Philosophie für die Polis: Akten Des 5. Kongresses Der Gesellschaft Für Antike Philosophie 2016 3110662523, 9783110662528

Die politische Philosophie der Antike erstreckt sich in ihrer Wirkung und Relevanz bis in die heutige Zeit. Der vorliege

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Philosophie für die Polis: Akten Des 5. Kongresses Der Gesellschaft Für Antike Philosophie 2016
 3110662523, 9783110662528

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil I: Von den Vorsokratikern bis Platon
Heraklit: Eine Ontologie des Politischen
Kosmos und Polis bei Demokrit: Ordnung des Lebens und Freiheit des Denkens
Greek Tragedy and the Discourse of Politics
Does Democracy Necessarily Rest on Relativism? The Origins of the Debate in Ancient Greece
Xenophon (and Thucydides) on Sparta (and Athens): Debating Willing Obedience Not Only to Laws, but Also to Magistrates
Protagoras and the Myth of Plato’s Protagoras
Justice and Ideas in Plato’s Republic
Caregivers of the Polis, Partygoers and Lotus-Eaters. Politics of Pleasure and Care in Plato’s Republic
Bad Lovers and Lovers of the Demos in Plato’s Gorgias and Phaedrus
La cité pense selon le divin. Remarques sur la pensée politique platonicienne, aujourd’hui
Teil II: Aristoteles
Aristotle on Stasis as a Natural State of Cities
Die Obsession mit Gerechtigkeit in der Deutung von Aristoteles’ politischer Theorie – zu den Bedingungen innenpolitischer Stabilität
Maximising Political Wisdom and the Defense of Democratic Participation in Aristotle’s Politics
Good Citizenship in Aristotle
Der Mensch als das ruchloseste und wildeste Tier. Zum Menschenbild in der Politik des Aristoteles
Teil III: Von der hellenistischen bis zur islamischen Philosophie
Elternliebe und Gerechtigkeit. Anmerkungen zur sozialen oikeiôsis
Justice, Law, and Friendship: Ethical and Political Topics in Epicurus
Die innere Stadt und die Stadt der Welt. Das Politische bei Plotin
Politische Theologie und Religionspolitik bei Kaiser Julian
Augustinus und der Paternalismus. Eine christliche Staatsutopie im 138. Brief an Marcellinus und ihr Verhältnis zu De civitate dei
How Military Science Relates to Political Science in the Anonymous Justinianic Dialogue On Political Science
Zwischen Platon, Ardaschir und Mohammed: Politische Philosophie in der islamischen Welt
Teil IV: Relevanz des antiken Nachdenkens über die Polis für heute
Neugierig, verallgemeinernd, politisch. Demokratische Praxis in der griechischen Antike aus heutiger Sicht
Was Journalisten von Aristoteles lernen können
Politik und Charakter. Unser „postfaktisches“ Zeitalter aus Sicht der antiken Philosophie
Hat das antike Nachdenken über die Polis heute noch irgendwelche Relevanz?
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
Stellenregister
Namenregister
Sachregister

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Philosophie für die Polis

Beiträge zur Altertumskunde

Herausgegeben von Susanne Daub, Michael Erler, Dorothee Gall, Ludwig Koenen und Clemens Zintzen

Band 380

Philosophie für die Polis Akten des 5. Kongresses der Gesellschaft für antike Philosophie 2016 Herausgegeben von Christoph Riedweg In Zusammenarbeit mit Benedetta Foletti, Michèle Hegi, Laura Napoli, Tim Richter und Camille Semenzato

ISBN 978-3-11-066252-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066483-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066263-4 ISSN 1616-0452 Library of Congress Control Number: 2019946261 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Im vorliegenden Band sind die Fachvorträge des 5. internationalen Kongresses der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH) vereinigt, der vom 6.–9. September 2016 an der Universität Zürich über die Bühne ging und der politischen Philosophie der Antike gewidmet war – von den vorsokratischen Anfängen über Platon und Aristoteles als den unumstrittenen Protagonisten, über Hellenismus und Kaiserzeit bis in die Spätantike und die Frühzeit des islamischen Denkens. In Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der 2001 gegründeten GANPH zielte der Kongress darauf ab, die vitale Bedeutung der Antike für unsere Kultur im allgemeinen sowie speziell für das philosophische Nachdenken über den Menschen als „politisches Lebewesen“ und die gesellschaftlichen Voraussetzungen gelingenden Lebens zu beleuchten und für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar zu machen. Die praktische Seite der Politik kam dabei außer in der Podiumsdiskussion, an der auch der damalige Schweizer Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation Mauro Dell’Ambrogio sowie der F.A.S.-Journalist Thomas Gutschker mitwirkten, insbesondere im sehr gut besuchten Eröffnungsvortrag zu Wort, in dem der ehemalige Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger unter dem Titel „Das Gute, das Nützliche, die Polis“ mit dem für ihn charakteristischen Esprit über die Brauchbarkeit antiker Anregungen für den politischen Alltag reflektierte (Videoaufzeichnung und Manuskript abrufbar unter https://ganph.de/tagungen/kongresse/v.-ganphkongress). Sowohl bei der Konzeption wie bei der Organisation des Kongresses konnte sich der Herausgeber auf die engagierte Unterstützung des gesamten Vorstandes der GANPH und besonders des stellvertretenden Vorsitzenden Friedemann Buddensiek (Frankfurt am Main) sowie des Geschäftsführers Christoph Horn (Bonn) verlassen. Dafür sei auch an dieser Stelle von Herzen gedankt. Ein großer Dank geht außerdem an die Verwaltungsassistentin des Zürcher Seminars für Griechische und Lateinische Philologie Barbara Sigrist und das ganze Organisationsteam mit Alexander Häberlin, Laura Napoli, Tim Richter und Camille Semenzato sowie an Thomas Trüb, der für das gelungene Layout von Poster und Flyer verantwortlich zeichnete. Benedetta Foletti, Laura Napoli und Camille Semenzato haben sich zusammen mit Michèle Hegi und Tim Richter auch um die Drucklegung und die Erstellung der Register außerordentlich verdient gemacht. Michael Erler (Würzburg) gebührt überdies aufrichtiger Dank für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Beiträge zur Altertumskunde“. Die Durchführung des Kongresses, der gleichermaßen durch strahlendes Spätsommerwetter wie durch die Lebendigkeit des kollegial-freundschaftlichen https://doi.org/10.1515/9783110664836-202

VI  Vorwort Austauschs geprägt war, wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige finanzielle Unterstützung durch die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF), die UBS Kulturstiftung, die GANPH, die Zürcher Hochschulstiftung und den Zürcher Universitätsverein (seit 2017 UZH Alumni-Fonds). Auch dafür sei an dieser Stelle nachdrücklich gedankt. Zürich, im Juli 2019

Christoph Riedweg

Inhalt Vorwort  V Christoph Riedweg  Einleitung  1

Teil I:

Von den Vorsokratikern bis Platon 

Panagiotis Thanassas  Heraklit: Eine Ontologie des Politischen  15 Georg Rechenauer  Kosmos und Polis bei Demokrit: Ordnung des Lebens und Freiheit des Denkens  51 Glenn W. Most  Greek Tragedy and the Discourse of Politics  87 Giovanni Giorgini  Does Democracy Necessarily Rest on Relativism? The Origins of the Debate in Ancient Greece  93 Melissa Lane  Xenophon (and Thucydides) on Sparta (and Athens): Debating Willing Obedience Not Only to Laws, but Also to Magistrates  121 Rachel Barney  Protagoras and the Myth of Plato’s Protagoras  133 Catalin Partenie  Justice and Ideas in Plato’s Republic  159 Giulia Sissa  Caregivers of the Polis, Partygoers and Lotus-Eaters. Politics of Pleasure and Care in Plato’s Republic  173

