, bei denen man sich von stadtpolitischer Seite aktiv um eine Einbeziehung von Migranten bemüht. Allerdings wird von den beteiligten Akteuren auch die Gefahr gesehen, die Migranten und Künstler in gewisser Weise »auszunutzen« – persönlich oder auch als Vorwand, um an mehr Stadtentwicklungsgelder zu kommen: »Bei Künstlern ist es immer so, dass sie gern genutzt werden, um das Image des Bezirks zu stärken: ›Guckt mal, was wir alles hier haben.‹ Aber kein Mensch gibt ihnen Geld oder kein Mensch zahlt den Wert der Kunst, den die eigentlich produzieren. Aber jeder will sie gern für Stadtteilfeste, für Veranstaltungen: ›Kannst du nicht mal deine Sachen da ausstellen. Ist ja auch schön, wenn du mal aus deinem Atelier rauskommst, kannst auch neue Kunden bekommen.‹ Keiner würde das zum Obsthändler sagen und insofern werden die wahrscheinlich am meisten ausgenutzt, haben am wenigsten Geld, aber lassen sich auch am meisten ausnutzen. Aber es ist natürlich immer schick, wenn man in seinem Bezirk über eine Künstlerszene, eine InSzene, eine Alternativszene verfügt, die nicht kriminell, sondern künstlerisch kreativ angehaucht ist. Zurzeit geht ja bei uns im Bezirk nach wie vor die Marketing-Kampagne in eine andere Richtung. Das meiste Geld gibt es im Bezirk immer dann, wenn die Missstände intensiv benannt werden und das wird mit Perfektion betrieben. Und solange die QMs ihr Geld kriegen und neue QMs dazukommen, kann man aus fiskalischer und politischer Sicht sagen, der Ansatz ist richtig.« (Mitarbeiter der Wirtschaftsförderung, Stadtteil XY) (Hillmann/Taube 2009).

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Fazit Heute lässt sich in Städten wie Berlin von einer »marginalen Urbanität« sprechen, nicht mehr nur von »urbaner Marginalität«, denn die Migrantinnen und Migranten haben größere Bedeutung für die Stadtentwicklungspolitik gewonnen, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Statt nur von ihren Defiziten zu sprechen, werden heute auch ihre »Potenziale« betont. In der Diskussion geht es außerdem nicht mehr nur um soziale Brennpunkte oder Konflikte wegen des Baus von Moscheen, sondern um die Einbindung der Migrantinnen und Migranten in die stadtpolitischen Auseinandersetzungen. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass die »Menschen mit Migrationshintergrund« in einigen Städten in den jungen Alterskohorten bereits die Mehrheitsbevölkerung stellen, sondern auch damit, dass sich die Wahrnehmung allmählich verändert: Die Präsenz von migrantischen Kulturen im Stadtraum gilt immer öfter als »normal« und wird nicht mehr nur mit »Exotik« oder »Problemen« assoziiert, ja sie wird geradezu zu einem konstitutiven Element von »Urbanität«. Einen großen Beitrag zur dieser »Normalisierung« hat die von Häußermann vorangetriebene Sozialraumorientierung anstelle einer defizitorientierten sektoralen Stadtpolitik geleistet. Erstmals wurden Migranten und Migrantinnen hier nicht mehr nur mit ›Maßnahmen‹ beliefert. Die Kiezbewohner selbst sollten ihre Kräfte und Vernetzungen aktivieren, neue Instrumente der Stadtpolitik wurden ausprobiert. Wichtig ist die Rolle der migrantischen Ökonomien in diesem Prozess. Paraden und Festivals profitieren von der starken Präsenz migrantischer Gruppen. Städte mit traditionell starken Einwanderervierteln wie London und Amsterdam (und übrigens mit langjährigen Multi-Kulti-Politiken) bewerben ihre »ethnischen Distrikte« sogar und konzentrieren Teile ihres Stadtmarketings auf sie. Die migrantische Selbstständigkeit ist Teil der zunehmenden atypischen Beschäftigung, die wiederum charakteristisch für die postindustriellen Arbeitsmarktstrukturen ist. Dass sie wächst, kann entweder als Ausdruck einer Notlösung angesichts fehlender Möglichkeiten am Arbeitsmarkt interpretiert werden oder aber als eine von den Beteiligten selbst gestaltete Existenzform. Diese Janusköpfigkeit der migrantischen Selbstständigkeit war bislang für die quartiersbezogenen Stadteilpolitiken in Berlin eher nebensächlich. Die hier vorgestellten Expertenmeinungen zeigen, dass die migrantischen Unternehmen einen Ansatzpunkt für den Zugang zu den verschiedenen Communities darstellten und dass sie Anstoß zu Veränderungen



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in der Vorgehensweise der Verwaltungen gaben. Die lokalen projektbasierten Maßnahmen zeitigen allerdings immer wieder ähnliche Schwierigkeiten: Kurzatmigkeit, unklare Zuordnungen und Planungsunsicherheit mit großen Reibungsverlusten für die in den Projekten Engagierten und ein Erlahmen der angestoßenen Aktivitäten nach Projektende. Viele Fragen bleiben offen: Wie lassen sich die meist projektförmig organisierten Aktivitäten verstetigen? Wie geht man mit transitären Formen von Mobilität um, das heißt mit der Tatsache, dass – sogar zunehmend mehr – Bewohner sich nur vorübergehend in einer Stadt aufhalten? (Hannemann 2010) Migranten und insbesondere transitäre Bewohner in die Stadtentwicklungspolitik einzubeziehen ist aus vielfältigen Gründen, nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Ungleichheiten, schwierig zu realisieren. Aber die Einmischung der Bewohner – ob Migranten oder nicht – in die Angelegenheiten der Stadt gehört zum Grundprinzip einer demokratischen Gesellschaft. Nötig ist Forschung zu den Hemmnissen und Möglichkeiten solcher Partizipation und vor allem eine breiter angelegte öffentliche Debatte über Partizipation und urban citizenship.

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In einer Rezension zu der von Martina Löw vorgelegten Monographie Soziologie der Städte fasste Hartmut Häußermann sein Verständnis von Stadtsoziologie abschließend folgendermaßen zusammen: Dieser gehe es »um die Erforschung von Ungleichheitsstrukturen und sozialen Beziehungen von städtischen Vergesellschaftungsprozessen und um die Unterschiedlichkeit von Lebenschancen, von Macht und Herrschaft […]. Die Stadtsoziologie analysiert Städte als Strukturen der Verteilung von Lebenschancen […] und als Orte einer spezifischen (urbanen) Lebensweise« (Häußermann 2012: 71). Analog zu diesem Ausgangspunkt richteten sich Häußermanns Erkenntnisinteressen insbesondere auf sozialräumliche Segregation (vgl. u. a. Häußermann/Kapphan 2000; Goebel u. a. 2010) sowie auf die Gestaltungskraft lokaler Politik (vgl. Häußermann u. a. 2008: 313 ff.). Zuletzt interessierte ihn besonders, ob Städte bzw. deren politische Akteure im institutionellen Wandel von local government zu local governance (noch) willens und in der Lage sind, eine integrative Politik in dem Sinne zu betreiben, dass Anliegen von sozial und ökonomisch marginalisierten Bewohnergruppen wahrgenommen und berücksichtigt werden; ob Stadtpolitik also noch Einfluss auf die Verteilung von Lebenschancen nehmen kann und Herrschafts- und Kontrollmechanismen sich nicht einseitig gegen durchsetzungsschwächere Gruppen richten (Häußermann 2006; Häußermann u. a. 2010). Im Zusammenhang mit letztgenanntem Aspekt sind insbesondere die kommunalen Sicherheitspolitiken seit den 1990er Jahren stadtsoziologisch in ihrer Tendenz als desintegrierend identifiziert worden (u. a. Beste 1 Dieser Artikel basiert auf der Studie Urbane Sicherheit und Partizipation (Wurtzbacher 2008), insbesondere handelt es sich um eine überarbeitete und ergänzte Version des Kapitels Formen urbaner Sozialkontrolle: öffentliches Leben und nachbarschaftliche Selbststeuerung (ebd., S.: 29–47). Für kritische Lektüre und wichtige Hinweise danke ich herzlich Martin Kronauer und Walter Siebel sowie Birgit Glock, Martin Gornig, Wulf Hopf und Uwe-Jens Walter.



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2000; Simon 2001; Wehrheim 2002; Eick 2004). Ein Vorwurf lautete, dass Kontrollprozesse zunehmend privatisiert und dadurch einseitig die Sicherheits- und Ordnungsinteressen von Investoren bzw. von ökonomisch gut situierten Stadtbewohnern bedient würden, wodurch die sozialräumliche Ausgrenzung bestimmter Bewohnergruppen vorangetrieben (Belina 2005: 151 ff.) und bestehende Konfliktlinien repressiv vertieft anstatt moderiert und temporär geschlichtet würden. Sozialräumliche Konflikte nehmen somit eine desintegrierende statt eine integrierende Funktion ein. Empirisch belegt wurden diese kritischen Diagnosen einerseits durch die Zunahme privater Räume in Städten und deren Kontrolle durch privatwirtschaftliche Sicherheitsfirmen (beispielsweise in Shopping Malls oder Gated Communities) (Wehrheim 2002; Kirsch 2003) und andererseits mit einer zunehmenden polizeilichen Aufmerksamkeit für Phänomene der Unordnung und nicht ziviler Verhaltensweisen (incivilities) im öffentlichen Raum. Zeitgleich mit der Privatisierung von Kontrollprozessen – aber von weit weniger stadtsoziologischem Interesse begleitet – entstand eine zweite Entwicklung im Bereich der Sicherheitsgewährleistung: Die Polizeibehörden begannen sich unter der Überschrift der kommunalen Kriminalprävention im Verlauf der 1990er Jahre stärker für Fragen der lokalen Lebensqualität und der Herstellung von Sicherheitsgefühl in Städten zu öffnen, rückten also teilweise von einem rein auf die Verbrechensbekämpfung gestützten professionellen Selbstverständnis ab. Zwischen Polizei und Kommunalverwaltungen formierte sich ein Feld der lokalen kooperativen Sicherheitspolitik (Frevel 2007, 2012; Feltes/Gramkow 1994), in das partiell auch Bewohner von Nachbarschaften eingebunden werden sollten. Die Rolle der Polizei als spezialisierte Institution der Sicherheitsgewährleistung weichte an ihren Rändern sowohl in Richtung der lokalen Verwaltungsstrukturen als auch zu lokal-gemeinschaftlichen Handlungsstrukturen hin auf (Wurtzbacher 2008: 153). Normative Ausgangsidee dieses Wandels war es, die Entstehungsursachen für Kriminalität und die Kriminalitätsfurcht von Bürgern nicht nur durch behördlich-institutionelles Handeln zu bearbeiten, sondern »in einer Gemeinde ›gemeinschaftlich‹ für ein lebenswertes Umfeld zu sorgen« (Feltes 2004: 12), also auch unter Einbindung bürgerschaftlichen Engagements bzw. nachbarschaftlicher Handlungsnetzwerke. Die beteiligten Institutionen wurden aufgefordert, »demokratisch und integrativ« (ebd.: 13) tätig zu werden, also kleinräumige Sicherheitsbedürfnisse unterschiedlicher Bewohnergruppen zu berücksichtigen. Nimmt man dies ernst, dann kennzeichnet diesen präventiv ausgerichteten Zweig der Sicherheitspolitik

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auf einer normativen Ebene die Absicht, mittels Sicherheitspolitik den sozialen Zusammenhalt in Nachbarschaften und deren Fähigkeit zum demokratischen Umgang mit Konflikten zu steigern. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob dies ein empirisch realistischer Anspruch ist und ob er in der Umsetzung mit den richtigen Handlungsstrategien verfolgt wurde. Dieser Frage wird weiter unten noch anhand der kriminalpräventiven Gremienarbeit nachgegangen. Vorab ist jedoch eine kurze theoretische Überlegung zum Verhältnis von Gemeinschaft und sozialer Kontrolle anzustellen, da beide Begriffe – »Gemeinschaft« wie »soziale Kontrolle« – stadtsoziologisch stärker als Gegensatz zu urbanem öffentlichem Leben interpretiert wurden, denn als Teil desselben. Dadurch geraten sicherheitspolitische Strategien, die auf beide Konzepte rekurrieren, bereits vor einer empirischen Auseinandersetzung unter den theoretischen Generalverdacht der Einschränkung des öffentlichen Lebens.

Gemeinschaft, Gesellschaft und soziale Kontrolle Gemeinschaft und soziale Kontrolle bilden den vermeintlich ländlichdörflichen Gegenpart zur funktionierenden Urbanität: In seinem für die Stadtsoziologie paradigmatischen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben beschreibt Georg Simmel (1984 [1903]: 192 ff.) die Großstädter als zweckrationale Wesen, die sich angesichts der vielfältigen städtischen Eindrücke gegen jede Überraschung wappnen und sich aufgrund der Masse kopräsenter Akteure sanft abweisend gegenüber ihren Mitmenschen verhalten: Intellektualität, Reserviertheit und Blasiertheit kennzeichnen den Simmelschen Großstädter (Häußermann/Siebel 2004: 38), der befreit von den engen Strukturen der dörflichen Sozialkontrolle in der großstädtischen Anonymität seinen persönlichen Neigungen freien Lauf lassen kann. Eine These, der Louis Wirth (1938: 3) durch seinen Aufsatz Urbanism as a Way of Life im amerikanischen Sprachraum zu weiterer Popularität verhalf und weiter durch die Behauptung zuspitzte, die freien Großstädter verlören »the spontaneous self-expression, the morale, and the sense of participation that comes with living in an integrated society« (ebd., siehe auch Häußermann 1995: 92). Simmel und Wirth bemühen also eine klare Unterscheidung zwischen urban-öffentlichem und gemeinschaftlich-dörflichem Leben und ordneten das Merkmal der Integration einseitig dem dörflich-verwandt-



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schaftlichen Miteinander zu: Distanz und Zurückhaltung bei Simmel sowie kontrollierte Individualität und ein degenerierter Sinn für Teilhabe und verbindende Wertvorstellungen schwächen den integrativen Charakter des urbanen Soziallebens. Letzteres erscheint deshalb als Nebeneinander indifferenter Personen, die ihre Individualität in diskreter Weise präsentieren, verbunden lediglich durch generalisierte Verhaltenserwartungen an ihre jeweiligen Funktionsrollen. Wirth knüpft dieses Verhältnis außerdem an die entwicklungstheoretische Überlegung, wonach sich mit zunehmender Größe, Dichte und Heterogenität der Bewohnerschaft deren direkte, auf lokalen Gemeinschaften beruhende Beziehungsgeflechte verflüchtigen zugunsten indirekter, sekundärer Kontakte (Wirth 1938: 10 ff.). Kennzeichen von Modernisierung und Urbanisierung sind somit die Erosion gemeinschaftlich-empathischer zugunsten gesellschaftlich-funktionaler Beziehungsstrukturen. Gegen diese Auffassung von sozialer Ordnung als Gegenüberstellung von Gemeinschaft auf der einen und Gesellschaft auf der anderen Seite gingen Ende des 19. Jahrhunderts die Schöpfer der Theorie der Sozialen Kontrolle (siehe die umfassende Darstellung bei Jannowitz 1973 sowie 1975) zunächst von übergreifenden kollektiven Handlungsprozessen aus (Hahn 1995: 60). Edward E. Ross identifizierte 1896 mit sozialer Kontrolle die Tatsache, »dass Menschen nahe beieinander leben und ihre Bestrebungen mit jenem Maß an Harmonie ineinander fügen, das wir um uns herum beobachten können« (Ross 1901, zit. nach Jannowitz 1973: 500). Hier geht es weniger um die Herstellung von Konformität durch repressive Mittel, sondern um einen emergenten, sich mit gegenseitigem Einverständnis der Akteure reproduzierenden Handlungsstrom. In diesem Sinne wurde das Konzept der Sozialen Kontrolle bis in die 1950er Jahre rezipiert (ebd.). Danach begann eine Engführung (Scheerer 2000: 156 ff.), weg vom Gedanken der Selbstregulation hin zu einer herrschaftskritischen Verwendung zur Bezeichnung von Mechanismen, um (vermeintliche) Abweichungen zu unterbinden (ebd.). Seit den 1980er Jahren sieht Scheerer (1995: 120 f.; 2000: 159 ff.) eine regelrechte Ächtung der Überlegungen zur sozialen Kontrolle, mit den Vorwürfen, diese seien nicht nur nicht in der Lage, die subtilen Formen aktueller Machtausübung wahrzunehmen, sondern würden diese darüber hinaus implizit aufgrund der inflationären Verwendung des Begriffes sogar legitimieren, weshalb ein Denken in den kritischen Kategorien von Sozialdisziplinierung und sozialem Ausschluss zielführender sei (Sack 1993: 39).

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Öffentliches Leben als sozialer Kontrollprozess Analog zu den angedeuteten Entwicklungen der allgemeinen soziologischen und kriminologischen Theoriebildung konnte sich das Konzept der sozialen Kontrolle in seinem ursprünglichen Bedeutungsgehalt auch in der stadtsoziologischen Theoriebildung nicht auf breiter Ebene verankern. Vielmehr avancierte die Auffassung von Wirth (1938) zum Konsens, wonach umso mehr gemeinschaftlich-wertgebundene Beziehungen zugunsten zweckrationaler Beziehungsnetze verschwinden, je größer, dichter und heterogener eine Agglomeration wird (Dewey 1960: 60 ff.). Insbesondere bei Hans Paul Bahrdt (1998 [1961]) findet sich die Betrachtung großstädtischen Lebens als Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit (Häußermann/Siebel 2004: 55 f.). Während sich in der Öffentlichkeit die Akteure in funktional spezifischen Rollen gegenübertreten, dominiert in der Sphäre der Privatheit Intimität und die ›gesamte‹ Person jenseits ihrer Funktionsrollen. »Eine Stadt ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch das alltägliche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, das heißt entweder im sozialen Aggregatzustand der Öffentlichkeit oder der Privatheit stattzufinden. […] Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto ›städtischer‹ ist, soziologisch gesehen, das Leben einer Ansiedlung« (Bahrdt 1998 [1962]: 83). Diese Polarität wird ablesbar am Gegensatz zwischen öffentlichem Raum und der davon abgeschirmten privaten Wohnung, die der Ort für gemeinschaftlich-wertgebundene und intime Handlungsmuster bleibt (ausführlicher bei Wurtzbacher 2008: 34 f.). Siebel (2003) weist darauf hin, dass die These der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit nicht allein deskriptiv zu verstehen sei, sondern von Bahrdt durch das Ideal der bürgerlichen Familie einerseits und das der bürgerlichen Öffentlichkeit mit dem Anspruch auf »durchgesetzte Demokratie und gesellschaftliche Integration ohne Ausgrenzung von Differenzen« andererseits an normative Idealvorstellungen geknüpft wurde (Siebel 2003: 252). Die darin enthaltene Vorstellung von Öffentlichkeit als inklusivem Raum, in dem vielfältige Verhaltensweisen zur Geltung kommen können, gerät somit in Gegensatz zur sozialen Kontrolle. Jegliche Einschränkung der Zugänglichkeit oder Verdrängung von Differenzen muss als Einschränkung des integrativen Charakters der Öffentlichkeit wahrgenommen werden (Siebel/Wehrheim 2003: 22 f.). Dieses gegensätzliche Verhältnis ändert sich auch dadurch nicht, dass gleichzeitig die Notwendigkeit von sozialer Kontrolle zur Herstellung von Öffentlichkeit anerkannt



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und von einem ambivalenten Verhältnis dieser beiden Sphären gesprochen wird (ebd.: 19). Die Schwierigkeit, einer grundsätzlichen Platzierung der sozialen Kontrolle außerhalb von Öffentlichkeit bzw. deren feindliche Gegenüberstellung, bleibt erhalten. Innerhalb des öffentlichen Raums werden Kontrollprozesse lediglich als Selbstkontrolle einzelner Akteure respektiert (ebd.: 22 f.), soziale Kontrolle bleibt eine von außen kommende Bedrohung der inklusiven Qualität des öffentlichen Raumes (siehe hierzu die ausführliche Diskussion der Positionen bei Wurtzbacher 2008: 34–38). Dagegen lässt sich in Rückgriff insbesondere auf Jane Jacobs (1963) und Lyn Lofland (1998) die These vertreten, dass es sich bei Öffentlichkeit bzw. öffentlichem Leben selbst um einen Prozess sozialer Kontrolle handelt, der auf einem geteilten normativen Fundament ruht. Beide Autorinnen orientieren sich am ursprünglichen, auf Selbststeuerung ausgerichteten Bedeutungsgehalt von sozialer Kontrolle. Für Lofland (1998: 33) entsteht das öffentliche Leben der Städte unter anderem dadurch, dass Individuen darauf verzichten, unnötigerweise die Aufmerksamkeit anderer Personen zu wecken, ihr gegenseitiges Bedürfnis, vorwärts zu streben, anerkennen und sich im engen Raum des Bürgersteigs oder in öffentlichen Verkehrsmitteln kooperativ verhalten (ebd.: 28 f.). Auskünfte werden nur in begrenztem Umfang erbeten und gegeben; Hilfsbereitschaft äußert sich diskret, und provozierend zur Schau gestellte Unterschiede im Kleidungsstil, in der ethnischen Zugehörigkeit etc. werden aufgrund des Gebotes der allgemeinen Gleichbehandlung akzeptiert (ebd.: 33). Über die Gebote der zivilen Nichtbeachtung, der kooperativen Beweglichkeit, der zurückhaltenden Hilfsbereitschaft sowie der Toleranz gegenüber Vielfalt (ebd.) erscheint das öffentliche Lebens selbst als sozialer Kontrollprozess, der urbane Heterogenität nicht deswegen ermöglicht, weil normative Fragen in die Individuen zurückverlagert würden, sondern weil er seinerseits auf den genannten normativen Grundlagen einen gleichermaßen ermöglichenden wie limitierenden Rahmen für Heterogenität bereitstellt. Es geht weniger um eine unverbundene Ansammlung sich selbst kontrollierender Individuen, als um die komplizierte wechselseitige Implikation von Verhaltenserwartungen, eben um einen sozialen Kontrollprozess im Sinn einer emergenten kollektiven Schöpfung. Eine Verbindungslinie zwischen öffentlichem Leben und der Sicherheitsgewährleistung in Städten zog Jane Jacobs bereits 1963 in ihrem Essay zum Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Für sie wird »die öffentliche Sicherheit der Großstädte, das heißt die Sicherheit vor allem ihrer Bürgersteige und Straßen, nicht primär von der Polizei aufrechterhalten […]. Die öffent-

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liche Sicherheit wird primär durch ein kompliziertes, fast unbewusstes Gewebe aus freiwilliger Kontrolle und grundsätzlichen Übereinkommen unter den Menschen selbst getragen und durchgesetzt.« (dies. 1963: 29) Sicherheit und Öffentlichkeit stehen somit in einer Wechselwirkung, als deren Quelle Jacobs die Summe aus flüchtigen und unverbindlichen Begegnungen im öffentlichen Raum identifiziert (ebd.: 47). »Eine gute, funktionsfähige Straßennachbarschaft vollbringt ein Wunder an Gleichgewicht zwischen dem Willen der Menschen, ihre Privatleben im wesentlichen zu verteidigen, und ihrem gleichzeitigen Wunsch nach verschiedenen Graden von Kontakten mit den Menschen um sie herum, die sie entweder genießen oder in Notfällen in Anspruch nehmen möchten.« (ebd.: 49). Nicht in erster Linie die in ihrer Reichweite und personellen Ausstattung begrenzten formellen Kontrollinstanzen bilden in dieser Argumentation den Garant für die Sicherheit der Städte, sondern das vielfältige, wechselseitige soziale Kontrollgeflecht unterschiedlicher »local communities« (Wurtzbacher 2008: 44 f.). Jacobs Einschätzungen zu den baulichen und demographischen Voraussetzungen – eine ausreichend dichte Bewohnerschaft, die Einsehbarkeit des öffentlichen Raumes sowie breite Gehwege für flüchtige Begegnungsgelegenheiten (ebd.: 32) – wurden grundlegend von Oscar Newman (1973) weiterentwickelt. Mit seiner These vom Defensible Space konstruierte er einen Zusammenhang zwischen der baulichen Gestaltung eines Raumes, dessen Wahrnehmung durch die Bewohner und einer daraus folgenden Belastung mit Kriminalität und Vandalismus: Unübersichtliche und unspezifisch nutzbare Räume führen aus seiner Sicht zum Verfall sozialen Kontrollpotentials; Bewohner verlieren ihr Verantwortungsgefühl für den Nahraum.2 In den 1980er Jahren avancierte die so genannte Broken-Windows-Theorie (Wilson/Kelling 1982) zur populärsten kriminologischen Überlegung schlechthin. Danach lassen der bauliche Zustand einer Nachbarschaft und die Belastung mit incivilities auch Voraussagen über deren Kriminalitätsbelastung zu: Je stärker die wahrgenommen Verfallssymptome, umso geringer die sozialen Kontrollprozesse und die Hemmschwelle für Kriminalität. Empirisch konnten mehrere Untersuchungen zumindest einen Zusammenhang zwischen der Wahrneh 2 Die Überlegung, wonach die architektonische Gestaltung von Räumen auch deren Kriminalitätsbelastung beeinflusse, wurde innerhalb von Architektur und Stadtplanung sehr populär, provozierte aber auch deutliche Kritik, u. a. den Einwand, Newman suggeriere, dass man dem Phänomen von Kriminalität allein durch bauliche Mittel beikommen könne, ohne sich um gesellschaftliche Ursachen für Abweichung sorgen zu müssen (Schreiber 2011: 40).



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mung von incivilities, dem Ausmaß nachbarschaftlicher Beziehungsnetzwerke und der Kriminalitätsfurcht von Bewohnern nachweisen (z. B. Skogan 1990, Scarborough u. a. 2010). Das öffentliche Leben der Städte stellt sich angelehnt an diese Argumentationen als sozialer Kontrollprozess im Sinne einer emergenten Ordnung dar, dessen normative Grundlagen sich im Zuge des Interaktionsprozesses selbst stabilisieren, zunächst jenseits eines hierarchischen Kontrollverhältnisses zwischen einer Konformismus einfordernden Allgemeinheit und einem durch Konformitätserwartungen in seinen vitalen Äußerungen beschnittenen und kontrollierten Individuum. Die soziale Kontrollform des öffentlichen Lebens entsteht ohne Planung und Sanktionsdrohung als ständiger spontaner Entwicklungsprozess im städtischen Alltag. Ohne diesen sanften Kontrollprozess fällt der Schutz von Fremdheit und Heterogenität in sich zusammen, öffentliches Leben wird unmöglich und die zivilen Standards des urbanen Zusammenlebens sind ernsthaft bedroht (vgl. hierzu beispielhaft Caldeira 2000 zur Situation in Sao Paulo). Ende der 1990er Jahre ging es den politisch-praktisch argumentierenden Autoren innerhalb der so genannten Kommunitarismusdebatte um die Aktivierung örtlicher Gemeinschaften in diesem Sinne. Etzioni (1998) oder Giddens (1999) sahen in der Belebung kleiner lokaler Gemeinschaften Möglichkeiten zur Sicherung sozialer Wohlfahrt allgemein, speziell aber auch zur Prävention von Kriminalität, eingebettet in kooperative Strukturen zwischen Sicherheitsbehörden, lokaler Verwaltung und weiteren kommunalen Institutionen (ebd.: 103). Diese Positionen fügten sich zum damaligen Zeitpunkt in eine skeptische Grundstimmung sowohl gegenüber dem Zustand gemeinschaftlich-nachbarschaftlichen Lebens als auch hinsichtlich der Steuerungskompetenzen staatlicher Institutionen. Kleineren territorialen und sozialen Einheiten wurde die Fähigkeit zugesprochen, Probleme gemeinschaftlich in Ergänzung zum staatlich-institutionellen Vorgehen zu bearbeiten, auch im Hinblick auf den Umgang mit Kriminalität.3 Diese kommunitaristischen Überlegungen lieferten gemeinsam mit den Thesen zum sozialen Kontrollpotential von Nachbarschaften und den Auswirkungen von incivilities auf die Kriminalitätsfurcht Rechtfertigung und Hintergrundmusik sowohl für Umbauprozesse inner 3 Der Gedankengang, wonach sich soziale Ordnung über die Koexistenz verschiedener, demokratisch veränderbarer Institutionen, nicht allein zentralisiert-staatlicher, integriert, findet sich auch unter dem Stichwort urban governance in den Auseinandersetzungen mit lokaler Politik (Winkel 2003: 104 f., Häußermann/Läpple/Siebel 2008: 264).

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halb der Polizeibehörden, als auch für institutionelle Neuschöpfungen im Bereich der Sicherheitsgewährleistung in Richtung einer kooperativ ausgerichteten städtischen Sicherheitspolitik (vgl. Frevel 2007: 44 f.). Dabei stellt sich die Frage, in welcher Weise diese Umbauprozesse mit der oben umrissenen Ebene lokaler Gemeinschaft verbunden wurden. Konnte tatsächlich die Ressource einer lokalen Öffentlichkeit in die Kooperation mit Polizei und Verwaltung eingebunden werden? Und wurde dabei auch deren kritisches Potential gegenüber institutionellen Praktiken zur Geltung gebracht? Entstanden Gelegenheiten, die institutionellen Definitionsprozesse von lokalen Problemlagen und die darauf aufbauenden Strategien durch lokale Öffentlichkeiten hinterfragen zu lassen? Dies soll anhand der kommunalen Kriminalprävention kurz beleuchtet werden.

Aufstieg der kommunalen (Kriminal-)Präventionspolitik Wichtige Ausgangspunkte für den angedeuteten Wandel der Kriminalpolitik in Deutschland waren das Sicherheitsempfinden der Bürger einerseits4 und Überlegungen zur Kriminalitätsprävention andererseits (Baier/Feltes 1994: 694; Steffen 2005: 156; Moritz 2000: 76). Beide Felder wurden von der Sicherheitspolitik nicht allein als staatliche Verpflichtung, sondern als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« (Hornbostel 1998: 94) identifiziert, die eine ressortübergreifende Kooperation aller hierfür relevanten Institutionen bis hin zu betroffenen Bürgern erfordere. Insbesondere den Kommunen wurde hierfür eine Schlüsselfunktion zuerkannt (Albrecht 2002: 24), da die lokalen Verwaltungen nicht nur Aufgaben der Gefahrenabwehr und der öffentlichen Ordnung wahrnähmen, sondern gleichzeitig auch für die wichtigen Zweige der kommunalen Jugend-, Sozial- und Wohnungspolitik verantwortlich seien (Heinz 1999: 106). Relevant werden diese Zuständigkeiten insbesondere für die primäre und sekundäre Ebene der Kriminalprävention, für Maßnahmen also, die entweder bereits die Entstehungsbedingungen von Kriminali 4 Insbesondere nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten waren die Kriminalitätssorgen relativ hoch: 1994 machten sich 73% der ostdeutschen und 51% der westdeutschen Bundesbürger große Sorgen um Kriminalität. Allerdings fielen diese Werte im Verlauf der 2000er Jahre deutlich, 2009 machten sich nur noch lediglich 32% der Westdeutschen und 46% der Ostdeutschen große Sorgen um Kriminalität (Statistisches Bundesamt 2011: 297).



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tät beseitigen sollen oder die darauf zielen, gefährdete Personengruppen von der Begehung von Straftaten abzuhalten (Heinz 1997: 24). Unter der Überschrift der kommunalen Kriminalprävention öffneten sich die Polizeibehörden durch neue polizeiliche Arbeitsformen (Präventionsbeauftragte, Jugendbeamte etc.) in Richtung Bewohnerschaft (zusammenfassend van den Brink 2005: 27/28)5 bis hin zur Beteiligung von Ehrenamtlichen am Streifendienst im öffentlichen Raum (Wurtzbacher 2003, van Elsbergen 2004). Gleichzeitig entstanden als institutionelle Neuschöpfungen so genannte Kriminalpräventive Räte, die Kooperationen zwischen lokalen Verwaltungen, Polizei und weiteren präventionsrelevanten Akteuren (beispielsweise den sozialen Diensten) zur Bearbeitung von Sicherheits- bzw. Kriminalitätsproblemen in einem Gremium gewährleisten sollen, nicht zuletzt auch unter Beteiligung interessierter Bürger (Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention 2005: 6–13, sowie aktuell Kober u. a. 2012: 38 f.).6 Den Gremien fehlt eine demokratische Legitimation, da ihre Vertreter nicht gewählt, sondern von den Initiatoren (zumeist Polizei bzw. Verwaltungsspitze) berufen werden; Entscheidungen fallen nur im Konsens (Steffen 2005: 164). Auf quantitativ-empirischer Ebene zeigt sich eine ambivalente Entwicklung dieser Gremien: Eine Mitte der 1990er Jahre einsetzende Gründungswelle kriminalpräventiver Räte flaute Ende des Jahrzehnts wieder ab, die Frequenz der Neugründungen ging deutlich zurück (Schreiber 2007: 18 ff.). In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde ein Bestand von ca. 960 kriminalpräventiven Gremien diagnostiziert und obgleich die Mehrzahl der Großstädte über 100.000 Einwohner kriminalpräventive Gremien implementiert hatten, tagten immerhin rund 50 Prozent der Gremien in Gemeinden bis 20.000 Einwohner, wo man von einer eher geringen Belastung mit Kriminalitätsproblemen ausgehen muss (ebd.: 26). Organisationsformen und personelle Besetzung der Gremien sind von Kommune zu Kommune unterschiedlich, ebenso das jeweils bearbeitete Themenspektrum (Frevel 2007: 180). Die inhaltlichen Bezugspunkte kreisen aber zumeist um die Vermei 5 Mir ist durchaus bewusst, dass im Zuge der kommunalen Kriminalprävention auch repressivere Maßnahmen ergriffen wurden (verstärkte Zusammenarbeit von Sicherheitsinstitutionen im Rahmen von Ordnungspartnerschaften, Einsatz von Videoüberwachung etc.). Diese sind für mich jedoch deshalb weniger relevant, weil es mir hier ausschließlich um die Frage geht, inwiefern die kommunitär ausgerichteten Maßnahmen der kommunalen Kriminalprävention eine Verbindung zum öffentlichen Leben schlagen können. 6 Die Gremien sind für Pütter (2002) die einzig wirklich neuen Interventionsformen im Umgang mit lokaler Sicherheit.

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dung von Kriminalität und abweichendem Verhalten, um die Stärkung des Sicherheitsgefühls von Bewohnern, um den Schutz des öffentlichen Lebens sowie um die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Gestaltung des lokalen Zusammenlebens (ebd.: 34–48).7 Die ursprüngliche Intention der kommunalen Kriminalprävention zielte nicht auf eine Ausweitung von Eingriffs- und Sanktionierungsrechten mittels Satzungen und Verordnungen (Prätorius 2003: 312), sondern auf die Verstärkung lokal-gemeinschaftlicher Kooperationsstrukturen zwischen Sicherheits- und Kommunalbehörden sowie zwischen Bürgern und Sicherheitsinstitutionen (ebd.). Hinter den Aktivitäten zur kommunalen Kriminalprävention stand und steht die Überzeugung, dass es zur Bearbeitung von Sicherheitsfragen ressortübergreifender Kooperation und auch bürgerschaftlicher Partizipation bedarf; eine Auffassung, die in anderen Politikfeldern – beispielsweise der Stadtentwicklungspolitik – annähernd zeitgleich auf die politische Agenda kam und dort weit weniger kritische Stellungnahmen hervorrief.8 Steffen (2012: 72) gibt zu bedenken, dass dies zunächst unabhängig davon gilt, ob die praktische Umsetzung kriminalpräventiver Aktivitäten auf der kommunalen Ebene in ihrer Summe die Repression verstärkt hat. Es bleibt eine empirische Frage, ob die politische Absicht der implementierenden Akteure aus der kommunalen Kriminalprävention bzw. insbesondere aus der kriminalpräventiven Gremienarbeit ein integratives Element lokaler Sicherheitspolitik werden ließ. Wurden tatsächlich und dauerhaft ressortübergreifende Kooperationen und bürgerschaftliche Beteiligungsstrukturen etabliert, die eine integrativ-moderierende und dezentrale Bearbeitung von sozialräumlichen Konflikten unterhalb der staatlichen Ebene 7 In diesen Themenfeldern verorten sich auch die initiierten Projektaktivitäten. Es geht dabei um die Eindämmung bestimmter Deliktarten (z. B. Drogenprävention, Prävention häuslicher Gewalt), um die Beseitigung von Angsträumen im städtischen Umfeld (z. B. durch die Gestaltung von Grünflächen nach kriminalpräventiven Gesichtspunkten) sowie um die Erhebung von lokalen Problemlagen unter Einbezug von Bürgern (Bürgerbefragungen, kriminologische Regionalanalysen) (vgl. als Übersicht u. a. Obergfell-Fuchs 2003). 8 Insbesondere lässt sich hier auf das städtebauliche Leitprogramm des Bundesbauministeriums Stadteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt verweisen. Dieses – wie auch die daran gebundenen Partnerprogramme anderer Ministerien – zeichnete sich durch die methodischen Grundsätze der dezentralen Intervention (mittels Quartiermanagement), der ressortübergreifenden Kooperation sowie der Aktivierung der nachbarschaftlichen Sozialstrukturen aus (vgl. Walther/Güntner in diesem Band sowie insgesamt zur Entstehung und Struktur der sozialen Stadtpolitik Güntner 2007).



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zulassen? Und lässt sich in diesem Zusammenhang von einer vertieften Demokratisierung eines (kommunal-)politischen Feldes sprechen? Bevor einige empirische Ergebnisse hierzu referiert werden, soll jedoch zunächst nochmals der Blick dafür geschärft werden, wie sich die weiter oben umrissenen lokalen Selbststeuerungspotentiale auf einer theoretischen Ebene mit der institutionalisierten Kontrolle verknüpfen lassen, bzw. wie das gegenseitige Verhältnis gedacht werden kann.

Öffentlichkeit und lokale Selbststeuerung Wenn wir kurz auf die oben ausgeführten Argumentationen zur sozialen Kontrolle zurückkommen, so muss man zunächst beachten, dass der USamerikanische Begriff der (local) community im Gegensatz zum deutschen Gemeinschaftsbegriff fest mit dem Ideal demokratischer Selbststeuerung verschmolzen ist (Joas 1992: 861). Jane Jacobs (1963: 79) verortete die Netzwerke des sozialen Nahraums fest innerhalb des stadtpolitischen Steuerungsgefüges. »Offenbar sind als Organe der Selbstverwaltung nur folgende Nachbarschaftstypen von Nutzen: 1. Die Großstadt als Ganzes, 2. Straßennachbarschaften und 3. Bezirke von der Größe eines Stadtteils mit hunderttausend oder, bei den größten Städten, von noch mehr Einwohnern. Jeder dieser Nachbarschaftstypen hat verschiedene Funktionen, aber alle drei ergänzen sich auf komplexe Art und Weise.« (Ebd.: 81) Straßennachbarschaften, die als soziales Kontrollgeflecht das sicherheitsrelevante öffentliche Leben hervorbringen und schützen können (ebd. 82 f.), haben somit für Jacobs auch einen genuin politischen Status und stehen nicht in einem Gegensatz zur lokal-staatlichen Ebene, sondern sind in das wechselseitige Steuerungsgeflecht zwischen den Stadtbezirken und der Gesamtstadt eingebunden. Aber wie lässt sich deren Verbindung zu einzelnen thematisierten Inhalten denken? Wie können bestimmte Anliegen von Bewohnern relevant werden? In diesem Zusammenhang verweist der Philosoph Raymond Geuss in seinem Essay zur Privatheit (2001: 104 ff.) auf Deweys Konzept der Handlungsfolgen als Ausgangspunkt für die Genese von Öffentlichkeit im Sinne regelbedürftiger allgemeiner Anliegen: »Wenn die Folgen einer Handlung hauptsächlich auf die direkt in sie verwickelten Personen beschränkt sind oder für auf sie beschränkt gehalten

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werden, ist die Transaktion eine private. […] Wenn sich jedoch herausstellt, dass die Folgen […] über die direkt Betroffenen hinausgehen, […] dann bekommt die Handlung einen öffentlichen Charakter […]. Die Öffentlichkeit besteht aus all denen, die von den indirekten Transaktionsfolgen in solch einem Ausmaß beeinflusst werden, dass es für notwendig gehalten wird, sich um diese Folgen systematisch zu kümmern.« (Dewey 1996 [1927]: 27, 29, zit. nach Geuss 2001: 105) Der emergente Selbststeuerungsprozess des öffentlichen Lebens wird somit um die Ebene demokratischer Verständigung erweitert. Sofern man die oben erwähnten normativen Grundlagen des öffentlichen Lebens anerkennt, werden Handlungsfolgen dann gefährlich für das öffentliche Leben, wenn sie das Interaktionsgeflecht durch Verletzung von dessen normativen Grundlagen bedrohen. Daraus folgt, dass die integrative Kraft, die Fremdheit und Heterogenität auf engem Raum ermöglicht, ein Ergebnis der Exklusion derjenigen Verhaltensweisen ist, die die anonymen aber vertrauten Bande zwischen kopräsenten Akteuren im Raum durchtrennen und damit den fragilen Prozess des öffentlichen Lebens gefährden. Welche konkreten Verhaltensweisen dies sind und über welche Institutionen diese mit welchen Praktiken legitim ausgeschlossen werden, dies unterliegt letztlich einem Prozess kulturellen Wandels (Geuss 2001: 105) und politischer Selbstverständigung, weshalb Exklusion hier nicht in einem statischen, sondern in einem prozesshaften Sinn zu verstehen ist (vgl. auch Frevel 2002: 88). Damit soll keinesfalls ausgeschlossen werden, dass diese Selbstverständigungsprozesse nicht von einzelnen Interessengruppen einseitig zu deren Vorteil beeinflusst sein können – dies wäre empirisch zu untersuchen –, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, dass man sich mit dem pauschalen Hinweis auf den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit bzw. des öffentlichen Lebens kaum der Tatsache entledigen kann, dass dieses selbst auf Exklusionsprozessen beruht. Nicht jede Öffentlichkeit besitzt ein gemeinsames und alle Beteiligten berücksichtigendes ›öffentliches Wohl‹ (Geuss 2001: 106). Lüdemann (2005) schlägt beispielsweise vor, incivilities, im Gegensatz zum öffentlichen Wohl, als kollektive Übel (public bads) zu interpretieren, »denen sich niemand in einem bestimmten Umfeld entziehen kann […]«(ebd.: 76). Entscheidend für die Frage nach der integrativen Kraft des öffentlichen Lebens bleibt, mit welchen Mechanismen und Beteiligungsstrategien um die Wiederherstellung eines ›öffentlichen Wohls‹ gerungen wird, sofern dieses als bedroht interpretiert wird. Wenn es nun unter anderem die Zielvorstellung der kommunalen Kriminalprävention war und ist, das soziale Kontrollmo-



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ment des öffentlichen Lebens lokaler Gemeinschaften (wieder) zu beleben, dann müssten die Aktivitäten bzw. die institutionellen Neuschöpfungen z. B. in Form kriminalpräventiver Räte innerhalb dieser Interaktionsebenen verankert sein bzw. eine Wechselwirkung herstellen können zwischen dem sozialen Kontrollprozess des öffentlichen Lebens und der institutionellen Gewährleistung von Sicherheit.

Empirische Entwicklung der kriminalpräventiven Gremienarbeit Weiter oben wurden bereits einige quantitative Daten zur Situation und Entwicklung der kriminalpräventiven Gremienarbeit angedeutet. Was lässt sich nun noch im Hinblick auf die Verknüpfung mit lokalen Selbststeuerungspotentialen sagen? Aufgrund der fehlenden demokratischen Legitimation ist hier eine vorsichtige Einschätzung angebracht und auch die Aktivitäten der Gremien müssen zunächst zurückhaltend beurteilt werden: In der Mehrzahl der Kommunen tagten die Gremien lediglich 1–2-mal pro Jahr (Schreiber 2007: 33). Die Gründungen erwuchsen kaum aus lokal wahrgenommenen Problemen oder aus wahrgenommenem Handlungsbedarfen im Hinblick auf lokale Sicherheit, sondern wurden eher top down durch Kommunalverwaltungen oder Polizeibehörden implementiert – unterstützt durch die Politik der jeweiligen Bundesländer und der dort gebildeten Landespräventionsräte (ebd.: 19). Insofern hat es auch ein gewisse Logik, dass Bürger in lediglich sieben Prozent der Kommunen aktiv an den Gründungsprozessen beteiligt wurden (ebd.: 34). Auf der Basis dieser Befragungsdaten lässt sich vermuten, dass die Ebene der lokalen Selbststeuerung weder im Sinne kleinräumiger Problemdefinitionen noch zivilgesellschaftlich definierter Lösungsansätze sonderlich ernst genommen wurde; die Gremienbesetzung wird von der Polizei sowie von den kommunalen Jugend- und Ordnungsämtern dominiert (Hohmeyer 1999). Auch die vielfach thematisierten unterschiedlichen organisatorischen Strukturen der Gremien (siehe beispielsweise Heinz 1999: 97; van den Brink 2005: 79 ff.; Frevel 2007: 180 sowie ders. 2012: 337) stimmen zumindest darin überein, dass sie (nach Bedarf in thematisch spezialisierte Arbeitsgruppen untergliedert) auf der gesamtstädtischen Ebene verankert sind; dezentrale Gremienstrukturen in Stadtteilen finden sich

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nur sehr vereinzelt.9 Dies weist ebenfalls auf eine brüchige Verbindung zum öffentlichen Leben einzelner Nachbarschaften hin. Folgerichtig werden die Gremien von ihren Mitgliedern primär als Mechanismus zum Austausch von verwaltungsinternen Informationen gesehen und als Organ der Öffentlichkeitsarbeit, erst an dritter Stelle der Prioritätenliste wird die Durchführung eigener Präventionsprojekte genannt (Schreiber 2007: 48 f.), deren Anzahl sich außerdem in engen Grenzen hielt: knapp 90 Prozent der Gremien verwirklichten nur bis zu vier Projekte, knapp die Hälfte (47 Prozent) sogar nur bis zu zwei Projekte pro Jahr.10 Selbstverständlich ist anzuerkennen, dass in der Summe im Kontext der kommunalen Kriminalprävention von Polizei und kommunalen Verwaltungen durchaus vielfältige kriminalpräventive Projekte angestoßen wurden – von Anti-Gewalt- und Anti-Drogenprojekten für Jugendliche über Bürgerbefragungen zur Sicherheitslage bis hin zu Selbstbehauptungstrainings und Seniorenbegleitung (vgl. hierzu z. B. Hohmeyer 1999; Obergfell-Fuchs 2003) – deren Vielfalt kaum überschaubar und deren Wirkungsweisen kaum übergreifend evaluiert werden.11 Gegen die Ironisierung dieses Projektmosaiks als »Sammelsurium des guten Willens« (Frehsee 1998: 741) lässt sich zumindest einwenden, dass die Grenzen zwischen Kriminalprävention und (sozial-)pädagogischer Intervention notwendigerweise fließend sein müssen, wenn sich hinter Prävention nicht lediglich eine Ausweitung repressiver Maßnahmen verbergen soll. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass sich ein Drittel der Projektaktivitäten im regulären Spektrum der kommunalen Daseinsvorsorge (z. B. Freizeitangebote oder freie Jugendhilfemaßnahmen) verorten lässt (Kant u. a. 2000: 211). Allerdings zeigt die Projektlandschaft auch, dass es sich dabei insgesamt um professionell konzipierte Maßnahmen für eng definierte Zielgruppen handelt, unkonventionelle Aktivitäten, die aus lokalen zivilgesellschaftlich-nachbarschaftlichen Strukturen erwachsen, finden sich dort nicht. In unterschiedlichen qualitativen Fallstudien zur empirischen Praxis der kriminalpräventiven Gremienarbeit (siehe u. a. van den Brink 2005; van Elsbergen 2005; Frevel 2007; Wurtzbacher 2008; Frevel 2012) wurden weitere 9 Dies war laut Schreiber (2007: 30) beispielsweise in Frankfurt/Main und in Stuttgart der Fall. 10 In der Regel steht den Präventionsgremien kein eigener Haushalt für Projektaktivitäten zur Verfügung (Pütter 2002: 71). 11 Abgesehen von wenigen Ausnahmen, beispielsweise das Düsseldorfer Gutachten (Landeshauptstadt Düsseldorf 2002).



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relevante Aspekte herausgearbeitet: Zunächst eine teilweise zögerliche Haltung der Gremienmitglieder selbst, die zwar die bisher nicht existierende Möglichkeit zum ressortübergreifenden Austausch von Informationen begrüßten, jedoch selbst nicht durchgängig von deren Notwendigkeit überzeugt waren (van den Brink 2005: 79–100). Stabil zeigte sich überall der große Einfluss von Polizei und Kommunalverwaltung in den Gremien, wobei die polizeilichen Vertreter über »ein recht weitgehend konsistentes Selbst- und Fremdbild« verfügen (Frevel 2007: 181), wohingegen sich die Rollen und Selbstbilder der kommunalen Vertreter aufgrund ihrer gleichzeitigen ordnungs- wie jugend- und sozialpolitischen Zuständigkeiten als deutlich differenzierter und diverser darstellten (ebd.). Es fällt nicht schwer hieraus zu schließen, dass die polizeilichen Vertreter dadurch eine größere Chance haben, ihre Problemdefinitionen durchzusetzen. Außerdem zeigte sich der Verlauf der Gremienarbeit in Großstädten nach der Gründung häufig als instabil, die Vielfalt der Gremienenbesetzung ging schnell zurück und machte einer Professionalisierung Platz, bei der häufig nur thematisch eng fokussierte Expertenarbeitsgruppen übrig blieben. Ausweitungen in einzelne Nachbarschaften bzw. Stadtteile wurden kaum vorangetrieben (Wurtzbacher 2008: 170 ff.). Weiterhin werden fehlende Verbindungen zwischen tatsächlichen Sicherheits- bzw. Kriminalitätsproblemen und der kooperativen Sicherheitspolitik beklagt (Frevel 2007: 179 ff.), weshalb die Gremien in ihren Aktivitäten häufig zu diffus blieben (Steffen 2005: 160 ff.). Die Dominanz staatlicher Institutionen wird nicht durch engagierte Bürger durchbrochen (Steffen 2005: 163) und »inkriminierte Gruppen (gesellschaftliche Randschichten, aber auch Jugendliche) sind fast nie als Subjekte in den Gremien vertreten, sondern verbleiben in einer Objektrolle« (Frevel 2007: 181). Man kann zunächst davon sprechen, dass sich die Kooperationen im Feld der kommunalen Sicherheitspolitik auf dem Weg zum allgemeinen Standard lokaler Sicherheitspolitik befinden (Frevel/Kober 2012: 353 ff.); bis vor wenigen Jahren arbeiteten die Polizeibehörden weitestgehend abgeschottet von den kommunalen Verwaltungsstrukturen. Allerdings nehmen die Gremien (noch) keine stabile Vermittlungsfunktion zwischen Bewohner- bzw. Betroffeneninteressen und der Verwaltungspraxis wahr (Wurtzbacher 2008: 251). Deshalb bleiben Zweifel angebracht, ob die kriminalpräventive Gremienarbeit bereits als Eckstein einer integrativen, da verschiedene Interessenlagen zusammenführenden, kommunalen Sicherheitspolitik interpretiert werden kann. Die fehlende Beteiligung von Zielgruppen der Präventionsaktivitäten, die mangelnde kleinräumige Organisation sowie die Konzentration auf

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Experten stehen dem auf konzeptioneller Ebene entgegen. Gleichwohl wird trotz der allseits wahrgenommenen schwierigen Umsetzungspraxis der Gremienarbeit in der politisch-praktischen Literatur an deren Notwendigkeit nicht gezweifelt (siehe aktuell Kober u. a. 2012: 38). Frevel (2012: 39) bekräftigt dies im Fazit zu einem soeben beendeten umfangreichen Forschungsprojekt zu Handlungsfeldern lokaler Sicherheitspolitik und weist außerdem auf die Notwendigkeiten hin, die Gremien konzeptionell und qualitativ weiterzuentwickeln, Akteure gezielt zu rekrutieren und den interkommunalen Informationsaustausch zu verbessern. Auch die »anerkennende Einbindung von ›Schwachen‹« in Form von zivilgesellschaftlichen Akteuren wird in strategischer Hinsicht als notwendig erachtet (Frevel/Kober 2012: 355), beispielsweise um Zugang zu bestimmten Zielgruppen zu finden.

