Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen: Begriff, Ursachen und Konsequenzen [1 ed.] 9783428483846, 9783428083848

Nach der bisher vorherrschenden Lehrmeinung führen die Kräfte des Marktes dazu, daß ein möglicherweise durch exogene Stö

128 102 60MB

German Pages 180 Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen: Begriff, Ursachen und Konsequenzen [1 ed.]
 9783428483846, 9783428083848

Citation preview

ALFONS BALMANN

Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J, Broermann t

Heft 449

Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen Begriff, Ursachen und Konsequenzen

Von

Alfons Baimann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Balmann, Alfons: Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen : Begriff, Ursachen und Konsequenzen I von Alfons Balmann. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 449) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08384-9 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-08384-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 (§

Geleitwort Nach der bisher vorherrschenden Lehrmeinung führen die Kräfte des Marktes dazu, daß ein möglicherweise durch exogene Störungen verursachter Ungleichgewichtszustand als solcher nicht bestehen bleibt, sondern, u.U. erst nach längerer Zeit, auf ein eindeutiges Gleichgewicht zustrebt. Anders ausgedrückt: Die Geschichte eines Systems ist für die Lage des Gleichgewichts nur temporär von Bedeutung. Dies steht im Gegensatz zu dem vielerorts in der Wirklichkeit beobachteten Phänomen, wo der beobachtete Zustand eines Systems durchaus von dem bisher eingeschlagenen Weg abhängt. Wie kann man sonst das Fortbestehen der Qwert-Tastatur auf PC oder der starken räumlichen Konzentration bestimmter Branchen erklären? Seit Mitte der 80er Jahre hat zur Erklärung derartiger und weiterer Phänomene das Konzept der Pfadabhängigkeit, leider bisher nur außerhalb der Mainstream Economics, zunehmende Beachtung gefunden. Hier sind vor allem die Pionierarbeiten von Paul David und Brian Arthur zu nennen. Allerdings haben sich diese Autoren und die durch ihre Arbeiten initiierte Forschung im wesentlichen auf solche Bereiche der Wirtschaft konzentriert, wo sogenannte Netzwerkexternalitäten und steigende Skalenerträge eine wesentliche Rolle spielen. Die vorliegende Arbeit, die Herr Baimann während seiner Tätigkeit im Göttinger Institut für Agrarökonomie angefertigt hat, verfolgt das Ziel, mittels theoretischer Überlegungen und Simulationsrechnungen die Frage zu beantworten, ob Agrarstrukturentwicklungen, für die ja steigende Skalenerträge keine überragende Rolle spielen, pfadabhängig sein können. Eine Frage, deren Klärung angesichts der Auflösung der sozialistischen Systeme auch von eminent praktischer Bedeutung ist. Herrn Baimanns Verdienst besteht zum einen darin, das Konzept der Pfadabhängigkeit auf theoretischem Gebiet weiter zu durchleuchten und, unter Heranziehung des von ihm formalisierten Begriffs "Quasi-Attraktor", in Beziehung zur deterministischen Systemtheorie zu setzen. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet ein umfangreiches, geschickt formuliertes Simulationsmodell, das einzelbetriebliche Optimierung und die Interaktionen der Unternehmen auf regionalen Faktormärkten einbezieht. Mit Hilfe dieses Modells konnten Pfadabhängigkeiten bestätigt und einige der diese beeinflussenden Faktoren isoliert werden.

Geleitwort

6

Ich wünsche der Arbeit deswegen eine große Verbreitung, weil sie auf konzeptionell-theoretischem Gebiet wie auch in der Modeliierung von Agrarstrukturentwicklungen sehr weit in Neuland vorstößt und somit ein ergiebiges Forschungsgebiet eröffnet, auf dem sich sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht weiter zu arbeiten lohnt. Göttingen, im Februarl995 Wilhelm Brandes

Vorwort des Verfassers Die hier vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Pfadabhängigkeiten, einem Phänomen, auf das ich erstmals im April 1990, wenige Monate vor dem Beginn meiner Dissertation, gestoßen bin. Um dieses Phänomen mit der Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors in Verbindung zu bringen sowie hinsichtlich seiner Bedeutung und möglicher Ursachen zu untersuchen, mußte ich noch häufig Neuland betreten. Wenn diese Untersuchungen zu Ergebnissen geführt haben, dann, weil es durch eine Reihe glücklicher "Umstände" begünstigt wurde. In Herrn Wilhelm Brandes fand ich einen Betreuer, der mich optimal unterstützte und mich trotz mancher Skepsis ermutigte, auch eigene, unkonventionelle Wege zu gehen. Ich hatte das Glück, in ihm und seinen Mitarbeitern Hans-Joachim Budde, Jocelyn Braun, Ludger Hinners-Tobrägel, Martin Odening, Gregor Peter sowie vor allem Hans-Peter Weikard kompetente und immer diskussionsbereite Gesprächspartner zu finden . Wertvolle Hinweise verdanke ich auch meinem Zweitprüfer Herrn Michael Leserer. Insgesamt hat diese Arbeit sicherlich enorm von der sowohl sehr angenehmen wie auch "streitfreudigen" Atmosphäre am Institut für Agrarökonomie der Universität Göttingen profitiert. Bedanken möchte ich mich ferner bei Herrn Hans-Walter Lorenz für zahlreiche Hinweise zur Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme sowie bei Herrn Ulrich Witt. Letzterer schuf durch seine Organisation der Workshops "Evolutorische Ökonomik" für diese Arbeit wichtige Diskussionsforen. Abschließend bedanke ich mich für die Unterstützung durch Thomas Menzel und meine Frau Katrio Menzel. Letztere ertrug nicht nur eine Reihe mit dieser Arbeit verbundener persönlicher Nachteile, sondern verschaffte mir durch einige gemeinsame Abenteuer auch regelmäßig den nötigen Abstand zur "Wissenschaft". Berlin, im Februar 1995 Alfons Baimann

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ............................................................................................................... ................... 13 B. Systemtheoretische Grundlagen ................................................................................................ 17 I. Begriffliche Einordnung von Pfadabhängigkeiten ................................................................ 17 II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze.................................................................... 19 1. Nichtlineare deterministische Systeme ............................................................................ 20 2. Exkurs: Deterministisches Chaos ..................................................................................... 28 3. Einordnung der Theorie nichtlinearer deterministischer Systeme in die Untersuchung von Pfadabhängigkeiten ........................................................................... 32 III. Systemtheoretische Analyse der Entstehung von Pfadabhängigkeiten .............................. 33 IV. Systemanalytische Betrachtung von Pfadabhängigkeiten am Beispiel optimaler Betriebsgrößenstrukturen .................................................................................................... 37 V. Zusammenfassung und Versuch einer Definition ................................................................ 43 C. Ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten ..................................................................... 45 I. Einzelbetriebliche Aspekte .................................................................................................... 45 1. Versunkene Kosten und Komplementaritäten.................................................................. 45 a) Modell ......................................................................................................................... 47 b) Bedingungen ............................................................................................................... 50 c) Verallgemeinerungen .................................................................................................. 51 (I) Opportunitätskosten .............................................................................................. 51 (2) Komplementäre Inputs mit unterschiedlicher Kostenstruktur und Lebensdauer .......................................................................................................... 51 (3) Mehr als zwei komplementäre Inputs .................................................................... 53 d) Bewertung von Synchronizität und Asynchronizität .................................................. 54 e) Folgerungen ................................................................................................................ 56 2. Nicht-sachliches Anlagekapital ........................................................................................ 56 3. Anreizstrukturen des Managements ................................................................................. 58 4. Bewertung und Diskontierung zukünftiger Erträge ......................................................... 58 a) Zinseffekte .................................................................................................................. 58 b) Unsicherheit ................................................................................................................ 59 II. Der Einzelbetrieb im Gefüge seiner Umwelt ....................................................................... 59 I. Markteintrittsbarrieren ..................................................................................................... 59 a) Begrenzte Marktgröße und TeilbarkeilSrestriktionen ................................................. 60 b) Opportunistisches Verhalten ....................................................................................... 65 2. Externe Anpassungskosten .... .......................................................................................... 66 3. Wirkungen institutioneller und rechtlicher Rahmenbedingungen ................................... 69

10

Inhaltsverzeichnis a) Unmöglichkeit der Internalisierung von Anpassungskosten ....................................... 69 b) Steuern ........................................................................................................................ 72 III. Aspekte regionaler und sektoraler Zusammenhänge .......................................................... 73 I. Netzwerkexternalitäten .................................................................................................... 73 2. Exploration und Information ....................................................................... ..................... 75 IV. Zusammenfassung möglicher ökonomischer Ursachen ....................................... ............... 78

D. Modeliierung regionaler Agrarstrukturentwicklungen .............................................................. 80

I. Zielsetzung ............................................................................................................................ 80 II. Zur Simulation von Agrarstrukturentwicklungen ................................................................ 80 III. Grundlagen der Modellbildung ........................................................................................... 82 1. Charakteristika regionaler Agrarstrukturentwicklungen ................................... ............... 82 2. Möglichkeiten einer Modellkonstruktion ........................................................................ 83 3. Zelluläre Automaten ........................................................................................................ 86 4. Zelluläre Automaten zur Darstellung einer regionalen Agrarstrukturentwicklung ......... 88 IV. Modellaufbau ...................................................................................................................... 90 1. Datenstruktur. ............................................................. ...................................................... 90 2. Programmablauf............................................................................................................... 90 a) Verhaltensweisen der Betriebe .................................................................................... 92 b) Erwartungsbildung ...................................................................................................... 93 c) Betriebsgründung ........................................................................................................ 95 d) Betriebsaufgabe .......................................................................................................... 95 e) Betriebliche Optimierungsüberlegungen .................................................................... 96 ( 1) Produktionsprogramm ........................................................................................... 96 (2) Aächenzupacht und Abstockung .......................................................................... 98 (3) Investitionsüberlegungen ...................................................................................... 98 f) Ausgangssituation der Betriebe in einerneuen Periode ............................................ 101 g) Marktprozesse ........................................................................................................... 101 (I) Faktormärkte ....................................................................................................... 101 (2) Produktmärkte ..................................................................................................... 104 V. Vergehensweise bei Modellrechnungen ............................................................................ 106 1. Ausgangssituation .......................................................................................................... 106 2. Größe der Region ........................................................................................................... 106 3. Anzahl der Perioden ....................................................................................................... 107 4. Datenoutput. ................................................................................................................... 107 E. Sirnutationen und Modellrechnungen ...................................................................................... 108

I. Zielsetzung .......................................................................................................................... 108 II. Methodische Probleme ....................................................................................................... 108 III. Vergehensweise bei den Simulationen ............................................................................. 110 IV. Überprüfung auf Pfadabhängigkeit... ................................................................................ 114 I. Robustheil gegenüber stochastischen Einflüssen ... ........................................ ................ 119

2. Robustheil gegenüber Parameteränderungen ................................................................. 120 3. Effizienzwirkungen von Pfadabhängigkeiten ................................................................ 122

Inhaltsverzeichnis

II

V. Überprüfung der Ursachen von Pfadabhängigkeiten ......................................................... 123 I. Synchronizität in der Altersstruktur der Betriebe .......................................................... 124

2. Wirkungen von Faktormarktunvollkommenheiten ........................................................ a) Versunkene Kosten ................................................................................................... b) lmmobilitäten auf dem Bodenmarkt ......................................................................... c) Simultane Erhöhung der Bodenmobilität und Reduktion versunkener Kosten ....................................................................................................................... d) Die Auswirkungen höherer Arbeitskosten ................................................................ e) Der Kapitalmarkt.. ................................................... ..................................................