VIII  Inhalt Cinzia Arruzza  Bad Lovers and Lovers of the Demos in Plato’s Gorgias and Phaedrus  201 Jean-François Pradeau  La cité pense selon le divin. Remarques sur la pensée politique platonicienne, aujourd’hui  219

Teil II: Aristoteles  Pierre Pellegrin  Aristotle on Stasis as a Natural State of Cities  235 Eckart E. Schütrumpf  Die Obsession mit Gerechtigkeit in der Deutung von Aristoteles’ politischer Theorie – zu den Bedingungen innenpolitischer Stabilität  249 Georgia Tsouni  Maximising Political Wisdom and the Defense of Democratic Participation in Aristotle’s Politics  277 Stephen White  Good Citizenship in Aristotle  299 Bruno Langmeier  Der Mensch als das ruchloseste und wildeste Tier. Zum Menschenbild in der Politik des Aristoteles  331

Teil III: Von der hellenistischen bis zur islamischen Philosophie  Philipp Brüllmann  Elternliebe und Gerechtigkeit. Anmerkungen zur sozialen oikeiôsis  355 Emidio Spinelli  Justice, Law, and Friendship: Ethical and Political Topics in Epicurus  379 Wiebke-Marie Stock  Die innere Stadt und die Stadt der Welt. Das Politische bei Plotin  409

Inhalt  IX

Michael Schramm  Politische Theologie und Religionspolitik bei Kaiser Julian  437 Christian Tornau  Augustinus und der Paternalismus. Eine christliche Staatsutopie im 138. Brief an Marcellinus und ihr Verhältnis zu De civitate dei  459 Dominic J. O’Meara  How Military Science Relates to Political Science in the Anonymous Justinianic Dialogue On Political Science  493 Ulrich Rudolph  Zwischen Platon, Ardaschir und Mohammed: Politische Philosophie in der islamischen Welt  507

Teil IV: Relevanz des antiken Nachdenkens über die Polis für heute  Christine Abbt  Neugierig, verallgemeinernd, politisch. Demokratische Praxis in der griechischen Antike aus heutiger Sicht  535 Thomas Gutschker  Was Journalisten von Aristoteles lernen können  555 Béatrice Lienemann  Politik und Charakter. Unser „postfaktisches“ Zeitalter aus Sicht der antiken Philosophie  561 Christof Rapp  Hat das antike Nachdenken über die Polis heute noch irgendwelche Relevanz?  579 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes  595 Stellenregister  603 Namenregister  627 Sachregister  633

Christoph Riedweg

Einleitung

Wie ungebrochen aktuell die Antike in der heutigen, weltweit höchst angespannten politischen Situation ist, vermag schon ein flüchtiger Blick in die Spalten maßgeblicher Zeitungen zu illustrieren. Es wimmelt dort seit einigen Jahren regelrecht von Begriffen antiker Provenienz. Dass ,Dem-agogie‘ (wörtlich Volks-Führung bzw. -Verführung) und ,Popul-ismus‘1 allenthalben wieder fröhliche Urstände feiern, ist ja auch kaum zu übersehen, und entsprechend zahlreich sind die Wortmeldungen von Intellektuellen, Journalistinnen und Journalisten zu diesem seit der Antike virulenten Thema.2 Auch viele weitere griechisch-römische Termini und Konzepte, darunter nicht zuletzt die Demokratie – in all ihren schon im antiken Griechenland vielfältigen Schattierungen –, aber auch Pluto-kratie und Olig-archie, Auto-kratie, Despotie und Tyrannis sind aus der modernen politischen Diskussion ebensowenig wegzudenken wie Republik und Senat, Präsident und Diktator.3

 1 Es handelt sich um einen modernen, im Hinblick auf politische Ideen der amerikanischen ,Populist Party‘ am Ende des 19. Jh. von lat. populus hergeleiteten Begriff, vgl. Canovan 1981, 5f., ferner Canovan 2005, 10–39. 68–74 (zur Rolle des Konzepts des populus Romanus von den Anfängen über die französische Revolution bis hin zu den amerikanischen ,Populists‘); auch Mudde/Rovira Kaltwasser 2013, 494f. Lateinische Entsprechungen zu populism/populist sind popularitas/popularis. – Die folgenden Ausführungen verdanken wichtige Anregungen einem interdisziplinären Seminar über „Demokratie und Populismus in der Antike und heute“, das ich im Herbstsemester 2018 zusammen mit dem Politologen Daniel Kübler an der Universität Zürich halten durfte. 2 Zu den wichtigsten Protagonisten im deutschsprachigen Raum gehört der Princeton Politologe Jan-Werner Müller, Autor des in mehr als 20 Sprachen übersetzten Essays Was ist Populismus? (12016); für eine Auswahl seiner „Views, Reviews, and Interviews“ s. http:// www.princeton.edu/~jmueller/rvr.html (abgerufen am 29.12.2018). Vgl. außerdem exempli gratia Herfried Münkler, „Populismus: Demokratie gibt es nur ganz – oder gar nicht“, Zeit 26. Dezember 2018 (https://www.zeit.de/2019/01/populismus-demokratie-krise-gemeinschaftvielfaeltigkeit-politisches-system [abgerufen am 29.12.2018]), Daniel Binswanger, „Nationalpopulismus“, Republik 17. März 2018 (https://www.republik.ch/2018/03/17/nationalpopulismus [abgerufen am 29.12.2018]), Philipp Sarasin, „Die autoritäre Logik des #Populismus“, Geschichte der Gegenwart 29. März 2017 (https://geschichtedergegenwart.ch/die-autoritaere-logik-despopulismus/ [abgerufen am 29.12.2018]), Boris Schumatsky, „Populismus ist Lüge“, NZZ 13. März 2017, S. 8, Peter Graf Kielmansegg, „Populismus ohne Grenzen“, FAZ 13. Februar 2017, S. 6, aber auch die Guardian-Reihe „The New Populism“ (https://www.theguardian.com/ world/series/the-new-populism, jüngst z. B. Peter C. Baker, „,We the People‘: the battle to https://doi.org/10.1515/9783110664836-001