Partizipative Präventionspolitik Fragt man nach Chancen und Grenzen einer partizipativ ausgerichteten Sicherheits- bzw. Präventionspolitik, landet man empirisch unweigerlich bei der Stadt Chicago, die seit den 1990er Jahren in allen kleinräumigen Arbeitsbezirken der Polizei (den so genannten Beats) monatliche Treffen zwischen Polizei, Verwaltungsvertretern und Bewohnern etabliert hat, um Kommunikationsgelegenheiten für lokale Sicherheitsprobleme (auch im weiteren Sinn) zu schaffen (Skogan/Hartnett 1997; Skogan 2006). Die Teilnahme von Bewohnern an diesen Gremien war zunächst kein Selbstläufer, jedoch ließen sich durch den Einsatz von Öffentlichkeits- und Gemeinwesenarbeit die Beteiligungsraten steigern, insbesondere in stark problembelasteten Vierteln der Stadt (Skogan 2006: 101 ff.). Die Gremien entwickelten sich mit einer deutlichen Tendenz zu stabilen Kommunikationsgremien zwischen Bewohnern, Polizeivertretern und Kommunalverwaltung über Sicherheitsprobleme im engen und weiten Sinn; auch nachbarschaftliche Aktionen gegen lokalen Drogenhandel zur Rückeroberung des öffentlichen Raums gingen von den Treffen aus. Insbesondere für Eltern wurden die Treffen ein wichtiger Ort, um auf Bedrohungen oder Gefährdungslagen ihrer Kinder im Kontext des Schulwegs oder der Nutzung von Freiflächen hinzuweisen (zusammenfassend Wurtzbacher 2008: 127 ff.). Konflikte zwischen Bewohnergruppen lösten sich im Zuge der Gremienarbeit nicht auf, wurden aber zumindest teilweise sichtbar und diskutierbar, partiell konnten Lösungs-



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wege gefunden werden, auch unter Beteiligung professioneller Mediatoren (Fung 2004: 133 ff.). Der Kontrollprozesses der lokalen Öffentlichkeit richtete sich auch gegen die behördlichen Praktiken und Arbeitsweisen, machte diese transparenter und angreifbarer. Unangemessene oder gewalttätige Umgangsformen der Polizisten gegenüber Jugendlichen im öffentlichen Raum oder Untätigkeit der Verwaltungen konnten quartiersöffentlich zur Sprache kommen (ebd.: 121). Insgesamt führte dies zwar nicht zu grundlegenden Veränderungen der institutionellen Praktiken – insbesondere Jugendliche bleiben zu wenig eingebunden in das Polizeimodell der Stadt Chicago (Foreman 2004: 37) –, gleichwohl erscheinen ohne diese Mechanismen Veränderungen noch unwahrscheinlicher. Diese Kontrollfunktion in Richtung institutioneller Vorgehensweisen mag auch ein Grund dafür sein, weshalb in Deutschland die Mitglieder kommunaler Präventionsgremien eine gewisse Skepsis gegenüber bürgerschaftlicher Beteiligung an den Tag legen (van den Brink 2005: 93–97).12 Nun lässt sich sicherlich berechtigterweise einwenden, dass die Sicherheitssituation in US-amerikanischen Großstädten in keiner Weise mit denen in europäischen bzw. deutschen Städten verglichen werden kann und auch die Wertschätzung gegenüber der Polizei hierzulande viel stärker ausgeprägt ist.13 Allerdings ließe sich ebenso argumentieren, dass, wenn Beteiligungsstrukturen im Kontext bewaffneten Drogenhandels und gewalttätiger Bandenauseinandersetzungen einen Beitrag zur Konfliktbearbeitung leisten können, dies auch bei weit harmloseren sozialräumlichen Konfliktlagen möglich sein sollte. Allerdings ist dies an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Frevel (2007: 198) gibt zu bedenken, dass nur dann zivilgesellschaftliche Gruppen und Bürger erreicht werden können, wenn konkrete Bedürfnisse aufgegriffen und bearbeitet werden und nicht auf ganz allgemeine Sicherheitsinteressen abgestellt wird. Das wiederum zöge nach sich, dass Gremien 12 Elemente quartiersöffentlicher Kommunikation mit der Polizei erscheinen in Deutschland durchaus sinnvoll, da hier die Kontrollmöglichkeiten verglichen mit anderen Staaten weniger entwickelt sind (Pütter 2011: 10). Singelnstein (2010) hat darauf hingewiesen, dass Strafverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt sehr häufig mit einer Einstellung des Verfahrens mangels eines hinreichenden Tatverdachtes enden, was sich nicht allein auf unberechtigtes Anzeigeverhalten zurückführen lässt, sondern u. a. auch auf mangelnde äußere Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Polizei (ebd.: 7). 13 Knapp 80% der Bevölkerung halten die lokale Polizeiarbeit für entweder ›sehr gut‹ oder ›ziemlich gut‹, höhere Werte finden sich im europäischen Vergleich lediglich in Finnland, Dänemark und Österreich (Statistisches Bundesamt 2011: 301).

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offener für Anliegen aus der Bewohnerschaft werden müssten und sich möglicherweise weniger als spezifisch ›kriminal‹-präventiv begreifen sollten (ebd.: 199). Dahinter verbirgt sich die Notwendigkeit, Präventionsgremien als Kristallisationspunkte einer kleinräumigen Öffentlichkeit zu gestalten, denn anders scheint eine Verbindung zu nachbarschaftlich relevanten Problemlagen kaum herstellbar. Hier wäre sowohl denkbar, dass institutionell als ›Probleme‹ markierte Tatbestände von Seiten der Bewohnerschaft gar nicht als solche gesehen werden müssen, dass sie sich als irrelevant im Kontext des öffentlichen Lebens herausstellen. Oder dass ›Problemen‹ bzw. dahinter stehenden Bedürfnissen von Personengruppen mit zivilgesellschaftlichen Mitteln begegnet werden kann, beispielsweise wenn es um die Verbesserungen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Nachbarschaften geht.14 Des Weiteren erscheint es notwendig, das Interesse an Informationsaustausch und Kooperation von Sicherheitsexperten einerseits und die Beteiligung von Bewohnern an der Auseinandersetzung mit lokalen Sicherheitsanliegen andererseits voneinander zu trennen. Beide Anliegen in einer institutionellen Form zusammenzuführen erscheint riskant, da Frustrationen auf beiden Seiten vorprogrammiert sind. Partizipationsprozesse lassen sich außerdem nicht als Perpetuum Mobile begreifen, sondern brauchen besonders in problem- oder konfliktbelasteten Nachbarschaften eine gezielte Entwicklung durch professionelle Interventionen, nur die Schaffung neuer Gremien reicht nicht aus. Insbesondere wenn eine Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bzw. marginalisierten Gruppen im öffentlichen Raum (wie Wohnungslosen- oder Trinkerszenen) beabsichtigt ist, müssen diese gezielt angesprochen, zur Teilnahme ermuntert und eventuell durch Moderationsprozesse bei der Artikulation ihrer Interessen unterstützt werden. Frevel/Kober (2012: 353 ff.) plädieren für eine Vertiefung der kooperativen Sicherheitspolitik, in die vielfältige Akteure mit ihren spezifischen Problemsichten und Arbeitsaufträgen eingebunden werden sollten, um gleichberechtigt auf der Basis gemeinsamer Grundlagen und Standards zusammenzuwirken, auch unter Einbeziehung ›schwacher Interessenlagen‹ (ebd.: 355). Insbesondere im Hinblick auf diesen Punkt scheint es nach wie vor wichtig, das demokratische Kontrollpotential lokaler Öffentlichkeit stärker in den Strukturen einer kooperativen Sicherheitspolitik zu verankern. Ausgehend 14 Siehe hierzu beispielhaft die Fallstudie zu den Sicherheitspartnerschaften in Brandenburg in Wurtzbacher (2003).



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von quartiersbezogen artikulierten Abstimmungsbedarfen könnte sich so der kriminalpräventive Fokus hin zu einer Verknüpfung mit anderen kommunalen Aufgabenfeldern öffnen (Kahl 2012: 27), der auch einen Raum für Kritik gegenüber der Verwaltungspraxis öffnet. Allerdings darf dies kein Selbstzweck sein, sondern muss sich auf wahrgenommene und artikulierte kleinräumige Problemlagen beziehen. Ansonsten können wir uns darauf verlassen, dass das öffentliche Leben der Städte einen belastbaren und wie selbstverständlich stattfindenden Kontrollprozess bereithält, der urbanes Zusammenleben ermöglicht.

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Die Stadt politisieren – Fragmentierung, Kohärenz und soziale Bewegungen in der »Sozialen Stadt« Andrej Holm und Henrik Lebuhn

1. Einleitung Einer der zentralen Befunde der stadtsoziologischen Analysen von Hartmut Häußermann ist die zunehmende Fragmentierung und soziale Polarisierung in den Städten. In zahlreichen Büchern und Artikeln beschreibt er – zusammen mit Autoren wie Dieter Läpple, Andreas Kapphan, Martin Kronauer und Walter Siebel – die Prozesse der sozialen Exklusion und der sozialräumlichen Spaltung, die sich seit den 1980er Jahren beschleunigt in Großstädten und großstädtischen Quartieren vollzogen haben (Häußermann 1983; 1997; 2003; Häußermann/Gornig 1999; Häußermann u. a. 2004; Häußermann u. a. 2008). Dabei handelt es sich keinesfalls um ein spezifisch deutsches Phänomen. So untersuchten zum Beispiel Mollenkopf und Castells Anfang der 1990er Jahre die soziale Spaltung der Städte am Beispiel New Yorks und schlugen das Konzept der ›Dual City‹ vor (Castells/Mollenkopf 1992), um diesen Prozess analytisch zu fassen. Peter Marcuse, um ein weiteres Beispiel aus der anglo-amerikanischen Debatte zu zitieren, arbeitete mit einer Taxonomie von Ghettos und Enklaven und nahm dabei vor allem die für US-amerikanische Städte typische Konzentration diskriminierter ethnischer Gruppen in den ärmsten Wohnquartieren in den Blick (Marcuse 1989). In den 1990er Jahren fanden diese stadtsoziologischen Erkenntnisse direkten Eingang in stadtpolitische Diskurse und die Förderpolitik der Europäischen Union und in einer Reihe von europäischen Ländern, zum Beispiel in England in das Programm New Deal for Communities, in den Niederlanden in das stedelijk beheer und in Frankreich in den contrats de ville und das Développement Social des Quartiers. Auch die bundesdeutsche Stadtpolitik setzte auf integrative und gebietsbezogene Förderprogramme und stellte mit dem Bund-Länder-Programm Soziale Stadt seit 1998 Fördermittel für quartiersbezogene Interventionen in benachteiligten Nachbarschaften zur Verfügung. Dem Programm liegt die Diagnose des ›Integrationsverlustes der euro-



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päischen Stadt‹ zu Grunde, wie sie explizit von Häußermann, Oswald, Siebel und anderen vertreten wurde (Häußermann/Oswald 1997; Häußermann 2001; Siebel 2004, Oswald 2007). Um auf diese Diagnose zu reagieren, interveniert das Bundesprogramm – pointiert gesagt – mit vermittelnden und aktivierenden Politiken und versucht auf diesem Wege, die endogenen Potenziale auf Quartiersebene zu mobilisieren. So soll die verloren gegangene soziale Kohäsion in der Stadt perspektivisch wieder hergestellt werden. Das Programm Soziale Stadt (vgl. Güntner/Walther in diesem Band) wird jedoch nicht nur als Instrument zur Wiederherstellung sozialer Kohäsion in den Städten diskutiert, sondern in einer Reihe von Arbeiten als neue Form der städtischen Governance untersucht (Zimmermann 2005; Güntner 2007). Neben der Verortung in die komplexen Strukturen einer Mehrebenenpolitik und den fachübergreifenden Ansätzen einer integrierten Steuerung wird in diesen Arbeiten insbesondere der Aspekt der Partizipation und die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure untersucht. Neben der pragmatischen Frage, wie erfolgreich das Programm in Bezug auf die Realisierung der sozialpolitischen Zielstellungen einzuschätzen ist – siehe etwa den Statusbericht 2008, der die vorangegangenen Evaluationen zusammenfasst (BMVBS 2008) –, stellen sich auch die Fragen nach dem Modus der Vermittlung von Interessen in der Praxis des Programms und danach, welche Gruppen, Forderungen und Interessen in die Quartiersansätze einbezogen werden. In internationalen Debatten der Stadtforschung werden Fragen der Vermittlung von Interessen in fragmentierten Stadtgesellschaften derzeit unter dem Stichwort des postpolitical urbanism diskutiert. Am Beispiel Berlin wollen wir dies aufgreifen und das Programm Soziale Stadt in den Politikfeldern Wohnen und Migration daraufhin befragen, ob und wie Forderungen von lokal verankerten sozialen Bewegungen und politischen Mobilisierungen in der Praxis des Quartiersmanagements (QM) aufgenommen und zur Stärkung lokalpolitischer Arenen genutzt werden. Anschließend werden wir die Berliner Erfahrungen mit internationalen Beispielen kontrastieren, die im Gegensatz zur Sozialen Stadt stärker auf die Politisierung städtischer Fragen setzen. Dadurch wollen wir deutlich machen, dass die aktuellen Prozesse der Fragmentierung und Polarisierung stärker als Konflikte und Aushandlungsprozesse zwischen sozialen Gruppen und politischen Akteuren beschrieben werden sollten, sowie für eine stadtsoziologische Analyse plädieren, die sich stärker an sozialen Bewegungen und außerinstitutionellen Impulsen und einer Repolitisierung der Stadtpolitik orientiert.

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2. Soziale Stadt und postpolitical urbanism Quartiersbezogene Programme wie die Soziale Stadt stehen paradigmatisch für einen Trend der Stadtpolitik, auf eine Vertiefung von sozialen Problemen mit kommunikativen Strategien und Beteiligungsinstrumenten zu reagieren. Dieser Ansatz zielt auf die Stärkung der lokalen Netzwerke, des Selbstbewusstseins der BewohnerInnen und auf eine Verbesserung von negativen Images in den Nachbarschaften. Durch den auch räumlich begrenzten Interventionsrahmen nehmen Strategien zur Herausbildung von Nachbarschaftsstrukturen und eines gebietsbezogenen Wir-Gefühls einen zentralen Stellenwert bei vielen Aktivitäten ein. »Ein zentrales Ziel des Programms Soziale Stadt ist es, die Fähigkeit der Bewohnerschaft zur Zusammenarbeit, zum Miteinander und zur sozialen Vernetzung zu stärken. In den Handlungsfeldern ›Zusammenleben unterschiedlicher sozialer und ethnischer Gruppen‹ sowie ›Befähigung, Artikulation und politische Partizipation‹ sollen Selbsthilfe, Verantwortungsübernahme, Kooperation und Kommunikation gefördert werden […].«

So heißt es explizit in der ersten Bilanz des Bund-Länder-Programms aus dem Jahr 2002 (DIFU 2002: 32 f.). Und weiter: »Nur so kann sich bei allen Menschen das Gefühl von Zusammenhalt und Sicherheit einstellen.« (ebd.: 46) Erklärtes Ziel des Programms ist es also, durch Interventionen auf der Quartiersebene die verloren gegangene soziale Kohäsion in der Stadt wieder herzustellen bzw. zu einem solchen Prozess zumindest beizutragen. Dem Charme solcher Initiativen können sich nur wenige entziehen. Die Kritik an solchen Quartierspolitiken wird entsprechend nur selten an konkreten Projekten, sondern eher im Kontext allgemeiner Trends der Stadtpolitik, der Reichweite der Instrumente und der ungleichen Beteiligungszugänge formuliert. Die Hinwendung zu quartiersbezogenen Interventionsprogrammen ging in den meisten Städten mit substantiellen Einschnitten und Kürzungen einer gesamtstädtischen Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik einher und wird vor allem als Kompensation des neoliberalen Umbaus der Stadtpolitik wahrgenommen. Doch gerade diese stadtpolitisch brisanten Fragen sind in den neu entstandenen Quartiersforen nicht diskutierbar, weil sie den Handlungsrahmen der Programme übersteigen. Auch konzeptionell stehen die neuen Quartiersansätze für die Abkehr von Wohlfahrtspolitiken und den Umverteilungsinstrumenten der früheren Stadtpolitik und beschränken sich auf das Abarbeiten an den Symptomen von Armut und Ausgrenzung



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(­ Mayer 2003). Strukturelle Ursachen der sozialen Ungleichheit können auf der Nachbarschaftsebene weder aufgehoben noch sinnvoll diskutiert werden. Die Aktivierung der BewohnerInnen muss also notwendigerweise auf andere, machbare Bereiche fokussieren und erhält so den Charakter einer depolitisierten Sphäre, in der grundlegende Interessenkonflikte in der Stadt und Gesellschaft kaum einen angemessenen Platz finden können. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die soziale Selektivität von Beteiligung. Etliche Studien, auch aus anderen Ländern, haben gezeigt, dass man viele der tatsächlich Ausgegrenzten mit Beteiligungsangeboten nur sehr schwer erreichen kann (López-Morales 2013; Portney/Berry 1997). Oft nutzen vor allem gebildete Mittelschichten die Gremien und Partizipationsinstrumente. In der internationalen Stadtforschung werden Regierungsformen, in denen die Herstellung eines gesellschaftlichen Konsensus die Politik als Forum der Auseinandersetzung verschiedener Interessen ersetzt, als postpolitical urbanism (Swyngedouw 2009) beschrieben. Eine Reihe von Arbeiten der kritischen Stadtforschung geht davon aus, dass der Abschied von der Wohlfahrtsorientierung und die Durchsetzung unternehmerischer Strategien in der Stadtpolitik mit neuen modes of governance verbunden sind (Peck/Tickell 2002; Hackworth 2007; Künkel/Mayer 2011). Mit den Begriffen der »post-political city« und des »post-democratic urbanism« beschreiben sie den »retreat of the political« (Lacoue-Labarthe/Nancy 1997) zu Gunsten eines »policymaking« und eines »managerial consensual governing« (Swyngedouw 2009: 605). Im Anschluss an Jacques Rancière (1994), wird Post-Politik dabei als eine städtische Regierungsform verstanden, in der die Herstellung eines Konsens die Austragung von Dissens und Konflikten ersetzt, in der ein technokratisches Management an die Stelle von demokratischen Verfahren tritt und ein depolitisierter städtischer Populismus die öffentliche Auseinandersetzung um die Fragen der Macht und struktureller Widersprüche in den Städten verhindert (Dikec 2005; McLeod 2011). Politische Entscheidungen sind in postpolitischen Regimen nicht mehr das Ergebnis des Streits verschiedener Interessen in einer politischen Arena, der Polis, sondern folgen einer vorgeblichen Sachzwanglogik, werden durch ExpertInnenmeinungen legitimiert und als Konsens im (vorgeblichen) Interesse ›der Allgemeinheit‹ vermittelt. Viele dieser Aspekte treffen auch für die Politik der Sozialen Stadt zu. Die Festlegung der Programmgebiete und Strategien für die Zielgebiete erfolgt vielfach auf der Basis von Studien externer ExpertInnen, die in der Regel mit sozialstatistischen Berechnungen die benachteiligten Quartiere bestimmen;

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und die angestrebte Identifizierung mit dem Stadtteil kann als typische Form des entpolitisierten Populismus gelten, in dem interne Widersprüche und Interessengegensätze in einer Harmonie des vermeintlich Gemeinsamen aufgehobenen werden. Parallel zu der Debatte um die postpolitische Stadt wird in der Literatur ein Erstarken von städtischen Protestbewegungen beschrieben, die ein Recht auf die Stadt (right to the city) bzw. eine Stärkung der Stadtbürgerschaft (urban citizenship) einfordern (Holm/Gebhardt 2011; Gilbert/Dikeç 2008; Mitchell 2003; Mayer/Künkel 2011). Eine Reihe von Diskussionsbeiträgen nimmt dabei die optimistische Position einer möglichen Repolitisierung der Stadtpolitik ein (Harvey 2012; Marcuse 2009). Noch ungeklärt ist jedoch die Frage, ob und vor allem wie eine Repolitisierung durch Protestmobilisierungen und soziale Bewegungen in postpolitischen Kontexten möglich ist. Die Zielquartiere des Soziale-Stadt-Programms bieten sich als Untersuchungsfeld für diese Fragestellung an, denn viele Programmgebiete sind zugleich Schwerpunkte und lokale Basis der neuen städtischen Proteste. Fast zeitgleich mit der Etablierung der stadtteilbezogenen Programme wurde in vielen europäischen Städten ein verstärkter Nachbarschaftsbezug von sozialen Protestmobilisierungen beobachtet (Mayer 2009; Katiya/Reid 2012). Mit Kampagnen gegen eine Verdrängung aus den Stadtvierteln, ordnungspolitische Kontrollen auf öffentlichen Plätzen oder geplante Großprojekte wurden stadtpolitischen Themen (wieder) auf die Agenda der sozialen Bewegungen gesetzt (siehe Gebhardt/Holm 2011; Bader/Scharenberg 2009). Die Stadtforscherin Margit Mayer schätzt sogar, dass der aktuelle Bewegungszyklus erstmals seit den 1960er Jahren eine Konvergenz verschiedener Protestströmungen städtischer Basisbewegungen hervorgebracht hat (Mayer 2011: 61). Die Ursachen der neuerlich erstarkten städtischen Protestmobilisierungen werden – wie auch die stadtpolitischen Förderprogramme – auf die zunehmende Fragmentierung und soziale Spaltung in den Städten zurückgeführt. Insbesondere die unternehmerische Ausrichtung von wettbewerbsorientierten Stadtpolitiken und die damit einhergehende Aushöhlung bisheriger Wohlfahrtsstandards werden dabei als Auslöser und Verstärker städtischer Konflikte angesehen (Lebuhn 2008; Heeg/Rosol 2007; Schipper 2010). Soziale Stadt und soziale Bewegungen haben also nicht nur dieselben Ursachen (neoliberale Stadtpolitik) sondern auch dieselben Raumbezüge (Quartiere der Benachteiligung) und teilweise überschneidende Fragestellungen (Wohnen, Arbeit, Ausgrenzung).



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3. Z  wischen Bewegung und Programm – Migration und Mieten in der Sozialen Stadt Mit Beispielen aus Berliner Quartiersmanagementgebieten wollen wir dem komplizierten Verhältnis von Programm und Bewegung in den Zielgebieten der Sozialen Stadt auf den Grund gehen. Jeweils für die Bereiche der Mietenund Migrationspolitik stellen wir zunächst den Kontext vor, in dem die Themen mit den Leitbildern und der Praxis der Sozialen Stadt verbunden sind. Ausgehend von bestehenden Forderungen von Protestmobilisierungen und sozialen Bewegungen auf den beiden Feldern werden anschließend Konflikte und Widersprüche zur Politik der Sozialen Stadt kenntlich gemacht. Daran anschließend diskutieren wir jeweils internationale Ansätze, die für einen anderen Umgang mit politischen Forderungen stehen, als er in der Sozialen Stadt zum Standard gehört. 3.1 Steigende Mieten und Verdrängungsdruck in der Sozialen Stadt Die räumliche Struktur der Berliner Programmgebiete der Sozialen Stadt konzentriert sich mit 23 von 34 Gebieten auf innerstädtische Wohnquartiere in Neukölln, Kreuzberg und Wedding. Diese Quartiere weisen trotz einer verstärkten Randwanderung ärmerer Haushalte auch zehn Jahre nach der Festlegung der ersten QM die höchste Konzentration von transferabhängigen Haushalten auf (SenStadtUm 2011). Die Einkommen liegen deutlich unter und die Anteile von Arbeitslosen deutlich über den durchschnittlichen Werten in Berlin (Mikrozensus 2011). Die seit etwa 2006 in Berlin zu verzeichnenden Mietsteigerungen haben fast alle Bestandsgruppen und Segmente des Wohnungsmarktes erfasst, und in den bisherigen Niedrigpreisgebieten der Westberliner Innenstadtbezirke sind die höchsten Mietsteigerungsraten zu beobachten (JLL 2008; 2009; 2010; 2011; GEWOS 2012). Insbesondere in den Altbauvierteln von Kreuzberg und dem nördlichen Neukölln werden von den Wohnungsunternehmen und EigentümerInnen überdurchschnittlich hohe Neuvermietungsmieten aufgerufen, und auch die Bestandsmieten steigen (IBB 2011: 73). Vor dem Hintergrund einer verstärkten Zuzugsmobilität werden die Spannen zwischen potentiellen Mietpreisen und bisher preiswerten Mieten vielfach als Ertragslücke angesehen. Für Haushalte mit geringen Einkommen und

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oft schon hohen Mietbelastungsquoten (Topos 2011) wird eine drohende Mietsteigerung zu Recht als Verdrängungsdruck wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund haben sich allein in Kreuzberg und Neukölln in den letzten zwei, drei Jahren über 20 Stadtteil- und Mieterinitiativen gegründet, die sich auf unterschiedlichen Ebenen einer Verdrängung aus den Kiezen entgegenstellen.1 Die Themen der MieterInnen- und Stadtteilinitiativen sind relativ vielfältig und die Mobilisierungen beziehen sich auf unmittelbare Auseinandersetzungen um Modernisierungspläne von HauseigentümerInnen, der Umwandlung in Eigentumswohnungen und der Ausbreitung von Ferienwohnungsangeboten in Wohngebäuden (eine umfangreiche Sammlung detaillierter Fallstudien siehe: Dossier 2011), ebenso wie auch auf wohnungspolitische Auseinandersetzungen um die Folgen des Ausstiegs aus der Anschlussförderung im Sozialen Wohnungsbau, die Privatisierungsfolgen oder die Umsetzungspraxis der Wohnkostenübernahme im Rahmen sozialer Transferleistungen (siehe Mietenstopp 2011). Neben sehr konkreten und oftmals fallspezifischen Konflikten mit EigentümerInnen und Hausverwaltungen stehen also wohnungspolitische Forderungen auf der Agenda der Bewegungen. Die Arbeit der QM in den Aufwertungsgebieten kann die neu entstehenden Initiativen weder adäquat unterstützten noch eine andere Wohnungspolitik durchsetzen. Ressourcenbezogene Beschränkungen, institutionelle Eigenlogiken und eine konzeptionelle Aufwertungsorientierung können als Ursachen für das problematische Verhältnis zwischen Protestmobilisierungen und Soziale-Stadt-Programmen angesehen werden. Ressourcenbezogene Beschränkungen: Im Unterschied zu früheren Förderprogrammen im Rahmen von Sanierungs- und Milieuschutzsatzungen verfügen die QM weder über die rechtliche Handhabe noch die finanziellen Ressourcen zur Durchführung von MieterInnenberatungen bzw. Sozialplanverfahren. So haben die QM – anders als Sanierungsbeauftragte oder MieterInnenberatungen – keinen Einfluss auf die Erteilung von Bau- und Modernisierungsgenehmigungen. Eine unmittelbare Unterstützung von MieterInnen und Hausgemeinschaften in ihren Auseinandersetzungen mit HausbesitzerInnen und Verwaltungen beschränkt sich auf Einzelfälle, in denen QM Räume für Veranstaltungen oder überschaubare Sachmittel für Kopien von Material zur Verfügung gestellt haben. Nur drei der insgesamt 1 Siehe http://mietenstopp.blogsport.de/links/lokale-initiativen/; http://mietenstopp.blogsport.de/ links/kaempfende-hausgemeinschaften-so/ (letzter Zugriff am 17.9.2012)



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34 Berliner QM bieten eine qualifizierte MieterInnenberatung an. Eine systematische Stärkung der Position von MieterInnen wird von den QM nicht geleistet. Institutionelle Eigenlogiken: Die Aufgabenbeschreibung und die räumliche Festlegung beschränken die Praxis der QM auf aktivierende, moderierende und symbolische Aktivitäten (SenStadt 2005) – eine Einflussnahme auf die städtische Wohnungspolitik ist dabei nicht vorgesehen. Schon die Akteurskonstellation als Auftragnehmer von landespolitischen Programmen schränkt eine selbstbewusste, kritische und fordernde Positionierung von QM zur Senatspolitik systematisch ein. Die institutionellen Eigeninteressen an der Ausweitung der Geschäftsbereiche und möglichst langfristigen Förderungen stehen einer konfrontativen Haltung entgegen, und auch aus der Perspektive der Selbstlegitimierung und der Fördermittelverteilung ist kaum zu erwarten, dass von QM grundsätzliche Forderungen für eine soziale Wohnungspolitik eingefordert werden. Konzeptionelle Aufwertungsorientierung: Auch auf der konzeptionellen Ebene der Arbeit von QM ist – jenseits einer möglicherweise ähnlichen Problemanalyse – keine Schnittmenge mit den Forderungen und dem Begehren von Stadtteilinitiativen und MieterInnenorganisationen zu finden. Die Orientierung an sozialer Kohäsion wird in der Praxis der Soziale-Stadt-Programme faktisch in Strategien zur Stabilisierung bzw. Aufwertung der Sozialstrukturen übersetzt. Im BauGB wird in den Abschnitten des Besonderen Städtebaurechts definiert, worum es im Programm Soziale Stadt gehen soll. In Paragraph 171(e) Abs. 2 heißt es: »Städtebauliche Maßnahmen der Sozialen Stadt sind Maßnahmen zur Stabilisierung und Aufwertung von durch soziale Missstände benachteiligten Ortsteilen oder anderen Teilen des Gemeindegebiets, in denen ein besonderer Entwicklungsbedarf besteht. Soziale Missstände liegen insbesondere vor, wenn ein Gebiet auf Grund der Zusammensetzung und wirtschaftlichen Situation der darin lebenden und arbeitenden Menschen erheblich benachteiligt ist.«

In der Praxis werden diese Ziele oftmals in aufwertungsaffinen Maßnahmen umgesetzt. So trug beispielsweise die zur Stärkung der Nachbarschaftsstrukturen unterstützte Vermittlung von circa 80 leerstehenden Gewerberäumen an KünstlerInnen und Kreative im Rahmen von sogenannten Zwischennutzungen zum nachhaltigen funktionalen Wandel der Nachbarschaft in Nordneukölln bei, sowie zum Imagewandel vom Problemkiez zum Trendquartier. Eine immobilienwirtschaftliche Inwertsetzung durch steigende Mieten und

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die beginnende Verdrängung ärmerer Haushalte gehörte ganz sicher nicht zu den Intentionen des Projektes, wird aber insbesondere von Stadtteilinitiativen in diesem Zusammenhang rezipiert. In anderen Beispielen – wie dem Brunnenviertel in Berlin-Wedding – gehören Aufwertungsstrategien sogar zum expliziten Programm des QM. In einem Handlungskonzept des QM wird als ein wichtiges Ziel formuliert, »Anschluss zum Prenzlauer Berg« zu bekommen (L.I.S.T. 2010: 24). Auch die Wohnungsbaugesellschaft DEGEWO, die einen Großteil des Wohnungsbestandes im Gebiet vermietet, arbeitet seit längerem an Strategien, das Brunnenviertel für die umworbenen Mittelschichtfamilien schmackhaft zu machen (Empirica 2005; Boroevics 2012). Den ressourcenbezogenen, institutionellen und konzeptionellen Beschränkungen der nachbarschaftsbezogenen Interventionsprogramme stehen oft sehr grundsätzliche Forderungen der Protestbewegungen gegenüber, die nicht nur nach konkreten Lösungen in Einzelfällen unmittelbarer Betroffenheit suchen, sondern auch die strukturellen Ursachen der neuen Wohnungsfrage thematisieren. Viele Initiativen orientieren sich in ihren Mobilisierungen an internationalen Bewegungen für ein Recht auf die Stadt. Dabei wird von den AktivistInnen das Recht auf die Stadt nicht nur als griffige Parole aufgegriffen, vielmehr ist eine vielschichtige Bezugnahme auf das Konzept und die damit verbundenen Bewegungsansätze sichtbar. Das ›Recht auf die Stadt‹ ist eine spezifische Perspektive auf städtische Verhältnisse, bietet eine strategische Orientierung auf eine andere und gerechtere Gesellschaft, wird als reformpolitischer Forderungskatalog und schließlich als horizontaler Organisierungsansatz genutzt (Holm 2011). Die Bezugnahmen der Stadtteil- und Mietermobilisierungen auf ein Recht auf die Stadt ist dabei nicht zufällig, denn dieses – auf die Arbeiten von Henri Lefebvre (1968) zurückgehende – Konzept sieht die Stadt nicht nur als umkämpften Raum an, sondern leitet aus den allgemeinen Urbanitätsvorstellungen auch eine Praxis der städtischen Aneignung ab, die insbesondere die Umverteilungs- und Teilhabeforderungen von Ausgegrenzten in den Städten legitimiert. Die Stadt wird dabei als eine allgemeine und gesellschaftliche Ressource angesehen, zu deren Infrastrukturen, Einrichtungen und Qualitäten alle gesellschaftlichen Gruppen einen uneingeschränkten Zugang haben sollten. In den theoretischen Arbeiten von Lefebvre (1968), Harvey (2008; 2012) und Christian Schmid (2011) zum Recht auf die Stadt wird letzten Endes die Durchsetzung von gebrauchswertorientierten Aneignungspraktiken gegen tauschwertorientier-



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te Verwertungsstrategien gefordert. Insbesondere im Zusammenhang mit der Wohnungsversorgung werden die Tauschwert-Gebrauchswert-Widersprüche des Städtischen besonders deutlich, weil sich hier die Wünsche für eine angemessene Wohnungsversorgung und die Verwertungsinteressen von Haus- und GrundstückseigentümerInnen in einem direkten Verhältnis gegenüberstehen. Für die Protestbewegungen haben solche Recht-aufStadt-Konzepte eine so große Attraktivität, weil es ihnen nicht nur eine aktive Rolle einräumt, sondern zugleich die strukturellen Ursachen von Ungleichheiten im Bereich der Wohnungsversorgung ins Zentrum der Analyse stellt (Holm 2011). Im Kontext von ExpertenInnendiskursen werden solche Ansätze und Forderungen gerne mit dem Prädikat des Radikalismus oder der unrealistischen Träumerei versehen. Doch Beispiele in anderen Ländern zeigen, dass eine Höherbewertung von sozialen Funktionen des Städtischen gegenüber den privaten Gewinninteressen durchaus in eine Stadtpolitik aufgenommen und institutionalisiert werden kann. So wurden in den letzten Jahren beispielsweise in Brasilien in einem Dreieck von neuer Verfassung, sogenannten Stadtstatuten und stadtteilbezogenen Masterplänen die Voraussetzungen dafür geschaffen, privates Eigentum einer politisch definierten sozialen Nutzung zu unterwerfen (Fernandes 2007). In von den Stadtverwaltungen festgelegten Zonas Especiais de Interesse Social (ZEIS) – also ›besonderen Stadtgebieten von sozialem Interesse‹ – kann per Gesetz eine soziale Wohnraumversorgung festgelegt und mit den entsprechenden Zwangsmitteln bis hin zur Enteignung auch durchgesetzt werden (Mengay/Pricelius 2011: 251). Die progressive Praxis der brasilianischen Stadtverwaltungen ist kein Produkt des politisch-administrativen Apparates, sondern das Ergebnis einer seit Jahren gewachsenen sozialen Bewegung, die mit klassischen Protestkampagnen, großen Besetzungsbewegungen und zum Teil militanten Stadtteilorganisierungen soziale Funktionen der Stadt einforderte und partiell durchsetzte (Zibechi 2012). Der Anthropologe James Holston spricht in diesem Zusammenhang von insurgent citizensip (Holston 2007), also von neuen, durch Protestbewegungen und Alltagspraxen formierten Standards der kollektiven Konsumption. Reformen der Stadtpolitik und eine Beschränkung marktwirtschaftlicher Prinzipien zugunsten eines Ausbaus von sozialen Infrastrukturen werden hier nicht als Programme progressiver Regierungsmehrheiten verstanden, sondern vor allem als die Einbeziehung von politischen Forderungen und sozialen Bewegungen in den Prozess politischer Entscheidungsfindung.

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Das brasilianische Beispiel zeigt, dass städtische Politiken und Programme nicht auf die Moderation und Kosmetik sozialer Ungleichheiten beschränkt bleiben müssen, sondern auch im 21. Jahrhundert Fragen des Eigentums, seiner sozialen Zweckbindung und Umverteilung in die Agenda der Stadtpolitik eingeschrieben werden können. Anders als in den nachbarschaftsbezogenen Kohäsionsprogrammen der meisten europäischen Städte zeigen Beispiele in Lateinamerika, dass staatliche Programme und soziale Bewegungen im Zusammenspiel durchaus städtische Verhältnisse auch grundlegend verändern können. Eine einfache Übertragung solcher Modelle auf den europäischen Kontext ist sicher nicht sinnvoll, aber ein Blick auf die Umverteilungsperspektiven und eine gezielte politische Stärkung der Ausgegrenzten (siehe u. a. Bernt/Holm 2007) durch die Stadtpolitik und neue Beteiligungskulturen könnten auch hier neue Perspektiven auf den Umgang mit den sozialen Spaltungen in den Städten bieten. 3.2 M  igrantInnen in der Stadt – Problemgruppe oder Akteure ›auf Augenhöhe‹? In der Debatte um die Fragmentierung der Städte spielen Prozesse der Migration eine besondere Rolle. Denn Zuwanderung ist »in modernen westlichen Gesellschaften immer primär auf die großen Städte gerichtet«, so Hartmut Häußermann und Walter Siebel in ihrer Einführung in die Stadtsoziologie (Häußermann/Siebel 2004: 174). Migration stellt also einen konstitutiven Bestandteil von Stadtentwicklung dar (Häußermann/Oswald 1997: 9). Jedoch scheint »die Beziehung zwischen Zuwanderern und Stadt […] am Ende des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten zu sein«, so Hartmut Häußermann und Ingrid Oswald (ebd.: 9; vgl. auch Häußermann/Kapphan 2004: 213). Denn die schwindende Integrationskraft der europäischen Stadt treffe in besonderem Maße Menschen mit Migrationshintergrund. In der Folge wird eine Verschärfung der sozialen und sozialräumlichen Ungleichheit diagnostiziert, sowie die Zunahme von Diskriminierung und Rassismus gegenüber MigrantInnen in der Stadt (ebd.). Es ist daher nur konsequent, dass auch das Bundesprogramm Soziale Stadt in besonderem Maße auf MigrantInnen fokussiert, zumindest insoweit diese in benachteiligten Quartieren leben. Dieser Fokus wiederum spiegelt sich im Auftrag und in der Arbeit der QM wieder. Am Ende der diskursiven und institutionellen Kette stehen zahlreiche kleine und größere Projekte



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auf Quartiersebene, die vom interkulturellen Straßenfest über Nähkurse für MigrantInnen bis zur Hausaufgabenhilfe und der Einrichtung von Gemeinschaftsgärten reichen. Eines der bekanntesten und erfolgreichsten Projekte dieser Art sind die ›Stadtteilmütter‹, bei dem Frauen mit Migrationshintergrund in ›ihren Kiezen‹ eine Familienberatung rund um Themen wie Schule, Ernährung, kindliche Entwicklung und gewaltfreie Erziehung anbieten.2 Angesichts des Fokus auf MigrantInnen fällt jedoch auf, dass die QM nur selten mit politischen Initiativen zusammenarbeiten, die sich explizit mit Fragen von Rassismus, Bürgerrechten, Flüchtlingshilfe etc. beschäftigen. Zumindest gehört eine Zusammenarbeit mit solchen Gruppen nicht zu den programmatischen Schwerpunkten des QM. Dafür gibt es sicherlich eine Reihe von Gründen: So identifiziert das Bundesprogramm als zentrale Projektpartner in den Quartieren vor allem institutionelle Akteure wie Wohnungsbaugesellschaften, Wohlfahrtsverbände, privatwirtschaftliche Unternehmen oder auch Schulen. Darüber hinaus sollen zwar auch andere ›zivilgesellschaftliche‹ Akteure in den Nachbarschaften mit ins Boot geholt werden – der Begriff wird im Programm jedoch inhaltlich nicht weiter gefüllt. Ob QM also Partnerprojekte mit bewegungsorientierten bzw. sich explizit als stadt- oder migrationspolitisch verstehenden Gruppen vor Ort entwickeln, liegt vor allem in der Entscheidung der Quartiersmanager on the ground. Ein Blick auf die offiziellen ›Praxisbeispiele‹ der Berliner QM zeigt, dass dies eher nicht der Fall zu sein scheint.3 Stattdessen werden hier im Bereich »Zusammenleben unterschiedlicher sozialer und ethnischer Gruppen« lokale Konfliktagenturen und Mediationsprojekte, Wohnungsbaugesellschaften, Nachbarschaftsplena, Kindertagesstätten oder auch die Polizei aufgelistet. In geringerem Maße finden sich auch explizit migrantische Partnergruppen – wie im Fall des Kreuzberger Projekts der ›Esswerkstatt aller Kulturen und Generationen‹ zum Beispiel die Arabische Elternunion e.V. – doch bilden diese zumindest bei den Berliner ›Praxisbeispielen‹ eher eine Minderheit.

2 Siehe z. B.: Von Beruf Stadtteilmutter, in: Berliner Zeitung, 13.3.2009; URL: http:// www.berliner-zeitung.de/archiv/neukoelln-macht-schule--auch-im-weddingerbrunnenkiez-beraten-frauen-kuenftig-auslaendische-familien-in-alltagsfragen-von-berufstadtteilmutter,10810590,10626252.html (letzter Zugriff am 17.9.2012) 3 Siehe die offizielle Soziale-Stadt-Website mit Praxisbeispielen aus Berlin unter http://www. staedtebaufoerderung.info/cln_033/nn_1146914/StBauF/DE/SozialeStadt/Praxis/BE/ be__inhalt.html (letzter Zugriff am 7.3.2013)

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Dabei gibt es auf dem migrationspolitischen Feld eine Vielzahl lokal gut verankerter Gruppen und Initiativen, die eine große Expertise entwickelt haben und oftmals auf eine migrantische Selbstorganisation zurückgehen: zum Beispiel lokale Flüchtlingsräte und Beratungsstellen, migrantische Vereine und Verbände, medizinische Versorgungsstellen für Menschen ohne Krankenversicherung, antifaschistische und anti-rassistische Gruppen, die teilweise seit vielen Jahren mit migrantischen Communities zusammenarbeiten oder auch die bei den Gewerkschaften angesiedelten Arbeitskreise ›undokumentiertes Arbeiten‹ (z. B. in Berlin/Brandenburg unter dem Dach von Ver.di). In der Tat bleiben viele dieser Gruppen eher auf Distanz zu den QM oder kritisieren diese sogar vehement wie etwa im Berliner Fall der Einrichtung der »Task Force Okerstraße« im Jahr 2009, der eine aktive Kontrollund Verdrängungspolitik im Stadtteil Neukölln vorgeworfen wurde, speziell gegen die im Quartier lebenden Roma.4 Das bestenfalls freundliche Nebeneinander, oftmals aber eher angespannte Verhältnis, begründet sich aber nicht nur aus der Auswahl der Partner durch die jeweiligen QM, sondern auch aus der im Bundesprogramm Soziale Stadt formulierten inhaltlichen Dimension der Quartiersarbeit. Hier wird der Fokus auf MigrantInnen weniger über das besondere Maß an Exklusion und Diskriminierung begründet, dem diese in deutschen Städten unterliegen. Sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch was die Versorgung mit Wohnraum und die Bildungsabschlüsse angeht, schneiden MigrantInnen statistisch gesehen deutlich schlechter ab als ihre deutschen MitbürgerInnen (empirische Befunde zur Exklusion von MigrantInnen in deutschen Städten finden sich z. B. bei Bremer/Gestring 2004; für eine Darstellung aktueller Daten siehe etwa Destatis/WZB 2011: 188 ff.). Stattdessen wird die stadträumliche Konzentration von MigrantInnen als benachteiligender Faktor für alle BewohnerInnen eines Stadtviertels identifiziert: Die ›soziale Entmischung‹ – und damit ist ausdrücklich auch die Entmischung entlang der Kategorien migrantisch versus einheimisch gemeint – wird als wesentlicher Faktor für eine sogenannte Abwärtsspirale in den betroffenen Stadtteilen interpretiert. In der ersten Zwischenevaluation des Programms Soziale Stadt durch das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) heißt es dazu:

4 Siehe etwa: Zoff um die Task Force Okerstraße, in: Der Tagesspiegel, 18.2.2011; URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/neukoelln-zoff-um-die-task-force-okerstrasse/385 6706.html (letzter Zugriff am 17.9.2012)



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»Alternativen auf dem sich in vielen Städten entspannenden freien Wohnungsmarkt sowie die eher geringe Attraktivität der verbliebenen Sozialwohnungen veranlassen Bewohnerinnen und Bewohner mit vergleichsweise höheren Einkommen zum Fortzug aus benachteiligten Gebieten – dies gilt für die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. In die freiwerdenden Wohnungen ziehen sodann vor allem Haushalte mit Migrationshintergrund – dies gilt überwiegend für die alten Bundesländer – sowie einkommensschwache deutsche Haushalte. Durch die fortschreitende soziale Entmischung und die dadurch entstehende Konzentration benachteiligter Haushalte wachsen und verstärken sich in vielen Quartieren soziale Konfliktpotentiale.« (DIFU 2002: 15–16, kursiv durch die Verf.)

In der wissenschaftlichen Debatte sind diese Diagnose, die ihr zu Grunde liegenden theoretischen Annahmen, wie auch die darauf aufbauenden politischen Strategien ausführlich und kritisch diskutiert worden (siehe etwa Lanz 2007: 86–96, 163–177). Dies betrifft unter anderem die Auswahl des Quartiers als Referenzgröße für eine sozialräumliche Analyse, die ethnische Kolonie als sozialwissenschaftliches Konstrukt sowie die oben bereits angesprochene Kritik aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive. Klar wird vor dem Hintergrund des DIFU-Zitats außerdem, dass es in der Konzeption des Bundesprogramms nur wenig inhaltliche Anknüpfungspunkte für Gruppen und Initiativen gibt, die das Thema ›Migration und Integration‹ aus einer Bewegungs- oder Bürgerrechtsperspektive angehen. Denn MigrantInnen werden hier nicht als stadtpolitische Akteure auf Augenhöhe, sondern (zusammen mit einkommensschwachen deutschen Haushalten) als besondere Problemgruppe betrachtet. In der Tat ist diese Perspektive bereits in der stadtsoziologischen Debatte über die Fragmentierung der Städte angelegt. Denn auch hier werden Prozesse der Migration vor allem im Hinblick auf ethnische Segregation, die Herausbildung migrantischer Ökonomien (Stichwort: ethnic business) und Diskriminierung in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Bildung untersucht. Migrationspolitischen Kämpfen und Initiativen in der Stadt wird dagegen weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt, wie überhaupt die Frage nach der Rolle urbaner sozialer Bewegungen und ihrer Bedeutung in der Stadtpolitik in dieser Debatte bislang wenig Beachtung gefunden hat.5

5 So bietet beispielsweise Ingrid Oswalds ausführliche Einführung in die Migrationssoziologie einen ausgezeichneten Überblick über die internationale Migrationsforschung (und deren stadtspezifische Dimension), enthält jedoch kein eigenständiges Kapitel zum Thema ›Bürgerrechtsbewegungen‹ bzw. ›migrationspolitische Kämpfe‹ (Oswald 2007).

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Der analytische und politische bias wird besonders deutlich, wenn man den bundesdeutschen Debattenkontext verlässt. Zur Kontrastierung soll hier Los Angeles dienen, also eine Stadt, die vermutlich weitaus stärker fragmentiert und polarisiert ist als Berlin und gemeinhin als urbane Dystopie gilt, als Negativfolie für Politiken der Privatisierung öffentlicher Räume, für restriktive Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen und für die Diskriminierung von Minderheiten und MigrantInnen. Vielleicht ist gerade dies der Grund dafür, dass sich in der Auseinandersetzung mit Los Angeles eine Stadtforschungsdebatte entwickelt hat, die sich explizit an den Impulsen sozialer Bewegungen orientiert und den vielfältigen Verbindungen zwischen grassroots groups und progressiver Stadtpolitik nachspürt (siehe etwa Davis 2002: 205 ff.; Dear 2002; Sawhney 2002; Gottlieb u. a. 2005). 6 Exemplarisch für eine solche Perspektive soll hier das 2005 erschienene Buch The Next Los Angeles: The Struggle for a Livable City von Robert Gottlieb, Mark Vallianatos, Regina Freer und Peter Dreier herangezogen werden (Gottlieb u. a. 2005). Die vier AutorInnen erzählen die Geschichte der Stadt explizit aus einer ›bottom-up‹-Perspektive. Dabei interessiert sie zum einen, welche sozialen Bewegungen die Stadt im 20. Jahrhundert geprägt haben und weiterhin prägen: zum Beispiel gewerkschaftliche Mobilisierungen für einen lokalen Mindestlohn, Bürgerrechtsbewegungen der Afro-Americans, Latinos und anderer Minderheiten, oder auch Nachbarschaftskampagnen für affordable housing, für besseren öffentlichen Nahverkehr und für höhere Umweltstandards in der Stadt. Zum anderen geht es den AutorInnen dabei immer auch um die Frage, wie die betreffenden Forderungen für eine livable city – für eine lebenswerte Stadt – Eingang in die lokalen policies gefunden haben, wie die städtischen sozialen Bewegungen ihre Anliegen also in die Sphäre der formalisierten Stadtpolitik einspeisen. Die Kämpfe und Forderungen von MigrantInnen und ›ethnischen Minderheiten‹ spielen dabei eine zentrale Rolle, vor allem auch im Hinblick auf die semi-institutionalisierten Verfahren der Kommunikation und Koordination und des Austauschs von Ressourcen zwischen den höchst heterogenen stadtpolitischen Initiativen selbst (siehe etwa Nicholls 2003; Lebuhn 2008: 109 ff.).

