Plätze. Dächer. Leute. Wege.: Die Stadt als utopische Bühne [1. Aufl.] 9783839431979

The experimental musical theater project »Places. Roofs. People. Paths.« (Plätze. Dächer. Leute. Wege.) used the city of

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German Pages 114 [113] Year 2015

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Plätze. Dächer. Leute. Wege.: Die Stadt als utopische Bühne [1. Aufl.]
 9783839431979

Table of contents :
Cover Plätze. Dächer. Leute. Wege.
Inhalt
Zeltbaupläne
Zu Diesem Buch
Proj ektBAUSTE INE
Prob en
Utopi etanken
Workshops
Raum der Teilhabe
Bielefelder Stimmen
Das Mod ell
Utopi e üben
Kollektive_zwi schenräume
Zwi schen den Stühlen
Wege, den Klang der Stadt zu erfahren
DankE!
Impressum

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Ivan Bazak, Gordon Kampe, Katharina Ortmann

Plätze. Dächer. Leute. Wege. Die Stadt als utopische Bühne

Edition Kulturwissenschaft | Band 80

Der Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) ist eine gemeinsame Initiative des NRW KULTURsekretariats und der Kunststiftung NRW. Er fördert Theater in Nordrhein-Westfalen bei der Erkundung neuer Musiktheaterformen, indem er Projekte initiiert, finanziell unterstützt und Ivan Bazak, geb. 1980, ist bildender Künstler,

dramaturgisch begleitet, die sich auf neue Weise mit dem Wechselverhältnis von Raum,

Bühnenbildner und Regisseur.

Sprache und musikalischem Klang auf der Theaterbühne auseinandersetzen. Die Projekte des Fonds werden von einem unabhängigen Gremium anerkannter Fachleute unter den Bewerbungen

Gordon Kampe, geb. 1976, ist Komponist zahl-

aus verschiedenen Bereichen zeitgenössischen Musiktheaters ausgewählt. Zur Jury gehörten für

reicher Werke unterschiedlichster Gattungen

die vorliegende Produktion: Christine Fischer (Intendantin »Musik der Jahrhunderte« Stuttgart,

und wurde als Musikwissenschaftler mit einer

künstlerische Leiterin des Musikfestivals ECLAT), Professor Stephan Froleyks (Komponist und

Arbeit über Märchenopern promoviert.

Performer), Stephanie Gräve (Dramaturgin und Schauspieldirektorin am Konzert Theater Bern), Dorothea Hartmann (Stellvertretende Chefdramaturgin der Deutschen Oper Berlin und Künst-

Katharina Ortmann, geb. 1980, ist freie Musik-

lerische Leitung der »Tischlerei«), Professor Matthias Rebstock (Regisseur und Institutsleiter

dramaturgin im Bereich Konzert und Musik-

Szenische Musik, Universität Hildesheim).

theater. Als Dramaturgin arbeitete sie fest am Oldenburgischen Staatstheater sowie an der

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Staatsoper Hannover. Zur Begründung der JuryEntscheidung Das Team um Gordon Kampe, Ivan Bazak und Katharina Ortmann hat sich nicht nur die Utopie einer Stadt zum Thema gewählt, das ganze Projekt ist durch und durch utopisch – und das ist gut so. Die Aufgabe des Fonds Experimentelles Musiktheater besteht genau darin, Projekte zu fördern, die einerseits ein hohes Maß an künstlerischer Qualität versprechen und andererseits bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen. Der feXm soll Unmögliches ermöglichen helfen und darf daher selbst etwas von der utopischen Luft atmen, die dieses Team ergriffen hat. Am Anfang ihrer Bewerbung zitierte dieses Team das Bonmot von Rimini Protokoll: »Eigentlich müsste in einem richtigen Stadttheater doch die ganze Stadt Theater spielen.« Das Projekt, mit dem es sich bewarb, will nicht nur Visionen einer »Zukunftsstadt« entwickeln, sondern auch das Verhältnis zwischen dem Theater und den Menschen in Bielefeld ausloten. Dementsprechend ist Plätze. Dächer. Leute. Wege. kein Entwurf für einen Musiktheaterabend, sondern für einen ca. einjährigen Prozess, in dem mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln unterschiedlichster Art im Stadtraum interveniert werden soll. Ziel ist es, in Kontakt zu kommen mit den Menschen, sie zu involvieren, sich gegenseitig anzuregen und sie schließlich zu Mitautoren zu machen bei einem Stück, das nur ein Moment der Verdichtung, nicht aber Abschluss eines Prozesses sein will; vielmehr soll dieser über die Dauer des Projekts hinausweisen. Ob das alles einzulösen ist? Und was ist verloren, wenn nicht? Das Team hat die Jury überzeugt, dass es richtig ist, auf so eine Reise geschickt zu werden. Sie wissen um die Untiefen des Faktischen und dass sie nur mit der Unterstützung der Menschen in Bielefeld auf Kurs bleiben können. Selbst wenn sie Utopia dabei nicht erreichen, die Realitäten werden für alle Beteiligten auf die Probe gestellt werden. Und das ist schon sehr viel. Matthias Rebstock

Ivan Bazak, Gordon Kampe, Katharina Ortmann

Plätze. Dächer. Leute. Wege. Die Stadt als utopische Bühne

Eine Publikation von Fonds Experimentelles Musiktheater und Theater Bielefeld

www.pdlw.net  |  Passwort: 29 04 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Inhalt

Zeltbaupläne Ivan Bazak und Franziska Sauer  |  6 Zu Diesem Buch | 11 ProjektBAUSTEINE | 16 Proben | 18 Utopietanken | 30 Workshops | 38 Raum der Teilhabe Ivan Bazak, Magdalena Helmig, Gordon Kampe, Katharina Ortmann, Ilka Rümke und Benjamin Schälicke zur Arbeit an Plätze. Dächer. Leute. Wege. | 46 Bielefelder Stimmen Gordon Kampe  |  54 Das Modell | 58 Utopie üben Ivan Bazak und Elke Krasny  |  60 Kollektive_zwischenräume Benjamin Wihstutz  |  70 Zwischen den Stühlen Elke Krasny  |  84 Wege, den Klang der Stadt zu erfahren Stefan Drees  |  94 DankE! | 110 Impressum | 110

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ZU Diesem Buch Am Anfang menschlicher Zivilisation steht die Entwicklung der Städte, hoch organisierte Lebensformen mit komplexer sozialer Vernetzung und ausdifferenzierter Arbeitsteilung. Immer befanden sich Städte im Wandel, nie aber fanden sie sich in ihrem grundsätzlichen Funktionieren auf so abrupte Weise mit ähnlich tief greifenden Fragen konfrontiert. Mit der Digitalisierung unserer Lebenswelt verlagern sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem in eine Sphäre jenseits des Stadtraums. Verabschiedet scheint – im Zeitalter von Google, Amazon, Facebook und Twitter – die alte Idee der Agora als Herz und Lebensnerv einer Stadt, an dem sich Handel und politischer Bürgersinn vereinen. Was einmal Agora war, befindet sich kaum greifbar heute in den Wolken oder, wie man sagt, in der Cloud. Zusehends verwaisen die Innenstädte, weil sie weder als Einkaufszentren noch als Treffpunkte gebraucht werden. Wie können wir den Wandel der Städte positiv mitbestimmen? Und wollen wir das überhaupt? Wie weit reicht unsere Identifikation mit einer Stadt, können wir sie uns als unsere denken, sie uns dabei vorstellen als das Nochnicht eines besseren Orts, da die Postadresse längst unwichtiger ist als die E-MailAdresse, uns der Beruf in jedem Moment zum Ortswechsel zwingen kann, wir erneut zu Nomaden wurden wie damals vor der Erfindung der Städte? Dieses Buch ist Bestandteil eines multimedialen Kunstprojekts, das vom Fonds Experimentelles Musiktheater in Auftrag gegeben und in der Zeit zwischen Mai 2014 und April 2015 in Zusammenarbeit mit dem Theater Bielefeld realisiert wurde. Seine Protagonisten fand es in den vielen Personen aus der Bürgerschaft Bielefelds, die sich den Fragen des Projektteams stellten und aktiven Anteil nahmen am Nachdenken über ihre Stadt. Das Buch dokumentiert die unterschiedlichen Elemente und Entstehungsphasen des Projekts bis hin zum künstlerischen Resümee in einer Theateraufführung und weist gleichzeitig hierüber hinaus, indem es mit den Mitteln des Printmediums eigene Ausblicke und Perspektiven zu geben versucht. Kaum stellt es den Anspruch, übergreifende Problemlösungen zu liefern, sondern bleibt selbst Element eines Suchens und Forschens mit den Mitteln der Kunst, das sich in der Auseinandersetzung mit der Bielefelder Bevölkerung ergab. Roland Quitt Fonds Experimentelles Musiktheater

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Plätze. Dächer. Leute. Wege.

Musik und musikalische Leitung Gordon Kampe Inszenierung/Installationen/Text Ivan Bazak Dramaturgie/Text/Recherche Katharina Ortmann Choreografie/Performance Britta Pudelko Bühne/Kostüme Franziska Sauer Lichtdesign Benjamin Schälicke Workshop Leitung/Recherche Ilka Rümke Produktionsleitung Katja Nawka Dramaturgie feXm Roland Quitt

Projektbausteine Utopietanken 8. Mai – 28. Juni 2014

Vier Interventionen im öffentlichen Raum. Eine Utopietanke ist ein Zelt, das als Ausstellungsraum für ein Modell dient. Das Modell ist ein utopischer Gegenentwurf zu dem jeweiligen Standort. Die Utopietanken wurden in Bielefeld an folgenden Orten errichtet: Niedernstraße am TAM, Kesselbrink, Siegfriedplatz, Rathausinnenhof.

Workshops 13. September – 14. September 2014 20. September – 21. September 2014

Für die vier Workshops wurden vier sehr unterschiedliche Orte und damit verbundene Themen in Bielefeld ausgewählt. Die Workshops dauerten jeweils sechs Stunden und fanden an zwei Wochenenden im September 2014 statt. Jeder der Workshops bestand aus zwei Teilen: Der erste Teil begann mit einer Exkursion im öffentlichen Raum, im zweiten Teil haben die Workshopteilnehmer das jeweilige Thema im Theater Bielefeld künstlerisch übersetzt und bearbeitet.


Fichten-Park/Radrennbahn/

Thema: Natur- und Freiräume im städtischen Raum.

Wilde Liga

Umsetzung: Nach einem Soundwalk mit MP3-Player und Klängen des Komponisten Gordon Kampe durch Heeper Fichten, über die Wiesen der Wilden Liga und die Radrennbahn haben die Teilnehmer eine Soundcollage aus selbst aufgenommenen Klängen erstellt.

Kesselbrink

Thema: Öffentlicher Stadtplatz als Ort der Versammlung und Begegnung? Umsetzung: Die Teilnehmer erhielten eine Bauanleitung und Material, um gemeinsam auf dem Kesselbrink ein Zelt zu errichten. Im Zelt wurde darüber diskutiert, inwiefern Bielefeld einen zentralen Ort für Austausch über bürgerliche Teilhabe braucht oder wünscht.

Öko-Tech Park Windelsbleiche

Thema: Arbeitsmodelle der Zukunft. Umsetzung: Nach einem Besuch der Siebdruckwerkstatt Fairtrademerch, (Zwei-Personen-Betrieb), die fair gehandelte und produzierte Textilien bedrucken, wurden konventionelle Arbeitsmodelle infrage gestellt und anhand von selbst entworfenen Piktogrammen des künstlerischen Teams neue, auch fiktive Arbeitsmodelle entwickelt.

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Thema: Verkehr und »Nichtorte« in der Stadt

Unterführung Ostwestfalendamm/

Umsetzung: Es wurde eine »Klangkarte« der Unterführung erstellt, indem jedem individuell ge-

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hörten Geräusch eine Farbe zugeordnet wurde. Welche Farben hat der Verkehr Bielefelds? Ziel war die Abstraktion der eigenen Wahrnehmung: Weg vom Sehen hin zum Hören im Wahrnehmen und Beschreiben.

Symposium Stadt-Theater – Theater und Stadt 24. Januar 2015 im Bielefelder Rathaus Mit Dr. Gordon Kampe, PD Dr. Stefan Drees, Dr. Benjamin Wihstutz, Prof. Dipl.-Ing. Bettina Mons,

Symposium Stadt-Theater – Theater und Stadt 24. Januar 2015

Prof. Mag. Elke Krasny. Weitere Infos im PDLW-PROJEKT-BLOG https://pdlw.wordpress.com

Musikalische Leitung Gordon Kampe Sängerin Melanie Kreuter Sänger Caio Monteiro Schauspielerin Magdalena Helmig Choreografin/Performerin Britta Pudelko Performer Dennis Strobel Performerinnen Mandy Fleer/Leonie Quentmeier/ Fenja Quartier/Carolin Grumbach* *Mitglieder der Ballettschule des Theaters Bielefeld, Leitung: Maria Haus Violine Sebastian Soete/Luitgard Goette Viola Nikolaus Vulpe/Jörg Engelhardt Violoncello Annette Fuhrmann/Imke Wilden Kontrabass Thomas Bronkowski/Mieko Soto Klarinette Susanne Heilig/Fabian Hauser Trompete Manuel Viehmann/Norbert Günther Posaune Klaus Hansen/Olaf Schneider Schlagwerk Klaus Bertagnolli/Klaus Armitter Mitglieder der Bielefelder Philharmoniker Klangregie Lukas Tobiassen Video Ivanna-Kateryna Yakovyna

Premiere des Musiktheaters Plätze. Dächer. Leute. Wege. 29. April 2015 Theater am Alten Markt, Theater Bielefeld

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Proben Dokumentation der Proben mit Caio Monteiro, Melanie Kreuter, Britta Pudelko und Magdalena Helmig.

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Utopietanken Niedernstraße am TAM 8. Mai 2014

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Kesselbrink 16. Mai 2014

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Siegfriedplatz 7. Juni 2014

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Rathausinnenhof 28. Juni 2014

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Workshops WORKSHOP 1 Fichten-Park/Radrennbahn/Wilde Liga 13. September 2014

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WORKSHOP 2 Kesselbrink 14. September 2014

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WORKSHOP 3 Öko-Tech Park Windelsbleiche 20. September 2014

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WORKSHOP 4 Unterführung Ostwestfalendamm/Arndtstraße 21. September 2014

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Raum der Teilhabe Ivan Bazak, Magdalena Helmig, Gordon Kampe, Katharina Ortmann, Ilka Rümke und Benjamin Schälicke zur Arbeit an Plätze. Dächer. Leute. Wege. Rümke: Zu Beginn unseres Projekts haben wir uns dafür entschieden, in den Stadtraum zu gehen, um im direkten Kontakt mit Bielefeldern die Missstände, Lücken, Wünsche und Visionen für Bielefeld zu erforschen – zum einen über sogenannte Utopietanken, zum anderen in Workshops. Wo werden die Themen der Stadt diskutiert? In der Recherche haben wir festgestellt, dass diese Diskussion nach einem ausgeprägten Top-down-Prinzip verläuft. Viele Bürger kritisierten, dass Entscheidungen nicht transparent gemacht werden, obgleich es von unten viel bürgerliches Engagement und konkrete Vorschläge gibt. Wo ist dieser Raum der Teilhabe? Am Beispiel des öffentlichen Platzes Kesselbrink wurde deutlich, wie unterschiedlich die Bedürfnisse für einen gemeinsamen Ort des Austauschs und Dialogs in der Stadt sind. Einige wünschten sich explizit einen klaren Treffpunkt, andere wollten das politische Engagement nicht organisieren oder institutionalisieren, sondern die Partizipation sollte spontan und immer temporär sein. Bazak: Wir wollten von Anfang an mit und für die Bielefelder Bürger einen utopischen Raum erfinden bzw. finden – und keinen konkret ausformulierten Utopieentwurf für Bielefeld. Der Prozess hat mit Interventionen im öffentlichen Raum begonnen, unseren Utopietanken. Wir haben uns dafür an verschiedenen Plätzen in Bielefeld als »Utopiearchitekten« ausgegeben und in Zelten, die als Ausstellungsräume dienten, den jeweiligen Standort im Maßstab nachgebaut – allerdings mit unkonventionellen Veränderungen, wie zum Beispiel mit riesigen musizierenden Trichtern auf den Hausdächern am Siegfriedplatz. Das haben wir den Bielefeldern gezeigt und sie nach ihrer Meinung gefragt. So kamen ganz unterschiedliche Äußerungen zusammen: Einige haben uns empfohlen, »doch lieber arbeiten zu gehen«, andere sind darauf eingegangen und haben weitere utopische Vorschläge gemacht. Ortmann: Dabei haben wir Menschen dazu motiviert, das »Andere« zu denken, das heißt, Gegenentwürfe zu dem, womit wir im Alltag zu tun haben, überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ich würde in diesem Zusammenhang eher von utopischen Potenzialen und utopischem Denken sprechen: Deshalb die Utopietanken und die Workshops – für den »Twist im Kopf«, ohne dass es gleich theoretisch wird oder wir einen konkreten politischen, gesellschaftlichen Gegenentwurf entwickeln. Für das Textmaterial des Musiktheaters haben wir Interviews mit Bielefeldern geführt. Einer unserer Interviewpartner meinte: »Ich glaube, so große Städte wie Bielefeld sollten sich davor hüten, utopische Sichtweisen zu entwickeln,

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weil die ja zu sehr in Widerspruch geraten können mit der Wirklichkeit.« Genau jene Reibung ist es, die uns für Plätze. Dächer. Leute. Wege. interessiert. In unserem Projekt ging und geht es darum, mit künstlerischen Mitteln eine Spannung herzustellen zwischen Utopie und Wirklichkeit und sie erfahrbar zu machen für uns selbst, für Passanten, denen wir bei unserer Recherche auf der Straße begegnet sind, für die Teilnehmer unserer Workshops im vergangenen September, für die beteiligten Darsteller und Musiker der Produktion und für das Publikum, das in die Vorstellung kommt. Die Idee einer offenen Form war wichtig. Das Utopische liegt bei uns in der Form, und das auf mehreren Ebenen: angefangen bei dem Vorgehen, die Sparten von Anfang an gleichberechtigt einzubeziehen, über den Versuch, die konkrete Form des Stückes, das am Ende des Projektprozesses steht, so lange wie möglich nicht zu fixieren, um es durchlässig für die einzelnen Mitwirkenden und den Probenprozess zu halten, bis hin zur Interaktion mit Bielefeldern während der Vorstellungen. Ob sich am Ende auch da so etwas wie ein utopischer Raum entwickelt, wird sich zeigen. Und schließlich ist auch die Kooperation zwischen Stadttheater und freier Szene voll von utopischen Potenzialen … Wir haben uns trotz der Kürze der Zeit (ein knappes Jahr von der Projektbewerbung bis zur Premiere) bei Plätze. Dächer. Leute. Wege. für einen offenen Prozess entschieden. Wir beginnen jetzt mit den Proben und wissen nicht genau, wie der Abend sein wird. Es gibt eine Partitur, aber sie bildet nur einen kleinen Teil dessen ab, was das Stück dann sein wird, auch nur einen kleinen Teil der Musik an sich. Das ist, auch für mich als Dramaturgin, eine besondere Erfahrung und Herausforderung, sich so wenig »abzusichern«. Kampe: Eine Herausforderung für den Komponisten ist es da auch, nicht – wie üblich – mit langem Vorlauf eine Partitur fertigzustellen und so das Ganze festzulegen, sondern so lang wie möglich abzuwarten, bis sich thematische und dramaturgische Schwerpunkte herauskristallisieren. Wir haben ziemlich früh angefangen, parallel und in unkonventioneller Reihenfolge zu arbeiten: Ivan hatte seine Räume schon gedacht und im Modell angelegt, bevor der Text da war und ich angefangen habe, überhaupt zu komponieren. Ich konnte nur versuchen, die Atmosphären zu erahnen und diese Räume mit Klang zu füllen. Das war eine große Inspiration. Der Musiktheaterabend ist das Unkonkreteste des ganzen Prozesses, auch weil die Musik als herrlich unkonkretes Medium hinzukommt. Dass ihr die Semantik abgeht, die es zur Formulierung konkreter Utopien bedürfte, halte ich für ihre große Stärke … Wir haben davon gesprochen, dass nicht nur die einzelnen Sparten unhierarchisch zusammenarbeiten, sondern die einzelnen Teile (Workshops, Utopietanken, Symposium) wie Krakenarme des Projektes ohne Hierarchie zueinander stehen. Es sind verschiedene Aggregatzustände des-

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1  In der Initiative Bielefeld 2000plus – Forschungsprojekte zur Region arbeiten seit 1997 die Universität und die Stadt Bielefeld zusammen, um den Standortvorteil »Hochschule« für Bielefeld und die Region in noch größerem Umfang zu nutzen. Ziel ist es, die Vernetzung von Wissenschaft, Stadt und Region zu intensivieren und den institutionenübergreifenden Austausch von Expertenwissen zu fördern. Zu diesem Zweck organisiert Bielefeld 2000plus Arbeitskreise und Projekte mit Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft, mit Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und Personen unterschiedlicher Institutionen aus Wirtschaft, Kultur, Umwelt, Stadtentwicklung und Bildung. 2 http://www.uni-bielefeld.de/LS/ laborschule_neu/dieschule.html, zugegriffen: 21. März 2015. 3 http://www.nrwision.de/programm/ sendungen/ansehen/wilde-liga-tv-themaua-pokalfinale-in-bielefeld.html, zugegriffen: 24. März 2015. 4  Vgl. Umfrage des Global Garden Report 2012 unter deutschen Städtern: http://die-gruene-stadt.de/wp-content/ uploads/2012/09/Brosch%C3%BCre_ Global-Garden-Report-2012.pdf, zugegriffen: 24. März 2015.

selben Prozesses. Es ist allerdings schwierig nach außen zu etablieren, dass die Aufführung nur ein Teil ist und alle Projekte vorher nicht nur eine Materialgenese waren, hier müsste man auch umdenken, was alles Theater sein kann. Rümke: Ich sehe das ähnlich wie Gordon. Die Workshops, für die ich verantwortlich war, fanden in einem geschützten Raum statt, in dem künstlerische Prozesse wie in einem Labor entstehen und getestet werden können. Hier werden Dinge besprochen oder probiert, die nicht in der Realität umgesetzt werden müssen. Einige von unseren Workshopteilnehmern haben uns gefragt: »Hat das, was wir oder ihr entwickelt, Einfluss auf die Politik oder die Stadtentwicklung im weitesten Sinne?« Das ist für mich eine große Frage: Wir stoßen einen Wahrnehmungsprozess an, einen utopischen Denkprozess – aber wird das auch wieder rückgekoppelt in die Stadt hinein? Ortmann: Es gibt in Bielefeld einerseits eine hohe Zufriedenheit und Lebensqualität, anderseits ein bemerkenswert hohes bürgerliches Engagement, etwa in Initiativen wie Bielefeld 2000plus.1 Wir sind hier auf eine Stadt getroffen, die sehr aktiv ist und in der bürgerliches Engagement im Vergleich zu anderen ähnlich großen Städten überdurchschnittlich vorhanden zu sein scheint. Das hat uns auch eine Stadtplanerin bestätigt. Vielleicht liegt das daran, dass Bielefeld als urbanes Gebilde so jung ist. Leider setzt die städtische Bürokratie diesem Engagement Grenzen, bevor es überhaupt ansatzweise realisiert werden kann. Bazak: Bielefeld 2000plus ist ein ziemlich hierarchisch angelegtes Projekt. Wenn ich an das Engagement in Bielefeld denke, das von den Bürgern selbst kommt, fällt mir eher die Wilde Liga ein. Das ist ein Gegenentwurf zur Bundesliga. Ein anderes Beispiel für ein Projekt mit Partizipation aller Beteiligten wäre die Laborschule, die neue Formen des Lehrens und Lernens und des Zusammenlebens in der Schule entwickelt, um diese der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.2 Es gibt viele Bielefelder Themen, die wir spannend finden. Zum Beispiel die Freilegung der Lutter, eines Flusses, der in Bielefeld unterirdisch durch Rohre geleitet wird. Mittlerweile gibt es eine Bürgerinitiative, die daran arbeitet, die Lutter wieder oberirdisch zu führen. Auf dieses Thema sind wir häufig gestoßen – als eine »Vision« für Bielefeld. Rümke: Für die Workshops war es wichtig, in die Stadt zu gehen und ganz konkrete Fragestellungen zu bearbeiten: Der Fichten-Park in unmittelbarer Nähe zur Radrennbahn und zu den Wiesen der »Wilden Liga«3 war der geeignete Ort, um die Frage nach Freiräumen und Nutzung von Naturräumen miteinander zu verknüpfen.4 Den Kesselbrink, einen zentral gelegenen, neu angelegten Platz, wollten wir in einen Versammlungsort umwandeln, und dabei tauchten Fragen nach der passenden Struktur und den Themen auf, welche man vor Ort diskutieren könnte.