126 126 129 132 133 139

3. Inverse Nachfrage und Netzwerkextemalitäten ................................................ ............. 146 4. Wirkungen von Einkommenstransfers auf Pfadabhängigkeiten .................................... 151 VI. Zusammenfassung der Simulationsergebnisse.................................................................. 160 VII. Modell- und Simulationskritik ........................................................................................ 162 F. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen.............................................................................. 165 I. Systemtheoretische Ergebnisse ............................................................................................ 165 11. lmplikationen der allgemeinen ökonomischen Theorie ..................................................... 167 III. Agrarstrukturelle Folgerungen .......................................................................................... 169 Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 172

A. Einleitung Seit Mitte der 80er Jahre wird der Begriff der Pfadabhängigkeit für die Erklärung einer Reihe wirtschaftlich-technischer Phänomene verwendet. Prominente Beispiele hierfür sind Industriestandards, wie die Tastenbelegung von Schreibmaschinen und Computertastaturen oder die Spurbreiten von Eisenbahnen. Beispiele gibt es auch bei institutionellen Regelungen,. wie das Rechts- bzw. Linksfahrgebot im Straßenverkehr. Diesen Systemen standen anfangs mehrere Entwicklungspfade zur Auswahl. Nachdem sie aber zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Weg eingeschlagen haben, ist es ihnen heute kaum noch möglich, diesen Pfad wieder zu verlassen. Man nennt diese Eigenschaft daher Pfadabhängigkeit. In der zu diesen Fragestellungen bekannt gewordenen Literatur werden Pfadabhängigkeiten vor allem in Hochtechnologiebereichen der Wirtschaft vermutet; insbesondere dort, wo positive Rückkopplungen in Form von Skalenerträgen und Netzwerkexternalitäten vorhanden sind. Sie werden dagegen weniger im Agrarsektor erwartet. Bei einer Betrachtung der gegenwärtigen deutschen Agrarstruktur erkennt man zwischen den alten und neuen Bundesländern deutliche strukturelle Unterschiede. Die alten Bundesländer sind durch eine eher kleinbetrieblich organisierte Struktur gekennzeichnet, wenngleich mit gewissen regionalen Unterschieden. Hier wurden 1993 lediglich 12,5% der landwirtschaftlich genutzten Fläche von Betrieben mit mehr als 100 ha bewirtschaftet. Dagegen existiert in Ostdeutschland eine Struktur, die von vergleichsweise großen Betrieben dominiert wird. 1993 wurden in den neuen Ländern 78,8% der Fläche von Betrieben mit mehr als 500 ha genutzt.l Die Unterschiede werden auch am Standardbetriebseinkommen deutlich: in Ostdeutschland betrug es 1991 mit 269612 DM je Betrieb das Zehnfache dessen, was die Betriebe in Westdeutschland erreichten.2 Aus dieser Dualität der Agrarstrukturen ergeben sich einige interessante (agrar-)ökonomische Fragestellungen. So stellt sich zum einen die Frage, ob so etwas wie eine optimale Agrarstruktur existiert und wenn ja, wie diese aussieht. Zum anderen stellt sich die Frage, ob ein Optimum - vorausgesetzt es existiert I Agrarbericht 1994, Materialband S. 14f. 2 Agrarbericht 1993, Materialband S. 23.

14

A. Einleitung

auch tatsächlich erreicht werden kann. Mit der ersten Frage haben sich, insbesondere in den letzten Jahren, bereits einige Studien beschäftigt. Der Forschungsschwerpunkt konzentrierte sich dabei auf einzelbetriebliche Aspekte, wie die Ermittlung optimaler Betriebszweiggrößen. Einige der Analysen, die mit Hilfe komparativ statischer Methoden durchgeführt wurden, ergeben, daß sich optimale Betriebszweiggrößen weit oberhalb westdeutscher Größenordnungen befinden.3 Die Vermutung liegt nahe, daß in einer optimal organisierten Struktur die einzelnen Betriebe entsprechende Betriebszweiggrößen aufweisen. Diese Einschätzung impliziert, daß die derzeitige westdeutsche Agrarstruktur deutlich vom Optimum abweicht. Die Diskrepanz zwischen der westdeutschen Agrarstruktur und dem vermuteten Optimum könnte damit erklärt werden, daß Pfadabhängigkeiten auch in Agrarstrukturentwicklungen eine Rolle spielen. Diese Thematik ist nicht grundsätzlich neu. Bereits Brandes (1978, S. 7) geht davon aus, daß es irrig sei, anzunehmen, "daß die Berücksichtigung des Faktors Zeit lediglich den Weg zu einem Optimum angibt, welches man auch rflit der komparativ statischen Analyse b~~timmen könne. Infolge der vorhandenen Strukturen und der Kosten, die mit der Anderung dieser Strukturen verbunden sind, ist es in manchen Fällen unmöglich, einen optimalen Zustand überhaupt zu erreichen." Bislang gibt es jedoch kaum Studien, die sich ausdrücklich mit der Dynamik des Agrarstrukturwandels beschäftigen. Im Rahmen dieser Arbeit soll daher versucht werden zu klären, wodurch die Dynamik von Agrarstrukturentwicklungen abhängt und inwieweit hierbei Pfadabhängigkeiten eine Rolle spielen. Diese Zielsetzung verlangt eine Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen von Pfadabhängigkeiten im Agrarsektor; denn nur so kann erarbeitet werden, welche Bedeutung ihnen zuzumessen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Im Zusammenhang mit der Existenz von Pfadabhängigkeiten stellt sich auch die Frage, inwieweit Entwicklungen eines Sektors von außen, z.B. durch politische Maßnahmen, beeinflußbar und inwieweit sie prognostizierbar sind. So wird beispielsweise die westdeutsche Landwirtschaft seit über 100 Jahren subventioniert. Diese Subventionen haben, obwohl sie permanent gesteigert wurden, nicht bewirken können, daß heute die Landwirte mit ihrer wirtschaftlichen Situation zufrieden sind oder sich ohne diese Subventionen international konkurrenzfähig fühlen. Es soll deshalb auch der Frage nachgegangen werden,

3 Vgl. z.B. Peter (1993), der versucht, die optimale Betriebszweiggröße im Marktfruchtbau zu bestimmen, oder Doluschitl/l'runk (1993) und lsermeyer (1993), die sich mit Kostenvorteilen großer Milchviehbetriebe beschäftigen.

A. Einleitung

15

welche Auswirkungen von politischen Eingriffen ausgehen und wodurch möglicherweise Fehlentwicklungen hervorgerufen werden können. Diese Zielsetzung beinhaltet Fragen danach, wie politische Eingriffe wirken und was sie bewirken können. Um ihr gerecht zu werden, reicht eine rein statische Analyse ebensowenig aus, wie für die zuvor genannten Ziele. Daher muß die Untersuchung von Agrarstrukturentwicklungen vor einem dynamischevolutorischen Hintergrund erfolgen, in dem sowohl die einem System innewohnende endogene Dynamik als auch die durch äußere Einflüsse, wie technischen Fortschritt, Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder steigenden Einkommensansprüchen der Betroffenen, ausgelösten Prozesse betrachtet werden. Im Rahmen dieser Arbeit können natürlich nicht alle der genannten Fragestellungen erschöpfend behandelt werden. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, daß der Begriff der Pfadabhängigkeit in der ökonomischen Forschung relativ neu ist. Zum Teil muß sich diese Arbeit mit den Grundlagen dieses Begriffs auseinandersetzen. Der Schwerpunkt wird daher auf die Analyse modelltheoretischer Zusammenhänge gelegt. Lediglich mit Hilfe der daraus gewonnenen Ergebnisse sollen weitergehende Überlegungen erfolgen. Der Begriff der Pfadabhängigkeit ist, wie bereits gesagt, relativ neu. Daher ist es zunächst notwendig, den bislang recht allgemein verwendeten Begriff der Pfadabhängigkeit näher zu analysieren und ihn zu definieren. Dies geschieht in Kapitel B. Dieser Teil der Arbeit, der eher systemtheoretisch ausgerichtet ist, dient vor allem der Entwicklung einer Basis, die helfen soll, die Suche nach möglichen Ursachen von Pfadabhängigkeiten zu systematisieren sowie bei späteren gezielten Untersuchungen auftretende Pfadabhängigkeiten zu identifizieren. In Kapitel C wird versucht, mit Hilfe der systemtheoretischen Ergebnisse mögliche ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten im Agrarsektor zu finden. Diese Suche betrachtet mit Hilfe ökonomischer Theorie einzelbetriebliche Zusammenhänge, die Interdependenzen zwischen Betrieben und deren Umwelt sowie sektorale und regionale Zusammenhänge. Die in Kapitel C gefundenen möglichen Ursachen müssen jedoch hinsichtlich der Frage untersucht werden, ob sie Pfadabhängigkeiten verursachen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Auch muß eine Antwort darauf gefunden werden, welche Rolle Pfadabhängigkeiten in Agrarstrukturentwicklungen spielen. Aufschluß darüber soll ein Simulationsmodell liefern, das in Kapitel D beschrieben wird. Ein für die Problemstellung geeignetes Modell muß in der Lage sein, sowohl einzel- als auch zwischenbetriebliche Zusammenhänge weitgehend endogen zu ermitteln und die Möglichkeit bieten, diese Zusammen-

16

A. Einleitung

hänge hinsichtlich ihrer längerfristigen Auswirkungen zu analysieren. Ein eigens hierfür entwickeltes Modell greift das Konzept zellulärer Automaten auf und verknüpft es mit einzelbetrieblichen Entscheidungsprozessen. Mit Hilfe dieses Modells wird in Kapitel E geprüft, ob in Agrarstrukturentwicklungen Pfadabhängigkeiten vermutet werden müssen. Auf dem Ergebnis aufbauend, wird mit weiteren Simulationsrechnungen untersucht, wodurch Pfadabhängigkeiten konkret verursacht werden und welche Rolle einzelne Ursachen spielen. Dabei werden auch Auswirkungen auf die Effizienz analysiert. Abschließend werden die in diesem Kapitel gewonnen Ergebnisse zusammengefaßt und hinsichtlich ihrer Plausibilität und Aussagekraft kritisch hinterfragt. Im abschließenden Kapitel F werden die Ergebnisse der Arbeit rekapituliert, und es wird überlegt, welche weitergehenden Erkenntnisse und Folgerungen sich daraus für die Systemtheorie, die ökonomische Theorie und für praktische agrarökonomische Fragestellungen ableiten lassen.