2  Christoph Riedweg Wer sich auf eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie der Griechen und Römer einlässt, stellt bald fest, dass die antike Reflexion ein erstaunliches Reservoir an gesellschaftspolitischen Einsichten, Anregungen und Fallbeispielen bereithält, das zum Vergleich und zum Nachdenken über die eigene Situation einlädt – es genügt, an den Schuldenerlass in Athen unter Solon4 oder an Überlegungen zur sozialen Kohäsion und zur  define populism“, 10. Januar 2019, https://www.theguardian.com/news/2019/jan/10/we-thepeople-the-battle-to-define-populism [abgerufen am 10.1.2019]) etc. 3 Zum Revival des Begriffs Tyrann/-is vgl. jetzt auch Sieglinde Geisel, „Shakespeares Tyrannen sind wieder im Amt“, Republik 16. Januar 2019 (https://www.republik.ch/2019/01/16/ shakespeares-tyrannen-sind-wieder-im-amt [abgerufen am 16.1.2019]): „In Amerika ist die politische Normalität aus dem Gleichgewicht geraten. Der Begriff des Tyrannen kehrt in den Diskurs zurück: Nachdem es für Donald Trump und seine Wähler normal geworden ist, Presse und Wissenschaft pauschal zu diskreditieren, wenden sich nun Wissenschaftler gegen seine Demagogie. Mit der Streitschrift «Über Tyrannei» hat der Historiker Timothy Snyder im vergangenen Jahr einen Bestseller gelandet. «Der Tyrann» heißt das neuste Buch des ShakespeareForschers Stephen Greenblatt, gemäß dem deutschen Untertitel «Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert»“ etc. – Eine regelrechte Renaissance griechisch-lateinischer Begriffe wurde vor kurzem von Julie Clarini mit Blick auf die französische Politikdiskussion konstatiert: „La politique, option latin-grec: pourquoi les mots de l’Antiquité reviennent sur la place publique?“, wobei sie darin mehr als nur „le jeu du hasard ou des effets de salonnards“ sieht: „Mais on pourrait aussi être plus sérieux et considérer que ce goût pour l’antique est le symptôme de la crise que nous traversons – crise politique, mais aussi, plus profondément, crise démocratique, qui nous contraint à questionner en profondeur nos institutions. Après tout, si Athènes a inventé le pouvoir au peuple (« democratia »), Rome a fondé la République (« res publica »). Le monde des Anciens n’est pas le nôtre, mais les notions forgées il y a plus de deux mille ans continuent de donner forme à nos façons de penser. Les « gilets jaunes » n’ont-ils pas proclamé qu’ils étaient « le peuple » ? Les ambiguïtés de la notion sautent aux yeux si l’on en revient aux distinctions qu’opéraient le grec (entre dèmos et ethnos) et le latin (entre populus, plebs et vulgus). De même, sans prétendre fournir de conclusion sur la nature du populisme, on aura profit à examiner le rôle des tribuns de la plèbe, à Rome, ainsi que leur legs contemporain. Et quant à la nature autoritaire de certaines démocraties, la longue histoire de la dictature et du césarisme nous rappelle que l’illibéralisme n’est pas d’invention récente“ (https:// www.lemonde.fr/idees/article/2018/12/31/la-politique-option-latin-grec_5403880_3232.html ?fbclid=IwAR2MByORM3Wb_Dj_yqEw17nAeNs4ezXHQeCk-hCc35-iso9duSZCxDr9i00 [abgerufen am 3.1.2019]; vgl. auch speziell zu den antiken Begriffen für das Volk in diesem Dossier Gérard Bras, „Le “peuple”, c’est la fraction qui ambitionne d’être le tout“ [https:// www.lemonde.fr/idees/article/2018/12/27/gerard-bras-le-peuple-c-est-la-fraction-qui-ambi tionne-d-etre-le-tout_5402804_3232.html, abgerufen am 5.1.2019]). 4 Auf die σεισάχθεια hat Staatssekretär Mauro Dell’Ambrogio in einem unter dem Titel „Wirtschaftsunterricht ist immer ideologisch“ im Tagesanzeiger vom 12. April 2013 erschienenen Interview im Zusammenhang mit der Eurokrise hingewiesen (https://www.tagesanzeiger.ch/ wirtschaft/konjunktur/Wirtschaftsunterricht-ist-immer-ideologisch/story/11605792 [abgerufen

Einleitung  3

größten für ein Gemeinwesen gerade noch erträglichen Differenz zwischen den Reichsten und den Ärmsten zu erinnern. Berühmt ist Platons Beispiel: Überzeugt davon, dass ein Höchstmaß an Reichtum mit überragender Sittlichkeit im Grunde unvereinbar ist,5 dekretiert er für die in den Gesetzen entworfene kretische Kolonie6 bezüglich Landbesitz absolute Egalität: Jeder Bürger soll ein einziges, unveräußerliches Landlos (κλῆρος) zugeteilt erhalten, und im Hinblick auf das übrige Vermögen wird der Faktor 4 als Obergrenze bestimmt – nur so lasse sich eine Spaltung (διάστασις) im Innern, die sowohl von der schlimmen Armut wie auch vom Reichtum erzeugt werde, verhindern.7 Zu Recht merkt Aristoteles in der Besprechung dieser Bestimmungen an, dass schon Solon auf eine gewisse Ausgewogenheit in den Besitzverhältnissen hinzuwirken versuchte. 8 Platons Freund Archytas von Tarent wiederum preist in einem suggestiven Fragment geradezu hymnisch die – im erhaltenen Abschnitt nicht näher spezifizierte, aber möglicherweise mit der geometrischen oder harmonischen Gleichheit assoziierte9 – richtige Berechnung (λογισμός10), die, wenn man sie heraus-

 am 29.12.2018]): „Das Wichtigste über Wirtschaft habe ich im Altgriechisch gelernt. Wirtschaftliche Probleme wie das der Verschuldung, wie sie uns aktuell in der Eurokrise begegnet, sind uralt. Bereits vor Tausenden von Jahren wurden sie von den alten Griechen diskutiert. Ich wundere mich schon lange, warum in der Berichterstattung über die Eurokrise bisher noch niemand Solon erwähnt hat. Der Gesetzgeber Solon hat in Athen um 600 v. Chr. eine allgemeine Schuldentilgung befohlen, um den Staat aus einer Krisensituation herauszuführen. Was ich damit sagen möchte: Es ist ein Grundproblem, dass Menschen sich verschulden. Die Frage ist doch, wie eine Gesellschaft mit Schulden umgeht.“ 5 Vgl. Leg. V, 743a; ähnlich schon Resp. VIII, 550e6–551a2 und 555c7–9. 6 In Leg. IX, 860e (vgl. XII, 969a) als „Stadt der Magnesier“ bezeichnet. 7 Leg. V, 744b–745a; vgl. Schriefl 2013, 244f. Eine größere Bandbreite hätte die von den Schweizerischen Stimmbürgern am 24.11.2013 abgelehnte Eidgenössische Volksinitiative der Jungsozialist*innen Schweiz „1 : 12 – Für gerechte Löhne“ erlaubt (https://www.bk.admin.ch/ ch/d/pore/vi/vis375t.html [abgerufen am 29.12.2018]). Der Kampf gegen die „inégalités sociales“ gehört auch zu den Kernanliegen des vom bekannten Ökonomen Thomas Piketty am 9. Dezember 2018 in Le Monde (https://www.lemonde.fr/idees/article/2018/12/09/nous-lanconsaujourd-hui-un-appel-pour-transformer-les-institutions-et-les-politiques-europeennes_ 5394926_3232.html [abgerufen am 4.1.2019]) lancierten „Manifeste pour la Démocratisation de l’Europe“ (vgl. http://tdem.eu/le-budget/ [abgerufen am 4.1.2019]). 8 Aristot. Pol. II 7, 1266b14ff.; vgl. zu Solons Reformen u.a. Wallace 2007 und Noussia-Fantouzzi 2010, 23–44. 9 Dafür sprechen Stellen wie Plat. Gorg. 508a und Aristot. Pol. V 1, 1301b26–1302a8. 10 Zur genauen, Zahlenproportionen miteinschließenden Bedeutung des Worts an dieser Stelle vgl. Huffman 2005, 204–206.

4  Christoph Riedweg gefunden habe, imstande sei, „Aufruhr (στάσις) zu beenden und Eintracht (ὁμόνοια) zu mehren“:11 πλεονεξία τε γὰρ οὐκ ἔστι τούτου γενομένου καὶ ἰσότας ἔστιν· τούτῳ γὰρ περὶ τῶν συναλλαγμάτων διαλλασσόμεθα. διὰ τοῦτον οὖν οἱ πένητες λαμβάνοντι παρὰ τῶν δυναμένων, οἵ τε πλούσιοι διδόντι τοῖς δεομένοις, πιστεύοντες ἀμφότεροι διὰ τούτω τὸ ἶσον ἕξειν. Denn Mehr-Haben-Wollen gibt es nicht, wenn diese realisiert ist, und Gleichheit herrscht: Durch diese nämlich finden wir einen Ausgleich im Austausch untereinander. Um ihretwillen also empfangen die Armen von den Vermögenden und geben die Reichen den Bedürftigen, wobei beide darauf vertrauen, dass sie durch diese das Gleiche haben werden. (47 B 3 DK)