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Wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Die Teilnehmer konnten sich im Öko-Tech Park Windelsbleiche einen Einblick in die Arbeitsform der Firma »Fairtrademerch« gewinnen, um dann in Gruppen selbstständig alternative Arbeitsmodelle zu entwickeln. Und am Beispiel des Durchgangs- oder Nichtorts Unterführung Ostwestfalendamm/Arndtstraße haben wir die Rolle von Verkehr in der Stadt untersucht. Zu Beginn jedes Workshops standen immer eine Exkursion in den Stadtraum, eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Ort und eine Wahrnehmung des jeweiligen Orts, und in einem zweiten Schritt konnten die Teilnehmer die gesammelten Eindrücke ästhetisch umwandeln, beispielsweise in Form einer Soundcollage oder einer farblichen Klangkarte. Diese ästhetische Übersetzung hat dann die eigentliche Diskussion in Gang gesetzt. Kampe: Ich bin als Musiker kein Zuliefererbetrieb für Städtebau! Ich hätte das schon gerne auf einer Ebene, in der man eine ästhetische Erfahrung macht und darüber hinaus die Idee bekommt: So kann man das auch machen, so kann man das auch hören! Es muss im Theater und auch im Musiktheater nicht unbedingt um ganz konkrete politische Utopierezepte gehen. Meine Utopie wäre, dass man nach einem Streichquartett rausgeht und denkt: »Mensch, ich habe da so ein Fis gehört – das sagt mir nichts, das bringt mir nichts, damit verdiene ich kein Geld.« Einfach die Existenz spüren ohne unmittelbare Verwertbarkeit – jenseits des Alltags. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, Alltag, von dem wir ja ausgehen in unserem Projekt, in einen anderen Aggregatzustand zu bringen. »Utopie« ist wieder ein Modebegriff geworden und taucht in jeder zweiten Ausschreibung auf. Der Theatermacher Milo Rau nörgelt da so knackig: »Wenn man schließlich, was ab und zu vorkommt, in Provokationslaune ist, dann bringt man einfach die gerade angesagten guten kulturideologischen Schlüsselreize (im Augenblick der Abfassung dieses Essays: ›Inklusion‹, ›Stadtraum‹, ›Partizipation‹ und ›Utopie‹) im Programmheft unter […].«5 Meine Utopie bei dem Projekt war, die »institutionalisierte Utopie« im Sinne der klassischen »Antragslyrik« so weit zu entschlacken, dass sie etwas wird, was wir vorher gar nicht wussten – und damit auch die Förderer etwas bekommen, was sie gar nicht, überspitzt gesagt, »eingekauft« haben. Wenn man dafür bezahlt wird, Revolution zu machen, dann ist die Revolution schon am Ende – mit Utopien ist es wohl genauso. Ich bin da altmodisch, bleibe bei Adorno: »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.«6 Schälicke: Eigentlich ist Theater an sich ein utopischer Ort: Für mich als Lichtdesigner passiert das schon, indem wir Musik mit Licht, Choreografie und Bühnenbild so verzahnen, dass das Licht ohne Hierarchien auskommt. Die einzelnen Künste emanzipieren sich und sind doch miteinander verknüpft. Das zu zeigen und zu transportieren hat schon utopisches Potenzial.

5  Milo Rau, Was tun?, Berlin 2013, S. 52. 6  Theodor W. Adorno, »Vers une musique informelle«, in: ders., Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften, Bd. 16), Frankfurt am Main, 2003, S. 493–540, hier S. 540.

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7  Vgl.: http://www.nachtkritik.de/ index.php?view=article&id=8198%3Ahein er-goebbels-stuttgarter-rede-zur-zukunftder-kultur&option=com_content&Itemid=84, zugegriffen: 16. März 2015.

Bazak: Wenn es gelingt … Schälicke: Auch wenn es nicht gelingt. Auch wenn man darin nur einen Versuch sieht. Ich muss das, was ich eben mit »Utopie« bezeichnet habe, wohl eher als Luxus definieren: Normalerweise hat niemand Zeit und Kraft, sich diese Fragen zu stellen. Das gibt uns eine bestimmte Haltung im Verhältnis zur Gesellschaft. Diesen Luxus, Fragen zu stellen, kann man den Zuschauern zurückgeben. Vielleicht hat man das Glück, dass eine Ahnung einer Antwort da ist. Wenn es nicht gelungen ist, bleibt zumindest die Frage. Kampe: Damit dieser Luxus gelingen kann, braucht es natürlich auch »luxuriöse« Rahmenbedingungen während der Arbeit, die Schwerkraft der Theaterinstitutionen ist leider sehr deutlich. Heiner Goebbels hat dazu einen konkreten Vorschlag gemacht:7 In jedem Bundesland sollte ein Stadttheater komplett umgeräumt werden, das heißt vor allem von festem künstlerischem Personal und von Strukturen wie Repertoirebetrieb »befreit« werden, um es hinsichtlich der Produktionsbedingungen flexibel zu halten. Neben viel Positivem eines solchen Ortes als Laborraum gäbe es das Problem: Es würde sich sofort eine andere Verwaltungsproblematik in das Haus hineintransportieren. Die in der freien Szene ohnehin schon überbordende »Projektitis« würde sich ins Haus verlagern. Meine Vision wäre, das miteinander zu vermengen. Man hat ein flexibles, aber im Kern festes Ensemble, das, während es an dem einen Projekt arbeitet, nicht schon wieder Anträge für das nächste stellen muss. Trotzdem wären die einzelnen Berufsgruppen am Theater nicht so statisch organisiert. Helmig: Wichtig ist die Möglichkeit der Kontinuität. Der Gedanke, dass man über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten kann, ist richtig und gut in den Theatern. Häufig werden die Mitglieder der Ensembles für die Stücke bzw. Rollen, die sie auf der Bühne spielen sollen, besetzt, also einfach eingeteilt – wie viel eigenes Engagement findet dann noch statt? Wenn es jedoch gut läuft, verstehe ich das, was »Theaterfamilie« heißt und wir als Künstler lieben: Wir sind zusammengewachsen und haben eine gemeinsame Sprache und Ästhetik entwickelt. Ortmann: Am Staats- und Stadttheater gibt es eine große Angst vor dem Scheitern, die mittlerweile die Häuser lähmt. Die Politik schaut auf Auslastungszahlen, und Schluss. Scheitern meint also nicht primär ein künstlerisches Scheitern, sondern besteht darin, den Publikumsgeschmack nicht zu treffen – oder den der Presse. Kampe: Angstfrei arbeiten zu können … Helmig: … das wäre schon ein großer Schritt für das Schaffen von utopischen Räumen im Stadttheater. Schälicke: Wenn ich von utopischen Räumen spreche, denke ich natürlich

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an mein Gewerk, das Licht: Meine Lichtutopie ist ein schwarzer Kasten und ein wunderschöner Scheinwerfer, am liebsten in Gelb. Das ist mein utopisches Licht. Ein großes Licht. Diese Utopie setze ich da rein, ganz hierarchisch. Und dann ist die Frage, wie wir miteinander kommunizieren – und ob es dann wirklich ein gelbes Licht am Ende ist … Bazak: Es geht sowohl darum, Denkräume zu schaffen als auch »die Form« zu finden, die Reibung erzeugt zwischen Kunstform und Realität. Ortmann: Um den Begriff der Formen aufzugreifen: Wie kann man zum Beispiel Dokumentartheater im Musiktheater machen? Durch den dokumentarischen Ansatz haben wir die Chance, Bekanntes, Alltägliches, Gefundenes umzudeuten. Gegenüber einer hermetischen, künstlerischen Form haben wir hier eine unmittelbare Anbindung an die Welt des Alltags der Zuschauer, die dann ganz anders erfahrbar gemacht wird. Diese Reibung am Alltag hat uns interessiert, insbesondere in der Form des Musiktheaters, die ja gegenüber anderen Theaterformen eine sehr künstliche, ästhetisierte ist. Meine Hoffnung ist, dass sich durch diese Reibung dann der »andere Blick« für das Publikum auf ihre Stadt einstellt. Es ist eben kein Stück, das man auch in Osnabrück oder Berlin spielen kann. Kampe: Reibung mit dem Alltag, das ist auch so etwas … Als Komponist bekommt man häufig vorgeworfen, man säße in einem Elfenbeinturm. Ich finde das sogar gut – wenn er ein Fenster hat. Ich gehe zum Metzger und bestelle Hack. Dann gehe ich ins Theater und sehe einen Schauspieler, wie er auch Hack kauft … Um zu zeigen, dass man nicht abgehoben ist, macht man auf der Bühne das Gleiche, was man sonst auch macht. Das ist mir zu einfach. Wenn man mit gesampelten Textmaterial arbeitet, führt die Frage nach dem Sinn von Musik in so einem Stück automatisch zu spannenden Reibungen: Ein Satz wie »Sprechen Sie doch mal mit dem Oberbürgermeister« wird über die Musikalisierung, die Verknüpfung mit Gesang zu einer skurrilen theatralen Situation, einem Spiel, zu dem ich eine Haltung entwickeln muss. Bazak: Genau. Dann wird dokumentarisches Material neu kontextualisiert und in einer anderen Form wiedergegeben, aber bleibt erkennbar authentisches dokumentarisches Material. So ist das auch mit unseren Spielstätten: Zuschauerraum, Foyer und Bühne bleiben in ihrer ursprünglichen Funktion erhalten, als Startpunkt für die jeweiligen Zuschauergruppen. Um die bisher theoretischen Denkräume zu visualisieren, also ein sichtbares Utopiemodell zu erschaffen, werden wir mit Objekten, Modellen und Licht arbeiten. Wir nutzen die Ergebnisse unserer Materialsammlung des letzten Jahres für ein Spiel auf der »Bühne«. Wir arbeiten uns an Ideenfragmenten, Modellen, Visionen, Projektentwürfen und Formen ab und provozieren so eine Reaktion, sowohl innerhalb des Ensembles als auch bei den Zuschauern. Die Form der

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Aufführung wird immer wieder offene Momente haben. Es wird nicht durchgehend erzählt, sondern der Abend wird aufgebrochen in Richtung Ausstellung/ Installation. Dabei machen wir aber kein Reenactment, sondern erschaffen aus dem in Bielefeld gesammelten Material in den Räumen des Theaters am Alten Markt nach und nach einen utopischen Raum. Kampe: Ich habe versucht, die Musik so zu machen, dass wir die Chance haben, zu reagieren, offen zu bleiben. Wir haben drei Räume/Spielorte, die miteinander interagieren, die aber jeweils ihre ganz eigene Identität haben, in denen auch die Zuschauer ganz individuell Dinge erleben, das muss man beim Komponieren permanent bedenken. Bazak: Das Publikum erlebt in drei Gruppen drei unterschiedliche Aufführungen. Eine Stadt funktioniert ähnlich: Als Bewohner oder Besucher einer Stadt kann man nie alles auf einmal sehen oder erleben. Man weiß aber, es ist da, es passiert. Das Geschehen im Zentrum beeinflusst dich auch, wenn du gerade am anderen Ende der Stadt bist. Das spiegeln unsere drei Räume, die zu Bühnenräumen werden, wider. Die Installation, in der unser Abend stattfindet, ist vor und nach dem Stück für das Publikum offen. Beginn und Ende bieten an, die Räume anders zu erleben: Als eine Theaterbühne, als »Ausstellungsraum«, zu dem auch die Zuschauer selbst gehören und in den sich Veränderungen einschreiben bzw. eingeschrieben haben. Wir wollen die Spuren des Abends weiterhin für die Zuschauer erlebbar machen. Auch nach dem Davor und Danach – diese beiden Zustände sind wichtig. Wie es vor der Vorstellung war und danach ist, das ist etwas Spannendes, das man normalerweise nicht gezeigt bekommt im Theater: Diese drei Räume spiegeln den Prozess, den wir als Team selbst durchlaufen haben, die Orte, an denen wir waren. Der Prozess ist unsere Dramaturgie. Weshalb Einführung und Begrüßung auch Teil des eigentlichen Musiktheaters sind – oder umgekehrt formuliert, das Musiktheater ist Teil der Einführung. Kampe: Es wäre nicht möglich und von mir auch gar nicht gewollt, dass wir im Probenprozess erst das ganze Stück komponieren, denn ich bin auch Komponist und will nicht nur sammeln und amalgamieren und arrangieren, sondern auch erfinden – wissend, dass das unmöglich ist. So lange wie möglich offen also, aber das stille Kämmerlein, indem man Harmonien und Beats und Instrumentation abschmeckt, das war auch notwendig. Bazak: Es ist jetzt noch offen, wie der Schluss aussehen wird – ob es ein »Schluss« ist oder eher der Anfang von etwas Neuem.

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Gordon Kampe, Ivan Bazak, Benjamin Schälicke, Ilka Rümke, Magdalena Helmig, Katharina Ortmann

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Bielefelder Stimmen Gordon Kampe 1  Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, S. 19. 2  Hans-Joachim Hespos, ..redeZeichen.. Texte zur Musik 1969–1999, Saarbrücken 2000, S. 43. 3  Rimini Protokoll, ABCD, Berlin 2012, S. 129.

Für Stimme zu schreiben, das ist wie Inneneinrichtung. Als Komponist, als Musiker, bin ich da ganz zu Hause: »Dove sono« aus Mozarts Le nozze di Figaro, Beethovens große Leonoren-Arie, die Nr. 5 aus dem Brahms-Requiem, das Wolff-Gebet, viele Schreker- und Zemlinsky-Lieder, Bergs Lulu, Feldmans Neither und Weills Songs und Eislers »Mutter Beimlein« und auch Jacques Brel und Édith Piaf und die merkwürdigsten Vokalerweiterungen von Berio, Berberian, Schnebel, Hespos, Lachenmann oder Hölszky bis hin zu Aperghis’ »Récitations« oder Ablingers »Voices and Piano«: Das habe ich alles auf dem Buckel, das steht als Möglichkeit neben mir und droht zuweilen. Doch die Drohungen gehen womöglich eher vom Material und dessen Erweiterungen aus, die sich auch im Bereich der Vokalmusik vermutlich langsam erschöpft haben. Insofern können, ja müssen alle oben paradigmatisch genannten Vokalstile und Genres eine Möglichkeit sein: »When too perfect lieber Gott böse«, sagte Nam June Paik einst, und dies mag auch für den Umgang mit Vokalität gelten, wie sie in Plätze. Dächer. Leute. Wege. vorkommt: Eine Belcanto-Linie der ausgebildeten Opernsängerstimme trifft dort ebenso auf die sprechende Stimme einer Schauspielerin, wie die Sprechstimme eines Sängers mit der Singstimme einer Schauspielerin kollidiert. Zudem werden die in der Partitur komponierten Stimmpartien konfrontiert mit O-Tönen, die im Rechercheprozess aufgenommen wurden: Man hört Menschen unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Herkunft sprechen und singen, schließlich werden neben den Stimmen des Produktionsteams auch die Stimmen des Produktionscomputers hörbar sein – und jedes akustische Erscheinen der Stimmen wird auch jenseits des semantischen Inhalts das Stück, die Atmosphäre, den Raum beeinflussen und prägen: »Neben Blick, Geste, Körperhaltungen, Geräuschen, Musik, Rhythmen oder Atmosphären erscheint die Stimme als ein performatives Phänomen par excellence.«1 Die Stimmen in Plätze. Dächer. Leute. Wege. sind nicht mehr nur mit Sopran, Alt, Tenor oder Bass zu bezeichnen, sondern werden vielmehr individualisiert: Jede Stimme ist willkommen, denn, wie Hans-Joachim Hespos es einst eindrücklich auf den Punkt brachte: »letztendlich geht es in allem um gesang.«2 Unter diesem Aspekt betrachtet, hat das musikalisch-kompositorische Konzept die vielleicht größten Berührungspunkte mit der konzeptionellen Grundidee, die u. a. durch ein Zitat des Theaterkollektivs Rimini Protokoll angeregt wurde: »Eigentlich müsste in einem richtigen Stadttheater, das sich beim Wort nimmt, doch die ganze Stadt Theater spielen.«3 Wenn das Theater, ganz traditionell betrachtet, zur Funktion der Agora zurückkehren soll, in der die Zukunft der Stadt, des Zusammenlebens diskutiert und erprobt wird, dann ist die Stadt in ihrer ganzen Vielstimmigkeit aufgerufen und angesprochen.

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Insofern kann ich auch dem Musiktheater nur empfehlen, sich die Wunschliste Stefan Kaegis zu eigen zu machen und stets zu erweitern, der dem Theater 35 Stimmen wünschte, darunter z. B. »Die Stimme des Münchner Hochenergiephysikers, der auf Konferenzen das englische Wort ›Particle‹ so bayrisch ausspricht, dass man meint, er spreche von Weißwurst. […] Die Brüllaffen im Urwald von Palenque, Mexiko. […] Die Stimme einer Zuschauerin mit Schluckauf (wird sie bleiben?)«4 usw. Um auch in der Gesamtanlage eine möglichst große Stimmpolyphonie zu erreichen, sind die einzelnen »Nummern« des Stückes komponiert wie musikalische »Schwämme«, die stets bereit sind, alles, was sie umgibt, in sich aufzunehmen. Einzelne Nummern können daher wiederholt und überlagert werden, synchron in unterschiedlichen Räumen gespielt, von Samples, O-Tönen und Zuspielungen begleitet oder überdeckt werden oder, etwa durch extreme Verstärkungen, selbst aggressiv potenzielle Fremdkörper stören. Die Stimmen werden begleitet, angereichert, kommentiert von einem achtköpfigen Ensemble, bestehend aus Klarinette, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Hin und wieder wird ein Micro-Korg-Synthesizer seinen recitativoartigen Unsinn treiben. Die Musik des Ensembles versucht dabei, den Stimmungen der Worte nachzuspüren, die Stimmen, Texte, O-Töne, Samples und Lieder zu begleiten, zu überlagern, Farben, Tonfälle, Brüchiges herauszulesen, Textfetzen zu kommentieren, Melodien, Harmonien, Rhythmen aus dem gegebenen Material zu destillieren. Es werden unterschiedlichste Filterprozesse angewandt, sodass z. B. am Ende einiger Prozesse lediglich die Sinustonhülle eines Ausgangsmaterials übrig bleiben wird. »Prima la musica e poi le parole« – das spielt hier keine Rolle mehr, da per se alles gleichwertig behandelt und komponiert wird, denn selbst der Eigenklang eines im Kompositionsprozess angewandten und zu Fehlern neigenden Computerprogrammes wird mitgedacht und bekommt eine eigene »Arie«. Konkrete Beispiele: In der »Nörgel-Arie« habe ich den O-Ton eines Bielefelder Bürgers eins zu eins und ganz traditionell vertont: »Reden Sie doch mal mit dem Oberbürgermeister!«, heißt es da leicht grantig. Dazu jammern die Wawa- und Plunger-Dämpfer der Blechbläser, und die Streicher hauen mal so richtig auf den Tisch. An anderer Stelle, in einem Terzett am Ende des Stückes, singen Sopran und Bariton nur mehr Fragmente von einstmals zusammenhängenden Texten: »Nichts!«, heißt es da in vorsichtigem Belcanto, und die Schauspielerin kommentiert mit ungekünstelter Stimme: »Hä?« (T. 718). Möglich ist es auch, dass eine größere melodische Linie die schlicht gesprochenen Texte kommentiert und sich in den Inhalt mit Belcanto einfräst: »Und zerrieben und versickert«, kommentiert die Sopranistin etwa den Bericht über Verwaltungsvorgänge bezüglich der sogenannten Wilden Liga,

4  Stefan Kaegi, »Kunst Genug. 35 Stimmen, wie ich sie dem Theater wünsche«, in: Doris Kolesch und Jenny Schrödl (Hrsg.), Kunst-Stimmen, Bonn 2004, S. 12–14.

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die sich jenseits der Fußballbundesliga in Bielefeld etablierte: »Vor Jahren hat die Stadt versucht, das Trainingsgelände der Wilden Liga einzuzäunen, als Trainingsgelände für Arminia oder so. Durch irgendwelche Anarchisten ist das immer wieder aufgebrochen worden. Und jedes Mal, wenn wir da sonntags hinkamen, war da irgendwo eine Öffnung, und wir konnten weiterspielen. Die Wilde Liga brauchte diesen Platz. […].« Derlei in Bielefeld gesammelte Texte werden zuweilen auch unbearbeitet wiedergegeben, an anderer Stelle durch Klänge aus dem Ensemble kommentiert, oder es wird – zumeist mit dem Computer – in einen O-Ton hineingezoomt und ganz anderes daraus gelesen, als die Semantik es zunächst erlaubt hätte. Komponiert, umgewandelt und arrangiert werden so nicht nur Texte von Bielefelder Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch deren Tonfall, deren Sprache und Stimmungen. Plätze. Dächer. Leute. Wege. ist also nicht allein ein Stück über Bielefeld, es klingt auch ganz wie Bielefeld: »Eigentlich müsste in einem richtigen Stadttheater, das sich beim Wort nimmt, doch die ganze Stadt mitsingen.«

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Utopie üben Ein Gespräch Ivan Bazak und Elke Krasny Virginia Woolf hat im Januar des Jahres 1915, genau 100 Jahre bevor unser Gespräch stattfindet, Folgendes in ihr Tagebuch geschrieben: »Die Zukunft ist dunkel, was – im Ganzen gesehen – wohl das Beste ist, was die Zukunft sein kann, finde ich.« Diesen Satz hat Virginia Woolf sechs Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs geschrieben. Die Essayistin Rebecca Solnit knüpft an diesen Satz von Virginia Woolf in dem schmalen Band Men Explain Things to Me an. Man weiß nicht, auf welche Zukunft eine Vergangenheit treffen wird. Also was für eine Wendung, die man nicht vorhersehen kann, etwas nimmt. In dieser Differenz der Unvorhersehbarkeit liegt ein utopisches Moment. Rebecca Solnit beschreibt das an einem Beispiel: In der Nevada-Wüste wurde 1988 gegen eine Nevada Test Site für Atombombentests protestiert, um ihre Schließung zu erwirken. Diese wurde dann aber nicht geschlossen. Daraufhin haben Menschen aus der Sowjetunion angefangen zu protestieren, und es wurde ein anderes Testgelände, in Kasachstan, geschlossen. Man kann nie wissen, was die eigenen Handlungen für Folgen haben. Deswegen plädiert Solnit dafür, dass man nicht aufhört zu handeln. Viele kritische Linke strahlen Resignation aus, fast schon so, als ob man gar nicht mehr handeln könnte, da jede Form von Handlung durch die Dystopien der spätkapitalistischen Monstrosität verzerrt oder absorbiert wird. Das gleicht einer Art von Selbstaufgabe. Ich dagegen versuche, mit diesen Zitaten das eigene Denken zu aktivieren, auch für die Debatte, die wir gerade führen. Das führt mich zur entscheidenden Frage: In welchen Strukturen können utopisches Denken und Handeln funktionieren? Ich weiß beispielsweise nicht, wie eine Szene im laufenden Projekt in der Zukunft wirken kann. An KünstlerInnen, TheoretikerInnen oder auch WissenschaftlerInnen werden oft Fragen delegiert, die wünschenswerte Entwicklungen betreffen. Ich frage mich aber, ob man einen derartigen »Utopieauftrag« überhaupt annehmen kann. Ich denke, den Auftrag muss man sich selbst geben beziehungsweise ein entsprechendes Vorhaben entwickeln. Prospektive Ziele im Rahmen eines solchen Projektes muss man über einen langen Zeitraum hinweg entwickeln und verfolgen. Hinzu kommt, dass man für sich zunächst den Begriff der Utopie definieren muss. Der Begriff der Utopie und seine Aktualisierungen sind einem stetigen Wandel unterworfen, da sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen andere Kalibrierungen, Inhalte und Verfasstheiten