6 In diesem Zusammenhang ist oft von der ›L.A. School‹ die Rede (in Abgrenzung zur Chicago School). Inwieweit die heterogene Gruppe von AutorInnen, die der L.A. School zugeordnet werden, tatsächlich als eine ›Schule‹ zusammengefasst werden können, soll hier nicht weiter diskutiert werden (dazu mehr bei Dear/Flusty 2002).



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Was die Perspektive von The Next Los Angeles und ähnlicher Arbeiten im migrationspolitischen Kontext auszeichnet, ist, dass Minderheiten und ­MigrantInnen eben nicht als ›Problemgruppen‹ konstruiert, sondern als wichtige stadtpolitische Akteure beschrieben werden. So wird zum Beispiel die starke Benachteiligung der Latinos am Arbeits- und Wohnungsmarkt in L.A. als zentrales stadtpolitisches Problem erkannt, dieses wird aber weniger aus einer sozialräumlichen oder gar systemtheoretisch inspirierten Perspektive analysiert, sondern als Gegenstand politischer Konflikte und kollektiver Aushandlungsprozesse untersucht, in denen die Betroffenen selbst eine zentrale Rolle spielen. Schärft man den stadtsoziologischen Blick daran, so rücken migrantische Selbstorganisationsprozesse und migrationspolitische Basisgruppen viel stärker in den analytischen Fokus. Das wiederum ist überhaupt erst die Vorsausetzung für die Konzeption stadtpolitischer Programme, in denen die agency von MigrantInnen (wie auch aller anderen StadtbewohnerInnen) ernst genommen wird, anstatt MigrantInnen als Problem oder als zu integrierende Sondergruppe zu betrachten.

4. Konturen einer bewegungsorientierten Stadtpolitik Wir haben für die Felder der Migrations- und Mietenpolitik die Beziehungen zwischen der Praxis des QM in Berliner Nachbarschaften und den lokal verankerten sozialen und politischen Initiativen untersucht. Für beide Themenfelder lässt sich feststellen: Soziale Bewegungen und städtische Proteste kommen im Programm und der Praxis der Sozialen Stadt kaum oder gar nicht vor. Dies scheint uns eine Leerstelle zu sein, die sich nicht durch fehlende Bewegungsansätze erklären lässt. Denn gerade städtische Mobilisierungen haben in den vergangenen Jahren selbst im ›protestarmen Deutschland‹ an Relevanz gewonnen, vor allem auf den hier diskutierten Feldern. Uns scheint, dass es aber kein Zufall ist, dass solche politischen ›grassroots‹-Dynamiken in dem Bundesprogramm nicht weiter bearbeitet werden. Vielmehr denken wir, dass es dafür systematische Gründe gibt. Nämlich: Das dem Programm zu Grunde liegende Konzept der Integrationsmaschine Stadt (bzw. deren Krise) betont – wie der Begriff schon sagt – die prinzipielle Integrationskraft der Stadtgesellschaft. Fragmentierungsprozesse werden eher als Abweichung von der historischen Norm beurteilt und am gesellschaftlichen Strukturwandel der letzten zwei Jahrzehnte festgemacht: De-

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industrialisierung, Wandel der Arbeitswelt, neue Migrationsbewegungen etc. Das ist nicht falsch, doch werden dabei erstens Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen Gruppen, Akteuren und Konflikte um Ressourcen tendenziell vernachlässigt, anstatt diese zu betonen, sichtbar und damit auch verhandelbar zu machen. In diesem Sinne wäre auch zu diskutieren, ob hier nicht auch im historischen Rückblick die Integrationskraft der Europäischen Stadt überschätzt wird und weitreichende Exklusionsprozesse zum Beispiel gegenüber Armen, MigrantInnen oder auch BewohnerInnen mit ›sozial abweichendem Verhalten‹, aber auch Polarisierungsprozesse zwischen ›arm und reich‹ unterbetont werden. Zweitens wird Stadtpolitik eher als topdown Prozess konzeptionalisiert, in dem die Herstellung von Kohäsion und Integration betont wird. Überspitzt könnte man daher sagen: Das Verhältnis zu den AnwohnerInnen – vor allem an den ›sozialen Brennpunkten‹ – bleibt instrumentell, weil ›endogene Potentiale‹ zu einem ›höheren Zweck‹, nämlich der Produktion von Integration und Kohäsion mobilisiert werden sollen. Das eigentliche Problem ist dann nicht die Armut, der Ausschluss oder die problematische Lebenslage der Betroffenen, sondern der Unmut, der sich daran entzündet. Sowohl auf der Ebene konzeptioneller Leitbilder als auch in der Umsetzungspraxis weist das Programm Soziale Stadt damit die typischen Merkmale eines postpolitical urbanism auf. Zwar beschränkt sich der Aspekt der Expertokratie in der Praxis der Sozialen Stadt vor allem auf die Festlegung von Leitbildern und Gebietskulissen, doch viele andere Aspekte des postpolitischen Regierens sind deutlich ausgeprägt: 1) Die Aktivitäten und auch die inhaltliche Reichweite der Quartiersprogramme bleiben auf eine Projektebene beschränkt und insbesondere strukturelle Rahmenbedingungen werden konsequent dethematisiert 2) Die Beteiligungsformate und das Selbstverständnis des QM sind auf die Produktion eines möglichst harmonischen Konsenses ausgerichtet und insbesondere gegensätzliche Interessen an der Quartiersentwicklung werden innerhalb der Gremien und Arbeitsgruppen kaum ausgetragen. 3) Diese Konsensorientierung spiegelt sich auch in der für die Post-Politik typischen Rhetorik vorgeblich gemeinsamer (Kiez-)Interessen wider. Damit wurde in der Berliner Praxis der quartiersorientierten Stadtentwicklungsprogramme bisher die Chance verpasst, durch eine Repolitisierung des Lokalen geeignete Lösungsansätze für die städtischen Herausforderungen einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft zu finden. Im Gegensatz dazu plädieren wir dafür, Stadtpolitik stärker als einen Prozess zu denken, in dem die sozialen und politischen Konflikte zwischen



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unterschiedlichen Gruppen und Akteuren immer schon angelegt ist. Im Programm Soziale Stadt und der Praxis des Berliner Quartiersmanagements wird die Herstellung von ›Kohäsion und Integration‹ überwiegend als Konsensorientierung und als Schaffung gemeinsamer Stadtteilidentitäten verstanden. Aus unserer Perspektive sollten stattdessen die sozialen und politischen Widersprüche in der Stadt stärker betont werden. Dementsprechend sollten die Selbstorganisationsprozesse, Proteste und Mobilisierungen von AnwohnerInnen innerhalb und außerhalb formalpolitischer Strukturen analytisch und politisch als konstitutiver Bestandteil von Stadtpolitik anerkannt werden – denn nur in der ›politisierten Stadt‹ werden sich Perspektiven auf eine ›soziale Stadt‹, die ihren Namen verdient, entwickeln lassen.

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III. Politik

Die neuen Grenzen sozialer (Stadt-) Bürgerschaft: Die Stadt in den Mehr-EbenenGovernance-Strukturen Europas Yuri Kazepov

Einleitung Die territoriale Dimension sozialer Bürgerschaft ebenso wie die Rolle der Stadt als eines Bausteins sozialer Inklusions-Strategien sind in vergleichenden Analysen von Sozialpolitik lange unberücksichtigt geblieben. Spiegelbildlich ist in der Stadtforschung die Bedeutung nationalstaatlicher Regulierungen für die Städte vernachlässigt worden. Das ist überraschend angesichts der Tatsache, dass die beiden Begriffe etymologisch und historisch eng verwandt sind, und es die Städte waren, in denen die Rechte und Pflichten der Bürger geprägt worden sind (Weber 1921; Häußermann/Haila 2005). Dass sich beinahe alle vergleichende Forschung auf den Staatsbürger konzentrierte und nicht auf den Stadtbürger, überrascht allerdings nicht angesichts der Tatsache, dass die Grenzen sozialer Bürgerschaft hauptsächlich über Sozialversicherungssysteme auf nationaler Ebene organisiert und definiert worden sind. Hinzu kam die Überzeugung, dass eine Angleichung der Lebensbedingungen am besten durch eine nationale Politik zu erreichen sei, die lokale Unterschiede eliminiert. Vor diesem Hintergrund galt die Sozialhilfe, die traditionell lokal reguliert ist, als nachrangig. Seit Ende der 1970er Jahre haben sich die sozialen, demographischen und ökonomischen Strukturen tiefgreifend verändert (Crouch 2008). Damit änderte sich die Art und Weise, in der soziale Risiken produziert werden, was wiederum die Möglichkeiten der Sozialpolitik untergrub, diesen Risiken zu begegnen (Castel 1995; Taylor-Gooby 2005; Bonoli 2006; Ranci 2010). Dadurch wurden in den letzten beiden Dekaden wichtige Veränderungen in der Organisation der Sozialpolitik ausgelöst, die die Rolle der Städte bei der Definition der Grenzen sozialer Bürgerschaft stärkten: zum einen wurde die territoriale Ebene geändert, auf der soziale Maßnahmen entworfen, verwaltet, finanziert und umgesetzt werden, zum zweiten wurden mehr und andere Akteure in sozialpolitische Aktivitäten eingebunden (Kazepov 2010). Ziel dieses Beitrages ist es, die Konsequenzen

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dieser Veränderungen für die Rolle der Städte und für die Grenzen sozialer Bürgerschaft zu präzisieren. Dass lokale Organisationsformen und die Einbeziehung möglichst vieler Akteure die Lösung für alle Probleme sei, ist zu bezweifeln, aber diese allgemeine Überzeugung verstärkt jedenfalls die Bedeutung lokal organisierter Wohlfahrt für die Definition der Grenzen sozialer Bürgerschaft. Um die neue Rolle lokaler Wohlfahrtsysteme als wesentliche Bausteine sozialer Bürgerschaft zu untersuchen, vergleiche ich im Folgenden die sich ändernden räumlichen Konfigurationen und Governance-Systeme verschiedener europäischer Länder. Ich greife dabei auf Ergebnisse verschiedener Forschungen zurück, die ich in den letzten Jahren durchgeführt habe.1 In Paragraph eins stelle ich dar, wie neue Regulationen neue Umverteilungskollektive und deren räumliche Konsequenzen bestimmen. In Paragraph zwei stelle ich vier Mehr-Ebenen-Regime vor, in denen die nationalen Konzepte von Bürgerschaft und Sozialpolitik um die räumliche Dimension ergänzt werden. In Paragraph drei vergleiche ich die Rolle der verschiedenen Akteure und das Verhältnis der Ebenen Stadt, Region und Nationalstaat in diesen vier Regimen. Dabei wird angenommen, dass das Prinzip der Subsidiarität zwar mehr und mehr die normative Rhetorik sozialpolitischer Reformen in den meisten europäischen Ländern bestimmt, aber die Ergebnisse durchaus unterschiedlich sein können. Den Schluss bilden Überlegungen zu den Chancen und Risiken, die mit der neuen Rolle von Städten und lokalen Wohlfahrtssystemen als Laboratorien des Sozialen verbunden sind. Die These ist, dass die Rolle der Städte, deren Ressourcen und die Möglichkeiten sozialer Innovationen wesentlich bestimmt sein werden von den Auswirkungen dieser Reformen.

1. Sich wandelnde Grenzen der Bürgerschaft, Faktoren des Wandels, die Rolle der staatlichen Ebenen, Ambivalenzen Jenson weist zu Recht darauf hin, dass »Bürgerschaft […] zentrale Wertvorstellungen über die Mischung der Verantwortungen von Staat, Märkten, Familien und Gemeinden« impliziert (Jenson 2007: 58). Ich stimme mit Jenson auch 1 Folgende Projekte werden herangezogen: Rescaling Social Policies towards multilevel governance in Europe, Improve (www.improve-research.eu), GOETE (www.goete.eu). Resultate dieser Projekte sind veröffentlicht in: Kazepov (2009) Kazepov (2010), Kazepov and Barberis (2012), Kazepov and Barberis (2013) Oosterlynck u. a. (2013).



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dahingehend überein, dass jedes Konzept von Bürgerschaft Vorstellungen darüber beinhaltet, wer zum Status des Vollbürgers berechtigt ist, wer nur den Status eines Bürgers zweiter Klasse erhält, und wer gänzlich von den Bürgerrechten ausgeschlossen bleibt. Über die Inklusion in respektive Exklusion aus einer politischen Gemeinde entschied bislang der Nationalstaat. Zunehmend aber spielen auch die anderen Ebenen, insbesondere die Städte, eine Rolle bei dieser Frage. Das Konzept des Mehr-Ebenen-Regimes, verstanden als eng verflochtene Hierarchie verschiedener Räume von unterschiedlicher Ausdehnung (Delaney/ Leitner 1997: 93), erlaubt es, die Dynamik solcher Prozesse in den Blick zu nehmen. Interessant ist dabei die Frage nach den Ursachen dieser Veränderungen, ihren Richtungen und ihren kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Konsequenzen. Da eine solche umfassende Untersuchung den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem sprengen würde, beschränke ich mich im Folgenden auf einige wenige Aspekte, die mir entscheidend für das Verständnis der gegenwärtigen Veränderungen und ihrer Ambivalenzen zu sein scheinen, wobei ich mich auf die Rolle der Städte und lokaler Wohlfahrtsregime konzentriere. Sozialpolitik spielt eine wichtige Rolle bei der Bestimmung von Bürgerschaft auf der nationalen Ebene. Indem sie Kriterien für den Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen definiert, werden Individuen, Familien und soziale Gruppen in redistributive Gemeinschaften inkludiert oder aus ihnen ausgeschlossen (Kazepov 2010). Der Wohlfahrtsstaat repräsentiert die letzte Stufe eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf räumlich definierte politische Gemeinschaften, insbesondere der Nationalstaat, als Einheit von Umverteilungsprozessen unter den Bürgern etabliert wurden (Ferrera 2005). In diesem Kapitel wird dargestellt, dass die räumlichen Ebenen, auf denen Umverteilungsprozesse organisiert sind, sich vom Nationalstaat sowohl nach oben auf übernationale Körperschaften (Europäische Union) wie nach unten auf die Regionen und Städte verschieben. In der Kritik der politischen Ökonomie werden solche Veränderungen daraufhin untersucht, inwieweit damit neue und bessere Bedingungen der Kapitalakkumulation geschaffen werden (Peck/Tickell 1994; Brenner 2004). So erhellend diese Perspektive ist, sie erscheint mir doch zu eng. Die goldenen Jahrzehnte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen Wachstum und Umverteilung sich gegenseitig stützten, sind vorbei.2 Eine 2 Die Literatur zu den Gründen dieser Veränderungen und die Bezüge zum Wohlfahrtsstaat ist ziemlich umfangreich und variiert je nach Ideologie, Fachdisziplin und Erkenntnisziel. Vgl. für die neomarxistische Position Gough (1979) und für die neoliberale Murray (1984).

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Antwort auf diese veränderten Bedingungen der Kapitalakkumulation ist ein erstarkender Neoliberalismus. Aber die gegenwärtig beobachtbaren gesellschaftspolitischen Veränderungen haben noch weitere Ursachen: die Alterung der Bevölkerung, Migration, instabile Familien, die Integration von Frauen in das Beschäftigungssystem und das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit. Aber auch endogene, aus der inneren Logik sozialpolitischer Institutionen resultierende Faktoren spielen eine Rolle; zum Beispiel sind in Renten und anderen Versicherungssystemen immer Antworten auf spezifische Risiken in bestimmten historischen Situationen institutionalisiert (Ferrera 1998b). Ich schließe mich deshalb den Vertretern von Theorien mittlerer Reichweite wie Leibfried und Zürn (2005) an, wonach verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind, deren gemeinsame Effekte obendrein nicht immer eindeutig zu prognostizieren sind. Sowohl die pragmatische Orientierung der beteiligten Akteure wie strukturelle Charakteristika des jeweiligen Wohlfahrtsystems spielen eine Rolle. Wie es Pawson und Telley (1997: XV) ausdrücken: »Reformen und Kontext = Ergebnis«.

2. A  uf dem Weg zu einer Perspektive territorialer Bürgerschafts-Regime Bei der folgenden Beschreibung, wie Bürgerschaftsregime durch spezifische Arrangements von sozialpolitischen Maßnahmen räumlich organisiert werden, greife ich auf meine vergleichende Untersuchung von Wohlfahrtsregimen acht europäischer Länder zurück (Kazepov 2010: 51–63)3. Unter dem Gesichtspunkt der räumlichen Organisation von Sozialpolitik ergaben sich vier Modelle: 1. 2. 3. 4.

Länder mit starker lokaler Autonomie im Rahmen zentraler Vorgaben; Länder mit starker nationaler/zentraler Organisation der Sozialpolitik; Länder mit starker regionaler bzw. föderaler Organisation; Transformationsländer mit gemischten Organisationsformen.

Zu diesen Unterschieden in der vertikalen Dimension treten solche in der horizontalen: Auf den verschiedenen räumlichen Ebenen spielen öffentli 3 Zu methodischen Details vgl.: Barberis u. a. (2010: 386 ff.) und Barberis (2010).



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che, private und Akteure des Dritten Sektors unterschiedliche Rollen. Ich werde im Folgenden die Beziehungen der vier Modelle zu unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen und ihren Wandel beschreiben, wobei allen Ländern die wachsende Bedeutung der lokalen Ebene gemeinsam ist. 2.1 Lokale Autonomie unter zentralen Vorgaben In diesen Ländern liegt die Gesetzgebung beim Zentralstaat, Verwaltung und Finanzierung bei den Gemeinden, denen bei der Umsetzung der sozialpolitischen Maßnahmen weitgehende Autonomie zukommt. Die zentralen Vorgaben beziehen sich auf Richtlinien für die Umsetzung, Mindeststandards der Versorgung etc. Finnland, Norwegen und Schweden repräsentieren dieses Modell. Sellers und Lidström (2007: 622) haben dieses sozialdemokratische Wohlfahrtssystem der skandinavischen Länder als »nationalisierte lokale Regierungen« bezeichnet. Sie sind gekennzeichnet durch vergleichsweise starke Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsmaßnahmen sowie ein universelles System einklagbarer Mindestleistungen mit einkommensbezogenen Ergänzungen. Demzufolge müssen die Städte jedem, der zum Bezug der Leistungen berechtigt ist, diese auch gewähren (Minas/ Øverbye 2010). Innerhalb dieses Rahmens sind die Städte weitgehend autonom bei Verwaltung und Finanzierung, wenn sie auch zentralen Vorgaben und einer Evaluation durch nationalstaatliche Instanzen unterliegen, was beides dazu dienen soll, keine zu großen regionalen Unterschiede entstehen zu lassen. Die mittlere Ebene zwischen Nationalstaat und lokalen Regierungen, insbesondere die Regionen, sind die Verlierer der Reorganisation räumlicher Zuständigkeiten. Betrachtet man die horizontale Dimension der Organisation der Wohlfahrtspolitik, so fällt die strikte vertragliche Regulierung der Aktivitäten privater Akteure auf, deren Beitrag im Wesentlichen auf individualisierte Maßnahmen zur Aktivierung für den Arbeitsmarkt beschränkt bleibt. Der Staat spielt also die entscheidende Rolle, wobei durch neuere Reformen der Zugang zu den Leistungen an schärfere Bedingungen geknüpft wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Staat seine Vorrangstellung behält. Dezentralisierung findet nur insoweit statt, wie die dadurch ausgelösten Prozesse der Differenzierung unter Kontrolle gehalten werden können.

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2.2 Zentralistische Länder Hier verbleibt die Gesetzgebung beim Zentralstaat und die Spielräume der lokalen Verwaltungen bei Management und Finanzierung sind sehr gering: Zugangskriterien, Umfang, Dauer etc. der Leistungen sind vom Zentralstaat strikt geregelt. Das bedeutet, dass das Leistungsniveau überall im Land beinahe identisch ist. Zivilgesellschaftliche Akteure sind an den Verhandlungen auf nationaler Ebene und bei Maßnahmen auf nationaler und lokaler Ebene beteiligt. Frankreich ist ein Beispiel für dieses kontinentaleuropäische, konservativ-korporatistische Wohlfahrtsregime. Wenn auch eine gewisse Dezentralisierung bei Finanzierung und Umsetzung stattgefunden hat, sind die Leistungen und Kriterien weiterhin bis ins Detail durch nationale Gesetzgebung vorgegeben. Gewisse lokale Spielräume ergeben sich im Wesentlichen durch die Vielzahl überlappender und teilweise widersprüchlicher Maßnahmen. 2.3 Länder mit regionalisierter Sozialpolitik Hier obliegt die sozialpolitische Gesetzgebung ausschließlich den subnationalen Ebenen. Bei Management und Finanzierung zeigen sich in dieser Gruppe unterschiedliche Arrangements unterhalb der nationalstaatlichen Ebene, die teilweise auf die Unterschiede zwischen föderalistischen und regionalistischen Strukturen zurückzuführen sind. Die entscheidenden Unterschiede aber liegen in der Rolle des Zentralstaats. Italien und Spanien, als Beispiele für das ›familialistische‹ Wohlfahrtssystem Südeuropas, sind charakterisiert durch niedrige, lokal definierte Leistungen, geringe Anspruchsrechte und eine schwache Rolle des Zentralstaats. Eardley u. a. (1996: 170) sehen dieses Modell charakterisiert durch lokalisierte, differenzierte Unterstützung, enge Bindung an Sozialarbeit und weitgehende Verpflichtungen der Verwandtschaft. Als Konsequenz ergeben sich vergleichsweise hohe regionale und lokale Disparitäten, die durch die Dezentralisierungsprozesse seit den 1970er Jahren noch verstärkt wurden. Unter den Gesichtspunkten ihrer räumlichen Organisation sind diese Maßnahmen großenteils regional bestimmt, hoch segmentiert und auf spezifische Kategorien orientiert. Die Städte sind weitgehend autonom bei Design, Management und Implementierung von Sozialhilfesystemen. Mit wenigen Ausnahmen, wie beispielsweise Deutschland, zeigen diese Länder im internationalen Vergleich eine



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scharfe territoriale Differenzierung sowohl in der Organisation wie im Umfang der Leistungen. Dabei spielen allerdings auch weitere Faktoren wie die Größe des Landes (Vgl. Obinger/Leibfried/Castles 2005) und die Bedeutung des Staates (Kazepov 2010) eine wichtige Rolle. Abgesehen von diesen Unterschieden aber zeigen diese Länder in einigen organisatorischen Aspekten Übereinstimmungen: erstens, neben dem Staat existiert ein zweiter legislativer Strang: Kantone, Comunidades autonomas und Regioni haben die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich zahlreicher Bereiche der Sozialpolitik und der Sozialhilfe. Verglichen mit den nordischen Ländern ist der Einfluss der überregionalen Instanzen gering. Soziale Unterstützungsprogramme werden in der Regel auf der regionalen Ebene formuliert mit der Konsequenz scharfer territorialer Fragmentierung in diesen Ländern. Betrachtet man die horizontale Ebene, so spielen hier im Vergleich zu den anderen Modellen private Akteure (hauptsächlich Wohlfahrtsverbände) eine wichtige Rolle sowohl bei der Umsetzung wie bei Management, Planung und Entscheidung. Diese Akteure sind stark engagiert insbesondere bei Beschäftigungsinitiativen für benachteiligte Gruppen. Zum Beispiel spielen in Italien die Caritas und ähnliche Organisationen wichtige Rollen bei der Formulierung und Umsetzung sozialpolitischer Maßnahmen. 2.4 Länder im Übergang mit Mischformen Tiefgreifende politische Veränderungen in Übergangsländern haben zu einem Pfadbruch geführt, wobei die neuen Entwicklungen noch nicht soweit institutionalisiert sind, dass daraus klare Entwicklungslinien erkennbar wären. Es zeigt sich ein breites Spektrum verschiedener Formen sowohl in zentralisierten Ländern wie in solchen mit hoher lokaler Autonomie. Die Gesetzgebung liegt normalerweise beim Nationalstaat (vgl. Paragraph 2.2), doch gewinnen in einigen Ländern lokal organisierte Wohlfahrtssysteme an Gewicht (vgl. Paragraph 2.3). Die Zivilgesellschaft kann hier auf der lokalen Ebene eine gewichtige Rolle spielen, insbesondere um die strukturellen Lücken der sich entfaltenden neuen Konfigurationen zu schließen. Polen ist ein gutes Beispiel für diesen Typus. Es zeigt, wie radikale politische Veränderungen zur Reorganisation von Macht unterhalb des Nationalstaats führen können. Zwar behält die nationale Regierung die Steuerungsrolle, aber der von ihr gesetzte nationale Rahmen sozialer Hilfssysteme interagiert mit einer dezentralisierten Struktur, die durch fragmentierte

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Machtverhältnisse und beträchtliche Differenzierungsmöglichkeiten lokaler Sozialarbeiter charakterisiert ist (Cerami 2006). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Erbe eines starken Zentralstaats durch Prozesse der Pluralisierung, der Fragmentierung und Dezentralisierung infrage gestellt wird, wobei noch unklar ist, welche Richtung diese Veränderungen schließlich einschlagen werden.

3. W  andel der Raumstrukturen, Pfadabhängigkeit, Regimeänderungen und die Städte in vorderster Linie Eine Schlussfolgerung aus den vorangegangenen Ausführungen ist die Warnung, aus dem allgemeinen Plädoyer für Dezentralisierung einen homogenen Trend abzuleiten. Veränderungen der räumlichen Organisation des Staatsaufbaus finden im Rahmen tief verwurzelter normativer Vorstellungen und der allgemeinen Pfadabhängigkeit verschiedener Wohlfahrtssysteme statt. Zwar gewinnen überall die Städte an Bedeutung, aber die Differenzen in diesen Prozessen müssen sorgfältig beachtet werden. Abbildung eins beschreibt die wesentlichen Veränderungen in den territorialen Konfigurationen dreier ausgewählter sozialpolitischer Maßnahmen in den Ländern Italien, Finnland, Frankreich und Polen.4 Abbildung eins zeigt unterschiedliche Beharrungstendenzen gegenüber Veränderungen in den vier Ländern, und selbst dort, wo tief greifende Veränderungen stattgefunden haben, kann die Rolle verschiedener räumlicher Ebenen variieren. In Finnland zum Beispiel haben die lokalen Administrationen an Bedeutung seit Mitte der 1990er Jahre gewonnen, obwohl neue 4 Abbildung eins berücksichtigt folgende sozialpolitischen Maßnahmen: 1) Sozialhilfe, 2) Aktivierungsmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt 3) Alterspflege. Die Werte auf der Y-Achse entsprechen der Bedeutung der unterschiedlichen Ebenen im Verhältnis zu: a) Regulierung; b) Management und c) Finanzierung. Für jede dieser Dimensionen gehen die Werte von ›volle Verantwortlichkeit/wichtige Rolle‹ (=1) bis zu ›keine Verantwortlichkeit‹ (=0). Geteilte Verantwortlichkeit erbringt einen Wert von 0,5. Der gesamte Wert einzelner Ebenen bewegt sich also zwischen 0 (keine Rolle in keiner sozialpolitischen Maßnahme und Dimension) bis zu 9 (volle Verantwortlichkeit und bedeutende Rolle bei jeder Maßnahme und Dimension). Die Werte wurden an unterschiedlichen Zeitpunkten kalkuliert, um die Veränderungen zu visualisieren. Vgl. Barberis u. a. (2010: 386 ff.) und Kazepov/Barberis (2012).

Polen

Frankreich

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Quelle: Kazepov (2010: 56–60).

Finnland

Italien

Abbildung 1: »Veränderungen der räumlichen Organisation ausgewählter sozialpolitischen Maßnahmen in vier europäischen Ländern«



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re Formen die Rolle des Zentralstaats betont haben. In Frankreich haben die Dezentralisierungsbemühungen die Machtbalance zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen nur marginal berührt. In Italien wiederum führten die Reformen der Wohlfahrtssysteme zu beträchtlichen Veränderungen in Richtung auf eine quasi-föderalistische Konfiguration. Die politischen Umbrüche in Polen und der Beitritt des Landes zur EU führten zu neuen räumlichen Konfigurationen, ohne dass sich bereits eine klare Arbeitsteilung herausgebildet hätte (Kazepov, 2010). Allen vier Ländern ist eines gemeinsam: die wachsende Bedeutung der Städte bei der Strukturierung lokaler Wohlfahrtssysteme. Doch haben diese Veränderungen nicht überall dieselbe Bedeutung, sie gehen einher mit unterschiedlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen der staatlichen Organisation. Das Ganze ist auch nicht als ein Nullsummenspiel zu beschreiben: In Frankreich ist der Nationalstaat der wichtigste Akteur geblieben, trotz des Aufstiegs der Departements; in Finnland hat er sogar wieder an Bedeutung gewonnen (vergleiche die U-Kurve), während er in Polen und Italien an Einfluss verloren hat. 3.1 Eine vergleichende Analyse der Beziehungen zwischen räumlicher Organisation und Governance Will man die Gründe für die neue Rolle der Städte verstehen, müssen die Wechselwirkungen zwischen der Verteilung von Verantwortungen auf den verschiedenen Ebenen der politischen Administration (Subsidiarität) und der Vielzahl unterschiedlicher Akteure, die an der Formulierung, dem Management, der Finanzierung und der Umsetzung einzelner Politiken beteiligt sind (Governance), analysiert werden. Eine solche Analyse zu leisten, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich beschränke mich deshalb auf eine Darstellung der Handlungsspielräume, die sich in der Praxis eröffnen, um daraus Aussagen über die sich entwickelnden Typen von (Stadt-)Bürgerschaft und deren mögliche Risiken abzuleiten. In jedem Land ergeben sich Spielräume für die Implementation sozialpolitischer Maßnahmen auf der lokalen Ebene, doch lassen sich auf Basis der relevanten Literatur (Lipsky 1980; Galligan 1992; Evans/Harris 2004; Saruis 2012) sowie eigener Untersuchungen (Kazepov 2010; Kazepov/Barberis 2012) drei Typen von Handlungsspielräumen identifizieren, die sich bei der Implementation vor Ort ergeben: erstens Spielräume intra legem, bei denen



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professionelle Qualifikationen genutzt werden, um Niveau und Art der Implementation einzelner Maßnahmen innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens zu bestimmen. Zweitens Spielräume extra legem, bei denen die Unklarheiten, Überschneidungen und Lücken in den Vorgaben den Praktikern vor Ort weitgehende Interpretationsmöglichkeiten eröffnen (Sosin 2010). Drittens Spielräume contra legem, bei denen vor Ort Entscheidungskriterien unberücksichtigt bleiben, um Klienten zu unterstützen oder ihnen Unterstützung zu versagen in Fällen, in denen einklagbare Rechte bzw. formalisierte Verfahren fehlen (Kazepov/Barberis, 2012: 218–224). In Tabelle eins sind verschiedene Sozialhilfemodelle zusammengefasst unter dem Gesichtspunkt der Rolle, die relevante Akteure in den unterschiedlichen räumlichen Organisationsformen spielen.

Tabelle 1: Die Rollen verschiedener Akteure in unterschiedlichen räumlichen Organisationsformen in Europa Territoriale Organisation

Rolle des dritten Sektors

Niveau der Finanzierung

Wichtigste Governanceprivate Akteure typen

Länder mit starker lokaler Autonomie im Rahmen zentraler Vorgaben

Weniger wichtig (zunehmend)

Hoch

Privatwirtschaftliche

Managerial und Mittel partizipativ Intra legem

Zentral geregelte Länder

Wichtig (zunehmend)

Hoch

Privatwirtschaftliche/gemeinnützige

Managerial und korporatistisch (eher zentralisiert)

Mittel Intra legem selten Extra legem

Regional geregelte Länder

Sehr wichtig (zunehmend)

Variabel (IT Very low) (CH very high)

Gemeinnützige

Korporatistisch (pluralistisch und hoch fragmentiert)

Mittel-Hoch Extra legem sehr diversifiziert (IT auch Contra legem) (CH auch Intra legem)

Trans­ formationsLänder

Sehr wichtig (zunehmend)

Niedrig

Gemeinnützige

Korporatistisch (pluralistisch und hoch fragmentiert)

Hoch Extra legem (auch contra legem)

Quelle: Kazepov/Barberis (2013: 238).

Niveau und Typus der Diskretion

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In Ländern mit hoher lokaler Autonomie unter zentralen Vorgaben, wie den skandinavischen, beobachten wir ein zweizügiges System, in dem den Städten Management und Durchführung obliegen im Rahmen eines national formulierten Designs. Bei einigen Maßnahmen (zum Beispiel Wohnhilfen) beobachten wir eine direkte Rolle des Staates, häufig implementiert durch dezentrale Instanzen. Hinsichtlich der Rolle der verschiedenen Akteure ist das Bild sehr viel expliziter. Im Allgemeinen spielen die Sozialpartner (Unternehmer und Gewerkschaften) auf nationaler Ebene wichtige Rollen als Lobbyisten, während die Implementation auf der lokalen Ebene häufig als quasi marktförmige Regulation charakterisierbar ist. Den Verwaltungen vor Ort bleibt ein Handlungsspielraum intra legem: Mehr oder weniger bindende nationale Richtlinien, zuweilen ergänzt durch lokale Bestimmungen, steuern die Entscheidungen vor Ort. Die Struktur von Mehr-Ebenen-Governance ermöglicht eindeutige Verantwortlichkeiten, der jeweiligen Situation angemessenes Verhalten und klare Vorgehensweisen auf der Basis national definierter Regeln und Anspruchsrechte. Ihre Autonomie erlaubt den Städten darüber hinaus, mit eigenen Maßnahmen die nationalen zu ergänzen. Eine Rolle spielen dabei auch die Sozialarbeiter, deren Handlungsspielräume es ermöglichen, Integrationsmaßnahmen auf den jeweiligen Fall zuzuschneiden. In der vertikalen Perspektive zeigen sich hier keine entscheidenden Unterschiede zu zentralistisch organisierten Ländern wie Frankreich. Die Handlungsspielräume der Kommunen sind hier sehr viel geringer, auch deshalb, weil dezentralisierte staatliche Instanzen (zum Beispiel die Prefectures und die nachgeordneten Dienststellen der Ministerien, etwa die des Ministeriums für Wohlfahrt und Gesundheit auf der Ebene der Departments) erheblichen Einfluss haben. Auch ist die Rolle der Sozialpartner und anderer Interessengruppen in Frankreich stärker, während private Akteure im Wesentlichen komplementäre Funktionen bei der Erbringung von Maßnahmen erfüllen (Feiock/Andrew 2006; Bergmark/Minas 2010). Lokale Politiken sind auf die eine oder andere Weise zentral kontrolliert, wobei den Departements noch am ehesten Handlungsspielräume zukommen, die allerdings durch ihre knappen Budgets eng begrenzt bleiben. In dezentral organisierten Ländern wie Italien, Spanien und der Schweiz ist die Rolle der lokalen Administration besonders stark. Der Nationalstaat gibt nur einige generelle Richtlinien vor. Die Art und Weise der Behandlung der Fälle ist oft außerordentlich unterschiedlich, entsprechend den diversen Regeln und Strategien, die sich die subnationalen Ebenen gegeben haben.



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In allen drei Ländern spielen gemeinnützige private Akteure eine besonders gewichtige Rolle, beispielsweise bei der Formulierung von Berechtigungskriterien (zum Beispiel SKOS-Richtlinien in der Schweiz) und bei der Durchführung eigener Maßnahmen, die mehr oder weniger mit denen der öffentlichen Hand koordiniert werden (insbesondere in Spanien und Italien). Das Bild ist insgesamt sehr komplex und die verschiedenen Maßnahmen sind häufig nur unzureichend mit öffentlichen Mitteln ausgestattet (Ranci 2002). Die Rolle der privaten Akteure schwankt zwischen Komplementarität, Substitution und einer autonomen Rolle gesellschaftlicher und (Markt-)Kräfte. Letzteres gilt insbesondere für Spanien und Italien, wo nichtstaatliche Akteure angesichts fehlender öffentlicher Leistungen häufig das letzte Auffangnetz bilden. In den Übergangsländern wie Polen überlappen sich die wenig klar definierten Verantwortlichkeiten von Regionen, Städten und – als Erbe des vorangegangenen Regimes – eines starken zentralistischen Staates. Handlungsspielräume ergeben sich häufiger extra legem und sie variieren stärker, weil sie durch die Interpretationen von Sozialarbeitern vor Ort, was zu tun und wie es zu tun sei, bestimmt sind. Teilweise wie in der Schweiz eröffnen sich solche Handlungsspielräume intra legem, teilweise resultieren sie aus der unklaren und komplexen Vielfalt möglicher Maßnahmen wie in Italien. In diesen Fällen werden die Handlungsspielräume oft dazu benutzt, den ›Bedürftigen‹ zu helfen und die ›Unwürdigen‹ von den Unterstützungen auszuschließen. Direkte Regelverletzungen (contra legem) sind selten, ebenso wie weite Spielräume bei der Definition der Adressaten, doch lassen sich in Polen, Spanien und Italien entsprechende Fälle finden. Die Tatsache, dass Handlungsspielräume extra legem vornehmlich in dezentral organisierten Ländern zu beobachten sind, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Sozialhilfe hier durch eine Vielzahl von Akteuren mit eng verflochtenen Rollen, einander überlappenden Verantwortlichkeiten und vielfältigen Vetomöglichkeiten bestimmt ist (Ferrera 2008). Dies betrifft bereits die Bestimmung von monetären Mindestleistungen, was in den meisten Fällen die Sache regionaler oder subregionaler Instanzen ist. Diese bemerkenswerten Unterschiede finden sich sowohl dort, wo großzügige Leistungen gewährt werden (Schweiz), wie bei niedrigem Leistungsniveau (Spanien und Italien). In den letzten beiden Ländern bestehen Unterschiede nicht nur hinsichtlich des Niveaus der Geldleistungen, sondern auch bei den Berechtigungen. Beträchtliche lokale Unterschiede zeigen sich hier sogar bei national definierten Maßnahmen (zum Beispiel beim Mindesteinkommen in Spanien und bei

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der Fürsorge für alte Menschen in Italien), was auf die unklare Arbeitsteilung zwischen den staatlichen Ebenen zurückzuführen ist. Das heißt: In verschiedenen Städten zu leben beinhaltet oft, über unterschiedliche Rechte, Hilfen und Dienstleistungen zu verfügen. Wo die Sozialhilfen mehr fragmentiert und das öffentliche Sicherheitsnetz schwächer sind, fungieren soziale Netze und der ehrenamtliche Sektor als Substitute, was die Komplexität des Systems erhöht, seine Berechenbarkeit und die Verantwortlichkeit der Akteure aber verringert. Man kann nicht behaupten, dass Dezentralisierung per se Ursache für Rechtsverluste und schwache Organisation sei. Das hängt von anderen intervenierenden Faktoren ab, wie dem System von Checks and Balances zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen und Akteuren, dem Grad der Formalisierung und der allgemeinen Effizienz und Effektivität des jeweiligen Wohlfahrtsstaates. Unter den dezentral organisierten Ländern bieten die Sozialhilfesysteme der Schweiz und Deutschlands effektivere Lösungen als jene Italiens und Spaniens. Und das ist der jeweiligen Organisationsform zuzuschreiben, nicht dem Niveau der Leistungen. In Ländern mit heterogenen institutionellen Arrangements bietet sich ein weites Feld für Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren zum Beispiel hinsichtlich der Berechtigungskriterien sowie der Ausgestaltung der Maßnahmen und Leistungen an. Diese institutionelle Unübersichtlichkeit spiegelt die anhaltenden internen sozialen und territorialen Differenzierungen, was die Rolle sozialer Politiken bei der Konstruktion sozialer (Stadt-) Bürgerschaft beeinträchtigen könnte.

4. Schlussfolgerung: Chancen und Risiken der Trends zu mehr Subsidiarität in europäischen Bürgerschaftsregimen Die räumliche Reorganisation von Bürgerschaftssystemen weist unzweifelhaft in Richtung auf eine wachsende Bedeutung von Städten. Das Gleiche gilt für neue Governanceformen. Wenn auch mit unterschiedlichen Zeiträumen und Geschwindigkeiten, gewinnen in allen Ländern nichtstaatliche Akteure an Gewicht. Diese übereinstimmenden Trends bergen Chancen und Risiken je nach ihrem Wechselspiel mit verschiedenen pfadabhängigen institutionellen Settings.



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Die Chancen sind vor allem mit der neuen Rolle nichtstaatlicher Akteure verbunden. Das gilt insbesondere für die gewachsenen Möglichkeiten von Akteuren, in lokalen Experimenten neue Lösungen zu finden (Moulaert u. a. 2007; Silver u. a. 2010). Städte werden wieder zu Laboratorien für sozialpolitische Innovationen (Gerometta u. a. 2005). Dabei ist bislang allerdings die wichtige Frage vernachlässigt geblieben, wie die besten Lösungen verallgemeinert werden könnten. Kritische Punkte betreffen die Art und Weise, wie die räumliche Reorganisation und neue Governanceformen die Entstehung und Bearbeitung von Vulnerabilität und sozialen Risiken modifizieren. Folgende kritische Punkte sind hervorzuheben: a) die Koordination der beteiligten Akteure. Je mehr private und öffentliche Akteure auf unterschiedlichen territorialen Ebenen beteiligt sind, desto höher ist der Bedarf an Koordination, und umso höher werden zugleich die Möglichkeiten für Abweichungen, für potentielle Konflikte und für eine Blockierung der Politik (wechselseitige Vetos, Unfähigkeit, wichtige Entscheidungen zu treffen, politische Stagnation, …) (Øverbye u. a. 2010); b) Institutionalisierung zunehmender Disparitäten zwischen subnationalen Territorien im Allgemeinen und Städten im Besonderen. Je mehr Entscheidungen auf der lokalen Ebene gefällt werden, desto häufiger treten lokaldifferenzierte Praktiken, Regulierungen etc. auf, die wiederum zu lokalen Wohlfahrtssystemen führen und damit zu einer Institutionalisierung ungleicher Behandlung; c) unklare Zuständigkeiten und Verantwortungen. Je mehr Akteure eingebunden werden und je stärker ihre Aktionsräume fragmentiert sind, desto schwächer wird die demokratische Kontrolle über Verantwortlichkeiten im Entscheidungsprozess, bei Management und Implementation (Crouch 2004; Bovens 2007; Brodkin 2008); d) Problemverlagerungen der Nationalstaaten auf subnationale Administrationen, Städte und nicht-öffentliche Akteure, indem sozialpolitische Zuständigkeiten lokalen Wohlfahrtssystemen zugewiesen werden, ohne ihnen die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen (Mény/Wright 1985); e)  ambivalente Rolle der Zivilgesellschaft: einerseits das Risiko ungenügender Repräsentation zum Beispiel in der Annahme, die Zivilgesellschaft vertrete ›die Armen‹ und orientiere sich am ›Gemeinwohl‹, andererseits die

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Tatsache, dass die Zivilgesellschaft in dem Maße, in dem sie institutionalisiert wird, die Rigiditäten öffentlicher Verwaltungen reproduziert; f ) instabile innovative Praktiken, die wenig bewirken, wenn sie nicht von der städtischen wenigstens auf die regionale Ebene angehoben werden. Aber im Zuge eben dieser Anhebung werden sie aus ihrem Entstehungskontext herausgelöst, was ihre Innovationskraft einschränken oder die Innovation sogar scheitern lassen kann. Diese Risiken hängen eng miteinander zusammen, treten aber unterschiedlich in den europäischen Ländern auf. Letzteres ist abhängig vom Wechselspiel zwischen intranationalen, sozialen und ökonomischen Spaltungen, sozialen und politischen Besonderheiten und den jeweiligen Reformen, woraus unterschiedliche Freiheitsgrade für Regionen, Städte und Akteure in den untersuchten Ländern resultieren (vgl. Tabelle 1). Der allgemeine Trend in Richtung auf Dezentralisierung wurde in einigen Ländern von wachsenden Kontrollen seitens übergeordneter Institutionen begleitet (zum Beispiel in den meisten skandinavischen Ländern). In Norwegen beispielsweise koordinieren zentralstaatliche Institutionen Ihre Aktivitäten und die der unteren Ebenen mittels weicher GovernanceInstrumente und neuer Formen von Supervision und Evaluation, was ihnen erlaubt, die Leistungsfähigkeit lokaler und regionaler Wohlfahrtssysteme zu beobachten und zu beurteilen (Øverbye u. a. 2010). Je mehr Koordination, desto mehr wird in Verhandlungssysteme investiert werden müssen, was wiederum nicht notwendig zu mehr Transparenz und klareren Verantwortlichkeiten beiträgt. Daher dürfte die Vorstellung eines Nullsummenspiels zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung nicht geeignet sein, um die laufenden Veränderungen zu erfassen. Diese Veränderungen müssen im Kontext intranationaler Variationen und deren Wechselspiel mit den Umverteilungsfähigkeiten sozialpolitischer Maßnahmen analysiert werden. Finnland, Frankreich, Italien und Polen zeigen hier relevante Unterschiede. Insbesondere zeigen alle wichtigen sozioökonomischen Indikatoren für Italien bis zu vierfach höhere Variationsraten als alle anderen Länder (Kazepov/ Barberis 2012) und gleichzeitig eine der niedrigsten Umverteilungsfähigkeiten wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen: nur 19,7 Prozent von Familien mit niedrigen Einkommen wurden durch Sozialtransfers über die Armutsschwelle gehoben. In Frankreich waren es 43,3 Prozent und in Finnland 50 Prozent (Eurostat 2013).



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4.1 Städte als Laboratorien sozialer Innovation Die wachsende Bedeutung von Städten und lokalen Wohlfahrtssystemen macht diese mehr und mehr zu Laboratorien für die Suche nach Lösungen, mit deren Hilfe die erwähnten Risiken vermieden werden könnten. Dies gilt insbesondere für: a) Befriedigung neuer sozialer Bedürfnisse oder alter Bedürfnisse mit neuen Mitteln; b) Aktivierung von Akteuren und Partizipation, um die Selbsthilfe-Fähigkeiten der Gesellschaft zu stärken; c) Veränderung der sozialen Beziehungen zwischen Akteuren und Identifizierung jener, die soziale Ziele mit sozialen Mitteln effektiver und effizienter erreichen. Die Zivilgesellschaft, insbesondere der dritte oder gemeinnützige Sektor, gilt als der wichtigste kollektive Akteur, der deus ex machina, der dank Flexibilität, Effizienz, innovativem und schnellem Handeln die Defizite der öffentlichen Verwaltung überwinden kann (Oosterlyink u. a. 2013). Leider ist die Wirklichkeit nicht so eindeutig und stellt sich obendrein in vielen Ländern sehr unterschiedlich dar. Was sind die Bedingungen, damit Städte und lokale Wohlfahrtssysteme zusammen mit der Zivilgesellschaft soziale Innovationen produzieren können? Einige der Kontextelemente, um diese Frage zu beantworten, sind bereits erwähnt. Die öffentlichen Institutionen müssen sich in relevanter Weise transformieren und eine neue Organisationskultur, neue Kompetenzen, neue Instrumente der Koordination und des Managements komplexer und gemischter Wohlfahrtsysteme entwickeln. Das ist schon deshalb nicht leicht, weil diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, vielmehr erst im Prozess der Transformation geschaffen werden müssen. Die dargestellten Veränderungen haben den Städten und ihren lokalen Wohlfahrtssystemen erweiterte Handlungsspielräume verschafft, aber im Kontext zunehmender Fragmentierung, was erhöhten Bedarf an Koordination unter der Vielfalt verschiedener Akteure zur Folge hatte. Außerdem beruhen diese Handlungsspielräume in weitem Maße auf nationalstaatlichen Regulationen. Es ist stets im Auge zu behalten, dass (Stadt-)Bürgerschaftssysteme im Allgemeinen und soziale Politiken im Besonderen multiple territoriale Dimensionen haben. Passive Hilfen wie die Arbeitslosenunterstützung werden in beinahe allen untersuchten Ländern hauptsächlich auf nationa-

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Tabelle 2: Kontextuelle Indikatoren und Typen sozialer Innovation in Städten und ihre Risiken51 Territoriale ­Organisation

Umvertei­ lungskapa­ zität 1

Intranatio­ nale Unter­ schiede2

Typen der sozi­ alen Innovation in Städten

Wichtigste Risiken der Städte

Länder mit starker lokaler Autonomie im Rahmen zentraler Vorgaben

Am höch­ sten (abneh­ mend)

Am niedrig­ Hohe Kapazität sten staatlich unter­ stützter Innova­ tion. Empowe­ ring-Praktiken. Vergleichsweise einfache Verall­ gemeinerung

Institutionelle Trägheit/ langsamer Wandel (+) Fehlende Koordinierung (+) Weniger Ressourcen (+)

Zentral geregelte Länder

Hoch (abneh­ mend)

Sehr niedrig Staatlich unter­ (zuneh­ stützte Innova­ mend) tion. Partizipation. Einfache Verall­ gemeinerung

Institutionelle Trägheit/ langsamer Wandel (++) Mangelhafte Repräsentati­ on (+) Abnehmende Ressourcen (+)

Regional geregel­ Variabel te Länder (IT am nied­ rigsten) (CH mittel)

Variabel (IT am höchsten) (CH hoch)

Hohe Kapazität von Innovation des dritten Sek­ tors. Bottom up em­ powerment. Hoch fragmen­ tiert. Verallgemeine­ rung schwierig

(Variabel je nach Rolle des Staates) Passive Subsidiarität (++) Fehlende Koordinierung (++) Differenzierte Rechte (++) Mangelhafte Repräsentation (++) Fehlende Ressourcen: IT (++)

Transformations- Variabel Länder (abneh­ mend)

Variabel (zuneh­ mend)

Innovation als Institutionalisie­ rungsprozess. Hauptsächlich top-down. Verallgemeine­ rung vergleichs­ weise schwierig

(Variabel je nach Rolle des Staates) Passive Subsidiarität (++) Fehlende Koordinierung (++) Differenzierte Rechte (+) Fehlende Ressourcen (++)

5 Bemerkung: 1) Kalkuliert für Familien mit Niedrigeinkommen vor und nach Wohlfahrts­ staatstransfers. 2) Kalkuliert bezüglich der Dispersionsraten in allen sozioökonomischen Indikatoren (zum Beispiel: Beschäftigungsraten, Arbeitslosigkeitsraten usw.). Für Daten­ beispiele über 1 und 2 siehe: Kazepov (2010).