B. Systemtheoretische Grundlagen I. Begrimiche Einordnung von Pfadabhängigkeiten In komplexen dynamischen Systemen können Pfadabhängigkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Sie besagen, daß die weitere Entwicklung eines Systems in bestimmten Zeitabschnitten sehr empfindlich auf exogene Einflüsse reagiert (diese Einflüsse können auch die Anfangsbedingungen sein), während in anderen Abschnitten Eingriffe in das System weitgehend wirkungslos sind.l Als Beispiele für die Auswirkungen von Pfadabhängigkeiten werden in der Literatur die Tastaturanordnung QWERT und die Entwicklung auf dem Markt für Videorecorder angeführt. Die noch heute übliche Tastaturanordnung QWERT wurde ursprünglich aus technischen Gründen für mechanische Schreibmaschinen konzipiert. Obwohl bereits seit den 30er Jahren Tastaturen bekannt sind, die bis zu 20% höhere Schreibleistungen ermöglichen,2 wird QWERT auch noch im Zeitalter der Computer beibehalten. Auf dem Videorecordermarkt existierten anfangs mehrere konkurrierende Systeme, von denen keines einen beherrschenden Marktanteil hatte. Nachdem jedoch das VHSSystem einen gewissen Vorsprung erreicht hatte, vergrößerte sich dieser soweit, daß die übrigen Systeme aus dem Markt gedrängt wurden. Heute wird vermutet, daß sich hinsichtlich der Weiterentwicklung der Videorecorder nicht das zukunftsträchtigste System durchgesetzt hat.3 Wie Pfadabhängigkeiten entstehen können, läßt sich an Polya-Prozessen recht anschaulich verdeutlichen.4 Man stelle sich hierzu eine Urne vor, in der sich eine bestimmte Anzahl von roten und schwarzen Kugeln befinden. Aus dieser Urne wird nun eine Kugel gezogen, die anschließend doppelt wieder zurückgelegt wird. Die Wahrscheinlichkeit für den Zug einer Kugel einer bestimmten Farbe ist natürlich gleich der relativen Häufigkeit dieser Farbe in der Urne. Bei einem erneuten Zug haben sich die Wahrscheinlichkeilen zugunsten der beim vorherigen Zug gezogenen Farbe verändert. Die Veränderung der I Vgl. Arthur ( 1989 und 1990), Arthuret al. ( 1987), David ( 1985). 2 David (1985). Dieses experimentelle Ergebnis ist jedoch nicht unumstritten. Z.B. kritisieren Liebowitz/Margolis (1994) die Durchführung des Experiments. 3 Arthur (1990). Eine Reihe von Beispielen findet sich auch in Tirole (1992, S. 404ff). 4 Dieser Prozeß wurde von Polya/Eggenberger (1923) formuliert. Vgl. Arthuret al. (1987). 2 Baimann

B. Systemtheoretische Grundlagen

18

Wahrscheinlichkeilen hängt davon ab, wieviele Kugeln sich bereits in der Urne befinden. Werden die Ziehungen wiederholt durchgeführt, schwankt, wie Abbildung B.l zeigt, das Verhältnis der Farben anfangs sehr stark. Mit fortgeschrittener Zeit, wenn sich bereits eine hohe Anzahl Kugeln in der Urne befindet, ändert sich die jeweilige Relation jedoch kaum noch. Veränderungen finden, wenn überhaupt, nur noch sehr langsam statt.

'o

0.8

-='c"' 0.6 " i)

~

0.4

0.2 0

2

22

42

62

Anzahl der Kugeln

82

Abbildung B.l: Zehn Ausprägungen eines klassischen Polya-Prozesses.

Die Existenz von Pfadabhängigkeiten in einem dynamischen System kann Arthur (1989) zufolge einige wesentliche ökonomische lmplikationen haben: die Vorhersagbarkeil der zukünftigen Entwicklung kann zu bestimmten Zeitpunkten der Entwicklung sehr gering, zu anderen jedoch sehr groß sein, abhängig davon, ob bereits ein stabiles Gleichgewicht erreicht wurde, kleine historische Ereignisse können dauerhafte Auswirkungen haben, ein einmal eingeschlagener Pfad läßt sich möglicherweise nicht oder nur unter hohen Kosten wieder verlassen, es besteht eine potentielle Ineffizienz eines solchen Systems. Diese Eigenschaften sind allerdings sehr allgemein gehalten. Um den Begriff der Pfadabhängigkeit für ökonomische Untersuchungen nutzbar und handhabbar machen zu können, ist eine Definition dieses Begriffs hilfreich. Hierzu bedarf es der Entwicklung einer adäquaten Terminologie zur Beschreibung und Analyse der zu untersuchenden Vorgänge. Es muß überlegt werden, wie Pfadabhängigkeiten beziehungsweise die zu betrachtenden Pfade aussehen, und wie diese Pfade für eine Analyse greifbar gemacht werden können. Daneben muß eine Methodik entwickelt werden, die es ermöglicht, Bedeutung, Ursachen und Wirkungen von Pfadabhängigkeiten am Untersuchungsgegenstand, der Entwicklung von landwirtschaftlichen Betrieben und von Agrarstrukturen, zu erarbeiten.

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

19

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze Für komplexe reale Systeme, wie sie in den Bereichen Natur, Technik und Gesellschaft zu finden sind, gilt weitgehend, daß sich ihre wahren dynamischen Zusammenhänge nicht erkennen lassen. Häufig existieren in ihnen komplexe Muster, von denen sich ohne weiteres nicht sagen läßt, ob sie auf deterministischen, endogenen Zusammenhängen des Systems beruhen, sie also Gesetzmäßigkeiten folgen, oder ob sie weitgehend auf Zufallseinflüsse zurückzuführen sind. Mit der Untersuchung derartiger Systeme hat sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ein vergleichsweise neuer interdisziplinärer Forschungszweig beschäftigt. Diese, aufgrund ihrer bisherigen Ergebnisse recht populär gewordene Forschungsrichtung, beschäftigt sich mit dem Phänomen des Deterministischen Chaos'. Nichtlineare deterministische Systeme weisen nämlich häufig irreguläre, chaotische Verhaltensmuster auf, die sich kaum vom Verhalten stochastischer Systeme unterscheiden lassen. Für die Untersuchung und Beschreibung solcher chaotischer Systeme wurde ein Instrumentarium und eine Terminologie entwickelt, die bei der Untersuchung von Pfadabhängigkeiten hilfreich sein könnte. Im folgenden soll zunächst in die Terminologie dieser Forschungsrichtung eingeführt werden. Dabei wird auch geprüft, inwieweit dieses Instrumentarium für die Untersuchung von Pfadabhängigkeiten hinreichend ist, wie sich diese in diese Forschungsrichtung einordnen lassen und welche Modifikationen gegebenenfalls erforderlich sind. Neben den hier angesprochenen Instrumentarium des Deterministischen Chaos' existieren eine Reihe weiterer Ansätze, die eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit dem verwendeten Konzept haben und zum Teil auch darüber hinausgehen. Beispielhaft seien nur die Katastrophentheorie und die Synergetik genannt, wobei bei letzterem vor allem mit nichtlinearen stochastischen Systemen gearbeitet wird.5 Unter dem Begriff der Synegetik lassen sich auch die PolyaProzesse, wie sie Artbur et al. (1987) verwenden, einordnen. Für den folgenden systemtheoretischen Teil werden jedoch stochastische Konzepte vernachlässigt. Dies geschieht zum einen deshalb, weil sie (auch aus Sicht des Autors) recht schwierig zu handhaben sind. Zum anderen lassen sich, wie im folgenden noch gezeigt wird, für diese Arbeit wichtige Erkenntnisse der Synergetik auch aus deterministischen Systemen ableiten.

5 Vgl. hierzu z.B. das aus dem Bereich der theoretischen Physik stammende Konzept der Mastergleichung. Eine theoretische Einführung bietet Haken (1983). Eine sozialwissenschaftliche Anwendung finden sich in Haag (1990) sowie in Erdmann (1993). 2*

20

B. Systemtheoretische Grundlagen

1. Nichtlineare deterministische Systeme

Im letzten Jahrzehnt haben in der ökonomischen Forschung nichtlineare dynamische Systeme zunehmende Beachtung gefunden.6 Eine Reihe interessanter Arbeiten macht deutlich, daß die komparativ statische Theorie, die davon ausgeht, daß auf Märkten Gleichgewichte herrschen bzw. Märkte die grundsätzliche Eigenschaft besitzen, auf Gleichgewichte zuzustreben, wichtige Phänomene der Realität nicht zu erklären vermag.? Für eine Erläuterung der Problematik ist eine differenzierte Betrachtung des Gleichgewichtsbegriffs notwendig. Zunächst einmal stellt sich die Frage: Wohin strebt ein dynamisches System? Dynamische Systeme folgen in der Regel Attraktoren. Unter einem Attraktor wird vereinfacht ausgedrückt der Zustand verstanden, auf den der Zeitpfad (die Trajektorie) des Systems zustrebt. Nach Lorenz (1990, S. 42) läßt sich ein Attraktor folgendermaßen definieren: Definition:

Für ein n-dimensionales dynamisches System i =f(x), x E Rn , ist eine beschränkte Menge A c Rn ein Attraktor des Systems, wenn es eine Menge U mit den folgenden Eigenschaften gibt: •

U ist eine n-dimensionale Umgebung von A.



Falls x(O) E U, dann ist x{t) EU ' 0 und x{t) ~ A, d.h. jede Trajektorie die in U beginnt, verbleibt in U und nähert sich der Menge A, wenn t groß genug ist.

Ein Attraktor kann unterschiedliche Formen und Dimensionen annehmen. Es kann sich dabei um einen Punkt (Fixpunkt), wie dem Gleichgewicht im Sinne des Walrasianischen Marktgleichgewichts, um einen Zyklus, wie die Umlaufbahn eines Satelliten, oder um höchst komplexe, nicht vorhersagbare Pfade handeln, in denen endogen ermittelte deterministische Werte sich scheinbar stochastisch verhalten und kleinste Änderungen in den Startwerten (Sensitivität in den Anfangswerten) zu einem völlig anderen Verlauf führen. Ein Beispiel für letzteres ist ein Zufallszahlengenerator in einem Computerprogramm, der Zufallszahlen rein deterministisch erzeugt. Abbildung B.2 zeigt exemplarisch Attraktoren von unterschiedlichen Systemen mittels eines Phasendiagramms. Für ein Phasendiagramm wird ein sogenannter Phasenraum aufgespannt. Die einzelnen Dimensionen stehen dabei für die endogenen Variablen des Systems. 6 Einen Literaturüberblick ermöglicht z.B. Feichtinger/Kopel (1994). Hinsichtlich einer gut verständlichen und mathematisch nicht zu anspruchsvollen Einführung sei auf Lorenz (1993) verwiesen. Eine deutschsprachige Darstellung und Einordnung in agrarökonomische Zusammenhänge findet sich in Lentz (l993a). 7 Day (1983) und (1989), Lorenz (1988) und (1989), aber auch Rothschild (1981).