Worin eine solche proportionale Gleichheit bestanden haben mag, lässt Aristoteles erkennen, wenn er die Tarentiner dafür lobt, dass sie ihre Besitztümer den Armen gemeinsam zur Nutzung überließen12 und mit dieser Maßnahme „die Menge [sc. dem – auch die Reichen miteinschließenden – Gemeinwesen gegenüber] wohlgesonnen“ machten.13 In einer Zeit wie der heutigen, in der die Demokratien selbst in ihren historischen Kernländern von innen heraus gefährdet scheinen, ist nicht zuletzt Platons idealtypische14 Analyse der Ursachen, die zu Instabilität und Verfall bestehender politischer Ordnungen führen, im 8. Buch des Staats von mitunter beklemmender Aktualität.15 Während Platon für den Übergang von der Oligar 11 Vergleichbar hymnisch ist Solons Lob auf die εὐνομίη in fr. 4,32–39 West. 12 Vgl. ebenfalls Aristot. Pol. II 5, 1263a37–39 φανερὸν τοίνυν ὅτι βέλτιον εἶναι μὲν ἰδίας τὰς κτήσεις, τῇ δὲ χρήσει ποιεῖν κοινάς. 13 Aristot. Pol. VI 5, 1320b9–11 καλῶς δ’ ἔχει μιμεῖσθαι καὶ τὰ Ταραντίνων. ἐκεῖνοι γὰρ κοινὰ ποιοῦντες τὰ κτήματα τοῖς ἀπόροις ἐπὶ τὴν χρῆσιν εὔνουν παρασκευάζουσι τὸ πλῆθος; vgl. auch Riedweg 22007, 145–147. 14 Dies geht sowohl aus Resp. IV, 445c wie aus VIII, 544a deutlich hervor (Beschränkung auf die erinnernswerten vier Arten schlechter politischer Ordnung für den Vergleich mit der einen guten; vgl. auch VIII, 544d zu vielen anderen Arten der πολιτεῖαι bei Barbaren wie bei Griechen). Man beachte im übrigen auch eine Einschränkung wie τὰ πολλά in VIII, 559d2 im Zusammenhang mit dem Umschlag vom oligarchischen in den demokratischen Menschentypus (es handelt sich bei Platons Analyse also keinesfalls um ein stets gleich ablaufendes ,Naturgesetz‘, sondern vielmehr um eine Tendenz). 15 Interessanterweise hat der britisch-amerikanische Autor und politische Kommentator Andrew Sullivan am 18. Januar 2017, d. h. zwei Tage vor Donald Trumps Inauguration, in einem Beitrag von BBC Newsnight unter dem Titel „What can Plato teach us about Donald Trump?“ auf die Aktualität von Platons Analyse des Übergangs von der Demokratie in eine Tyrannis hingewiesen (http://www.bbc.co.uk/programmes/p04pydmg [abgerufen am 3.1.

Einleitung  5

chie zur Demokratie zügellose Gier nach Reichtum und „schamloses Wirtschaften“, welches zahlreiche Bürger in den Ruin führe, als wichtigste Triebkräfte benennt und damit eine Kapitalismuskritik avant la lettre vorlegt,16 trägt die Demokratie laut Platon mit einer übersteigerten Vorstellung von ,égalité‘, die „gleichermaßen Gleichen wie Ungleichen eine Art Gleichheit zuteilt“,17 den Keim für den Umsturz in eine Tyrannis bereits in sich. Platon zeichnet für die Demokratie seiner Zeit das Bild eines extremen Individualismus, der allein lustgesteuert ist18 und sich um jede Art von Gesetz und Rechtsspruch regelrecht foutiert.19 Anstelle von Scham und Mäßigung treten zunehmend Frevelmut und Ausschweifung, Anarchie wird mit ,liberté‘ verwechselt, Verschwendung mit Großartigkeit, Unverschämtheit mit Tapferkeit.20 Und lassen schlechte politische ,Vorsteher‘21 das Verlangen nach Freiheit über das gebotene Maß hinaus wachsen, so produziert dies, wie wir heute sagen würden, ,Wutbürger‘, die die vernünftige Elite als „verrucht und oligarchisch“ beschimpfen und lediglich Politiker mögen, die sich symbiotisch mit ihnen verschmelzen.22 Nicht nur im Staat gerät in der Folge laut Platon die Ordnung völlig aus den Fugen, sondern ebenso in Gesellschaft und Familie, wo unter Verkehrung der Verhältnisse die Eltern vor den Kindern und die Lehrer vor den Schülern Angst haben, wo die Senioren nach Art der Jungen herumalbern, um ja nicht „unangenehm und herrisch“ zu erscheinen, und wo die Unterschiede nicht nur zwischen Herren und Sklaven, sondern genauso zwischen den Geschlechtern verschwimmen.23

 2019]); vgl. auch Socrates, „Emperor Trump?“, Classical Wisdom Weekly November 18 2016 (https://classicalwisdom.com/people/emperor-trump/ [abgerufen am 5.1.2019]) und jetzt Detlef von Daniels, „Die zarten Seelen freier Bürger“, FAZ 13. Mai 2019, S. 8 (https://www.faz.net/ aktuell/politik/die-gegenwart/die-populistische-herausforderung-offensiv-angehen16183541.html?premium [abgerufen am 12.7.2019]). 16 Vgl. Resp. VIII, 555b–556c (höchst bemerkenswert Platons Beobachtung in 556a10–b4, dass das Geschäften „auf eigenes Risiko“ [ἐπὶ τῷ αὑτοῦ κινδύνῳ] die gröbsten Auswüchse verhindern könnte). Die Aufhäufung von Reichtum und die zunehmende Konzentration auf den Gelderwerb setzen bereits in der Timokratie ein, vgl. dazu Schriefl 2013, 196f. 17 Resp. VIII, 558c3f. 18 Vgl. auch Leg. IV, 714a3–6. 19 Resp. VIII, 557e–558a; vgl. auch 561c–d. 20 Resp. VIII, 560d–e. 21 Vgl. Resp. VIII, 562d1 κακῶν οἰνοχόων προστατούντων (προστάτης ist ein Terminus technicus für die Anführer der Demokraten). 22 Vgl. Resp. VIII, 562c–d. 23 Vgl. Resp. VIII, 562e–563c (selbst die Tiere beanspruchen nach Platon gegenüber ihren HerrInnen größte Freiheit…). Ein vergleichbares Unbehagen liegt der heute von der Neuen

6  Christoph Riedweg Eine solcherart übertriebene Freiheit, die jedes Gesetz als unzulässige Beschneidung empfindet,24 löst Platon zufolge den Umschlag in eine ebenso übermäßige Sklaverei aus.25 Um diesen Prozess zu illustrieren, kehrt Platon zu dem von ihm schon früher im Staat aufgerufenen Bild der Drohnen zurück.26 Die Drohnen würden in der radikalen Demokratie des 4. Jh. v. Chr. die Herrschaft ausüben, wobei zwischen den besonders ,Scharfen‘ bzw. ,Schlauen‘ (τὸ δριμύτατον), welche die Führung übernehmen – d. h. qua ῥήτορες und δημαγωγοί27 „reden und [sc. politisch] handeln“ –, und den übrigen unterschieden wird, die „um die Rednertribünen herumsitzen, [sc. laut] summen und keine abweichende Meinungsäußerung zulassen“.28 Von der Gruppe der Drohnen werden als zweite die besonders reich Gewordenen (πλουσιώτατοι), die den Drohnen „Weide“ (βοτάνη) bieten, sowie als dritte der Demos unterschieden. Letzterer „lebt von der eigenen Hände Arbeit und ist [sc. eigentlich] unpolitisch“, dominiert jedoch zahlenmäßig und bildet in einer Demokratie im Rahmen von Volksversammlungen den „höchsten Souverän“ (κυριώτατον). An sich zeigt der Demos freilich wenig Neigung zu solchen Versammlungen,29 es sei denn er bekommt ein Entgelt, und dafür sorgen die „Vorsteher“ nur allzu gerne30 – sie, die „den Vermögenden den Besitz weg-