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ler Ebene definiert, aktivierende Politiken und konkrete Hilfen jenseits von Geldzahlungen aber zunehmend auf lokaler Ebene. Eben aufgrund dieser ›Arbeitsteilung‹ behält der Nationalstaat in allen europäischen Ländern Einfluss auf die Stadtpolitik (Kazepov 2005), und lokale Wohlfahrtssysteme sind, mehr als man erwarten mag, mit nationalen Wohlfahrtssystemen vereinbar (Kazepov 2010). Tabelle 2 zeigt die Rolle der Umverteilungskapazität des Staats und die internationalen Differenzen in Bezug auf verschiedene Typen sozialer Innovation in Städten und deren Hauptrisiken. Das Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Kontextbedingungen und den resultierenden sozialen Innovationen bestimmt, wer inkludiert und wer auf welchen räumlichen Ebenen ausgeschlossen wird, und wie neue territoriale und Governance-Arrangements das Ergebnis beeinflussen. In dieser Hinsicht bieten die europäischen Länder interessante Einsichten in die möglichen positiven und negativen Konsequenzen der Einführung von Subsidiaritätsprinzipien in der Sozialpolitik, die von aktivierenden Politiken wie der Partizipation bis zu differenzierten Rechten und Pflichten reichen können. Der Blick auf unterschiedliche räumliche Ebenen hilft dabei, die verschiedenen Rollen von Städten und lokalen Wohlfahrtssystemen bei Prozessen von Inklusion und Exklusion besser zu verstehen. Neue Governanceformen, bei denen mehr öffentliche und private Akteure mehr Funktionen übernehmen, ohne dass die Rollen der bereits etablierten Akteure infrage gestellt würden, verlangen neue Verhandlungsfähigkeiten und Funktionen, die wiederum ungleich verteilt sind. Koordination wird zur Querschnittsaufgabe, die ein bewusstes Denken über politische Netzwerke auch jenseits von Governancesystemen erforderlich macht (Jessop 2002; Kazepov/Barberis 2012: 244). Werden die Städte und lokalen Wohlfahrtssysteme in diesem Prozess alleingelassen, wird die Ungleichheit unvermeidlich zunehmen, und das Potenzial für soziale Innovationen geht verloren. Übersetzung aus dem Englischen von Walter Siebel.

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Öffentliche Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor: »Comeback« der Kommunen? Hellmut Wollmann

1. Einleitung – Fragestellung Im nachstehenden Aufsatz geht es um öffentliche Dienstleistungen, die in Deutschland als »Daseinsvorsorge«, in Großbritannien als public utilities, in Frankreich als services publics, in Italien als servizi pubblici und in der Terminologie der Europäischen Union (EU) als »Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse« bezeichnet werden (vgl. Wollmann/ Marcou 2010a). Sie umfassen insbesondere die sogenannten infrastrukturellen Dienstleistungen, also Energie- und Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung und öffentlichen Nahverkehr. Im groben historischen Überblick sind in der vorrangigen Trägerschaft der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen mehrere Phasen zu erkennen. Stand im 19. Jahrhundert zunächst die Verantwortung und Trägerschaft der Kommunen (mit Ansätzen zu einer »lokalen Sozialstaatlichkeit«) im Vordergrund, folgte dem mit der Entfaltung des nationalen Wohlfahrtsstaats eine Dominanz des Öffentlichen (und in ihm des Munizipalen) Sektors. Seit den 1980er Jahren ist zunehmend der Private Sektor durch Übertragung (outsourcing) der Dienstleistungen an externe Träger, sowie durch »materielle Privatisierung« bestimmend geworden. In letzter Zeit zeichnet sich ab, dass die Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen wieder zunehmend insbesondere von den Kommunen und ihren Betrieben übernommen wird, dass also, bildhaft gesprochen, das »Pendel zurückschwingt« und die Kommunen ein Comeback ihrer historischen Rolle eines für seine »örtliche Gemeinschaft« engagierten sozialpolitischen Akteurs erleben. Der Aufsatz zielt darauf, diese Entwicklung (am Beispiel der Länder Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien) in den Blick zu nehmen und insbesondere der Frage nachzugehen, ob, in welchen Feldern, in welchem Umfang und aus welchen Gründen eine solche »Remunizipalisierung« zu beobachten und zu belegen ist.



Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor

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2. Konzeptioneller Rahmen Die hier angesprochene Entwicklung kann im Spannungsbogen zweier institutioneller Logiken begriffen werden. 2.1. Organisationslogiken Zum einen können hinsichtlich der Trägerschaft der Erbringung öffentlicher Leistungen drei institutionelle Varianten unterschieden werden (vgl. Grossi u. a. 2010, zuletzt Kuhlmann/Wollmann 2013: 166 ff. mit Nachweisen). –– Öffentliche (staatliche/kommunale) Trägerschaft. Innerhalb dieser kann wiederum danach unterschieden werden, ob die Aufgaben und Leistungen vom Staat/den Kommunen und ihrem Personal unmittelbar (in house, en régie) oder von Betrieben erbracht werden, die zwar in öffentlichem (staatlichen/kommunalen) Eigentum stehen, jedoch (operativ und in der Regel auch finanziell) eigenständig agieren. In letzterem Falle wird auch von formeller oder Organisations-Privatisierung und in der internationalen Diskussion von corporatisation gesprochen. (vgl. Grossi u. a. 2010). –– Aufgabenerledigung durch externe Träger, denen die Erledigung der Aufgabe – meist aufgrund eines zeitlich begrenzten Vertrags (Konzession) – übertragen werden (englisch: outsourcing, französisch: délégation, gestion déléguée). Als Träger kommen in erster Linie privatwirtschaftliche Unternehmen, aber auch gemeinnützige Organisationen (»Dritter Sektor«) in Betracht. Diese institutionelle Variante wird auch als funktionale Privatisierung (oder mit Blick auf Frankreich als »French-style privatization«, vgl. Finger/Allouche 20021) bezeichnet. –– Trägerschaft des privaten Sektors als Ergebnis dessen, dass ein Eigentumswechsel vom öffentlichen (staatlichen oder kommunalen) Sektor zum privaten Sektor stattfindet. Man spricht von materieller Privatisierung (asset privatization). Im Falle eines nur partiellen Eigentumswechsels und damit eines Nebeneinanders von staatlicher/kommunaler und privater Eigentümerschaft entstehen »gemischtwirtschaftliche« Unternehmen (mixed economy, societés d’ économie mixte locales, SEML). Auch die – nach angelsächsischem Vorbild und Sprachgebrauch – public private partner­ 1 Zit. nach Citroni 2010: 208

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Hellmut Wollmann

ships, PPP’s genannten Akteurskonstellationen sind diesem Typus zuzurechnen. –– Vor diesem Hintergrund können als Rekommunalisierung (remunicipalization) insbesondere die Rückübernahme von »funktional privatisierten« (outsourced) Aufgaben in kommunale Trägerschaft sowie der Rückerwerb durch die Kommunen von »materiell privatisierten« Vermögensteilen oder -anteilen zur Erledigung öffentlicher/kommunaler Leistungen begriffen werden (zu diesen und anderen Varianten vgl. etwa Libbe 2012, 2013). 2.2. Handlungslogiken Zum andern können hinsichtlich der die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen bestimmenden Handlungslogiken zwei »Rationalitäten« unterschieden werden: Die ökonomische Rationalität kreist um Kosteneffizienz und Gewinnerzielung bzw. -maximierung, während soziale, ökologische usw. Kosten tendenziell ignoriert (oder externalisiert) werden. Die ökonomische Rationalität ist (idealtypisch) für privatwirtschaftliche Unternehmen handlungsleitend, die (vielfach mono-funktional) auf die Produktion/Erbringung einer bestimmten Leistung in einem (im Prinzip räumlich grenzenlosen) privatkapitalistischen Markt zielen. Demgegenüber ist die politische Rationalität darauf gerichtet, ein weites Spektrum von sozialen, ökologischen usw. Zielen – gegebenenfalls unter Hintanstellung ökonomischer Ziele – zu erreichen. Die politische Rationalität ist (idealtypisch) politischen Gebietskörperschaften eigentümlich, deren demokratisch gewählte Vertretungsorgane (Parlament, Kommunalvertretung) das politische Mandat haben, über Inhalte und Verfahren der zu erbringenden (multi-funktionalen) Dienstleistungen nach Maßgabe des öffentlichen Interesses und Gemeinwohls zu entscheiden. Auf der kommunalen Ebene sind die gewählten Kommunalvertretungen (normativ) gehalten, sich in ihren einschlägigen Entscheidungen von der am Gemeinwohl der örtlichen Gemeinschaft orientierten politischen Rationalität leiten zu lassen.



Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor

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3. P  hasen der Organisations- und Handlungslogik in der Entwicklung der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen Unter der hier diskutierten Fragestellung sind mehrere Phasen zu erkennen, die ungeachtet länder- und sektorspezifischer Unterschiede bezeichnende Gemeinsamkeiten und Gleichläufigkeiten aufweisen (zur Unterscheidung und Konzipierung von Phasen vgl. Millward 2005; Clifton u. a. 2011: 660; Wollmann/Marcou 2010a, b; Wollmann 2011; Röber 2009, vgl. auch Seckelmann 2008: 270 ff.). 3.1 Historisch frühes Engagement der Kommunen (»munizipaler Sozialismus«) Seit der Frühphase der kapitalistischen Entwicklung und der von ihr ausgelösten Industrialisierung und Verstädterung sahen sich die rasch wachsenden Städte von Anfang an der Aufgabe gegenüber, durch den Bau und die Unterhaltung von Wasserleitungen, Kanalisation und Energiebetrieben zur Sicherheit und Versorgung der lokalen Bevölkerung und Wirtschaft beizutragen. Vorreiter dieser Entwicklung war Großbritannien, wo sich die Städte – vorab Birmingham – in kommunalen Dienstleistungen engagierten. Diese von sozialreformerischen Forderungen der »Fabians« begleitete Bewegung wurde als »municipal socialism« bezeichnet (vgl. Kühl 2001). Auch in Deutschland begannen die Städte frühzeitig, eine maßgebliche Rolle in der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen zu spielen (vgl. von Saldern 1999: 30 ff.). Auch und gerade in Deutschland bildeten die Kommunen embryonale Formen und Inhalte einer »lokalen Sozialstaatlichkeit« aus; auch hier wurde (sozialreformerisch positiv besetzt und von konservativer Seite polemisch gemünzt) von »Munizipal-Socialismus« gesprochen (vgl. Lindemann 1910, Seckelmann 2008: 275 FN 55 mit Nachweisen). So betrieben 1908 in Deutschland die Gemeinden mit über 50.000 Einwohnern 93 Prozent der Wasserwerke, 86 Prozent der Gaswerke, 74 Prozent der Elektrizitätswerke und 41 Prozent der Straßenbahnen. Angesichts dessen, dass die Erbringung dieser expandierenden kommunalen Leistungen in die Willensbildung der Kommunen und ihrer Vertretungen eingebunden war, kann plausibel von der Bestimmungskraft einer politischen Rationalität ausgegangen werden, die sich in der Berücksichtigung lokaler, nicht zuletzt sozialer Bedürfnisse niederschlug.

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3.2. V  orrang des Öffentlichen Sektors im fortgeschrittenen (nationalen) Wohlfahrtsstaat Die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaats, die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetrieben wurde und in den frühen 1970er Jahren ihre stärkste Ausprägung fand, war von der (sozialdemokratischen) Überzeugung geprägt, dass der öffentliche (staatliche wie kommunale) Sektor und sein Personal am besten geeignet seien, die expandierten infrastrukturellen und sozialen Leistungen und deren wohlfahrtsstaatlichen Ziele zu verwirklichen. Diese Überzeugung und Strategie fanden zum einen in der Verstaatlichung (Nationalisierung) des Energiesektors (1945 in Großbritannien, 1946 in Frankreich, 1962 in Italien) und des Wassersektors (1946 in Großbritannien) und zum andern in dem fortgesetzten Engagement der Kommunen und ihrer Betriebe in den Feldern öffentlicher Dienstleistungen ihren Ausdruck. Das Letztere galt in Sonderheit für Deutschland, wo die Kommunen, namentlich vermöge ihrer vielfach »multifunktionalen« (Stadtwerke genannten) kommunalen Betriebe, weiterhin einen überwiegenden Anteil an der »Daseinsvorsorge« hatten. Dies schloss den Energiesektor (Strom und Gas) ein, in dem sich die Stadtwerke neben den regionalen und überregionalen Energieunternehmen behaupteten (vgl. Wollmann 2002). Indem die Kommunen und ihre Unternehmen ihre jeweiligen »lokalen Märkte« bedienten, tendierten sie dazu, sozusagen »geschlossene Märkte« zu bilden, was ihnen den Vorwurf »lokaler Monopole« eintrug (vgl. Ude 2006). Gleichzeitig bot diese Entwicklung den Kommunen und ihren gewählten Vertretungen den Anreiz und die Möglichkeit, sich bei der Ausgestaltung der kommunalen Leistungen von den konkreten lokalen, nicht zuletzt sozialen Bedürfnissen, also einer politischen Rationalität leiten zu lassen. 3.3. Vordringen des privaten Sektors seit den frühen 1980er Jahren Seit den späten 1970er Jahren ist der konzeptionelle, politische und institutionelle Vorrang des Öffentlichen (staatlichen wie kommunalen) Sektors in der Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen vor allem durch zwei Politikschübe und Diskursstränge erschüttert und konzeptionell-ideologisch, aber auch faktisch von der Priorität des privaten Sektors verdrängt worden. Zum einen ging ein Anstoß vom neoliberalen Politikwechsel aus, den 1979 die Konservative Partei unter Margaret Thatcher in Großbritannien auslös-



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te und der als »Vorreiter« (Drews 2008: 34) auf die anderen europäischen Länder übergriff. Konzeptionell-ideologisch wurzelte er in der Vorstellung und Forderung, den Primat des Öffentlichen Sektors und das diesem angekreidete Staats- und Bürokratieversagen durch das Gegenmodell eines auf die Kernfunktionen gestutzten »schlanken Staates« (lean state) zu überwinden und für die verbleibenden öffentlichen Dienstleistungen auf den Privaten Sektor und auf Marktwettbewerb (competitive tendering) zu setzen. Zum anderen wurde die Entwicklung von der Europäischen Union angetrieben, die mit dem Ziel und Postulat, einen »gemeinsamen Markt (single market) für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personal« europaweit herzustellen und hierbei insbesondere im Dienstleistungssektor (»Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse«) die bestehenden lokalen Märkte und Anbietermonopole durch Ausschreibungs- und Vergabevorschriften sowie sektorspezifische Marktliberalisierung und Deregulierung aufzubrechen (vgl. Bieling/Deckwirth 2008: 19 ff.). Unter der Wucht dieser politischen und konzeptionell-ideologischen Vorstöße wurde die Organisationslogik der Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen einschneidend vom Öffentlichen (staatlich/munizipalen) zum Privaten Sektor – durch funktionale (outsourcing) oder materielle Privatisierung – verschoben. Gleichzeitig gewann die dem privatwirtschaftlichen Sektor eigentümliche ökonomische Rationalität Vorrang. Auf Einzelheiten der durch die »neoliberale« Politik und »New Public Management« ausgelösten Veränderungen der Politik- und Verwaltungswelt soll und kann an dieser Stelle nur insoweit eingegangen werden, wie sie als »Ausgangsbedingungen« und »Messlatte« zur Beantwortung der Frage dienen, ob, in welchen Ländern, in welchen Dienstleistungssektoren und aus welchen Gründen eine »Remunizipalisierung« – als Gegenbewegung zur vorausgehende Politikphase – zu beobachten ist (für eine detaillierte Verlaufsanalyse vgl. Wollmann 2011 sowie die Autoren der Politikfeld-Analysen in Wollmann/Marcou 2010a).

4. »Rekommunalisierung«? Dieser Frage soll im Folgenden an den sektoralen Beispielen der Strom- und Wasserversorgung und Abfallbeseitigung – mit dem Blick auf Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien – nachgegangen werden.

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4.1. Energiesektor Die Rolle der kommunalen Ebene im Energiesektor ist zunehmend von der wachsenden Bedeutung beeinflusst worden, die sowohl in den nationalen Politiken als auch in der EU-Politik der erneuerbaren Energie und energiesparenden Technologien beigemessen wird. Den Auftakt im neuen Jahrtausend bildete ein von der EU-Kommission vorgelegtes Grünbuch über eine »nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energieversorgung«, das eine breite Debatte über eine eigenständige Energiepolitik der EU auslöste. Nach der Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima am 11. März 2011 hat die Ablösung der Atomenergie noch größere Dringlichkeit erhalten. Der auffälligste Fall ist Deutschland, wo die Bundesregierung – in einer dramatischen Politikwende – beschloss, die Produktion von Atomstrom, die bislang noch 25 Prozent betrug, bis 2020 stillzulegen (hierzu ausführlich Libbe 2012). An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in Italien – im Gefolge der Katastrophe im Atomkraftwerk in Tschernobyl am 6.April 1986 – durch ein nationales Referendum, das im November 1987 abgehalten (und das durch das nationale Referendum vom 13. Juni 2011 bestätigt) wurde, die Atomstromgewinnung abgelehnt worden ist. Nachdem in Großbritannien die Stromwirtschaft 1946 unter Beseitigung der bisherigen überwiegenden Zuständigkeit der Kommunen (local authorities) verstaatlicht worden war, wurde sie 1990 von der konservativen Regierung vollständig (materiell) privatisiert. Unter den privatwirtschaftlichen Stromunternehmen übernahmen ausländische Energieriesen (die französische EdF, die spanische Iberdrola und die deutschen Unternehmen RWE und E.on) eine bestimmende Rolle (Drews 2008: 51). Die Kommunen blieben auf eher marginale Aufgaben wie Fernwärme beschränkt (vgl. Wollmann/Baldersheim u. a. 2010: 175). Indessen haben die Kommunen in den letzten Jahren ihr energiepolitisches Engagement verstärkt. Impulse hierzu gab der Local Government Act 2000, der den local authorities (counties und boroughs) die die traditionelle utra-vires-Lehre erweiternde Zuständigkeit und Aufgabe eröffnete, für das economic, social and ecological well-being ihrer Bürger Sorge zu tragen (vgl. Wollmann 2008: 33). In Verfolgung ihres energiepolitischen Ziels, den Anteil der erneuerbaren Energien am nationalen Gesamtverbrauch bis 2020 auf 15 Prozent zu steigern, forderte die im Mai 2010 gebildete konservativliberale Koalitionsregierung die Kommunen ausdrücklich dazu auf, hierzu



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durch eigene energiepolitischen Aktivitäten beizutragen.2 Inzwischen haben zwar eine Reihe von local authorities einschlägige kommunale Projekte angestoßen, insbesondere in der Verbindung von Kraftwärme-Kopplung und Fernwärme (CHP and District heating) (vgl. Kelly/Pollitt 2011).3 Allerdings ist, wie neuere Untersuchungen nahelegen, das energiepolitische Engagement der Kommunen bislang noch »very weak or absent in 65 percent of local authorities« (Scott 2011). In Frankreich wird der Strommarkt nach wie vor vom Energieriesen Electricité de France (EdF) beherrscht, der 1946 aus der Verstaatlichung des Stromsektors als Staatsbetrieb hervorging. Zwar wurde EdF 2004 in eine börsennotierte Aktiengesellschaft umgewandelt (»formal privatisiert«), jedoch befinden sich weiterhin 80 Prozent der Aktien in staatlichem Eigentum (vgl. Beckmann 2008: 140). Die 230 kommunalen Energieunternehmen, die 1946 von der Verstaatlichung ausgenommen wurden, spielten bis vor kurzem gegenüber der EdF als nationalem und internationalen »Champion« eine eher marginale Rolle. Indessen haben die Kommunen seit den 1980er Jahren ihr energiepolitisches Engagement und Potenzial erweitert, indem sie begonnen haben, Wasserfälle für die Energiegewinnung stärker zu nutzen und auf Kraft-Wärme-Kopplung sowie Windenergie zu setzen (vgl. Wollmann/Baldersheim u. a. 2010: 181). Allerdings sind die kommunalen Energieunternehmen durch die nationale Gesetzgebung bislang darauf beschränkt, allein ihren lokalen Versorgungsbereich zu bedienen (vgl. Allemand 2007: 40). Zwar wird unter dem am 6. Mai 2012 gewählten sozialistischen Präsidenten François Hollande und der im Juni gewählten sozialistischen Parlamentsmehrheit – wie im Wahlprogramm angekündigt – eines (das älteste) der 48 Atomkraftwerke Frankreichs stillgelegt. Jedoch wird bislang die Dominanz des Atomstroms nicht angetastet. So ist kaum zu erwarten, dass sich die – 2 Am 28.8.2010 richtete Chris Huhne, Secretary of State (Minister) for Energy and Climate Change, an alle Kommunen ein offizielles Schreiben, in dem er u. a. ausführte, dass »for too long, Whitehall’s dogmatic reliance on ›big‹ energy has stood in the way of the vast potential role of local authorities in the UK’s green energy revolution« (http://www.decc. gov.uk/publications/basket.aspx?FilePath=News%2f376-unlocking-local-power-huhneletter.pdf&filetype=4#basket). 3 Vgl. die league table der energiepolitisch inzwischen aktiven Kommunen unter: http:// www.aeat.com/cms/assets/MediaRelease/2011-press-releases/Microgeneration-IndexPress-Release-11th-March-2011.pdf.

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auf alternative Energien gestützte – energiepolitische Rolle der Kommunen unter der neuen Regierung merklich verstärken wird. In Italien, wo 1962 der Energiesektor durch die Bildung des Energiegiganten ENEL verstaatlicht wurde, blieben die bestehenden (verhältnismäßig zahlreichen) kommunalen Energieunternehmen von der Verstaatlichung ausgenommen (vgl. Wollmann/Baldersheim u. a. 2010: 182). Als im Verlaufe der 1990er Jahre ENEL zunächst (durch die Umwandlung in eine börsennotierte Aktiengesellschaft) formal privatisiert und dann durch Verkauf der Aktien an institutionelle und private Anleger (bis auf einen staatlichen Aktienanteil von 20 Prozent) auch materiell privatisiert wurde, konnten die kommunalen Energiebetriebe ihre Position auf dem italienischen Energiemarkt insgesamt behaupten und teils sogar ausbauen. Beispielsweise haben sich die kommunalen Energiebetriebe von Milano und Brescia 2008 zu einem börsennotierten Energieunternehmen (»A2A«) zusammengeschlossen. Insgesamt bringen es A2A und andere kleinere kommunale Unternehmen auf 14 Prozent der italienischen Stromproduktion (vgl. AEEG 2011: 52). Angesichts dessen, dass, wie erwähnt, in Italien die Atomstromgewinnung bereits 1987 durch ein nationales Referendum (in Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl) ausgeschlossen und dies durch das nationale Referendum vom Juni 2011 bestätigt worden ist, haben die vielfach auf Wasserkraftwerke gestützten kommunalen Energiegesellschaften wachsende Bedeutung. Im Energiesektor in Deutschland hatte die von der EU verfolgte Marktliberalisierung in den frühen 1990er Jahren zunächst den gewissermaßen paradoxen Effekt, dass sich die Marktmacht der vier großen Energiegesellschaften (RWE, E.on, EnBW und Vattenfall) durch Fusionen noch vergrößerte, während der Marktanteil der Stadtwerke schrumpfte und das Wort von einem »Stadtwerkesterben« die Runde machte (vgl. Wollmann/Baldersheim u. a. 2010). Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre hat sich indessen das Blatt aus mehreren Gründen gewendet. Zum einen lernten die Stadtwerke, sich im neuen Wettbewerb dadurch zu behaupten, dass ihr Personal unternehmerische Fähigkeiten erwarb und sie auch ihre organisatorische Basis, etwa durch eine interkommunale Trägerschaft der Stadtwerke, verstärkten. Zum anderen entdeckten die Kommunen das wirtschaftliche und finanzielle Potenzial ihrer Stadtwerken wieder, nicht zuletzt dank der Möglichkeit, aus energiewirtschaftlichen Gewinnen andere defizitäre kommunale Felder, etwa den öffentlichen Nachverkehr, querzufinanzieren. Ferner wurden die Erfahrungen, die die Kommunen und ihre Stadtwerke in der Anwendung energiespa-



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render (Kraft-Wärme-Kopplung) Technologien und erneuerbarer Energiegewinnung traditionell besitzen, umso attraktiver, ein je stärkeres Gewicht altnativer Energiepolitik auf der Ebene von Bund und EU beigemessen wurde (vgl. Bolay 2009). Schließlich rücken die Kommunen und ihre Stadtwerke dadurch in den Blick der auf Stärkung des Wettbewerbs im Energiesektor zielenden Politik der EU (und auch der Bundesregierung), dass diese das organisatorische und funktionelle »unbundling« der großen Energieriesen anstrebt und auf die kommunalen Unternehmen als Akteure einer Wettbewerbsbelebung auf der lokalen und regionalen Ebene setzt (vgl. Wollmann/ Baldersheim u. a. 2010). Diese Konstellation von Faktoren fällt in eine Phase, in der eine wachsende Zahl von Konzessionsverträgen, aufgrund derer die Energieunternehmen die lokalen Transmissionsnetze befristet nutzen, auslaufen4 und die Kommunen damit die Möglichkeit erhalten, die Konzessionsverträge entweder neu zu verhandeln oder aber die lokalen und regionalen Transmissionsnetze (gegen Leistung entsprechender Entschädigungszahlungen an deren bisherige Investoren) selbst zu übernehmen. Die steigende Neigung der Kommunen, die lokale Energieversorgung zu kommunalisieren bzw. zu rekommunalisieren, ist an der wachsenden Zahl von neugegründeten Stadtwerken abzulesen (bis 2010 rund 40 Neugründungen; vgl. Liste bei Libbe 2012; VKU 2010). Ein eklatantes jüngstes Beispiel ist die Thüga AG, eine Tochtergesellschaft von E.on, die im Sommer 2009 von einem Konsortium von 100 Stadtwerken für den Betrag von 3 Milliarden Euro erworben worden ist und nunmehr rund 6 Prozent des Strommarktes bedient. Ein anderes vielzitiertes Beispiel ist die Stadt Bergkamen (vgl. Schäfer 2008, für Einzelheiten und weitere Beispiele vgl. Kuhlmann/Wollmann 2013: 194 ff., 2014). Im Jahr 2010 waren 700 von insgesamt 1.372 Stadtwerken (mit 241.535 Beschäftigten und damit etwa einem Zehntel aller Kommunalbeschäftigten, vgl. VKU 2010: 9) in der Energieversorgung tätig, davon wiederum ein Drittel auch in der Stromgewinnung. Von der lokalen Stromerzeugung entfallen 84 Prozent auf Kraft-Wärme-Koppelung und 16 Prozent auf alternative, insbesondere Hydrostromgewinnung. Der lokal erzeugte Strom beläuft sich auf 10,4 Prozent der gesamten Stromerzeugung des Landes (vgl. VKU 2010).

4 Zwischen 2000 and 2001 liefen rund 3.000 von insgesamt etwa 20.000 Konzessionsverträgen aus, vgl. Libbe u. a. 2011: 6

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4.2. Wassersektor Im Sektor der Wassersorgung ist die Frage ihrer Trägerschaft in letzter Zeit dadurch politisiert worden, dass »Wasser« in der politische Diskussion verstärkt als öffentliches Gut begriffen wird, dessen Privatisierung sich politisch verbiete. Nachdem in Großbritannien der Wassersektor nach 1945 – fast zeitgleich mit der Verstaatlichung des Stromsektors – von der traditionellen kommunalen Zuständigkeit in staatliche (regionale) Wasserbehörden (Regional Water Authorities) überführt worden war, setzte die konservative Regierung unter Margaret Thatcher 1989 in England und Wales deren vollständige materielle Privatisierung an private Investoren durch (für Details vgl. Drews 2008: 52 ff.). In Schottland und Nordirland blieb die Wasserwirtschaft in öffentlicher Hand. Obgleich der steile Anstieg der Wassertarife und die hohen Profitraten der privatwirtschaftlichen Wasserbetriebe vielfach kritisiert worden sind,5 ist eine politisch relevante Diskussion um eine Re-Nationalisierung oder Rekommunalisierung bislang nicht in Gang gekommen. In Frankreich ist der Wasserversorgung seit langem die Organisationsform der gestion déléguée eigentümlich, in der die Kommunen in einer Variante funktionaler Privatisierung zwar Eigentümerinnen des Leitungsnetzwerks bleiben, jedoch die Wasserlieferung auf der Basis zeitlich befristeter Konzessionsverträge an externe Dienstleister vergeben (vgl. Einzelheiten bei Citroni 2010: 206 ff.). Diese Praxis, die historisch in das 19. Jahrhundert zurückreicht und deren Grund wesentlich in der fehlenden operativen Fähigkeit der für Frankreich typischen Vielzahl kleiner und kleinster Gemeinden liegt, hat im Wassersektor die Entstehung und Expansion von drei Unternehmensgruppen (grands groupes, Veolia, Suez, SAUR) begünstigt; diese versorgen inzwischen rund 70 Prozent der französischen Haushalte mit Wasser (vgl. Bordonneau u. a. 2010: 134). Zwar haben die einzelnen Kommunen formal das Recht, nach Ablauf der Verträge diese neu zu verhandeln, jedoch sehen sie sich hierbei der überlegenen Marktmacht und einer Art »Gefangennahme« (regulatory capture, Varin 2010) durch die national und international operierenden Großkonzerne gegenüber; zudem bieten diese als multi-utility-Unternehmen die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung vielerorts gebündelt (vgl. Kuhlmann 2009: 164). Die funktionale Privatisierung der Wasserversorgung setzte sich in den 1980er Jahren zunächst noch 5 Die Wassertarife stiegen zwischen 1990–2000 um 46 Prozent und die operativen Gewinne um 142 Prozent vgl. Hall/Lobina 2001b.



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verstärkt fort – so beispielhaft in Grenoble und Paris, wo traditionell die Wasserversorgung von den Kommunen selber (en régie) betrieben worden war und wo 1987 bzw. 1989 neu gewählte konservative Mehrheiten und Bürgermeister deren délégation an Unternehmen der grands groupes beschlossen (vgl. Hall/Lobina 2001a). Seit den späten 1990er Jahren ist der Prozess einer Remunizipalisierung der Wasserversorgung aus einer Reihe von Gründen in Gang gekommen. Zum einen zielte sie darauf, eine Privatisierung rückgängig zu machen, die in den 1980er Jahren wesentlich durch (nachträglich aufgedeckte und gerichtlich bestrafte) Korruption des Bürgermeisters und anderer lokaler Akteure zustande gekommen waren (beispielsweise in Grenoble, vgl. Hall/ Lobina 2001a).6 Zum andern stellte der steile Anstieg der Wassertarife die angebliche ökonomische Überlegung der Privatisierung in Frage, während gleichzeitig die Kommunen die finanziellen und operativen Vorteile einer eigenen (zumal interkommunalen) Trägerschaft entdeckten. Als die Kommunalvertretungen und Bürgermeisterpositionen von »linken« Mehrheiten erobert wurden, schritten diese dazu, die von den vorhergehenden »rechten« Mehrheiten durchgesetzten Privatisierungen rückgängig zu machen und die Gelegenheit auslaufender Konzessionsverträge für die Rekommunalisierung der Wasserversorgung zu nutzen. Hierfür sind die in Grenoble und Paris (1989 bzw. 2000) getroffenen kommunalpolitischen Entscheidungen eindrucksvolle Beispiele. Im Ergebnis ist die von den Kommunen in eigener Trägerschaft erbrachte Wasserversorgung von 18 Prozent der Bevölkerung (in 1970) auf 28 Prozent (in 2008) gestiegen (vgl. Tabelle in Bordonnaux u. a. 2010: 134). Freilich zeigt sich, dass die mögliche Rekommunalisierung der Wasserversorgung durch die Entschädigungszahlungen, die die Kommunen an die bisherigen privatwirtschaftlichen Wasserbetriebe zu leisten haben, sowie dadurch gebremst wird, dass den Kommunen nicht selten das für die Übernahme der Wasserbetriebe erforderliche geeignete Personal fehlt (Bordonneau u. a. 2010: 136). In Italien wurde die Wasserversorgung traditionell von einer Vielzahl kleiner kommunaler Wasserunternehmen betrieben. Seit den 1990er Jahren führten eine durch das Galli-Gesetz von 1994 ausgelöste Reorganisation der 6 Im Fall von Grenoble wurde der Bürgermeister der Korruption überführt und mit Gefängnis bestraft. Der betreffende Konzessionsvertrag wurde aufgehoben, vgl. Hall/Lobina 2001a.

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Wasserversorgung und Wettbewerbselemente (für Details vgl. Citroni 2010: 203 ff.) dazu, dass privatwirtschaftliche Wassergesellschaften, insbesondere solche der französischen grands groupes, als Wasserversorger vorgedrungen sind. Unter der konservativen Berlusconi-Regierung zielte das Ronchi Dekret von 2009 darauf, einer weitgehenden Privatisierung der Wasserversorgung den gesetzlichen Boden zu bereiten. Dieser Entwicklung wurde durch das nationale Referendum vom 11. Juni 2011, in dem die Privatisierung der Wasserversorgung mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde, ein Riegel vorgeschoben. Die politische Kampagne, die dem Referendum vorausging und die wesentlich vom Forum Italiano dei Movimenti per l’Acqua – einer breiten (überwiegend linken) Bewegung, der 150 Kommunen und verschiedene politische Gruppierungen angehören7– getragen wurde, spiegelte die zunehmende nationale, aber auch internationale Politisierung der »Wasserfrage« wider. Auch wenn in Deutschland die kommunalen Betriebe in der Wasserversorgung nach wie vor überwogen, sind bis in die letzten Jahre privatwirtschaftliche Wasserbetriebe, nicht zuletzt internationale Branchenriesen wie Veolia und Suez, aber auch RWE und E.on dadurch verstärkt vorgedrungen, dass sie (Minderheits-)Aktionäre in Stadtwerken wurden oder auch, wie im Falle von Stuttgart, die Wasserwerke vollständig übernahmen. In der letzten Zeit ist aber auch in Deutschland eine Gegenbewegung zu beobachten, indem Städte das Auslaufen der Konzessionsverträge als Gelegenheit ergreifen, die Konzessionsverträge neu zu verhandeln und hierbei die früher verkauften Anteile an den Wasserwerken rückzuerwerben. So hat in Stuttgart, wo die Wasserwerke 2002 (an die EnBW) verkauft worden waren, die Gemeindevertretung am 17. Juni 2010 beschlossen, diese 2013 – mit Auslaufen des Konzessionsvertrags – rückzuerwerben (für Einzelheiten vgl. Libbe 2013).8 Auch in Berlin, dessen Wasserbetriebe 1999 dadurch teilprivatisiert wurden, dass Veolia und RWE zusammen 49,9 Prozent der Aktien erwarben, hat die Landesregierung – nach langen Kontroversen – beschlossen, rückwirkend zum 1. 1. 2012 den Anteil der RWE zurückzukaufen und so die Beteiligung des Landes wieder auf 75 Prozent zu erhöhen (für Einzelheiten vgl. Libbe 2012; Bauer 2012: 26 FN 20; Für eine Fallstudie zur Privatisierung und Re-

7 http://www.fame2012.org/index.php?id=52 8 http://www.wasser-in-buergerhand.de/nachrichten/2010/stgt_fuer_rekommunalisierung_wasser.htm



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kommunalisierung der Wasserwerke in Potsdam vgl. Bauer 2012: 13 ff. mit Nachweisen. 4.3. Andere Felder öffentlicher Dienstleistungen In Großbritannien zielte die neoliberale Politik der 1979 gewählten konservativen Regierung darauf, auch in der Erbringung der anderen öffentlichen Dienstleistungen einen fundamentalen, um Privatisierung und Marktwettbewerb kreisenden Politikwechsel herbeizuführen. Die 1980 beschlossene (und 1988 erweiterte) Gesetzgebung des Compulsory Competitve Tendering (CCT) verpflichtete die Kommunen, einen breiten Fächer kommunaler Aufgaben (Errichtung und Unterhaltung öffentlicher Gebäude, Straßenbau, Abfallbeseitigung, Krankenhausverpflegung usw.) öffentlich auszuschreiben und auf der Basis von Verträgen zu vergeben, also funktional zu privatisieren (vgl. Wollmann 2008: 127). Zwar wurde die CCT-Gesetzgebung von der nachfolgenden New Labour Regierung außer Kraft gesetzt, jedoch blieb outsourcing ein bestimmendes Merkmal des britischen Dienstleistungssektors. Indessen sind die Kommunen (local authorities) in der letzten Zeit dazu übergegangen, bislang »ausgelagerte« (outsourcing) Aufgaben wieder in eigene Trägerschaft zurückzunehmen (insourcing). In einer Befragung, die die Association for Public Service Excellence (APSE)9 jüngst unter 140 local authorities in England, Schottland und Wales durchführte, gaben fast 60 Prozent an, eine solche »Rückübernahme« (insourcing) bereits eingeleitet zu haben, vorzubereiten oder zu planen; knapp 20 Prozent gaben zudem an, Dienstleistungen niemals extern vergeben (outsourcing) zu haben (vgl. APSE 2011: 11). Die funktionale Rücknahme (insourcing) umfasst ein breites Aufgabenspektrum, unter anderem »environmental services« (Müllabfuhr und Abfallverwertung), »education and social care« (children’s social services) und »housing and building maintenance« (vgl. die Liste in ebd.: 15 ff.). In Großbritannien zeichnet sich insourcing vermehrt auch im Öffentlichen Nahverkehr ab. So wurden in London 2007 und 2010 zwei große privatwirtschaftliche, bislang als PPP verfasste, Consortia, denen die Renovierung des Londoner U-Bahn-System übertragen worden war, beendet und 9 APSE ist eine gemeinnützige, von 300 Kommunen getragene Einrichtung, die u. a. die Aufgabe hat, die Kommunen in Fragen der kommunalen Dienstleistungen zu beraten, vgl. Website http://www.apse.org.uk/)

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die Aufgabe wieder in öffentliche (kommunale) Trägerschaft genommen (vgl. Hall u. a. 2012 mit weiteren Beispielen). Auch in Frankreich weist der öffentlicher Nahverkehr einen hohen Grad von gestion déléguée (funktionaler Privatisierung) auf, der ausweislich einer 2004 bei 37 Großstädten durchgeführten Befragung auf 85 Prozent der Verkehrsbetriebe beziffert wurde (vgl. Kuhlmann 2009: 153 mit Nachweis). Auch in diesem Feld ist kürzlich ein Prozess der Rekommunalisierung durch ein Gesetz von 2010 angestoßen worden, das den Kommunen einen rechtlichen Rahmen für die Gründung von gemeinsamen, zu 100 Prozent in ihrem Eigentum stehenden sociétés publiques locales (SPL) bietet. Die Konstruktion der SPL (100-prozentige kommunale Eigentümerschaft und Zweckbestimmung) erlaubt den Kommunen, ihre Dienstleistungen zu übertragen, ohne hierfür dem Ausschreibungsgebot der EU zu unterliegen (vgl. Hall u. a. 2012). Inzwischen wurden 22 SPL gegründet, um Projekten des Öffentlichen Nahverkehrs – nach Auslaufen der vorausgehenden Konzessionsverträge – zu rekommunalisieren (vgl. ebd. mit Beispielen). Die Abfallentsorgung haben die französischen Kommunen in der Vergangenheit ebenfalls zum größten Teil an private Unternehmen, insbesondere an die beiden (multi-utility) Großkonzerne Veolia-Environnement und Suez, vergeben; lediglich 13 Prozent der Müllaufbereitungsanlagen werden in kommunaler Regie betrieben (vgl. Kuhlmann 2009: 159). Jüngst kündigte sich aber auch in diesem Feld eine Gegenbewegung an, indem Städte die Müllabfuhr wieder in eigene Regie nehmen, so 2008 die Stadt Paris, die ihren Vertrag mit Veolia nicht verlängerte (vgl. ebd.). Auch in Deutschland ist im Sektor der Abfallwirtschaft in den vergangenen Jahren eine deutliche Rekommunalisierung dieser Aufgaben zu beobachten (für Einzelheiten vgl. Verbücheln 2009, Libbe 2013).

5. Zusammenfassung: »Comeback« der Kommunen? Die Erbringung der (in Deutschland »Daseinsvorsorge« genannten) öffentlichen Dienstleistungen war seit dem 19. Jahrhundert bis zur Entfaltung des (nationalen) Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre vom Vorrang des öffentlichen (historisch zunächst des kommunalen und dann des staatlichen) Sektors geprägt. Seit den 1980er Jahren wurde, vom neoliberalen Politikwechsel in Großbritannien unter Margaret Thatcher



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ausgelöst und von der Marktliberalisierungspolitik der EU vorangetrieben, der private Sektor vermöge fortschreitender Übertragung (»outsourcing«) von Dienstleistungen an Private (»funktionale Privatisierung«) oder auch vollständiger (»materieller«) Privatisierung dominierend. In den letzten Jahren hat in der Wasser- und Energieversorgung dadurch eine Rekommunalisierung eingesetzt, dass die Kommunen Versorgungsnetze und -betriebe, die sie an private Investoren verkauft bzw. »funktional privatisiert« hatten, zurückerwerben und selbst betreiben. Insbesondere im deutschen Energiesektor hat die Rekommunalisierung inzwischen eine beträchtliche Dynamik entfaltet. Die Kommunen erleben ein Comeback in ihrer Rolle als der »örtlichen Gemeinschaft« verpflichtete Träger kommunaler Dienstleistungen. In einer Gegenbewegung zur vorangegangene Phase der (funktionalen und materiellen) Privatisierung »schlägt das Pendel zurück« (vgl. Wollmann/Marcou 2010c; Röber 2009, 2012; Wollmann 2011, 2013; Hall u. a. 2012; Libbe 2013; Bauer 2012; Kuhlmann/Wollmann 2013: 144 ff., 2014). In Tabelle 1 wird diese Entwicklung in vier Phasen schematisch abgebildet. 5.1 Rekommunalisierung fördernde Faktoren Ökonomische Rationalität kommunaler Leistungserbringung Wurde die Privatisierungswelle seit den 1980er Jahren konzeptionell-ideologisch von dem Schlagwort »privat ist besser als öffentlich« und dem Versprechen angefeuert, die Erledigung durch Private sei finanziell ökonomischer und qualitativ besser, so haben die Ergebnisse der »Privatisierung« vielerorts ernüchtert und enttäuscht. Stattdessen hat sich in der kommunalen Praxis die Überzeugung Geltung verschafft, dass die Durchführung durch die Kommunen und ihre Unternehmen und ihr Personal selbst sowohl kostengünstigere als auch qualitativ bessere Ergebnisse bringt und dass sie in ihrer ökonomischen Rationalität dem Privaten Sektor überlegen, zumindest aber ebenbürtig sei. Diese Einschätzung kommt in der erwähnten APSE-Befragung von britischen Kommunen (local authorities) beredt zum Ausdruck, dass »a need to improve efficiency and reduce service costs was the most cited reason for insourcing« (APSE 2011: 11). Demnach werden Kosteneinsparungen auch davon erwartet, dass durch Rekommunalisierung jene (Transaktions-)Kos-

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Tabelle 1: Schematische Abbildung der Entwicklung Land

Sektor

Historische Ausgangsbedingungen

Fortgeschrittener Welfare State bis 1970er Jahre

Neoliberale Privatisierung + Marktliberalisierung Seit 1980er Jahren

UK

Wasser

Kommunen

Staatlich nach 100% Nationalisierung (1973)

Privater Sektor nach Nein 100% (materieller) Privatisierung (1989)

Energie

local government Staatlich nach 100% based Nationalisierung (1947)

Privater Sektor nach Erste kommuna100% (materieller) Pri- le Projekte vatisierung (1989)

Wasser

Kommunen (en régie)/formale Privatisierung + funktionale Privatisierung an private Gesellschaften;

Kommunen (en régie)/ formale Privatisierung + überwiegend funktionale Privatisierung an private Gesellschaften

Kommunen (en regie)/ formale Privatisierung + überwiegend funktionale Privatisieung an private Gesellschaften = Entstehung der dominierenden »Großen Drei« (Veolia, Suez, SAUR)

Rekommunalisierung in mehreren Städten (u. a. Paris, Grenoble)

Energie

Kommunen/ formale Privatisierung + private Gesellschaften

Staatlich (EdF) nach 100% Nationalisierung (1946) + Kommunen durch formal privatisierte kommunale Gesellschaften

Formale Privatisierung von EdF (2004), dann geringe (20%) materielle Privatisierung + Kommunen durch formal privatisierte kommunale Gesellschaften

Kaum

Wasser

Kommunen + formal privatisierte kommunale Gesellschaften municipalizzate

Kommunen + formal privatisierte kommunale Gesellschaften municipalizzate

Kommunen + formal privatisierte kommunale Gesellschaften (municipalizzate) + nach Einführung der ATO Organisation Vordringen privater Gesellschaften

Weitere Privatisierung durch nationales Referendum vom Juni 2011 gestoppt

Energie

Kommunen + formal privatisierte kommunale Betriebe (municipalizzate) + private Gesellschaften

Staatlich (ENEL) nach Nationalisierung (1962) + Kommunen durch formal privatisierte kommunale Betriebe (municipalizzate)

Formale Privatisierung von ENEL (1999), dann weitgehende (80%) materielle Privatisierung + Kommunen durch formal privatisierte kommunale Gesellschaften (municipalizzate)

Expansion der kommunalen (Energie-) Unternehmen

Wasser

Kommunen en régie + durch formal privatisierte kommunale Betriebe (Stadtwerke)

Kommunen en régie + durch formal privatisierte kommunale Betriebe (Stadtwerke)

Kommunen en régie + durch formal privatisierte kommunale Betriebe (Stadtwerke) + Expansion privater Gesellschaften

Rekommunalisierung in mehreren Städten (u. a. Stuttgart, Potsdam)

Energie

Private Gesellschaften + Kommunen durch formal privatisierte Betriebe (Stadtwerke)

Überwiegend private Gesellschaften + Kommunen durch formal privatisierte Betriebe (Stadtwerke)

Überwiegend private Starke Expansion Gesellschaften, Doder Stadtwerke minanz der »Großen Vier« Energiegesellschaften (RWE, E.on, EnBW, Vattenfall) + Kommunen durch formal privatisierte Betriebe (Stadtwerke)

Frank‑ reich

Italien

Deutschland

Rekommunalisierung?



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ten vermieden werden, die im Falle der Leistungsvergabe an externe Dienstleister durch deren (Qualitäts- usw.) Überwachung (monitoring) durch die Kommunen und durch das erforderliche Vertragsmanagement anfallen (vgl. ebd.: 11; vgl. Hall u. a. 2012 mit weiteren Nachweisen). Ferner gehen die Kommunen davon aus, dass sie zusätzliche kommunale Einkünfte erzielen können. In einer kürzlich an der Universität Leipzig durchgeführten Befragung von deutschen Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern (vgl. Lenk u. a. 2011) nach den Gründen der Rekommunalisierung rangierte der Wunsch, zusätzliche Einkünfte zu erzielen (mit 74 Prozent) weit vorn (vgl. auch Reichard/Röber 2012). Dieses wachsende Vertrauen in die vor allem auch ökonomische Leistungsfähigkeit des kommunalen Sektors liegt wesentlich darin begründet, dass die Kommunen und ihre Betriebe – unter dem Druck der Marktliberalisierung und -konkurrenz – vielfach dazu übergegangen sind, die betreffenden Organisationsstrukturen »managerial« zu modernisieren und qualifiziertes Personal zu rekrutieren. Hatten in der Vergangenheit Leitungspositionen in den kommunalen Betrieben nicht selten als »Sinekuren« für Kommunalpolitiker gegolten, werden sie nunmehr mit unternehmerisch qualifizierten Bewerbern besetzt. In diesem Zusammenhang sei auf einige international vergleichende, auf breite statistische Daten gestützte Untersuchungen verwiesen, in denen die – in der Vergangenheit von ihren neoliberalen Verfechtern behauptete – überlegene ökonomische Effizienz einer privatwirtschaftlichen Durchführung von öffentlichen Dienstleistungen in Zweifel gezogen werden. So schlussfolgerte eine weltweite Untersuchung der World Bank zur Wasserindustrie: »There is no statistically significant difference between the efficiency performance of public and private operators in this sector.« (World Bank 2004) Zu einem ähnlichen Schluss kam eine Studie zur Privatisierung von mehreren Dienstleistungsfeldern in Großbritannien: There is »little evidence that privatisation has caused a significant improvement in performance. Generally the great expectations for privatisation evident in ministerial speeches have not been borne out« (Estache u. a. 2005). Ferner sei auf eine international vergleichende (die USA einbeziehende) Studie zur Wasserversorgung und Abfallbeseitigung verwiesen, in der zusammenfassend festgestellt wurde: »Little support is found for a link between privatization and cost savings. Cost savings are not found in water delivery. […] Because there is no systematic optimal choice between public and private delivery, managers should approach the issue in a pragmatic way.« (Bel/Warner 2008) Schließlich ist auf die, soweit ersichtlich, bislang umfassendste Auswertung

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der international verfügbaren Vergleichsuntersuchungen zur ökonomischen Effizienz von öffentlicher und privatwirtschaftlicher Produktion/Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen zu verweisen (vgl. Mühlenkamp 2012, 2013). Demnach ist die Effizienz öffentlicher Leistungserbringung der privatwirtschaftlichen vielfach durchaus ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, vor allem dann, wenn man die »Transaktionkosten« in Rechnung stellt, die bei privatwirtschaftlicher Leistungserbringung im Wege des »outsourcing« für die Ausschreibung, Verhandlung und Auswahl der Auftragnehmer und deren Leistungskontrolle (»Monitoring«) und Auswertung durch den öffentlichen Auftraggeber anfallen. Politische Rationalität kommunaler Leistungserbringung Die politische Rationalität, also die Handlungsorientierung, neben ökonomischen andere (soziale, ökologische usw.) Ziele einzulösen, kann in kommunaler Leistungserbringung in mehreren Hinsichten sichtbar gemacht werden. Bei eigener Trägerschaft gewinnen die Kommunen die Handhabe, auf den Preis und die Qualität der Leistungserbringung, aber auch auf die hierbei verfolgte Beschäftigungspolitik Einfluss zu nehmen. So stand denn in der erwähnten (an der Universität Leipzig) durchgeführten Befragung von Kommunen der Wunsch nach einer besseren Kontrolle (mit 94 Prozent) bei Weitem an der Spitze (vgl. Lenk u. a. 2011). Indem sie die kommunalen Leistungen inhaltlich bestimmen, haben die Kommunen zudem die Möglichkeit, neben den (der »ökonomischen Rationalität gehorchenden«) ökonomischen Zielen auch und gerade jene darüber hinausgehenden (sozialen, ökologischen usw.) Ziele zu berücksichtigen, die dem »allgemeinen Interesse« und den konkreten Bedürfnissen der »örtlichen Gemeinschaft« dienen (vgl. Bauer 2012: 28). Hierbei gewinnen die Kommunen die Möglichkeit, mit Hilfe von Gewinnen, die in dem einen Sektor (etwa Energie) erwirtschaftet werden können, andere defizitäre Leistungsfelder (etwa öffentlicher Personennahverkehr) querzusubventionieren und auch auf diesem Wege ein sozialpolitisches Ziel einzulösen. Die sich hier ausprägende Verbindung und »Amalgamierung« von ökonomischer und politischer Rationalität birgt ein Handlungspotenzial, dessen Nutzung die für die »örtliche Gemeinschaft« engagierten Politik- und Handlungsarenen auszeichnet.