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konkretisieren. Bezogen auf den Kulturbereich, kann man heute nicht mehr einfach von Avantgarden (in unserer jetzigen Gegenwart) sprechen, da die Begriffsbildung und Ausformung einer bestimmten historischen Situation, der Moderne, geschuldet sind. Utopie kann also für verschiedene Gesellschaftsstrukturen ganz andere Bedeutungen und Definitionen haben. Deshalb sind die jeweilige konkrete Situation und die projektbezogene Diskursivierung dieses Prozesses von entscheidender Bedeutung. Als Modellfall eines »Utopienauftrags« möchte ich gerne die Bielefelder Laborschule nennen, die uns die meiste Zeit während unserer Projektvorbereitung als ein ganz besonderes Beispiel begleitet hat. Die Schule sollte einen Gegenentwurf zum frontalen Lehren und Lernen sein und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln. Die Gründer wussten damals nicht, ob dieses Projekt je Erfolg haben und das Konzept funktionieren würde. Aber sie haben nicht aufgegeben und nicht aufgehört zu handeln. Offenbar mit großem Erfolg: Wir haben dort unter anderem lange mit einem Sozialpädagogen gesprochen, der von dieser Schulform so begeistert ist, dass er gerne in seiner Heimat Frankreich eine Schule mit dem gleichen Konzept eröffnen möchte. Diese Ausdauer, die sich jeden Tag in der Arbeit der Laborschule zeigt, finde ich sehr bewundernswert. Dieses Dranbleiben kann mit Malen verglichen werden: Malen ist eigentlich permanentes Üben. Natürlich sind Motiv, Konzepte und kompositorische Überlegungen wichtig. Aber nur selten, jedoch dann ganz plötzlich, gelingt etwas Außergewöhnliches, das etwas einen ungeahnten Schritt weiterbringt. Dazwischen gelingt manches, es ist aber, bezogen auf das, was sich unvermittelt ereignet, einfach nur eine Art Übung. Ein anderes Beispiel, das uns in unseren Überlegungen begleitete, ist die Wilde Liga in Bielefeld. Die Wilde Liga war anfangs ein linker Gegenentwurf zur Bundesliga: ein Raum, in dem gemeinsam Fußball gespielt wird – egal, woher man kommt. Es gab einen utopischen Gründungsmoment mit dem Ziel, etwas zu initiieren, das eine Gegenhaltung verdeutlicht. Die Etablierung einer anderen Form von Liga, die im Kontrast zur konventionellen Liga andere Werthaltungen verdeutlicht und propagiert. Um eine Utopie als motivierendes Agens zu erhalten und um ihr Dauer zu verleihen, braucht man etwas, das ich vorher als Übung beschrieben habe. Daran knüpft sich die Frage an, wie einzelne Personen und gesellschaftliche Gruppen zu einer alltäglichen Praxis finden können, damit diese Utopien oder

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diese Gegenentwürfe ins Gesellschaftsleben eingeschrieben werden. Und das bedeutet außerdem, dass eine Utopie sich selbst nicht gleich bleiben kann. Das heißt, dass eine Utopie eine transformationsbedürftige Figur wird. So denkt man Utopie normalerweise nicht, denn die Utopie ist meist das Komplette, ein fertig ausgestaltetes Ideal. Wenn man sich aber davon verabschiedet, dass eine Utopie das Fertige ist oder dass eine Utopie je fertig gewesen sein kann, dann ist das ein ganz großer Erkenntnisgewinn, der aus der Praxis der Beobachtung gewonnen werden kann, wie dies das Beispiel der Wilden Liga verdeutlicht. Bielefeld ist eine multiethnische, migrationsgesellschaftliche Stadt, und es ist ein großes migrationsgesellschaftliches, utopisches Moment, dass so eine Wilde Liga eine Dis-/Kontinuität, Dis-/Konformität in ein konkretes Tun übersetzt, dem eine Form gibt und Öffentlichkeit gewinnt. Braucht Gesellschaftsarbeit diese Art Geld, braucht es Geld, um Utopien zu gestalten und wirklich werden zu lassen? Aus einer bestimmten Perspektive würde man sagen: Utopie braucht gar kein Geld. Eine Utopie zu denken wäre, eine geldlose Utopie zu denken oder denken zu können. Auf der anderen Seite müsste man sagen: Die minimalen Realansprüche, die vormals utopisch waren und durch politische Prozesse erkämpft und gestaltet wurden, wie die Sicherung eines Existenzminimums, Gesundheitsvorsorge, Bildung für alle und eine kulturelle Versorgtheit, brauchen immer mehr Geld, Geld, das zum gesellschaftlichen Streitthema wird. Damit der erkämpfte und erworbene gesellschaftliche Konsens erhalten bleibt und seine utopischen Ziele nicht erodieren, also etwas werden, das keinen gesellschaftlichen Ort und keine Zeit hat, muss mehr Geld dafür gefordert werden. Das ist ein Dilemma, das künstlerische Projektsituationen betrifft, die Gesellschaftsarbeit anregen wollen und von utopischen Zielen geleitet werden. Hier zeigt die Theoriebetrachtung, dass die Praxis immer schon härter oder unüberwindbarer ist, als man sich das vorstellen will, kann und sollte. Utopie soll durch eine Praxis auch anders denkbar werden, da man sich nicht allein auf die Worte oder auf das Sprechen verlassen kann. Unsere Feldarbeit bestand aus vielen Gesprächen mit Menschen, das war grundlegend. Es gibt aber auch einen großen Moment des Bauens in dieser Projektentwicklung. Die konkrete bauliche Präsenz bedingte eine Evozierung von etwas, was different werden kann.

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Das führt mich zu den Fragen: Gibt es einen Moment, in dem das Bauen wirksam wird im Utopischen? Oder verwendet man das Bauen, um das Utopische verhandeln zu können – selbst wenn nicht wirklich gebaut werden soll? Meine künstlerische Vorgehensweise ist die, dass ich oft über das Material auf eine Sache zugehe. Das interessiert und begeistert mich: das Planen, auch wenn es vielleicht gar nicht zustande kommt. Ursprünglich sollte eines der Zelte in diesem Projekt immer weiter wachsen. Aber dann haben wir feststellen müssen, dass wir das größere Zelt nur mit einem kostenpflichtigen Transporter an unterschiedliche Orten bringen können. So etwas Banales wie der Transport hätte unser Budget gesprengt. So blieb das Zelt für die künstlerische Interventionen in der Stadt so groß – oder, besser gesagt, so klein –, dass wir es selbstständig mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren konnten. Was bedeutet das nun für produktive und reproduktive Arbeit? Macht Utopie mehr Arbeit? Also nicht die Frage nach mehr Geld, sondern was bedeutet es für eine Künstlerin, für einen Künstler, sich Utopien zu erlauben? Eigentlich möchte ich an der Utopie arbeiten, mit den Zufallsstimmen, die aus einem städtischen Zusammentreffen entstehen oder aus einer städtischen Vielheit. Ich versuche, jetzt das Wort »Kollektiv« zu vermeiden, weil ich glaube, dass die Stadt ein Zusammentreffen von vielen ist. Und um dieses »hörbar zu machen«, braucht es einen physischen Einsatz. Und hinter diesem physischen Einsatz, das Zelt aufzubauen, steckt für mich eine andere Utopieinvestition. Also dass man bereit ist, über das übliche Maß hinaus körperliche und sonstige Arbeit zu investieren. Es stellen sich Fragen nach den Bedingungen und Mitteln: Was sind die realen Beschränkungen? Wie hoch ist der Selbsteinsatz, um überhaupt dorthin zu kommen, um noch mal so ein Utopiebegehren in die Öffentlichkeit zu setzen? Greifen wir die Architektur als Beispiel auf: Wenn man die Architekturgeschichte betrachtet, gibt’s ein ganz klassisches Reservoire an gebauten und nichtgebauten Utopien: Revolutionsarchitekturen, gebaute Manifeste der Avantgarden in den 1920er Jahren, gebaute Utopien aus den 1960er Jahren etc. Die gebauten Utopien werden aber nicht von utopischen Körpern bewohnt. Die real gebauten Utopien ermöglichen oft nicht das utopische Leben, das idealtypisch beim Bauen entworfen wurde. Andererseits ist man auch bei den ungebauten Modellen manchmal ganz glücklich, dass sie nicht gebaut wurden. Bezogen auf das Projekt, stellt sich deshalb auch die Frage: Was ist

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das Modell in diesem Projekt? Stellt das Modell den Anspruch, je überhaupt so gebaut zu werden? Oder hat das Modell vielmehr eine Katalysatorfunktion, um etwas zu provozieren? Diese Differenzen in unserer »Utopie« verwirklichen wir gleichsam mit unserem Modell, weil es fern von jenen Konventionen ist, wie Utopien normalerweise gedacht werden. Das betrifft auch das Bauliche. Modelle sind in diesem Zusammenhang insofern wichtig, als sie uns auf konzeptueller Ebene ermöglichen, eine Utopie anzuregen oder ins Laufen zu bringen. Warum ist das Modell, das sich am Maßstab misst, ein ganz wichtiges Verfahren, um ein anderes Nachdenken zu provozieren? Warum hängt das so stark an dieser physisch gebauten Welt? Utopie hat ja immer auch einen Modellcharakter. Jede Utopie schlägt eine andere Form von Lebensmodell vor oder verankert diese. So wie beispielsweise das Zusammenleben von vielen Menschen entweder als Kollektiv in den gebauten und sozialen Räumen funktioniert oder eine maximale Individualisierung ermöglicht. So wird über das Gebaute die Konstellation zwischen den Menschen anders verhandelbar und erlebbar. Deshalb ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass das Modell hier auftaucht, und zwar in einem Maßstab, der in einem Realmaßstab zu lesen ist. Man kann sich körperlich als betrachtende Person oder als Rezipient da hineinversetzen. Bei unserem Symposium zu Plätze. Dächer. Leute. Wege., das im Rahmen unseres Projekts im Bielefelder Rathaus stattfand, gab es eine ähnliche Situation. Ursprünglich wollten wir in den Raum eine große Installation mit einer anderen Sitzordnung hineinbauen. Bei der Besichtigung des Raums mussten wir dann feststellen, dass das nicht möglich war. Jemand hatte sich diese Konstellation im Raum als Sitzordnung überlegt. Dieser Raum im Rathaus war für das demokratische Sprechen in politischen Zusammenhängen eingerichtet. Also nicht nur inhaltlich, sondern auch im Sinne von Fraktionen der Kommunalpolitik. Ich finde es spannend, wie sich das in unser Sprechen einschreibt und unser Handeln konventionalisiert. Es stellt sich nämlich auch die Frage, ob diese räumlich vorgegebene Struktur das präzise Nachdenken über Utopien verhindert. Der Raum hat etwas ganz Spezifisches mit uns allen gemacht. Diese Erfahrung ist von Relevanz für das Stück: Was ist das für eine Raumkonfiguration, die so einen anderen Anspruch auf Utopieverhandlung erhebt? Was wäre wie eine Parallelsituation: der rechteckige Raum mit unterschiedlichen technologisch gesteuerten Sprecherpositionen?

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Plenarsaal, Rathaus Bielefeld

Ein anderer Modellfall, an dem sich das eben Diskutierte zeigt, sind die von Walter Gropius konzipierten Meisterhäuser in Dessau. Sie sind ein 1:1-Modell. Ich habe dort den Auftrag, eine Intervention zu konzipieren, die im Gartenareal oder im Außenbereich des Meisterhausensembles in Dessau stattfinden soll. Es soll sowohl eine Infrastruktur für diverse Ereignisse bieten als auch als künstlerische Intervention in einem Garten fungieren, der sonst nicht möbliert ist. Das erste Haus des Meisterhausensembles, in dem die Direktoren Gropius, Meyer und Mies gewohnt hatten, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. In DDR-Zeiten wurde dann auf seinen Fundamenten ein neues Haus mit Giebeldach errichtet. Das Zelthaus ist nach einem Modulsystem aufgebaut und wandelbar. Eine der Formen imitiert das typische DDR-Giebeldachhaus. Das Zelt kann sowohl in Größe als auch Form der Anzahl der Personen angepasst werden, die hier zu einem Stammtisch zusammenkommen. Die Idee war es, dieses Zelthaus als Versammlungsort zu etablieren. Meine Frage ist ähnlich wie die im Plenarsaal des Rathauses: Was macht ein Raum mit den Menschen?

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Haus Gropius, rekonstruiert 2014

Das Direktorenhaus der DDR-Zeit sah nicht mehr aus wie der weiße Bauhaustraum der Zukunft. Vielmehr erschien der DDR-Bau wie ein Rückschritt: ein klassisches Giebeldach. Die Utopie wurde in einen »Normalzustand« zurückgebaut. Oder ebendie Utopie derjenigen, die einst in das erste Haus eingezogen waren.

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Der Wunsch, das Haus in diesem Zustand nachzubauen, kann mit dem Arbeiten an Modellen zusammen gelesen werden, ich praktiziere das in unterschiedlicher Weise. Wie beginnen die Modelle da gemeinsam zu sprechen? Das historische Modell wurde von Gropius, Meyer, Mies bewohnt, dann kommt die DDR-Phase, danach gab es diese Restaurierung, die ein ganz bestimmtes Artefakt daraus gemacht hat, eine Musealisierung, die auch begehbar ist, aber die nicht den Anspruch auf eine Restaurierung oder eine Überführung in einen einstigen Originalzustand hat. Meine Intervention ist gleichsam eine Reaktion mit einem anderen Modell auf diesen Sachverhalt. Es sind Modelle im Maßstab 1:1, die auch modellhaft bewohnt werden müssen. Man müsste also eigentlich über die eigene Lebensführung – ich spreche jetzt von den Bauhäuslern – zeigen, dass dieses Gebaute, das andere Leben, das man in der Zukunft vielfach produzieren will, möglich macht. In diesem Zusammenhang fällt mir auch das Hausprojekt meiner Mutter ein. Sie hat sich einen fertigen Architekturplan gekauft, um ein Haus für die ganze Familie zu bauen. Letztendlich hat das alles 15 Jahre gedauert. Sie hat während des Bauens immer wieder gemerkt, was sie verändern möchte, dass sie das Haus kleiner, größer, bunter und so weiter machen möchte, und hat den Plan immer wieder den aktuellen Bedingungen und Bedürfnissen angepasst. War dieses Neu- und Umbauprojekt, das immerhin 15 Jahre gedauert hat, ein utopisches Projekt? Nun, in der Planung war es das auf jeden Fall! Immer wieder hat sie sich gefragt: Wie stelle ich mir das vor? Sie hat dann das gezeichnet, was sie sich vorgestellt hat, und es umgesetzt. Ist das nun ein utopischer Anspruch? Kann man die Behauptung aufrechterhalten, dass dies eine Utopie ist, die eigentlich für jede Person möglich sein sollte? Auch wenn das natürlich viel Arbeit macht … Für meine Eltern war es das. Sie hatten die Idee, ein Mehrgenerationenhaus für die Familie zu bauen. Auch wenn es momentan leer steht und irgendwann umfunktioniert werden muss. In meiner Generation gibt es eine große Zukunftsangst. Meine Eltern haben tatsächlich bessere Zeiten erlebt, und das in der einstigen Sowjetunion. Es funktionierte immer irgendwie. Zum Ende der Sowjetzeit wurde das Leben dann immer komplizierter und anstrengender. Mich bewegt in diesem Zusammenhang die Frage, wie ich mich in der jetzigen Gegenwart zu Geschichte und ihrem Erbe verhalten kann?

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Es gibt bestimmte Versprechen, die die westlichen Wohlfahrtsstaaten gemacht haben, die aber der Ostblock ebenfalls abdeckte: Dinge, die in der Masse für alle zur Verfügung stehen sollten – Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Versorgung im Alter, Mobilität, Infrastrukturen, Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen, ausreichend Bücher. Anders gesagt: das versorgte Subjekt. Im Westen genauso wie im Osten gab es die Vorstellung von versorgten Subjekten. Das funktionierte irgendwann nicht mehr. Die rigider werdenden Regime im Osten, die den Unterdrückungsapparat hochgefahren haben, und die Neoliberalisierung der Ausbeutungsverfahren im Westen haben den Druck auf die einzelnen Menschen erhöht. Beide haben sozusagen die Grundversorgungsversprechen aufgelöst und die Utopie, ein gutes Leben zu ermöglichen, korrumpiert. Adorno sagt: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Ich würde sagen: »Man muss immer für das richtige Leben im falschen kämpfen.« Was ist der Preis? Ist der Preis eine internationalisierte Ausbeutung, oder ist der Preis die Akzeptanz einer Permanentunterdrückung? Ich kann das nicht beantworten. Es gibt nicht viele Menschen, die ein Leben in beiden Systemen geführt haben. Interessant waren für mich diesbezüglich Gespräche mit Menschen deiner Generation in Lettland. Da habe ich immer wieder gehört – und das erscheint mir als utopisches Moment –, man habe eben den guten Teil eines Systems erlebt. Aber man ist in dem dystopischen Moment dieses guten Teils nie angekommen – und das ist der Teil, bevor man erwachsen wird. Und da kann man sagen: Okay, vielleicht liest man Utopie anders. Vielleicht können Utopien nicht erwachsen werden, vielleicht sind Utopien immer etwas, das eigentlich unfertig bleibt. Vielleicht ist die Vorstellung, dass die Utopie das Komplette oder das Fertige ist, die Vorstellung, die die Utopie immer schon unterwandert oder erschüttert hat. Ich muss sagen, ich habe Utopie nicht immer positiv gelesen. Ich glaube, es gibt viele totalitäre Utopien, viele faschistische Utopien. »Alles ist möglich« – das ist für mich keine Utopie. Das finde ich ganz schrecklich. Das heißt nämlich: Wirklich alles ist möglich! Ausbeutung, Vergewaltigung, Unterdrückung und das größte Maß an Unfreiheit. Genauso totalitär ist es, eine Zwangsutopie zu verordnen. Dann lieber keine Utopien, dann lieber reale Verhandlungen zwischen sehr vielen Brüchen und einer Situation, die die Verhandlung so möglich macht. Wie viel Utopie braucht es, um etwas am Leben zu erhalten, wenn es nicht bewohnt ist, wenn die Körper das nicht mit Leben erfüllen … Alltag und Atmen,

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Arbeitseinsatz und Tun und Werken, dieses Umbauen durch den Alltag – das, was auch meine Mutter praktiziert hat. Wenn das nicht da ist, das Üben, die Praxis. Die Praxis, die sozusagen immer mehr ist. Die Praxis ist immer mehr als die Theorie, die Praxis ist auch immer mehr als das Üben. Die Praxis ist immer mehr als die Produktion. Deswegen endet das Projekt auch nicht mit unserem Musiktheaterabend, sondern soll darüber hinausgehen. Ich setze die Wirklichkeit von den totalisierenden Ansprüchen ab, die als Utopie einen großen gesellschaftlichen Wurf propagieren, einer revolutionären oder sonst wie gearteten Umformung aller Verhältnisse, das Zusammenleben betreffend. Damit benenne ich auch den Kern dessen, was sich in unserem Projekt zeigen soll: Es ist der Anspruch, das eigene Leben so gestalten zu können, dass es den eigenen und vielleicht auch kollektiven Vorstellungen entspricht. Und wenn man bemerkt, dass die Vorstellungen, die man sich gemacht hat, eigentlich nicht jene sind, die man jetzt verwirklichen möchte, um sich nach geänderten Ansprüchen auch wohlfühlen zu können, dann baut man einfach um.

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kollektive_zwischenräume Benjamin Wihstutz Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen. […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. Michel Foucault, »Andere Räume« Es gibt mindestens zwei Wege, die Frage nach der Identität einer Stadt zu beantworten. Den ersten Weg schlagen Werbetexter ein, wenn sie mit einem Motto die jeweilige Stadt als Marke anpreisen: »Sei Wandel. Sei Berlin«, »München mag Dich«, »Bochum macht jung«, »Bielefeld bewegt«, »Gifhorn beflügelt«. Slogans dieser Art suggerieren, die Identität einer Stadt lasse sich in wenigen Worten zusammenfassen und es lasse sich ein unverwechselbares Image kreieren, mit dem sich Bürger und Unternehmen gleichermaßen identifizieren können und das allein durch die Attraktivität der Worte für wirtschaftliches Wachstum sorgt. Der zweite Weg besteht hingegen darin, gar nicht erst nach einem Bild oder einer kohärenten Identität zu suchen, sondern vielmehr die Stadt als Lebenswirklichkeit zu begreifen, wobei es nicht allein um das menschliche Miteinander geht. Vielmehr kann die Stadt als heterogenes Ensemble von Menschen und Dingen verstanden werden, deren Relationen jeweils andere Muster oder Strukturen bilden, die sich dann jeweils in den sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen eines Ortes niederschlagen. Folgt man dem Titel des Musiktheaterprojekts von Gordon Kampe, Ivan Bazak und Katharina Ortmann, so soll es hier um diesen zweiten Weg gehen. Nach der Zukunft und den Utopien einer Stadt zu fragen, bedeutet aus dieser Perspektive, dass sich diese nicht auf ein einheitliches Bild oder einen Slogan reduzieren lassen. Es muss darum gehen, auch die Wege, Relationen und Strukturen der Stadt zu berücksichtigen und damit jenes Zwischen von Menschen und Dingen, welches den urbanen Alltag und seinen Rhythmus generiert. Plätze. Dächer. Leute. Wege. Mit dem Philosophen Bruno Latour könnte man angesichts dieses Titels davon sprechen, dass hier die Stadt als Kollektiv gemeint ist, ein Kollektiv von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Denn das, was die Identität einer Stadt ausmacht, sind niemals allein die menschlichen Akteure, sondern vor allem auch Objekte, die selbst zu Akteuren und Bewohnern der Stadt werden. Latour erwähnt etwa das Beispiel der

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Straßenschwelle, die im Französischen passenderweise auch als gendarme couché, schlafender Polizist, bezeichnet wird und weder ein Ding noch ein Zeichen ist – wie etwa ein einfaches Verkehrsschild –, sondern selbst zu einer Art Akteur wird. Laut Latour delegiert der Verkehrspolizist seine Aufgabe an den Beton, welcher wiederum nicht direkt den Fahrer eines Fahrzeugs ausbremst, sondern das Kollektiv aus Fahrer und Fahrzeug (denn der Fahrer bremst nicht um sich, sondern um die Stoßdämpfer zu schonen). So kann man selbst in diesem Alltagsbeispiel eine Kette aus kollektiven Beziehungen von Menschen und Dingen sehen, die sich vom Subjekt-Objekt-, Aktiv-PassivDenken verabschieden.1 In diesem Sinne besteht eine Stadt nicht aus Bürgern, sondern aus Kollektiven, wobei die Stadt im Ganzen wiederum als eine Art Meta-Kollektiv betrachtet werden kann, die unendlich viele unterschiedliche Beziehungen und Kollektive ermöglicht. Auch der Titel der Oper kann entsprechend ins schier Unendliche ergänzt werden: Plätze. Dächer. Leute. Wege. Ampeln, Giebel, Autos, Schilder, Schornsteine, Fenster, Schächte, Leitungen, Rohre, Steine, Bäume, Hunde, Kräne, Häuser, Türen, Ratten, Fahrräder, Schwellen, Treppen, Mauern, Enten usw. Das, was die Stadt auszeichnet, ist ein Netz von Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, die überall und zu jeder Zeit verschiedene Kooperationen eingehen und in ihrem Zusammenwirken die urbane Alltagsrealität prägen. Stimmt die Diagnose Latours, dass wir nie modern gewesen sind, womit er meint, dass eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen Gesellschaft und Technik nie stattgefunden hat, wir vielmehr ein immer engmaschigeres Netz aus Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten, zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren bilden, so ist die Geschichte der Städte als Meta-Kollektive vielleicht eines der augenscheinlichsten Symptome für diese Entwicklung. Ich habe meinen Text »kollektive_zwischenräume« genannt, weil es mir im Folgenden um Möglichkeiten geht, mittels des Theaters sich mit den unseren (städtischen) Alltag prägenden Kollektiven zu beschäftigen. Dieser Shift der Aufmerksamkeit, weg von einem Subjekt-Objekt-Denken, das vor allem auch die ästhetische Theorie seit dem 18. Jahrhundert geprägt hat (dort steht ein Bild, hier stehe ich als Betrachter), hin zum Zwischen der Relationen geschieht im Theater selbst mithilfe kollektiver Prozesse. In den drei Arbeiten, die ich erwähnen möchte, werden die Zuschauer bzw. die Teilnehmer unter Verwendung technischer bzw. medialer Mittel (Radio, Video, Internet) jeweils als Kollektiv und als Einzelne zugleich angesprochen und aktiviert. Sie nehmen am Spiel teil, indem ihre individuellen Perspektiven und Handlungen – von Latour aus gedacht, nicht als Subjekte, sondern als Kollektive, das heißt im Zusammenwirken mit einem Radioempfänger (erstes Beispiel), dem

1  Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 224.