 Rechten bewirtschafteten Polemik gegen Political Correctness, LGBT-Anliegen und Genderismus zugrunde, die in den letzten Jahren im öffentlichen Raum zunehmend dominant geworden waren. 24 Vgl. Resp. VIII, 563d–e. 25 Von „schlimmer Sklaverei“ spricht im Zusammenhang mit der Tyrannis schon Solon (fr. 9,4 und 11,4, vgl. auch 4,18 West). 26 Vgl. erstmals Resp. VIII, 552c–d. 27 Vgl. dazu Aristot. Pol. IV 4, 1292a7ff., wo die Demagogen mit Schmeichlern verglichen werden, deren Macht darin besteht, dass zwar das Volk die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis über alles hat, die Demagogen zugleich aber ebenso souverän die Meinung des Volkes beherrschen, da die Menge ihnen gehorcht (1292a25–28). 28 Vgl. Resp. VIII, 564d–e. Nach Vegetti 2005, 73 Anm. 148 handelt es sich um die „claque dei demagoghi“ (ob diese zumindest teilweise auch aus Bettlern bestand [vgl. Resp. VIII, 552c–d]?). Laut Müller 52017, 129 sind Populisten „nicht nur antielitär, sondern grundsätzlich antipluralistisch. Ihr Anspruch lautet stets: Wir – und nur wir – vertreten das wahre Volk“ (auf dem Hintergrund von Stellen wie Resp. VIII, 564d–e scheint mir Müllers Annahme „Im Athen der Antike gab es keinen Populismus. Demagogie sehr wohl, Volksverführer aller Art, die eine wankelmütige Masse von Mittellosen zu unvernünftiger Politik verleiten konnten, aber keinen Populismus“ [18] zumindest zu relativieren). 29 Vgl. auch Aristot. Pol. IV 6, 1292b25–29. 30 Das Entgelt (μισθός) für die Teilnahme an Volksversammlungen wurde nach 404 v. Chr. eingeführt, vgl. Aristot. Ath. Pol. 41,3; Schütrumpf 1996, 321f. zu Aristot. Pol. IV 6, 1293a6.

Einleitung  7

nehmen, dem Volk verteilen und selbst den größten Teil [sc. davon] für sich behalten“.31 Ein solches Verhalten wiederum zwingt die Reichen dazu, sich zu wehren, was ihnen umgekehrt den Vorwurf einhandelt, sie würden gegen das Volk intrigieren und seien oligarchisch. Und wenn sie sähen, wie das Volk unwissend von den verleumderischen Populisten getäuscht werde,32 würden sie am Ende tatsächlich gegen ihren Willen oligarchisch – ein Unglück, für das wiederum allein die Drohnen die Verantwortung trügen.33 Aus dieser Gemengelage resultieren nach Platon starke soziale Spannungen in Form von „öffentlichen Anklagen, Urteilen und Prozessen gegeneinander“, und da das Volk die Tendenz hat, immer einen Vorsteher besonders zu hegen und groß zu machen, 34 gehe aus einem solchen Vorsteher, sobald er einmal die Hemmung verliere, Mitbürger zu töten und zu versklaven, der Tyrann hervor: Dieser dient sich der folgsamen Menge durch das Versprechen von Schuldenerlass und Landverteilung35 als „Helfer des Volkes“ an36 und lässt sich von diesem eine Leibwache geben,37 was dann die endgültige Transformation des „Vorstehers“ in einen Tyrannen mit sich bringe.38 Zu den bemerkenswerten Parallelen zwischen Platons Narrativ und dem Anschauungsmaterial, welches moderne ,illiberale Demokratien‘39 in Europa,  31 Vgl. Resp. VIII, 565a. 32 Ähnlich schon Ar. Eq. 633. 1345. 1357 etc. 33 Vgl. Resp. VIII, 565b–c. 34 Vgl. Resp. VIII, 565c9f. Οὐκοῦν ἕνα τινὰ ἀεὶ δῆμος εἴωθεν διαφερόντως προΐστασθαι ἑαυτοῦ, καὶ τοῦτον τρέφειν τε καὶ αὔξειν μέγαν; schon Ar. Eq. 1127f. κλέπτοντά τε βούλομαι / τρέφειν ἕνα προστάτην; die Verantwortung des Volkes für die Entstehung des Tyrannen aus der städtischen Elite betont bereits Solon fr. 9,3–6 (5 λίην δ’ ἐξάραντ’) und 11,3f. West (unten Anm. 37). 35 Dass auf eine solche bereits in Solon fr. 34 West angespielt wird, scheint mir trotz der u.a. von Rosivach 1992 geäußerten Einwände mit Aristot. Ath. Pol. 12,3 weiterhin am plausibelsten. Vgl. auch Aristot. Pol. V 5, 1305a4f. mit den Anmerkungen von Schütrumpf 1996, 481f. 36 Vgl. schon Ar. Eq. 1341–1343 etc. 37 Ähnlich schon Solon fr. 11,3f. West αὐτοὶ γὰρ τούτους ηὐξήσατε ῥύματα δόντες, / καὶ διὰ ταῦτα κακὴν ἔσχετε δουλοσύνην (Solon betont in der Fortsetzung auch, wie sich das Volk von ihrer schmeichlerischen Rede umgarnen lässt: 11,7f. ἐς γὰρ γλῶσσαν ὁρᾶτε καὶ εἰς ἔπη αἱμύλου ἀνδρός, / εἰς ἔργον δ’ οὐδὲν γιγνόμενον βλέπετε). 38 Vgl. Resp. VIII, 565d–566d; allgemein auch Aristot. Pol. V 5, 1305a7–28; V 10, 1310b14–16 σχεδὸν γὰρ οἱ πλεῖστοι τῶν τυράννων γεγόνασιν ἐκ δημαγωγῶν ὡς εἰπεῖν, πιστευθέντες ἐκ τοῦ διαβάλλειν τοὺς γνωρίμους. 39 Jan-Werner Müller zieht den Begriff „beschädigte Demokratien“ vor, vgl. „Beschädigte Demokratie. Was Orbán, Erdogan und Kaczynski mit demokratischen Mitteln politisch ins Werk setzen, hat im Ergebnis mit Demokratie nichts mehr zu tun. Daher führt auch der histo-

8  Christoph Riedweg Asien und Übersee zur Zeit kontinuierlich liefern, gehört nicht nur die Tendenz, dass Autokraten sich direkt auf das Volk abstützen und dessen Zustimmung mit überzogenen Versprechen zu sichern suchen,40 sondern ebenso die epidemische Selbstbereicherung (τὸ πλεῖστον αὐτοὶ ἔχειν: 565a9)41 und das regelmäßige Anzetteln von Kriegen, „damit das Volk eines Führers bedarf“.42 Was die politische Philosophie der Antike von der modernen Politikwissenschaft deutlich unterscheidet – und sie in einer Phase tiefgreifender Verunsicherung möglicherweise wieder neu attraktiv erscheinen lässt –, ist weniger das weitgehende Fehlen quantitativ empirischer Methoden als die konsequente ethisch-anthropologische Fundierung.43 Zumal den fein nuancierten gesellschaftspolitischen Beobachtungen der beiden Protagonisten Platon und Aristoteles liegt ein ausgesprochen skeptisches Menschenbild zugrunde: Im Unterschied zu dem kaum je realisierbaren, als geistiger Orientierungspunkt aber gleichwohl unentbehrlichen Idealstaat, in dem der fachkundige Philosoph gleichsam als ,beseeltes Gesetz‘ fungiert,44 hält Platon in unserer konkreten Lebenswirklichkeit die rigorose Befolgung der Gesetze deswegen für ganz unverzichtbar, weil der Mensch sich andernfalls „in nichts von den allerwildesten Tieren unterscheidet“.45 Denn, so Platon weiter in Buch 9 der Gesetze, φύσις ἀνθρώπων οὐδενὸς ἱκανὴ φύεται ὥστε γνῶναί τε τὰ συμφέροντα ἀνθρώποις εἰς πολιτείαν καί, γνοῦσα, τὸ βέλτιστον ἀεὶ δύνασθαί τε καὶ ἐθέλειν πράττειν.