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Politikkultureller Wertewandel Die Tendenz einer Rekommunalisierung von Dienstleistungen wurde vielfach von politischen Initiativen »von unten« angestoßen oder unterstützt, die sich auf der lokalen (oder auch regionalen und nationalen) Ebene mit dem Ziel formierten, die Privatisierung von Dienstleistungen zu verhindern oder rückgängig zu machen. Hierin kommt ein tiefgreifender politikkultureller Wertewandel zum Ausdruck, in dem der öffentliche, zumal kommunale Sektor als Leistungserbringer (wieder) größeres Vertrauen als der private findet.10 Als eindrucksvolles Beispiel hierfür ist an das in Italien im Juni 2011 abgehaltene nationale Referendum zu erinnern, in dem die Privatisierung des Wassers (neben dem Bau von Nuklearkraftwerken) mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Schließlich sei auf die Europäische Bürgerinitiative Wasser ist ein Menschenrecht verwiesen, in der – als erstes Beispiel des 2009 neu eingeführten EU-weiten (direktdemokratischen) Petitionsverfahrens11 – die Europäische Kommission aufgefordert wurde, den EU-Mitgliedsstaaten verbindliche Ziele zu setzen, um die Anerkennung und Umsetzung des Rechts auf Zugang zu Wasser und sanitäre Grundversorgung zu sichern.12 Die Petition, deren Verfahren am 1.4.2012 eingeleitet und bis zum 31.10.2013 verlängert wurde, ist EU-weit von rund 1,5 Millionen Bürgern unterschrieben worden und wurde, da mithin weit mehr als das prozedurale Erfordernis von 1 Million Unterstützern erreichend, erfolgreich angenommen (hierauf wird weiter unter noch einmal eingegangen).

10 Nach einer Umfrage, die dimap 2008 im Auftrag von VKU durchführte, äußerten die Bürger mehrheitlich größeres Vertrauen in öffentliche Unternehmen als in private. 11 Die Europäische Bürgerinitiative (als Europäisches Bürgerbegehren) ist ein durch den Vertrag von Lissabon von 2009 in der Europäischen Union eingeführtes direktdemokratisches Teilhabeverfahren (vgl. http://ppp-irrweg.de/index.php?id=12037. Wenn innerhalb eines Jahres mindestens eine Million Bürger aus mindestens sieben der 27 Mitgliedsstaaten die Initiative unterstützen, muss sich die Europäische Kommission mit deren Anliegen befassen. 12 Die Initiative wird getragen vom Europäischen Gewerkschaftsbund für den Öffentlichen Dienst und dessen europäische Mitgliedsgewerkschaften (darunter Ver.di) sowie vielen Organisationen der Zivilgesellschaft, (darunter Attac) (vgl. http://ppp-irrweg.de/index. php?id=12037).

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Abschwächung der Verbindlichkeit der EU-Marktliberalisierung der kommunalen Dienstleistungen War die von der EU verfolgte Marktliberalisierung auch und gerade im Bereich der »Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse« darauf gerichtet, die Marktliberalisierung nicht zuletzt in den lokalen Handlungsarenen und Märkten möglichst lücken- und ausnahmslos durchzusetzen, so ist dieser Handlungsdruck zumal auf die kommunalen Entscheidungen als Ergebnis des Vertrags von Lissabon vom 13. Dezember 2009 dadurch erheblich gemildert worden, dass in dem dem Vertrag beigefügten Protokoll13 der »weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen [sic! HW] Handlungsebenen« in der Frage hervorgehoben wurde, »wie die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind«. Allerdings könnte dieser im Vertrag von Lissabon eröffnete »weite Ermessenspielraum« der nationalen, regionalen und lokalen Entscheidungsträger durch die Anfang 2013 beschlossene EU-Richtlinie zur Ausschreibung der Konzessionsverträge empfindlich konterkariert werden (siehe unten Abschnitt 4).14 Politikfeldspezifische Anstöße Wie sich in den hier diskutierten Fällen insbesondere am Beispiel der Energiepolitik und deren mögliche (Re-)Kommunalisierung zeigt, könnten politische Entscheidungen und Vorgaben, seien sie auf EU- oder auf nationaler Ebene getroffen, bestimmend auf die kommunale Ebene auch und gerade in Fragen einer Rekommunalisierung durchschlagen (zu den energiepolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland vgl. ausführlich Libbe 2012). Auslaufen der Konzessionsverträge als »window of opportunity« Da Übertragung (»outsourcing«, »délégation«) von Aufgaben an externe Dienstleister typischerweise auf der Basis zeitlich limitierter Verträge erfolgt, bietet deren Auslaufen den Kommunen die Gelegenheit, über die Verträge neu zu verhandeln und die Erbringung der Leistungen wieder zu überneh 13 http://www.politische-union.de/euv/euv-p1 f.htm 14 Vgl. auch unten Fußnote 19



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men (zu »rekommunalisieren«). Tatsächlich wird dieses »window of opportunity« von den Kommunen in wachsendem Umfang genutzt (vgl. Hall u. a. 2012).15 5.2. Rekommunalisierung hindernde Faktoren Fehlende organisatorische, personelle und finanzielle Kapazität der Kommunen Ein ernsthaftes Hindernis für die Verwirklichung von Rekommunalisierung bildet vielfach die Tatsache, dass die Kommunen als Folge der (sei es materiellen oder funktionalen) Privatisierung der Dienstleistung die entsprechenden organisatorischen und personellen Ressourcen abgebaut haben und diese erst wieder schaffen müssten, um die Wiederaufnahme der Aufgabe zu meistern (für Frankreichs Wassersektor vgl. Bordonneau u. a. 2010: 136). Hierzu kommt, dass in der Regel erhebliche finanzielle Zahlungen an den bisherigen privaten Dienstleister (zur Abgeltung der von diesem gemachten Investitionen usw.) erforderlich werden. »Asymmetrische« Machtbeziehungen zwischen Kommunen und privatwirtschaftlichem Sektor Wenn die Kommunen nach Auslaufen des Konzessionsvertrages danach trachten, die Dienstleistung in eigene Regie zu übernehmen und mit dem bisherigen »Konzessionär« über die Abwicklung (finanzielle Folgekosten, Übernahme von Personal usw.) zu verhandeln, sehen sie sich vielfach mit einem »asymmetrischen« Machtverhältnis, gegenüber »den großen hochkonzentrierten internationalen Konzernen, die über technische und finanzielle Kapazitäten jenseits aller Proportionen verfügen« (Duval 2006, zit. nach Kuhlmann 2009: 154), konfrontiert. Zudem sehen sich die Kommunen oft von einem »schwer durchschaubaren Vertragsgeflecht« (Bauer 2012: 14) gefangen. Schließlich wehren sich die betreffenden Privatunternehmen

15 Der Verband der kommunalen Unternehmen (VKU) geht von 20.000 Strom- und Gaskonzessionen aus, von denen allein 2011 und 2012 etwa 950 bzw. 1.200 Verträge ausliefen (vgl. Bauer 2012: 19).

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vielfach vehement, nicht selten mithilfe der Mobilisierung ihrer Beschäftigten, dagegen, ihr profitables Engagement aufzugeben.16

6. Neue Privatisierungswelle? Neuerdings zeichnet sich allerdings eine abermalige Welle der Privatisierung im Sektor der öffentlichen/kommunalen Dienstleistungen ab. Dies gilt zum einen vor allem in den von der gegenwärtigen Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise besonders gravierend getroffenen südeuropäischen Ländern. So sehen sich insbesondere Griechenland, Portugal und Spanien der Forderung der (aus Vertretern der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds bestehenden) sogenannten Troika sowie der Europäischen Kommission selbst gegenüber, zum Abbau ihrer Überschuldung in großem Stil öffentliches Vermögen, in Sonderheit staatliche/kommunale Betriebe der öffentlichen Versorgung, hierunter nicht zuletzt Wasserbetriebe, zu privatisieren.17 Auch in Italien drängte die Regierung Monti (bezeichnenderweise unter dem angelsächsischen Rubrum einer spending review) die Kommunen, ihre kommunalen Betriebe zu veräußern. In dem Maße, wie eine solche neue Privatisierungswelle vor allem die südeuropäischen Länder erfasst, prägt sich eine weitere Vertiefung der »NordSüd-Disparität« aus. Zudem zeichnet sich ein neuer Schub in der von der Europäischen Kommission verfolgten Marktliberalisierung ab, durch den der im Vertrag von Lissabon vom Dezember 2009 eröffnete »weite Ermessensspielraum« der nationalen, regionalen und lokalen Akteure in der Organisation ihrer öffentlichen Dienstleistungen wieder eingeschnürt werden könnte. Legte doch die Europäische Kommission Ende 2012 eine EU-Richtlinie zur Vergabe von Konzessionsverträgen vor, die der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments am 25. Januar 2013 und das Plenum des Europäischen Parlaments am 10. Februar 2013 gebilligt hat und die in nationales Recht nun 16 So zog Marseille ihre 2009 unter sozialistischer Führung getroffene Entscheidung, die Wasserversorgung wieder in eigene Regie zu übernehmen, angesichts des Protestes der bei Veolia Beschäftigten, das Vorhaben wieder zurück (vgl. Hall u. a. 2012). 17 http://www.wasser-in-buergerhand.de/nachrichten/2012/griechenland_troika_will_wasserprivatisierung.htm



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mehr umzusetzen die Mitgliedsstaaten gehalten sind. Von dieser Richtlinie, die in Deutschland auf eine breite (die kommunalen Spitzenverbände, den Verband Kommunaler Unternehmen (VKU), aber auch DGB und BDI – sic! – einschließende) Front der Ablehnung gestoßen ist, befürchten Kritiker, dass kraft der EU-weiten Ausschreibung der die einzelnen Dienstleistungen betreffenden Konzessionen den international operierenden Dienstleistungskonzernen der Zugang zu den lokalen Versorgungsmärkten vollends geebnet wird und die an den lokalen Bedürfnissen orientierten Unternehmen, in Deutschland vorab die Stadtwerke, vor allem dadurch verdrängt werden, dass die internationalen Konkurrenten Niedriglohn-Verträge durchsetzen (Kritiker sprechen insoweit geradezu von »Lohndumping« oder gar einer »Lizenz zum Plündern«).18 Zwar hat die EU-Kommission angesichts der verbreiteten Kritik und wohl vor allem in Reaktion auf die (bereits erwähnte)19 erste Europäische Bürgerinitiative Wasser ist ein Menschenrecht, die sich gegen die Privatisierung des Wassersektors wandte, eingelenkt20 und ist der Wassersektor in der am 25. Juni 2013 neugefassten Konzessionsrichtlinie ausdrücklich von der Ausschreibungspflicht ausgenommen worden. Jedoch dürfte die neue Konzessionsrichtlinie in den anderen Dienstleistungsfeldern den Privatisierungsdruck sehr wohl erhöhen.

7. Ausblick Insgesamt bietet die öffentliche (staatliche wie kommunale) Trägerschaft von öffentlichen Dienstleistungen sowie von sozioökonomisch relevanten Projekten ein ambivalentes und widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite zeigt sich, wie dieser Aufsatz zu belegen trachtet, dass im Feld der Daseinsvorsorge die Kommunen und ihre kommunalen Unternehmen ein comeback, auch und gerade durch »Rekommunalisierung«, als Dienstleister für die »örtliche Gemeinschaft« vollziehen. Indessen stehen die Kommunen in den südeuropäischen Ländern derzeit gegenläufig unter dem Druck, kommunales 18 http://www.heise.de/tp/artikel/38/38427/1.html 19 Siehe oben Fußnote 11. 20 Siehe »Wasserversorgung: Jubel über EU-Schwenk bei Konzessionsrichtlinie«, http://derstandard.at/1371170309523/Jubel-ueber-Ankuendigung-Wasser-von-EU-Richtlinie-auszunehmen

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Vermögen zum Schuldenabbau zu veräußern, also zu privatisieren. Auf der anderen Seite zeichnet sich in allen europäischen Ländern, auch in denen des Nordens, jenseits und außerhalb des engeren Sektors der Daseinsvorsorge die Tendenz ab, dass sich die öffentliche Hand, also der Staat ebenso wie die Kommunen, der Organisationsform der Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (ÖPP oder Public-Private-Partnership, PPP), also der unterschiedlichen Varianten einer vertraglichen Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und privatrechtlich organisierten Unternehmen zwecks Erfüllung öffentlicher Aufgaben bedienen (vgl. etwa Gerstlberger/Schneider 2008) und damit anstelle einer eigenen Trägerschaft eine besondere Form der funktionalen Privatisierung begründen. Auch wenn sich inzwischen die kritischen Einschätzungen, nicht zuletzt durch die Rechnungshöfe, mehren, wonach die Konstruktion von ÖPP/PPP zwar die Öffentliche Hand von der kurzfristigen Finanzierung der betreffenden Projekte entlastet, sie jedoch langfristig teurer zu stehen kommt als die unmittelbar eigene Durchführung und Finanzierung (für eine Übersicht von kritischen Voten von Bundesrechnungshof und Landesrechnungshöfen vgl. etwa Schutte 2011), findet ÖPP/PPP weiterhin (und in noch wachsendem Umfang) Anwendung, etwa für den Neubau von Autobahnstrecken.21 Damit gewinnt ÖPP/PPP als eine Art funktioneller Privatisierung öffentlicher Aufgaben, insbesondere in der Gestalt von Großprojekten, gegenüber der »Eigenproduktion« der Öffentlichen Hand zunehmendes Gewicht. Schließlich sei daran erinnert, dass in Deutschland in der letzten Zeit eine Reihe von öffentlichen Trägern und Akteuren geplanter und durchgeführter Großprojekte (man denke an den neuen Groß-Flughafen BerlinBrandenburg, an den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs – Stuttgart 21 – oder an den eines Konzerthauses in Hamburg – Elbphilharmonie) in enormen Schwierigkeiten stecken (Planungspannen, Verzögerungen, Kostenexplosion usw.), die geeignet sind, die Fähigkeit der öffentliche Hand als Träger von Infrastrukturprojekten zu agieren, nachhaltig zu diskreditieren.

21 Kritisch vgl. Financial Times Deutschland vom 16.09.2009: »Zweifelhafte Partnerschaften: Ausverkauf der Autobahnen«, http://www.ftd.de/politik/deutschland/:zweifelhaftepartnerschaften-ausverkauf-der-autobahnen/50011133.html



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Städtisches Wohnen am Scheideweg – Anforderungen an die Wohnungsund Stadtentwicklungspolitik Bernd Hunger

1. Demografische Entwicklung und Wohnungsmarkt: Schrumpfung und Wachstum gleichzeitig Die Kennzeichen des demografischen Wandels sind bekannt: allgemeiner Bevölkerungsrückgang, Zunahme des Anteils Älterer. Die demografische Schere zwischen schrumpfenden und wachsenden Regionen öffnet sich immer weiter. Die unterschiedliche regionale Ausprägung der demografischen Entwicklung verstärkt die Heterogenität der regionalen Teilmärkte: Wohnungsknappheit und -überangebot treten gleichzeitig, aber regional verschieden auf. Vor allem die Bevölkerung in den neuen Bundesländern schrumpft dramatisch. Bis zum Jahr 2060 werden Thüringen (- 41 Prozent) und Sachsen-Anhalt (- 43 Prozent) mehr als 40 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren. Sachsen (- 31 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (- 36 Prozent) und Brandenburg (- 35 Prozent) stehen nicht viel besser da (Statistisches Bundesamt 2010). 1.1  Schrumpfende Märkte Schrumpfung und Alterung sind nicht auf die neuen Länder beschränkt, sondern eine gesamtdeutsche Entwicklung. Die Zahl der Kreise mit Bevölkerungswachstum sinkt auf 23, so dass bis 2025 die große Mehrheit der 417 Kreise in Deutschland schrumpfen wird. Die Zahl der Kreise, die bis 2025 Haushaltszuwächse aufweisen werden, schwindet deutschlandweit auf 93 (BBSR 2011: 13). Auf den gesamtdeutschen Wohnungsmarkt kommen erhebliche Nachfragerückgänge zu: Bundesweit werden nach Berechnungen des BBSR zwi-



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schen 2008 und 2025 in Kreisen mit rückläufiger Zahl an Haushalten rund 795.000 Haushalte verloren gehen. Etwa 640.000 davon entfallen auf Gebiete in Ostdeutschland. In schrumpfenden Regionen der alten Länder werden 155.000 Haushalte weniger gezählt (BBSR 2011, eigene Berechnungen auf Grundlage der Ergebnistabellen für die obere Prognosevariante). Betroffen von Schrumpfungsprozessen großer Dimension werden weniger Großund Mittelstädte sein, sondern strukturschwache ländliche Räume – sowohl die Dörfer als auch die regionalen Klein- und Mittelzentren. Selbst in dramatisch schrumpfenden Märkten, in denen der Rückbau von Wohnungen das kennzeichnende Merkmal ist, wird Neubau in jenen Marktsegmenten erforderlich sein, die der Markt derzeit nicht ausreichend anbietet: altersgerechtes Wohnen, Service-Wohnen, Wohngruppen, anspruchsvolles innerstädtisches Wohnen im gehobenen Preissegment etc. Diese Entwicklung ist in extrem geschrumpften Städten der neuen Länder, zum Beispiel in Wolfen oder Schwedt, bereits im Gange. 1.2  Wachsende Märkte Geringes Neubauvolumen über mehrere Jahre hinweg hat in wachsenden Großstadtregionen ein Anziehen der Wohnungsnachfrage bewirkt. Angesichts gestiegener Mietpreise wird der freifinanzierte Wohnungsneubau in höheren Preissegmenten angereizt. Sozialverträgliche Sanierungs- oder Neubaumaßnahmen finden nur dort statt, wo die Bauherren auf die Förderung des unrentierlichen Anteils ihrer Investitionen zurückgreifen können. Damit wird die Versorgung mit preisgünstigem Wohnraum für immer mehr Haushalte stärker als in den letzten Jahren zum Problem. Auf wachsenden Märkten ist deshalb ein für die Mieterinnen und Mieter wie für die Wohnungswirtschaft wirtschaftlich tragbares Wohnungsbaugeschehen – als zentrales Moment der kommunalen Daseinsfürsorge – unumgänglich. Ohne Unterstützung durch Förderung wird das nicht gehen. Der städtebauliche Sanierungsstau in vielen Städten hat zudem die kleinräumigen Disparitäten nicht nur zwischen den Regionen, sondern auch innerhalb der Städte verstärkt: Die Nachbarschaft von nachgefragten und stigmatisierten Quartieren kennzeichnet die Lage selbst in prosperierenden Wachstumsmärkten.

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1.3  Was passiert, wenn nichts (oder zu wenig) passiert? Schreibt man das Szenario einer dauerhaft unterfinanzierten Städtebauförderung und einer degressiven Ausstattung der Wohnraumförderung fort, so wäre folgende Entwicklung absehbar: –– In schrumpfenden Regionen und Städten werden sich die Stadt- und Siedlungskerne in ihren weniger attraktiven Bereichen aushöhlen, da eine rentierliche Entwicklung komplizierter Standorte nicht möglich ist. Anstelle von geordnetem Rückbau wird dauerhafter Leerstand die Siedlungsränder prägen. Die perforierte Stadt wird zum Dauerzustand. Der infrastrukturelle Aufwand für die zunehmend ineffiziente Siedlungsstruktur steigt, die Möglichkeiten für seine Finanzierung sinken. Der regionale Wohnungsteilmarkt wird durch Leerstände, niedrige Mieten und Qualitätsmängel in einem erheblichen Teil des Mietwohnungsbestandes gekennzeichnet sein. –– Für wachsende Regionen wäre die Spaltung des Wohnungsmarktes in ein qualitativ hochwertiges frei finanziertes Hochpreissegment und einen in der Breite angespannten Markt kennzeichnend, auf dem es für immer mehr Haushalte immer schwerer wird, gut und sicher zu tragbarer Miete zu wohnen. Die Spaltung des Marktes würde seinen städtebaulichen Niederschlag finden im Auseinanderdriften von angesagten und stigmatisierten Quartieren mit den dafür typischen sozialen Segregationsprozessen. Die Steuerungsfunktion der öffentlichen Hand für eine nachhaltige, sozial inklusive Stadtentwicklung gemäß dem Leitbild der Europäischen Stadt wird unter den Bedingungen des demografischen Wandels nicht geringer. Ebenso bleibt die soziale Wohnraumversorgung ein zentrales Element der Daseinsfürsorge, für das der Staat geeignete Rahmenbedingungen schaffen muss.

2. Ü  berforderte Nachbarschaften – Wohnungswirtschaft am Scheideweg? Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat ein solches Maß erreicht, dass überforderte Nachbarschaften mittlerweile zum Alltag in vielen Städten gehören. Das Land ist reich, hat ein immenses Produktivitätsniveau und enor-



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me Exportüberschüsse, wird dank seiner Innovationskraft weltweit bewundert. Aber der Reichtum wird immer ungerechter verteilt. Die Gesellschaft als Ganze wird, wenn man die Relation von Staatverschuldung und Privatvermögen betrachtet, immer reicher, die Vermögensverteilung jedoch immer polarisierter. Das reichste Zehntel aller Haushalte verfügt über ca. 60 Prozent des Geldvermögens, der Anteil der ärmeren Hälfte sank von ca. 6 Prozent Ende der 1990er Jahre auf weniger als 1,5 Prozent Ende des letzten Jahrzehnts. Mit Blick auf den kurzen Zeitraum eine Auseinanderentwicklung mit enormer Dynamik. Dass allgemein wachsender Reichtum zu Sickereffekten bei Haushalten mit niedrigeren Einkommen führt, hat sich als neoliberales Märchen erwiesen. Das Gegenteil ist der Fall: »Im längerfristigen Trend ist einerseits nicht nur die Zahl der ärmeren Haushalte stetig gewachsen – sie wurden im Durchschnitt auch immer ärmer. Auf der anderen Seite gibt es im Trend immer mehr Reiche, die im Durchschnitt auch immer reicher werden.« (DIW 2010: 2) Als armutsgefährdet gilt, wer 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung unterschreitet. Im Jahr 2009 waren demnach knapp 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland armutsgefährdet. Wer arm ist, bleibt zunehmend länger arm. Es gelingt immer weniger Menschen, diesen Status wieder zu verlassen. Der Datenreport 2011 Sozialbericht für Deutschland weist darauf hin, dass Armutsgefährdung sich im Alltag besonders im Bereich Wohnen manifestiert. Jeder dritte Armutsgefährdete (32 Prozent) sehe sich nach eigener Einschätzung durch die Wohnkosten finanziell schwer belastet. Bei der nicht armutsgefährdeten Bevölkerung war es immerhin auch knapp jeder Fünfte, 18 Prozent (Datenreport 2011: 158). 2.1 Weshalb muss der Staat beim Wohnen und bei der Stadtentwicklung sparen? Für die Finanznot des Staates gibt es drei Gründe: Grund 1: Einnahmeverzichte. Die Finanznot der öffentlichen Hand ist erstens Ergebnis erheblicher steuerlicher Entlastungen der Besserverdiener. Lag der Spitzensteuersatz jahrzehntelang bis Mitte der 1990er Jahren bei 53 Prozent, so beträgt er heute 42 Prozent. Parallel hierzu haben verschiedene Maßnah-

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men zur Deregulierung des Arbeitsmarktes einen sich ausweitenden Niedriglohnsektor bewirkt, der prekäre, teils durch staatliche Zuschüsse unterstützte Beschäftigungsverhältnisse und steuerliche Einnahmeverluste für den Staat bewirkt. Grund 2: Soziale Ungleichheit. Die zunehmende Ungleichheit bei der Verteilung des erwirtschafteten gesellschaftlichen Reichtums verstärkt die Finanznot des Staates. Denn: Das Maß an sozialer Ungleichheit korreliert mit dem notwendigen Maß an Subventionen. Mit 17 Milliarden Euro unterstützt die öffentliche Hand etwa fünf Millionen Privathaushalte durch die Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) und durch das Wohngeld. Ein Fünftel aller Mietwohnungen wird von Haushalten bewohnt, die bei ihrer Miete mit Wohngeld oder den Kosten der Unterkunft unterstützt werden. Ein höheres Einkommensniveau der geringverdienenden Haushalte würde deren Subventionsbedarf dämpfen – und den Spielraum für wirtschaftlich tragbares Handeln der Wohnungswirtschaft erhöhen. Von wohnungswirtschaftlicher Relevanz ist deshalb die aktuelle Debatte um den Mindestlohn. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde würde sich nicht nur die Einkommenssituation von fünf Millionen Menschen verbessern, auch der deutsche Staat könnte nach einer Studie der Prognos AG seine angespannte Haushaltslage mit über sieben Milliarden Euro entlasten (Prognos 2011: 30). Grund 3: Export von Reichtum. Der in Deutschland erwirtschaftete Reichtum wurde seit Jahren in erheblichem Umfang in internationale Kapitalmärkte investiert. Dazu das Münchener Institut für Wirtschaftsforschung: »Deutschland wurde in den Jahren vor der Finanzkrise nach China zum größten Kapitalexporteur der Welt, und es wurde unter den OECD-Ländern zum Schlusslicht bei der Nettoinvestitionsquote. Im Durchschnitt der Jahre 1995 bis 2008 hat kein Land einen kleineren Teil seiner Wirtschaftsleistung für die Vergrößerung des privaten und öffentlichen Kapitalstocks ausgegeben als Deutschland. […] Deutschland exportierte seine Ersparnisse, anstatt sie in Kredite für die inländische Wirtschaft umzusetzen.« (Ifo 2010: 7) Die seit Jahren dynamisch wachsende Produktivität der deutschen Volkswirtschaft hat einen gesellschaftlichen Reichtum bewirkt, der sich unter anderem in dem oben skizzierten Geldvermögen ausdrückt. Entstanden sind immense Vermögen bei den Haushalten am oberen Ende der sozialen Skala,



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die über die Banken weltweit in teils seriöse, teils riskante und spekulative Projekte eingesetzt wurden. Der erwirtschaftete Reichtum wurde exportiert und damit zu einer der Ursachen der Schuldenkrise einiger EU-Länder. Überschüssiges deutsches Kapital hat Kredite und damit Verschuldungen in einem Maße ermöglicht, das rückwirkend das Bankensystem gefährdet. Der Staat muss als Retter einspringen. 2.2  Was kann man aus der Entwicklung der letzten Jahre lernen? Das Argument, der Staat gehe verschwenderisch mit seinen Einnahmen um, zieht immer weniger, angesichts des ins Auge springenden Personalabbaus im öffentlichen Sektor und des damit verbundenen Zurückfahrens staatlicher Leistungen. Betrachtet man die Subventionsberichte der Bundesregierung, so stagniert das Gesamtniveau staatlicher Subventionen (Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes) seit zehn Jahren bei ca. 23 Milliarden Euro, was inflationsbereinigt einer enormen Sparanstrengung entspricht. Im Bereich des Wohnungswesens sind die bereitgestellten Mittel auch in absoluten Zahlen rückläufig: sie sanken von 6,4 Milliarden Euro 1999 auf 2,4 Milliarden Euro in 2011 (Bundesministerium der Finanzen, 2001: 7 und 2011: 6). Ein »Weiter so« – fortgesetzte Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums von unten nach oben und zunehmende Armut der öffentlichen Hand – verschärft die Lage der Volkswirtschaft, spaltet die Städte und verschlechtert die Rahmenbedingungen für die Wohnungswirtschaft. Erforderlich sind eine höhere Investitionsrate, vor allem im öffentlichen Sektor, sowie eine mit einer Politik des sozialen Ausgleichs verbundene Stärkung der Konsumtionskraft und Binnennachfrage. 2.3  Wohnungswirtschaft am Scheideweg Die Wohnungswirtschaft steht am Scheideweg zwischen wirtschaftlich tragbarem Handeln und sozialen Zielsetzungen. Soziale Polarisierung und Sparen an der falschen Stelle verschlechtern die Rahmenbedingungen für wohnungswirtschaftliches Handeln. Kürzungen an der Städtebauförderung oder an der staatlichen Unterstützung für den dringend notwendigen energetischen und altersgerechten Umbau des Wohnungsbestandes mit ihren inves-

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tiven Multiplikatoreffekten würgen die Rahmenbedingungen für effektives Wirtschaften ab. Den Wohnungseigentümern wie den Mietern geht es nur gut, wenn Wohnen und Wohnungsbau bezahlbar bleiben. Aber: Gut und sicher Wohnen zu bezahlbaren Kosten ist für immer mehr Haushalte keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Grenzen für wirtschaftlich tragbare Investitionen im kostengünstigen Wohnungsbau – im Bestand wie beim Neubau – werden immer enger. Der Wohnungsbau im Hochpreissegment hingegen boomt. Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz der Wohngebäude sind in der Breite nur möglich, sofern sie sozial umsetzbar sind. Einkommensschwache Haushalte haben kaum die Möglichkeit, eine Sanierung, die auch nur teilweise auf die Miete umgelegt wird, mitzutragen. Dadurch steigt die Nachfrage nach unsaniertem Wohnraum und mit ihr die soziale Entmischung in den Nachbarschaften. Bezahlbares Wohnen in Wohnungen mit hohem energetischen Standard muss auch zukünftig möglich sein. Weshalb es in deutschen Städten noch nicht zu solch strikter räumlicher Spaltung wie anderswo gekommen ist, hat drei Gründe: –– die Struktur des Wohnungsmarktes mit einem vergleichsweise hohen Anteil von Mietwohnungen, bewirtschaftet von nach wie vor größtenteils sozialen Zielen verpflichteten Wohnungsunternehmen –– die dämpfende Wirkung des Mietrechts auf sozialräumliche Entmischungsprozesse –– die präventive Dämpfung von Konflikten durch quartiersbezogene staatliche Programme wie z. B. Städtebauförderung, insbesondere Soziale Stadt, sowie durch staatliche Zuwendungen für hilfebedürftige Haushalte. Diese drei Merkmale tragen dazu bei, dass der Wohnungsmarkt in Deutschland nicht wie anderswo zum Auslöser von Krisen wurde, sondern sich als sozial wie volkswirtschaftlich stabilisierende Säule in Krisenzeiten erwiesen hat. Was gut funktioniert, erzeugt leider keine politische Aufmerksamkeit. Umso wichtiger ist es, dass sich die Wohnungswirtschaft gemeinsam mit den Kommunen so laut wie möglich zu Wort meldet, um auf die Gefährdung der noch vorhandenen Vorzüge unserer Stadt- und Wohnungsmarktstrukturen hinzuweisen.



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3. Weltfinanzkrise und Wohnungsmarkt Wie erklärt sich die Stabilität des deutschen Wohnungsmarktes während und nach der Weltfinanz- und Immobilienkrise? Der Mietwohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Deutschland die in den 1920er Jahren entwickelte Konzeption aufgegriffen, durch umfassende Förderung hohe Qualitätsstandards zu ermöglichen, die für »breite Schichten der Bevölkerung« attraktiv sind. Schrittweise wurde ein attraktiver Mietwohnungsmarkt geschaffen, der auch für private Investitionen interessant war – anders als etwa in Großbritannien oder in den USA, wo die wenigen staatlich geförderten Mietwohnungen bis heute lediglich für die Unterbringung der Ärmsten reichen, hochgradig stigmatisiert sind und faktisch einen außerökonomischen Bestandteil der staatlichen Fürsorgepolitik darstellen. Die Weltfinanz- und Immobilienkrise hat auf die Struktur des deutschen Wohnungsmarktes ein neues Licht geworfen. Vor kurzem wurde Deutschland von smarten Analysten noch aufgrund der vergleichsweise niedrigen Eigentumsquote belächelt (wobei in der Regel unerwähnt bleibt, dass das reichste Land Europas, die Schweiz, den höchsten Mietwohnungsanteil in Europa hat). Heute zeigt sich, dass der hohe Anteil qualitativ hochwertiger Mietwohnungen eine krisendämpfende Wirkung hat. Während der Wohnimmobiliensektor andernorts ein Auslöser der Krise war, wirkte er in Deutschland sozialpolitisch wie volkswirtschaftlich stabilisierend. Die Zeltsiedlungen an der Peripherie amerikanischer Großstädte haben schlaglichtartig klargemacht, wie problematisch es ist, wenn Haushalte mit mittleren Einkommen keine Alternative zum Wohneigentum finden und damit zur Aufnahme riskanter Kredite regelrecht genötigt werden. Hingegen können deutsche Kreditgeber angesichts eines Marktes, der vielfältige Wahlmöglichkeiten im Mietwohnungssektor bietet, hohe Sicherheiten bei Kreditvergaben für den Hauskauf verlangen. 3.1  Unsymmetrische Märkte sind krisenanfällig Bis hinein in die oberen Einkommensschichten ist das Wohnen zur Miete attraktiv. Es gibt in Deutschland keinen Subprime-Markt für riskante Kredite, weil Haushalte mit mittleren und niedrigeren Einkommen nicht darauf angewiesen sind, ein Haus zu kaufen. Der vergleichsweise hohe Anteil qualitativ hochwertiger Mietwohnungen in Deutschland ist der zentrale Kern der

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geringen Krisenanfälligkeit des deutschen Wohnungsmarktes und Ergebnis einer weitsichtigen Politik der kommunalen Daseinsvorsorge vor allem seit Ende des Ersten Weltkrieges, quer durch nahezu alle Parteien. Die Struktur des Wohnungsmarktes schlägt deshalb so stark auf die Volkswirtschaften durch, weil Wohnungen den größten Teil des Immobilienvermögens gesamtgesellschaftlichen Kapitalstocks binden – in Deutschland entfallen 59 Prozent auf Wohnbauten sowie 41 Prozent auf Gewerbe- und Infrastrukturbauten. Der Anteil des Wohnungsbaus am gesamten jährlichen Bauvolumen schwankt um 50 Prozent. Rechnet man die wohnungsnahen Dienstleistungen hinzu, so sind annähernd 70 Prozent des vergegenständlichten gesellschaftlichen Reichtums und der Stadtflächen der Wohnfunktion gewidmet. 3.2  Stabilisierende Wirkung der deutschen Wohnungsmarktstruktur In der aktuellen fachpolitischen Debatte wird der Zusammenhang von Marktstruktur und Krisenanfälligkeit kaum aufgegriffen. Statt den im internationalen Vergleich recht gut ausbalancierten deutschen Wohnungsmarkt als strategischen Standortvorteil zu begreifen und behutsam weiter zu gestalten, wird von einflussreichen politischen Strömungen eine höhere Eigentumsquote propagiert, die an den aktuellen ökonomischen wie sozialen Erfordernissen vorbeigeht und indirekt die organisierte Wohnungswirtschaft als Partner und Träger sozialorientierter Wohnungspolitik desavouiert. Wie verhängnisvoll ideologisch begründete Entscheidungen im Immobiliensektor sind, zeigt die Lage der Wohnungsmärkte in den früheren sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas: das »Verschenken« der Wohnungen an die Mieter hat ein zersplittertes Einzeleigentum mit dem Ergebnis nahezu vollständiger Handlungsunfähigkeit bei der dringlich anstehenden Modernisierung des Bestandes in den großen, industriell errichteten Wohngebieten bewirkt. Das wiedervereinigte Deutschland hat Anfang der 1990er Jahre anders gehandelt. Die organisierte ostdeutsche Wohnungswirtschaft konnte zum Träger eines erfolgreichen Sanierungsprozesses werden, indem sie durch die Entlastung von Altschulden und den schrittweisen Übergang zu Marktmieten wirtschaftlich handlungsfähig wurde. Woher kommt die geringe politische Wertschätzung für die über viele Jahrzehnte aufgebaute, immer wieder nachjustierte und ausbalancierte Struktur des deutschen Wohnungsmarktes?



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Zum einen: Der Wohnungsbau in Deutschland ist Opfer seines Erfolgs. Weil hierzulande jeder – gemessen am internationalen Vergleich – gut und sicher wohnen kann, wird dieser über Generationen errungene Standortvorteil als Selbstverständlichkeit wahrgenommen – und nicht als sorgsam zu hütendes, sensibles Gut, das durch unbedachte Politik schnell zerstört werden kann. Die Folgeschäden der Privatisierungswellen der letzten Jahre werden erst nach und nach sichtbar. Zum anderen: Die Kürzungen bei der Städtebauförderung wie bei anderen die Städte und das Wohnen betreffenden staatlichen Förderprogrammen deuten an, dass die Bedeutung der Wohnungswirtschaft wie der Marktstruktur für wirtschaftliches Wachstum und soziale Stabilität im politischen Raum nicht hinreichend erkannt und gewürdigt wird. Es ist aus ökonomischer Sicht paradox, dass der Staat Banken retten musste, die Nonsens-Produkte auf ausländischen Immobilienmärkten finanziert haben, und dass er nun in Bereichen spart, die in den kritischen Jahren 2007 bis 2009 durch arbeitsschaffende Investments in die Infrastruktur des eigenen Landes krisendämpfend gewirkt haben. Der internationale Vergleich der Immobilienmärkte zeigt: Der Ansatz einiger europäischer Länder, schrittweise einen hochwertigen und umfangreichen Mietwohnungssektor als Pendant des Wohnens im Eigentum aufzubauen, hat sich als nachhaltig und zukunftsweisend erwiesen. Das ist meines Erachtens ein plausibler Grund, offensiver als bisher auf die Bedeutung einer balancierten Wohnungsmarktstruktur in der Mischung von privater, genossenschaftlicher und kommunaler Trägerschaft für die soziale wie volkswirtschaftliche Stabilität hinzuweisen. Es gilt, dieses in der Vergangenheit oft belächelte und als überholt abgetane Erfolgsmodell nicht nur zu verteidigen, sondern als nachhaltiges Modell in die internationale Debatte einzubringen.

4. Qualitätssprung im Wohnungsbau Die sozialen und demografischen Herausforderungen bewirken qualitative Anforderungen an die Wohnungswirtschaft und den Wohnungsbau, die zudem durch den technischen Fortschritt und die Ansprüche aus Klimawandel und Energiewende überlagert werden. Was ist gemeint? In schrumpfenden Kleinstädten und kleinen Mittelstädten sowie in den Dörfern ist das Neubaugeschehen gleichzeitig eine Chance, die Siedlungsstruktur im Sinne der Nachhaltigkeit zu korrigieren. Das heißt:

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–– Rückbau des mehrgeschossigen Wohnungsbaus an den Siedlungsrändern, –– Neubau im Siedlungsgefüge, in Wohnformen, die fehlen und dem Siedlungstyp angemessen sind, –– Modernisierung des zukunftsfähigen Bestandes, der auf Dauer für die Wohnraumversorgung in der geschrumpften Gemeinde und in ihrem regionalen Umfeld erforderlich ist. Die Gleichzeitigkeit von Rückbau, Neubau und Modernisierung wird die organisierte Wohnungswirtschaft ohne staatliche Unterstützung nicht stemmen können. Notwendig wäre ein Vorrang bei der Förderung von investiven Maßnahmen jener Eigentümer, die sich an der Marktbereinigung durch Rückbau beteiligen. Das Handlungspotential kleiner Eigentümer wird zwar begrenzt sein und sich weitgehend auf selbstgenutztes Wohneigentum beschränken. Gleichwohl sollten die im ländlichen Raum eingeübten Formen der Selbsthilfe und informellen Ökonomie im Wohnungsbau nicht unterschätzt und durch steuerliche Erleichterungen gefördert werden. Themen wie »Wohnen für ein langes Leben«, »Die Wohnung als Gesundheitsstandort« oder »Generationsübergreifendes Wohnen« rücken in den Mittelpunkt und erfordern zielgruppenspezifische Wohnangebote, die auch die wohnungsnahen Dienstleistungen auf Quartiers- und Stadtteilebene berühren. Energiewende und Klimaschutz stellen Anforderungen, auf die der Wohnungs- und Städtebau zwar schon reagiert. Die Entwicklung wird aber in erheblichem Tempo weiter gehen – der gegenwärtige Schritt vom Gebäudezum Quartiersbezug leitet eine neue Phase der klimagerechten energetischen Gebäude- und Stadtsanierung ein, der mit Sicherheit weitere folgen werden. Klima- und altersgerechter Wohnungsbau wird zum Wachstumsmarkt, der das Baugeschehen der nächsten Jahrzehnte zentral bestimmen wird. Der technische Fortschritt prägt die Städte wie das Wohnen. Vernetztes Wohnen, die Wohnung als Kommunikationszentrale und Arbeitsort – das sind Themen, denen sich die Wohnungswirtschaft stellen muss und die Auswirkungen auf die Organisation des Stadtlebens haben. Die Entwicklung der für die Stadtstrukturen besonders relevanten Umwelt-, Energie- und Verkehrstechnik vollzieht sich in einem Tempo, das qualitative Sprünge wahrscheinlich macht. Das Pedelec als neues Fortbewegungsmittel, Wohnhäuser als Energiespeicher, Energieerzeugung als neues wohnungswirtschaftliches Geschäftsfeld – das sind nur einige der Themen, die erst seit kurzem diskutiert werden. Solche »Neuigkeiten« werden in kürzeren Abständen zunehmen und Raumansprüche auslösen.



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Zu den technischen Innovationsschüben kommt eine Vielfalt der Lebensstile und Nutzungsmuster der Wohnumwelt, wie sie für frühere Generationen undenkbar war. Für das Wohnen bedeutet das, flexible Lösungen auf Quartiers- und Gebäudeebene zu finden: Gefragt sind Raumreserven sowie leicht umnutzbare bzw. umbaubare Räume, die im Rahmen dauerhafter robuster Grundstrukturen an zukünftige Bedürfnisse anpassbar sind. Zusammengefasst: Der Wohnungsbau steht vor einem Qualitätssprung, der in seiner Dimension vergleichbar ist mit dem gravierenden Wandel der Wohnverhältnisse in den 1950er/1960er Jahren, als die Reformideen des Mietwohnungsbaus der 1920er Jahre massenhaft griffen, die Wohnungsnot beseitigt und der technische Standard der Wohnungen sprunghaft gesteigert wurde. Im Unterschied zu den Jahrzehnten extensiven Stadtwachstums wird sich der qualitative Wandel des Wohnens im Rahmen der vorhandenen Stadtstrukturen vollziehen. Der Stadtgrundriss wird sich ebenso wie das Grünund Infrastruktursystem in seiner Grundstruktur kaum ändern, zumal keine mit anderen Perioden vergleichbaren Wachstumsprozesse zu erwarten sind. Der Umbau der städtischen Infrastrukturen geschieht weitgehend im Rahmen der vorgegebenen Strukturen. Die Stadt der Zukunft wird der heutigen strukturell sehr ähnlich sein – bei immensem »innerem« qualitativem Wandel.

5. F  ür einen Bedeutungsgewinn der Stadt- und Wohnungspolitik Die geschilderten Anforderungen an den Wohnungs- und Städtebau sind immens. Ein kurzer historischer Rückblick hilft bei der Erklärung des allgemein beobachtbaren Unbehagens über die aktuelle Entwicklung. Noch bis vor kurzem galt für die städtischen Gemeinwesen das Primat der Politik vor der Ökonomie, aufbauend auf den Leistungen ihrer Vorgänger im 19. Jahrhundert: Damals entstand eine planende Verwaltung, die Einfluss auf die räumliche Entwicklung nahm. Eine weitsichtige Bodenvorratspolitik versetzte die Städte in die Lage, als Grundbesitzer zu agieren und die räumliche Entwicklung ökonomisch zu beeinflussen. Aufgebaut wurden städtische Unter-

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nehmen, die eine langfristig angelegte Infrastruktur für die Daseinsvorsorge entwickelten. Mit dem jedem Verwertungskalkül hohnsprechenden Ankauf und Schutz von Grünräumen in oft attraktivster Lage wurden gesunde Lebensbedingungen gefördert. Volksparks, Quartiersplätze, Sport- und Spielgelegenheiten wurden zu Markenzeichen deutscher Städte. Insgesamt kann man sagen: Die Städte wurden zu »Integrationsmaschinen« (Häußermann), die mit ihrer Infrastruktur sowie ihren öffentlichen Einrichtungen und Räumen soziale, kulturelle und technische Voraussetzungen für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln und sozialen Zusammenhalt schufen. Diese städtische Vorsorge-Politik wurde nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik weiter ausgebaut – vor allem, was die Wohnungspolitik betrifft. Der Sozialstaat der 1950er Jahre knüpfte daran an und reagierte mit der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft auf die nach der Weltwirtschaftskrise und dem Verhängnis des Nationalsozialismus gewachsene Einsicht, dass der Markt Regulative braucht und ein demokratisches Gemeinwesen ohne soziale Gerechtigkeit keinen Zusammenhalt findet. Was aber ist in den letzten beiden Jahrzehnten geschehen? Genau jene kommunalen Unternehmen, durch die in den Städten ein infrastruktureller, öffentlicher Rahmen für marktwirtschaftliches Handeln geschaffen wurde – übrigens mit erheblichen, über Jahrzehnte angesparten Steuermitteln der Bürger –, wurden in vielen Städten verscherbelt, langfristige Sozialrendite wurde kurzfristiger Liquidität geopfert. Ein rationales Argument gibt es dafür nicht, der üblicherweise angegebene Grund ist die kommunale Finanznot und die durch nichts bewiesene Behauptung, dass private Unternehmen quasi »von Natur aus« effizienter seien als öffentliche. Die Finanznot der Kommunen ist durch politische Entscheidungen gesetzt. Es ist nicht naturgegeben, sondern eine politische Setzung, wenn eine der reichsten Gesellschaften der Welt die öffentliche Infrastruktur teilweise privatisiert hat und Stadtpolitik mancherorts nur noch in der Verwaltung des Mangels besteht. Die Weltfinanz- und Immobilienkrise sollte deutlich gemacht haben: Die soziale Organisation der Städte und ihre räumliche Struktur ist eine öffentliche Aufgabe, sie darf nicht ausschließlich der Privatwirtschaft und den Märkten überlassen werden. Beobachtet man die aktuelle Diskussion, so verstärkt sich mit Blick auf die Stadtpolitik leider der Eindruck: aus der Krise nichts gelernt.



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Nach wie vor populär sind Rufe nach Deregulierung und Entbürokratisierung. Verwaltungen werden so ausgedünnt und in ihren Finanzbudgets beschnitten, dass sie kaum noch die kommunalen Pflichtaufgaben erfüllen können. Damit wird eine über Jahrhunderte entstandene Planungs- und Ordnungskultur in Frage gestellt, die als Exekutive einer starken Öffentlichkeit an mancher Stelle vielleicht übers Ziel hinaus geschossen ist, insgesamt aber notwendige Voraussetzungen und Spielregeln für das private Handeln geschaffen hat. Deregulierung hat Grenzen: Im regellosen Raum definieren andere, nicht mehr das demokratisch strukturierte Gemeinwesen, die Regeln. Es ist eine abenteuerliche Vorstellung, eine immer komplizierter und in ihrem Handeln immer folgenreicher werdende Gesellschaft trivialer steuern zu wollen. Wo durch Verkauf, »Outsourcing« und Finanznot der wirtschaftliche und sozialpolitische Handlungskorridor für die kommunale Politik geschrumpft ist, sind die Folgen anschaulich zu besichtigen: Die Vernachlässigung des öffentlichen Raumes und der öffentlichen Einrichtungen stehen am Beginn einer Entwicklung, die ihrer wirtschaftlichen und sozialen Eigenlogik folgend zur sozialen Segmentierung in den Wohnquartieren, in den Schulen und den Angeboten städtischer Dienstleistungen führen. Die aktuelle Debatte über soziale Gerechtigkeit und bezahlbares Wohnen, der Rückkauf ehemals kommunaler Betriebe durch einige Städte und das durch die Weltfinanzkrise offensichtlich gewordene Scheitern neoliberaler Wirtschaftsmodelle gibt Anlass zu der Hoffnung, dass auch in der Stadtund Wohnungspolitik ein Umdenken einsetzt und die lokalen Gemeinwesen verlorengegangene Handlungsspielräume wiedergewinnen – eine Hoffnung, für die Hartmut Häußermann sein ganzes wissenschaftliches Leben gearbeitet hat.

Literatur Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2011), Wohnungsmarktprognose 2025, Analysen Bau.Stadt.Raum, Band 4, Bonn. Bundesministerium der Finanzen (2001), 18. Subventionsbericht der Bundesregierung vom 26.07.2001, BT-Drs. 14/6748. Bundesministerium der Finanzen (2011), 23. Subventionsbericht der Bundesregierung vom 11.08.2011, BT-Drs. 17/6795.

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Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2011), Datenreport 2011: Sozialbericht für Deutschland, Bonn. DIW (2010), Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Wochenbericht 24/2010. IFO (2010), Institut für Wirtschaftsforschung, Ifo Schnelldienst 10/2010. Prognos (2011), Bericht: Fiskalische Effekte eines gesetzlichen Mindestlohns, April 2011, Berlin. Statistisches Bundesamt (2010), Bevölkerung in den Bundesländern, dem früheren Bundesgebiet und den neuen Ländern bis 2060; Ergebnisse der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Online-Veröffentlichung, Wiesbaden.