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

21

Bei den Dimensionen kann es sich aber auch um eine Variable, z.B. x, und deren Veränderung im Zeitablauf X: bzw. Ax = x,.1- x, handeln, wie dies in Differential- und Differenzengleichungen zum Ausdruck kommt. Die dargestellten Linien zeigen den Verlauf unterschiedlicher Zeitpfade (Trajektorien). In einem vollständig abgebildeten Phasenraum stellt jeder Punkt einen eindeutigen Systemzustand dar. Durch jeden Punkt wird aber ebenfalls die weitere Systementwicklung (Phasenjluß) eindeutig definiert, die sich in der durch einen Punkt gehenden Trajektorie widerspiegelt. Aufgrund dieser Eindeutigkeit können sich Trajektorien auch nicht schneiden.s Fixpunktstreben

Grenzzyklus

Lorenz-Attraktor

Abbildung B.2: Arten von dynamischem Verhalten in zeitlich stetigen dynamischen Systemen Neben der Frage der Existenz von Gleichgewichten, Gleichgewichtspfaden, Zyklen etc. ist insbesondere auch deren Stabilität von Interesse, d.h. es stellt sich die Frage danach, wie ein System auf Störungen reagiert und ob es in der Lage ist, ein vorhandenes Gleichgewicht zu finden.9 Abbildung B.3 zeigt dies anhand des Verhaltens eines Cobweb-Modells. Sei «t(x) : Rn --+ Rn die Entwicklung eines Systems mit dem Anfangspunkt x(O) bis zum Zeitpunkt t. Ferner sei x"' ein Gleichgewichtspunkt mit 0 für x x"'. Dann läßt sich Stabilität folgendermaßen definieren:

=

x=

8 Vgl. zu den Begriffen Phasenraum, Phasenfluß und Phasendiagramm z.B. Beltrami (1987, S. 26f0 oder Berg/Kuh/mann (1993, 119 und 124f0. Auf die Unterschiede zwischen, hinsichtlich Zeit und Variablen, stetigen und diskreten Systemen soll hier nicht näher eingegangen werden. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, daß im Einzelfall das Verhalten eines Systems mit davon abhängt, ob es zeitstetig oder diskret ist. Prinzipiell gilt die präsentierte Tenninologie aber sowohl für stetige als auch für diskrete Systeme. 9 Die folgende Definition ist Lorenz (1989, S. 35) entnommen und wurde vom Autor übersetzt. Gute Einführungen in die Thematik dynamischer Systeme bieten auch Beltrami (1987) sowie Hirsch!S!Mle (1974).

B. Systemtheoretische Grundlagen

22

Definition:

Das Gleichgewicht ist stabil, wenn für jedes existiert derart, daß für alle lx(O)- x *I ~ B gilt:

E>0

ein B > 0

jt~»t(x(O))-fl»t(x *~ < E'Vt. Das Gleichgewicht ist asymptotisch stabil, wenn ein B > 0 existiert derart, daß für lx(O)- x *I ~ B gilt: lim jt~»t(x(O))- fl»t (x *~ =0.

t --700

Das Gleichgewicht ist global asymptotisch stabil, wenn es stabil ist und für jedes x(O) im Definitionsbereich von x gilt: lim jt~»t(x(O))- fl»t(x *~ =0 t--7oo

asymptotische Stabilität

neutrale Stabilität

Instabilität

A

~0__._

~-

p

·- ~ : -"-...

p

"-... X

p

·N

"-.._ N

X

X

Abbildung B.3: Typische Zeitpfade beim Cobweb-Modell Die Stabilität eines Gleichgewichtes kann beispielsweise mit folgendem Theorem ermittelt werden: JO Theorem II:

Sei x* ein stabiles Gleichgewicht mit x* =0 und x = fl»t (x) an der Stelle x* stetig differenzierbar. Dann hat kein Eigenwert der zugehörigen Jakobi-Matrixl2 für x =x* einen positiven Realteil.

Die nächst komplexere Form eines Attraktors ist der Grenzzyklus. Neben Fixpunkten und Grenzzyklen existieren weitere höherdimensionale reguläre Attraktoren wie z.B. ein Torus. 10 Eine alternatives Instrument zur Untersuchung der Stabilität bieten Lyapunov-Funktionen. Vgl. hierzu HirschiSTMle (1974, S. 192ff). II In Anlehnung an HirschiSTMle (1974, S. 187). 12 Die Jakobi-Matrix ist die Matrix der ersten Ableitungen des Differentialgleichungssystems x = Cl>(x) nach xi, i=l, ...,n.

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

23

Bei dynamischen Systemen ist ein Attraktor nicht unbedingt für alle Ausgangswerte des Systems relevant, sondern nur für einen bestimmten Bereich, dem basin of attraction.13 Außerhalb dieses Bereichs kann das System einem anderen Attraktor folgen, der auch völlig andere qualitative Eigenschaften besitzen kann, wie die Zeitpfade der Abbildung B.4 zeigen. 1.5

Die Trajektorien I und 2 des Systems x=(l - x2 -y2)-y, y=y(l-x2 -y2)+x

konvergieren in Abhängigkeit von ih---HJH------+-..:::..--+:.!::..---2 rem Startwert gegen den Grenzzyklus r während die Pfade 3 und 4 anscheinend divergieren oder einem anderen Attraktor folgen. Abbildung 8.4: Systemverhalten in der Nähe eines Grenzzyklus

Nichtlineare dynamische Systeme können nämlich auch mehrere Attraktoren besitzen. Abbildung B.5 verdeutlicht eine derartige Situation. Bei der abgebildeten Funktion y = x 4 + j.l. 3 ·{I +cos(x)) findet an der Stelle ll = 0 eine Pitchfork-Bifurkation statt, bei der ein Zustand mit einem eindeutigen Gleichgewicht übergeht in einen Zustand mit zwei Gleichgewichten.l4

Abbildung 8.5: Multiple Gleichgewichte (Minima) bei Variation des Parameters ll 13 Vgl. z.B. Lorenz (1993, S. 29) oder Schuster (1988). 14 Vgl. zum Phasenübergang z.B. Erdmann (1993). Daß an der Stelle 11 = 0 ein Phasenüber-

gang (vgl. z.B. Lentz, 1993a) stattfindet, ist daran zu erkennen, daß "Uytax = 0 für x = 0 und gleichzeitig gilt, daß die zweite Ableitung von y nach x flir 11 < 0 positiv ist, während sie für 11 > 0 negativ ist. Damit befindet sich für negative 11 an der Stelle x = 0 ein Minimum, während sich dort für positive 11 ein Maximum befindet. Da die Funktion y stetig und für x = ± 7t eindeutig steigend ist, muß sich dazwischen jeweils zwangsläufig ein Minimum befinden.

B. Systemtheoretische Grundlagen

24

Man stelle sich vor, daß durch die dort abgebildete Landschaft eine Kugel gerollt würde. Für einen gegebenen, d.h. festen Wert des Parameters f.L, der den Ort angibt, kann dann das jeweilige Minimum als ein Gleichgewicht interpretiert werden. Während für bestimmte Größenordnungen von ll ein eindeutiges Minimum existiert, existieren für andere Bereiche zwei Minima, die jeweils als Attraktoren zu verstehen sind. Welchen Attraktor das System erreicht, hängt vom Startwert ab. Mit dem Wechsel von einer Situation mit einem eindeutigen Gleichgewicht zu einer Situation mit zwei Gleichgewichten bei Variation des Parameters ll findet eine sogenannte Pitchfork-Bifurkation statt.IS Ein stabiles Gleichgewicht geht in ein labiles über und auf beiden Seiten des labilen Gleichgewichts entsteht jeweils ein neues stabiles. Allgemein ausgedrückt bedeutet dies, daß das System, wie auch Abbildung B.6 zeigt, von einem Zustand mit einem Attraktor zu einem mit zwei Attraktoren übergeht. x*(Jl)

Bei Variation des Parameters 11 geht an der Stelle ll* das stabile Gleichgewicht x* (durchgezogene Linie) in ein labiles Gleichgewicht (gestrichelte Linie) über und es entstehen zwei neue stabile Gleichgewichte. Jl

Abbildung 8.6: Pitchfork-Bifurkation eines Systems bei Variation eines Parameters Bifurkationen müssen aber nicht unbedingt auf Parameteränderungen zurückzuführen sein. Sie können insbesondere in solchen Systemen auftreten, in denen sich einige Variablen im Verhältnis zu anderen Variablen sehr schnell verändern. Dabei wirken die langsam veränderlichen Variablen wie Parameter. Überschreiten diese analog zur Variation von ll bestimmte kritische Werte, kann es zu radikalen Änderungen des Makrozustandes kommen, in denen völlig neue Strukturen entstehen. Derartige Zustandsänderungen können als Phasenübergänge bezeichnet werden. Mit solchen Phänomenen beschäftigt sich insbesondere die Synergetik, die zu erklären versucht, wie in einem System Ordnungsprozesse zustande kommen. Der Synergetik zufolge wird die Dynamik in Vielkomponentensystemen durch wenige Ordnungsparameter bestimmt. Aufgrund unterschiedlicher Anpassungsgeschwindigkeiten passen sich die schneller veränderlichen Variablen den langsamer veränderlichen Variablen an. Erstere werden sozusagen "versklavt" . 15 Vgl. zu Bifurkationen z.B. Lorenz (1993, S. II Off) oder Beltrami (1987).

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

25

Neben der Pitchfork-Bifurkation, die zu multiplen Gleichgewichten führt, existieren weitere Arten von Bifurkationen, bei denen sich das Systemverhalten infolge von Parametervariationen sogar qualitativ ändert, d.h. daß sich der Attraktor z.B. von einem Fixpunkt zu einem Grenzzyklus oder sogar zu einem seltsamen Attraktor verändert. Diese Änderungen in der Topologie von Attraktoren führen zum Begriff der strukturellen Stabilität. Der Erläuterung dieses Begriffs sollen folgende Definitionen dienen: Definition16: Zwei dynamische Systeme sind topalogisch äquivalent, wenn ein Homöomorphismus, d.h. eine eineindeutige stetige Abbildung mit stetiger Umkehrung, des Phasenraums des ersten Systems auf den Phasenraum des zweiten existiert, die den Phasenfluß des ersten in den Phasenfluß des zweiten überführt.

Daraus ergibt sich für den Begriff der strukturellen Stabilität: Definition!?; Ein dynamisches System heißt strukturell stabil, wenn man bei jeder hinreichend kleinen Änderung des Vektorfeldes ein zum ursprünglichen System topologisch äquivalentes System erhält.

Nichtlineare dynamische Systeme können bei bestimmten Parameterkonstellationen strukturell instabil werden. Dieser Begriff der strukturellen Instabilität wird jedoch nicht nur für Parametervariationen relevant, sondern ebenfalls für Änderungen der funktionalen Form. Kleine Änderungen einer Funktion, z.B. durch Hinzufügen eines Terms, können nicht nur den Verlauf des Systems drastisch verändern, sondern auch die Qualität der Ergebnisse.Is Bedeutung erlangt das Phänomen der strukturellen Instabilität somit vor allem bei der Beschäftigung mit Systemen, deren funktionale Form oder deren Parameter nicht exakt bestimmt werden können. Oies trifft auf ökonomische Fragestellungen in hohem Grade zu, da hier regelmäßig mit Modellen gearbeitet werden muß, die sich prinzipiell auf ad hoc Annahmen stützenl9 und daher nur grob skizziert werden können. Abbildung B.7 zeigt eine strukturelle Instabilität. Bei einer Variation des Parameters f.l kommt es bei dem dargestellten System im Bereich zwischen 0.9 und 0.6 zu einer sogenannten Hopf-Bifurkation . Das bedeutet, daß der betrachtete Attraktor für Werte kleiner als einem hier nicht

16 Nach Lorenz (1990, S.JI8). Ein Homöomorphismus ist eine stetige Abbildung f : X~Y mit X, Y c Rn, für die eine stetige inverse Funktion existiert. 17 Nach Lorenz ( 1990, S.ll8). 18 Ein Beispiel aus dem Bereich der Populationsdynamik findet sich in Beirrami (1987, S. 77). 19 Dies gilt selbst für Modelle, die sich auf mikroökonomische Überlegungen stützen, da auch diese von Axiomen ausgehen, die grundsätzlich nicht beweisbar sind, sondern allenfalls plausibel erscheinen.