 risch ohnehin belastete Begriff „illiberale Demokratie“ in die Irre. Doch wie davon sprechen, wenn Staatsformen mit Absicht manipuliert werden?“, FAZ 24. September 2018 (aktualisierte Online-Version vom 19.10.2018 unter https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/janwerner-mueller-beschaedigte-demokratie-15802788.html [abgerufen am 5.1.2019]). 40 In Ar. Eq. 1107–1109 stellt das Volk explizit dem Meistbietenden die politische Führungsposition in Aussicht. 41 Vgl. auch Ar. Eq. 435–439. 826f. 1145–1150 zur Selbstbedienung der Demagogen am Volkseigentum. 42 Vgl. Resp. VIII, 566e–567a. Eine solche Instrumentalisierung des Krieges scheint etwa bei Leadern wie Erdogan und Putin unverkennbar. 43 Vgl. spezifisch zum aristotelischen Menschenbild den Beitrag von Bruno Langmeier und allgemein zu diesem Punkt auch denjenigen von Christof Rapp in diesem Band. 44 Vgl., kurz nach der im Folgenden zitierten Stelle, Leg. IX, 875c3–d2; ähnlich schon Pol. u.a. 296e–297e. 300c–d. 301c–e. 303b, aber auch Aristot. Pol. III 13, 1284a3f. b25–34 und III 17, 1288a24–29. 45 Leg. IX, 874e7–875a1; vgl. Aristot. Pol. I 2, 1253a31–34; auch Dem. Or. 25,20; schon Hes. Op. 276–280 etc.; vgl. Schöpsdau 2011, 346 ad loc.

Einleitung  9

die Natur keines einzigen Menschen ist so beschaffen, dass sie imstande wäre, das, was den Menschen für das politische Zusammenleben nützt, sowohl zu erkennen wie auch, wenn sie es erkannt hat, das Beste stets tun zu können und auch zu wollen. (Leg. IX, 875a2–4)46

Bereits die Erkenntnis, dass für eine echte politische Wissenschaft (πολιτικὴ καὶ ἀληθὴς τέχνη) die Gemeinschaft und nicht das Individuum im Zentrum steht und diese Rangordnung letztlich dem Vorteil beider dient, sei nicht leicht zu gewinnen, und selbst falls einer zu dieser Einsicht zu gelangen vermöge, werde er, wenn er ohne jede Rechenschaftspflicht – wir könnten aktualisierend sagen: ohne ,checks and balances‘ – als Autokrat (αὐτοκράτωρ) über die Stadt herrscht,47 niemals dazu imstande sein, sein ganzes Leben lang dieser Überzeugung treu zu bleiben und das Gemeinwohl konsequent über das Privatwohl zu stellen: ἀλλ’ ἐπὶ πλεονεξίαν καὶ ἰδιοπραγίαν ἡ θνητὴ φύσις αὐτὸν ὁρμήσει ἀεί, φεύγουσα μὲν ἀλόγως τὴν λύπην, διώκουσα δὲ τὴν ἡδονήν, τοῦ δὲ (c) δικαιοτέρου τε καὶ ἀμείνονος ἐπίπροσθεν ἄμφω τούτω προστήσεται, καὶ σκότος ἀπεργαζομένη ἐν αὑτῇ πάντων κακῶν ἐμπλήσει πρὸς τὸ τέλος αὑτήν τε καὶ τὴν πόλιν ὅλην. sondern zum Mehr-Haben-Wollen und zum Verfolgen von Eigeninteressen wird die menschliche Natur ihn fortwährend treiben, sie, die wider die Vernunft den Schmerz meidet und der Lust nachjagt und beides dem, was (c) gerechter und besser ist, voranstellen wird. Und sie erzeugt Dunkelheit in sich selbst und wird schließlich sowohl sich selbst wie die gesamte Stadt mit jeglichem Unheil erfüllen. (Leg. IX, 875b–c)

Diese Unersättlichkeit, das Immer-Mehr-Haben-Wollen (πλεονεξία), welches Kallikles im Gorgias als Naturrecht des Stärkeren positiv für sich in Anspruch nimmt,48 stellt für Platon das moralische Grundübel schlechthin dar, im politischen ebenso wie im individuellen Bereich.49 Entsprechend eindringlich fordert  46 Vgl. auch Leg. III, 691c5–d5; IV, 713c5–d3. 47 [sc. ἐὰν] ἀνυπεύθυνός τε καὶ αὐτοκράτωρ ἄρξῃ πόλεως: Leg. IX, 875b3f.; vgl. auch Aristot. Pol VI 4, 1318b35–1319a1 (zitiert von Tsouni in diesem Band unten S. 287 Anm. 33). 48 Vgl. Plat. Gorg. 483c–e und 508a. 49 Vgl. auch Föllinger 2016, 39–43 (Sabine Föllinger [Marburg] hat am GANPH-Kongress 2016 in Zürich unter dem Titel „Ökonomie für die Polis: Ein moderner Blick auf Platons Überlegungen zur Wirtschaft“ über ihre noch im gleichen Jahr erschienenen Forschungen berichtet). Die zersetzende Rolle der πλεονεξία scheint bei Solon vorgeprägt, vgl. fr. 13,71–73 West πλούτου δ’ οὐδὲν τέρμα πεφασμένον ἀνδράσι κεῖται· / οἳ γὰρ νῦν ἡμέων πλεῖστον ἔχουσι βίον, / διπλάσιον σπεύδουσι· τίς ἂν κορέσειεν ἅπαντας; dazu Spira 1981, 195 („Besitzgier als die politische ,Sünde‘ schlechthin“).

10  Christoph Riedweg der platonische Sokrates dazu auf, vor jeder politischen Betätigung zunächst bei sich selbst zu beginnen und seine eigenen Lüste und Begierden beherrschen zu lernen (Gorg. 491d), und, so nüchtern Aristoteles in seinen gesellschaftspolitischen Analysen oft sein mag, auch für ihn steht es außer Frage, dass die sittliche Erziehung noch viel wichtiger ist als der Vermögensausgleich: μᾶλλον γὰρ δεῖ τὰς ἐπιθυμίας ὁμαλίζειν ἢ τὰς οὐσίας, τοῦτο δ᾿ οὐκ ἔστι μὴ παιδευομένοις ἱκανῶς ὑπὸ τῶν νόμων. denn viel eher muss man die Begierden ausgleichen als den Besitz, doch dies ist nicht möglich, wenn die Bürger nicht hinreichend von den Gesetzen erzogen werden. (Aristot. Pol. II 7, 1266b29–31)50

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um anzudeuten, wie lohnend und intellektuell anregend eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem politischen Denken der Antike – ungeachtet der zeitlichen und kulturellen Distanz51 – gerade in der gegenwärtigen Phase des Umbruchs und wachsender Orientierungslosigkeit wieder sein kann. Dieses Denken wird im vorliegenden Band in seiner ganzen Breite in den Blick genommen und die wissenschaftliche Erschließung desselben durch präzise Einzelstudien aus der Feder international auf diesem Gebiet führender Expertinnen und Experten vorangetrieben. Ausgehend von den Vorsokratikern Heraklit und Demokrit (Panagiotis Thanassas, Georg Rechenauer), in deren ausdrucksstarken Fragmenten manche später bei Platon und Aristoteles ausgearbeitete Idee bereits angelegt ist, und dem politischen Diskurs in der griechischen Tragödie (Glenn W. Most) über die ausgesprochen philosophie-affinen Historiker (Giovanni Giorgini, Melissa Lane)  50 Die Gesetzgeber haben laut Aristoteles die Aufgabe, die Bürger durch entsprechende Verfügungen an ethisch richtige Haltungen zu gewöhnen, vgl. II 5, 1263a39f. und E. N. II 1, 1103a32–b6 ἃ γὰρ δεῖ μαθόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανθάνομεν […]· οὕτω δὴ καὶ τὰ (1103b) μὲν δίκαια πράττοντες δίκαιοι γινόμεθα, τὰ δὲ σώφρονα σώφρονες, τὰ δ’ ἀνδρεῖα ἀνδρεῖοι. μαρτυρεῖ δὲ καὶ τὸ γινόμενον ἐν ταῖς πόλεσιν· οἱ γὰρ νομοθέται τοὺς πολίτας ἐθίζοντες ποιοῦσιν ἀγαθούς, καὶ τὸ μὲν βούλημα παντὸς νομοθέτου τοῦτ’ ἐστίν, ὅσοι δὲ μὴ εὖ αὐτὸ ποιοῦσιν ἁμαρτάνουσιν, καὶ διαφέρει τούτῳ πολιτεία πολιτείας ἀγαθὴ φαύλης. Das von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein 2008 entwickelte Nudging versucht im Bereich von „Health, Wealth, and Happiness“ im Grunde niederschwellig, d. h. ohne Vorschriften und Gesetze, Ähnliches zu erreichen (vgl. Thaler/Sunstein, Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, Yale 2008; s. auch Hanno Beck, „Der Sonntagsökonom: Kleiner Schubs, große Wirkung. Psycho-Tricks sind in der Wirtschaftspolitik angesagt, aber ihr Nutzen wird überschätzt“, F.A.S. 20. Januar 2019, S. 20). 51 Diese wird einleitend von Christof Rapp in seinem Beitrag zu diesem Band betont.