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2  Zum Konzept des Radioballetts siehe den von LIGNA gemeinsam mit Anne König und

Videodisplay eines iPads (zweites Beispiel) oder durch Webcams, FacebookAccounts und Chatrooms (drittes Beispiel) – zur Geltung kommen.

Paul Feigelfeld herausgegebenen Band: AN ALLE! Radio, Theater, Stadt, Leipzig 2011. 3  Die beiden Einkaufszentren gehören zu den jüngeren und größeren Shoppingmalls in Berlin: Die Arkaden wurden 1998, das Alexa 2008 eröffnet. Ciudades Paralelas – Parallele Städte ist ein Konzept von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) und Lola Arias und wurde in Berlin, Buenos Aires, Warschau, Zürich, Kopenhagen, Utrecht, Singapur, Cork, Kolkata und Delhi realisiert. Dabei wurden unterschiedliche Künstler und Regisseure gebeten, Orte, die sich in vielen Städten gleichen, wie Hotels, Shoppingcenter, Bibliotheken, Bahnhofshallen und Fabriken, mit performativen Mitteln auf neue Weise zu inszenieren und den Zuschauern zugänglich zu machen. Die Zuschauer konnten unterschiedliche mehrstündige Touren buchen, die verschiedene Orte bzw. Performances miteinander verknüpften. 4  LIGNA bezeichnet die Form seiner Radioballett-Performances als »Übungen im nichtbestimmungsmäßigen Verweilen« in »kollektiver Zerstreuung«, wobei es sich explizit auf Brechts Radiotheorie beruft, die vorschlägt, das Radio von einem »Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln«. Bertolt Brecht, »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1967, Bd. 18, S. 127–137, hier S. 129. 5  Es handelt sich um die Sprecher Lukas Holzhausen, Rika Blunk, Thomas Kügel und Edith Adam.

1. LIGNA (2010), Radioballett in der Shoppingmall Die choreografischen Happenings mit dem Namen »Radioballett« des Künstlerkollektivs LIGNA finden nicht in einem institutionellen Kunstraum, sondern meist im privatisierten öffentlichen Raum statt und können, da sie nie angemeldet sind, auch als politische Aktionen kollektiver Wiederaneignung dieser Räume verstanden werden.2 LIGNAs Performance Die erste Internationale der Shoppingmalls fand im September 2010 im Rahmen des vom Berliner Theater Hebbel am Ufer veranstalteten Festivals Parallele Städte abwechselnd in den Einkaufszentren Alexa am Alexanderplatz und Potsdamer Platz Arkaden statt und wurde seitdem in vielen Städten der Welt realisiert.3 Jeder Zuschauer bekam in der Nähe des Shoppingcenters für sein Theaterticket einen tragbaren Radioempfänger mit Ohrmuschel-Kopfhörern überreicht, außerdem wurden die etwa 70 Teilnehmenden gebeten, ein Zehncentstück bereitzuhalten, das man im Verlauf der Performance benötigen würde. Einzige Vorgabe des Radioballetts war nun, sich unauffällig unter die Einkäufer im Shoppingcenter zu begeben und in »kollektiver Zerstreuung«4 auf weitere Anweisungen über Kopfhörer zu warten. Die Choreografie erfolgte mithilfe eines in einer Tasche versteckten Piratensenders, der einen von zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspielern gesprochenen, mit Musik unterlegten Text sendete.5 Kurz nachdem man das Einkaufszentrum betreten hatte, begrüßte einen sogleich eine freundliche männliche Stimme: »Herzlich willkommen. Ich freue mich, dass Sie da sind. Darf ich mich vorstellen? Ich spreche im Namen der ganzen Shoppingmall. Nein, ich bin nicht die Dachorganisation, ich bin nur das Dach. Schauen Sie ruhig zu mir herauf. Ich bin nur ein Dach unter vielen auf dieser Welt. Wir kennen uns gut. Dasselbe Glas, derselbe Sand; kristallisierte Arbeitszeit. Wir haben die erste Internationale der Shoppingmalls gegründet. Wir wollen das Versprechen der Passage als utopischen Ort endlich realisieren. Dieser Ort, an dem alles möglich ist und der alles ermöglicht. Dieser Ort, der überall sein kann und überall Glück verspricht. Ein Ort, an dem alle Menschen gleich sind und die Dinge.«6 Nicht allein das Dach meldete sich im Folgenden zu Wort; auch der Boden, die Schaufenster und selbst die Waren wandten sich mit unterschiedlichen Stimmen an die Teilnehmer. Das utopische Moment, hier in Form einer geheimen Verschwörung namens Erste Internationale der Shoppingmalls, ging also auch in diesem Fall direkt von der Architektur aus. Die Zuschauer

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wurden von den sprechenden Dingen dazu aufgefordert, sich als teilnehmende Beobachter auf den unterschiedlichen Etagen zu verteilen und das Treiben des Einkaufszentrums in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich um eine Form unsichtbaren Theaters, die vorerst keinen Theaterraum konstituierte, sondern lediglich von den Eingeweihten als geheimes theatrales Spiel, als geheimes Kollektiv wahrgenommen wurde. So wurde man unter anderem dazu angehalten, heimlich einzelne Passanten bei ihrem Einkauf zu verfolgen oder eine Ecke aufzusuchen, um sich vor Blicken und Überwachungskameras für eine Weile zu verstecken. Etwas später ging es darum, gemeinsam mit anderen Teilnehmern »temporäre Banden« zu bilden und mit entweder zu schnellem oder viel zu langsamem Schritt den Shoppingrhythmus der Einkäufer zu stören. »Wo hört das Flanieren auf? Wo beginnt das unerwünschte Verweilen?«, fragte eine der Stimmen. Die Übungen entpuppten sich als eine Art Initiationsritus, deren erfolgreiche Absolvierung schließlich die Aufnahme in eine geheime Verschwörungsorganisation der Waren, Menschen und Dinge namens Erste Internationale der Shoppingmalls ermöglichte. Diese erfolgte mit einem performativen Sprechakt, bei dem man laut mit »Ja« antworten sollte, sofern man der Aufnahme in das Kollektiv zustimmte. Nicht zufällig ergeben sich in LIGNAs Shoppingmall-Performance Bezüge zu Walter Benjamins Passagen-Werk. Ohne den Autor beim Namen zu nennen, werden im gesprochenen Text Aussagen zum Flaneur, zur Langeweile oder zum Spiegel zitiert, auch wird die von Benjamin thematisierte enge Verwandtschaft von Passage und Theater hervorgehoben.7 Gleich zu Beginn des Radioballetts wird etwa das alltägliche Treiben des Einkaufszentrums mit dem Schauspiel verglichen: »Obwohl niemand den Passanten vorschreibt, welche Gesten sie machen, wie sie sich bewegen, steht in der Passage stets dasselbe Theaterstück auf dem Spielplan.« Nun rückte LIGNA diese längst vergessene Verbindung zwischen Theater und Passage auch dadurch ins Bewusstsein der Teilnehmenden, dass die Gruppe ihr unsichtbares und geheimes Theater,8 das sich offensichtlich als eine Art Gegenvorstellung zum Spektakel der Warenwelt begriff, mittels der Choreografie langsam sichtbar werden ließ. Bereits die momenthafte Bandenbildung und das stark beschleunigte oder verlangsamte Gehen sowie das kollektive Aussprechen des Wortes »Ja« oder in einer anderen Szene das Singen eines Verses der Internationalen vermochten die Aufmerksamkeit einiger Passanten zu erregen. Die endgültige Verwandlung der Shoppingmall in einen Aufführungsraum wurde schließlich durch zwei Übungen gegen Ende der Performance vollzogen, als deren Inszenierungscharakter offen zur Schau gestellt wurde. »Nehmt die Münze heraus, die ihr bei euch tragt. Ihr habt einen Wunsch frei.

6  Dankenswerterweise stellte mir Torsten Michaelsen die Tondateien zur Verfügung, die es mir ermöglichen, den exakten Wortlaut zu zitieren. 7  So findet man unter anderem bei Benjamin die Notiz: »In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden auch die Theater mit Vorliebe in die Passagen verlegt. […] Noch heute findet man in der Passage Choiseul die Bouffes Parisiennes, und wenn die übrigen Szenen ihren Platz haben räumen müssen, eröffnen die kleinen blanken Kabinette der Billetagenturen [etwas] wie einen Geheimgang in alle Theater. Aber das kann keine Darstellung davon geben, wie strikt ursprünglich die Verbindung von Passage und Theater gewesen ist.« Walter Benjamin, Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1982, Bd. V/2, S. 997. 8  Mit Augusto Boals Methode des unsichtbaren Theaters haben die Übungen des Radioballetts allerdings recht wenig gemein. Denn die politische Strategie scheint hier weitaus weniger in den Inhalten zu liegen, geschweige denn in der Überzeugung von Passanten, als vielmehr in der Form der Performance, die sich als eine ganz eigene Mischung aus brechtscher Distanzierung und situationistischer Einmischung beschreiben ließe.

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9  Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 31, Hervorhebung im Original.

[…] Überlegt gut, was ihr euch wünschen wollt. Wenn ihr das allgemeine Äquivalent fallen lasst, in diesem unersetzlichen Moment, kann ein Wunsch in Erfüllung gehen. Wartet noch einen Moment. Wir geben euch ein Zeichen. Bedenkt, dass es nicht üblich ist, etwas wegzugeben, ohne etwas dafür wiederzubekommen. Versucht nicht an die Münze, sondern nur an euren Wunsch zu denken … Jetzt.« Mit dem synchronisierten Fallenlassen der Münze machten die Teilnehmer des Radioballetts unweigerlich auf sich aufmerksam. Obwohl sie sich nach wie vor zerstreut in ganz unterschiedlichen Ecken des Shoppingcenters befanden, schuf die Choreografie der Gruppe eine Bühne. Zugleich setzte die Geldverschwendung als symbolischer Akt, der sich dem Konsum und der Logik des Handels widersetzt, eine Geste des Widerstands in Szene, die den utopischen Wunsch nach einer konsum- und geldfreien Gesellschaft thematisierte. Kurze Zeit später wurde an die Teilnehmer appelliert, als theatrales Publikum in Aktion zu treten: »Applaudiert den kommenden Dingen! Applaudiert nicht zu leise! Applaudiert der zukünftigen Zeit!« Auf allen Etagen des Shoppingcenters war der Applaus zu hören. Unerwartet erfüllte er den Raum, die Gänge, die Läden und Rolltreppen. Passanten schauten sich um, blieben stehen oder setzten ihren Gang fort, während sie beim Laufen irritiert zu den Claqueuren aufblickten. Für einen kurzen Moment wurden sie zu Zuschauern dieses applaudierenden Publikums, zu Zeugen einer sich hier und jetzt konstituierenden Gemeinschaft. Das Utopische dieser Theaterform betraf also zweierlei: Einerseits ging es hier um eine symbolische Raumaneignung des Shoppingcenters mit theatralen Mitteln und damit letztlich um eine Transformation privatisierten öffentlichen Raums in einen Raum der Kunst. Andererseits ging es um eine utopische Gemeinschaft, welche sich unter dem Label Erste Internationale der Shoppingmalls gegen das Spektakel der Warenwelt richtet und dabei die Beziehung zwischen Raum, Konsument, Ware und Gemeinschaft choreografisch neu auslotet. Gemeinschaft kann in diesem Fall genauso wenig als homogene Gruppe mit einer gemeinsamen Identität verstanden werden wie der Kollektivbegriff von Latour. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Frage, wie wir in einer Gesellschaft des Spektakels (Debord) »Gemeinschaft« denken können, ohne wieder auf einen billigen Slogan reinzufallen. Ein weitaus passenderer Slogan wäre da schon derjenige, mit dem Jean-Luc Nancy seinen Gemeinschaftsbegriff definiert hat: singulär plural sein. Die Gemeinschaft ist demnach weder ein Mythos, den wir verloren haben, noch etwas, das sich »ins Werk setzen lässt«, sondern etwas, was uns in täglichen Zusammenhängen »zustößt – als Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung«.9

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Im kollektiven Handeln mit anderen und unter vielen eröffnet sich bei LIGNAs Radioballett ein Raum ästhetischer Erfahrung zwischen Kunst und politischer Aktion, der den Beteiligten etwas erfahren lässt, als Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung. Dieser Raum ist nicht allein derjenige eines intersubjektiven oder theatralen Spiels zwischen individuellen und kollektiven Handlungsformen. Er ist zugleich der eines ästhetischen Spiels, das die Form der Unterscheidung von Ästhetischem und Sozialem, von Singulärem und Pluralem auf einer anderen Ebene reflektiert. »Wenn es in jüngerer Zeit neuerlich zu einer Politisierung des künstlerischen Handelns kommt«, so schreibt Kai van Eikels in seinem Buch Die Kunst des Kollektiven, »dann weil es jetzt endlich ein anderes Denken des Kollektiven gibt.«10 Dieses andere Denken des Kollektiven begibt sich nicht auf die Suche nach einer verlorenen Kommunion oder Gemeinschaft, es sucht auch nicht ernsthaft nach einem Ausweg aus der Gesellschaft des Spektakels. Stattdessen ermöglicht es, das Gemeinsame spielerisch als plurales Sein zu reflektieren und von diesem Denken des Kollektiven aus neue politische Handlungsstrategien zu entwickeln. 2. Von Waffen und Händlern – Situation Rooms (2013) Die dokumentarischen Arbeiten der Gruppe Rimini Protokoll können als Räume der Begegnung beschrieben werden: Das Publikum sieht nicht einer von Schauspielern dargestellten Handlung dramatischer Figuren zu, sondern trifft auf Experten einer ihnen meist fremden Alltags- oder Arbeitswelt, die sich selbst repräsentieren. Das geschieht teilweise in einem klassischen theatralen Setting, das heißt auf der Bühne vor einem versammelten Publikum, und teilweise mit experimentellen Aufführungsformaten. Bei der Arbeit Situation Rooms, die gemeinsam mit dem Bühnenbildner Dominic Huber und dem Videokünstler Chris Kondek entwickelt wurde, handelt es sich um ein experimentelles Format, bei dem streng genommen keine Aufführung mehr stattfindet, da es keine szenische Livedarstellung von Akteuren zu sehen gibt. Stattdessen handelt es sich um – so der Untertitel der Arbeit – »ein Multiplayer-Videostück«, bei dem sich 20 Zuschauerinnen und Zuschauer, mit einem iPad und Kopfhörern bewaffnet, in ein aufwendig gestaltetes Filmset aus etwa einem Dutzend Räumen begeben und dort über das auf dem iPad abgespielte Video autobiografische Geschichten von 20 Experten zu hören und zu sehen bekommen (bzw. eigentlich zehn – die Arbeit ist geteilt). Dabei wird der teilnehmende Zuschauer ähnlich wie bei den durch Janet Cardiff berühmt gewordenen Videowalks individuell choreografiert, indem er seine Bewegungen mit denen des Kamerabildes synchronisiert und somit gewissermaßen in die Rolle des Experten der jeweiligen Szene schlüpft.

10  Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven: Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München 2012. Van Eikels widmet LIGNAs Radioballett in seinem bemerkenswerten Buch ein Kapitel von über 150 Seiten und bezieht LIGNAs Form kollektiver Zerstreuung auf ganz unterschiedliche kulturelle und sozioökonomische Entwicklungen und Diskurse.

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11  Latour (2000), S. 214f.

Alle beteiligten Experten haben bei Situation Rooms etwas mit Waffen zu tun: ein Sportschütze, ein israelischer Soldat, einer der Ärzte ohne Grenzen, ein Anwalt für Drohnenopfer, ein Kriegsfotograf, der Manager eines Rüstungskonzerns, ein Flüchtling aus Syrien, ein Drogendealer aus Mexiko oder die Kantinenchefin einer Munitionsfabrik. Das Filmset ist nach den Geschichten der Experten gestaltet, und jedes der 20 Videos (und jeder einzelne der 20 unterschiedlichen Parcours) beginnt mit einem anderen Experten; der Videowalk ist individualisiert. So findet man sich etwa als Köchin in der Kantinenküche einer unterirdischen Munitionsfabrik in Russland, als mexikanischer Drogendealer vor den Gräbern des Kartells oder in der Rolle des Managers eines Rüstungskonzerns in einem Konferenzraum wieder. Auf dem Weg durch diese ganz unterschiedlichen, fiktional aufgeladenen Räume der Installation kommt es gelegentlich auch zu direkten Interaktionen mit den anderen Zuschauern, die zur selben Zeit den Bewegungen und Geschichten eines anderen Experten folgen. So legt man z. B. als Entwickler für Sicherheitstechnik auf der IDEX, der weltgrößten Rüstungsmesse in Abu Dhabi, einem anderen Zuschauer als Kunden einen schusssicheren Mantel um. Ebenso wird man aufgefordert, selbst eine Waffe in die Hand zu nehmen: Am Schießstand wird man von einem Sportschützen angeleitet, mit einer nur auf dem Video sichtbaren Pistole auf eine Zielscheibe zu schießen. Noch während man den »eigenen« Schuss über den Kopfhörer hört, kann man durch eine Tür im Nachbarraum einen Arzt bei der Behandlung eines Kriegsopfers beobachten. Für Bruno Latour ist die Kooperation zwischen Mensch und Waffe selbst bereits ein Kollektiv. Aus diesem Grund lasse sich auch die amerikanische Debatte zwischen Waffenfans und Waffengegnern nicht auflösen. Denn es sei weder allein die Waffe, so Latour, die töte (materialistische Argumentation der Waffengegner), noch der Mörder allein, der ohnehin töten würde (soziologische Argumentation der Waffenfans). Es ist genau genommen das Kollektiv zwischen Mensch und Ding, in diesem Fall einer Schusswaffe, das für den Tod des anderen verantwortlich ist.11 Situation Rooms untersucht jene Kollektive aus Menschen und Waffen und all den Strukturen und Wegen um sie herum. Das beginnt beim Setting selbst: Statt einem Gegenüber wie bei einer Guckkastenbühne inszeniert Rimini Protokoll eine Situation – die Betrachter sind hier mittendrin, ohne ihre Bewegungen, ohne ihre Imagination findet das Stück nicht statt. Dabei agiert jeder Zuschauer im Kollektiv mit seinem iPad, das mal zur Schusswaffe, mal zur Kamera werden kann. Jeder ist in seinem eigenen Film und nimmt doch die anderen Zuschauer-Akteure mit ihren Aktanten (Objekten mit Akteurstatus) wahr, sie bewegen sich durch dieselben Räume, sie hören versetzt denselben Experten zu, sie sind ebenfalls Teil der Situation. Der Raum ist

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nicht geteilt in Bühne und Zuschauerraum, sondern wird als Netz von sich kreuzenden Wegen, Berührungspunkten und pluralen Perspektiven erfahren, als Labyrinth kollektiver Zusammenhänge von Menschen und Dingen, die alle irgendetwas mit Waffen zu tun haben. Zugleich entspricht die Installation gewissermaßen jenem Situation Room, welcher im Weißen Haus seit der Kubakrise 1961 zur Überwachung militärischer Operationen und simultaner Ereignisse dient. In diesem Raum, dessen Foto zuletzt bei der Ausschaltung Osama bin Ladens durch alle Medien ging, wird die Fiktion aufrechterhalten, es gebe bei aller Unübersichtlichkeit des globalen Raums, so ein Text im Programmheft, »diesen einen Ort […], an dem die Möglichkeit von Übersicht und Entscheidung noch behauptet werden kann«.12 Und doch hebt der Plural im Titel der Arbeit diese Fiktion eines Ortes der absoluten Kontrolle zugleich wieder auf. Der Teilnehner wird aufgrund des erforderten Multitaskings und der ständig wechselnden Perspektiven und autobiografischen Geschichten in der Tat mit mehreren sich überlagernden und widersprechenden Situation Rooms konfrontiert, die sowohl einen kontrollierenden panoptischen Blick als auch eine dauerhafte Identifikation mit den Experten verhindert. Vielmehr verharrt man als Teilnehmer im Gefüge der Wege und Relationen in einer Krise der Identifikation, die schon allein der Tatsache geschuldet ist, dass die immersive Kraft des mit den eigenen Bewegungen synchronisierten Videobilds vom dokumentarischen Gestus der Handlung permanent gebrochen wird. So bleibt man nicht nur gefangen in einem Netz von Orten, Ereignissen, Dingen und Personen, sondern auch auf der Schwelle von Realität und Fiktion, wobei die Fiktion hier sowohl die aufwendige Szenografie des Filmsets betrifft, die bis ins kleinste Detail reale Orte nachbildet, als auch die im Video auftretenden real existierenden Personen. Wie vielschichtig und verschachtelt die Situation ist, realisiert man als Teilnehmer letztendlich erst, wenn man die Installation wieder verlässt. Dort, wo man sich eben noch inmitten globaler Verflechtungen des Waffenhandels und seiner Gegner bewegte, fühlt man sich bereits beim Abgeben des Tablets einer irritierenden Leere ausgesetzt, fast, als hätte man tatsächlich einen Eindruck von der Simultanität globaler Räume und Ereignisse mitbekommen, einer Simultanität, die, wie wir erfahren, bedeutet, dass alle 14 Minuten auf der Welt ein Mensch mit einer Waffe von Heckler & Koch erschossen wird und täglich unzählige Tonnen von Waffen und Munition in die Krisengebiete der Welt verschifft werden. Die Grenzen, die dabei vom Waffenhandel überschritten werden, werden bei Rimini Protokoll zu Schwellen der Wahrnehmung in einem labyrinthischen Spiel, Schwellen, die meist unbemerkt oder unsichtbar bleiben und hier quasi als schlafender Gendarm wieder aufgedeckt werden.

12  Nikolaus Hirsch, »Theatrum Belli«, in: Rimini Protokoll, Situation Rooms, Programmheft Rimini Protokoll 2013, S. 9–19, hier S. 13.

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13  Auch Paul Valéry attestiert der Schwelle »generell eine Art Kontrollverlust«. Paul Valéry, Cahiers, Frankfurt am Main 1989, Bd. III, S. 397. 14  Walter Benjamin, Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1982, Bd. V/2, S. 1025. 15  Ich danke an dieser Stelle Thomas Bo Nilssen, Borghildur Indriðadóttir und Julian Wolf Eicke für ein ausführliches Gespräch.