Aufstieg und Fall der sozialen Stadtpolitik in Europa – Das Ende einer Ära? Simon Güntner und Uwe-Jens Walther

Stadtpolitik ist immer Ergebnis ihrer Zeit und ihrer politischen Umstände. Wer von Stadtpolitik spricht, meint zunächst die Gesamtheit aller lokalen Interessen und Fachpolitiken, die auf die Stadtentwicklung einwirken. Hinzu kommen die nationalen oder supranationalen Gestaltungsimperative, mit denen Zentralregierungen die Entwicklung der Städte prägen: Bereits die preußischen Städtereformen im 19. Jahrhundert waren Gesellschafts-, Wirtschafts- und Stadtpolitik, lokal wie national bedeutsam (vgl. Häußermann u. a. 2008; Le Galès 2002). Für die Herausbildung einer spezifisch sozialen Stadtpolitik in den letzten drei Jahrzehnten gilt beides besonders: dass sie zeitgebunden ist und dass sich in ihr die Politikebenen hochgradig verflechten. Kaum entstanden, weist bereits vieles darauf hin, dass sie schon wieder vergehen könnte. Markieren die seit den 1990er Jahren entstandenen Förderprogramme zur Stabilisierung benachteiligter Stadtteile damit nur eine vergleichsweise kurze Epoche in der dynamischen Abfolge stadtpolitischer Leitbilder und Steuerungsinstrumente? Wie sind sie entstanden, was haben sie bewirkt und welche Zukunft steht ihnen bevor?

1. Eine soziale Stadtpolitik entsteht Stadtpolitik umfasst die Summe der Politiken von Städten, also die Gesamtheit der Fachpolitiken und Akteure, mit denen die lokalen Gebietskörperschaften selbst auf ihre Stadtentwicklung einwirken. Darunter können Städtebau, Stadtumbau, Stadterneuerung und Infrastrukturausbau sein, aber auch Standortpolitik und Sozialpolitik, soweit sie raumwirksam werden (Häußermann u. a. 2008). Als Stadtpolitik werden aber auch die einheitlichen Züge nationaler und supranationaler Politik bezeichnet, die auf die

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Politiken der Städte einwirken und ihnen einen mehr oder weniger verbindlichen Rahmen geben. In beiden Fällen handelt es sich um die Stadt als eine räumlich wie politisch identifizierbare Instanz. Es geht dabei um die Steuerung und Steuerbarkeit von Städten als »unvollständige Gesellschaften«, deren Entwicklung aus dem Zusammenwirken von Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen und über diese Ebenen hinweg resultiert (vgl. Le Galès 2002: 184). Die modernen europäischen Städte des 20. Jahrhunderts und speziell die deutsche Stadt der Nachkriegszeit galten lange als »sozial«, weil lokale wie nationale Politiken in die Richtung eines sozialen Ausgleichs wirken konnten. Die Arbeitsmärkte ermöglichten Ein- und Aufstieg, der Sozialstaat griff regulativ ein und die Stadtverwaltungen bemühten sich, umverteilend gleiche Lebenschancen zu sichern. Wenngleich dieses Arrangement immer lückenhaft war und einige soziale Gruppen nicht erreichte (vgl. Hess/Mechler 1973), schien im »goldenen Zeitalter des Wohlfahrtsstaates« (Flora 1986) die Vision einer sozial gerechten Stadt als selbstverständlicher Teil von Stadtpolitik realisierbar und zukunftsfest, ohne dass es einer eigenen, auf soziale Ungleichheit hin orientierten Programmatik bedurft hätte. Kommunale Daseinsfürsorge und Stadtplanung, sozialer Wohnungsbau und öffentliche Infrastruktur wurden von einträglicheren Bereichen quersubventioniert (vgl. Le Galès 2005). Dieses Bild einer sozial orientierten Stadtpolitik hat sich mit den Umbrüchen der Globalisierung auf Arbeits- und Wohnungsmärkten und durch Zuwanderung tiefgreifend gewandelt. Während sich die Anzeichen sozialer Spaltung zunächst in den industriellen Ballungszentren Großbritanniens und Frankreichs und bald auch in anderen Großstädten Westeuropas zeigten, begannen viele Stadtregierungen in den 1980er Jahren, Städte als Unternehmen zu definieren, ihre Politiken an der interkommunalen Standortkonkurrenz auszurichten (Harvey 1989; Hall/Hubbard 1989) und sich ein ästhetisch ansprechenderes Erscheinungsbild zu geben. Soziale Ausgleichsziele traten dahinter zurück oder sogar in Widerspruch zu ihnen. Hochverschuldete Gemeinden begannen, ihre Sozialwohnungsbestände abzubauen, und manches »Tafelsilber« an eigenen Immobilien oder kommunaler Infrastruktur wurde an private Träger veräußert (vgl. für die Situation in Deutschland Kronawitter 1994). Diese Politik wurde schon früh kritisch kommentiert, so etwa von Häußermann und Siebel in ihren Ausführungen zur Neuen Urbanität: »Die Ästhetisierung der Stadt schafft das Elend nicht ab, sondern nur beiseite.« (Häußermann/Siebel 1987: 209)



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Die Umbrüche auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten und Neuorientierungen in den entsprechenden Politiken wurden in den Städten spürbar. Die Risiken auf dem Arbeitsmarkt, die einst durch wohlfahrtsstaatliche Arrangements weitgehend von den Risiken auf den Wohnungsmärkten entkoppelt waren, schlugen nun stärker auf Wohnbiografien durch. Bei Konsum, Bildung, Gesundheit und Alterssicherung wurden die Abstände auch räumlich innerhalb der Städte stärker sichtbar, es bildeten sich Armutsquartiere, in denen sich diejenigen wiederfanden, die auf der Schattenseite des Wohlstands lebten (Häußermann/Siebel 1987; Dangschat 1995). Diese Konstellation, in der soziale Ungleichheit in den Städten und ihren politischen Agenden stärker und sichtbarer wurde, führte zum Anspruch auf eine besondere, dem sozialen Ausgleich verpflichtete Stadtpolitik: eine soziale Stadtpolitik. Bei dieser neuen Stadtpolitik gingen die verschiedenen Staaten jedoch eigene Wege. Entstehungsgeschichte und Dynamik der sozialen Stadtpolitik sowie ihre Instrumentierung folgten zum einen dem jeweiligen Muster der Deindustrialisierung und ihrer sozialräumlichen Nebenwirkungen, zum anderen entstanden sie aus je spezifischen institutionellen Arrangements hinsichtlich der Zusammenarbeit von lokalen, regionalen und nationalen Regierungen und Verwaltungen heraus. In manchen Ländern konnte dabei schon auf einzelne lokale Maßnahmen zur Armutsbekämpfung oder experimentelle Pilotprogramme zurückgegriffen werden, in anderen lagen solche Erfahrungen nicht vor. In Großbritannien war ein erster Meilenstein des Politikprozesses das Urban Programme 1968, das darauf reagierte, dass der allgemeine Wohlstand in einigen innerstädtischen Quartieren nicht ankam, und verstärkten Einsatz von Sozialarbeit verordnete (Atkinson 2000). Es folgten 1969 einige Community Development Projects (CDP). Mit dem Weißbuch Inner Cities (1977), und dem Inner Areas Act wurden diese Initiativen später ausgeweitet und um lokalökonomische Komponenten ergänzt (MacLennan 2002). Mit Urban Development Corporations sollte die innerstädtische Wirtschaft wiederbelebt werden, sie kamen dann jedoch unter gänzlich neuen politischen Vorzeichen zum Einsatz und wurden in den Dienst der neoliberalen Agenda der Thatcher-Ära gestellt. Das City Challenge Programm (1991) und das Single Regeneration Budget (1994) verbanden dann die Förderung von lokalen Partnerschaften mit Wettbewerbsanreizen und vergrößerten auch den stadträumlichen Maßstab der Maßnahmen. Es war dann aber die New Labour Regierung, die mit dem New-Deal-for-Communities-Programm (1998, nur für England) und der Neighbourhood Renewal Strategy (2001) den integrier-

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ten Ansatz der Quartiersentwicklung beförderte. Alle relevanten Ressorts wurden über Zielvereinbarungen und Fördermittel einbezogen, die speziell in den sozialstatistisch ermittelten benachteiligten Quartieren eingesetzt werden sollten (vgl. Anders u. a. 2012: 19 ff.). Frankreich ist ein weiteres anschauliches Beispiel für das Entstehen einer sozial orientierten Stadtpolitik. Hier fokussierte die Politique de la Ville in den 1970er Jahren vor allem die Situation in den Großwohnsiedlungen am Stadtrand, den sogenannten banlieues. Sie ist seither von zwei Ansätzen gekennzeichnet, zwischen denen sich die verschiedenen Initiativen bewegen: Gesetze und Absprachen zwischen nationaler und lokaler Ebene, um Segregation zu verhindern und eine soziale Mischung (mixité sociale) in Wohnquartieren generell zu befördern auf der einen (von linken Regierungsmehrheiten favorisierten) Seite und räumlich konzentrierte Interventionen in Problemgebieten, um vor Ort die Lebensqualität der Bewohner und Bewohnerinnen zu verbessern (tendenziell von den konservativen Regierungen vorangebracht) auf der anderen Seite (Glasze/Weber 2010 : 466). Es war ein als habitat et vie sociale (HVS) bezeichnetes Maßnahmenbündel, mit dem ab 1977 erstmals der »französische Grundsatz des Universalismus« gebrochen und im Sinne einer »positiven territorialen Diskriminierung« in einer zunächst recht begrenzten Zahl an Wohnsiedlungen bauliche und soziale Projekte durchgeführt wurden (ebd.: 462 f.). In Reaktion auf die als été chaud bekannt gewordenen Unruhen in den Vororten von Lyon wurde dieser Ansatz dann räumlich und inhaltlich erweitert hin zum développement social des quartiers (DSQ). Auch der Abriss von Hochhäusern zählte nun zum Handlungsrepertoire mit dem Ziel, der Segregation entgegenzuwirken. Wie in England war ein nächster Meilenstein die Etablierung von Stadtverträgen (contrats de ville) zwischen nationaler und lokaler Ebene zur wechselseitigen Verpflichtung, die in den Verträgen festgehaltenen Probleme zu beheben. 1990 folgte die Einrichtung eines Stadtministeriums, die wiederum im engen zeitlichen Zusammenhang mit Unruhen bei Lyon, diesmal in Vaulx-en-Velin, stand (ebd.). In der Folge wurde das Ziel einer sozialen Mischung gesetzlich verankert, das aber ohne Sanktionsmechanismus im Fall der Nichtbeachtung weitgehend folgenlos blieb. 1996 wurde mit einem Belebungspakt das Prinzip der Zonierung eingeführt und für die über sozioökonomische Indikatoren als am problematischsten betrachteten Gebiete Sonderwirtschaftszonen eingerichtet. Ziel war die Behebung von Defiziten durch bessere ökonomische Rahmenbedingungen, vor allem Steuererleich-



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terungen (ebd.). Der Pakt wurde wenige Jahre später wieder ausgesetzt, Anfang der 2000er Jahre dann wieder aufgegriffen. Ab 2003 wurde wiederum die bauliche Umstrukturierung der Quartiere durch Abriss und Neubau befördert. In Folge der Vorstadtunruhen 2005 sollten nun neue Stadtverträge zum sozialen Zusammenhalt (Contrats urbains de cohésion sociale) die sozialpolitische Komponente der Stadtpolitik stärker betonen, ohne den Kurs signifikant zu ändern. Auch der 2008 ausgerufene Hoffnungsplan für die Banlieues (Plan Espoir Banlieues) reiht sich in den Ansatz der Politique de la Ville ein, gesamtgesellschaftliche Probleme der Ungleichheit und Diskriminierung als »Probleme bestimmter Quartiere« zu fassen (ebd.: 469). Abbildung 1: Übersicht: Soziale Stadtpolitiken in Europa Land

Programm

Zeitraum

Belgien

Politique des Grandes Villes (Big Cities Policy), Verträge zur »nachhaltigen Stadt« 2009

seit 1999

Dänemark

Kvarterløft »Ghetto-Strategie«

1997–2007 seit 2010

Deutschland

Soziale Stadt

seit 1999

Frankreich

Politique de la Ville Espoir Banlieues

1981–2014 2008–2011

Großbritannien

National Strategy for Neighbourhood Renewal (ab 2001; u. a. New Deal for Communities (ab 1998, England), Local Strategic Partnerships, Neigh­ bourhood Renewal Fund, Neigh­ bourhood Management Pathfinder Programme)

1998/2001–2010

Niederlande

Grote Steden Beleid GSB

1995–2009: GSB I–III 2010–2014: Dezentralisierung auf Ebene der Provinzen (GSB IV)

Schweden

Storstadspolitiken (zunächst spezielles Programm, danach Verwaltungsvereinbarungen bis 2010)

1998–2003/2010

Quelle: Verschiedene Quellen; eigene Recherchen.

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In den Niederlanden richtete sich die Stadtpolitik bis in die 1970er Jahre hinein vor allem auf die Stärkung der ökonomischen Funktion der großen Städte, bevor dann die Verbesserung der Wohnsituation vor allem in den Arbeiterquartieren in den Mittelpunkt rückte. Angesichts zunehmender Suburbanisierung und Abwanderung setzte dann in den 1980er Jahren die Stadterneuerungspolitik (stedelijke vernieuwing) ein, die stärker das Wohnumfeld und den sozialen Zusammenhalt in sogenannten Problemakkumulationsgebieten in den Blick nahm (Aalbers/van Beckhoven 2010). Ergänzend zur Stadterneuerungspolitik und auf Druck der vier großen Städte (Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht) erließ das niederländische Innenministerium 1994 den Grote Steden Beleid (GSB), um die Großstädte durch die Förderung von integrierten Entwicklungsmaßnahmen in den von Armut geprägten Quartieren zu stärken. In erster Linie ging es darum, diese Quartiere für mittlere und höhere Einkommensklassen attraktiver zu machen (ebd.: 6). Das erste Förderprogramm lief bis 1999. Die folgenden Programme GSB II (1999–2004), III (2005–2009) änderten den Ansatz dahingehend, dass sie weniger auf den Zuzug einkommenshöherer Schichten setzten als auf den Verbleib von Aufsteigern im Quartier und zudem Fragen der Sicherheit betonten. Mit dem GSB IV (2010–2014) wurde eine Dezentralisierung vollzogen und den Gemeinden mehr Spielraum eingeräumt (vgl. van der Laan 2009). In (West-)Deutschland war für die Stadtpolitik die Einführung der Städtebauförderung 1971 bedeutsam. Zunächst als wachstumsorientierte Modernisierungs-, Konjunktur- und Strukturpolitik konzipiert, wandelte sie sich zu einer »nach innen orientierten Stadtpolitik« (Häußermann u. a. 2008: 90 f.). In den 1980er Jahren etablierte sich ausgehend von der Internationalen Bauausstellung in Berlin (1979–1987) das Leitbild der Behutsamen Stadterneuerung, das auf Beteiligung der Bevölkerung und eine Vermeidung von Verdrängung zielte, diesen Anspruch jedoch oft nicht einlöste (ebd.: 92). In den 1990er Jahren gingen dann zunächst von den von Strukturwandel und De-Industrialisierung besonders betroffenen Stadtstaaten und Ballungsräumen Initiativen zu mehrdimensionalen Förderansätzen aus, um die sozialen Brennpunkte (Hamburg) bzw. Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf (NRW) vor dem weiteren Niedergang zu bewahren. Aus diesen Landesprogrammen heraus entstand die Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt, die 1999 in Form eines gleichnamigen Programmteils der Städtebauförderung institutionalisiert und 2003 im BauGB verankert wurde (§171e BauGB). Seither trägt soziale Stadtpolitik in Deutschland diesen Namen. Dieses finanziell im



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europäischen Vergleich äußerst bescheiden ausgestattete Förderprogramm steht im Zentrum der Bemühungen um soziale Stadtentwicklung. Seine wesentlichen Merkmale sind eine gebietsbezogene Förderung von integrierten Maßnahmenbündeln, die, von Ausnahmen abgesehen, (sogenannte Modellvorhaben 2005–2010) investiven bzw. baulichen Charakter haben sowie eine intensive Bürgerbeteiligung und Vernetzung der im Stadtteil agierenden Akteure durch ein Quartiersmanagement. Ähnliche Programme der sozialen Stadtpolitik wurden auch in Belgien (Grotestedenbeleid 1999), Dänemark (Kvarterloft 1997–2007) und Schweden (Storstadspolitiken 1998–2003, gefolgt von sogenannten Stadtverträgen bis 2010) eingeführt. Formativen Einfluss nahm früh auch die EU. Hier war die unter Kommissionspräsident Delors gewonnene Einschätzung, dass die städtischen Probleme in einem Zusammenhang zur europäischen Marktintegration stehen und entsprechend auch eine Verantwortung auf EG(bzw. dann bald EU-)Ebene liege, ebenso politikbegründend wie das 1992 im Maastricht Vertrag festgehaltene Kohäsionsziel und schließlich auch effektives Lobbying der Großstädte, die in der Neugestaltung der Strukturpolitik seit den späten 1980er Jahren einen Platz beanspruchten (Güntner 2007). Die Europäische Kommission war eine wichtige Fürsprecherin der sozialen Stadtpolitik, scheiterte aber 1992 mit dem Versuch, eine stadtpolitische Kompetenz vertraglich zu verankern. Stattdessen wurden in der Regionalpolitik entsprechende Initiativen lanciert. Die städtischen Pilotprojekte (ab 1989) und URBAN (1994–2000, 2000–2006) leisteten Pionierarbeit und etablierten die Idee der quartiersbezogenen Förderung als Acquis Urbain in der Strukturpolitik. Diese Programme ermöglichten vielen Städten, mit dem integrierten Steuerungsansatz zu experimentieren und wurden für alle nationalen Initiativen in diesem Bereich seither eine wichtige Referenz, explizit auch für das deutsche Bund-Länder-Programm Soziale Stadt. Die wesentlichen Elemente der URBAN-Initiativen waren ein integriertes und gebietsbezogenes Entwicklungskonzept sowie die partnerschaftliche Beteiligung unter Einbindung von lokalen Akteuren und Bewohnern (ebd.: 81 ff.). Die Mittelausstattung in den einzelnen Ländern lässt sich nur schwer systematisch vergleichen. So setzte Großbritannien für den Neighbourhood Renewal Fund zwischen 2001 und 2008 circa drei Milliarden Pfund für 88 Fördergebiete ein (Communities and Local Government 2010: 9). Das Fördervolumen für das Programm New Deal for Communities (NDC) betrug etwa 50 Millionen Pfund pro Fördergebiet für zehn Jahre (Lawless 2011: 56). Im Vergleich dazu lagen die Fördervolumina des bundesdeutschen Programms

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Soziale Stadt 1999–2007 bei etwa zwei Milliarden Euro (Bund, Länder und Gemeinden), davon 699,511 Millionen Euro Bundesmittel (BMVBS 2008: Statusbericht, S.12 f.). Der jährlich neu zu verhandelnde Bundesanteil für das Programm Soziale Stadt betrug in seiner Hochphase 2009 105 Millionen Euro, wurde danach jedoch deutlich reduziert und betrug 2012 noch 40 Millionen Euro. Von 1999 bis 2012 wurden 607 Gebiete in 376 Gemeinden gefördert. 1 Tabelle 1: Bundesförderung Programm Soziale Stadt Jahr

Bundesanteil Programm Soziale Stadt (in Mio. Euro)1

1999

51,1

2000

51,1

2001

76,7

2002

76,7

2003

80,0

2004

72,5

2005

71,4

2006

110,4

2007

105,0

2008

90,0

2009

105,0

2010

94,9

2011

28,5

2012

40,0

Quelle: Verwaltungsvereinbarungen zur Städtebauförderung 1999 bis 2012. 1 Der Bundesanteil entspricht grundsätzlich einem Drittel der förderfähigen Kosten, vgl. VV 2011 Art.2 (1). Die signifikante Erhöhung der Mittel ab 2006 geht auf die Einführung sog. Modellvorhaben zurück, mit denen sozial-integrative Projekte u. a. in den Bereichen Bildung, Freizeitgestaltung von Jugendlichen, lokale Ökonomie und Gesundheit gefördert wurden. Dieser Programmteil, der in Reaktion auf die Zwischenevaluierung des Programms eingeführt worden war, wurde mit der VV 2011 wieder gestrichen.



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2. Merkmale der sozialen Stadtpolitik Bei aller Verschiedenheit im Detail eint die neuen Ansätze eine gemeinsame Problemdeutung. Anlass für die Einführung war in allen Fällen eine komplexe, grundsätzlich vergleichbare Problemkonstellation: Auswirkungen der Deindustrialisierung, Desintegrationstendenzen (Wahlerfolge rechter Parteien; Jugendkrawalle) und zunehmende residentielle Segregation in den Kernstädten. Vor allem der unmittelbare politische Problemdruck erklärt die Reihenfolge des Auftretens der Programme. Die zur Legitimation der Intervention herangezogenen sozialwissenschaftlichen Erklärungen reflektierten dabei die Komplexität der Probleme und griffen entsprechend auf mehrdimensionale Konzepte wie Ausgrenzung und Ausschließung sowie soziale Inklusion, sozialen Zusammenhalt und soziales Kapital zurück. Die Politik übernahm die Prämisse der Argumentation, dass die komplexe Verursachung von lokalen Problemen politisch nicht allein sektoral und lokal gelöst werden könne und ein neuer, integrierter Politiktypus dafür zu schaffen sei, der die Grenzen von Fachpolitiken und Verwaltungsebenen überschreitet. Dieser Problemsicht konnten sich Parteien verschiedener Couleur anschließen. Zwar haben rechte und linke politische Parteien bei den Programmansätzen jeweils deutlich unterschiedliche Akzente gesetzt, dennoch übernahmen Bürgermeister wie auch die nationalen Regierungen und Europarlamentarier die Prämisse der sozialwissenschaftlichen Analysen. Sie begründeten unisono über alle Parteibindungen hinweg die Forderung nach den neuen Programmen damit, dass es sich um mehr als ein lokales Problem handele. Im föderalen Deutschland waren die von Strukturwandel und städtischen Problemen besonders betroffenen Bundesländer Vorreiter. Über die Arbeitsgemeinschaft der fachlich zuständigen Länderministerien (ARGEBAU) drängten sie auf Anerkennung des nationalen Rangs der Aufgabe, als die Bundesregierung noch die Existenz von Armut und sozialer Ausgrenzung in Abrede stellte. Darüber hinaus lässt sich jedoch kein durchgängiges Muster feststellen, welche Partei auf welcher Regierungsebene und mit Durchgriff auf welche Ressorts mit welchen Zielformulierungen die Initiative ergriff. Die Ambition der politischen Initiativen brachte Tony Blair auf den Punkt: Niemand solle aufgrund seines oder ihres Wohnorts benachteiligt werden (Blair 2001: 5). Insgesamt blieben die Zielformulierungen jedoch recht vage. Die Anzeichen von Aktionismus können die neuen, sämtlich als zeitlich befristete Interventionen angelegten Programmansätze bis heute europaweit kaum verbergen.

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Die inhaltliche Unterbestimmtheit verband sich allerdings mit einem sehr hohen Anspruch: Mittels der Programme sollten nicht nur die Quartiere aufgewertet und die Lebensbedingungen ihrer Bewohner und Bewohnerinnen verbessert werden, sie sollten zugleich auch den Politikstil, die lokale Governance, reformieren (vgl. Alisch 2002). In Deutschland brachte das Deutsche Institut für Urbanistik dies auf die Formel: »Stadterneuerungspolitik als Stadtpolitikerneuerung« (Franke u. a. 2000). In Großbritannien wurden im Zuge des new localism seit den frühen 1990er Jahren unter John Mayor und dann unter Tony Blairs New Labour local partnerships zum zentralen Instrument der Politikgestaltung, um den sichtlich gescheiterten paternalistischen top-down-Ansatz früherer Versionen der Stadtpolitik abzulösen. So war es ein Aspekt der angestrebten Politikerneuerung, Fachverwaltungen zu integriertem oder koordiniertem Handeln zu bringen. Dieser Anspruch blieb jedoch oft uneingelöst. In den Niederlanden kritisierten etwa Aalbers und van Beckhoven das Adjektiv »integriert« als »Policy-Buzzword«, das in der Praxis nicht eingelöst würde (Aalbers/van Beckhoven 2010: 450). Ungeachtet der Probleme in der Umsetzung beförderten die Programme in europäischen Planungsdiskursen und Forschungen Begrifflichkeiten, die inzwischen als Goldstandards aufgeklärter Stadtpolitik gelten. Sie wurden über die Jahre variantenreich ausdifferenziert, modifiziert, reformuliert und sind alle mit entsprechenden englischen Schlagworten, mit dem Präfix »Multi« versehen worden; spätestens seit sich die zuständigen Fachminister der EU-Mitgliedstaaten 2007 auf die »Leipzig Charta zur Stadtentwicklung« einigten, bilden sie die Grundlage einer ›neuen Orthodoxie‹ (Walther 2008): –– multi-targeted wegen ihrer mehrfachen Zielsetzungen (zugleich Gebiets-, Sozial- und Institutionenpolitik), –– multi-actored wegen ihres Fokus auf Partnerschaften, –– multi-layered wegen der verteilten Aufgaben auf mehreren Ebenen des politisch-administrativen Systems (Mehrebenenpolitik), –– multi-sectoral wegen ihrer horizontalen Integration der Fachplanungen (Querschnittspolitik). Zusammen genommen beschreiben diese Merkmale einen außerordentlich anspruchsvollen, aber aus zwei Gründen überbestimmten Handlungsrahmen: Erstens stehen hierarchische und horizontale Handlungskoordination in einem äußerst spannungsvollen, wenn nicht sogar widersprüchlichen Verhältnis. Sie verbinden das klassische, hierarchische Steuerungs-Handeln von



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Akteuren in demokratisch legitimierten Instanzen (unter klarer Trennung von Subjekt und Objekt des Handelns) mit dem Geflecht von Institutionen, eigenen Strukturen und Regeln anderer Akteure vor Ort (wo Subjekte und Objekte des Handelns nicht immer klar geschieden sind). Zweitens sind sie Experimentierfeld für neue Politikmodelle. Die Programme sind zum Teil die testende und tastende Umsetzung neuer Steuerungsinstrumente jenseits der gewohnten Gegensätze von Markt und Staatsorientierung und bedienen Modernisierungs- wie Aktivierungsdiskurse; entsprechende Suchbewegungen in den einzelnen Ländern verdeutlichen, dass es noch keine Erfahrungswerte hinsichtlich Laufdauer (unbestimmt in Deutschland, bestimmt in Dänemark), Zugriff und Steuermöglichkeiten der Nationalregierung und Instrumentierung gibt. Als Testfeld für den » aktivierenden Staat« waren die Programme zuweilen gesellschaftspolitisch äußerst stark aufgeladen und demonstrativ mit Vorstellungen befrachtet, die gerade in städtischen Problemgebieten kaum zu halten waren und zu einer Art trial-and-error-Mentalität führten. So fiel der Höhepunkt der sozialen Stadtpolitik Ende der 1990er, Anfang der frühen 2000er Jahren mit den politischen Leitbildern des » dritten Wegs« und des »aktivierenden Staats« zusammen, die von den sozialdemokratisch geführten Regierungen in Großbritannien (1997–2010, Tony Blair), Dänemark (1993–2001, Poul Nyrup Rasmussen), Deutschland (1998–2005, Gerhard Schröder) und in den Niederlanden (1994–2002, Wim Kok) vorangetrieben wurden. Sozialstaatliche Standards sollten nicht mehr als Schutzrechte oder Leistungen einzufordern sein, sondern die Bürger sollen ihre Erwartungen an den Staat und ihr Verhalten praktisch ändern. Diese Verschiebung wurde von Lessenich (2008) treffend als » Neuerfindung des Sozialen« beschrieben. Parallel zum Umbau der Wohlfahrtsstaaten vollzog sich auch in der Stadterneuerungspolitik ein Paradigmenwechsel: Während die klassische Städtebauförderung einst Investitionsdruck unterstellte und im besonderen Städtebaurecht Schutzbestimmungen formulierte, wie die sozialen Verhältnisse in den Quartieren gegen Investitionsdruck und Verdrängung zu schützen waren, sollte nun Beteiligung als Aktivierung für Projekte gefördert werden, die sonst gar nicht erst entstehen würden. Den Förderprogrammen wurden dabei hohe Beweislasten aufgebürdet. Sie sollten unter anderem demonstrieren, wie das Verhältnis BürgerIn/Staat sich im Sinne eines »aktivierenden Staates« ausgerechnet in den Quartieren ändern könne, die dazu die ungünstigsten Bedingungen aufwiesen (hierzu kritisch: Rose 2000; Michel 2005).

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In der Praxis haben sich einige » Bausteine« herausgebildet, die allen Programmen gemein sind (vgl. Güntner 2007). Dazu zählen: –– Die Zusammenarbeit von verschiedenen politischen Ebenen und weiteren Akteuren (Partnerschaften) – über Verträge und Vereinbarungen werden Ressourcen gebündelt, um die Interventionen zu finanzieren; –– der Gebietsbezug (Förderkulisse) – die Förderprogramme beziehen sich nicht auf ganze Städte, sondern auf geographisch abgesteckte Teilräume, die über Problemanzeigen (mittels statistischer Indikatoren und/oder politischer Einschätzung) festgelegt werden; –– ein dezentrales Steuerungsmodell (Quartiersmanagement) – Verfahren werden vor Ort entschieden und unter Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner sowie lokaler Initiativen und Organisationen durchgeführt; –– der integrierte, verschiedene Handlungsfelder abdeckende und verbindende Ansatz (integrierte Handlungskonzepte) – die Verfahren zielen drauf ab, städtebauliche Aufwertung mit sozialen, kulturellen Maßnahmen und der Förderung der lokalen Ökonomie zu verbinden; –– die projektförmige Umsetzung – typischerweise sind die Interventionen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt; sie versuchen, Veränderungen vor allem durch die Förderung neuer Ideen und Kooperationen zu bewirken und fördern dies vornehmlich über Anschubfinanzierungen. Im Detail finden sich durchaus Unterschiede in der Umsetzung. Sie betreffen Dauer, Höhe und Schwerpunktsetzung der Förderung sowie den Grad der Beteiligung. Solche Akzente sind sowohl den spezifischen Stadtstrukturen, Arbeitsmärkten, Migrationsmustern und sozialen Problemlagen in den jeweiligen Staaten zuzurechnen wie ihren institutionellen sozial-, bildungsund wohnungspolitischen Architekturen und schließlich den Entwicklungspfaden, in denen die Programmentwicklung stattfand. So ist die investive Logik des Programms Soziale Stadt in Deutschland auf die verfassungsrechtliche Bindewirkung des Grundgesetzes (§ 104b, Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen) bei der Städtebauförderung zurückzuführen, während etwa in Großbritannien eine ganze Reihe an sozial-, bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Initiativen ins Leben gerufen wurde, die vor Ort gebündelt werden sollten (Social Exclusion Unit 2001). Die französischen Stadtverträge wiederum sind im Kern eine nach wie vor wohnungspolitisch dominierte Reaktion auf die spezifischen Probleme in den Großwohnsiedlungen, bei denen zunehmend der Abriss in den Mittelpunkt rückte (Bon-



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neville 2005). In den Niederlanden schließlich zielte der Grotestedenbeleid zunächst in einem umfassenden Sinne darauf, den Handlungsspielraum der Kommunen zu erweitern und wurde dann zunehmend darauf fokussiert, der ethnischen Segregation in den Städten entgegenzuwirken (Musterd/Ostendorf 2008).

3. Soziale Stadtpolitik und Stadtsoziologie Die Stadtsoziologie war und ist eine enge Begleiterin der sozialen Stadtpolitik. Schon frühzeitig haben sich einige Autorinnen und Autoren nicht allein auf Analysen der neuen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in den Städten beschränkt, sondern auch eine sozial verantwortlichere Stadtpolitik gefordert.2 Viele haben seit den späten 1980er Jahren mit Theorien und Analysen zu den Ursachen und Formen sozialräumlicher Spaltungen in USamerikanischen und europäischen Städten früh den Weg gebahnt, indem sie politische Antworten auf die »Spaltung der Städte« einforderten. Hartmut Häußermann und Walter Siebel (1987) machten dies zum Kernbestandteil ihrer Analysen zur »neue[n] Urbanität«. Dass diese Arbeiten erst spät(er) wahrgenommen und zuweilen der Politik lediglich im Nachhinein Begründungen lieferten, steht auf einem anderen Blatt. In Deutschland hat Hartmut Häußermann in Zusammenarbeit mit Andreas Kapphan für Berlin nicht nur den empirischen Nachweis für sozialräumliche Ungleichheiten erbracht, sondern war auch an der Umsetzung in das Landesprogramm beteiligt; namentlich die Institution des Quartiersmanagements trägt seine Handschrift. Die soziologische Stadtforschung begleitete dann auch die Umsetzung der Programme (vgl. zum Beispiel die Beiträge in Walther/Mensch 2004). Dabei stand zunächst die Frage im Raum, ob die quartiersbezogenen Ansätze überhaupt an den Ursachen von Armut – etwa der Erwerbslosigkeit – etwas ändern könnten. Für Frankreich wurde konstatiert, dass es schlicht »einfa 2 Autorinnen und Autoren wie Hartmut Häußermann und Walter Siebel, Martin Kronauer, Jens Dangschat, Monika Alisch, Walter Hanesch und Margit Mayer in Deutschland, Jan Vranken (Belgien), Peter Marcuse und John Mollenkopf (USA), Anne Power und Patsy Healey (Großbritannien), Ronald van Kempen, Sako Musterd, Frank Moulaerd und Wim Ostendorf (Niederlande), um nur einige zu nennen.

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cher« erschien, in den Quartieren anzusetzen als an den gesamtgesellschaftlichen Strukturen (Glasze/Weber 2010: 462). Statt Armut, so die Kritik in Deutschland, würden allenfalls ihre Symptome, nicht aber ihre Ursachen bekämpft. Soziale Stadtpolitik erschien als Feigenblatt, das die sozialen Folgen einer neoliberalen, auf ökonomisches Wachstum orientierten Stadtpolitik lediglich notdürftig abdecke (Alisch 2002; Mayer 2003; generell: Moulaert 2000). Die im deutschen Programm anfänglich weit ausgreifenden Zielformulierungen forderten diesen weitreichenden Maßstab der Kritik gerade heraus (für das Bund-Länder-Gemeindenprogramm z. B. Döhne/Walter 1999). In den folgenden Jahren entwickelte sich in Interaktion mit der Politik dann ein Feld konstruktiv-kritischer, wissenschaftlicher Begleitung, das auch dazu beitrug, die Programmziele zu korrigieren und zu schärfen. Für das Programm Soziale Stadt war etwa die von Hartmut Häußermann angeleitete Zwischenevaluation (IfS 2004) ein wichtiger Meilenstein. Infolge dieser Studie wurde das Instrumentarium für einige Jahre um sogenannte Modellvorhaben erweitert, um in den bis dato kaum erreichten Handlungsfeldern Aktivitäten zu fördern. Dies betraf vor allem bildungs- und jugendpolitische Initiativen, lokale Wirtschaftsförderung, beschäftigungspolitische Maßnahmen; eine wichtige Zielgruppe bildeten dabei Bewohnerinnen und Bewohner mit Migrationshintergrund (vgl. BMVBS 2008: 14). Die Zwischenevaluation hatte einen formativen Charakter, indem sie dem Programm nachträglich eine Theorie, die sogenannte Kontexttheorie, an die Seite stellte und aus ihr den Wirkungsbereich der Maßnahmen ableitete, nämlich die negativen Quartierseffekte in den Fördergebieten – zusätzliche, verstärkende Effekte, die durch das Leben in diesen Quartieren entstehen (»Eine hohe Arbeitslosigkeit wirkt ansteckend«, IfS 2004: 36) – zu mildern: »Wenn die Situation verändert werden soll, muss der Kontext verändert werden: durch eine Veränderung des Erscheinungsbildes eines Quartiers und der sozialen Situation bzw. des ›Milieus‹.« (IfS 2004: 36) Die Kontexttheorie verbindet die soziale Stadtpolitik mit einer zentralen Kontroverse der Stadtforschung um die Frage, inwiefern sich die Wohnumgebung auf die Lebenschancen der Bewohnerinnen und Bewohner auswirkt. Ob und welche benachteiligenden Effekte Quartiere haben können, ist international umstritten. In einer deutschen Auswertung von zwölf Studien zu Quartierseffekten aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und den USA kommt Anne Volkmann zu der vorläufigen Einschätzung, »dass ein eindeutiger empirischer Nachweis von negativen Quartierseffek-



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ten […] nicht erbracht werden kann« (Volkmann 2012: 78). Die verschiedenen Ansichten spiegeln sich auch in der Bewertung der quartiersbezogenen Politikprogramme in England. Cheshire etwa schätzt personenbezogene Armutsbekämpfungsprogramme als deutlich effektiver ein als die erhofften »positiven Externalitäten« einer sozial gemischteren Bewohnerschaft: »Forcing neighbourhoods to be mixed in social and economic terms is, therefore, mainly treating the symptoms of inequality and not the causes. It may make decent people feel better but it does not address the problem.« (Cheshire 2009: 28) Inzwischen liegen aus der kritischen Begleitung der Programme auch erste Bilanzierungen vor. Vor allem die National Strategy for Neighbourhood Renewal (NSNR) war mit einer intensiven Begleitforschung ausgestattet. Sie betrachtet den Zeitraum 2001–2007, in dem generell ein günstiges wirtschaftliches Klima Großbritanniens die Entwicklungen in den Städten positiv beeinflusste. Die Ergebnisse sind, der komplexen Konstellation von Wirkungsfaktoren entsprechend, gemischt und in der Bewertung zurückhaltend. Für die Bereiche Arbeitslosigkeit, Bildung und Wohnqualität werden positive Entwicklungen in den Programmgebieten ausgemacht, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Förderung stehen, für Gesundheit und Sicherheit konnte keine entsprechende Aussage getroffen werden. Diese pauschale Aussage wird allerdings dahingehend relativiert, dass auf unterschiedliche Quartiers- und Bewohnertypen auch sehr unterschiedliche Ergebnisse zutrafen. Die zusammenfassende Einschätzung der Gutachter lautet dennoch: »Without NSNR, conditions in deprived areas would be worse […]. NSNR can thus be said to have made a significant contribution in helping to lay the foundations for positive change in the most deprived areas.« (CLG 2010: 109) Zu den Faktoren für Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen zählen die Beteiligung der Bewohner/innen und die Zusammenarbeit der Akteure vor Ort, aber auch Kontextfaktoren wie der lokale Arbeits- und Wohnungsmarkt. Am Ende der Förderperiode setzte die Wohnungs- und Finanzmarktkrise ein, wenig später folgten ein Regierungswechsel und ein harter Sparkurs, der vor allem die Kommunen traf. Dass dadurch die Erfolge der Quartierspolitik gefährdet wurden und sich die sozialen Konflikte wieder verschärften, belegten nicht zuletzt die Ausschreitungen im Sommer 2011, die auch vor diesen Quartieren nicht Halt machten. In Deutschland hat sich die Debatte nach einer Auseinandersetzung um die Programminhalte inzwischen auf die Frage der Verstetigung der sozia-

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len Stadtpolitik verschoben und damit das zwischenzeitlich in den Hintergrund gerückte Problem der institutionellen Einbettung wieder aufgegriffen (Walther/Güntner 2011, Anders u. a. 2012). Anlass war nicht zuletzt eine drastische Kürzung der Bundesmittel im Jahr 2011 sowie eine inhaltliche Neuaufstellung, welche die oben genannten Modellvorhaben zur Förderung sozioökonomischer Maßnahmen nicht mehr vorsah (s. u.). Damit standen viele Vorhaben vor dem Aus. Als Protest wurde von Wohnungs- und Sozialverbänden, Städtetag sowie weiteren Akteuren ein bundesweites Bündnis für eine Soziale Stadt ins Leben gerufen.

4. Der Stand heute: Die Soziale Stadtpolitik vergeht? Die symbolische Unterstützung der integrierten Quartierspolitik erreichte in Europa 2007 einen Höhepunkt, als die für Stadtentwicklung zuständigen Minister der EU-Mitgliedstaaten nach einem mehrjährigen Diskussionsprozess und Zwischenetappen die sog. Leipzig Charta zur nachhaltigen Europäischen Stadt verabschiedeten und die integrierte Stadtentwicklungspolitik sowie gebietsbezogene Maßnahmen für benachteiligte Stadtquartiere zum Modell erklärten. Folgt man den Beschlüssen der Ministerrunde, dann müssten die Goldstandards der sozialen Stadtpolitik auf die gesamte Stadtentwicklungspolitik ausstrahlen. Obgleich sie als aufgeklärte Prinzipien deutlich Spuren in der Planungspraxis hinterlassen haben, sind die Programme der sozialen Stadtentwicklung selbst jedoch seither im Zuge von Regierungswechseln europaweit finanziell beschnitten und zurückgefahren worden. Überall wurde inzwischen der neue Programmansatz vor allem zum Spielball von Austeritätspolitik. In Großbritannien lief der New Deal for Communities 2010 nach zehn Jahren aus. Auf ihn folgte die Politik der Big Society – eine Mischung aus Haushaltskürzungen und Verantwortungsverlagerung auf die lokale Ebene (Localism Bill). In Deutschland strich die schwarz-gelbe Regierung die zwischenzeitlich eingeführten Modellvorhaben aus dem Programm und kürzte den Bundesanteil drastisch. In Dänemark war schon seit den frühen 2000er Jahren nach dem politischen Rechtsruck und der Auflösung des Stadtentwicklungsministeriums das Engagement deutlich zurückgefahren worden, wenngleich der integrierte Ansatz bis heute im Grundsatz unterstützt wird. Eine populistische Kursänderung hin zur Steuerung über



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Zuzugssperren, die in der 2010 aufgelegten Ghetto-Strategie ihren Ausdruck fand, blieb in Ansätzen auch nach dem Regierungswechsel 2011 bestehen. Die Probleme, auf die die Programme reagierten – das unterstreichen bisher alle Studien wie Regierungserklärungen – sind bislang keineswegs beseitigt. Im Gegenteil: Die soziale Spaltung nimmt EU-weit zu (OECD 2011) und wurde von der Finanzkrise radikal verschärft. Die Unruhen in Großbritannien im Sommer 2011, ein Beleg für die Persistenz der »demokratischen Labilität« (Voscherau 1994: 106), mit der schon seit den 1990er Jahren die Stadtpolitik begründet wurde, fanden in ehemaligen Fördergebieten ihren Ausgangspunkt. Für die Programme der sozialen Stadtentwicklung bedeutet dies zweierlei: Sie haben es zum einen in den Jahren vor der Finanzkrise nicht vermocht, die Situation in den Fördergebieten nachhaltig zu stabilisieren oder gar zu verbessern. Zum anderen ist ihre institutionelle Verankerung nach wie vor prekär. Als konstante Partnerin für die Städte und überzeugte Verfechterin einer nachhaltigen Förderung der Stadtentwicklung erweist sich derzeit die Europäische Kommission. Ihre konstante Haltung gilt insbesondere für den als Acquis Urbain betitelten integrierten und gebietsbezogenen Ansatz. Im fünften Kohäsionsbericht hat sie sich erneut deutlich für eine Wiederbelebung der Stadtpolitik ausgesprochen und dies in ihren Entwürfen für die kommende Strukturförderperiode mit entsprechenden Initiativen untermauert, insbesondere mit dem Bemühen, gebietsbezogene personen- und raumbezogene Instrumente (ESF und EFRE) stärker zu bündeln. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Prinzipien der sozialen und integrierten Stadtpolitik vor allem symbolisch fortleben und breite Unterstützung finden. Dass die Förderprogramme dennoch immer schon finanziell mit äußerst geringen Mitteln ausgestattet und nun parallel dazu auch noch weiter zurückgefahren werden, war und bleibt ein Kontrapunkt, mit dem die Politik zumindest mittelfristig leben muss. Indessen zeigt sich ganz allmählich, dass das gebietsorientierte Verwaltungshandeln von den personenorientierten Schlüsselressorts der Sozial- und Bildungspolitik wahrgenommen und in Ansätzen auch aufgegriffen wird (Sozialraumorientierung der Jugendhilfe, offene Ganztagsschule), nicht zuletzt aus Gründen der Kosteneinsparung (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2011). Gaben die Programme sozialer Stadtentwicklung also lediglich Stichworte und Bewährungsfeld für eine aufgeklärtere Stadtpolitik und Planungspraxis? Hat die Programmatik Soziale Stadtentwicklung damit ihre Schuldigkeit getan und darf gehen?

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5. Ende einer Ära? Die Zukunft sozialer Stadtpolitik In den letzten Jahrzehnten ist europaweit mit dem neuen Programmansatz sozialer Stadtpolitik experimentiert worden – mit Ausstrahlungswirkungen auf andere Bereiche der Stadtplanung und -politik. Das nahezu zeitgleiche Auf- und Abebben der Programme und die strukturgleichen Baupläne der sozialen Stadtpolitik legen es nahe, hinter dieser Parallelität ein ZeitgeistPhänomen zu sehen. Makroskopisch betrachtet verstärkt sich der Eindruck einer Programmatik, die ihre Zeit hatte, aber dieser Epoche auch stark verhaftet bleibt. So war die neue soziale Stadtpolitik tatsächlich eng verbunden mit Reformdiskursen der 1990er und 2000er Jahre, dem » dritten Weg«, partnerschaftlichen Steuerungsmodellen, Stärkung der Zivilgesellschaft und dem Aktivierungsparadigma in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Sie spiegelte eine Aufbruchsstimmung nicht allein zur Verbesserung der Lebensqualität in den Quartieren, sondern auch und vor allem zum Erproben neuer, partizipativer Ansätze der Politikgestaltung. Diese Rolle hat sich erschöpft, die Probleme der Quartiere und ihre Ursachen sind nicht verschwunden. Die Finanzkrise markiert eine Zäsur dieser Ära und führt sowohl die labilen Grundlagen wie auch die begrenzte Reichweite dieser Politik vor Augen: Die Staatshaushalte sind überschuldet, während Armut und Ausgrenzung rasant zunehmen. Die Leitbilder der Krisenbewältigung sprechen heute eine deutlich andere Sprache. Sie werden auch in veränderte Ansätze der Stadtpolitik münden. Wir gehen davon aus, dass sich in den marginalisierten Quartieren vieler Städte bis auf weiteres die Abwärtsspirale weiter drehen und sogar neuen Schwung bekommen wird. Vor allem wird auch die Spaltung zwischen den Städten und Regionen Europas rasch zunehmen und den allseits geforderten territorialen Zusammenhalt gefährden. Wir halten es daher für sehr wahrscheinlich, dass in Zukunft neue Förderprogramme aufgelegt werden. Die europäische Kommission schickt sich an, diese auf den Weg zu bringen. Auch werden sie sich weiterhin in den erprobten Ansätzen um die Beteiligung und Aktivierung der Bewohnerinnen und Bewohner bemühen. Allerdings stellt sich die Frage, ob für sie auf struktureller Ebene hierfür überhaupt die Möglichkeiten der Teilhabe geschaffen werden können und sie in der Lage sind, in einem würdevollen Leben über die Runden zu kommen. Insofern muss sich die Stadtpolitik darauf konzentrieren, die Daseinsvorsorge zu gewährleisten, das heißt einen Mindeststandard an Wohnversorgung, Bildung und Beschäftigung abzusi-



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chern, ansonsten können diese Aufrufe bald zynisch anmuten. Gebietsbezogene Ansätze, wie in den letzten Jahrzehnten entwickelt, können nationale und kommunale Sozialpolitik und Daseinsvorsorge nicht ersetzen. Sie sind auf ein Fundament der sozialen Sicherung sowie Maßnahmen der sozialen Eingliederung angewiesen, die dann in gebietsbezogenen Ansätzen gebündelt werden können. Veränderte Ansätze werden auch den zentralen Anspruch der Programmatik sozialer Stadtentwicklung nicht aufgeben können, integrierte Politik zu fördern. Von Politikintegration aber war auch das deutsche Programm weit entfernt (ausführlicher: Walther/Güntner 2007a und 2007b): Dazu wäre erstens ein von allen Ressorts geteilter Interpretationsrahmen zwischen räumlicher und sozialer Politik notwendig. Zweitens müsste der räumliche Tunnelblick überwunden werden, der die Maßnahmen der Sozialen Stadt bisher häufig kennzeichnet (Häußermann 2002): Eine gesamtstädtische Strategie zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung würde im Unterschied zur bisherigen Quartierspolitik die Fachpolitiken diesem Ziel verpflichten.3 Drittens könnte das bisherige Quartiersmanagement zu lokalen Partnerschaften werden. Schließlich sollte ein Lernendes Programm wie die Soziale Stadt zu einer Lernenden Politik werden. Eine fachpolitikübergreifende Kommission oder Sachverständigengruppe und ein in den Medien geführter öffentlicher Diskurs würden erlauben, auch solche Politik-Perspektiven einfließen zu lassen, die nicht quartiersbezogen sind und sie in einen produktiven Dialog mit raumbezogenen Ansätzen zu bringen. Unter solchen Bedingungen könnte das Potential sozialer Stadtpolitik wirksamer ausgeschöpft werden als bisher. Bei aller Unterschiedlichkeit waren die Programme der sozialen Stadtpolitik seit den 1990er Jahren lediglich als Zusatzangebote konzipiert, als add-on für besondere Problemlagen. Sie haben ausgeblendet oder überspielt, dass es auch die Mechanismen der parallel laufenden sozialstaatlichen Umbauprozesse sind, die hinter den Problemen in den Quartieren liegen. Evaluierungen und kritische Programmbegleitungen haben dies regelmäßig unterstrichen, auch die sozialen Nebenwirkungen des aktivierenden Staatsmodells sind dokumentiert. Die zentrale Forderung an die Weiterentwicklung der sozialen Stadtpolitik lautet damit, dass sie über solche komplementären Programme hinausgehen muss, um wirksam und gestaltend zu sein. 3 Das könnte – ähnlich dem Mainstreaming in der Quartierspolitik in Großbritannien – durch eine Budgetierung der sozialen Infrastruktur nach ihrem Beitrag zur sozialen und systemischen Integration der jeweiligen Zielgruppe geschehen.