26

8. Systemtheoretische Grundlagen

ermittelten Jlo (z.B. 1..1. = 0.6) ein Fixpunkt ist, während er für größere Werte (z.B. 1..1. =0.9) die Form eines Zyklus' annimmt.

J..l.=l Referenzsituation

1..1.

= 0.9

1..1.

Strukturelle Stabilität

=0.6

Strukturelle Instabilität

·M ~.2

0.2 0.4 0.6 0.8

Abbildung 8 .7: Analyse der strukturellen Stabilität eines Systems in Abhängigkeit von einer Parametervariation20

Bei Parametervariationen können neben Bifurkationen auch Hysteresiseffekte2l auftreten, d.h., daß ein System x = «(x,J..I.) bei Änderung eines Parameters Jl von a nach b andere Anpassungspfade besitzt, als bei einer Variation von b nach a. Abbildung B.8 verdeutlicht eine Hysteresis am Beispiel der Auswirkungen einer Preisentwicklung auf eine Produktionsentwicklung. Wie erkennbar ist, erfolgt die Reaktion der Produktion auf eine Preissteigerung deutlich schneller als auf eine Preissenkung.

--{}-- Preis P p

X

• •

/

2

3

4

• • •

"'-

5

8

6

7

9

-+--

Output X(P)

• • 10

11

Abbildung 8.8: Hysteresiseffekt einer Produktionsentwicklung in Abhängigkeit vom Preispfad

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

27

Eine Verwendung des Begriffs Attraktor, wie er oben definiert wurde, ist für die Beschreibung des während der Anpassung auftretenden Systemverhaltens problematisch. Zum einen läßt sich mit ihm nur der 'Endzustand' des Systems für t ~ oo beschreiben. Hierbei wird vorausgesetzt, daß die Parameter konstant sind, d.h., daß sich das System selber nicht verändert. In komplexen Systemen läßt sich aber nicht einmal ausschließen, daß auch innerhalb eines Attraktors so etwas wie Phasenübergänge auftreten. Als Beispiel für einen solchen Phasenübergang dürfte sich der sich wiederholende Wechsel zwis~hen den beiden 'Ebenen' des Lorenz-Attraktors anführen lassen (Vgl. Abb. B.2). 4 X(t)

4 X(t)

3

3

2

2

0 0

100

200

0

2

X(t-1)

3

4

Abbildung 8.9: Phasenübergänge innerhalb eines deterministischen Systems 22 Ein weiteres Manko der Definition des Attraktors hängt damit zusammen, daß dynamische Systeme häufig eine sehr lange Zeit benötigen, bevor sie überhaupt in die Nähe eines Attraktors kommen (transiente Phase). Innerhalb dieses Zeitraums können sie jedoch bereits ein Verhalten offenbaren, das sich nur schwer von einem Attraktor unterscheiden läßt. Dieses Verhalten ist zwar nicht dauerhaft, kann jedoch über einen langen Zeitraum stabil sein. Auch hier können Phasenübergänge auftreten. In Abbildung B.9 wird eine solche Situation verdeutlicht. Das dargestellte System, bei dem es sich beispielsweise um die Entwicklung einer Population handeln könnte, verharrt für etwa 40 Perioden auf einem bestimmten Niveau, bevor es plötzlich ein höheres erreicht.23 Aber auch auf diesem bleibt es nur für einen gewissen Zeitraum, bevor es das Niveau 21 Vgl. zur Hysteresis z.B. Beltrami (1987, S. 201). 22 xt+l =a-x1 -b-x12 + ~c·~ 1 +I)}, a x 1 +d

=1,18; b =0,520221: c =2,83; d =0,1; x(O) =0,00909.

23 Vgl. hinsichtlich der ökonomischen Interpretation z.B. Day (1987b), der mit Hilfe eines ähnlichen Modells versucht, den evolvierenden Charakter der Geschichte der menschlichen Entwicklung einzufangen.

B. Systemtheoretische Grundlagen

28

erreicht, innerhalb dessen sich ein Attraktor befindet. Diese zwischenzeitlich erreichten Zustände lassen sich mit dem Begriff des Attraktors nicht beschreiben.24 2. Exkurs: Deterministisches Chaos

Die Geschichte der Erforschung des Deterministischen Chaos, im folgenden vereinfacht nur Chaos genannt, begann im Jahre 1963, als der amerikanische Metereologe Edward N. Lorenz versuchte, mit einem Differentialgleichungssystem Wettergeschehen zu simulieren. Um die Berechnungen nicht immer wieder neu starten zu müssen, notierte er sich Zwischenergebnisse und nutze diese notierten Werte als Startwerte für neue Simulationen. In den neuen Simulationen entwickelte sich das Wetter jedoch sehr schnell grundlegend anders als in seinen früheren Berechnungen. Lorenz ging der Sache nach und fand heraus, daß die Ursache für diese Abweichungen darin lag, daß er für seine Startwerte nur die ersten vier Nachkommastellen verwendete, der Computer bei den durchgehenden Läufen jedoch mit wesentlich mehr Nachkommastellen gerechnet hatte. Diese Sensitivität gegenüber den Anfangswerten wird auch als Schmetterlingseffekt bezeichnet. Dieser Begriff besagt, daß durch einen Schmetterlingsschlag in China theoretisch ein Hurrikan in Amerika entstehen kann. Abbildung B.1 0 zeigt eine derartige Anfangswertsensitivität. -A-- Startwert = 0.00011

----- Startwert = 0.0001

0.8 Xt

0.6 0.4

0.2 o~~~FY~-------+--------~------+-------~

0

5

10

15

20

25

Abbildung B.IO: Sensitivität in den Anfangswerten eines rekursiven Systems 25 24 Ein solcher Zustand stellt auch das Verhalten des Belousov-Zhabotinstky-Oszillators dar, bei dem sich in einer Situation fern vom thermodynamischen Gleichgewicht infolge zyklisch ablaufender chemischer Reaktionen über einen langen Zeitraum hinweg regelmäßige Wellen ausbreiten. Vgl. zur Thematik Chemischer Wellen z.B. Müller (1994). 25 xt+1 =a·x1 ·(1-x1) mita=3,7.

29

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

Dieses von Lorenz entdeckte Phänomen geriet dann bis Mitte der 70er Jahre in Vergessenheit, bis es von Mathematikern und Physikern näher untersucht wurde. Bei diesen Untersuchungen fand man neben der Sensitivität gegenüber den Anfangswerten weitere, für das Chaos-Phänomen typische, eng zusammenhängende Eigenschaften. Die zuerst zu nennende ist die Existenz sogenannter seltsamer Attraktoren anhand dessen Definition sich Chaos definieren läßt

x

Definition16: Gegeben sei ein n-dimensionales dynamisches System =«(x), mit x ERn . Eine beschränkte Menge A, Teilmenge des Rn, ist ein seltsamer Attraktor, falls es eine Menge U mit den folgenden Eigenschaften gibt:

(i)

U ist eine n-dimensionale Umgebung .von A.

(ii) Wenn x(O)

E U, dann ist x(t) E U für alle t > 0 und x(t)~A. d.h. jede Trajektorie nähert sich und verbleibt beliebig nahe an A, falls t groß genug ist.

(iii) Es gibt eine sensitive Abhängigkeit von den Startwerten, wenn x(O) in U ist, d.h. kleine Variationen in den Startwerten x(O) führen zu essentiell unterschiedlichen Zeitpfaden des Systems nach einer kurzen Zeit. (iv) Der Attraktor ist nicht aufteilbar, d.h. er kann nicht in zwei oder mehrere separate Komponenten aufgeteilt werden. Detinition27: Ein dynamisches System ist chaotisch, wenn es einen seltsamen Attraktor im Sinne der obigen Definition besitzt.

Die Besonderheit eines sogenannten seltsamen Attraktors liegt nun darin, daß die Trajektorie des Systems nie wieder auf einen bereits erreichten Punkt innerhalb des Attraktors zurückkehrt. Ein seltsamer Attraktor führt damit, und das ist die nächste typische Chaos-Eigenschaft, zu einer Aperiodizität des Systems. Diese beiden Eigenschaften lassen sich auch in Abbildung B.ll erkennen. Wie bereits erläutert, ist der Attraktor bei einem Gleichgewicht ein Punkt. Ein Punkt hat keine Dimension.Ein Zyklus hat die Dimension 1. Die nächst höhere Variante wäre ein Torus mit der Dimension B. Dies sind alles ganzzahlige Dimensionen. Die Dimension eines seltsamen Attraktors ist dagegen gebrochen bzw. fraktal. Das bedeutet, daß ein seltsamer Attraktor eine Dirnen-

26 Diese Definition aus Lorenz (1993, S. 170) lehnt sich an Ruelle (1979) an. Eine Übersetzung findet sich in Lorenz (1990, S. 70). 27 Lorenz (1993, S. 170), vom Autor übersetzt. Es gibt weitere Definitionen von Chaos, z.B. von Li/Yorke (1975).

B. Systemtheoretische Grundlagen

30

sion von z.B. 0.6 haben kann. Ein derartiges Gebilde stellt eine Zwischenform aus einer Menge Punkten und einer Linie dar.28 a = 2.8 (Fixpunkt)

a = 3.3 (Zyklus)

a = 3.7 (seltsamer Attraktor)

Abbildung B.ll: Trajektorien des rekursiven Systems x,+1 =a ·x, ·0- x,) bei einer Parametervariation Wie entsteht nun so etwas wie Chaos? Dies läßt sich stark vereinfacht an der Eigenschaft der Anfangswertsensitivität folgendermaßen darstellen:

Man stelle sich zunächst eine beliebige rekursive Gleichung xt = f(xt_ 1) vor. Ferner stelle man sich eine Störgröße c0 vor, die auf x einwirkt. Der gestörte Wert sei x* t· Die Differenz zwischen beiden ist c 0 . Die Frage ist nun, wie groß ist die Differenz c 1 = f(x* 0)- f(x 0)? Sei 11 gleich dem Quotienten aus c 1 und c0 mit II =.:..t_= f(xo+co)-f(xo)

co

co

Für den Grenzwert c0~o gilt - f'( x ) . I - df(xo) I1m ---1 0 dx 0

c 0 ~o

Nun wende man die Funktion f erneut auf die soeben gewonnenen Funktionswerte an. Die Differenz zwischen f(f(x)) und f(f(x*)) sei c 2 . Sei 12 der Quotient aus c 2 und c 1. Dann ist

28 Eine weitere Eigenschaft chaotischer Attraktoren ist die Selbstähnlichkeit. Das heißt, variiert man den Abbildungsmaßstab eines Raumausschnitts des Attraktors, findet man häufig sich wiederholende charakteristische Strukturen. Prominente Beispiele sind die Mandelbrotmenge oder das sogenannte Apfelmännchen. Vgl. hierzu sowie zu Fraktalen insbesondere Mandelbrot (1991), Peitgen/Saupe ( 1988) sowie Peitgen/Richter ( 1986).