Einleitung  11

und die Sophisten (Rachel Barney) werden im ersten Hauptteil verschiedene Aspekte von Platons politischer Philosophie hauptsächlich im Staat, den Gesetzen sowie in den Dialogen Gorgias und Phaidros erörtert (Catalin Partenie, Giulia Sissa, Cinzia Arruzza, Jean-François Pradeau). Das zweite Hauptkapitel ist vollumfänglich Aristoteles’ Politik gewidmet und beleuchtet so wichtige Fragen wie innenpolitische Unruhen (Pierre Pellegrin), das Gerechtigkeitsverständnis (Eckart E. Schütrumpf), das Verhältnis der demokratischen Partizipation zur politischen Sachkenntnis (Georgia Tsouni), die Frage, was einen guten Bürger ausmacht (Stephen White), sowie allgemein das der Politik zugrundeliegende Menschenbild (Bruno Langmeier). Das dritte Hauptkapitel spannt zeitlich einen sehr weiten Bogen: von den hellenistischen Schulen der Stoa (Philipp Brüllmann) und des Epikureismus (Emidio Spinelli) über das politische Denken Plotins (Wiebke-Marie Stock), Kaiser Julians (Michael Schramm) und Augustinus’ (Christian Tornau) bis zu einem in platonischer Tradition stehenden anonymen Traktat aus justinianischer Zeit (Dominic J. O’Meara), bevor abschließend die Verschmelzung der altarabischen, spätantik-griechischen und iranisch-sassanidischen Tradition im frühen Islam skizziert wird (Ulrich Rudolph). Das vierte und letzte Kapitel vereinigt Beiträge, in denen die demokratische Praxis aus moderner Sicht ausgelotet (Christine Abbt), die Brauchbarkeit des aristotelischen Zugriffs für den Journalismus erörtert (Thomas Gutschker), die Problematik des „Postfaktischen“ aus der Perspektive der antiken Philosophie beleuchtet (Béatrice Lienemann) und allgemein die Relevanz des antiken Nachdenkens über die Polis für heute diskutiert wird (Christof Rapp).

Literaturverzeichnis Canovan 1981: Margaret Canovan, Populism, London. Canovan 2005: Margaret Canovan, The People (Key Concepts), Cambridge, Malden/MA. Föllinger 2016: Sabine Föllinger, Ökonomie bei Platon, Berlin, Boston. Huffman 2005: Carl A. Huffman, Archytas of Tarentum. Pythagorean, Philosopher and Mathematician King, Cambridge. Mudde/Rovira Kaltwasser 2013: Cas Mudde and Cristobal Rovira Kaltwasser, „Populism“, in: Michael Freeden and Marc Stears (eds.), The Oxford Handbook of Political Ideologies, Oxford, 493–512. Müller 52017: Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin (12016). Noussia-Fantuzzi 2010: Maria Noussia-Fantuzzi, Solon the Athenian. The Poetic Fragments, Leiden, Boston.

12  Christoph Riedweg Riedweg 22007: Christoph Riedweg, Pythagoras: Leben – Lehre – Nachwirkung. Eine Einführung, 2., überarbeitete Auflage, München (12002). Rosivach 1992: Vincent J. Rosivach, „Redistribution of land in Solon, fragment 34 West“, Journal of Hellenic Studies 112, 153–157. Schöpsdau 2011: Klaus Schöpsdau, Platon: Nomoi (Gesetze), Buch VIII–XII. Übersetzung und Kommentar (Platon Werke 9,2,3), Göttingen. Schriefl 2013: Anna Schriefl, Platons Kritik an Geld und Reichtum (Beiträge zur Altertumskunde 309), Berlin, Boston. Schütrumpf 1996: Eckart Schütrumpf, Aristoteles: Politik Buch IV–VI, übers. und eingeleitet von E. S., erläutert von E. S. u. Hans-Joachim Gehrke (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung 9,3), Berlin. Spira 1981: Andreas Spira, „Solons Musenelegie“, in: Gebhard Kurz, Dietram Müller u. Walter Nicolai (Hgg.), Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur. Festschrift für Walter Marg zum 70. Geburtstag, München, 177–196. Vegetti 2005: Mario Vegetti, Platone: La Repubblica. Traduzione e commento a cura di M. V., Vol. VI: Libri VIII-IX (Elenchos 28,6), Napoli. Wallace 2007: Robert W. Wallace, „Revolutions and a New Order in Solonian Athens and Archaic Greece“, in: Kurt A. Raaflaub, Josiah Ober and Robert W. Wallace (eds.), Origins of Democracy in Ancient Greece, Berkeley, Los Angeles, 49–82.



Teil I: Von den Vorsokratikern bis Platon

Panagiotis Thanassas

Heraklit: Eine Ontologie des Politischen  Spuren des Politischen In dem vor nicht allzu langer Zeit erschienenen Ueberweg-Band zur Frühgriechischen Philosophie machten die Autoren des Heraklit-Kapitels darauf aufmerksam, dass Heraklits Gedanken über die Polis und das Politische „bislang selten als eigenständige[s] Problemfeld behandelt worden“1 seien. Diese Feststellung trifft zu – und sie verweist auf eine Sachlage, die eigentlich als sonderbar eingestuft werden müsste. Die große Zögerlichkeit der Forschung, das Politische bei Heraklit ausführlicher zu thematisieren, ist nämlich insofern überraschend, als die Bedeutung der politischen Thematik im herakliteischen Werk schon früh erkannt und immer wieder betont worden ist. So berichtet der Stoiker Kleanthes, dass das Buch Heraklits „in drei Diskurse (λόγοι) unterteilt [sc. sei]: einen über das Ganze (περὶ τοῦ παντός), einen politischen und einen theologischen“ (22 A 1,5 DK). Auch wenn diese Angabe einer Dreiteilung der herakliteischen Schrift eher als eine rückblickende Übertragung eigener systematisierender Überlegungen des Kleanthes anzusehen ist, enthält sie gleichwohl einen wichtigen Hinweis auf das Politische als ein Thema, das in der herakliteischen Schrift durchaus präsent ist.2 Dies wird ebenfalls  Anmerkung: Der vorliegende Beitrag entstand im Wesentlichen während eines Forschungsaufenthaltes an der Universität Münster, der von der Alexander von Humboldt-Stiftung großzügig unterstützt wurde. Gedankt sei hier meinem Münsteraner Gastgeber Prof. Walter Mesch ebenso wie Prof. Christoph Riedweg und Dr. Roman Dilcher für die vielfältigen Anmerkungen und Vorschläge (die nur zum Teil angenommen werden konnten). Profitiert hat der Text auch von den lebhaften Diskussionen während und nach der Zürcher Konferenz „Philosophie für die Polis“ sowie bei Vorträgen an den Universitäten von Patras und Thessaloniki. Für die sprachliche Glättung des Textes schließlich danke ich Dr. Julia Hermann.  1 Bremer/Dilcher 2013, 607. 2 Die wichtigste und ausführlichste Argumentation zugunsten einer positiven Evaluation der Angabe von Kleanthes wurde von Dilcher geliefert 1995, 188–189, der darin „a valuable guide for Heraclitus’ composition“ (189) erblickt und die Angabe „zumindest als eine grobe Leitlinie für die Gesamtgliederung“ ansieht (Bremer/Dilcher 2013, 607). Gewisse Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angabe legt aber gerade eine Beobachtung nahe, die von Dilcher selbst gemacht wird: Kleanthes distanzierte sich nämlich generell von der üblichen stoischen Dreiteilung der Philosophie und schlug stattdessen eine Sechsteilung vor, worin die Logik in Dialektik und Rhetorik unterteilt und neben Physik und Ethik auch Politik und Theologie als eigenständige https://doi.org/10.1515/9783110664836-002