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Stadtteilpolitik: Lehren aus den USA John Mollenkopf

1. Einleitung Zum Ende seines Lebens widmete sich Hartmut Häußermann der Gegenüberstellung von politischen Initiativen auf Stadtteilebene, die in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA unternommen wurden, um die negativen Folgen des Lebens in innerstädtischen Gebieten mit einer hohen Konzentration von Armut und anderen Formen der Benachteiligung zu überwinden. Er interessierte sich dafür, wie die intellektuelle und politische Geschichte der verschiedenen Länder zu bestimmten Politikansätzen führte, welche Ansätze erfolgreich waren, welche nicht und welche praktischen Lehren daraus zu ziehen seien, und was diese Befunde über die Gültigkeit der meist auf amerikanische Erfahrungen gegründeten Annahmen zu Nachbarschaftseffekten aussagten, die in die verschiedenen nationalen Formen politischer Intervention eingebettet sind. Letztendlich wollte er wissen, ob wir wirksame Strategien entwerfen könnten, die tatsächlich die Lebensperspektive armer Menschen in benachteiligten städtischen Quartieren verbessern würden. Es ist traurig, dass er dieses Projekt nicht abschließen konnte, das seine Leser und Freunde sicherlich um wichtige Erkenntnisse bereichert hätte, aber er hat bereits viele Schritte in seinem Forschungsprogramm zurückgelegt. Es war mir eine große Freude, Hartmut bei einem dieser Schritte behilflich zu sein – als es darum ging, die Quartiere mit hohen Armutsraten in New York zu erkunden, aus denen die Teilnehmer des »Moving to Opportunity«-Programms (MTO) rekrutiert worden waren, sowie die sozial stärker gemischten Quartiere, in die sie umzogen. MTO war ein von unserem nationalen Ministerium für Wohnungswesen finanziertes soziales Experiment, um es repräsentativen Gruppen von Bewohnern armer Innenstadtquartiere in fünf Metropolregionen zu ermöglichen, ihr Wohnumfeld zu verbessern, und sie mit einer Kontrollgruppe ihrer Nachbarn zu verglei-

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chen, die keine solche Mobilitätsunterstützung erhalten hatten (Häußermann/Kronauer 2012). Was sagen uns die Einsichten über quartiersbezogene Programme zur Armutsbekämpfung in den USA über Ähnlichkeiten und Unterschiede zu denen in Europa, wie etwa dem Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die Soziale Stadt« in Berlin? Vor allem aber, was lehrt uns die US-amerikanische Erfahrung darüber, wie weit eine Kombination von Förderung der räumlichen Mobilität armer Menschen aus Quartieren mit konzentrierter Armut heraus und von Förderung der Mobilität wohlhabenderer Menschen und von Investitionen in diese Quartiere hinein negative Nachbarschaftseffekte tatsächlich verringern und die Lebenschancen benachteiligter Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner verbessern kann? Auf diese Fragen werde ich in den Schlussfolgerungen vorläufige Antworten geben. Zuvor ist es allerdings notwendig, den historischen Kontext darzulegen, in dem sich die städtischen Armutsbekämpfungsprogramme in den USA entwickelten, sowie die zentrale Rolle, die Orte und Nachbarschaften in ihnen spielten. MTO war nur ein kleiner Teil dieser Geschichte, und in der Tat keiner, der jemals die nationale Stadtpolitik insgesamt angeregt hätte. Zwar ist meine Interpretation dieses historischen Kontextes gezwungenermaßen kurz und subjektiv, sie stützt sich aber auch auf vier Jahrzehnte von Lektüre, Forschung und Beratung derer, die diese Politiken gestaltet und umgestaltet haben.

2. Stadt- und Nachbarschaftspolitik in den USA Vielleicht, weil amerikanische Städte seit dem Zweiten Weltkrieg größere Konflikte um Klasse, Rasse und Ethnizität aufwiesen als Städte in Europa, und vielleicht auch, weil sich die beunruhigenden Erschütterungen der Suburbanisierung, der Deindustrialisierung, der Flucht weißer Bevölkerungsgruppen aus den Innenstädten (white flight), des Rassenkonflikts sowie der städtischen Fragmentierung früher auf meiner Seite des Atlantiks bemerkbar machten, waren städtische Probleme während der letzten 70 Jahre ein Schwerpunkt sowohl in der nationalen als auch der lokalen Politik in den USA. Tatsächlich begann die nationale politische Debatte darüber, wie die Städte physisch umgestaltet werden sollten, um sie ökonomisch attraktiver zu machen und jene Konflikte abzuschwächen, bereits in den späten 1920er



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Jahren mit der Veröffentlichung des Regional Plan for New York and its Environs, einem regionalen Raumordnungsprogramm für New York und seine Umgebung. Während der Großen Depression experimentierte der New Deal (1933–1939) mit einer Vielzahl von weitreichenden und konkreten Schritten, um städtische Probleme anzugehen, einschließlich eines groß angelegten öffentlichen Beschäftigungsprogramms der Works Progress Administration (WPA) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Public Works Administration (PWA) mit dem Ziel, die große Gruppe der städtischen Arbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen. Diese und verwandte Ämter begannen, einen politischen Rahmen für den öffentlichen und subventionierten Wohnungsbau, die Beseitigung der Slums, den Bau von Autobahnen und die moderne Raumordnungsplanung einzuführen. In der Tat erstellte der Ausschuss für städtische Angelegenheiten (Urbanism Committee) des National Resources Committee eines der aufschlussreichsten Dokumente, das je über Probleme in US-Städten veröffentlicht wurde, Our Cities: Their Role in the National Economy (1937).1 Vieles von ihm geht auf einen Entwurf von Louis Wirth zurück. Zu den Schlüsselaussagen des Dokuments gehören die folgenden (NRC-1937): »Die moderne Nation findet in ihren Städten den Kristallisationspunkt von vielem, was bedrohlich und von vielem, was vielversprechend im Leben ihrer Menschen ist […]. Die Stadt ist nicht nur eine der grundlegenden Stützen, sondern auch eines der Probleme der Wirtschaft des Landes geworden […]. Es ist notwendig, dass sich städtische Institutionen, Verbände und Instrumente der sozialen Orientierung herausbilden, die versuchen, das Leben in der Stadt zu ermöglichen und zu regulieren, und sei es auch nur, um die brodelnden Millionen davon abzuhalten, sich im Alltag der städtischen Welt gegenseitig niederzutrampeln.« Der Bericht identifiziert des Weiteren eine »drastische Ungleichheit von Einkommen und Vermögen«, das »Fehlen der Verständigung zwischen den verschiedenen industriellen Branchen«, das »schnelle Veralten des Stadtgebietsplans und der Bauten«, die »unkontrollierte Erschließung von Bauland, spekulative Praktiken und […] die fantastischsten Immobilienbooms«, unzulängliche Wohnverhältnisse (aufgezeigt durch die erste nationale Studie zu Wohnbedingungen im Jahr 1934), eine »Vielfalt ethnischer, religiöser und kultureller Spannungen«, den Zugang von Jugendlichen aus den Städten zur 1 Hier können Sie dieses außergewöhnliche Dokument lesen: http://ia700308.us.archive. org/13/items/ourcitiestheirro00unitrich/ourcitiestheirro00unitrich.pdf

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höheren Bildung und lokale Haushaltskrisen als Kernprobleme (NRC 1937: vii-ix). Viele Teile des Berichts, einschließlich der Empfehlungen für eine nationale Stadtpolitik, lesen sich, als wären sie gestern geschrieben worden. Als die politischen Bedingungen, die die New-Deal-Gesetzgebung möglich gemacht hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben waren, gingen die städtischen liberalen Demokraten im Kongress (unter der Führung unter anderem von Senator Robert Wagner aus New York) eine Reihe von Kompromissen mit ihren republikanischen Kollegen ein, um verschiedene New-Deal-Programme langfristig zu institutionalisieren und eine umfassendere Vorstellung zu entwickeln, wie Bundesprogramme, lokale Regierungen und private Investoren bei der Neugestaltung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Geographie der sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildenden Metropolen zusammenarbeiten könnten.2 Diese Politik war facettenreich, aber zu ihren Schlüsselelementen gehörte die Gesetzgebung zur Förderung der Stadterneuerung durch den Bund (1949), zum sozialen Wohnungsbau (1949) und zum Bau von Ein- und Ausfallstraßen sowie Umgehungsstraßen mit eingeschränktem Zugang (1959) in und um die großen Metropolregionen. Ein weiteres wichtiges Element waren steuerliche Anreize des Bundes und Hypothekenzuschüsse für den Bau von Häusern in den Vororten für die zurückkehrenden Veteranen und ihre Babyboom-Kinder. Diese Maßnahmen hatten tief greifende Auswirkungen auf die Gestaltung der amerikanischen Metropolen zwischen 1950 und 1970. Über die lokale Umsetzung der Bundespolitik in jener Zeit ist viel geschrieben worden. Um diese Literatur zusammenzufassen – und vielleicht etwas zu sehr zu vereinfachen – kann man sagen, dass die Stadterneuerung und der Bau von städtischen Autobahnen durchaus »Nachbarschaftsprogramme« in zweierlei Hinsicht waren. Erstens identifizierten sie die Nachbarschaften aus dem späten 19. Jahrhundert, die die Geschäftsviertel der Innenstädte umgaben, als »Elends«-Gebiete, weshalb die Bundesregierung die Kommunen ermächtigen sollte, sie niederzureißen und »höheren und besseren« Zwecken zuzuführen. Diese Zwecke beinhalteten nicht nur neue kommerzielle Nutzungen wie Bürogebäude von Unternehmen, sondern auch den Ausbau von Krankenhäusern, Universitäten und kulturellen Institutionen. Es war treffend, dieses Programm »Negro Removal« zu nennen, denn die Afro-Amerikaner machten inzwischen in vielen dieser Nachbarschaften die 2 Mollenkopf 1983, Kapitel 2 und 3, behandelt ausführlich die nationale politische Dynamik der Stadtpolitik vom New Deal bis zur Reagan-Regierung.



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Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner aus. Auch der Bau von innerstädtischen Schnellstraßen hat viele dieser Gemeinschaften zerstört und Hindernisse für ihre weitere Ausbreitung errichtet. Zweitens beschleunigte die bundesstaatliche Stadtentwicklungspolitik der Nachkriegszeit (insbesondere der Bau von Autobahnen und die Eigenheimfinanzierung) auch den Umzug von Arbeitgebern und der wachsenden Mittelschicht in die neuen Stadtrandsiedlungen, was die Stadtregionen dramatisch veränderte. In den Kernstädten haben die Eigentümer und Mieter der Büro‑ und Einzelhandelsgebäude in den zentralen Geschäftsvierteln, genauso wie die Vorstände und Manager wichtiger Institutionen wie Universitäten, Krankenhäuser, Museen, Konzerthäusern und Bibliotheken, diese Strategien unterstützt. Sie spürten eine doppelte Gefahr: Der heruntergekommene Zustand der angrenzenden, einkommensschwachen Viertel bedrohte den Wert ihrer Immobilien und die Lebensfähigkeit ihrer Geschäfte; aber noch wichtiger war, dass der Zuzug von Afro-Amerikanern und anderen Minderheiten eine Flucht der weißen Bevölkerung und einen raschen Abzug von Investitionen auslöste. Also ließ eine neue Kohorte von Stadtplanern und Stadtentwicklungsbeamten, unter ihnen Robert Moses in New York und M. Justin Herman in San Francisco, mit der Billigung von jungen, unternehmerisch und ›modern‹ orientierten Bürgermeistern und der politischen Unterstützung von Wirtschaftsführern, der Baugewerkschaft, der einflussreichen Lokalpresse und anderen Medien, viele dieser klassischen Stadtteile abreißen und umgestalten. Universitäten der Stadt und andere gemeinnützige Organisationen nahmen oft eifrig an diesen Machenschaften teil – zum Beispiel baute die New York University Wohnungen für Fakultätsmitglieder in einem bedeutenden Teil des zentral gelegenen, von Jane Jacobs gefeierten Greenwich Village, und das Massachusetts General Hospital profitierte unmittelbar von dem Abriss des West End in Boston, der Nachbarschaft, die in Herbert Gans’ Urban Villagers (1962) dargestellt wird. Im Nachhinein betrachtet hatte diese Ära der nationalen Stadtentwicklungspolitik eine Reihe von katastrophalen, vielleicht nicht ganz unerwarteten Folgen. Sie zerstörte einen Großteil der historischen Nachbarschaftsstruktur der Industriestadt des späten 19. Jahrhunderts, von der das meiste später gentrifiziert worden wäre, hätte es den Bundes-Bulldozer überlebt. Ein Paradebeispiel ist Bostons South End, wo Demonstrationen und die Mobilisierung in den Nachbarschaften die Totalzerstörung durch Stadterneuerung, die das West End erlebte, verhindert haben. Die neuen Bauprojekte wurden zudem in einer modernistischen Architektur der Jahrhundertmitte ausge-

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führt, die inzwischen bei Stadtplanern und Architekten in schlechtem Ruf steht, allerdings nicht immer bei ihren Bewohnern. Am entscheidendsten aber war, dass diese politischen Strategien lebendige Nachbarschaften der weißen Arbeiterklasse, der Schwarzen und anderer Minderheiten auflösten und zersplitterten und damit wohl deren soziale Desorganisation erhöhten, was viele der Syndrome auslöste, die später unter den Überschriften »städtische Unterschicht« und »konzentrierte Armut« klassifiziert wurden. Und schließlich führte diese Stadterneuerung zu einem massiven Anstieg der politischen Mobilisierung in den Nachbarschaften und zu städtischem Protest, darunter die verheerenden Stadtunruhen der späten 1960er Jahre. Beide Seiten, diejenigen, die diese Ereignisse angerichtet hatten, und jene, die unter ihnen litten, zogen aus ihnen Lehren. Die städtische, wachstumsorientierte Koalition dachte lange und intensiv darüber nach, wie man effektivere und weniger umstrittene Wege finden könnte, um die wesentlichen Ziele der Stadterneuerung weiterzuverfolgen. Die wachstumsfreundliche Koalition (dargestellt in Mollenkopf 1975; 1983) lernte, weichere, mehr marktorientierte Mechanismen anzuwenden, bei denen »öffentlich-private Partnerschaften« eine wichtige Rolle spielten, die oft Nachbarschaftsorganisationen für die Quartiersentwicklung einbezogen. Großflächige Landenteignung und Projektplanung durch Behörden für Stadterneuerung kommen nun nur noch selten vor. Stattdessen bedient sich dieser Ansatz der Werkzeuge der Stadtplanung, der Bauleitplanung (rezoning), steuerlicher Anreize, anderer Subventionen für private Investitionen und marktorientierter Instrumente für die wirtschaftliche Entwicklung, häufig in Verbindung mit irgendeiner Form der öffentlichen Prüfung und Verhandlung. Diejenigen, die sich gegen diese Art der Stadtentwicklung organisierten, sei es auf der Ebene der Nachbarschaftsorganisation und Stadtpolitik (Mollenkopf 1983), der Ebene der beruflichen Praxis (Hartman 2002) oder der Ebene der Stadtanalyse und der öffentlichen Aufklärung (Jacobs 1961), lernten ebenfalls ihre Lektionen. Sie hofften, dass Kräfte, die aus der Nachbarschaftsebene hervorgingen, ein Bestandteil neuer Regime der Steuerung innerhalb der Städte werden könnten, die die Politik zugunsten privater Investitionen zügeln und eine Politik vorantreiben würden, die die Quartiere stärkt und Ressourcen bereitstellt, um die Lebensqualität in armen und Arbeitervierteln zu verbessern und den sozialen Aufstieg aus ihnen zu fördern. Leider sind solche progressive Koalitionen, aus Gründen, die zu zahl-



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reich sind, um sie hier ausführlich zu behandeln, nur in wenigen Fällen zu Stande gekommen (Dreier u. a. 2004). Die nationale Wohnungspolitik für Haushalte mit niedrigem Einkommen durchlief während dieser Periode eine qualvolle Geschichte. Die städtischen Reformer gingen einen verhängnisvollen Kompromiss ein, um die Annahme des Wohnungsbaugesetzes von 1949 zu erreichen, das sowohl den Bau von Sozialwohnungen, als auch die Bereitstellung von Mitteln für die Erwerbung von Land durch den Bund und die Flächensanierung bewilligte. Dieses Gesetz legte fest, dass die Kommunalbehörden für jede neue Sozialwohnungseinheit, die sie bauten, eine alte Einheit von Slum-Wohnungen abreißen mussten. Der Ausbau der Sozialwohnungen in den 1950er und frühen 1960er Jahren hing somit gänzlich vom Fortschreiten der Stadterneuerung durch die Beseitigung armer Viertel ab. Selbstverständlich zogen nicht alle, die durch »urban renewal« aus ihrer Wohnung verdrängt worden waren, in eine Sozialwohnung, aber viele taten es, und die lokalen Behörden entschieden im Rahmen ihrer umfassenderen Planungen zur Umgestaltung der rassischen Geographie amerikanischer Städte darüber, wo sich die Sozialwohnungen befinden sollten. Als die Opposition gegen den Bundes-Bulldozer wuchs, wurden auch die Sozialwohnungen immer mehr zur Unterbringung der von der Fürsorge abhängigen Armen genutzt und sehr viel mehr stigmatisiert (siehe als klassische Studie hierzu Rainwater 1970). Nach der Welle der städtischen Proteste in den späten 1960er Jahren wurden nur noch wenige Sozialwohnungen gebaut. Eine Zeitlang versuchten die städtischen Liberalen in den Regierungen Kennedy und Johnson (1961–1968), den öffentlichen Sozialwohnungsbau durch eine Reihe neuer Wohnungsbauprogramme zu ersetzen (Section 221(d)3 und Sections 235 und 236 des National Housing Act). Diese stellten Subventionen für Hypotheken bereit, die zum Bau von Sozialwohnungen durch lokale private, gemeinnützige Organisationen und durch gewinnorientierte Bauträger genutzt wurden. Tatsächlich erreichte die Produktion von Wohnungen dieser Art ihren Gipfel während der Nixon-Regierung (1969– 1976). Ein grundlegendes Motiv für diese Programme war es, das Land, welches den Flächensanierungen der vorangegangenen Periode der Stadterneuerung unterzogen worden war, nun in einer »nachbarschaftsfreundlicheren« Weise zu nutzen, und viele dieser Wohnungen entstanden als das Ergebnis von stärkerer »Bürgerbeteiligung« bei der Quartiersentwickung. Mit dem Regierungsantritt Reagans 1981 ging jedoch die politische Unterstützung auch für diese Art des Wohnungsbaus zurück, und die Wohnungspolitik

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des Bundes für einkommensschwache Haushalte verlagerte sich nun auf Bezugsscheine zur Anmietung von Wohnraum in Privatbesitz, das sogenannte Section 8 Program. Danach gelang es zwar den Interessengruppen, die sich für Sozialwohnungen einsetzten, eine steuerliche Subventionierung für den Bau von Mietwohnungen für Haushalte mit niedrigem Einkommen durchzusetzen (»Low-Income Housing Tax Credit«), aber die Bundesregierung unterstützte kaum noch den Bau von neuen Sozialwohnungen auf direktem Weg (für einen guten Überblick siehe Turner u. a. 2009). Das Endergebnis ist ein Flickwerk aus indirekten Quellen der öffentlichen Förderung, in dem lokale, gemeinnützige und gewinnorientierte Bauträger in Nachbarschaften lokale, bundesstaatliche und nationale Finanzierungsprogramme zusammenschustern, einschließlich der Section8-Bezugsscheine zukünftiger Mieter, um neue subventionierte Wohnungen zu bauen. Oft sind diese Wohnungen für die ärmsten städtischen Haushalte nicht erschwinglich, es sei denn, sie haben Bezugsscheine. Viele der städtischen Armen sind weiterhin auf die älteren Bestände des sozialen Wohnungsbaus angewiesen, die die lokalen Wohnungsbehörden angemessen instand zu halten versuchen. Allerdings bestand eine zentrale Stoßrichtung nationaler Wohnungspolitik seit der Clinton-Regierung (1993–2000) in Hope VI, einem Programm zum Abriss von Sozialwohnungen, die durch eine weniger dichte Bebauung mit Wohnungen für Haushalte unterschiedlicher Einkommen ersetzt werden sollten, und zur Bereitstellung von Bezugsscheinen für Mieter, die aus ihren Sozialwohnungen vertrieben wurden. Nur wenige Leute denken, dass Hope VI und seine Nachfolgeprogramme das Wohnungsangebot für die städtischen Armen vergrößert hätten, aber diese Programme haben es vielen Kommunen ermöglicht, die symbolträchtigen Wohnanlagen der 1950er und 1960er Jahre abzureißen und teilweise durch attraktivere Bauprojekte für Haushalte unterschiedlicher Einkommen zu ersetzen (siehe Pattillo 2007 für eine ausgezeichnete Diskussion der Ereignisse auf der South Side von Chicago). Diese verwickelte Geschichte der staatlichen Stadtentwicklungsprogramme hat zu mehreren weitverbreiteten Schlussfolgerungen geführt: I) dass es ein Fehler der Bundesregierung war, durch den Bau von Sozialwohnungsanlagen (»projects«) und die Zerstörung innerstädtischer Nachbarschaften konzentrierte Armut voranzutreiben, II) dass staatliche Unterstützung stattdessen durch am Markt orientierte Formen der Intervention geleistet werden sollte, häufig mit einer lokalen Förderung subventionierter Wohnungen gemischt mit Wohnungsbau zu marktüblichen Preisen, und III) dass die



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Bundespolitik versuchen solle, innerstädtische Armutsquartiere dadurch zu verbessern, dass man weniger arme oder sogar wohlhabende Menschen in jene Stadtteile holt und die Mobilität der Armen aus ihnen heraus verstärkt. Kurz gesagt, die Politik sollte konzentrierte städtische Armut und die damit verbundenen negativen Nachbarschaftseffekte verringern und eine stärkere Mischung der Einkommen in solchen Nachbarschaften herbeiführen. Der Start des Moving-to-Opportunity-Experiments im Jahr 1994, während der Regierung des ersten George Bush, bringt diesen Konsens zum Ausdruck. Ob allerdings ein breit angelegter Versuch, solche Praktiken anzuwenden, tatsächlich Mechanismen der Nachbarschaftseffekte nutzen könnte, um die Lebensqualität für die städtischen Armen zu verbessern, bleibt eine offene Frage, die weiterer Forschung bedarf (SSRC 2009). Obwohl sie nicht direkt aus der Besorgnis über städtische Armut und Ungleichheit hervorgingen, haben Ideen des »new urbanism«, sowohl bezogen auf die Nachbarschaftsebene (Calthorpe 1993) als auch auf regionale Steuerung (Rusk 1999, Orfield 2002, Katz/Bradley 2013), ebenfalls die Stadtpolitik der Obama-Regierung (2009 bis heute) stark beeinflusst. Diese intellektuelle Bewegung im Rahmen der Stadtplanung fordert die Schaffung kleiner Kerne umweltfreundlicher Gemeinden (fußgängerfreundlich, kleiner Einzelhandel, Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr), verteilt auf ein regionales Netzwerk, das durch eine hohe Kapazität der öffentlichen Verkehrsmittel integriert wird, alles auf energieeffiziente Weise erbaut. Aus dieser Sicht können Anreize und Leitlinien der Regierung Ortschaften dazu anregen, auf eine Art und Weise zusammenzuarbeiten, wie es rein marktgesteuerte Fragmentierung, Segmentierung und Wettbewerb nicht können.

3. Wo die USA jetzt in der Stadtteilpolitik stehen So wichtig das Moving-to-Opportunity-Experiment auch war, es ist nicht zum Ausgangspunkt einer neuen, nationalen Stadtentwicklungspolitik geworden. Viele Bewohner der Nachbarschaften, in die die Armen aus dem Ghetto zogen, befürchteten, dass Letztere wachsende Kriminalität und fallende Immobilienpreise mit sich bringen würden, obgleich die sozialwissenschaftlichen Befunde zu MTO diese Befürchtungen nicht bestätigten. Infolgedessen war der Kongress nicht bereit, die Förderung der Mobilität der Armen zu einem zentralen Bestandteil der Stadtpolitik zu machen. Auf einer

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grundsätzlicheren Ebene hatte Hartmut Häußermann wohl recht, wenn er bezweifelte, dass der individuelle Umzug der Armen aus Quartieren mit höheren in Quartiere mit niedrigeren Armutsraten allein die tief verwurzelten geographischen Hierarchien der Ungleichheit zwischen Nachbarschaften in den USA überwinden würde oder könnte. Ähnlich argumentiert Robert Sampson (2012), dass systemische Kräfte zur Reproduktion dieser Hierarchien im Zeitverlauf führen, wenn auch vielleicht in neuen Formen (siehe auch Sharkey 2012), und dass die wesentliche Aufgabe öffentlicher Politik darin bestehen müsste, die Nachbarschaften zu kollektivem Handeln zu befähigen. Der tiefe parteipolitische Konflikt, der derzeit unsere nationale Regierung charakterisiert, schränkt die Fähigkeit der Obama-Regierung ein, sich entschieden in eine neue Richtung zu bewegen. Obwohl dieser liberale, demokratische Präsident durch Stimmen aus den Städten – und etliche aus den Vororten – zweimal die Mehrheiten in nationalen Wahlen gewonnen hat, ist die Regierung mit einer zutiefst konservativen republikanischen Partei konfrontiert, die ihre Wählerstimmen aus den Vororten, Vorstädten und den ländlichen Gebieten gewinnt und die Mehrheit im Repräsentantenhaus hält. Dieses Umfeld erlaubt es der Obama-Regierung nicht, die verschiedenen Bundespolitiken, die die größten Einflüsse auf Städte und ihre Nachbarschaften ausüben, weitreichend umzuorganisieren. Dennoch, als ehemaliger »community organizer« in den schwarzen Wohnvierteln von Chicagos South Side hat sich der Präsident selbst dazu verpflichtet, in diesen Fragen einen neuen Ansatz zu verfolgen.3 Die Regierung investierte das meiste ihres anfänglichen politischen Kapitals darin, das massive Konjunkturpaket, den 775 Millionen Dollar schweren »American Recover and Reinvestment Act«, sowie eine Reform des Gesundheitswesens, den »Patient Protection and Affordable Care Act«, auf den Weg zu bringen. Ihre städtischen Initiativen fielen vergleichsweise bescheiden aus. Sie bestanden in dem Versuch, verschiedene Bundesbehörden, auch bekannt als »Behörden-Silos«, zur Zusammenarbeit zu bewegen, in der Neuformulierung von Regelungen bereits existierender Programme, damit sie in das neue kooperative Paradigma passten, und im Lancieren von Pilotprojekten derjenigen Programme, von denen die Regierung hoffte, sie in der Zukunft ausweiten zu können. Derzeit sind sie klein im Maßstab, aber sie geben die 3 Für eine frühe Verkündung seiner Ansichten siehe hier: www.whitehouse.gov/the_press_ office/Remarks-by-the-President-at-Urban-and-Metropolitan-Roundtable/



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Richtung an, in die die Verwaltung gerne eine neue Generation nationaler Stadtpolitik bewegen würde, sollte sie in der Lage sein, einen genügend breiten Konsens (unter Einschluss der Republikaner) für die entsprechende Gesetzgebung herzustellen. Die drei wichtigsten Initiativen bestehen aus der Partnerschaft für nachhaltige Kommunalentwicklung (Partnership for Sustainable Communities4), der Initiative für die Wiederbelebung von Nachbarschaften (Neighborhood Revitalization Initiative, NRI) und einem Programm für starke Städte und starke Gemeinden (Strong Cities, Strong Communities, SC2). Die Partnerschaft für nachhaltige Gemeinden (Partnership for Sustainable Communities) stellt 377 Millionen Dollar in Form von Zuschüssen durch die nationalen Wohnungsbau-, Verkehrs- und Umweltministerien zur Verfügung, um lokale Pläne zu fördern, die im Einklang mit dem »Neuen Urbanismus« stehen – das heißt, Wohnen, Einzelhandel und Verkehr in ökologisch sensibler Weise miteinander zu verbinden. Die NRI bringt das Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung mit den Ministerien für Bildung, Justiz, Gesundheit und Sozialwesen sowie dem Finanzministerium zusammen, um die Programmplanung für notleidende Nachbarschaften abzustimmen, insbesondere um Verbesserungen des Wohnungsstandards mit Schulreformen in der Nachbarschaft zu verbinden und beide mit anderen sozialen Dienstleistungen zu ergänzen (zu einem gewissen Grad gilt dabei die Harlem Children’s Zone als Vorbild). Diese Behörden bezuschussen mit mehreren hundert Millionen Dollar Kommunen, die damit experimentieren wollen, ihre Wohnungs- und Bildungsprogramme stärker ganzheitlich zu koordinieren.5 Und schließlich hat das Programm »Strong Cities, Strong Communities«, das in der Verwaltung für wirtschaftliche Entwicklung verankert ist, zehn Städte für ein Pilotprojekt ausgewählt, in dem verschiedene Bundesämter eng mit den Stadtverwaltungen zusammenarbeiten und ihnen umfangreiche technische Hilfen leisten werden, um Barrieren zwischen einzelnen Behörden niederzureißen und integrierte Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung auszuarbeiten.6 Ein interessanter Aspekt dieses Programms ist die Einrichtung eines Stipendiums, verwaltet vom German Marshall Fund, 4 Siehe www.sustainablecommunities.gov. Für eine Bewertung, siehe http://www.urban.org/ UploadedPDF/412820-Can-Federal-Efforts-Advance-Federal-and-Local-De-Siloing.pdf 5 ww.eiseverywhere.com/file_uploads/0979f6dba8ffbd41448a9a3a0a2e7fe6_NRI_PovertySumitPresentation.pdf. Siehe außerdem http://www.whitehouse.gov/omb/budget/factsheet/ building-ladders-of-opportunity 6 http://portal.hud.gov/hudportal/documents/huddoc?id=SC2AnnualReport.pdf

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das es jungen Experten für Stadtpolitik ermöglicht, diesen Stadtregierungen Hilfestellung zu leisten. Neben der Integration der für nationale Stadtpolitik zuständigen »Silos« möchte das Pilotprojekt die Kluft zwischen denjenigen überbrücken, die vor Ort für die Politikumsetzung verantwortlich sind, und denjenigen, die ihnen auf Bundesebene dafür Mittel bereitstellen können, damit die Ergebnisse stärker den lokalen Prioritäten als den rigiden bürokratischen Kategorien Washingtons entsprechen. Während die meisten liberalen, in der Politik engagierten Intellektuellen diese Anstrengungen zur Überwindung der Fragmentierung von »PolitikSilos« und zur Ermutigung einer flexibleren und effektiveren Zusammenarbeit zwischen nationalen Bürokratien und Kommunalregierungen begrüßen, kommt die »Neighborhood Revitalization Initiative« dem Anliegen am nächsten, die negativen Auswirkungen einer schlechten Nachbarschaft, in der man lebt, zu verringern. Diese Initiative widmete 365 Millionen Dollar von zuvor anderweitig eingesetzten Mitteln um, um Kommunen bei der Entwicklung von koordinierten Programmen zur Verbesserung der Schulen, zur Reduzierung der Gewalt und zur Renovierung oder zum Ersatz von heruntergekommenen Wohngebäuden in armen Nachbarschaften zu unterstützen. Die Initiative hat viele Zuschüsse für die Umsetzung und noch mehr für die Planung solcher Projekte über die Programme »Choice Neighborhood« (Wohnungen für Haushalte mit unterschiedlichen Einkommen) und »Promise Neighborhood« (Schulreformen) vergeben. Das erstgenannte Programm ist der Nachfolger von Hope VI, das zweite basiert auf dem Schulund dem sozialen Dienstleistungsmodell, das in der Harlem Children’s Zone seinen Ursprung hat. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen diese Initiativen haben – bisher wurden noch keine Evaluierungen vorgenommen.7 Der Parteikonflikt in Washington hat eine beträchtliche Reihe von automatischen Budgetkürzungen (»sequestration«) ausgelöst, die darauf ausgelegt sind, aus dem Wachstum des US-Haushalts in jedem der kommenden Jahre 110 Milliarden Dollar herauszunehmen. Es sieht nicht danach aus, dass das Weiße Haus und der Kongress sich irgendwann in naher Zukunft auf ein alternatives Konzept einigen würden, das die Steuereinnahmen erhöhen und weniger gravierende Kürzungen bei den Dienstleistungen vornehmen würde. Es ist somit unwahrscheinlich, dass die Obama-Regierung in der Lage 7 Eine Vorstellung davon, wie eine solche Evaluierung aussehen könnte, ist nachzulesen in: http://www.urban.org/uploadedpdf/412317-Evaluate-Choice-and-Promise-Neighborhoods.pdf



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sein wird, irgendwelche weitreichenden, neuen städtischen Initiativen zu beginnen – und vielleicht auch nur die Pilotprogramme beizubehalten, die sie bereits gestartet hat.

4. Schlussfolgerung Bevor man versucht, diese Erfahrungen im Hinblick darauf zu beurteilen, wie eine wirksamere Politik zur Reduzierung der negativen Kontexteffekte von Armutsvierteln aussehen könnte, lohnt es sich, die aktuellen Trends der Armutsentwicklung in Nachbarschaften der USA zur Kenntnis zu nehmen. Die räumliche Verteilung der städtischen Armen hat sich als Reaktion auf die größeren wirtschaftlichen und demografischen Einflüsse, denen die Metropolregionen ausgesetzt waren, immer wieder verändert. Nachdem die »konzentrierte städtischen Armut«8, die zwischen 1970 und 1990 erheblich zugenommen hatte, zwischen 1990 und 2000 ziemlich zurückgegangen war, stieg sie zwischen 2000 und jetzt wieder an. Armut und Einkommensungleichheit bleiben in den USA hoch und nahmen von 2000 bis 2013 zu. Obgleich der US-amerikanische Sozialstaat robuster ist, als die meisten Europäer denken (teilweise, weil er viel fragmentierter und indirekter angelegt ist als europäische Wohlfahrtsstaaten), hat er den Anstieg des Elendsindex (der sich aus Armut und Arbeitslosigkeit zusammensetzt) im Gefolge der Wirtschaftskrise 2008 nicht wirksam gedämpft. Obwohl die Daten immer noch nicht vollständig vorliegen, sieht es danach aus, dass die Armut seit 2000 schneller in den Vorstädten als in den Kernstädten angestiegen ist (Kneebone/Berube 2013). Es scheint überdies, dass die Zahl der Menschen, die in Gegenden mit konzentrierter Armut leben, nach einem Rückgang in den 1990er Jahren, wieder zugenommen hat (Aliprantis u. a. 2013; Kneebone u. a. 2011), vor allem in den nördlichen Städten, wo dieses Problem in der früheren Periode am schlimmsten war. Die zunehmende Armut der Vorstädte ist besonders problematisch, weil sie in den Arbeitervierteln der zentrumsnahen inneren Vororte stattfindet, denen die programmatischen Antwortmöglichkeiten fehlen, die die Kernstädte entwickelt haben (Weir 2011). Während der Anstieg konzentrier 8 Die wird in der amerikanischen Literatur üblicherweise durch eine Armutsrate von 40 Prozent und mehr in einem Quartier definiert, Anm. d. Übers.

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ter Armut innerhalb der größeren Städte sicherlich die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise widerspiegelt, dürfte er auch die zunehmende Benachteiligung armer Menschen auf den Wohnungsmärkten zum Ausdruck bringen, die durch steigende Einkommen der Hochqualifizierten, Gentrifizierung und niedrige Neubauraten, vor allem von erschwinglichen Wohnungen, gekennzeichnet sind. In New York City zum Beispiel sind sowohl die Anteile der Mietausgaben am Einkommen gestiegen als auch die Obdachlosigkeit von Familien. Kurz, trotz erheblicher kompensatorischer Anstrengungen von politischen Entscheidungsträgern auf lokaler und nationaler Ebene, bewegen sich die Indikatoren insgesamt derzeit in eine unerwünschte Richtung. Und der Konflikt und die wissenschaftliche Unsicherheit darüber, welche Maßnahmen diese Situation ändern könnten – Mobilität, Bauprojekte für eine Mischung von Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen, umfassende Quartiersentwicklung, regionale Lösungen, Anhebung der Einkommen für gering qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter –, verstärken nur das nationale politische Patt in der stadtpolitischen Gesetzgebung. Trotz der hilfreichen Anstrengungen der Obama-Regierung, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Bundesbehörden und Städten in der Quartiersentwicklung zu finden, sind die Großstädte in diesem wirtschaftlichen und politischen Umfeld weitgehend sich selbst bei der Frage überlassen, wie sie reagieren sollen. Insbesondere New York City hat sich sowohl zu einem langfristigen Programm geförderten Wohnungsbaus verpflichtet als auch dazu, neue Wege zur Verringerung der Armut und ihrer negativen Auswirkungen zu gehen. Die Bürgermeisterwahlen 2013 bieten ein Forum für die Diskussion zusätzlicher neuer Ideen (www.21cforall.org). Vielleicht werden solche Innovationen auf den Ebenen der Städte und der städtischen Ballungsräume über längere Sicht den Weg für eine breitere nationale politische Wende weisen, so wie es bereits im New Deal geschah. Die Bemühungen der Politik in den USA, die Lebensverläufe der städtischen Armen durch die Veränderung ihrer Nachbarschaften zu verbessern, haben bisher keine überzeugenden Ergebnisse hervorgebracht. Die MTOExperimente zeigten insgesamt nur bescheidene Wirkungen, vor allem was die Beschäftigung und die Löhne angeht (HUD 2011: 257). Der wichtigste Aspekt des Umzugs war für viele arme Familien, nun in einer sicheren, weniger mit Kriminalität belasteten Gegend zu leben. Natürlich könnten diese bescheidenen Ergebnisse daran liegen, dass die Familien in der Kontrollgruppe aus extrem armen Vierteln (aus den »projects« des Sozialwohnungsbaus) lediglich in ziemlich arme Nachbarschaften umgezogen sind, während



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die Hierarchie der Nachbarschaften insgesamt intakt blieb. Die abschließende Evaluierung dieses Ansatzes stellt fest, dass eine Steigerung der geographischen Mobilität der armen Bewohner aus Nachbarschaften mit konzentrierter Armut allein nicht bereits die negativen Auswirkungen familiärer Armut auf Einkommen und Bildung beseitigen wird. Wir haben keine vollständige Kenntnis davon, wie der Abriss der Sozialwohnungsbauten unter Hope VI und seinen Nachfolgeprogrammen und der Bau von Wohnungen für Familien mit höherem Einkommen an deren Stelle oder in der Nähe davon die Lebensumstände der städtischen Armen beeinflusst haben. Die Verminderung der Armutskonzentration und der Zuzug von Bewohnern mit höheren Einkommen scheint eine Reihe von Nachbarschaftsindikatoren verbessert zu haben, aber das ist fast schon eine rechnerische Notwendigkeit. Wir wissen viel weniger über diejenigen, die verdrängt wurden, und diese könnten zur Rückkehr der konzentrierten Armut in anderen Nachbarschaften beitragen, aber auch zum Anstieg der Armut in den zentrumsnahen Vororten, die kaum Kapazitäten haben, damit umzugehen. Die Erfahrungen aus Chicago und Atlanta, wo besonders viele Sozialwohnungsbauten abgerissen wurden, werden besonders gute Anhaltspunkte zu den weiterreichenden Folgen einer solchen Politik liefern. Wie viele Studien von anderen Orten bereits gezeigt haben, dürfte allein der Zuzug von Familien mit höheren Einkommen in zuvor einheitlich arme Quartiere keine großen direkten Auswirkungen auf die armen Bewohner von Chicago und Atlanta haben, aber es könnte eine indirekte Auswirkung haben über die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und das Sicherheitsniveau. Besonders wichtig ist jedoch, dass die Interventionen der Stadtpolitik auf der Nachbarschaftsebene in den USA seit den Zeiten von »urban renewal« weder versucht haben, das allgemeine Niveau der Armut und der Ungleichheit in den USA zu verändern, noch die großen Unterschiede zwischen den Bedingungen, unter denen die Nachbarschaften existieren, zu verringern. Anders ausgedrückt, die Interventionen erfolgten alle auf der Mikroebene, nicht auf der Makro- oder systemischen Ebene. Der Druck auf den Ballon der städtischen Armut an einigen Stellen (wie den ehemaligen Sozialwohnungsbauten, die unter Hope VI abgerissen wurden, oder dort, wo Programme für die Neubelebung von Stadtteilen Gentrifizierung gefördert haben) kann deshalb zu seiner Ausbuchtung an anderen schwachen Stellen (wie den am meisten benachteiligten innerstädtischen Quartieren oder den preiswertesten zentrumsnahen Vororten) führen. Außerdem haben nur wenige dieser Bemühungen versucht, die Fähigkeiten von Nachbarschaften zu stärken,

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kollektiv wirksam zu werden, was Sampson (2012) als den entscheidenden Faktor zur Verbesserung des Lebens trotz der Herausforderungen der städtischen Armut ansieht. Kurz gesagt, die US-Erfahrung legt den Schluss nahe, dass unsere Bemühungen, die Lebenschancen der armen Familien in den Städten dadurch zu verbessern, dass man ihre Nachbarschaften verändert, nicht funktioniert haben. Dies bedeutet nicht, dass Nachbarschaftseffekte nicht wichtig seien, sondern lediglich, dass unsere Bemühungen, diese zu ändern, bisher relativ schüchtern gewesen sind. Aber die Befunde legen auch nahe, dass am Quartier ausgerichtete Ansätze der Armutsüberwindung nicht annähernd so wichtig sein mögen, wie stärker systemische Bemühungen, wie zum Beispiel das Anheben der Niedriglöhne und des Beschäftigungsniveaus der städtischen Armen sowie des Bildungs- und Qualifikationsniveaus ihrer Kinder. Übersetzung aus dem Englischen von Martin Kronauer und Suna Turhan.

Literatur Aliprantis, Dionissi/Fee, Kyle/Oliver, Nelson (2013), The Concentration of Poverty within Metropolitan Areas, Economic Commentary (January 31), Federal Reserve Bank of Cleveland. Calthorpe, Peter (1993), The Next American Metropolis: Ecology, Community, and the American Dream, New York. Dreier, Peter/Mollenkopf, John/Swanstrom, Todd (2004), Place Matters. Metropolitics for the Twenty First Century, Lawrence. Gans, Herbert (1962). Urban Villagers: Group and Class in the Life of Italian-Americans, New York. Hartman, Chester (2002), Between Eminence and Notoriety: Four Decades in Radical Urban Planning, New Brunswick, N. J. Häußermann, Hartmut/Kronauer, Martin (2012), Lässt sich konzentrierte städtische Armut überwinden? Erfahrungen aus den USA, Leviathan, Jg. 40, H. 3, S. 399–419. Jacobs, Jane (1961), The Death and Life of Great American Cities, New York. Katz, Bruce/Bradley, Jennifer (2013), The Metropolitan Revolution: How Cities and Metros Are Fixing Our Broken Politics and Fragile Economy, Washington, D.C. Kneebone, Elizabeth/Berube, Alan (2013), Confronting Urban Poverty in America, Washington, D.C.



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Kneebone, Elizabeth/Nadeau Carey/Berube, Alan (2011), The Re-Emergence of Concentrated Poverty: Metropolitan Trends in the 2000s, Metropolitan Policy Series, Washington D.C. Mollenkopf, John (1975), The Postwar Politics of Urban Development, Politics and Society 5(3), S. 247–296. Mollenkopf, John (1983), The Contested City, Princeton. National Resources Committee, Committee on Urbanism (1937), Our Cities, Their Role in the National Economy, Washington, D.C. Orfield, Myron (2002), American Metropolitics: The New Suburban Reality. Washington, D.C. Pattillo, Mary (2007), Black on the Block: The Politics of Race and Class in the City, Chicago. Rainwater, Lee (1970), Behind Ghetto Walls: Black Families in a Federal Slum, Chicago. Rusk, David (1999), Inside Game/Outside Game: Winning Strategies for Saving Urban America, Washington, D.C. Sampson, Robert (2012), Great American City: Chicago and the Enduring Neighborhood Effect, Chicago. Sharkey, Patrick (2012), Stuck in Place: Urban Neighborhoods and the End of Progress toward Racial Equality, Chicago. Social Science Research Council (2009), Research Designs for the Study of Mixed Income Housing, New York City. Turner, Marjory/Popkin, Susan/Rawlings, Lynette (Hg.) (2009), Public Housing and the Legacy of Segregation, Washington, D.C. U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD) (2011). Moving to Opportunity for Fair Housing Demonstration Program: Final Impacts Evaluation, Office of Policy Development and Research, Washington, D.C. Weir, Margaret (2011), Creating Justice for the Poor in the New Metropolis, in: Clarissa Rile Hayward/Todd Swanstrom (Hg.), Justice and the American Metropolis, Minneapolis, S. 237–256.

IV. Ausblick

Wie könnte es weitergehen? Perspektiven der Stadtsoziologie Martin Kronauer, Walter Siebel und Uwe-Jens Walther »Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Strom der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.« Max Weber, zitiert nach Steinert (2010: 187)

Einleitung Die Naturwissenschaften können hoffen, mit jedem neuen Experiment und jeder neuen Theorie ihrem Gegenstand näher gekommen zu sein. Der Historiker hat es mit Geschehnissen zu tun, die, weil vergangen, ebenfalls als konstantes Objekt betrachtet werden können. Dennoch wird Geschichte immer wieder umgeschrieben, sei es, weil neue Quellen auftauchen, sei es, weil ein sich wandelndes Interesse der Gegenwart an ihrer Vergangenheit neue Fragestellungen gebiert, die der Vergangenheit andere Aspekte abgewinnen lassen (Koselleck 2006: 51). Die Sozialwissenschaften aber verfolgen nicht nur sich ändernde Fragestellungen, ihr Gegenstand entzieht sich auch durch ständigen Wandel immer wieder den Kategorien, mit denen die Sozialwissenschaften ihn zu erschließen versuchen. So kennen Soziologen wenig Erkenntnisfortschritte. Sie können allenfalls hoffen, durch ständige Überprüfung ihrer Fragestellungen, Theorien und Methoden ihrem flüchtigen Gegenstand auf den Fersen zu bleiben. Und wenn es stimmt, dass die Städte Kristallisationspunkte und Ferment des sozialen Wandels sind, dann hat die Stadtsoziologie unter solch unerwünschter und unentrinnbarer Jugendlichkeit besonders zu leiden. Soziologische Zeitdiagnosen fordern in diesem Sinn ständig dazu heraus, Fragestellungen, Kategorien und Methoden zu reformulieren. In dieser Ab-

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Martin Kronauer, Walter Siebel und Uwe-Jens Walther

sicht versuchen wir, die Forschungsarbeiten von Hartmut Häußermann weiter zu treiben. Von den zentralen Themen, die Häußermann in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gestellt hatte, wird sich die Stadtsoziologie allerdings auf absehbare Zeit nicht abwenden können: den Zusammenhängen von Stadt und sozialer Ungleichheit. Ganz im Gegenteil, diese Themen gewinnen mehr und mehr Relevanz. Soziale Ungleichheit in unterschiedlichen Erscheinungsformen nimmt auch in den europäischen Städten zu. Deren Analyse ist seit mehreren Jahrzehnten durch drei zentrale Kategorien gekennzeichnet: Ungleichheit im engeren Sinn, Polarisierung und Ausgrenzung. Ihre Bedeutung, so unsere Überzeugung, wird in Zukunft eher zunehmen als nachlassen (Abschnitt I). Hartmut Häußermann hat aber nicht nur Problemdiagnose betrieben und die Suche nach Antworten darauf anderen überlassen. Ganz im Gegenteil, ihn interessierte ebenso, welche Gegenkräfte sich bilden, und auf welche Ressourcen und Potenziale eine sozial verantwortliche Stadtpolitik zurückgreifen könnte, um die, wie er es genannt hat, »Integrationsmaschine Stadt« funktionsfähig zu halten (Abschnitt II). Schließlich interessierte ihn, welche Handlungsspielräume der kommunalen Politik überhaupt verbleiben angesichts der Tendenzen zur Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung (Abschnitt III). All das waren zentrale Interessen seiner von ihm immer auch politisch verstandenen Forschung. Wir versuchen in den drei Abschnitten dieses Beitrags deren anhaltende Relevanz zu begründen. Das Folgende ist der Versuch, ausgehend von den drei Kategorien Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung Perspektiven zu formulieren, die diese forschungsleitenden Interessen fortführen, aber eben auch nur diese. Mit solcher Beschränkung wird bewusst der Blick verengt. Wir sprechen nur einen Ausschnitt relevanter Themen künftiger stadtsoziologischer Forschung an. Um ein Beispiel zu nennen: Das Geschlechterverhältnis ist tief in die Struktur der Stadt eingeschrieben und wird durch diese wiederum bestätigt. Wenn es im Folgenden keine zentrale Rolle spielt, soll und kann damit nicht bestritten werden, dass gerade Stadtsoziologen, männlichen wie weiblichen Geschlechts, die sich mit den Zusammenhängen von Stadt und sozialer Ungleichheit beschäftigen wollen, im Verhältnis von Stadt und Geschlecht ein zentrales Forschungsthema finden werden. Und noch in einem zweiten Sinn ist der Anspruch zurückgenommen: Im Folgenden wird vieles gefordert, z. B. mehr Längsschnittstudien und Mehrebenenanalysen, was immer wieder gefordert und in manchen Ansätzen immer wieder versucht worden ist. Nur leider sind solche Anforderungen an die Stadtforschung immer noch aktuell. Also verschweigen wir sie auch hier nicht.



Wie könnte es weitergehen?