II. Einordnung in dynamische Forschungsansätze

31

Führt man diesen Prozeß schrittweise fort, dann findet man nach der n-ten Iteration eine Differenz

Bildet man den geometrischen Mittelwert über die Ii erhält man

Der Logarithmus von I sei nun A.. Man erhält dann die durchschnittliche Wachstumsrate der Abweichung:

Das bedeutet, daß der Anfangsfehler in Abhängigkeit von A. exponentiell wächst, wenn A. > 0 bzw. sich verkleinert, wenn A. < 0 ist. Den Grenzwert von A. für n-+oo, c0-+0 bezeichnet man auch als LyapunovExponenten, und es gilt: ein System ist genau dann chaotisch, wenn es einen positiven Lyapunov-Exponenten hat.29 Die Distanz zwischen zwei Punkten kann innerhalb eines begrenzten Raumes natürlich nicht unendlich wachsen, sondern stößt früher oder später an irgendwelche Grenzen und wird irgendwie in das "Innere des Attraktors" zurückgeworfen. Dies läßt sich mittels der sogenannten Bäcker-Transformation30 veranschaulichen. Ähnlich wie ein Bäcker beim Kneten eines Teigs diesen streckt und zusammenfaltet und ihn dadurch durchmischt, verfährt ein chaotischer Prozeß mit dem Zeitpfad des Systems. Das bedeutet aber auch, daß sich der Zeitpfad jedem Punkt innerhalb des Attraktors irgendwann wieder beliebig annähert. Damit vergißt das System sozusagen seine Historie. In Anlehnung an die Wahrscheinlichkeitstheorie wird dieses Verhalten als ergodisch bezeich-

29 Mit der Bedingung der Existenz eines positiven Lyapunov-Exponenten besteht auch eine gewisse Analogie zur Überprüfung der Stabilität eines Gleichgewichtes anhand der Eigenwerte der Jakobi-Matrix, die von einem stabilen Gleichgewicht verlangt, daß keiner der Eigenwerte einen positiven Realteil besitzen darf. 30 Vgl. GEO - Wissen (1990).

B. Systemtheoretische Grundlagen

32

net.3I Trotz dieser irgendwann erreichten Nähe zweier Trajektorien entfernen sie sich jedoch aufgrund des Mischprozesses sehr schnell wieder voneinander. Diese scheinbar irregulären und wie zufallig erscheinenden Bewegungen beruhen dabei, und das ist das Wesentliche, auf rein deterministischen Regeln. 3. Einordnung der Theorie nichtlinearer deterministischer Systeme in die Untersuchung von Pfadabhängigkeiten

Die Erforschung nichtlinearer deterministischer Systeme beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie die Attraktoren eines deterministischen Systems aussehen und welche Eigenschaften das System besitzt. Hiermit wird jedoch nur ein Teilaspekte dessen abgedeckt, was innerhalb dieser Arbeit untersucht werden soll. Es geht nämlich nicht nur darum, inwieweit ökonomische Systeme deterministisch oder stochastisch und inwieweit sie chaotisch oder regulär sind. Insbesondere vor dem Hintergrund, daß es unter umständen sehr lange dauern kann, bevor ein System einen Attraktor erreicht, stellt sich auch die Frage danach, wie sich Systeme verhalten, bevor sie einen Attraktor erreichen. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zu diesen Fragen. Eine Analyse des Schweinemarktes findet sich in Holzer/Precht (1993). Die dabei verwendeten Verfahren, eine Schätzung der Dimension des Systems sowie des größten Lyapunov-Exponenten, beruhen in der Regel auf dem Prinzip der Phasenraumeinbettung. Dieses Prinzip besagt, daß ein rn-dimensionaler Vergangenheitsvektor von beobachteten Zeitreihendaten eines Systems topalogisch äquivalent zum n-dimensionalen wahren System ist, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 32 (i)

die Variablen x des wahren Systems befinden sich auf dem Attraktor, d.h. es existieren keine Transienten,

(ii) die Funktionen f(x) des wahren dynamischen Systems und die beobachtete Funktion h(x) sind mindestens zweimal stetig differenzierbar, sowie (iii) m > 2n - 1. Wenn die Bedingungen (i) - (iii) erfüllt sind, ist es theoretisch möglich, das Verhalten des unbekannten wahren Systems aus einer einzelnen beobachteten Zeitreihe zu rekonstruieren. Die auf dieses Konzept aufbauenden Verfahren sind jedoch nicht ganz unproblematisch.33 Neben dem Problem, daß in der Regel Daten über einen recht langen Zeitraum vorhanden sein müssen, dürfte für ökonomische Systeme das Hauptproblem darin bestehen, daß die Bedin31 Vgl. Lorenz (1993, S. 131).

32 Takens Theorem, zitiert und übersetzt aus Lorenz (1993, S. 206). 33 Vgl. z.B. Fraedrich (1987).

III. Systemtheoretische Analyse der Entstehung von Pfadabhängigkeiten

33

gung (i) nicht erfüllt ist. Das heißt, daß es fraglich ist, ob sich das betrachtete System überhaupt auf einem Attraktor befindet bzw. sich der Attraktor über den Betrachtungszeitraum nicht verändert. 34 Beschäftigt man sich mit Pfadabhängigkeiten, fragt man in erster Linie danach - dies zeigen spätere Ergebnisse dieser Arbeit - welche Attraktoren ein System erreichen kann und wie stabil das Streben in Richtung eines bestimmten Attraktors bzw. das Verbleiben in seiner Umgebung ist. Der Wert der Ergebnisse der Chaos-Forschung besteht für die vorliegende Arbeit wohl im wesentlichen darin, daß sie zum einen eine Terminologie für die Beschreibung von Systemverhalten bietet, und zum anderen ein Verständnis dafür erweckt, was in komplexen Systemen geschieht.

111. Systemtheoretische Analyse der Entstehung von Pfadabhängigkeiten Aus den in Kapitel B.l genannten Eigenschaften pfadabhängiger Systeme könnte man für sie folgende Anforderungen ableiten: (i)

Das System ist nicht ergodisch, d.h. zwei Zeitpfade, die an unterschiedlichen Startpunkten beginnen, müssen nicht im Zeitablauf konvergieren.

(ii) Es gibt Phasen, in denen kleine Störungen auf die weitere Entwicklung des Systems einen großen Einfluß (iii) Es gibt Phasen, in denen der jeweilige Zustand des Systems gegen Störungen unempfindlich ist. Diese Anforderungen besagen noch recht wenig über die Ursachen von Pfadabhängigkeiten. Sie bieten jedoch eine Grundlage für weitergehende Überlegungen. So verlangt Anforderung (i) eine Nichtergodizität des Systems. Das heißt, daß das System entweder mehrere Attraktoren besitzt oder während der Zeit, in der das System betrachtet wird, der Attraktor zumindest über einen vergleichsweise langen Zeitraum nicht erreicht wird. Ersteres würde bedeuten, daß die Startpunkte des Systems darüber entscheiden, welcher Attraktor erreicht wird bzw. in welchem basin of attraction es startet. Die zweite Möglichkeit würde besagen, daß in erster Linie die transiente (vergängliche) Phase des Systems betrachtet wird, also der Konvergenzprozeß auf einen Attraktor. Verlangt man von einer Pfadabhängigkeit nicht, daß sie über einen unendlich langen Zeitraum existiert, sondern daß sie lediglich während eines bestimmten

34 Vgl. hierzu Baimann (1991 und 1992b). 3 Baimann

34

B. Systemtheoretische Grundlagen

Betrachtungszeitraums eine Rolle spielt, braucht ein Attraktor auch nicht unendlich lange zu existieren. Es wäre hinreichend, wenn er temporär existiert. Dies scheint im Widerspruch zur Definition eines Attraktors zu stehen, wonach ein Attraktor von einer Trajektorie, die sich innerhalb einer bestimmten Umgebung befindet, nie wieder verlassen wird. Dieser Widerspruch läßt sich jedoch folgendermaßen auflösen. Die angeführte Definition setzt voraus, daß sich das betrachtete System nicht verändert, es also keinen äußeren Einflüssen unterworfen ist. Dies ist eine Voraussetzung, die beispielsweise von realen ökonomischen Systemen, bei denen sich die Systemumwelt laufend verändert, wohl nie erfüllt ist. Damit stünde dies auch nicht im Widerspruch zur Definition. Nichtlineare deterministische Systeme können, wie oben gezeigt wurde, über einen langen Zeitraum ein Verhalten aufweisen, als hätten sie einen Attraktor erreicht. Dann entfernen sie sich jedoch sehr plötzlich wieder weit vom erreichten Zustand und erreichen einen anderen Zustand. Eine Ursache von solchen Phasenübergänge dürfte, wie bereits in den Ausführungen zur Synergetik erläutert, darin liegen, daß Variablen sich unterschiedlich schnell ändern. Es stellt sich nun die Frage, ob ein solcher, über einen längeren Zeitraum stabiler Zustand, nicht als Quasi-Attraktorbezeichnet werden könnte. Ein Quasi-Attraktor ließe sich folgendermaßen definieren: Definition:

x

Für ein n-dimensionales dynamisches System =(x, u(t)) mit x E R 0 , und exogenen Einflüssen u(t) E R 0 , ist eine beschränkte Menge A c R 0 ein Quasi-Attraktor des Systems, wenn es eine Menge U mit den folgenden Eigenschaften gibt: •

U ist eine begrenzte n-dimensionale Umgebung von A.



Es existieren x(O) E U, mit Ö(u(t)) >> 0 und x(t) E U V 0 < t < o(u(t)), d.h. es existieren Trajektorien, die in U beginnen und zumindest für einen langen Zeitraum o(u(t)) in u verbleiben.

Der Begriff des Quasi-Attraktors läßt sich somit aufgrund der Berücksichtigung der exogenen Größe u(t) ebenfalls auf stochastische Systeme anwenden. Die beiden Punkte (ii) und (iii) der Anforderungen an pfadabhängige Systeme scheinen ebenfalls für weitere Überlegungen sehr interessant zu sein, klingt es doch recht widersprüchlich, daß ein System manchmal stabil und manchmal labil ist. Wie läßt sich dieser Widerspruch auflösen? Eine Möglichkeit kann darin liegen, daß stabile Zeitpfade Quasi-Attraktoren darstellen, während labilen Zuständen diese "Attraktion" fehlt oder sie gar eine gewisse "Rejektion" besitzen (vgl. Abbildung B.12). Die Ursachen liegen vielfach darin, daß in einem System positive Rückkopplungen vorhanden sind.35 Ein 35 Arthur ( 1990).

III. Systemtheoretische Analyse der Entstehung von Pfadabhängigkeiten

35

ökonomisches Beispiel könnte eine Situation sein, in der zwei Unternehmer mit steigenden Skalenerträgen miteinander konkurrieren. Situationen in denen beide gleich stark sind, sind labil, da es c.p. für jeden vorteilhaft ist, seinen Marktanteil auszudehnen.

Abbildung 8.12: Labile und stabile Gleichgewichte bei positiver Rückkopplung (am Beispiel von Kugeln in einer Hügellandschaft)

Eine zweite Möglichkeit kann darin bestehen, daß sich ein Zustand im Laufe der Zeit stabilisiert und, wie im Falle von Polya-Prozessen, zu einem QuasiAttraktor wird. Es entstehen Festgefahrenheiten, wobei es immer schwieriger wird, den Status quo zu verlassen (vgl. Abbildung B.13).