16  Panagiotis Thanassas von einer Angabe des Diodotos bestätigt, auch wenn dieser darin (sicherlich übertreibend) zur Behauptung greift, dass „die Schrift nicht von der Natur handelt, sondern vom Staat (περὶ πολιτείας), wobei die Sachen über die Natur nach Art eines Beispieles verfasst seien“.3 Zur Grundlage oder zum Mittelpunkt der Philosophie Heraklits wurde das Politische aber gelegentlich auch im 20. Jahrhundert erklärt. Jaeger etwa bekannte sich zum Eindruck, „der Inhalt des Logos [sc. sei] ethischer und politischer Natur“, und fasste Logos als einen „eindeutig sozialen Begriff“ auf, worin „das Problem des philosophischen Denkens zum ersten Mal […] bewusst in seiner sozialen Funktion erfasst“4 werde. Mit dem größten Nachdruck (aber zugleich in grober Weise) geschah diese Akzentuierung in Poppers Offener Gesellschaft, wo der Versuch unternommen wurde, Heraklit zum Archegeten einer Geschichte des Totalitarismus zu erheben, die von ihm über Platon, Aristoteles, Hegel und Marx lief, bevor sie schließlich (implizit, aber eindeutig) in der Gestalt Adolf Hitlers gipfelte. Popper legte sich auf eine Lesart der Philosophie Heraklits als einer Fluss-Lehre fest, die durch „erschütternde persönliche Erfahrungen“ erwachsen sei, „wahrscheinlich als Folge der sozialen und politischen Wirren seiner Tage“;5 Heraklit „unterstützte die Sache der Aristokraten“, und „diese Erfahrungen im sozialen und politischen Bereich spiegeln sich in den erhaltenen Fragmenten seines Werkes“. Im Sinne dieses kruden Biographismus wurde sodann Heraklit nicht nur eines antidemokratischen Aristokratismus, sondern des „Relativismus“,6 des „Antirationalismus“, des „Mystizismus“,7 der „romantische[n] Stammesethik“8 und sogar des „Stammestabuismus“9 bezichtigt, zugleich aber zum „erste[n] juridische[n] Positivist[en]“10 erklärt.  Disziplinen eingeführt wurden. Gerade diese abweichende Erneuerung ließe also wohl vermuten, dass Kleanthes in Heraklit einen Vorboten dieser thematischen Eigenständigkeit des Politischen und des Theologischen hat sehen wollen. Insofern würde die Angabe des Kleanthes nicht so sehr die tatsächliche Gliederung der herakliteischen Schrift reflektieren, sondern nur ein Indiz der thematischen Präsenz des Politischen in dieser Schrift enthalten. – Im Prinzip hat Jaeger 22009, 136 die Sache schon richtig beurteilt: Die Dreiteilung des Diogenes sei „entweder die Vergröberung einer richtigen Beobachtung, oder er hat dabei nur an drei Arten von Aussagen gedacht, die sich in der Schrift Heraklits unterscheiden lassen, aber sich eng miteinander verflechten“. 3 Vgl. 22 Α 1,15 DK (= D. L. 9,15): τῶν δὲ γραμματικῶν Διόδοτος, ὃς οὔ φησι περὶ φύσεως εἶναι τὸ σύγγραμμα, ἀλλὰ περὶ πολιτείας, τὰ δὲ περὶ φύσεως ἐν παραδείγματος εἴδει κεῖσθαι. 4 Jaeger 22009, 133–134. 5 Popper 71992=11945, 17. 6 Popper 71992=11945, 22, 248. 7 Popper 71992=11945, 21. 8 Popper 71992=11945, 23.

Heraklit: Eine Ontologie des Politischen  17

Philosophisch kann die jeder Argumentation entbehrende, sich durch dogmatische Aussprüche apodiktischen Tons vollziehende Interpretation Poppers zu nichts anregen. Nur ideengeschichtlich wäre es vielleicht interessant zu untersuchen, wie es einem nüchternen liberalen Wissenschaftstheoretiker möglich sein konnte, sich einer quasi-Methode zu bedienen, welche der Vorgehensweise „totalitärer Gelehrten leider sehr ähnlich war“.11 Aber dieses Rätsel soll hier ungelöst bleiben, um gleich die entscheidende philosophische Frage zu formulieren: Wenn denn die mehrmals und aus verschiedenen Richtungen und Perspektiven aufgestellte Behauptung zutrifft, Heraklit habe über das Politische nachgedacht und es zu einem seiner Hauptthemen gemacht, worin genau besteht seine Politische Philosophie? Wie lassen sich seine theoretischen Positionen angesichts des Politischen rekonstruieren? Als geeignetster Ausgangspunkt einer solchen Rekonstruktion gilt gemeinhin (und zu Recht) Fragment 22 B 114 DK, welches sogar mehrmals zum Gegenstand bedeutender Einzeluntersuchungen gemacht worden ist.12

 Eine Analogie In seiner textlichen Gestalt bereitet B 114 kaum Schwierigkeiten: 13 ξὺν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῶι ξυνῶι πάντων, ὅκωσπερ νόμωι πόλις καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται. Wer mit Vernunft spricht, muss sich stärken durch das allen14 Gemeinsame, so wie eine Stadt durch das Gesetz, und noch viel stärker. Werden doch alle menschlichen Gesetze

 9 Popper 71992=11945, 20. 10 Popper 71992=11945, 248. 11 So die treffende Kritik von Kaufmann 1996, 82–83. 12 Genannt seien in erster Linie ein älterer Aufsatz von Mourelatos 1965 und ein erst vor kurzem erschienener Beitrag von Schofield 2015. 13 Die einzige Unsicherheit betrifft die Konjektur καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως gegenüber allen Manuskripten, welche καὶ πόλις ἰσχυροτέρως überliefern. Schofield 2015, 48–51 zeigt überzeugend, dass der überlieferte Text inhaltlich unhaltbar und die vorgeschlagene Konjektur (oder eine ähnliche) notwendig ist. 14 Das Adjektiv πάντων hier, ebenso wie das folgende πᾶσι, würde als Maskulinum auf „alle Menschen“ bzw. „alle menschlichen Gesetze“, als Neutrum aber auf „alles [sc. Seiende]“ verweisen. Die Ambiguität ist vielleicht intendiert. Ich entscheide mich im ersten Fall für das Maskulinum („alle Menschen“) und im zweiten für das Neutrum („alles“).

18  Panagiotis Thanassas durch das Eine, das göttliche, aufrecht erhalten; denn es herrscht soweit es will und genügt allem und überwiegt.15

Das Fragment präsentiert offenbar eine Analogie von zwei Begriffspaaren (A und B); durch diese Analogie soll das Verhältnis einer Stärkung erläutert werden:16 [A]

[B]

das Gemeinsame

Gesetz

------------------------[vernünftige