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1. Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung Soziale Ungleichheit lässt sich in einer Vielzahl möglicher Dimensionen beobachten: Macht, Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Vermögen etc. Außerdem können mit wachsender sozialer Ungleichheit sehr unterschiedliche strukturelle Veränderungen verbunden sein. In der Stadtsoziologie kreisten die Diskussionen der letzten Jahrzehnte über mögliche Veränderungen sozialer Ungleichheit um wachsende Ungleichheiten in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildung, um den Begriff der Polarisierung und um den der Ausgrenzung. Sollen diese begrifflichen Unterscheidungen für empirische Forschung fruchtbar sein, so müssen mit ihnen unterschiedliche Hypothesen über mögliche neue Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in Städten verbunden werden. In der Realität können sich diese unterschiedlichen Tendenzen zwar überlagern und tun das auch in der Regel, doch kann für eine genauere Beschreibung des Wandels der städtischen Sozialstrukturen der Versuch hilfreich sein, rein analytisch zwischen den drei Kategorien genauer zu differenzieren. Ungleichheit im engeren Sinn: Wenn von wachsender Ungleichheit gesprochen wird, so wird meist unterstellt, es handele sich bei den beobachtbaren Veränderungen vornehmlich um ein Auseinanderrücken von Oben und Unten, um eine Spreizung der sozialen Skala, ablesbar z. B. an der wachsenden Distanz zwischen hohen und niederen Einkommen, einer immer ungleicheren Verteilung der Vermögen und an zunehmend ungleichen Chancen im Bildungssystem. Das soll hier als Ungleichheit im engeren Sinne bezeichnet werden. Entsprechende Entwicklungen können in den Begriffen gesellschaftlicher Schichtung gefasst werden. Diese Annahmen stützende Befunde würden z. B. belegen, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher geworden sind, nicht aber die Zahl der Armen und die der Reichen zulasten der mittleren Einkommen gestiegen ist. Das Ausmaß sozialer Ungleichheit hat sich verändert, nicht aber deren Struktur. Die Veränderungen sind solche der Quantitäten, nicht der Qualitäten. Die Gültigkeit einer Beschreibung der Gesellschaft als einer Mittelschichtsgesellschaft ist nicht grundsätzlich infrage gestellt. Mit zunehmender Ungleichheit stellen sich politisch in erster Linie Fragen der Verteilungs-und Chancengerechtigkeit. Polarisierung: Mit Polarisierung soll hier dagegen ein grundsätzlicher Wandel der Sozialstruktur verstanden werden: Im Verlauf von Polarisierungsprozessen verliert die Mittelschicht ökonomisch, sozial und politisch an Bedeutung. Die Bevölkerung konzentriert sich auf einen Pol oberhalb

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und einen unterhalb des Mittelwerts der sozialen Skala. Polarisierung verläuft nicht notwendig parallel zu sozialer Ungleichheit im engeren Sinn. Im Gegenteil kann Polarisierung mit sinkender oder steigender Ungleichheit verbunden sein, je nachdem wie weit die beiden Pole jeweils vom Mittelwert entfernt sind. Entscheidend bei Polarisierung ist vielmehr die Stärkung der Extreme bei Schwächung der Mittellagen. Das vielfältig differenzierbare Bild einer mehr oder weniger kontinuierlichen Hierarchie sozialer Schichten wird im Prozess der Polarisierung abgelöst durch eine duale Struktur, wobei die Mittelschicht schwindet (Koll-Schretzenmayr u. a. 2009: 2733). Damit stellen sich bei Polarisierung vor allem Fragen der politischen Stabilität. Ausgrenzung: Der dritte Begriff Ausgrenzung unterstellt ebenfalls qualitative Veränderungen der Sozialstruktur, nämlich den Ausschluss bestimmter sozialer Gruppen von gesellschaftlicher Teilhabe im ökonomischen System (dauerhafte Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt), im politischen System (versagte oder auch nicht in Anspruch genommene soziale und politische Bürgerrechte), im sozialen System (soziale Isolation) und im kulturellen System (ohne Zugang zu den kulturellen Institutionen der Gesellschaft bzw. ohne die Möglichkeit, die in einer Gesellschaft weit geteilten Lebensziele zu verwirklichen). Ausgrenzung ist sowohl der Zustand der versagten Teilhabe in einem gesellschaftlichen Subsystem wie eine gerichtete Bewegung, in deren Verlauf Ausgrenzungen von einem Subsystem auf andere »überspringen« und Menschen zusammen mit ihren Räumen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden – darauf stellt der Begriff Ghetto ab –, aber niemals über diesen Rand hinaus in ein Außerhalb der Stadt oder gar der Gesellschaft. Mit dem Begriff der Ausgrenzung wird betont, dass diese Gruppen in den gesellschaftlichen Teilsystemen nur als Objekte fungieren, weshalb es ihnen auch kaum gelingt, Teilhabe erfolgreich einzufordern. Sie sind Teil der Gesellschaft, haben aber nicht oder kaum teil an ihr. Anders als das Proletariat in der Marxschen Theorie werden die Ausgegrenzten nicht einmal mehr ausgebeutet. Sie erscheinen in jedem Sinn des Wortes als überflüssig. Mit Ausgrenzung stellen sich vor allem Fragen der Integration oder Inklusion. Diese Differenzierung der drei Begriffe kann für die Stadtforschung fruchtbar gemacht werden, weil sie sich in unterschiedliche sozialräumliche Strukturen der Städte übersetzen lassen und weil sie unterschiedliche Konsequenzen für die Integration städtischer Gesellschaften haben. Wachsende Ungleichheit im engeren Sinn führt zu immer krasseren Unterschieden zwischen Reichtums- und Armutsvierteln, ohne dass deren Zahl und Ausdehnung zunehmen müsste. Aber die Ungerechtigkeit in der Verteilung des



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gesellschaftlichen Reichtums kann dadurch auf eine für die weiterhin entscheidenden Mittelschichten unerträgliche Weise sichtbar werden und so vielleicht sogar Akte solidarischer Stadtpolitik stützen. Die mit dem Begriff der Polarisierung beschriebenen Tendenzen übersetzen sich dagegen in die sozialräumliche Struktur der Stadt als Dualisierungs- oder Spaltungsprozesse. So kann eine Polarisierung der Einkommen über kurz oder lang auf den städtischen Wohnungsmarkt durchschlagen: Die Zahl der sozial gemischten Quartiere mittlerer Preislage ginge zurück zugunsten von luxuriös aufgewerteten, gentrifizierten Quartieren an bevorzugten Standorten für die auf dem wohlhabenden Pol einerseits, und heruntergekommenen Vierteln an peripheren und umweltbelasteten Standorten für die am entgegengesetzten Pol andererseits. Schärfere Abgrenzungen bis hin zu gated communities könnten in einer solchen Stadt mehr politischen Appeal entwickeln als Akte solidarischer Stadtpolitik. Ausgrenzungsprozesse schließlich können durch Teufelskreiseffekte in Gang gesetzt werden, in deren Verlauf ein Quartier mit seinen Bewohnern zunehmend aus den funktionalen Verflechtungen der Stadt herausfällt: Wenn z. B. in einem benachteiligten Gebiet die Kaufkraft sinkt, so kann in deren Folge das Dienstleistungs- und Warenangebot eingeschränkt werden, die Banken werden zurückhaltend bei der Vergabe von Krediten, was die Eigentümer veranlasst, noch weniger oder gar nicht mehr in ihre Bestände zu investieren, das Gebiet verkommt auch äußerlich, was Haushalte, die sich Mobilität leisten können, zu Fortzügen motiviert. Wenn im Zuge solcher Entwicklungen insbesondere durch den Wegzug der Bessergestellten der Anteil der armen Kinder aus bildungsfernen Schichten in den örtlichen Schulen zunimmt, so ist das immer häufiger Anlass für weitere Fortzüge. Zurück bleibt im Zuge passiver Segregation eine benachteiligte Bevölkerung in einem Gebiet, was eigenständige, zusätzliche Benachteiligungen z. B. im Bildungssektor bewirkt. Es gibt empirische Hinweise sowohl auf eine Spreizung der Einkommensverteilung, also auf zunehmende Ungleichheit im engeren Sinn, wie auf Polarisierung und Ausgrenzung in westdeutschen Städten. Goebel, Gornig und Häußermann (2012) haben bei der Einkommensverteilung in deutschen Stadtregionen Polarisierungstendenzen nachgewiesen. Je nach regionaler Beschäftigungsentwicklung in der Industrie und den Dienstleistungen fällt sie allerdings unterschiedlich stark aus. Was aber bedeutet dies in sozialstruktureller Hinsicht über die Verteilung der Einkommen hinaus? Man könnte von einer Wiederkehr des Marxschen Klassenmodells und der gespaltenen Stadt des 19. Jahrhunderts, wie sie Engels am Beispiel von Manchester be-

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schrieben hat, sprechen, wenn die Ursachen nicht auch andere wären. Das Marxsche Zwei-Klassen-Modell beruhte auf der Polarität von Arbeit und Kapital. Polarisierung scheint heute auf eine zunehmende Spaltung zwischen ökonomisch, sozial und sozialstaatlich mehr oder weniger Integrierten und aus der Gesellschaft Ausgegrenzten hinzuweisen. Diese Spaltung wird durch negative Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung der Arbeitsmärkte (vgl. den Beitrag von Gornig/Goebel), dem Bildungssystem (vgl. die Beiträge von Hamnett und Baur), Diskriminierung, subjektiven Dispositionen, den sozialräumlichen Strukturen der Städte (vgl. den Beitrag von Préteceille) und einer neoliberalen Stadtpolitik (vgl. den Beitrag von Güntner/Walther) vorangetrieben. Ob sich soziale Ungleichheit im engeren Sinn verschärft und/oder Prozesse der Polarisierung zu beobachten sind, ob dies mit Ausgrenzung einhergeht, und wie diese Prozesse jeweils mit der Stadtstruktur vermittelt sind, werden zentrale Fragen der Stadtforschung bleiben. Angesichts der Spaltung zwischen den Städten ist aber von wachsender Bedeutung, ob die Begrifflichkeiten von Ungleichheit im engeren Sinn, respektive Polarisierung und Ausgrenzung, auch auf die Unterschiede zwischen schrumpfenden, stagnierenden und prosperierenden Städten gleichermaßen passen. Gornig/Goebel beschreiben in ihrem Beitrag ausgeprägte Prozesse der Verarmung in ostdeutschen Regionen, während Polarisierung bislang eher in westdeutschen Städten zu beobachten ist. Künftige Stadtforschung wird, das wäre ein erstes Desiderat, mehr noch als bisher unterschiedlichen Entwicklungspfaden der Städte Rechnung tragen müssen. Es wird zu den zentralen Aufgaben der Stadtforschung gehören, diese Prozesse und ihre möglichen Wechselwirkungen zu untersuchen. Dazu aber sind Verläufe nachzuverfolgen, also Veränderungen im Zeitablauf. Eine gültige Beschreibung sozialer Zustände jenseits der Zeitachse ist nicht möglich. Verlaufsanalysen mögen zwar state of the art in der Soziologie sein, nicht jedoch in der Stadtforschung – aus den verschiedensten Gründen, nicht zuletzt weil interessierende Daten nicht in Zeitreihen vorliegen. Dass Längsschnittstudien so rar sind, ist besonders misslich, da Thesen wie die wachsender Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung erst recht nicht ohne zeitliche Perspektive zu überprüfen sind, schließlich beinhalten sie Aussagen über Veränderungen im Zeitablauf. Dass soziale Zustände immer eine Vergangenheit und eine Zukunft haben, ohne die sie nicht angemessen begriffen werden können, gilt erst recht für die Analyse von städtischen Quartieren. Der Status quo eines Quartiers ist ein anderer, wenn der Zustand quo ante, etwa



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an ökonomischen Kriterien bemessen, schlechter oder besser war. Im ersten Fall kann sich das Quartier in einem Aufwärts- oder Gentrifizierungsprozess befinden, in letzterem einer Dynamik der Ausgrenzung unterliegen. Das von Häußermann und seinen Kollegen für Berlin entwickelte Monitoring-System erlaubt zum ersten Mal entsprechende systematische Forschungen über längere Zeiträume hinweg, allerdings nur deskriptiver Art. Wir brauchen Konzepte und theoretische Ansätze, die Stadt und Stadtteile als dynamische soziale Prozesse verstehen und erklären können. Wenn städtische Quartiere dynamische soziale Gefüge sind und keine festen Zustände, dann müssen sie auch als solche untersucht werden. Das wäre ein zweites Desiderat. Will man Ausgrenzungsprozesse beschreiben, muss man Karrieren von Stadtquartieren und sozialen Gruppen beschreiben. Lassen sich dabei negative Karrieren ausmachen, die durch die oben genannten Teufelskreiseffekte vorangetrieben werden, kann von Prozessen der Ausgrenzung gesprochen werden. Solche Quartiere findet man an unattraktiven Standorten der Peripherie oder auch als Enklaven in der zone of transition. Häufig handelt es sich nur um einzelne Straßenblocks oder Gebäude. In diesen Räumen können sich Kontext‑ oder Nachbarschaftseffekte ergeben, die eigenständige zusätzliche Benachteiligungen zur Folge haben. Dort fungiert Stadt nicht nur als Ort, wo Ungleichheit erscheint, sondern als eine weitere Ursache sozialer Ungleichheit. Solche Kontexteffekte hat in Deutschland als einer der ersten Andreas Farwick (2004) empirisch nachgewiesen am Beispiel von Bremer und Bielefelder Stadtquartieren mit hohen Anteilen von Haushalten, die von Transferzahlungen leben. Diese Frage der Kontext- und Nachbarschaftseffekte in den Quartieren zu klären, ist generell schwierig und kontrovers (zuletzt Friedrichs 2013; für die USA Sampson 2012). Die häufig angeführten negativen Kontext- oder Nachbarschaftseffekte in den Quartieren der Ausgrenzung, die zu einer Erblichkeit von Ausgrenzung beitragen sollen, beruhen bisher mehr auf Vermutungen als auf verlässlich nachgewiesenen Wirkungsketten. Von welchen Faktoren hängt es ab, ob der Bewohner eines problematischen Quartiers den Aufstieg in die Mittelschicht schafft, welche Rolle spielen dabei das Milieu des Quartiers oder die Qualität des zuständigen Arbeitsvermittlers oder des Lehrers, und muss er dazu das Quartier verlassen? Bislang sind solche Untersuchungen äußerst selten. Hier wird viel vermutet und noch nicht viel sicher gewusst. Um solchen Fragen in der Forschung nachgehen zu können, sind – ein drittes Desiderat – Mehrebenenanalysen stärker als bisher nötig, welche die Verbindung von individualbiographischen, gebietsbezogenen Daten und relevanten Rahmenbedingungen

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wie Arbeitsmarktentwicklung, konjunkturelle Effekte usw. herstellen können. Darüber hinaus wäre auch ein Ansatz notwendig, der die Entwicklung eines bestimmten Ortes in seiner Relation zu anderen Räumen der Stadt, bzw. einer Stadt in ihrer Stellung innerhalb der urbanen Hierarchie, zu thematisieren erlaubt, was bisher nur ansatzweise gelungen ist. Quartiere entwickeln sich in negative oder in positive Richtung, aber die Ursachen sind nicht zuletzt aus ihren funktionalen Verflechtungen mit der Gesamtstadt zu verstehen. Auch kann, was als positive oder negative Karriere eines Quartiers anzusehen ist, nicht allein aus Veränderungen in Bezug auf einen Mittelwert, also als Veränderung von Relationen bestimmt werden – die Abhängigkeit von Transferzahlungen steigt in einem Quartier schneller als in der Gesamtstadt –, sondern ebenso als Veränderung in den funktionalen Zusammenhängen der Stadt: Die unliebsamen Bewohner und Nutzungen werden in bestimmte Quartiere abgeschoben, das Quartier erhält mehr und mehr Entsorgungsfunktionen für den Rest der Stadt. Auf ähnliche Weise sind die Kriterien zu klären, was als negative respektive positive Entwicklung eines Quartiers überhaupt zu bezeichnen wäre. Dass ein Quartier ökonomisch und sozial aufgewertet wird, geht einher mit vielfältigen materiellen und infrastrukturellen Verbesserungen. Es wäre fragwürdig, diese Aufwertung ohne weiteres als positive Entwicklung zu deuten, wenn sie – wie so häufig – mit Verdrängungseffekten verbunden ist oder auch nur das Marktsegment erschwinglichen Wohnraums verengt. Aber die Verbesserung der sozialen und Bildungsinfrastruktur, der verkehrlichen Anbindung, des Gebäudezustands und der Gebäudeausstattung im Rahmen eines sozial verantwortlichen Modernisierungsprogramms ohne Mietpreiseffekte und Austausch der Bevölkerung wiederum könnte mit guten Argumenten als Indiz für eine positive Entwicklung des Quartiers bezeichnet werden. Den funktionalen Verflechtungen und Nebenwirkungen innerhalb der Stadt sollte – ein viertes Desiderat – bei der Analyse von Quartiersentwicklungen z. B. im Rahmen des Programms Soziale Stadt mehr Beachtung geschenkt werden. Fragen wie diese stehen in einer nahezu hundertjährigen Tradition der Stadtsoziologie. Die Disziplin interessiert sich seit der Geburtsstunde der »Chicagoer Schule der Soziologie« für die Verteilung verschiedener Nutzungen in der Stadt (funktionale Segregation) und die Sortierung sozialer Gruppen in unterschiedliche Teilräume einer Stadt (sozialräumliche Segregation). Die Konzentration verschiedener sozialer Gruppen in unterschiedlichen Territorien der Stadt folgt nicht nur der Logik sozialer Schichtung, sondern



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auch den Differenzen von Milieus und Lebensstilen (vgl. die Hannoveraner Milieu-Studien, Vester u. a. 2001) und Lebenszyklen (vermittelt etwa über die höhere Relevanz räumlicher Nähe für Familien mit kleinen Kindern und alte Menschen). Speziell das Phänomen der Wohn‑ bzw. residentiellen Segregation wird nicht erst seitdem als Ausdruck und Faktor sozialer Ungleichheit betrachtet. Schon Engels widmete ihr ein ausführliches Kapitel über »Die großen Städte« in seiner »Lage der arbeitenden Klassen in England«. Erst die Chicagoer Schule führte jedoch Begrifflichkeiten ein, die den dynamischen Charakter des Wandels von Stadtquartieren über die Zeit beschreiben und erklären sollten: Invasion, Sukzession, Domination – Begriffe, die noch unser heutiges Verständnis von sozialräumlichen Veränderungen in Städten implizit leiten. Noch heute gilt, dass Haushalte mit geringem ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital in die weniger attraktiven Stadträume abgedrängt oder dort zurückgelassen werden. Dort finden sie schlechter Zugang zu urbanen Ressourcen, Arbeitsmöglichkeiten und sozialen Kontakten, die Aufstiegsmöglichkeiten vermitteln. Diese konzeptionelle Rahmung des Begriffes der residentiellen Segregation muss heute kritisch überprüft und erweitert werden. Denn wenn die Stadtsoziologie untersucht, welche Gruppen welche städtischen Räume gemeinsam bewohnen und welche anderen Gruppen ferngehalten werden, so wird implizit unterstellt, räumliche Trennungen der Wohnorte seien auch soziale Trennungen von Lebenssphären. Umgekehrt würde die gemeinsame Nutzung eines Raums als Wohnort seitens verschiedener sozialer Gruppen die Kontakte zwischen diesen Gruppen fördern. Soweit dazu Untersuchungen vorliegen, bieten sie nur sehr schwache Belege für solchen Integrationsoptimismus durch Nachbarschaft. Physische Nähe ist notwendige Voraussetzung für bestimmte Kontaktformen: Wer sich prügeln oder umarmen möchte, muss sich nahekommen. Aber die physische Nähe allein erlaubt keine Prognose über den Ausgang der Begegnung. Der hängt allein von den sozialen Umständen ab, unter denen Nähe zustande kommt. Vor allem angesichts der gestiegenen Mobilitätschancen ist die Gleichsetzung von physischer mit sozialer Nähe heute noch fragwürdiger als früher. Die Stadtsoziologie verfehlt dadurch womöglich die effektivste und zugleich die unsichtbarste und am wenigsten politisch steuerbare Form der Abschottung sozialer Gruppen gegeneinander, nämlich die Separierung von Lebenssphären in der zeitlichen Dimension und organisiert über Mobilität. Allein der normale tägliche Aktionsradius und -raum in der Region mag das

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verdeutlichen. Man wohnt zwar in einem sozial gemischten Gebiet, aber zur Arbeit fährt man in eines der Hochhäuser der innerstädtischen Geschäftsund Verwaltungsviertel. Die Kinder werden täglich mit dem Auto in die nächste internationale Schule transportiert, Einkäufe erledigt man in einem peripheren Einkaufszentrum, zum Genuss-Shoppen sucht man die 1A-Lagen der Innenstadt auf, seine Freizeit verbringt man in der Oper oder im Ferienhaus, und weil man seine Freunde in der ganzen Region sucht, findet man leichter solche, die auch wirklich zu einem passen. Schon die Soziologen der Chicagoer Schule hatten auf dieses Phänomen funktionaler, an bestimmte Tageszeiten gebundener Segregation von Lebenssphären aufmerksam gemacht. Aber empirisch ist darüber seit den Studien der Chicagoer Schule wenig geforscht worden, nicht zuletzt wohl auch, weil die relationalen Daten dafür eigens erhoben werden müssten. In diesem Sinne aber wären auch neuere Phänomene zu untersuchen, wie z. B. das multilokale Wohnen bei Deutschen oder bei transnationalen Migranten, etwa bei Polen, die sich nur saisonweise in Deutschland aufhalten, oder bei türkischen Migranten, die regelmäßig ihr Herkunftsland aufsuchen und ihre heranwachsenden Kinder dorthin zurückschicken. Mehr Untersuchungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen temporärer Segregation wäre ein fünftes Desiderat, denn eine Segregationsforschung, die solche Phänomene nicht erfasst, reicht angesichts der temporären Segregation von Lebenssphären auch konzeptionell immer weniger weit. Segregation ist schließlich auch ein zutiefst ambivalentes Phänomen (Häußermann/Siebel 2007). Das bloße Phänomen der Segregation lässt sich erst dann angemessen beschreiben (und politisch beurteilen), wenn dabei mindestens folgende Differenzierungen über die Art und Weise des Zustandekommens von Segregation gemacht werden. Zu unterscheiden ist nach: –– Aktiv/Passiv: aktive Segregation (durch Abwanderung) und passive Segregation (durch Zurückbleiben der nicht Mobilitätsfähigen); –– Freiwilligkeit/Zwang: erzwungene (durch Verdrängung, administrative Zuweisung oder Diskriminierung) und freiwillige Segregation, wobei die besonders feinkörnigen Formen sich bei freiwilliger Segregation ergeben können; –– Lebenszyklus: z. B. bei solchen Gruppen, die aufgrund ihrer Lebenssituation ein Interesse an engen nachbarlichen Beziehungen haben und zugleich über die Mittel verfügen, solche Nachbarschaften aufzusuchen oder sogar ins Leben zu rufen.



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Formen sozial funktionaler aber hoch ambivalenter Segregation finden sich z. B. im universalen Phänomen der ethnischen Kolonien von Migranten in Zuwanderungsstädten. In ihnen überlagern sich zumindest in den europäischen Städten Prozesse freiwilliger, sozial funktionaler und erwünschter mit solchen erzwungener und passiver, nicht intendierter Segregation. Zuwanderer suchen die Nachbarschaft von Ihresgleichen als erste Anlaufstation in der Fremde, als Brückenkopf vertrauter Heimat und als Netz informeller Hilfen. Doch sie werden durch die Filter des Wohnungsmarkts und durch Diskriminierung auch dorthin gedrängt. Ziehen sie sich, häufig in Reaktion auf gescheiterte Integrationsversuche, resignativ in die enge Welt der Kolonie zurück, kann diese zur Falle werden. Das wäre auch eine »Wahl«, aber eine, die mit der Identifikation eines eigenen Orts in der Stadt die Relevanz anderer Orte für sich ausschließt und so die nachhaltige soziale Integration in die Stadt bedrohen kann. So offensichtlich sie inzwischen sind, so selten sind diese Ambivalenzen in der Stadtsoziologie bislang untersucht. In der politischen Diskussion werden sie weitgehend missachtet – nicht zuletzt, weil Politik mit Ambivalenzen wenig anzufangen weiß. Sie sind wenig informativ für Handlungsstrategien. Aber das ist nicht der einzige Grund für die Schwierigkeiten, Erkenntnisse der Stadtsoziologie in politische Handlungsempfehlungen umzuformulieren. Zu Recht betont die Soziologie in ihren Analysen von sozialräumlicher Segregation die engen Verflechtungen sozialer und physischer Faktoren, aus denen Prozesse der Ausgrenzung entstehen (Kronauer 2010). Aber daraus können nicht ohne weiteres Empfehlungen für die Stadtpolitik abgeleitet werden. Die analytischen Kategorien, mit denen die Soziologie ihren Gegenständen näher zu kommen sucht, sind nicht bruchlos in politische Interventionen zu übersetzen. Ein sechstes Desiderat läge in der Wiederholung einer alten Forderung von Hans Paul Bahrdt: Die Soziologie müsse immer mehr antworten, als sie gefragt wurde.

2. Potenziale und Gegenkräfte Angesichts der Vielzahl möglicher Wechselwirkungen, die sich zwischen den Veränderungen der räumlichen und sozialen Strukturen der Städte ergeben können, stellen sich grundsätzliche Fragen der Integration und einer auf Integration gerichteten Stadtpolitik, die weit über das hinausgehen, was bisher

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im Zusammenhang mit der Zuwanderung in die deutschen Städte diskutiert wird. Wenn wir davon ausgehen, dass die europäischen Städte neue Konstellationen der sozialen, ökonomischen und kulturellen Ungleichheiten ausdrücken, dann stellt sich die Frage, ob diese neuen Konstellationen die Stadtsoziologen auch einladen, wenn nicht zwingen, neue Perspektive zu entwickeln, die diese Konstellationen begrifflich deuten, empirisch verstehen und sozialpolitisch kritisch diskutieren können. Um den Blick auf solche neuen Konstellationen zu schärfen, darf sich die Stadtsoziologie nicht länger auf die Kumulation von Krisen als Zentralperspektive ihrer Analysen beschränken. »Die Formel von der ›Krise der Stadt‹ ist schon so abgeklappert, dass man sie kaum noch zu gebrauchen wagt«, haben Häußermann/Siebel schon 1978 geschrieben. Liest man die seitdem erschienenen Beiträge kritischer Stadtforschung, so war immer Krise, wenn sie auch ihr Gesicht geändert hat: Zunächst schrumpfte die ökonomische Basis der Städte und die Suburbanisierung überließ den Städten die Armen, die Alten und Ausländer; heute geht der Trend zurück in die Stadt, aber damit werden die Innenstädte von den Gentrifizierern erobert und die Schwachen verdrängt, die Handlungsspielräume kommunaler Politik verengen sich, der öffentliche Raum wird privatisiert und die urbane Kultur instrumentalisiert für die Förderung der Wirtschaft. Es ist hier hilfreich, daran zu erinnern, dass soziologisches Interesse sich nie allein in der Frage erschöpfte, was in der Gesellschaft auseinander-, aber auch vorantreibt, sondern Soziologie immer auch einen zweiten Fluchtpunkt hatte: die Frage, was die Gesellschaft zusammen hält. Wenn die kritische Stadtsoziologie sich bislang meist auf krisenhafte Phänomene konzentriert hat – wäre es dann nicht an der Zeit, dass sie daneben auch nach den Faktoren fragt, die die deutschen Städte trotz all dieser Krisen funktionsfähig gehalten haben? Einige Fragen drängen sich unmittelbar auf: Wenn in manchen Städten bereits 40 Prozent der Bewohner Migrationshintergrund haben, weshalb gibt es dann hier weniger Konflikte als in französischen, englischen oder amerikanischen Städten? Auch eingedenk der NSU-Morde gilt: Was befähigt eine Gesellschaft, noch dazu eine, in der ein eliminatorischer Rassenwahn zwölf Jahre lang an der Macht war, doch vergleichsweise so gelassen mit so viel Fremdheit umzugehen? Wenn sich der Handlungsspielraum kommunaler Politik stetig verengt, wieso funktionieren die Städte immer noch? Die Stadtsoziologie wird sich mehr mit den Entwicklungen befassen müssen, die zur Stabilisierung der Stadtgesellschaften beitragen, und mit den Potenzialen und Gegenkräften, auf die sich eine solidarische



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Stadtpolitik stützen könnte. Dieses siebte Desiderat könnte der Stadtsoziologie dazu verhelfen, ein gültigeres Bild städtischer Tendenzen des Wandels zu zeichnen. Nun gibt es genügend Gründe, das alte Lied von der Krise der Städte heute noch lauter anzustimmen, nicht zuletzt die Finanzkrise, die wohl kaum ohne tiefgreifende Folgen für die Kommunen bleiben wird, abgesehen von jenen, die bereits für die Gemeinden eingetreten sind, die sich auf Cross‑Border‑Leasing-Geschäfte eingelassen hatten. Aber indem die Stadtsoziologie sich auf die andere Ursprungsfrage der Soziologie besinnt, was eine Gesellschaft zusammenhält, könnte sie die eigenen Krisendiagnosen kritisch überprüfen und so die Validität ihrer Konzepte verbessern. Darüber hinaus würde sie mit ihren Erkenntnissen eine präventive Stadtpolitik informieren, die tätig wird, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Stabilität einer Gesellschaft ist kein Wert an sich. Offenkundig können auch die repressivsten Diktaturen von erstaunlicher Dauerhaftigkeit sein. Doch was hält eine demokratische Gesellschaft und ihre Städte zusammen angesichts ihrer sozialen und ökonomischen und politischen Krisen? International vergleichende Studien darüber, warum es in den deutschen Städten bislang so erstaunlich ruhig geblieben ist, fehlen. Grundsätzlich zwingt diese Perspektivenerweiterung, systematisch Fragen nach den möglichen Ressourcen zu stellen, auf die eine Politik gegen die Spaltung der Stadt zurückgreifen könnte, und nach möglichen Potenzialen und Gegenkräften, die eine andere Entwicklung in den Städten ermöglichen würden: Gibt es Potenziale, die die seit längerem zu beobachtenden Tendenzen zur Spreizung der Einkommens- und Vermögensverteilung mildern oder aufhalten könnten (also für eine Stadtpolitik gegen soziale Ungleichheit), die die Mittelschicht gegen ihr Schrumpfen mobilisieren könnte (also für eine Stadtpolitik gegen Polarisierung) und für einen beruflichen Einstieg der niedrig Qualifizierten sorgen könnte, ohne dass dies nur in neue Sackgassen führte (also für eine Stadtpolitik gegen Ausgrenzung)? Hillmann und Läpple beispielsweise argumentieren in diesem Band, dass ethnische und lokale Ökonomien von der städtischen Wirtschaftspolitik häufig unterschätzte Potenziale bieten. Sie könnten auch von der kommunalen Politik genutzt werden, um die Integration der an den Rand Gedrängten zu unterstützen. Ein weiteres Potenzial könnte die seit längerem diskutierte Renaissance der Kernstädte sein. Indizien dafür sind steigende Einwohnerzahlen, mehr Arbeitsplätze und höhere Steuereinnahmen. Erklärt werden diese Tendenzen mit dem ökonomischen Strukturwandel zur Dienstleistungs- und Wissensökonomie

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sowie damit einhergehend einer Entgrenzung von Arbeit und Leben, was beides die Städte begünstigt (Läpple), mit der Nachfrage seitens der »creative class« nach urbanen Qualitäten (Florida) und mit der Erosion der traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die ein karriere‑ und berufszentriertes Leben nur noch in der Dienstleistungsmaschine Stadt ermöglicht (Siebel). Allerdings sind dies Tendenzen, die vorwiegend hochqualifizierte und gut verdienende Arbeitskräfte in die Städte ziehen und damit jene Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozesse befeuern, welche die sozialräumlichen Spaltungen der Stadt vertiefen. Außerdem ist der ökonomische Strukturwandel neben einer neoliberalen Politik der entscheidende Grund für die Ausdehnung eines Niedriglohnsektors und die Polarisierung der Einkommensverteilung. Wie belastbar wird angesichts solch zweischneidiger Renaissance das integrative Potenzial der Sozialbeziehungen in den Städten sein? Noch enger formuliert: Was leisten Städte selber, also jenseits von Arbeitsteilung, Verwandtschaftssystemen, religiösen Gemeinden und anderen gesellschaftlichen Integrationsfaktoren zur Integration? Städte werden, anders als traditionelle Dorfgemeinschaften, nicht durch Homogenität integriert, sondern durch ihre Fähigkeit, mögliche Konflikte zu de-thematisieren und erträglich zu machen. Sie leisten das durch zwei Mechanismen, die beide darauf beruhen, Distanz herzustellen. Zum einen ist es die (individuelle) Integration durch urbane Verhaltensweisen. Georg Simmels gelernter Städter hält sich mit Gleichgültigkeit, Blasiertheit, Distanziertheit und Intellektualität nicht nur die Unannehmlichkeiten ständiger Begegnungen mit Fremdheit im öffentlichen Raum der Stadt vom Leib, sondern auch die möglicherweise noch beunruhigenderen Einsichten in »das Elend und den Schmutz […], die das ergänzende Moment zu [seinem] Reichtum und Luxus bilden« (Engels 1970: 71). Hier liegt das integrative Potenzial in den Individuen und den sozialen Formen des Umgangs, die sie erzeugen. Zum anderen ist es die (kollektive) Integration über Segregation, welche bereits die Chicago Schule beschäftigte: Die segregierte Stadt übersetzt die sozialen Distanzen in räumliche Distanzen und begrenzt so die Gelegenheiten für potentiell konflikthafte Begegnungen. Hier liegt das integrative Potenzial in der Stadtstruktur selbst. Beide Male handelt es sich allerdings nur um eine negative Voraussetzung gelingender Integration, nämlich die Vermeidung von Konflikten. Weitgehend ungelöst sind die Fragen danach, was darüber hinaus etwa der öffentliche Raum der Stadt als ein spezifisch städtisches Phänomen positiv zur Integration beitragen könnte. Einschränkend ist zusätzlich zu bedenken, dass beide Mechanismen, sowohl der individuelle als auch der kollektive, in der Stadtstruk-



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tur angelegte, vielleicht zu schwach sind angesichts der heutigen städtischen Konflikte. Häußermann (1995) hat schon in seiner Berliner Antrittsvorlesung die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen benannt, unter denen die urbane Mentalität, wie sie Simmel beschrieben hatte, möglich ist, und darauf hingewiesen, dass diese Voraussetzungen für immer weniger Städter gegeben sind. Polarisierung im Sinne einer schrumpfenden Mittelschicht würde also die integrativen Potenziale der Städte schwächen. Ähnliches gilt, wenn die soziale Ungleichheit ein bestimmtes Maß übersteigt. Die Ausbrüche von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei in benachteiligten und benachteiligenden Quartieren französischer und englischer Städte machen deutlich, dass Segregation ihre konfliktvermeidende Funktion einbüßt, wenn sie nicht gar konfliktverschärfend wirkt. Deutsche Städte sind zudem von überschaubarer Größe, also bleibt auch die segregierte Armut immer noch schwer zu übersehen. Die Abschottung funktioniert vielleicht auch deshalb immer seltener, weil im Zuge der Polarisierung Prekarität auch in Mittelschichtsfamilien erfahrbar wird, nicht zuletzt am Schicksal der Kinder, die trotz erworbenen kulturellen Kapitals es nicht mehr schaffen, den Status der Eltern zu halten. Wie verteidigt sich die Mittelschicht gegen ihre Gefährdungen im Zuge der Polarisierung? Durch den Rückzug in geschützte und hoch segregierte Enklaven (vgl. Susanne Frank in ihrem Beitrag), oder vielleicht doch auch durch Unterstützung einer Politik der Integration? Nach Umfragen haben sich Angehörige städtischer Eliten bereit erklärt, mehr Steuern unter der Voraussetzung zu zahlen, dass dies den von Ausgrenzung Bedrohten der eigenen Stadt zugutekäme (vgl. Häußermann u. a. 2004). Zu den Potenzialen, auf die eine integrierende Politik zurückgreifen könnte, gehört die Tradition des Kollektivsubjekts Stadt, wie sie Max Weber als Zentralmerkmal der okzidentalen Stadt beschrieb. Man kann die Geschichte des modernen Sozialstaats in Deutschland auch als einen Prozess der »Verstaatlichung« kommunaler Wohlfahrtspolitik schreiben, und diese Geschichte hat normative Ansprüche etabliert, hinter die auch ein neoliberaler backlash nicht ohne erhebliche Widerstände zurückführen kann. Unstrittig gibt es eine immer noch wirkmächtige Tradition sozial verantwortlicher, solidarischer Politik in der europäischen Stadt. Die Frage ist freilich, inwieweit der Sozialstaat heute seine normativ begründete Funktion eingedenk der Tendenzen von Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung noch erfüllt bzw. erfüllen kann. Wer kommt dann als Träger der Veränderung in Frage? Die von Ausgrenzung Betroffenen selber vielleicht am wenigsten. Denn dass sie nicht

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einmal mehr ausgebeutet werden bedeutet, dass es auch keine machtvollen, etwa ökonomische, Interessen an der Änderung ihrer Situation gibt. Aber die Traditionen einer solidarischen europäischen Stadt sind in den Kommunalverwaltungen trotz allen Geredes über die unternehmerische Stadt durchaus präsent, nicht zuletzt auch in den verbliebenen kommunalen Wohnungsgesellschaften. Diese haben schon immer als einflussreiche Fürsprecher einer sozialen Stadtpolitik fungierte, weil sie befürchten müssen, dass durch die Tendenzen wachsender Ungleichheit, der Polarisierung und Ausgrenzung gerade ihre Wohnungsbestände in unattraktiven Bauformen und an peripheren Lagen entwertet werden. Es ist auch nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass eine Politik, die die Rolle der Stadt als Integrationsmaschine gerade für diese Gruppen stärken wollte, neben moralischen Normen und der europäischen Tradition sozial verantwortlicher Stadtpolitik auch Teile der artikulations-, konfliktund organisationsfähigen urbanen Mittelschichten als Verbündete gewinnen könnte. Dafür spricht einmal die Angst der Bessergestellten vor Vandalismus, Kriminalität und gewalttätigen Revolten der Ausgegrenzten. Aber Angst ist ein Verbündeter von geringer Verlässlichkeit, denn Angst ist immer hoch ambivalent. Der Ruf nach mehr Sicherheit durch mehr Kontrolle und damit nach noch schärferer Ausgrenzung liegt ihr mindestens ebenso nahe wie der nach den notwendig aufwendigen, mehrdimensionalen, langfristigen und dementsprechend kostspieligen Maßnahmen effektiver Integration. Aber die Mittelschicht wird, wenn die Polarisierungsthese zutrifft, selber in ihrem Status bedroht. Es wird zur alltäglichen Erfahrung der Eltern wie ihrer Kinder, dass der eigene Status möglicherweise über Generationen nicht zu halten ist. Und schließlich haben Wilkinson und Pickett (2010) empirisch einen negativen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Lebensqualität aller (!) Mitglieder einer Gesellschaft nachgewiesen. Es gäbe also auch objektiv grundierte Interessen gerade der Mittelschichten an der »sozialen Stadt«. Helfen wirklich nur Appelle an Moral, Gerechtigkeitsgefühle, europäische Traditionen und mögliche Eigeninteressen der Mittelschicht? Schließlich organisieren sich in den Städten vielfältige soziale Bewegungen, um ihr Recht auf Stadt einzufordern. Diese aktuellen Phänomene urbanen Widerstands sind wohl nicht zuletzt von Angehörigen der städtischen Kulturwirtschaft getragen, die nach ihrer objektiven Situation zum Prekariat zu zählen wären, aber über hohes kulturelles und soziales Kapital verfügen, um sich schlagkräftig organisieren und hörbar artikulieren zu können. Wie, von wem



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werden welche Fragen zu welchen Zielen politisiert? Anlässe, Trägerschaft, Organisationsformen, politische Reichweite und Chancen einer Allianz zwischen sozialen Bewegungen und kommunaler Politik (siehe den Beitrag von Holm/Lebuhn) könnten wichtige Themen künftiger Stadtforschung sein. Sie sind Fragen, die vor allem auch die politischen Handlungsmöglichkeiten betreffen.

3. Politik Es hat den Anschein, als ob wachsende Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung in Zukunft in deutschen Städten zusammentreffen könnten: also ein Schrumpfen der Mittelschicht bei wachsenden Abständen zwischen dem oberen und dem unteren Pol und zunehmend schwerer zu überwindenden Hürden zwischen ihnen. Es wird eine der Aufgaben künftiger Stadtforschung sein, zu untersuchen, welche Rolle die Stadt bei der Vermittlung dieser drei Prozesse spielt, inwieweit z. B. sozialräumliche Strukturen dazu beitragen, dass Ausgrenzung, Polarisierung und Ungleichheit sich gegenseitig verstärkend überlagern. Ebenso wäre zu thematisieren, welche Chancen für wirksame städtische Gegenpolitiken bestehen. Wird es in Zukunft noch eine eigenständige Kommunalpolitik geben, auf die sich zu beziehen Sinn machen könnte? Schließlich ist die Stadt als demokratisch verfasstes, handlungsfähiges Subjekt ihrer eigenen Entwicklung ein hervorstechendes Merkmal in der Diskussion über die europäische Stadt und ein zentraler Adressat stadtsoziologischer Forschung. Die Handlungsspielräume kommunaler Politik und die Wirksamkeit stadtpolitischer Maßnahmen sind stets eine der zentralen Forschungsinteressen Hartmut Häußermanns gewesen, und sie dürften – das wäre ein achtes Desiderat – auch künftig im Fokus stadtsoziologischer Forschungen stehen. Edgar Salin hat in seinem berühmten Vortrag vor dem Deutschen Städtetag in Augsburg 1960 die Urbanität der europäischen Stadt politisch definiert als »Mitwirkung der Bürger am Stadtregiment«. In der griechischen Polis ist die Demokratie erfunden worden. Die freien Reichsstädte des Mittelalters waren souveräne politische Subjekte. Aber beide Merkmale europäischer Urbanität, Demokratie und Handlungsfähigkeit, sind bedroht. Die Kommunale Selbstverwaltung, wie sie von Stein/Hardenberg für das Preußen des 19. Jahrhunderts eingeführt und im Grundgesetz der Bundes-

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republik rund ein Jahrhundert später bekräftigt worden ist, droht zur leeren Hülse zu werden. Umso erstaunlicher die Ergebnisse der vergleichenden Studie von Yuri Kazepov (in diesem Band), wonach bei ansonsten gänzlich divergierenden Entwicklungen eine Tendenz allen vier von ihm untersuchten europäischen Ländern gemeinsam ist: die steigende politische Relevanz der lokalen Ebene. Das lässt widersprüchliche Interpretationen zu. Eine optimistische Erklärung für den Bedeutungsgewinn des Lokalstaats könnte argumentieren, dass die lokale Ebene offener für Partizipation, Differenzierung und Innovation ist, weshalb sie im Zuge des Funktionswandels staatlicher Politik notwendig an Relevanz gewinnt. Soziale Probleme variieren mit der konkreten lokalen Situation, in der die davon Betroffenen leben. Lokal formulierte und umgesetzte Politiken erlauben entsprechende Differenzierungen. Angesichts der immer engeren Verflechtung von Staat und Gesellschaft in einer Mehrebenenpolitik reichen die herkömmlichen Formen bürgerschaftlicher Kontrolle der Exekutive nicht mehr aus. Fast fünf Jahrzehnte Debatten um Partizipation zeigen längst: Sie müssen ergänzt werden durch Formen direkter Kontrolle. Hinzu kommt, dass Effektivität und Effizienz der Maßnahmen eines »aktivierenden Sozialstaats«, in dem Maße, wie sie Verhaltensänderungen erreichen sollen, von der Mitwirkungsbereitschaft der Adressaten abhängig werden. Beides, direkte Kontrolle und die Koproduktion von Dienstleistungen durch Staat und Bürger, lässt sich am ehesten auf lokaler Ebene organisieren. Schließlich können die Städte als dezentrale Akteure am ehesten als Laboratorien politischer Innovation fungieren. Die pessimistische Erklärung kann auf die Aushöhlung der Kommunalen Selbstverwaltung verweisen. In einer Art negativer Arbeitsteilung werden die ungelösten (Folge-)Probleme nationalstaatlicher Politik der kommunalen Ebene zugeschoben, ohne diese mit den entsprechenden Mitteln zu ihrer Bearbeitung auszustatten. Was als Kompetenzgewinn der Kommunen erscheinen könnte, funktionierte demnach als eine durchaus erwünschte finanzielle und politische Abwertung der entsprechenden Politiken, indem unangenehme Themen in die Arena mit der geringsten politischen Aufmerksamkeit und den schwächsten Akteuren verschoben werden (Siebel 2010). Beide Erklärungen sind realitätshaltig. Die lokale Ebene kann als Ort adäquater Problembearbeitung fungieren oder als Palliativstation, wo die städtischen Konflikte allenfalls beruhigt werden. Maßnahmen der Stadtpolitik können aber auch als Brandbeschleuniger wirken, die städtische Probleme verschärfen oder einzelne Phänomene von Ausgrenzung, Polarisierung und



Wie könnte es weitergehen?

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Ungleichheit sogar erst entstehen lassen. Eine soziologische Evaluationsforschung, die dazu beiträgt zu klären, welche Maßnahmen was, wie, mit welchen Nebenfolgen bewirken und warum, steht aber erst an den Anfängen. Die Notwendigkeit einer alle Dimensionen der Stadtentwicklung und möglicher Kontexteffekte thematisierenden Integrationspolitik ist allgemeiner Konsens. Eine solche problemadäquate Stadtpolitik müsste ihre bildungs-, sozial-, arbeitsmarkt-, wohnungs- und kulturpolitischen Maßnahmen im Stadtteil koordiniert einsetzen (vgl. Häußermann/Kronauer 2012). Warum sie nicht stattfindet, bleibt zu untersuchen. Aber wenn eine solche in alle Lebensbereiche intervenierende Politik Wirklichkeit geworden sein sollte, ergibt sich eine neue Frage nach möglichen Nebenwirkungen: Es könnte damit ein bedrohliches Ausmaß administrativer Kontrollmöglichkeiten erschaffen sein, angesichts dessen fragwürdig wird, wie Privatsphäre und Würde der Adressaten gewahrt bleiben können. Diese beunruhigende Frage, so ist zu hoffen, wird einer Soziologie, die sich auf Politikberatung einlässt und dennoch ihr kritisches Potenzial bewahrt, bewusst bleiben.

Schlussbemerkung Die Stadtsoziologie verfügt in ihrer über hundertjährigen Tradition über eine Fülle an Themen, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen. Hartmut Häußermann hat nur einen Ausschnitt daraus thematisiert, allerdings einen zentralen: die Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in Städten, ihre wiederum auch städtischen Ursachen und die Möglichkeiten einer sozial verantwortlichen Stadtpolitik. Wir haben in diesem Beitrag versucht, einige Hypothesen und Fragen künftiger Stadtforschung zu formulieren, die seine Perspektive fortführen. In Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung sehen wir Tendenzen, die Segregation aktuell und zukünftig noch stärker prägen als bisher. Um ein gültiges Bild ihrer Folgen für die Städte zu erhalten, darf Stadtsoziologie sich allerdings nicht allein auf die Zentralperspektive der Krise der Stadt beschränken, sondern muss für ihre Analysen als weiteren Fluchtpunkt die Frage wählen, was die Städte auf demokratische Weise zusammenhält. Die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und Stadtentwicklung haben seit den Tagen der Chicagoer Schule und ihrer »Entdeckung« des Phänomens der Segregation die soziologischen Forschungen zur Stadt wesentlich bestimmt. Und das wird, so ist für die Stadtentwicklung zu

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fürchten und für die Stadtsoziologie zu hoffen, auch noch weitere hundert Jahre so bleiben.

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Autorinnen und Autoren

Baur, Christine, Dr. phil, Sozialwissenschaftlerin. E-Mail: [email protected] Frank, Susanne, Dr. phil., Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Technischen Universität Dortmund. E-Mail: [email protected] Goebel, Jan, Dr. rer. oec., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Stellvertretender Leiter der Infrastruktureinrichtung SOEP. E-Mail: [email protected] Gornig, Martin, Dr. rer. oec., Stellvertretender Leiter der Abteilung Innovation, Industrie, Dienstleistung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Honorarprofessor für Regionalökonomie an der Technischen Universität Berlin. E-Mail: [email protected] Güntner, Simon, Dr. rer. pol., Professor für Sozialwissenschaften/Sozialpolitik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW Hamburg. E-Mail: simon. [email protected] Hamnett, Chris, Professor für Geographie am King’s College London. E-Mail: chris. [email protected] Hillmann, Felicitas, Dr., z.Zt. Gastprofessorin an der Universität Köln, Privatdozentin am Institut für Geographische Wissenschaften, FU Berlin. E-Mail: [email protected] Holm, Andrej, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Stadtund Regionalsoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail: [email protected] Hunger, Bernd, Dr. phil. Dr.-Ing., Stadtplaner und Stadtsoziologe, Referent für Wohnungs- und Städtebau, Forschung und Entwicklung beim GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V., Berlin. ­E-Mail: [email protected] Kazepov, Yuri, PhD, Professor für Stadtsoziologie an der Universität Urbino »Carlo Bo«. E-Mail: [email protected] Kronauer, Martin, Dr. phil., Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. E-Mail: [email protected] Läpple, Dieter, Dr. rer. pol., Professor (em.) für Internationale Stadtforschung an der HafenCity Universität Hamburg und Senior Fellow der Brookings Institution Washington. E-Mail: [email protected]



Autorinnen und Autoren

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Lebuhn, Henrik, Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Stadtund Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail: henrik. [email protected] Mollenkopf, John, Ph.D., Distinguished Professor der Politikwissenschaft und Soziologie, Direktor des Center for Urban Research am Graduate Center der City University of New York. E-Mail: [email protected] Préteceille, Edmond, Emeritus senior researcher am Observatoire Sociologique du Changement, Sciences Po – CNRS. E-Mail: [email protected] Siebel, Walter Dr. rer. pol., Professor (em.) für Soziologie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. E-Mail: [email protected] Walther, Uwe-Jens, Dr. rer. pol., Professor i. R. für Stadt- und Regionalsoziologie; c/o Institut für Soziologie, TU Berlin. E-Mail: [email protected] Wollmann, Hellmut, Dr. jur., Professor (em.) für Verwaltungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail: [email protected] Wurtzbacher, Jens, Dr. phil., Professor für Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. E-Mail: [email protected]

Stadtforschung

Clemens Zimmermann (ed.) Industrial Cities History and Future 2013. 320 pages. Hardcover ISBN 978-3-593-39914-0

Beate Binder, Moritz Ege, Anja Schwanhäußer, Jens Wietschorke (Hg.) Orte – Situationen – Atmosphären Kulturanalytische Skizzen 2010. 346 Seiten. ISBN 978-3-593-39269-1

Christiane Schwab Texturen einer Stadt Kulturwissenschaftliche Lektüren von Sevilla 2013. Ca. 400 S. ISBN 978-3-593-39905-8

Helmuth Berking, Martina Löw (Hg.) Die Eigenlogik der Städte Neue Wege für die Stadtforschung 2008. 335 Seiten. ISBN 978-3-593-38725-3

Martin Kronauer, Walter Siebel (Hg.) Polarisierte Städte Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik 2013. Ca. 260 S. ISBN 978-3-593-39974-4

Rolf Lindner Die Entdeckung der Stadtkultur Soziologie aus der Erfahrung der Reportage 2007. 337 Seiten. ISBN 978-3-593-38482-5

Andreas Hoppe (Hg.) Raum und Zeit der Städte Städtische Eigenlogik und jüdische Kultur seit der Antike 2011. 229 Seiten. ISBN 978-3-593-39536-4

Hartmut Häußermann, Walter Siebel Stadtsoziologie Eine Einführung 2004. 264 Seiten. ISBN 978-3-593-37497-0

Martina Löw, Georgios Terizakis (Hg.) Städte und ihre Eigenlogik Ein Handbuch für Stadtplanung und Stadtentwicklung 2011. 255 Seiten. ISBN 978-3-593-39534-0

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