X

Abbildung 8.13: Herausbildung von Festgefahrenheilen (Verformung einer Hügellandschaft durch Hinzufügen von Kugeln im Zeitablauf)

3*

36

B. Systemtheoretische Grundlagen

Die Ursachen hierfür können einerseits darin liegen, daß treshhold- oder kritische Masse Phänomene36 auftreten; andererseits können sie auch damit zusammenhängen, daß in einem System Trägheilen entstehen. Diese Trägheiten lassen sich in ökonomischen Systemen z.B. auf Anpassungskosten37 zurückführen. Diese sind historisch bedingt und entstehen erst im Laufe der Zeit. Diese Art von Ursachen besitzt eine große Ähnlichkeit mit den Wirkungen, die von langsam veränderlichen Variablen ausgehen, denen eine gewisse Parametereigenschaft zukommt und die dann beispielsweise Pitchfork-Bifurkation hervorrufen.38 Eine dritte Möglichkeit, die der ersten ein wenig ähnelt, kann darin liegen, daß Netzwerkexternalitäten39 existieren. Dieser Begriff besagt, daß es zwischen Teilen des Systems sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkungen gibt, die dadurch hervorgerufen werden, daß die Aktion eines Systemteils positive externe Effekte auf einen anderen Teil besitzt, dessen Reaktion wiederum positive externe Effekte auf den ersten besitzt. Netzwerkexternalitäten werden für die Erklärung des Geschehens auf dem Videorecordermarkt oder bei anderen Industriestandards, wie Schreibmaschinen- bzw. Computertastaturen, herangezogen.40 Die Problematik von Netzwerkexternalitäten liegt darin, daß sich die Aktionen einzelner Systemteile häufig nur schwer koordinieren lassen. Hat sich ein Zustand ergeben, in der die Externalitäten zum Tragen gekommen sind, stabilisiert er sich selber, weil positive Rückkopplungen wirken. Zuvor ist das Ergebnis offen. In diesem Zusammenhang dürfte als vierte Möglichkeit auch dem Begriff der Komplementarität eine wesentliche Bedeutung zukommen. Dies betrifft z.B. einzelbetriebliche Entscheidungssituationen. Für ein Unternehmen, das zwei komplementäre Investitionen tätigen kann, ist es c.p. vorteilhaft, die Vorteile dieser Komplementarität zu nutzen. Im Gegensatz zu einer Situation, in der Netzwerkexternalitäten herrschen, kann es die Investitionsentscheidungen koordinieren und das Optimum suchen. Es kann jedoch auch hier eine Situation entstehen, in der sich Entscheidungen nur bedingt koordinieren lassen. Diese Zusammenhänge können, wie später gezeigt werden wird, die Entwicklung des Unternehmens langfristig beeinflussen. Faßt man diese Überlegungen zusammen, scheint es also eine Reihe von Möglichkeiten zu geben, die Anforderungen an ein pfadabhängiges System 36

Vgl. z.B. Granovetter (1978), Kuran (1987). 37 Ausführliche Überlegungen zu Anpassungskosten finden sich in Nickeil (1978). 38 Vgl. hierzu die Überlegungen zu Pitchfork-Bifurkationen, insbesondere Abbildung B.5, und zur Synergetik in Kapitel B.Il.l. 39 Katz/Shapiro (1985). 40 Arthur (1990), Katz/Shapiro (1985), Tirole (1992, 404ff).

IV. Systemanalytische Betrachtung optimaler Betriebsgrößenstrukturen

37

miteinander in Einklang zu bringen. Es bietet sich jedoch an, zu überlegen, inwieweit zwischen diesen Möglichkeiten Verbindungen bestehen. Allen gemeinsam scheint, daß das jeweilige System potentiell mehrere mögliche Attraktoren besitzt, die von Anfang an existieren oder sich erst durch Geschehnisse im betrachteten System herauskristallisieren. Betrachtet man Systeme, deren zeitliche Entwicklung als eine Art Optimierungsprozeß verstanden werden könnte,4I bietet es sich an, einen Attraktor als ein Optimum zu interpretieren. Existieren mehrere Attraktoren, müßten diese als lokale Optima interpretiert werden. Eine Pfadabhängigkeit, die mit einer Ineffizienz verbunden ist, wäre dann darauf zurückzuführen, daß ein lokales Optimum erreicht wird und es dem System nicht gelingt, dieses wieder zu verlassen, um zum globalen Optimum zu gelangen. Um diese doch recht theoretische Ebene zu verlassen, sollen die Auswirkungen der Existenz lokaler Optima beispielhaft an einer Frage aus dem Bereich von Agrarstrukturentwicklungen analysiert werden. Konkret soll der Frage nachgegangen werden, ob Agrarstrukturen auf eine optimale Struktur zustreben, und welche Hindernisse einem solchen Streben entgegenstehen.

IV. Systemanalytische Betrachtung von Pfadabhängigkeiten am Beispiel optimaler Betriebsgrößenstrukturen Für die Ermittlung optimaler landwirtschaftlicher Betriebsgrößen soll unterstellt werden, daß für landwirtschaftliche Betriebe eine Wertschöpfungsfunktion n existiert, die von den eingesetzten Faktoren Arbeit (A), Boden (B) und Kapital (K) abhängt. Anhand dieser Funktion läßt sich die optimale sektorale Struktur ableiten. Der Sektor Landwirtschaft kann hinsichtlich der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital als kleiner Sektor betrachtet werden. Daher kann die Wertschöpfung n(B,A*,K*) auf den für die Landwirtschaft am stärksten limitierend wirkenden Faktor, den Boden (B), bezogen werden. Bei dieser Vorgehensweise wird unterstellt, daß der Umfang der Faktoren Arbeit und Kapital entsprechend dem jeweiligen Bodeneinsatz bereits optimiert ist und diese Faktoren entlohnt sind. Dies hat den Vorteil, daß nur eine unabhängige Variable betrachtet werden muß. 41 Tatsächlich existieren eine Reihe von mathematischen Verfahren, die auch als naturanaloge Optimierungsverfahren bezeichnet werden, deren Methodik auf Erkenntnissen über biologische und physikalische Prozesse beruhen. Zu diesen Verfahren gehören zum Beispiel Genetische Algorithmen, Evolutionäre Strategien, Abkühlprozesse und Neuronale Netze. Vgl. z.B. Kursawe (1990) und Blümecke (1991).

38

B. Systemtheoretische Grundlagen

Es ergibt sich für den Sektor42 folgendes Optimierungsproblem: n

n

max L(n,Bi) = :Lni(Bi) + A.(X- :LBi), n.B; i=l i=l mit n als Anzahl der Betriebe, X als Gesamtfläche und Bi als Bodeneinsatz in Betrieb i und ni als dessen einzelbetrieblicher Wertschöpfung. Es lassen sich aus diesem Ansatz folgende mikroökonomische Optimalitätskriterien ableiten: (i)

Die sektorale Wertschöpfung ist genau dann maximal, wenn die Durchschnittswertschöpfung je Faktor- bzw. Flächeneinheit maximal ist.

(ii)

Die Grenzwertschöpfung des Bodens muß in jedem Unternehmen gleich sem.

(iii) Die Durchschnittswertschöpfung muß auf einzelbetrieblicher Ebene mindestens den Opportunitätskosten des eingesetzten Bodens entsprechen. Die Opportunitätskosten jedes Betriebes entsprechen der Grenzwertschöpfung der übrigen Betriebe. Der Einfachheit halber soll unterstellt werden, daß alle Betriebe identische Wertschöpfungsmöglichkeitskurven besitzen. Dann ist hinreichend für die Erfüllung des zweiten Kriteriums, daß alle Betriebe gleich groß sind.43 Bei den folgenden Überlegungen soll daher von der Annahme identischer, also auch gleich großer Betriebe ausgegangen werden. Für die folgende Untersuchung44 scheinen sigmoidförmige Funktionen45 als "funktionale" Form der Wertschöpfungsmöglichkeitenkurve wie etwa ns(B) =

(A.B)a (A.B)ß+e-öB

mit

a, ß, ö, A. > 0 < a -

ß< I

42 Alternativ könnte auch vom Konzept eines "Großgrundbesitzers" ausgegangen werden, der seinen Boden in einer möglichst effizienten Stückelung an unterschiedliche Unternehmen verpachten oder in eigene Betriebe aufteilen will. 43 Jedoch ist dies weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium für die Erfüllung der ersten und letzten Bedingung. Es ist nicht notwendig, weil die Wertschöpfungsfunktion nicht zwangsläufig monoton ist und es ist nicht hinreichend, weil mit einer einheitlichen Größe weder zwangsläufig eine Maximierung der Durchschnittswertschöpfung verbunden ist, noch muß die Durchschnittswertschöpfung den einzelbetrieblichen Opportunitätskosten entsprechen. 44 Der in modelltheoretischen und empirischen Studien häufig gewählte Funktionsverlauf vom Cobb-Douglas Typ scheint hier ungeeignet, da er lediglich Randlösungen zu erklären vermag; denn ist die Skalenelastizität kleiner als I , sind unendlich kleine Einheiten optimal, ist sie größer, liegt das Optimum beim Monopol, und ist sie gleich I, existiert keine Optimallösung. 45 Eine sigmoidförmige (s-förmige) Kurve soll im folgenden definiert werden als eine Funktion f(x), die in ihrem Definitionsbereich - monoton steigend ist, d. h. f(x) ~ 0 und - genau einen Wendepunkt in P besitzt; mit f'(x) > 0 für x < P und f'(x) < 0 für x > P.

IV. Systemanalytische Betrachtung optimaler Betriebsgrößenstrukturen

39

am ehesten geeignet. Die sich aus diesem Funktionstyp ergebende optimale Betriebsgröße liegt dort, wo die durchschnittliche Faktorentlohnung ihr Maximum hat.

n

B

c

B

Abbildung B.l4: Sigmoidförmige Wertschöpfungskurve46

Wie Abbildung B.l4 zeigt, schneidet an der Stelle C die Grenzwertschöpfungs- die Durchschnittswertschöpfungskurve. Für die Betriebsgröße B = C gilt: ()TI 5 (B)

Tis(B)

---"-'--'- = - - -

()B

B

Diese Form besitzt eine eindeutige Optimallösung und würde die optimale Betriebsgröße eindeutig bestimmen. Pfadabhängigkeiten können damit jedoch kaum erklärt werden. Daher soll im folgenden die sigmoidförmige Funktionsform etwas modifiziert werden, indem, ähnlich einer Begünstigung bestimmter Betriebsgrößen, ein von der Betriebsgröße abhängiger Zuschlag g(B) vorgenommen wird mit aB g(B) = -(B---b-)-::2 -+-c

mit a, b, c > 0 konstant,

derart, daß man eine Wertschöpfungsmöglichkeitenkurve TI(B) =rTis(B)+ g(B) erhält mit einem Verlauf, der einer doppelt-sigmoidförmigen Kurve47 wie in Abbildung B.15 entspricht. In diesem Fall wird die Lösung der Fragestellung 46

47

(X

=3; ß =2, 5; 'Y == ö = 1/6 .