3. Thomas Bo Nilsson, MEAT (2014) Was die Grenze von der Schwelle unterscheidet, sind unterschiedliche Perspektiven und Konnotationen. Während die Grenze teilt und an Gesetze und Verbote geknüpft ist, lädt die Schwelle zum Überschreiten ein. Wer, ohne zu fragen, eine Schwelle übertritt, ist respektlos, wer unbefugt eine Grenze überquert, spielt nicht selten mit seinem Leben. Während die Grenzerfahrung geprägt ist von der Evidenz, dass eine Grenze erreicht oder mit Gewalt überschritten wird, zeugt die Schwellenerfahrung von einer Ambivalenz und einem schleichenden Kontrollverlust.13 Dabei scheint der Ort der Schwelle nicht nur mit dem Unbekannten und Fremden, sondern auch mit einer Potenzialität des Unberechenbaren und Irrationalen verbunden. So findet man in Benjamins Passagen-Werk eine Notiz, welche die Schwelle deutlich von der Grenze unterscheidet: »Die Schwelle ist eine Zone. Und zwar eine Zone des Übergangs. Wandel, Übergang, Fliehen liegen im Worte schwellen und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übergehen, andrerseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen Sachverhalt festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung geführt hat. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das ›Einschlafen‹ ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist.«14 Das Beispiel des Einschlafens ist im Kontext des Theaters insofern treffend, als es nicht nur an die Verdunkelung des Saales als theatrale Zeit der Initiation erinnert, sondern auch ein Sich-Entfernen aus einer kontrollierbaren Wirklichkeit und ein Hinabgleiten in die Welt des Traumes markiert, das durchaus Parallelen mit der vielschichtigen Erfahrung von Situation Rooms zwischen An- und Abwesenheit, zwischen unterschiedlichen Realitäten und Fiktionalisierungen aufweist. Noch deutlicher tritt das Motiv der Transformation und des Traum- bzw. Albtraumhaften in der zehntägigen Nonstop-Performance MEAT von Thomas Bo Nilsson hervor, bei der man sich als Zuschauer in die abgeschlossene Illusionswelt einer Installation begibt, die im Gegensatz zur Arbeit von Rimini Protokoll von bis zu 60 Performern bewohnt wird.15 Bei diesen handelt es sich nicht etwa um Experten des Alltags (jedenfalls nicht im Sinne von Rimini Protokoll), obwohl einige der Performer keine professionellen Schauspieler sind, sondern um Akteure, die – teilweise Schauspieler, teilweise gecastete Laien – von vornherein festgelegte Rollen spielen. Alle vier Stunden werden neue Zuschauer in die Installation hineingelassen, wobei die meisten der mehr als 30 bewohnten Räume Tag und Nacht begehbar sind, einige wenige jedoch erst im Verlauf der zehn Tage geöffnet oder wieder verschlossen werden. Vorlage der Installation ist laut Ankündigungstext das Leben des kanadischen Pornodarstellers, mutmaßlichen Kannibalen und Mörders Luka Rocco

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Magnotta, der im Juni 2012 in einem Neuköllner Internetcafé festgenommen wurde, weil er angeblich einen selbst gedrehten Videoclip unter dem Titel 1 Lunatic, 1 Ice Pick im Internet gepostet hatte, der den Mord und die Verstümmelung eines jungen Mannes zeigt. Namentlich taucht Magnotta in der Performance nicht auf, weder als Akteur noch als Figur. Allerdings entspricht ein Teil der Installation – die Zuschauer wissen nicht, welcher – einem weitgehend originalgetreuen Nachbau seiner Wohnung. Darüber hinaus dienen zahlreiche urbane Orte, an denen sich der Kannibale regelmäßig aufhielt, als Vorlage und Inspiration für die Räume von MEAT: ein Spätkauf mit angegliedertem Internetcafé, ein Nachtklub und Bordell, private Chatrooms und Videokabinen, ein Asia-Imbiss, ein Massagesalon und Nagelstudio sowie unzählige geschmacklos eingerichtete Schlaf- und Wohnzimmer, die sich rings um eine abgeranzte Kneipe gruppieren, dessen Interieur mit einer Deutschlandfahne, allerlei Bierkrügen und anderem Nippes eingerichtet ist. Der kollektive Zwischenraum, mit dem man sich bei MEAT als Zuschauer wie in einer künstlichen Stadt konfrontiert sieht, zeichnet sich jedoch vor allem durch die Begegnungen mit den Performern aus, die alle mehr oder weniger den Eindruck erwecken, als hätte man sie tatsächlich in irgendeinem Nachtklub, irgendeiner zwielichtigen Kneipe oder Spielhalle aufgegabelt. Im Folgenden ein kurzer subjektiver Erfahrungsbericht: Nachdem ich mit fünf anderen Zuschauern die Eingangsschleuse, einen langen Korridor und den Kiosk durchquert habe, in dem von einem alten Rocker allerlei Fertigsuppen und Hello-Kitty-Artikel angeboten werden, werde ich von einer maskierten, leicht bekleideten Dame von den anderen getrennt und in ein Zimmer geführt, auf dessen Bett eine ebenfalls nur mit einem Dessous bekleidete Blondine sitzt, die offenbar für einen Pornochatdienst arbeitet. Wie ich auf ihrem Bildschirm lesen kann, ist ihr Chatname »Barbieswallows«. Wir kommen kurz ins Gespräch, Barbie möchte von mir Tipps erhalten, wie sie mehr User bekommen kann. Ich gebe mir Mühe, ernte für meine Vorschläge jedoch nur ein müdes Lächeln. In der gut gefüllten Kneipe nebenan, in der eine ältere Dame gerade auf einer Bühne »Rote Rosen« von Hildegard Knef und anschließend einen Schlager von Andrea Berg anstimmt, kaufe ich mir ein lauwarmes Dosenbier für 2 €, mit dem ich mich einige Minuten später auf der Couch neben zwei apathisch dreinblickenden Gestalten wiederfinde, die auf merkwürdige Weise neben der Spur zu sein scheinen. Einer von ihnen hat einen schmalen, pink gefärbten mittleren Haarschopf, der sich deutlich von seinem ansonsten kahl rasierten Schädel absetzt, und trägt eine Jeanslatzhose, aus deren Brusttasche ein Teddybär herausschaut. Während er mit offenem Mund das abscheuliche, im Chinaimbiss für 5 € zu erwerbende Currygericht aus einer Styroporbox

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16  Turners Theorie und seine Einteilung in drei Phasen der rites de passage berufen sich wiederum auf Arnold van Gennep, Les rites de passage, 1909. 17  Vgl. Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989, S. 134f.

löffelt, läuft im Fernseher The Beauty and the Beast als Hardcore-Zeichentrick-Porno. Im Nachtklub schaue ich schließlich eine Weile den Tänzerinnen an der Stange zu, bis sich eine von ihnen mir als »Chardonnay« vorstellt und einen zweideutigen Flirt beginnt. Als ich nachfrage, was sie denn noch zu bieten habe, wird mir nach einem Blickwechsel mit dem Zuhälter, der sich »Papa« nennt, ein privater Lapdance im Separee für 40 € angeboten, den ich dankend ablehne. Wo verläuft hier die Grenzelinie zwischen Fiktion und Realität, zwischen Theater und Wirklichkeit? Was könnte ich noch alles für Geld kaufen? Wie weit würden die Performer gehen? Gibt es ein Limit? Wie weit würde ich gehen? Der Schwellenraum, zu dem MEAT Zugang gewährt, ist ein Spielraum der Möglichkeiten, in dem weder die Rolle der Performer noch die der Besucher oder die der vielen Requisiten, geschweige denn die Beziehungen zwischen allen dreien, in irgendeiner Weise geklärt sind. Ist ein Lap- oder Poledance im Theater etwas anderes als in einem Nachtklub? Wird bei sexuellen Dienstleistungen auf dieser Bühne der Theaterrahmen außer Kraft gesetzt, werden die Konsequenzen nicht mehr vermindert? Trage ich hier als Zuschauer eine ethische oder moralische Verantwortung? Darf ich hier, wenn ich schon Akteur bin, eines der unzähligen Plüschtiere zerstören? Oder ist dieses Theater der Ort, an dem ich endlich meinen Fantasien nachgehen und meine heimlichen Begehren stillen kann? Die Fragen zeugen von einer Irritation, einem Zustand der Ambivalenz, des Zwischens oder der Krise, wie ihn Erika Fischer-Lichte unter Anwendung der Ritualtheorie Victor Turners als »Schwellenerfahrung« bestimmt hat.16 Diese versetze den Zuschauer in jenes Stadium eines »betwixt und between«, das Turner der mittleren, liminalen Phase der rites de passage zuschreibt. Nach Turner ist die liminale Phase »im wesentlichen eine Zeit und ein Ort zwischen allen Zeiten und Orten [, in der] die im Alltagsleben sinnstiftenden und ordnenden kognitiven Schemata […] gleichsam aufgehoben« sind.17 Übertragen auf den Schwellenraum von MEAT, konfrontiert die liminale Erfahrung die darin Anwesenden mit einer solchen Sphäre jenseits allgemein gültiger Rahmen, Normen und Moralvorstellungen, mit einer Art Krisenheterotopie, die zugleich Fragen nach einer Ethik des Handelns im Hier und Jetzt aufwirft: Wie soll ich mich gegenüber dieser Welt verhalten? Wie handele ich richtig? Wie weit darf ich mich auf das Spiel einlassen? Wo liegt die richtige Balance zwischen Distanz und Vereinnahmung? Doch der Schwellenraum von MEAT offeriert noch eine weitere räumliche Erfahrung, die weniger das Eintauchen in einem anderen Raum als vielmehr die Simultanität und das Zwischen mehrerer Räume ins Spiel bringt. Erst nach einer Weile fallen mir als Besucher nach und nach die kleinen Fernseher

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und Webcams auf, die sich in nahezu allen Räumen der Installation befinden. Plötzlich erinnere ich mich an den Hinweis der Schaubühnen-Website, dass die Performance per Livestream im Internet übertragen wird. Und tatsächlich entdecke ich mich selbst einen Tag später auf der Website livemeat.tv in einem archivierten Video des Vorabends inmitten anderer Besucher in der Kneipe wieder. Doch auch bereits während meines Besuchs wird mir nach und nach klar, dass die Performance keineswegs allein hier in der Installation stattfindet. Denn der Onlinechat von Barbieswallows existiert in Wirklichkeit ebenso wie die Facebook-Profile der Performer bzw. ihrer Figuren. Nach und nach beginne ich, einzelne Bewohner nach ihren Facebook-Namen zu fragen, und freunde mich noch in der Performance per Smartphone mit ihnen an. Ich entdecke, dass hier in den Postings, Chats und Kommentaren eine zweite und dritte Ebene der Performance stattfindet, die ein ebenso undurchdringliches Spiel zwischen Realität und Fiktion initiiert. Und hier erschließt sich mir endlich auch, was diese Welt mit der von Luka Magnotta zu tun hat, einem Pornodarsteller, Mörder und Kannibalen, der einen Großteil seines Lebens damit verbrachte, bis zu 70 Onlineidentitäten zu erfinden, ihre Profile in den sozialen Netzwerken zu pflegen und immer neue Onlinefreundschaften zu schließen. Luka Magnotta ist keine Person, der man hier als Zuschauer begegnen könnte oder dessen Leben bei MEAT nachgespielt wird, er ist vielmehr ein Konzept oder eine Idee. Nämlich die Idee, sein Leben in unzähligen Parallelwelten und multiplen Räumen zugleich zu führen und dabei schon längst keinen Zugang mehr zu der einen Realität, zu der einen geteilten Wirklichkeit zu haben. Luka Magnotta ist weder eine dramatische noch postdramatische Figur, sondern der Name eines Lebensentwurfs nach dem Subjekt, er ist das Szenario multipler Identitäten und Realitäten. Das vielleicht Verblüffendste an den kollektiven Zwischenräumen von MEAT ist jedoch vielleicht die Beobachtung, dass dieses Konzept eine Anziehungskraft ausübt, die sich auch noch Tage nach der Performance weiter spüren lässt: So ertappe ich mich dabei, wie ich bei Facebook weitere Freundschaften mit den fiktiven Bewohnern von MEAT knüpfe, wie ich hin und wieder in den Webstream der Performance hineinschaue oder mich freue, wenn »echte« Facebook-Freunde meine Selfies mit MEAT-Bewohnern liken. Was die räumlichen Ebenen von MEAT veranschaulichen, ist somit eine Erfahrung des Zwischens, die genau genommen weniger eine Faszination des Unbekannten oder das Theater als vollkommen »anderen Raum« betrifft. Vielmehr spiegelt MEAT zugleich einen topologischen Wandel unserer Alltagskultur wider, einen Wandel, bei dem innen und außen, Realität und Fiktion, Subjekt und Objekt bisweilen aufs Engste miteinander verwoben scheinen, einen Wandel, der nicht nur neue Möglichkeiten der Kommunikation, sondern

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auch neue Kollektive hervorbringt und der nicht zuletzt an die Stelle einer Alterität des outer space oder auch des cyber space eine Alterität zwischen uns allen zutage treten lässt. Wir alle können reale und fiktive Identitäten annehmen, wir alle können in unseren kollektiven Zusammenhängen unzählige Rollen spielen, uns in verschiedenen Räumen zugleich aufhalten und dabei bisweilen die Realität aus den Augen verlieren. Die Zukunft der Stadt liegt zweifellos in jenen kollektiven Zwischenräumen, die sich tagtäglich zwischen Realität und Fiktion, zwischen on- und offline, zwischen Menschen und Dingen aufspannt. Ob die Stadt dann Bielefeld oder Berlin heißt, spielt letztendlich keine Rolle – bewegt wird man in jedem Fall.

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Zwischen den Stühlen Mitarbeit, Mitsprache, Kontrolle, Überwachung, Verweigerung, Übung, Utopie Elke Krasny Der folgende Essay spricht in der Sprache des Alltags. Er setzt auf den Modus der Beschreibung des Vertrauten, bis das im Vertrauten stillschweigend Vorausgesetzte in all seiner unheimlichen Nachdrücklichkeit, nachdrücklichen Unheimlichkeit einsichtig wird. Einsichtigkeit beinhaltet das Sichtbarwerden und das Analysierbarwerden gleichermaßen. Der Modus der Beschreibung setzt bewusst auf Detail und Wiederholung. Diese sprachliche Form der repetitiven Detailliertheit, detaillierten Repetition wiederholt im Akt der Beschreibung als Verfahren des Einsichtigwerdens und des Einsichtigmachens, wie das stillschweigend Vorausgesetzte durch die Praxis der Wiederholung im Detail eingeübt und immer wieder verkörpert wird. Die Sprache des Alltags dient im Kontext dieses Essays als Sprache für die reflektierende Einsicht in komplexe Zusammenhänge. Die theoretischen Positionen, von denen aus diese Sprache des Alltags motiviert ist, werden in derselben sprachlichen Alltäglichkeit artikuliert. Am Vormittag im Kindergarten. Alle machen sich bereit für den gemeinsamen Morgenkreis. Die Kinder, die Kindergärtnerinnen, die Kindergärtner, jede Einzelne, jeder Einzelne weiß genau, was von ihr oder ihm erwartet wird. Alle wissen, was sie zu tun haben. Sie nehmen die Plätze ein, die sie sich selbst zugewiesen haben. Sie nehmen die Plätze ein, die sie selbst ausgesucht haben. Sie spielen alle die gleiche Rolle. Jeder Platz zählt. Jeder Platz zählt gleich viel. Jeden Morgen dauert es eine geraume Weile, bis alle Kinder den Platz, den sie als den ihren kennen, wiedergefunden haben. Es dauert seine Zeit, bis dieser eigene Platz wieder eingenommen worden ist. Zu wissen, wo der eigene Platz ist, vermeidet Streit. Zu wissen, wo der eigene Platz ist, vermeidet Unruhe. Zu wissen, wo der eigene Platz ist, vermittelt jeder Einzelnen, jedem Einzelnen, dass sie oder er das Recht hat, diesen Platz wieder einzunehmen. Zu wissen, wo der eigene Platz ist, vermittelt jeder Einzelnen, jedem Einzelnen, dass sie oder er die Pflicht hat, diesen Platz wieder einzunehmen. Sie alle kennen ihren Platz im Kreis. Sie alle kennen die Plätze der anderen im Kreis. Sie alle haben diese Plätze auch schon den Tag davor und den Tag vor dem Tag davor aufgesucht. Sie haben sich wieder auf dem richtigen Platz, dem eigenen Platz, niedergelassen. Haben sie ihren Platz gefunden, für richtig befunden, dann markieren sie diesen mit ihrem Sitzkissen, das sie bereithalten, das sie in der Hand halten. Sie legen das Sitzkissen auf den Boden. Sie nehmen Platz. Die Beine haben (fast) alle gekreuzt. Manche halten ihre Arme verschränkt. Manche halten ihre Hände gefaltet. Manche legen ihre Hände auf ihre Knie.

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Manche legen ihre Hände auf ihre Füße. Manche legen ihre Hände um ihre Zehen. Sie beginnen, sich auf ihrem Kissen zu bewegen, sie justieren nach. Sie rutschen hin. Sie rutschen her. Es dauert seine Zeit, bis sie den richtigen Abstand zu ihren unmittelbaren Sitznachbarn, die links und rechts von ihnen ihren Platz einnehmen, gefunden haben. Sie wissen, dass alle Abstände gleich sein sollen. Sie arbeiten daran, dass alle Abstände gleich werden. Die Abstände zueinander werden von den Kindern richtig eingeschätzt. Sie wissen, dass sie sich aneinander auszurichten haben. Sie wissen, dass sie nachjustieren müssen. Sie wissen, dass der Kreis noch nicht fertig ist, auch wenn sich alle bereits auf ihrem Platz niedergelassen haben. Sie wissen, dass sie ihren Kreis so lange verbessern, bis er richtig ist. Sie wissen, dass sie den Kreis gemeinsam vorbereiten, bis sie beginnen können, mit dem Singen, mit dem Aufsagen, mit dem Erzählen, mit dem Show-and-Tell. Der Kreis wird von den Kindern gebildet. Indem der Kreis gebildet wird, versetzt er die Kinder in Bewegung. Der Kreis wird von den Kindern geformt. Indem der Kreis seine Form annimmt, formiert er die Kinder. Alle gemeinsam nehmen die Form ein. Alle gemeinsam nehmen die Form an. Es dauert eine Weile, bis die Kinder die für sie passende Körperhaltung gefunden haben. Es dauert eine Weile, bis sie das Gefühl haben, bis sie zur Entscheidung kommen, dass alle richtig sitzen, dass alles richtig sitzt. Das alles dauert eine Weile. Sie müssen sich einig sein, mit sich selbst, mit allen anderen, dass alles stimmig ist mit ihrem Morgenkreis. Die Perfektion des Kreises hängt von allen Sitzenden ab. Die Perfektion des Kreises hängt von dem Anspruch ab, den alle gemeinsam an dessen Form stellen. Der Kreis ist jeden Tag gleich. Der Kreis ist nie derselbe. Der Kreis ist jeden Tag anders. Der Kreis hängt von jeder Einzelnen, von jedem Einzelnen ab. Alle sind gleichermaßen gefordert. Alle arbeiten mit. Nur durch ihre Mitarbeit kann der Kreis entstehen. Sie wissen, dass der Kreis allein auf ihrer Mitarbeit beruht. Der Kreis macht alle sichtbar. Der Kreis macht alles sichtbar. Alle sitzen so, dass jede Einzelne und jeder Einzelne alle anderen sehen kann. Alle sehen alle. Alle sehen alles. Alle wissen, dass alle alles sehen können. Sie haben es im Morgenkreis so geübt. Sie haben es im Morgenkreis so erfahren. Sie haben es im Morgenkreis so gelernt. Alle sitzen. Alle sehen. Alle beobachten. Sie können sehen, wer wo sitzt. Sie können sehen, wer wie sitzt. Sie können sehen, wer was tut. Sie können sehen, wer mitsingt. Sie können sehen, wer nicht mitsingt. Sie können sehen, wer nur so tut als ob. Wer angestrengt so tut, als ob er, als ob sie wirklich die ganze Zeit mitsänge. Sie können sehen, wer so tut, als ob er, als ob sie die Worte des Liedes, das gesungen wird, bereits auswendig wüsste. Sie können sehen, ob sich die Lippen in der richtigen Weise bewegen. Sie können sehen,

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ob die Lippen die Worte der Lieder richtig formen oder ob sie nur so tun, als ob sie sich richtig bewegten, als ob sie die richtigen Worte formten. Sie können sehen, wer so tut, als ob er, als ob sie alle Worte des Liedes, das gesungen wird, schon auswendig könnte. Sie können sehen, ob die Lippen geschlossen bleiben. Sie können sehen, wer nicht mitsingt. Sie können sehen, wer sich nicht darum bemüht, so zu tun, als ob sie, als ob er mitsänge. Sie können sehen, wer still sitzen kann. Sie können sehen, wer Mühe hat, still zu sitzen. Sie können sehen, wem es leichtfällt, in seiner, in ihrer Position zu verharren. Sie können sehen, wem es schwerfällt, in Position zu bleiben. Sie können sehen, wer hin und her rutscht. Sie können sehen, wer vor- und zurückschaukelt. Sie können sehen, wer die Augen schließt. Sie können sehen, wer die Augen verdreht. Sie können sehen, wer lächelt. Sie können sehen, wer gequält den Mund verzieht. Sie können sehen, wer mit dem Kopf nickt. Sie können sehen, wer den Kopf schüttelt. Sie können sehen, wer den Kopf hängen lässt. Sie können sehen, wer in der Nase bohrt. Sie können sehen, wer sich kratzt. Sie können sehen, wer mit dem Einschlafen kämpft. Sie können sehen, wer munter ist. Sie können sehen, wer fröhlich ist. Sie können sehen, wer traurig ist. Sie können sehen, wer sich das Lachen verbeißen muss. Sie können sehen, wer mit den Tränen kämpfen muss. Der Kreis ist von allen gemeinsam gebildet worden. Der Kreis schließt alle gleichermaßen ein. Der Kreis schließt sich. Der Kreis ist geschlossen. Falls eines der Kinder zu spät kommen sollte, falls mehrere der Kinder zu spät kommen sollten, dann gilt für alle dasselbe. Ausnahmen werden nicht gemacht. Alle Kinder, die zu spät gekommen sind, wissen, was von ihnen erwartet wird. Sie wissen, dass sie rechtzeitig kommen müssen. Sie wissen, dass der Kreis sich geschlossen haben wird, wenn sie nicht rechtzeitig kommen. Sie wissen, dass sie nicht mehr mitmachen dürfen. Sie wissen, dass es ihnen nicht gestattet ist, den Morgenkreis zu stören, indem sie als später Hinzukommende noch einen Platz benötigen würden, mit dem der Prozess der Formierung des Kreises wieder beginnen würde. Sie wissen, dass der Kreis geschlossen ist. Sie wissen, dass sie für diesen Morgen aus dem Kreis ausgeschlossen sind. Sie wissen, dass sie an diesem Morgen, an dem sie zu spät gekommen sind, nicht dabei sein dürfen. Sie wissen, dass sie sich ruhig zu verhalten haben. Alle Kinder, die Teil des Morgenkreises sind, wissen dies auch. Sie wissen, dass der Teil der Kinder, der zu spät kommt, nicht Teil des Kreises sein darf. Sie wissen, dass ihnen das auch passieren könnte. Sie wissen, dass sie, falls sie am nächsten Morgen oder am Morgen danach zu spät kommen sollten, diejenigen sind, die auch nicht mitmachen dürfen. Die, die zu spät kommen, können alle sehen, die im Kreis sitzen. Sie sehen, wer nicht zu spät gekommen ist. Sie sehen, wer es geschafft hat, rechtzeitig zu kommen. Sie

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sehen, wer fehlt. Sie sehen, wer zu spät gekommen ist. Sie sehen, wer es nicht geschafft hat, rechtzeitig zu kommen. Alle, die gemeinsam den Kreis bilden, wissen, wer fehlt. Sie wissen, dass die, die fehlen, nicht mehr in den Kreis aufgenommen werden dürfen. Sie wissen, dass die, die zu spät kommen, es versäumt haben, ihren Platz im Kreis einzunehmen. Sie wissen, dass der Kreis nicht mehr gestört werden darf. Sie wissen, dass die, die zu spät kommen, am nächsten Tag wieder mitmachen dürfen. Am Vormittag in der Schule. Der Kreis heißt nun nicht mehr Morgenkreis, wie früher im Kindergarten. Hier in der Schule heißt der Kreis nun Sesselkreis. Die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler haben auch keine Sitzkissen mehr in der Hand, auf denen sie Platz nehmen werden. Alle haben einen eigenen Sessel. Alle sitzen auf ihren Sesseln. Für den Sesselkreis muss umgebaut werden. Alle wissen, was für den Umbau zu tun ist. Sie kennen die Handgriffe, die sie durchführen müssen. Sie wissen, dass alle mitarbeiten müssen, um den Raum für den Sesselkreis vorzubereiten. Sie wissen, dass sie Platz schaffen müssen. Sie wissen, dass sie das Klassenzimmer transformieren müssen. Die Tischreihen werden aufgelöst. Die Tische der Schülerinnen und Schüler werden alle an die Wand geschoben. Der Lehrerinnentisch, der Lehrertisch kann stehen bleiben. Er wird nicht zur Seite gerückt, er wird nicht an die Wand geschoben. Alle wissen, dass sie mitarbeiten müssen, um das Klassenzimmer für den Sesselkreis vorzubereiten. Alle wissen, dass sie ihren eigenen Sessel mitbringen müssen, um den Sesselkreis zu bilden. Alle nehmen ihren Sessel in die Hand. Der Kreis wird gemeinsam gebildet. Der Kreis formiert sich. Die Sessel werden zurechtgerückt. Die Abstände werden ausgeglichen. Alle haben den Kreis im Blick. Nicht jede Schülerin, nicht jeder Schüler sitzt immer auf demselben Platz im Sesselkreis. Alle können ihren Platz frei wählen. Sie wissen, dass sie aufeinander achten müssen, damit es schneller geht. Sie wissen, dass sie die Zeit, die der Sesselkreis in Anspruch nehmen kann, verkürzen können, wenn sie länger Zeit für den Umbau benötigen. Wenn sie sich länger Zeit lassen, einen Platz im Sesselkreis zu finden. Wenn sie sich länger Zeit lassen, den Kreis zurechtzurücken. Zu Spätkommende gibt es nicht mehr. Nur Schülerinnen oder Schüler, die abwesend sind, die fehlen, die nicht in die Schule gekommen sind. Der Sesselkreis findet nicht jeden Morgen statt. Der Sesselkreis findet nicht jeden Tag statt. Der Sesselkreis wird häufig verwendet, jedoch nicht täglich, manchmal auch nicht jede Woche. Der Sesselkreis kann nicht immer zur gleichen Zeit erwartet werden. Der Sesselkreis wird nicht lange vorher angekündigt. Der Sesselkreis wird oft im Moment entschieden. Der Sesselkreis markiert den Unterschied zum anderen Unterricht. Der Sesselkreis stellt die Ausnahme dar, die alle genau kennen. Alle wissen, was sie für den Sesselkreis zu tun haben. Alle sind auf den

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Sesselkreis vorbereitet. Der Sesselkreis gilt als das Gegenteil zum Frontalunterricht. Alle Schülerinnen, alle Schüler wissen genau, was im Sesselkreis von ihnen erwartet wird. Alle sollen mitarbeiten. Alle sollen sich äußern. Alle sollen den Mund aufmachen. Alle sollen warten, bis die andere, bis der andere zu sprechen aufgehört hat. Alle wissen, dass sie nicht gleichzeitig sprechen sollen. Alle wissen, dass einer, eine nach dem anderen sprechen soll. Alle wissen, dass alle sehen, wer spricht. Alle wissen, dass alle sehen, wer nicht spricht. Alle wissen, dass alle wissen, wer schon gesprochen hat. Alle wissen, dass alle wissen, wer noch nicht gesprochen hat. Alle wissen, dass alle sich potenziell daran erinnern können, wer was gesprochen hat. Alle wissen, dass einer oder eine den Sesselkreis moderieren wird. Alle wissen, dass es nicht immer die Lehrerin oder der Lehrer sein wird, die oder der die Moderation übernehmen wird. Alle wissen, dass die Moderatorin, der Moderator dafür sorgen wird, dass nicht durcheinandergeredet wird. Alle wissen, dass die Moderatorin, der Moderator dafür sorgen wird, dass die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner eingehalten wird. Alle wissen, dass sie sich zu Wort melden sollen. Alle wissen, dass ihre Wortmeldung gefragt ist. Alle wissen, dass im Sesselkreis die Mitarbeit zählt. Alle wissen, dass im Sesselkreis für alle sichtbar wird, ob sie mitarbeiten oder ob sie nicht mitarbeiten. Alle wissen, dass im Sesselkreis für alle erkennbar wird, ob sie mitsprechen oder ob sie nicht mitsprechen. Alle wissen, dass für alle hörbar wird, ob sie etwas zu sagen haben oder ob sie nichts zu sagen haben. Alle wissen, dass alle wissen, ob sie sich schon zu Wort gemeldet haben oder ob sie sich noch nicht zu Wort gemeldet haben. Alle wissen, dass die Wortmeldungen als Mitarbeit gelten. Alle wissen, dass die Wortmeldungen als Mitarbeit zählen. Alle wissen, dass der Sesselkreis als das Gegenteil zu den Bankreihen gilt. Alle wissen, dass der Sesselkreis als das Gegenteil zum Frontalunterricht gilt. Alle wissen, dass der Sesselkreis ein soziales Format ist. Alle wissen, dass der Sesselkreis auf der Mitsprache aufbaut. Alle wissen, dass der Sesselkreis die Mitsprache formiert. Alle wissen, dass der Sesselkreis die Weigerung mitzusprechen sichtbar macht. Alle wissen, dass die Weigerung mitzuarbeiten sich in der Formation der Bankreihen leichter verstecken lässt. Alle wissen, dass das Mitsprechen im Sesselkreis für die Mitarbeit zählt. Am Vormittag an der Universität. Am Nachmittag an der Universität. Am Abend an der Universität. An der Universität geht es weiter. Der Kreis heißt immer noch Sesselkreis. Er findet in unregelmäßigen Abständen statt. Manchmal wird in jeder Lehrveranstaltung, die in einem Semester stattfindet, ein Sesselkreis gebildet. Manchmal wird nur in einer Lehrveranstaltung, die in einem Semester stattfindet, ein Sesselkreis gebildet. Der Aufwand wird höher. Der Umbau dauert länger. Es ist schwieriger als in der Schule, die Tische zu be-

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wegen und an den Rand zu rücken. Die Tische sind schwerer und größer. Es ist schwieriger, die Sessel zu tragen. Die Sessel sind schwerer. Alle wissen, dass sie seit dem Kindergarten gelernt haben, wie der Morgenkreises, wie es damals hieß, funktioniert. An der Universität heißt es nicht Morgenkreis oder Nachmittagskreis oder Abendkreis. Dennoch wissen alle, dass es der Morgenkreis war, der sie darauf vorbereitet hat zu wissen, wie dieser Kreis in einer Lehrveranstaltung gebildet wird. Alle wissen, dass sie seit der Schule geübt haben, wie der Sesselkreis aufgestellt wird, wie im Kreis gesprochen werden muss, wie man im Kreis Stellung bezieht, wie man sich im Kreis positioniert. Alle wissen, dass die Schule sie darauf vorbereitet hat, den Sesselkreis zu wiederholen. Alle sind darin geübt. Alle können sich beteiligen. Alle wissen, wie der Sesselkreis gebildet werden muss. Alle stellen unter Beweis, dass sie dieses Wissen mitbringen, wie ein Sesselkreis gebildet wird. Alle stellen unter Beweis, dass sie dieses Wissen verkörpern, im Vollzug aktivieren, wissen, wie sie zu partizipieren haben. Manche der Studierenden wissen mehr, als sie an Wissen seit dem Kindergarten geübt haben. Sie wissen, dass der Sesselkreis in einer raumpolitischen Genealogie gelesen werden kann. Nein, sie wissen, dass der Sesselkreis in einer raumpolitischen Genealogie gelesen werden muss. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein räumlicher Nachhall des griechischen Amphitheaters ist. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein räumlicher Nachhall des römischen Kolosseums ist. Sie wissen, dass der Sesselkreis viele Verwandte hat, in den anatomischen Hörsälen, in den Gerichtssälen, in den Plenarsälen von Parlamenten, im Plenarsaal der Vereinten Nationen … Sie wissen, dass der Sesselkreis als soziales wie räumliches Format für Demokratie steht. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein demokratisches Verfahren der Mitsprache, des Mitsprechens zur Verkörperung und zum Vollzug bringt. Sie wissen, dass Theoretiker wie Michel Foucault die Machtfrage, die Raumfrage, die Repräsentationsfrage gestellt haben. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein räumlicher Verwandter des Bentham’schen Panoptikums ist. Sie wissen, dass Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe die Konsensualität der Demokratie mittels der Agonalität infrage gestellt haben. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein Instrument der Politik und der Macht ist. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein Instrument der wechselseitigen Überwachung und Kontrolle ist. Sie wissen, dass der Sesselkreis ein Instrument der Partizipation und der Mitarbeit ist. Sie wissen, dass sie diesen Imperativen der Überwachung, der Kontrolle, der Partizipation, der Mitarbeit gehorchen, wenn sie den Sesselkreis durchführen. Sie wissen, dass sie diese Kritik am Sesselkreis im Sesselkreis artikulieren können. Sie wissen, dass es nach der Universität mit dem Sesselkreis nicht zu Ende sein wird. Sie wissen, dass im Berufsleben mit dem

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Sesselkreis gearbeitet werden wird. Sie ahnen, dass der Sesselkreis räumlich und sozial nicht nur die Mitsprache, die Mitarbeit, an der Demokratie verkörpert, sondern die Mitarbeit an der Mitarbeit selbst. Am Vormittag im Besprechungszimmer. Am Nachmittag in der Teamsitzung. Die Sessel sind aufgestellt. Der Kreis ist formiert. Das, was die Einzelne, der Einzelne zu tun hat, ist Platz zu nehmen. Alle können alle sehen. Alle können alle hören. Alles geht im Kreis. Alle müssen das Wort ergreifen, die Stimme erheben, das Wort an jemanden richten, sich der Frage stellen, um keine Antwort verlegen sein, ihre Ohren nicht verschließen. Alle sind gleich. Das betrifft alle. Der Kreis ermöglicht das. Der Kreis formiert das. Der Kreis ordnet das. Der Kreis ordnet das an. Die Form zählt. Alle können sich beteiligen. Alle zeigen, dass sie wissen, dass sie sich beteiligen können. Alle zeigen, dass sie wissen, dass sie sich beteiligen müssen. Alle zeigen, dass sie beides zeigen könn(t)en, das Können und das Müssen. Dazwischen stehen die Sessel. An diesen wird nicht gerückt. Wenn man in Position gebracht ist, dann behält man seine Stellung. Nur wenn man in Position gebracht ist, kann man seine Stellung behalten. Alle sind gleich, weil sie etwas zu sagen haben. Alle sind gleich, weil sie etwas sagen müssen. Am Vormittag im Museum. Am Nachmittag auf der Biennale. Am Abend in der Kunsthalle. Am Morgen – die Sitzkissen werden aus dem Schrank genommen. Am Nachmittag – Sessel sind aufgestellt. Am Abend – die Sessel werden verwendet. Am Vormittag gehen die Schulen ins Museum. Kunstvermittlung, Museumspädagogik sind ohne Sitzkissen nicht vorstellbar. Die Sitzkissen formieren den Halbkreis. Die Sitzkissen formieren den geschlossenen Kreis. Im Halbkreis wird das Kunstwerk, die künstlerische Arbeit, das Gemälde, die Skulptur, die Installation, die Projektion, Teil des Kreises, in dem mit und über diese Arbeit gesprochen wird. Im geschlossenen Kreis wird über das, was alle zu sagen haben, über die Kunst, über sich und die Kunst, über das, was sie denken, was sie sehen, was sie fühlen, was sie sich vorstellen, was sie verstehen, was sie nicht verstehen, gesprochen. Diejenigen, die die Sitzkissen verwenden, können sich darauf verlassen, dass die, die ins Museum kommen und auf ihnen Platz nehmen, wissen, was ein Morgenkreis ist, wissen, was ein Sesselkreis ist. Am Nachmittag geht das Kunstpublikum auf die Biennale. Die Sessel auf der Biennale bleiben leer. Die Sessel artikulieren eine Erwartungshaltung. Sie sind aufgestellt. Sie sind im Kreis formiert. Sie verkörpern die Abwesenheit ihrer Inanspruchnahme. Sie zeigen, dass die Formen des Demokratischen bereitgestellt sind. Sie zeigen, dass die Mitarbeit, die Mitsprache ausbleibt. Sie zeigen deren Fehlen. Das Fehlen kann mehreres bedeuten. Das Fehlen kann auf Desinteresse beruhen. Das Fehlen kann Zeitmangel bedeuten. Das Fehlen kann auf einer Wahrnehmung der Sessel als ästhetische

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Form, als Kunstwerk, welches nicht besetzt werden soll, beruhen. Das Fehlen kann auf Verweigerung beruhen. Das Fehlen kann auf dem Wissen um die Ambivalenzen der aufgestellten Sessel beruhen. Die Sessel ermöglichen Mitarbeit und Mitsprache. Sie setzen Kontrolle und Überwachung voraus. Sie ermöglichen Kontrolle und Überwachung. Sie verkörpern kontrollierte Mitarbeit und überwachte Mitsprache. Sie verkörpern überwachte Mitarbeit und kontrollierte Mitsprache. Sie verkörpern Mitsprache in der Kontrolle. Sie verkörpern Mitarbeit an der Überwachung. Sie verkörpern Mitsprache in der Überwachung. Sie verkörpern Mitarbeit an der Kontrolle. Die Verweigerung, die aufgestellten Sessel zu verwenden, ist Indiz für das Wissen um diese Ambivalenzen des Regierens, um die gouvernementale Praxis, die im Sesselkreis geübt und verkörpert wird. Am Abend geht die Zivilgesellschaft in die Kunstinstitution. Der Kreis der Sessel ist formiert. Der Kreis wird verwendet. Positionen werden bezogen. Debatten werden geführt. Die Ambivalenzen zwischen Überwachung, Kontrolle, Mitarbeit und Mitsprache sind den Sprecherinnen und Sprechern keineswegs entgangen. Sie sind in diesen Widersprüchen geübt. Sie sind in diese Ambivalenzen eingearbeitet. Sie sind dieser Konflikte (noch nicht) müde. Sie setzen nicht auf Verweigerung. Sie setzen auf Weiterarbeit. Sie befürchten, dass die Verweigerung zu kurz greift. Sie erwarten (immer noch), dass die Weiterarbeit Momente der Veränderbarkeit beinhaltet. Sie erhoffen, dass der Sesselkreis nicht bestimmt, was sich zwischen den Stühlen ereignen kann, ereignen könnte, ereignen würde, ereignen wird. Sie erhoffen, dass das, was im Sesselkreis erarbeitet wird, ein Leben außerhalb des Sesselkreises haben kann, haben könnte.

Literatur Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhaltungen. 1972–1990. Frankfurt am Main 1993, S. 254–262. Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt am Main 2009. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt am Main 2006. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977. Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012. Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt am Main 2014. Abb. S. 92  Parlament, Intermediae, Matadero, Madrid, 2015, Foto: Elke Krasny Abb. S. 93  Sesselkreis, Postgraduate Program in Curating, Museum Bärengasse, Zürich 2015, Foto: Elke Krasny

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1  Zur Einführung in diese Thematik vgl. Martin Elste, »Organisiertes Getöse:

Wege, den Klang der Stadt zu erfahren Zur künstlerischen Erkundung urbaner Soundscapes durch installative, performative und partizipative Anordnungen Stefan Drees

Das Sujet ›Stadt‹ in der Musik und die Musik in der Stadt«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (2001), S. 110–135, und Emily Thompson, The Soundscape of Modernity, Cambridge (MA) 2002. 2  Luigi Russolo, Die Kunst der Geräusche, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Johannes Ullmaier, Mainz 2005.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts hält das Sujet der modernen Großstadt Einzug in die Musik.1 Kompositionen wie Charles Ives’ Orchesterstück Central Park in the Dark (1906, revidiert 1936), Steve Reichs City Life für Ensemble (1995) oder Oscar van Dillens Kammersinfonie De Stad (2003) – um hier nur drei Beispiele aus 100 Jahren Musikgeschichte zu nennen – haben trotz ihrer ästhetisch stark differierenden Ansätze gemeinsam, dass sie auf die urbane Klangwelt reagieren und deren auffälligste Elemente in transformierter Gestalt in den ästhetischen Erfahrungsraum des Konzertsaals transportieren. Klingende Spuren großstädtischen Lebens machen sich jedoch auch außerhalb alteingesessener Kulturinstitutionen bemerkbar: Sie durchdringen die Klangkonstrukte des musikalischen Futurismus, theoretisch fundiert in Luigi Russolos Schrift L’Arte dei rumori (1916)2 als Idee einer auf »Geräusch-Tönen« basierenden Kunstform, die sich klanglicher Begleiterscheinungen der Moderne bedienen soll, um damit das Fundament für eine radikal neue, den Rahmenbedingungen des modernen städtischen Lebens entspringende musikalische Ausdruckskunst zu legen. Und sie finden sich in Walter Ruttmanns als Hörstück fungierender, von filmischen Verfahrensweisen beeinflusster Klangmontage Week-End (1929), die filmschnittartig zwischen kontrastierenden akustischen Situationen wechselt und dabei an diverse Aspekte großstädtischer Lebenswirklichkeit gemahnt. Der vorliegende Beitrag befasst sich allerdings nicht mit solchen Beispielen, sondern fokussiert auf gegenläufige Tendenzen, die sich seit Ende der 1960er Jahre auszubreiten beginnen und die Konstruktion ästhetischer Erfahrungsräume jenseits des traditionellen Podiums als zentrales Thema für sich entdecken. Bei allen im Folgenden diskutierten Arbeiten geht es denn auch darum, die urbane Landschaft und die ihr innewohnenden Klangmöglichkeiten künstlerisch zu erschließen, also die Beschaffenheit des Erfahrungsraums Stadt durch seine Umwertung zum Klangort, zum Aktionsraum oder zur Bühne zu erkunden und neu zu bewerten. Ein Ziel entsprechender Projekte ist es, aus Perspektive der ihnen eigenen künstlerischen Verfahren auf Spuren und Narben im öffentlichen Raum zu verweisen und so die Aufmerksamkeit dafür zu wecken, wie die mit bestimmten Orten verknüpften historischen Bezüge im Laufe der Zeit durch andere Elemente – etwa klanglicher und architektonischer Art – überschrieben worden sind; darüber hinaus fungieren sie aber auch als Plattformen für die Beschäftigung mit den vielfältigen ästhetischen Problemstellungen einer den städtischen Alltag reflektierenden Kunst, was sich mitunter an der Auseinandersetzung mit traditionellen Präsentationsformen wie dem Konzert oder dem Musiktheater abzeichnet.

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Urbane Klangsignaturen im historischen Kontext Mit dem sogenannten Großen Frankfurter Stadtgeläute – einer harmonischen Abstimmung der klanglichen Disposition aller 50 Glocken der zehn Hauptkirchen in der Innenstadt – besitzt Frankfurt am Main eine einzigartige klingende Visitenkarte.3 Zwar ist das Läuten sämtlicher Glocken zu kirchlichen Festen und Feiertagen im Sinn eines die Aufmerksamkeit auf sich lenkenden Signallauts mit Aufforderungscharakter eine normale Erscheinung in urbanen Zentren unseres Kulturkreises, doch handelt es sich im Falle des Großen Stadtgeläutes um ein davon abweichendes Phänomen, bei dem schrittweise die appellative durch eine ästhetische Funktion ergänzt wurde. Ausgangspunkt hierfür war ein Beschluss des Senats der Freien Stadt Frankfurt vom 6. Mai 1856, wonach unabhängig von den Gottesdienstzeiten die Glocken mehrmals im Jahr in ihrer Gesamtheit zu hören sein sollten: »Es hat inskünftig an den hohen Festtagen Ostern, Pfingsten und Weihnachten sowohl am Abend vorher von 5–6 Uhr als auch am ersten Festtage morgens von 7–8 Uhr ein allgemeines Geläute durch sämtliche Glocken stattzufinden.«4 Dieses »allgemeine Geläute« wurde in der Folge mehrmals bestätigt, zuletzt durch einen Magistratsbeschluss vom 29. September 1978, und wird seither viermal jährlich durchgeführt – nämlich in unmittelbarer Nähe zu den Hochfesten des Kirchenjahres am Samstag vor dem 1. Advent von 16.30–17.00 Uhr, am Heiligen Abend von 17.00–17.30 Uhr, am Karsamstag von 16.30–17.00 Uhr sowie am Samstag vor Pfingsten von 16.30–17.00 Uhr – »als Bereicherung für die Bürger« und »Beitrag zur Förderung des Fremdenverkehrs«5 statt. Die Konzeption des Großen Frankfurter Stadtgeläutes in der heutigen Form geht auf das Jahr 1954 zurück: Nach den gravierenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ließ die Stadt Frankfurt – seit der Säkularisation von 1803 Eigentümerin der Innenstadtkirchen – die zerstörten Gebäude neu errichten und zahlreiche neue Glocken gießen. Im Zuge der weiteren Neubebauung der Innenstadt erfolgte schließlich eine Abstimmung der Glocken untereinander, bei der sich das eigenständige Läuten aller beteiligten Kirchen harmonisch in das Gesamtgeläute einzufügen hatte. Das Ergebnis dieser in Deutschland einmaligen harmonischen Abstimmung weist gewisse Ähnlichkeiten mit den künstlerischen Gestaltungsspielräumen von Klanginstallationen auf, da sie die Veränderung und Ästhetisierung einer Örtlichkeit – in diesem Falle der Stadtlandschaft – durch gezielten Einsatz von Klängen zum Ziel hat. Um das Große Frankfurter Stadtgeläute jedoch als ästhetisches Ereignis wahrnehmen zu können, ist es für den Besucher unabkömmlich, sich im Stadtraum zu bewegen: Da es nämlich keinen Ort gibt, von dem aus alle Glocken gleichzeitig zu hören sind, erschließt sich seine ganze Komplexität nur durch Positionswechsel (vgl. Abbildung Seite 108). Hinzu kommt, dass der

3  Zu den folgenden Ausführungen vgl. Konrad Bund, »Das Große Frankfurter Stadtgeläute«, in: ders. (Hrsg.), Frankfurter Glockenbuch, aus Anlass der Ausstellung Stimme der Stadt, Glocken und Glockenguss in Geschichte und Gegenwart, in der Frankfurter Paulskirche vom 18. April bis 18. Mai 1986, Frankfurt am Main 1986, S. 424–438. Eine Übersicht zu den Tonhöhen der einzelnen Glocken und deren harmonischer Abstimmung bietet der Wikipedia-Artikel »Frankfurter Stadtgeläute«: http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_ Stadtgeläute, zugegriffen: 2. März 2015. 4  Beschluss Nr. 566 des Senats der Freien Stadt Frankfurt, zit. nach a. a. O., S. 428. 5  a. a. O., S. 438.

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6  Raymond Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010, S. 109. 7  Charles Burney, The Present State of Music in Germany, the Netherlands and United Provinces, or: The Journal of a Tour through those Countries, undertaken to collect Materials for »A General History of Music«, London 1773, Bd. 1, S. 16. Zuvor bezeichnete er das Carillon-Spiel als »Gothic invention, and perhaps a barbarous taste, which neither the French, the English, nor the Italians have imitated or encouraged« (a. a. O., S. 15). Zur Praxis des Carillon-Spiels notierte Burney darüber hinaus, der »Carilloneur« spiele »four times a week, Sunday, Monday, Wednesday and Friday; from half an hour past eleven till twelve o’clock« (ebd.). 8  Robert Louis Stevenson, An Inland Voyage, London 1878, S. 108. 9  Raymond Murray Schafer, The Tuning of the World, New York 1977, Reprint als: The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Vermont 1993; deutsche Ausgabe: Die Ordnung der Klänge (2010). Eine Einführung in Murray Schafers Forschungen und deren Implikationen bietet Sabine Breitsameter, Hörgestalt und Denkfigur. Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers »Die Ordnung der Klänge«, in: a. a. O., S. 7–32. 10  Vgl. Schafer, Die Ordnung der Klänge (2010), S. 433–434.