Eine doppelt sigmoidfönnige Kurve soll im folgenden definiert werden als eine Funktion f(x), die in ihrem Definitionsbereich - monoton steigend ist, d. h. f(x) > 0 und - genau drei Wendepunkte P 1 - P3 besitzt, mit f'(x) > 0 für x 0 P > C. ( 1+ i) =110 . I

Investiert A, steht es in der folgenden Periode vor der Entscheidung über die Ersatzinvestition in die ältere Anlage. Da sich für A in dieser und jeder folgenden Periode die gleiche Situation wie am Anfang der zweiten Periode ergibt, wird es unendlich lange weiterproduzieren. Was ist nun mit UnternehmenS? Für dieses Unternehmen gilt am Anfang der zweiten Periode, daß wie bei A alle getätigten Aufwendungen als versunken betrachtet werden müssen. S wird deshalb bis zum Ende der Nutzungsdauer der Anlagen weiterproduzieren. S wird jedoch nicht reinvestieren, weil die dazu notwendige Bedingung 3

CRRN=( (l + iN)Ni) kennzeichnet den Wiedergewinnungsfaktor (capital recovery factor) '· (l+i) -1

für eine Laufzeit N und einem Zinssatz i.

48

C. Ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten

P;:::2C·CRFi.2 =115,2

nicht mehr erfüllt ist. Damit befindet sich S in einer typischen Hysteresissituation, während A sich in einer unbefristeten Pfadabhängigkeit befindet. Wie läßt sich dieses unterschiedliche Verhalten erklären? Nun, für S fallen die Reinvestitionsentscheidungen synchron an. Durch diese Synchronizität kann und muß dieses Unternehmen bei seiner Investitionsplanung sämtliche Kosten berücksichtigen. Es ergibt sich ein Zahlungsstrom analog zu Abbildung C.3. Anlage 21-.....IL--.....,.-,...A._....,.......~"""""......-..._-w Anlage 1..__ __.._ _ _......_ ___,...__ ___. 2 3 4 0 5 6 7 8

150 100 50 0

-50

-100

I 0

• Einzahlungen • Auszahlungen 2

3

4

5

6

7

8

Abbildung C.2: Asynchronizität

200

100 0 -100 -200

0

2

3

4

5

6

7

8

Abbildung C.3: Synchronizität

Wie gesagt, gilt diese Synchronizität für A nicht. Für A's Entscheidungen sind nicht die totalen, sondern nur die jeweils noch variablen Kosten entscheidungsrelevant Zwischen beiden Situationen ergibt sich die Ertragsspanne

I. Einzelbetriebliche Aspekte

49

2 C. CRFi,2 - C · (1 + i) = 5.2 und damit eine unbefristete Pfadabhängigkeit mit einer Produktionsentwicklung analog zu Abbildung C.4.

PI 0

~I 0

~I 0

2 UnternehmenS 2 Unternehmen A 2

Abbildung C.4: Produktionsentwicklung X in Abhängigkeit vom Ertrag P

Dieses Beispiel zeigt, daß zwei sich lediglich durch die Altersstruktur ihrer Anlagen unterscheidende Unternehmen sich langfristig völlig unterschiedlich verhalten können. Worauf ist nun dieses unterschiedliche Verhalten zurückzuführen? Eine intuitive Erklärung findet sich in Abbildung C.5, die anhand der Auszahlungsströme der Unternehmen zeigt, daß die entscheidungsrelevanten Auszahlungen bei Asynchronizität in die Zukunft verlagert werden. Dies führt zu einem Zinsvorteil für A.

0

2

3

4

5

6

7

8

9

• Synchronizität

r:l Asynchronizität

Abbildung C.5: Auszahlungsstrom der Unternehmen 4 Baimann

C. Ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten

50

b) Bedingungen Im folgenden sollen die Ursachen der unendlichen Dauer der Pfadabhängigkeit näher beleuchtet werden. Grundsätzlich ist hinreichend, daß die Durchschnittskosten4 AC des Betriebes mit synchronen Investitionsentscheidungen zum Investitionszeitpunkt höher sind als die erwarteten Erträge. Die Erträge des Betriebes mit Asynchronizität sind dagegen höher als dessen Durchschnittskosten. Dann ist hinreichend, wenn gilt ACs >P>ACA

mit CO

ACs = i · 2C · CRFi,N I,(l + i)-t = 2 C ·CRFi,N t=l

5

und

ACA = i ·C ·CRFi,N(I(l + i)-t + IO + i)-(t+N-n)) t=l t=l mit C als Anschaffungskosten der jeweilig betrachteten Investition, CRFi,N als Wiedergewinnungsfaktor beim Zinssatz i und der Nutzungsdauer der Anlage N. N-n sei die Restnutzungsdauer der Altanlage zum Entscheidungszeitpunkt Für die Erfüllung der notwendigen Bedingung ACs > P > AC A muß gelten AC 5 > ACA

bzw.

co co ) N-n 0O, i>O

und

N-n I, (1 + i)-t > 0 N > n" 1 > 0 t=l Somit ist die notwendige Bedingung erfüllt, wenn gilt, daß die Anschaffungskosten, der Kalkulationszins und die Restnutzungsdauer der bereits bestehenden Anlage streng positiv sind. 4 Die Durchschnittskosten sind gleich der Annuität des kapitalisierten Auszahlungsstroms. 5 Denn r N2-n 2 > 0 und einem Wiederverkaufswert von 0. Dann betragen die durchschnittlichen Produktionskosten bzw. die Annuität des erwarteten Auszahlungsstroms des Unternehmens mit Synchronizität

Die Durchschnittskosten im asynchronen Fall betragen dagegen zum Zeitpunkt einer Investition in Anlage 1

4*

52

C. Ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten

ACA =C 1 ·CRFi,N1 +C 2 ·CRFi,N2 .r~.(1+i)-(t+N2-n2) t=l Für eine unendliche Pfadabhängigkeit des asynchronen Unternehmens A gegenüber dem synchronen Unternehmen S ist notwendig und hinreichend, daß (i)

A im Gegensatz zu S in Periode 1 die Produktion aufnimmt und

(ii) A für die Nutzungsdauer der Anlage 1 jeweils in die Anlage 2 reinvestiert. Die erste Anforderung ist genau dann erfüllt, wenn gilt ACs > P > ACA O P > ACs - i · C 2

CRF· N I,

2

CRF·N I, 2-n2

Die Bedingung (ii) ist unbedingt erfüllt, wenn analog dazu gilt: ACs > P > ACs - i · c 1

CRF· N 1 1 ' CRFi • N1 -n I

mit N 1-n 1 als Restnutzungsdauer. Dies erfordert, daß analog zu (i) gilt, daß C~o i sowie die Restnutzungsdauer streng positiv sind. Aus diesen Ergebnissen kann gefolgert werden, daß auch in Situationen mit unterschiedlicher Nutzungsdauer und unterschiedlichen Anschaffungskosten komplementärer

I. Einzelbetriebliche Aspekte

53

Anlagen sich Unternehmen mit asynchronem Reinvestitionsbedarf gegenüber Unternehmen mit einer Synchronizität in einer unbefristeten Pfadabhängigkeit befinden können. Die einzige Voraussetzung scheint zu sein, daß zu jeder Zeit "ausreichend" hohe versunkene Kosten vorhanden sind. Bei den obigen Überlegungen wurden Bedingungen unbefristeter Pfadabhängigkeiten abgeleitet. Es erscheint daher interessant, zu überlegen, was geschieht, wenn lediglich ein Teil der dazu notwendigen Bedingungen erfüllt ist. Ein Fall ist, daß zu einem Reinvestitionszeitpunkt von Anlage 2 eine Restnutzungsdauer existiert, für die gilt:

In diesem Fall läuft die Produktion solange weiter, bis eine Reinvestition in Anlage 1 notwendig wird. Es ergibt sich dann ein Produktionspfad wie in Abbildung C.6. Derartige Pfade gelten nicht nur für Investitionsgüter, sondern allgemein für alle Inputs mit unteilbarer Größe und Nutzungsdauer.

PI 0 Anlage 2 Anlage 1 0

;I

0

2

4

6

8

Abbildung C.6: Produktionsentwicklung bei unterschiedlichen Kosten und Nutzungsdauern

(3) Mehr als zwei komplementäre Inputs Bislang wurden Situationen behandelt, in denen für eine Produktion zwei Inputs notwendig waren. Häufig sind jedoch mehr als zwei unteilbare Inputs

54

C. Ökonomische Ursachen von Pfadabhängigkeiten

für eine Produktion notwendig. Da hier nicht jede mögliche Kombination geprüft werden kann, soll überlegt werden, ob die Ergebnisse aus dem vorhergehenden Punkt zu Hilfe genommen werden können. Hierfür wird unterstellt, daß bei Asynchronizität die noch existierenden Anlagen als eine bestehende Anlage zusammengefaßt werden können. Ferner wird der gewinnmaximale zukünftige Zahlungsstrom als Reinvestition verstanden. Die Bedingung, daß diese Kette von Investitionsentscheidungen gewinnmaximal ist und gleichzeitig zu einer unbefristeten Pfadabhängigkeit führt, verlangt, daß bei jeder Reinvestitionsentscheidung die Tätigung der Investition vorteilhaft ist. Andernfalls würde zu einem bestimmten Zeitpunkt die Produktion eingestellt. Somit muß gelten, wenn K Anlagen für die Produktion notwendig sind:

mit K

ACs = I,Ck ·CRFi,Nk k=l

AC A ( t) ist von der Zeit, bzw. der jeweiligen Altersstruktur der Anlagen, abhängig. Daher ist die notwendige Bedingung AC s > AC A ( t). Das bedeutet, daß zu jedem Reinvestitionszeitpunkt versunkene Kosten existieren müssen. Hinreichend ist dann für eine unbefristete Pfadabhängigkeit, daß für alle Zeitpunktet gilt ACs 2: P >AC A (t).

d) Bewertung von Synchronizität und Asynchronizität Bei den obigen Überlegungen wurde die Frage der Vorteilhaftigkeil von Synchronizität und Asynchronizität ausgeklammert. Auf den ersten Blick mag es scheinen, daß Asynchronizität vorteilhaft ist, ermöglicht sie doch auch bei niedrigeren Erträgen noch eine rentable Produktion bzw. eine höhere Verzinsung des liquiden Kapitals. Diese Vorteilhaftigkeil beruht jedoch auf der Existenz

6

Denn ACA= i±(C1 ·CRFi,NJ l(l+i)-(t+NJ-nJ))= ±(C1 ·CRF,,N1(l+i)-{NJ-nl)il(l+ir') ~

~

-- "-~(c I ·CRFt,NI (l+i)-(N k

1=1

~

>) ·

1-" 1

~

I. Einzelbetriebliche Aspekte

55

versunkener Kosten. Die folgende Tabelle zeigt deshalb die maximalen Gegenwartswerte dreier Unternehmen mit unterschiedlicher Ausgangssituation bei einer ex post Betrachtung. Zur Vereinfachung wird unterstellt, daß für die Produktion lediglich zwei Anlagen benötigt werden, die gleich teuer sind und eine gleiche Nutzungsdauer besitzen. A sei dann ein Unternehmen mit einer Asynchronizität der Produktionsentscheidungen, So und Sn seien Unternehmen mit Synchronizität, wobei So in to keine Anlagen und Sn bereits zwei n Perioden alte Anlagen besitzt. Tabelle C.l Gegenwartswerte synchroner und asynchroner Unternehmen bei Berücksichtigung versunkener Kosten (ex post Bewertung)

Preis P P