Glockenklang durch die dichte Bebauung der Innenstadt vielfach gebrochen und reflektiert wird, wodurch sich die Klangeindrücke oft innerhalb weniger Meter entscheidend verändern können. Lässt man sich auf diese Rahmenbedingungen ein, kann dies im Idealfall für die Dauer von 30 Minuten zu einer veränderten Wahrnehmung der Stadtlandschaft samt ihrer klanglichen und visuellen Eigenschaften führen. Die im Falle des Großen Frankfurter Stadtgeläutes zum ästhetischen Ereignis umfunktionierte Wahrnehmung von Glockenklängen als signifikante Klangsignaturen des öffentlichen Raumes hat historisch weit zurückreichende Wurzeln: Geht das Läuten zunächst noch einher mit der Funktion von Glocken als »akustische[m] Kalender, der Feste, Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Brände und Aufstände ankündigte«,6 verselbstständigt es sich spätestens dann, wenn ihm darüber hinaus ein ästhetischer Eigenwert beigemessen wird. Der britische Musikforscher und Komponist Charles Burney etwa, bekannt für seine in den 1770er Jahren unternommenen Reisen über den europäischen Kontinent zum Zwecke einer Bestandsaufnahme des Musiklebens in den damaligen kulturellen Zentren, zeigte sich irritiert über die Popularität aufeinander abgestimmter Glocken und die vielen über einen Spieltisch bedienbaren, viermal pro Woche über den Zeitraum einer halben Stunde eingesetzten Glockenspiele (Carillons) in den Niederlanden. Mit ironischem Unterton notierte er 1773 in seinem Reisebericht zur penetranten Allgegenwart entsprechender Klangereignisse: »The great convenience of this kind of music is, that it entertains the inhabitants of a whole town, without giving them trouble of going to any particular spot to hear it […].«7 Eine ganz andere Auffassung spricht hingegen aus einer Beschreibung des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson, der gut 100 Jahre später durch die Niederlande und Frankreich reiste und sich dabei an Flüsse und Kanäle hielt, wodurch seine Wahrnehmung von Glockenklängen eine deutliche Verschiebung erfuhr: »On the other side of the valley a group of red roofs and a belfry showed among the foliage. Thence some inspired bell-ringer made the afternoon musical on a chime of bells. There was something very sweet and taking in the air he played; and we thought we had never heard bells speak so intelligibly, or sing so melodiously, as these.«8 Die beiden Schilderungen verdeutlichen, wie unterschiedlich vergleichbare Phänomene im Rahmen des jeweils anders gearteten historischen Rahmens wahrgenommen werden. Es gehört zum unbestreitbaren Verdienst des kanadischen Komponisten, Klangforschers und Klangökologen Raymond Murray Schafer (*1933), seit den späten 1960er Jahren auf solche Korrelationen hingewiesen und den Eigenwert uns umgebender Klänge betont zu haben. In seinem erstmals 1977 erschienenen Buch The Tuning of the World

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deutet er die uns umgebende Welt der Geräusche als Spiegel der Zivilisation, der viel darüber verrät, wie wir mit unserer Umwelt umgehen.9 Mit dem Begriff »Soundscape«, im Deutschen am ehesten als »Laut-« oder »Klangsphäre« wiederzugeben, bezeichnet Murray Schafer ein komplexes Gefüge von Klangkomponenten, in dessen Mittelpunkt der Mensch positioniert ist. Zu diesem historisch sich wandelnden Geflecht aus Grundlauten – also aus Geräuschen natürlichen oder künstlichen Ursprungs, die den Hintergrund für die Wahrnehmung bilden und damit wesentlich zum spezifischen Charakter der Soundscape beitragen10 – gehören innerhalb des urbanen Raums weithin hörbare Signallaute und Lautmarken wie die Glocken:11 Als eines der ältesten und wichtigsten Klangzeichen der abendländischen Kultur haben sie in früheren Epochen – meist vom gesamten Umland aus wahrnehmbar – den geografischen Ort des sakralen Mittelpunkts Kirche markiert. Darüber hinaus artikulierten sie auch die Lebenszeit der Stadtbewohner, indem sie zunächst die kirchlichen Feste und Gottesdienste, seit Einführung der mechanischen Turmuhr im 14. Jahrhundert dann auch die Unterteilung des Tages in Stunden hörbar machten. Dass diese Funktion im Laufe der Moderne immer stärker an Bedeutung verloren hat, dass Glocken mithin durch andere Klänge und Lärm verdeckt oder sogar vollständig außer Betrieb genommen wurden, wodurch zugleich vormals bedeutsame Lautmarken aus der städtischen Soundscape verschwanden, gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen von Murray Schafers Forschungsarbeit. So lässt sich beispielsweise beim Vergleich der 1973 und 1996 mithilfe von »field recordings« entstandenen Dokumentationen zur Soundscape der kanadischen Hafenstadt Vancouver feststellen, wie stark sich der Klangcharakter einzelner Stadtregionen durch Zunahme von Verkehr oder industrieller Nutzung – also durch typische Grundlaute des modernen städtischen Lebens – verändert hat.12 Der schon früh von Murray Schafer formulierte Befund, dass die Zunahme an Lauten in der immer stärker durch Technik dominierten Welt zugleich einschneidende Folgen für die charakteristische Soundscape eines Ortes hat und daher letzten Endes auch mit einem Verlust an Lebensqualität einhergeht,13 hat nicht nur die künstlerische Forschung im Bereich »auditiver Architektur«14 angeregt, sondern lieferte darüber hinaus auch wichtige Impulse für eine kreative künstlerische Auseinandersetzung mit den Klängen des städtischen Umfelds, in deren Mittelpunkt häufig – aber nicht ausschließlich – die Bewusstmachung vergessener Signallaute und Lautmarken steht.

11  Während Murray Schafer die Bezeichnung Signallaut (engl. »signal«) für alle Laute verwendet, die »direkt die Aufmerksamkeit« auf sich lenken (2010, S. 438), verweist der Begriff »Lautmarke« (engl. »soundmark«), abgeleitet vom Englischen »landmark« (Landmarke, Wahrzeichen, Orientierungspunkt), »auf einen öffentlichen Laut, der einzigartig ist oder über bestimmte Qualitäten verfügt, durch die ihm in der jeweiligen Gemeinschaft, in der er ertönt, eine herausragende Aufmerksamkeit zuteil wird« (a. a. O., S. 436). Zu den folgenden Ausführungen vgl. a. a. O., S. 109–111. 12  Vgl. hierzu die Doppel-CD The Vancouver Soundscape 1973/Soundscape Vancouver 1996 des kanadischen Labels Cambridge Street Records (CSR-2CD 9701). Basierend auf dem ursprünglich lokalen Projekt, hat sich inzwischen eine weltweit agierende Szene aus Forschern und Künstlern entwickelt, die im World Forum for Acoustic Ecology (http://wfae.proscenia. net) organisiert ist und ihre theoretischen Arbeiten seit 2000 in der Zeitschrift Soundscape veröffentlicht (http://wfae.proscenia. net/journal/, zugegriffen: 2. März 2015). 13  Vgl. etwa die Ausführungen bei Schafer, Die Ordnung der Klänge a. a. O., S. 298ff., sowie bei Sabine Breitsameter, »Die Globalisierung der urbanen Klanglandschaft. Zur Aktualität von R. Murray Schafers akustischer Ökologie«, in: Neue Zeitschrift für Musik 174 (2013), H. 3, S. 28–33. 14  Vgl. Alex Arteaga und Thomas Kusitzky, »Klangumwelten. Auditive Architektur als Artistic Research«, in: Holger Schulze (Hrsg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 249–267.

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15  Die folgenden Ausführungen basieren auf der ausführlichen Darstellung bei Stefan Drees, »Bill Fontanas ›urban sound sculptures‹ und die Idee der Relokalisierung von Klängen«, in: Stefan Drees, Andreas Jacob und Stefan Orgass (Hrsg.), Musik – Transfer – Kultur. Festschrift für Horst Weber, Hildesheim 2009, S. 459–474. Über Fontanas unterschiedliche Projekte informiert auch die Internetseite The Sound Sculptures, Acoustical Visions and Ideas of Bill Fontana: http://resoundings.org, zugegriffen: 2. März 2015. Zum künstlerischen Umgang mit Soundscapes vgl. allgemein Holger Schulze, »Das Genre der Soundscape. Eine Kritik und Verteidigung der Soundscape im 21. Jahrhundert«, in: Nathalie Bredella und Chris Dähne (Hrsg.), Infrastrukturen des Urbanen. Soundscapes, Landscapes, Netscapes, Bielefeld 2013, S. 85–104. 16  Bill Fontana, »Klang als virtuelles Bild«, in: MusikTexte 96, Februar 2003, S. 71–72, hier S. 71. 17 Ebd. 18  Vgl. Bill Fontana, »The Relocation of Ambient Sound: Urban Sound Sculpture«, in: Leonardo 41 (2008), H. 2, S. 154–158.

Die Stadt als Klangort für installative und konzertante Projekte Seit den 1970er Jahren beschäftigt sich der Amerikaner Bill Fontana (*1947) mit der Konzeption von akustischer Kunst aus Klängen, die vor allem dem urbanen Umfeld des Menschen entstammen, wobei er viele seiner Projekte ganz auf die spezifischen Soundscapes unterschiedlichster Städte oder darin lokalisierter Örtlichkeiten ausrichtet.15 Die künstlerische Erforschung entsprechender Klangmaterialien, die – als »lebendige Quelle musikalischer Informationen«16 – in Abhängigkeit vom jeweiligen Ort in unterschiedlichem Grad semantisch aufgeladen sind und daher mit der alltäglichen Lebenswelt verknüpfte Informationen transportieren, steht ganz im Zeichen eines Versuchs, über den Weg der ästhetischen Erfahrung das Bewusstsein für die spezifischen Klangqualitäten der uns umgebenden städtischen Welt zu wecken. In entsprechenden Arbeiten nutzt Fontana gewöhnlich den gewählten Ort als physischen Fokus für Klänge, die er an anderen Stellen aufnimmt und dorthin überträgt. Indem er Lautsprecher an die Fassade eines Gebäudes oder an ein Monument anbringt, um so »den Ort durch die Schaffung einer virtuellen transparenten klanglichen Wirklichkeit zu dekonstruieren und umzugestalten«,17 bezieht er sich dezidiert auf die gleichermaßen von visuellen, architektonischen und akustischen Momenten bestimmte Semantik konkreter Örtlichkeiten und definiert sie durch Schaffung einer ortsfremden Klangskulptur neu. Dadurch betont er die Differenz zwischen visueller Wahrnehmung und optischer Erscheinung eines Ortes, setzt also die Asynchronizität von Sehen und Hören als künstlerisches Gestaltungsmittel ein, um eine Sensibilisierung der Wahrnehmung zu provozieren. Diese unter Einbeziehung technischer Medien realisierte Verlagerung von Klängen vom Ort ihrer Herkunft zu einer differenten Lokalität und die mit ihr verknüpfte Schaffung von »urban sound sculptures«18 vollzieht sich auf immer ähnliche Weise: So bündelte Fontana 1985 beim Projekt Metropolis Köln auf dem zentralen Roncalliplatz vor dem Kölner Dom in einer insgesamt 18 Lautsprecher umfassenden Installation all das zu einer großen Klangskulptur, was ebenso viele Mikrofone zeitgleich an diversen Stellen der Stadt einfingen: Klänge von Wasser an Brückenpfeilern, die Geräuschkulisse des Bahnhofs, das Klappern von Brückendehnungsfugen, Vogelstimmen aus einer Voliere des Zoologischen Gartens, Klänge aus der vor allem am Tag belebten Fußgängerzone und Klänge von Glocken. In der Folge hat Fontana diese Konzeption in anderen Arbeiten erneut aufgegriffen und an die Soundscapes anderer Städte angepasst, so in Metropolis Stockholm (Stockholm 1986), in den Acoustical Views of Kyoto (Kyoto 1993) oder in den Acoustical Visions of Venice (Venedig 1999). Das Grundprinzip – die Aufzeichnung von Klängen an mehreren Stellen einer Stadt, deren anschließende Bündelung in einer technischen Schaltung

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und ihre als Klangskulptur organisierte Wiedergabe an einem zentralen Ort – blieb dabei zwar immer gleich, doch hat sich die jeweilige Ausführung als stark differenzierbar und im erzielten Resultat als variabel erwiesen, wobei charakteristische Schallquellen – vor allem Klangmarken und Signallaute wie Glocken und (in Hafenstädten) Schiffshörner – als Konstanten wiederkehren. So reagierte Fontana mit seinem Projekt Acoustical Visions of Venice, 1999 im Rahmen der Biennale in Venedig realisiert, auf die besonders prägnante Soundscape der Lagunenstadt, indem er deren wichtigste Elemente, an zwölf unterschiedlichen Orten durch Mikrofone eingefangen, in einer Lautsprecherinstallation an der Dogana da Mar – dem historischen, stellvertretend für die Seemacht Venedig stehenden Sitz der Zollbehörde – zusammenführte.19 Der eindrucksvolle Blick von diesem visuell stark konnotierten Ort, dem sich das zum vorgelagerten Lido hin öffnende Becken von San Marco darbietet, korrespondierte mit einem ganz anderen akustischen Eindruck der Stadt, der – von den Aufnahmepositionen aus in Realzeit zur Dogana übertragen – aus zahlreichen Klängen des täglichen Lebens zusammengesetzt war. Gerade dieses Beispiel unterstreicht, dass Fontana primär auf eine neue Erfahrung bestimmter Orte durch Überlagerung optischer und akustischer Reize zielt: Geprägt durch historische und zeitgenössische Bilder der Stadt – etwa die Gemälden von Giovanni Antonio Canals Riva degli Schiavoni (1730/31) oder Bernardo Bellottos Hafenbecken von San Marco am Himmelfahrtstag (1739/40), aber auch den heutigen Vaporettoverkehr und die Kreuzfahrtschiffe –, wird der Blick auf das Hafenbecken mit Klängen konfrontiert, die stellvertretend für die charakteristische Soundscape des urbanen und maritimen Lebensraums Venedig sowie für die tägliche Lebenswirklichkeit an diesem Ort stehen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die klangliche Gestaltung urbaner Räume ist die Arbeit des spanischen Komponisten Llorenç Barber (*1948), der seit 1988 durch sogenannte Glocken- oder Stadtkonzerte auf sich aufmerksam macht. Projekte wie The Grand Design. A City Symphony for the London Borough of Croydon (London, 6. Juli 1996), die Symphony of 100 Bells for Greenwich & Dockland (London, 11. Juli 1997), das Glocken Konzert für die Glocken der Innenstadtkirchen von Münster/Westfalen (9. Mai 1998), das Glockenkonzert O Roma nobilis für die 100 Kirchen der Stadt Rom zur Eröffnung des Heiligen Jahres (28. Juni 1999), das Glockenkonzert ¡Santiago! für die Glocken des Campus Stellae in Santiago de Compostela (25. Juli 1999), das Glockenkonzert Hoc donum in Hannover (6. Juni 2001) oder die Liverpool Symphony of Bells (23. April 2007) funktionieren immer nach demselben Prinzip: Ausgehend von der klanglichen Beschaffenheit verfügbarer Signallaute und Lautmarken – es handelt sich dabei zumeist um Klangquellen wie

19  Vgl. die Diskussion dieser Arbeit im Kontext künstlerischer Auseinandersetzungen mit Hafensoundscapes bei Stefan Drees, »Klangort Hafen. Hafensoundscapes als Ausgangspunkt für Kompositionen und Installationen«, in: Seiltanz 7, Oktober 2013, S. 4–14, hier S. 9–10.

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20  Zum Begriff der »plurifokalen Musik« vgl. Rubén López Cano, Música plurifocal. Conciertos de ciudades de Llorenç Barber, México 1997, und ders., »Der Komponist in fabula, der verwirrte Hörer und der echte Musiker. Kurze Notizen zu einer Gebrauchsanweisung für die plurifokale Musik Llorenç Barbers«, in: MusikTexte 104, Februar 2005, S. 71–75. Zu unterschiedlichen Einflüssen und kompositorischen Bezugnahmen solcher Arbeiten vgl. Llorenç Barber, »A Music out of Doors«, in: Leonardo Music Journal 23 (2013) S. 3–5. 21  Vgl. Monika Fürst-Heidtmann, »Zeremoniale, heterophone Raummusik. Der spanische Komponist Llorenç Barber«, in: MusikTexte 104, Februar 2005, S. 47–51, hier S. 51. 22  Eine Partiturseite aus The Grand Design (London 1996) ist abgebildet bei Jolyon Laycock, A Changing Role for the Composer in Society. A Study of the Historical Background and Current Methodologies of Creative Music-Making, Oxford 2005, S. 194. 23  Den Verlauf solcher Glockenkonzerte hat Monika Fürst-Heidtmann anhand eines Beispiels ausführlich beschrieben, vgl. »Llorenç Barbers Glockenkonzert ›Hoc donum‹ in Hannover«, in: MusikTexte 104, Februar 2005, S. 68–70. 24  Carmen Pardo Salgado, »Deambulo in musica. Zu den Stadtkonzerten von Llorenç Barber«, in: MusikTexte 104, Februar 2005, S. 62–67, hier S. 64. 25  Vgl. Laycock, A Changing Role (2005), S. 192–193.

Glocken, Carillons oder Schiffshörner, die gelegentlich, etwa bei der York Millennium Symphony of Bells and Brass (20. Oktober 2000), durch charakteristische instrumentale Klangfarben von Perkussions- oder Blechblasinstrumenten ergänzt werden –, konzipiert Barber konzertante Abläufe, in deren Rahmen er die oft weit voneinander entfernten Klangorte einer Soundscape im Sinn einer »plurifokalen Musik« miteinander in Beziehung setzt.20 Voraussetzung hierfür ist eine ausgedehnte Vorbereitungsphase, während der Barber die Wirkung der im Stadtraum vorhandenen Klangsignaturen studiert, um dadurch jener spezifischen Aura auf die Spur zu kommen, die Signallaute und Lautmarken gleichsam zum »›Sprachrohr‹ und ›Gedächtnis‹ einer Stadt« werden lässt.21 Die gesammelten Erfahrungen nutzt der Komponist, um eine an den jeweiligen Klangort angepasste Partitur anzufertigen, in der er den Einsatz von Klangereignissen durch Notation auf einer Zeitachse festlegt, also Verlauf und rhythmische Gestalt des Läutens innerhalb gewisser Grenzen so genau wie möglich fixiert (vgl. Abbildung Seite 109).22 Bei der Aufführung werden die Einzelstimmen dieser Partitur schließlich von Spielern umgesetzt, die sich in den ausgewählten Kirch- und Glockentürmen befinden und über Stoppuhren miteinander synchronisiert sind.23 Dass Barbers Arbeit mit den »Instrumenten der Stadt«24 und die daraus entspringende klangliche Artikulation der urbanen Topografie – oftmals verbunden mit verschütteten Klangqualitäten, die sich als Spuren von Geschichte im Stadtraum lesen lassen – im Endergebnis sehr unterschiedlich ausfallen können, belegt der Vergleich zweier Projekte: Während der Komponist etwa beim römischen Glockenkonzert O Roma nobilis an der unteren Grenze der Wahrnehmbarkeit arbeitete und zudem die Lokalität so beschaffen war, dass sich von keinem Punkt der Stadt aus alle Glocken hören ließen,25 hoben sich in der Liverpool Symphony of Bells26 die Klangsignaturen der Glocken deutlich vom hauptsächlich durch Verkehrsgeräusche dominierten Klanghintergrund der modernen Großstadt ab. Bei allen Arbeiten ist das Hörergebnis jedoch ganz wesentlich – und dies ist eine Parallele zum Großen Frankfurter Stadtgeläute – vom individuellen Rezeptionsverhalten abhängig, also davon, an welchem Standort sich der Einzelne befindet oder auf welche Weise er sich durch Verlagerung der Position »nicht nur wechselnde Höreindrücke, sondern auch das Erlebnis eines Raum- oder Wandelkonzerts« verschafft.27 Damit treten aber auch die Unterschiede zu Fontanas Konzeption der klanglichen Überschreibung städtischer Areale mittels »urban sound sculptures« deutlich hervor: Während Fontana auch unscheinbare, für die Soundscape jedoch bedeutsame Grundklänge in seine Arbeiten einbezieht – ein Material, das, wie beispielsweise fließendes Wasser, zur Hörbarmachung eines Einsatzes medialer Aufnahme- und Übertragungstechnologien bedarf –, stützt

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sich Barber fast ausschließlich auf herausragende Klangzeichen und Lautmarken einer Soundscape. Darüber hinaus verwendet Fontana die im Tagesverlauf variablen Klänge in quasidokumentarischer Manier, da er sie lediglich transportiert, nicht aber verändert, während Barber die vorgegebenen Möglichkeiten in einen festgelegten Zeitrahmen einfügt und ihren Einsatz durch die Hilfsmittel musikalischer Notation strukturiert. Schließlich weichen auch die resultierenden Wahrnehmungssituationen voneinander ab: Fontana bündelt die Klänge an einem zentralen Ort, dessen Erscheinungsweise er durch eine installative Anordnung von Lautsprechern manipuliert, während Barber einen größeren Teil des Stadtraums klanglich artikuliert und dabei sowohl gedanklich wie aufführungspraktisch dem Einsatz konzertanter Prinzipien verpflichtet bleibt.

26  Vgl. hierzu den auf Aufzeichnungen von mehreren Kamerastandorten basierenden Ausschnitt auf YouTube (www.youtube.com/ watch?v=TgZF6KBiBcQ, zugegriffen: 2. März 2015), der auch den Komponisten in Aktion an den Glocken der Liverpool Philharmonic Hall zeigt. 27  Fürst-Heidtmann, »Llorenç Barbers Glockenkonzert« (2005), S. 70. 28  Eine substanzielle Einführung in dieses Thema findet sich bei Andra McCartney, »Sound-

Die Stadt als Aktionsraum für partizipative Kunst Während Arbeiten wie jene von Fontana und Barber die Klänge innerhalb eines offenen Bereichs anordnen und für die Allgemeinheit hörbar machen, zielt die Konzeption sogenannter Soundwalks oder Hörspaziergänge allein auf eine Partizipation des Subjekts.28 Paradigmatisch für Funktionsweise und Intention künstlerischer Projekte, bei denen die Benutzer, ausgerüstet mit einem Abspielgerät, einem vorher festgelegten Parcours folgen, sind die ausgefeilten Audiowalks der Kanadierin Janet Cardiff (*1957).29 In ihren entsprechenden seit Mitte der 1990er Jahren entstandenen Arbeiten hat die Künstlerin eine Konzeption entwickelt, bei der die Konfrontation eines höchst artifiziellen Klangkonstrukts mit der Wahrnehmung urbaner Räume zum Ausgangspunkt von Eigenaktivitäten des Rezipienten wird. Projekte wie Münster Walk (1997, entstanden für die Ausstellung Skulptur.Projekte in Münster/Westfalen), The Missing Voice (Case Study B) (1999, entstanden für die Region um Whitechapel, London), Ittingen Walk (2002, entstanden für das Kunstmuseum des Kantons Thurgau in Warth, Schweiz), Her Long Black Hair (2004, entstanden für den Central Park, New York) oder Words Drawn in Water (2005, entstanden im Auftrag des Hirshhorn Museum für das Gelände der National Mall in Washington, D.C.) sind jeweils im Hinblick auf eine Erkundung spezifischer Örtlichkeiten entworfen und lassen sich von diesen nicht isolieren.30 In all diesen Fällen erhält der Besucher zu Beginn ein Abspielgerät mit Kopfhörer, über den ihm, von den klanglichen Gegebenheiten der Außenwelt weitgehend abgeschirmt, Sprach- und Klanginformationen vermittelt werden, die auf das sichtbare Umfeld bezogen sind und diesem zumindest teilweise auch entstammen. Neben Cardiffs Stimme erklingt dabei ein minutiös komponierter Klanghintergrund, der sich – an der abzugehenden

walking: Creating Moving Environmental Sound Narratives«, in: Sumanth Gopinath und Jason Stanyek (Hrsg.), The Oxford Handbook of Mobile Music Studies, New York 2014, Bd. 2, S. 212–237. 29  Ein Überblick über Cardiffs Projekte und Audiobeispiele zu den einzelnen in Kooperation mit Georges Bures Miller geschaffenen Audiowalks finden sich in der Rubrik »Walks« auf der Internetseite Janet Cardiff & George Bures Miller, http://www.cardiffmiller.com, zugegriffen: 2. März 2015. 30  Die folgenden Details sind – mit einigen Modifikationen – entnommen aus: Stefan Drees, »›… physical sculptures through time and space …‹ – Stimme, Klang und Erfahrungsraum bei Janet Cardiff«, in: Oliver Krämer und Martin Schröder (Hrsg.), »Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen.« Grenzüberschreitung als Paradigma in Kunst und Wissenschaft: Festschrift für Hartmut Möller zum 60. Geburtstag, Essen 2013, S. 207–214, hier S. 207–210.

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31  Beim binauralen Aufnahmeverfahren werden Mikrofone in den Ohren eines Kunstkopfes platziert, um die tatsächlich wahrgenommenen Klangverhältnisse und die sie hervorrufenden Schallsignale so exakt wie möglich einzufangen. Bei Wiedergabe über Kopfhörer erzeugen die Aufnahmen daher Höreindrücke mit genauer Richtungslokalisation. 32  Zur Entstehung der gesprochenen Texte und zum komplexen Prozess des Sound Editing vgl. auch die entsprechenden Skizzen und Abbildungen zu »Her Long Black Hair«, in: Mirjam Schaub, Janet Cardiff. The Walk Book, Köln 2005, S. 50–62. 33  David Pinder, »Ghostly Footsteps: Voices, Memories and Walks in the City«, in: Ecumene 8 (2001), H. 1, S. 1–19, hier S. 2. 34 Schaub, Janet Cardiff (2005), S. 14.

Wegstrecke mit binauraler Aufnahmetechnik aufgezeichnet31 – aus Elementen wie dem Geräusch von Schritten, Verkehrslärm, Vogelgezwitscher, Stimmen von Passanten und gegebenenfalls auch historischen Klangdokumenten zusammensetzt. In seiner Gesamtheit gleicht das Ergebnis einem hörspielartigen Gebilde, in dem eine narrative Ebene mit Klangbausteinen aus Alltag und Historie zu einer Einheit verbunden ist.32 Formale Grundlage solcher Arbeiten ist eine Reihe ineinandergreifender Faktoren, die von der Beschaffenheit des gewählten Ortes abhängen: Einerseits bestimmen dessen Topografie und die mit ihr verknüpften – teils sichtbaren, teils lediglich als Erinnerung aufbewahrten – historischen Prägungen die Thematik des Audiowalks sowie, daraus abgeleitet, die Wahl des Klangmaterials; andererseits dominiert die Örtlichkeit, aber auch das Zeitgerüst, das Cardiff der Fertigung eines Audiowalks zugrunde legt, da sie jenen Streckenverlauf vorgibt, den der Benutzer sich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens durch eigene Bewegungen aneignen muss. Aus der genauen Beobachtung dieser Komponenten gewinnt die Künstlerin die Kriterien für ihre jeweilige Arbeit: Auffällige Lautmarken und Signalzeichen werden ebenso wie charakteristische visuelle Schlüsselreize zu Referenzpunkten innerhalb des zeitlichen Verlaufs geformt, an denen die Aufmerksamkeit des Rezipienten vermittels gesprochener Kommentare auf bestimmte Wahrnehmungsphänomene gelenkt wird. Durch dieses Verfahren wird ein Prozess der ästhetischen Erfahrung in Gang gesetzt, der zum Teil auf der hörend nachvollziehbaren, hörspielartigen Narration und deren Verknüpfung mit dokumentarischen Klängen beruht, sich zum Teil aber auch der räumlichen Bewegung des Rezipienten innerhalb des Stadtraums verdankt. Da die Audiowalks nämlich immer mit der Erschließung eines genau umschriebenen Areals durch körperliche Aktivität des Benutzers verbunden sind, geht ihre Wirkung von einer leibbezogenen Wahrnehmung aus, von einer als »embodied enaction«33 verstehbaren spezifischen Aneignung von Welt, die sich auf eine konstante Beobachtung der urbanen Außenwelt stützt, während zugleich die Tonaufnahme die akustischen Reize des Alltags überlagert. Resultat ist ein Verwischen der Grenzen von Wahrnehmung und Realität zugunsten einer als »physical cinema«34 begreifbaren Erfahrung von Virtualität, die jedoch nie ihre Verankerung in der sichtbaren Umgebung verliert, sondern – als unmittelbare Folge von Cardiffs fiktionalem WortKlang-Gebilde – wie eine palimpsestartige Überschreibung der aktuellen städtischen Realität anmutet. Zentral hierfür ist der Umstand, dass Elemente wie die aufgezeichneten Atemzüge und Schrittfolgen sowie die Beschreibungen des urbanen Areals den Rezipienten zwar zum Versuch einer Synchronisierung seiner eigenen Physis mit der konstruierten Klang- und Ortsrealität der Audiowalks ermutigen, diesem Versuch jedoch zugleich auch die ständige

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Möglichkeit des Scheiterns innewohnt, da – abhängig von den anatomischen Voraussetzungen eines anderen Körpers – bereits die Übernahme von Cardiffs Schrittfrequenz zu Abweichungen von beschriebener Topografie und eigenen Beobachtungen führen kann. Die hierauf gründende Herausforderung, die Narration der Künstlerin mit der Beobachtung der Umgebung und dem eigenen Leibesempfinden vollständig in Deckung zu bringen, trägt daher zur Wahrnehmung von Differenzen bei und öffnet überhaupt erst die Tür zur darauf aufbauenden ästhetischen Erfahrung: Indem Cardiff dieses Spiel mit Wahrnehmung und Körperwissen permanent abwandelt und es zugleich an der narrativen Konstruktion von imaginierten Realitäten oder erinnerten historischen Kontexten bricht, macht sie ihre Kunst zum Erfahrungsraum für Differenzphänomene. Aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit können die Audiowalks daher in ihrer Funktion als »physical sculptures through time and space«35 dem Rezipienten bewusst machen, in welch starkem Maße Hören, Sehen und Leiberfahrung einander beeinflussen und die Wahrnehmung von akustischem Konstrukt und urbanem Umfeld mitbestimmen. Dabei geht es auch um das Verwischen der Grenzen von Wahrnehmung und Realität zugunsten einer Erfahrung von Virtualität, die jedoch nie den Boden der umgebenden urbanen Realität verlässt, sondern die Gestalt einer durchlässig bleibenden Überschreibung mit Elementen einer fiktionalen Narration annimmt, was mitunter zu kalkulierten Widersprüchen innerhalb des Wahrgenommenen führt. Die Stadt als Bühne für musiktheatrale Kontexte Kann bereits im Falle von Barbers Glockenkonzerten aufgrund ihrer Nähe zur Präsentationsform des traditionellen Konzerts der städtische Raum als eine Art Bühne betrachtet werden, auf der ein komponiertes Klanggeschehen zur Aufführung gebracht wird, gilt dies in weitaus stärkerem Maße für Musiktheaterarbeiten, die gezielt für bestimmte städtische Räume entstehen. Aus der Fülle von Beispielen, die seit rund eineinhalb Jahrzehnten verstärkt zu verzeichnen sind und sich im Zuge von Förderungen durch die Kulturstiftung des Bundes zwischen 2008 und 2011 in der trügerischen Hoffnung auf eine nachhaltige Implementierung zeitgenössischen Musikschaffens im Kulturleben fast explosionsartig vermehrt haben, seien hier zwei Werke ausgewählt, die auf jeweils individuelle Weise die Rahmenbedingungen für eine musikalisch-theatralische Auseinandersetzung mit dem Stadtraum abstecken.36 Als erstes Exempel sei die Komposition Zivilcourage. Musik für einen Platz (2008/09) von Gordon Kampe (*1976) genannt, die für eine Aufführung auf dem Paul-Gerhardt-Platz in Stuttgart im Rahmen der Reihe »zeitoper« entstand. Nach den Projekten U-Musik. Bunker (2007, Musik: Frederik Zeller,

35  Janet Cardiff, zit. nach: »Word sculptures. Janet Cardiff in conversation with Anthony Easton«, in: Jacket Magazine 31, Oktober 2006, http://jacketmagazine.com/31/cardiff-eastoniv.html, zugegriffen: 2. März 2015. 36  Wie problematisch einzelne Aspekte solcher Arbeiten sein können, zeigt das Projekt Eichbaumoper, das 2008/09 an einer U-BahnHaltestelle an der Autobahn A 40 in Mülheim an der Ruhr durchgeführt wurde; vgl. Stefan Drees, »Aufwertung oder Event? Zur Problematik der Umwidmung urbaner Räume durch Musikprojekte am Beispiel der ›Eichbaumoper‹«, in: Andreas Jacob und Gordon Kampe (Hrsg.), Kulturelles Handeln im transkulturellen Raum. Symposiumsbericht Kulturhauptstadt RUHR 2010, Hildesheim 2014, S. 235–247.

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37  Dementsprechend fand die Aufführung von Zellers Komposition im Bunker unter dem Diakonissenplatz – einem historischen Überbleibsel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – statt, während Otts Musiktheater für das Areal unter der Paulinenbrücke am RupertMayer-Platz, einer der größten Problemzonen Stuttgarts, entstand. Zu Letzterem vgl. Otto Paul Burkhardt, »Im Niemandsland. Daniel Otts ›Paulinenbrücke‹ – Musiktheater unter Stuttgarts dröhnender Hochstraße«, in: Neue Zeitschrift für Musik 170 (2009), H. 4, S. 42–45.

Uraufführung: 9. Juni 2007) und Paulinenbrücke (2008/09, Musik: Daniel Ott, Uraufführung 23. Mai 2009) bildete das Werk den Abschluss einer Stadttrilogie, mit der die Staatsoper Stuttgart das Ziel verfolgte, durch Lokalisierung der einzelnen Teile an drei sehr unterschiedlichen Stellen des Stadtraums den urbanen Alltag auf ungewöhnliche Weise erfahrbar zu machen.37 In der für Kinderchor, Frauenchor und gemischten Chor gesetzten Partitur hält der Komponist zwar prinzipiell einen aus acht unterschiedlichen Bildern konzipierten formalen Werkverlauf fest, doch schreibt er diesem zugleich eine gewisse Variabilität ein, die durch frei zu gestaltende Klangereignisse oder nicht exakt festgelegte Asynchronizitäten bei der Überlagerung mehrerer gleichzeitig erklingender Chorgruppen entsteht. Darüber hinaus bezieht Kampe die akustische Beschaffenheit des Platzes in seine Überlegungen mit ein, indem er aus diversen Ortsspezifika klangliche Elemente ableitet, die er – bisweilen über Mikrofone abgenommen und verstärkt – als gestaltungsfähige Bestandteile in das Werkganze integriert. So werden einzelne Aktionen der Choristen wie das Scharren von Füßen auf dem Schotter des Platzes, aber auch das Klappern am Gitter des Eingangstores zur angrenzenden PaulGerhardt-Kirche sowie eine von dessen Innenseite aus vorgenommene Bearbeitung mit Klopflauten, perkussive Aktionen an einem Recyclingcontainer, das Bespielen einer Telefonzelle mit einem Superball sowie gegebenenfalls auch das Rauschen des Laubs hier angepflanzter Bäume benutzt und mit unterschiedlichen Arten der Artikulation des Platzes in seiner Gesamtheit – etwa durch Fallenlassen von Gegenständen oder rhythmisierte Schritte – verknüpft, wozu noch die elektronische Zuspielung alltäglicher urbaner, mit der Soundscape des Platzes verknüpfter Klänge wie jene eines vorbeifahrenden Autos, eines startenden Motorrads oder einer bimmelnden Straßenbahn hinzutreten (vgl. Abbildung Seite 108 unten). Durch Einbeziehung theatraler Aktionen der Mitwirkenden und den damit verbundenen Rückgriff auf tatsächlich vorhandene oder lediglich hinzugedichtete Klangelemente schafft Kampe die Voraussetzungen für einen stufenweisen Übergang vom Geräusch zum Ton, der auch bei der Behandlung der Stimmen eine Rolle spielt. So bringt er immer wieder die Worte des vom Regisseur Marcelo Cardoso Gama vorgegebenen, aus Fragmenten von Hannah Arendt und Vergil bestehenden Textgerüsts durch spezifische vokale Klanggebungen wie explosive Atemgeräusche, verfremdetes Sprechen, stimmloses Flüstern oder unterschiedlich dichtes Stimmengewirr zum Verschwinden, nähert also den Umgang mit der Stimme dem Klangszenario der Platzklänge – insbesondere dem Scharren der Füße auf dem Schotter – an. Dadurch entsteht ein klanglich breit angelegtes Feld, in dem urbane Soundscapes und das in Laute aufgelöste artifizielle Sprachkonstrukt einander begegnen und

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gelegentlich sogar ununterscheidbar werden. Diese kompositorische Artikulation des als architektonischer und sozialer Raum begriffenen öffentlichen Platzes wurde bei der Uraufführung am 16.  Juli 2009 einerseits aufgrund eines unabhängig von der Partitur erarbeiteten Regiekonzepts auf eine theatrale Nutzung der Örtlichkeit ausgeweitet, erfuhr aber andererseits im Rahmen der insgesamt fünf Einzelaufführungen durch Ereignisse aus dem Stadtraum, wie beispielsweise dem Läuten der Glocken, auch eine vorab nicht geplante klangliche Bereicherung. Über die Beschränkung auf eng umgrenzte Örtlichkeiten hinaus reicht die Konzeption, die der österreichische Komponist Peter Ablinger (*1959) seiner Werkgruppe OPERA/WERKE zugrunde gelegt hat: Ausgangspunkt ist das »modulare Konzept« für »eine Oper für verschiedene miteinander vernetzte Orte und Zeiten«, das »an jedem Ort, in jeder Stadt neu« entstehen und damit »den jeweiligen Ort, die jeweilige Stadt selbst zum Gegenstand der Oper« machen kann.38 Eine erste Ausarbeitung schuf Ablinger mit der Stadtoper Graz (2000–2005), die zwischen dem 1. und 23. Oktober 2005 im Rahmen des Festivals »Steirischer Herbst« realisiert wurde.39 Konkret handelte es sich hierbei um »ein ästhetisches Netzwerk«40 aus sieben voneinander unabhängigen, aber dennoch aufeinander bezogenen Hauptabteilungen – vom Komponisten als »Akte« bezeichnet –, deren jede eine andere Kunstform aus den Bereichen Literatur, Konzert, Installation, Film, Performance und Architektur in den Mittelpunkt stellte. Die damit vorangetriebene Isolierung und Defunktionalisierung theatertypischer Gestaltungselemente lässt sich im Umfeld jener Entwicklungen betrachten, die Hans-Thies Lehmann Ende der 1990er Jahre unter dem Stichwort des »postdramatischen Theaters« diskutiert hat.41 Sie stehen stellvertretend für ein Theater, »für das die Kategorien eines linearen Handlungsablaufs, der Fabel, des Rollentextes, des dramatischen Konflikts, der psychologischen Motivierung und der dramatischen Illusion ›nicht mehr das regulierende Prinzip darstellen‹«,42 während demgegenüber »die Produktionsmittel des Theaters – Text, Szene, Licht usw. – in ganz neue Konstellationen mit dem Tanz- und dem Musiktheater, aber auch mit den traditionellen und den elektronischen Bildmedien« treten.43 Auf diese Weise reflektierte jeder einzelne Akt der Stadtoper Graz einen jener elementaren Bausteine, die für die intermediale Kunstform Musiktheater konstitutiv sind: Beim 1.  Akt: Gesang handelte sich »um eine fixe Installation«44 in den Räumen der Grazer Galerie ESC, die als »umfassende akustische Bestandsaufnahme des Phänomens Stadt« und ihrer ortsgebundenen »Gesänge« in Gestalt von rund 400 Soundscape-Aufnahmen auf 36 CDs angelegt war. Als Sammlung von Klängen verschiedenster Orte bildete sie in ihrer Gesamtheit das quasienzyklopädische Archiv einer

38  Die folgenden Ausführungen basieren zum größten Teil auf der materialreichen Dokumentation des Projekts auf der Internetseite des Komponisten (http://ablinger.mur.at/docu15dt.html, zugegriffen: 2. März 2015). 39  Weitere Realisationen waren die Cityopera Buenos Aires (2011) sowie die Landschaftsoper Ulrichsberg (2009); zu Letzterer vgl. Florian Neuner, »Das Rauschen des Böhmerwaldes: Peter Ablingers ›Landschaftsoper‹ als erstaunliches Experiment«, in: MusikTexte 124, Februar 2010, S. 18–20. 40  Wolfgang Hofer, »Passagenwerk der Zwischenräume: Peter Ablingers ›OPERA/WERKE: Stadtoper Graz‹«, in: Positionen 66, Februar 2006, S. 29–30, hier S. 29. 41  Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 42  Albrecht Wellmer, »Das Musiktheater im Dispositiv der modernen Künste«, in: Musik und Ästhetik 17 (2013), H. 66, S. 11–30, hier S. 22. 43  Ebd., S. 20. 44  Dieses und die folgenden Zitate: Hofer, »Passagenwerk« (2006), S. 29.

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45  Peter Ablinger, zit. nach http://ablinger.mur.at/docu15dt_akt3.html, zugegriffen: 2. März 2015. 46  Peter Ablinger, zit. nach Hofer, »Passagenwerk« (2006), S. 30. 47  Hofer, »Passagenwerk« (2006), S. 29. 48  Zit. nach http://ablinger.mur.at/docu15dt_ akt5.html, zugegriffen: 2. März 2015.

»urbanen Hörbibliothek«, das sich der Benutzer nach Gutdünken aneignen konnte, indem er sich via Kopfhörer in das abgespeicherte Material vertiefte und auf akustische Spurensuche begab. Einzelne dieser vom Komponisten als »Fonografien« bezeichneten akustischen Schnappschüsse dienten darüber hinaus als musikalische Grundlage für den 2. Akt: Das Orchester, der in der Helmut-List-Halle aufgeführt wurde: In einer Abfolge von zehn Tableaus und elf Intermezzi konfrontierte Ablinger die über CD zugespielten Soundscape-Klänge mit orchestralen Transkriptionen, deren unterschiedliche Ausprägungen er als Mittel zur klanglichen Erkundung der Soundscape-Dokumente nutzte. Der 3. Akt: Libretto präsentierte sich hingegen als ein von der Schriftstellerin Yoko Tawada unter dem Titel Was ändert der Regen an unserem Leben? Oder ein Libretto verfasstes Buch mit einem autonomen Text, der weder vertont noch gesungen wurde, sondern – als Ablösung der literarischen Form Libretto von ihrer ursprünglichen Funktion verstanden – die Grundlage für ein »privates Lesen an privaten Orten«45 bildete und damit nicht zuletzt als Anreger für eine individuelle klangliche Imagination der Leser diente. Der 4. Akt: Die Handlung wiederum, konzipiert als rund sechsminütige Installationsperformance für sechs analoge Tonbandgeräte, eine Akteurin und maximal sechs Besucher, stellte – als Herzstück der Stadtoper Graz im Opernhaus selbst angesiedelt – die Verwandlung des Bühnenraums in eine Zimmerflucht aus weißen Wänden und deren Beschallung mit weißem Rauschen als »Erlebnisraum einer neuen und anderen Wahrnehmung und Erfahrung«46 in den Mittelpunkt und machte den Zuschauer selbst zum Bestandteil der installativen Anordnung. Diese fand ein Gegenstück im 5. Akt: Die Kulisse, bei dem es sich um eine »architektonische Intervention im Stadtraum«47 durch Errichtung von weißen Korridoren aus Stellwänden an insgesamt sechs unterschiedlichen urbanen Standorten handelte. Deren Erkundung isolierte den Besucher vom gewöhnlichen optischen Erscheinungsbild der Stadt und lud ihn damit »zur veränderten Wahrnehmung der somit nur teilweise wahrnehmbaren Stadtkulisse«48 über die Soundscape ein. Gleichfalls als Intervention im urbanen Raum war der 6.  Akt: Stillsitzen konzipiert, der in Gestalt einer mobilen Installation aus 36 Stühlen auf den ritualisierten Akt des Sitzens in Konzert oder Oper verwies und zu einer Reflexion des Zusammenhangs zwischen Sitzen und Hörerfahrung aufforderte. Der abschließende 7. Akt: Das Publikum war, erneut an die Helmut-List-Halle als Aufführungsort gebunden, mit einer Massierung der Gestaltungsmittel verknüpft, was sich in einer Parallelprojektion zweier Filme von Edgar Honetschläger mit filmischen Städtebildern und deren klanglichem Kontrapunkt, einer Komposition für Stadtgeräusche, Sprachklänge, zwei Selbstspielklaviere und geteiltes Instrumentalensemble, abzeichnete.

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Ablinger stellte in der Ausformulierung seiner Konzeption von OPERA/ WERKE zur Stadtoper Graz gewissermaßen auf emanzipatorischem Wege die Authentizität der unterschiedlichen Kunstformen in den Mittelpunkt und löste sie durch Neuordnung aus den funktionalen Kontexten herkömmlicher Musiktheaterkonzeptionen, indem er durch individuelle Anlage der sieben Akte deren Differenzen und die damit jeweils verbundenen Rezeptionsformen betonte. Diese Strategie stellte er zugleich in den Dienst einer akustischen wie optischen Auseinandersetzung mit dem städtischen Umfeld des Veranstaltungsortes, die erst im Verlauf des über mehrere Tage gestreuten Rezeptionsprozesses zu einem Gesamtbild verwoben werden konnte. Indem der Komponist dabei sowohl konventionelle Institutionen und Spielorte wie die Helmut-List-Halle und das Opernhaus einbezog als auch den Stadtraum selbst als Aktionsfläche benutzte, also unterschiedliche Repräsentationen der Stadt miteinander in Beziehung setzte, wurde die Gesamtheit der urbanen Topografie zu einem »Schauplatz und Hörplatz der Entdeckungen und Metamorphosen«49 geformt, der dem partizipierenden Besucher vielfältigste ästhetische Erfahrungen ermöglichte. Ausblick Alle hier kursorisch besprochenen Arbeiten, so unterschiedlich die jeweils zugrunde liegenden künstlerischen Ansätze auch sein mögen, machen es sich zur Aufgabe, weite urbane Räume oder begrenzte städtische Areale einer Befragung der klanglichen Eigenschaften zu unterziehen. Dass diese Aufgabenstellung nicht zum Selbstzweck wird, sondern immer auch mit einer genauen Erkundung spezifischer örtlicher Topografien und deren architektonisch wie historisch geprägten Semantiken verknüpft wird, macht die eigentliche Qualität der einzelnen Projekte aus. Je stärker hierbei die installativen oder konzertanten Elemente gegenüber einem auf Partizipation setzenden und den Rezipienten konstruktiv einbeziehenden Szenario zurückgedrängt werden, desto stärker scheint sich die Kunst auch – die Werke von Cardiff und Ablinger lassen dies zumindest erahnen – als gesellschaftlich relevante ästhetische Praxis artikulieren zu wollen. Inwiefern der damit implizit oder explizit formulierte Anspruch auf kritische Reflexion herkömmlicher Wahrnehmungsgewohnheiten tatsächlich eingelöst werden kann, bleibt allerdings für jeden einzelnen Fall abzuwägen. Immerhin kann er im Idealfall dazu führen, dass der mit Wahrnehmung von Kunst im öffentlichen Raum verknüpfte Prozess ästhetischer Erfahrung eine Neubewertung des Lebensraums Stadt und seiner Soundscape nach sich zieht – und damit auf Nuancen aufmerksam macht, die im Alltag leicht verloren gehen.

49  Hofer, »Passagenwerk« (2006), S. 30. Abb. S. 108 oben  Innenstadtplan von Frankfurt am Main mit Wegskizze zur Wahrnehmung unterschiedlicher klanglicher Facetten während des Großen Frankfurter Stadtgeläutes (nach Bund 1986, S. 437) Abb. S. 108 unten  Partiturausschnitt aus dem 6. Bild von Gordon Kampes Zivilcourage. Musik für einen Platz (2008/09). © Edition Juliane Klein 2009 Abb. S. 109  Partiturseite aus Llorenç Barbers Glockenkonzert Hoc donum (2001). © Llorenç Barber 2001

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Danke!
 Wir haben eineinhalb Jahre an dem Projekt Plätze. Dächer. Leute. Wege. gearbeitet und in dieser Zeit viele Menschen kennengelernt. Wir danken allen herzlich, die uns in diesem Arbeitsprozess unterstützt haben. Unser Dank gebührt vor allem: Theater Bielefeld feXm Fonds experimentelles Musiktheater transcript Verlag Stadt Bielefeld Laborschule Bielefeld Fachhochschule Bielefeld Integrationsrat der Stadt Bielefeld Theaterlabor Allen Referenten des Symposiums Stadt-Theater – Theater und Stadt am 24. Januar 2015 im Rathaus Bielefeld: Stefan Drees, Bettina Mons, Elke Krasny, Benjamin Wihstutz. Besonderer Dank gilt den Bielefelderinnen und Bielefeldern, die sich für uns Zeit genommen und sich aktiv an unserem Projekt beteiligt haben.

ImPRESSUM Gestaltung: Jenny Döhren Redaktionsassistenz: Marie Johannsen Lektorat: Nazire Ergün Korrektorat: Meike Specht Produktion: Die Produktion – Agentur für Druckrealisation GmbH, Düsseldorf Printed in Europe Bildnachweis Martin Becker: 18–27 Ivan Bazak: 30–45, 53, 58, 59, 65, 66 Gordon Kampe: 57, 108 (Edition Juliane Klein) Elke Krasny: 92, 93 Print-ISBN 978-3-8376-3197-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3197-9

Publiziert mit freundlicher Unterstützung:

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